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Jiirn Ri,isen

Dieser Band schlieflt Jiirn Riisens "Historik" ab.


Ausgangspunkt ist, dafi zur Arbeit des Histori-
kers auch die stets irgendwie geformte Darstel-
lung gehiirt und da8 jede solche Darstellung in
einem praktischen Zusammenhang steht. In der
geformten Darbietung und durch seine Funk-
tionen im politischen und kulturellen Leben
der Zeitwird historisches \Wissen erst eigentlich
lebendig. Aber was machen Historiker mit ih-
rer r$flissenschaft, wenn sie ,Geschichte schrei-
ben.? \fie sind Geschichtswissenschaft und Ge-
schichtsdarstellung aufeinander bezogen? Und
wie verhllt sich die Geschichtswissenschaft zum
praktischen Gebrauch des von ihr erarbeiteten
\fissens?
JÖRN RUSEN

Lebendige Geschichte
Grundzüge einer Historik III:
Formen und Funktionen
des historischen Wissens

VctR

VANDENHOECK & RUPRECHT


IN GÖTTINGEN
Jörn Rüsen

Geboren 1938 in Duisburg, Studium der Geschichte, Philoso-


phie, Germanistik und Pädagogik an der Universität Köln, Pro-
motion 1966. 1974-1989 Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der
Ruhr-Universität Bochum, seit 1989 Lehrstuhl für Allgemeine
Geschichte an der Universität Bielefeld.
Veröffentlichungen u.a.: Begriffene Geschichte (1969); Für eine
erneuerte Historik (1976); Ästhetik und Geschichte (1976); Hi-
storische Vernunft (1983); Rekonstruktion der Vergangenheit
(1986). Mitherausgeber von: Handbuch der Geschichtsdidaktik
(31985); Von der Aufklärung zum Historismus (1984); der Zeit-
schriften »Geschichtsdidaktik« und »Geschichte lernen«, der
Schriftenreihen »Geschichtsdidaktik. Studien und Materialien«,
»Historisch-politische Diskurse«, »Beiträge zur Geschichtskul-
tur« und »Fundamenta Historica«. Zahlreiche Aufsätze zur Ge-
schichtstheorie, Geschichtsdidaktik, Geschichte der Geschichts-
wissenschaft.

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek


Rüsen, Jörn:
Grundzüge einer Historik / Jörn Rüsen. -
Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht.
3. Lebendige Geschichte: Formen und Funktionen
des historischen Wissens. -1989
(Kleine Vandenhoeck-Reihe; 1542)
ISBN 3-525-33554-7
NE:GT

Kleine Vandenhoeck-Reihe 1542

© 1989, Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen. - Printed in Germany. -


Alle Rechte vorbehalten. Das Werk einschließlich seiner Teile ist urheber-
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heberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und straf-
bar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen. Übersetzungen. Mikro-
verfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen
Systemen.
Umschlag: Hans-Dieter Ullrich
Schrift: 9/11 Punkt Times auf der Linotronic 300
Satz: Weckner Fotosatz GmbH. Göttingen
Druck und Bindung: Verlagsdruckerei E. Rieder, Schrobenhausen
isen

StaatsbWofltek
München
Inhalt

Vorwort 5

Einleitung 7

1. KAPITEL: Topik-Formen der Geschichtsschreibung 15

1. Historische Forschung und Geschichtsschreibung 19


a) Historiographie als Theorieproblem 19
b) Ästhetik und Rhetorik im Diskurs der Historiographie . 24
c) Auswirkungen der Forschung 34
2. Typologie der Geschichtsschreibung 39
a) Prinzipien der Differenzierung 39
b) Traditionale Sinnbildung 43
c) Exemplarische Sinnbildung 45
d) Kritische Sinnbildung 49
e) Genetische Sinnbildung 52
f) Komplexe Formen undTopoi 57
3. Wissenschaft als Formprinzip 61
4. Wissenschaft und historischer Sinn 67

2. KAPITEL: Didaktik-Funktionen des historischen Wissens . . 76

1. Historik und Didaktik 78


2. Was ist historische Bildung? 85
3. Die drei Lerndimensionen der historischen Bildung . . . 93
4. Die kognitive Kraft der Geschichtskultur 109

3
Schluß: Utopie, Alterität, Kairos-

Die Zukunft aus der Vergangenheit 121

Anmerkungen 136

Literaturhinweise 144

Register 147

4
Vorwort

Mit dem vorliegenden dritten Bändchen ist mein Versuch abgeschlos-


sen, einen systematischen Zusammenhang von Argumenten zu ent-
wickeln, der ,Historik' als Selbstverständigung der Geschichtswissen-
schaft über ihre Grundlagen, über ihre disziplinare Matrix, beschreibt.
Der systematische Anspruch dürfte den Eindruck der Vorläufigkeit
dessen, was herausgekommen ist, nur unterstreichen. Die nun ange-
sprochenen Sachverhalte (Historiographie und historische Bildung)
verlangen eine ausgiebigere Berücksichtigung von Denkweisen und
Wissensbeständen anderer Disziplinen (wie etwa Linguistik, Pädago-
gik. Psychologie, Literaturwissenschaft), als es unter dem Zeitdruck
des akademischen Alltags und in den Grenzen des verfügbaren Seiten-
umfangs möglich war. Für den notgedrungen zustandegekommenen
Kompromiß war der Gesichtspunkt entscheidend, das Feld der anzu-
gehenden Sachfragen abzustecken und deutlich zu machen, wie sie
erörtert werden können.
Ich schließe die Arbeit mit drei gemischten Gefühlen ab: mit Ban-
gen, Erleichterung und Dankbarkeit. Mit Bangen angesichts der Dif-
ferenz zwischen dem, was ich wollte, und dem, was nun vorliegt. Mit
Erleichterung, weil es ein (wie immer nur vorläufiges) Ende gegeben
hat und Neues und Anderes in Angriff genommen werden kann. Und
mit Dankbarkeit, weil mir in der (angesichts des kurzenTextes) langen
Zeit des Brütens an und über Argumenten und der Arbeit an Formulie-
rungen mannigfache Hilfe, Unterstützung und Förderung zuteil
wurde. Zunächst möchte ich der Stiftung Volkswagenwerk für ein zu-
sätzliches Freisemester danken. Ich wüßte nicht, wie ich die Schreibar-
beit ohne das Akademiestipendium hätte bewältigen können. Dann
möchte ich den Kollegen Frank Ankersmit (Groningen), Chang-Tse
Hu (Taichung), Floris van Jaarsveld (Pretoria) und Augustin Wernet
(Saö Paulo) herzlich danken, deren Interesse und Zuspruch mich in
den letzten Jahren immer wieder ermuntert und angetrieben haben, in
den Theoriegefilden der Geschichtswissenschaft zu bleiben, obwohl
viele Historiker die Luft dort für ziemlich dünn halten. Klaus Fröhlich

5
und Karl-Ernst Jeismann haben mir mit ihrer Meinung, diese Luft tue
auch der Geschichtsdidaktik gut, ebenfalls sehr geholfen. Hinzu kam
eine langjährige und freundschaftliche Zusammenarbeit in geschichts-
didaktischen Projekten mit Ursula A. J. Becher, Klaus Bergmann,
Bodo von Borries, Annette Kuhn, Hans-Jürgen Pandel, Gerhard
Schneider und Rolf Schörken. Sie haben mir immer wieder aufs neue
den Reiz grundsätzlicher Erörterungen in der Geschichtsdidaktik klar-
gemacht. Hildegard Vörös-Rademacher und Jürgen Jahnke haben
mich davon überzeugt, daß meine geschichtsdidaktischen Überlegun-
gen trotz oder wegen ihrer starken geschichtstheoretischen Prägung
durchaus fruchtbar für die Praxis des Unterrichts sein können. Horst
Walter Blanke, Klaus Bergmann, Klaus Fröhlich und Hans-Jürgen
Pandel haben sich die Mühe gemacht, dasTyposkript zu lesen; sie ha-
ben mit ihrer Meinung nicht hinter dem Berge gehalten und mir nützli-
che Verbesserungsvorschläge gemacht.
Ursula Jansen und Christel Schmid danke ich herzlich dafür, daß sie
sich nicht nur erhebliche Mühe bei der Erstellung der Manuskripte ge-
geben, sondern überdies die frustrierenden Erfahrungen auf sich ge-
nommen haben, die der technische Fortschritt in Form eines Compu-
ters mit sich bringt. Thomas Sandkühlcr danke ich nicht nur für kriti-
sches und produktives Mitlesen des Manuskripts und der Korrekturen,
sondern vor allem auch für seine Entwicklungshilfe und sein selbstlo-
ses Engagement beim Gebrauch des Computers. Ihm und Udo Dreher
danke ich für die Hilfe bei der Korrektur und der Erstellung des Regi-
sters.
Bochum, im August 1988

6
Einleitung

Der Historiker muss der Vergangenheit Gegen-


wart einhauchen können gleich Ezechiel dem
Propheten: er schreitet durch ein Gefilde voller
Totengebeine, aber hinter ihm rauscht erwachen-
des Leben.
Karl Lamprecht1

Die Frage nach Formen und Funktionen des historischen Wissens


scheint auf den ersten Blick vom eigentlichen Thema einer Historik
wegzuführen. Geht es doch nicht mehr um die Geschichte als Wissen-
schaft, nicht mehr um die methodischen Regelungen, die die Wissen-
schaftlichkeit der historischen Erkenntnis, ihre besonderen Wahrheits-
ansprüche, begründen. Formen und Funktionen scheinen gegenüber
dieser inneren Rationalität des historischen Wissens, seiner apollini-
schen Klarheit, zu jener anderen Seite derWissenschaft zu gehören, zu
ihrer dionysischen Lebendigkeit, in der es nicht um Regeln und Be-
gründungen, sondern um Gestaltung, ästhetische Formen, rhetorische
Absichten und praktischen Gebrauch geht. In seinen Formen und mit
seinen Funktionen scheint das historische Wissen aus seiner eigentli-
chen Wissenschaftlichkeit auszuwandern oder die Grenzen von Wissen-
schaftlichkeit im Prozeß der historischen Erkenntnis zu signalisieren.
Ernsthaft nach methodischen Regeln der Geschichtsschreibung zu
fragen, die für die Geschichte als Wissenschaft verbindlich sind, wäre
befremdlich, wenn nicht gar abstrus. Zustande käme eine Kunstlehre
der Historiographie; in ihr bedeutete ,Methode' etwas grundsätzlich
anderes als die Verfahrensprinzipien der Geltungssicherung, die die
Wissenschaftlichkeit der historischen Erkenntnis definieren. Methode
als Regelkanon historiographischer Komposition würde als Einen-
gung von Gestaltungsmöglichkeiten, als Schwächung historiographi-
scher Formkräfte empfunden und in ihrer Verbindlichkeit sicher von
den meisten Historikern abgelehnt. Erst recht erschiene ein Unterfan-

7
gen widersinnig, die praktische Wirkung historischenWissens als einen
Vorgang zu denken, der methodischen Prinzipien folgt, die irgendwie
verbindlich im Namen derWissenschaft vorgegeben werden könnten.
Eine solche vorgeschriebene Wirkung wäre höchst problematisch; sie
stünde in fataler Nähe zu dogmatischen Zwängen, mit denen Einsich-
ten autoritär als Gesichtspunkte der praktischen Lebensführung zur
Geltung gebracht und durchgesetzt würden; ein solcher Zwang stünde
im Gegensatz zu dem für die Geschichte als Wissenschaft verbindli-
chen Prinzip des freien Argumentierens.
Nun läßt sich freilich der Wissenschaftsprozeß der historischen Er-
kenntnis nicht ohne die Faktoren ,Formen' und Funktionen' denken.
Es gibt kein ungeformtes historisches Wissen; das historische Wissen er-
füllt immer Funktionen im kulturellen Leben der Gegenwart, und bei-
des spielt in der Arbeit der Historiker eine wesentliche Rolle. Ja, das
historische Wissen kommt erst in seinen Formen und Funktionen zu
sich selbst. Nur in ihnen ist es lebendig: Mit ihnen entspricht es den
Orientierungsbedürfnissen, die es hervorgerufen haben, die also die
Denkanstrengungen der Geschichte als Wissenschaft allererst notwen-
dig und sinnvoll machen. Wenn das historische Wissen in seinen For-
men und Funktionen erst wahrhaft lebendig wird, - steht dieses Leben
dann nicht gegen den Geist seiner Wissenschaftlichkeit? Und hätte
nicht eine Historik, der es um eine Reflexion und Begründung der für
die Geschichte als Wissenschaft maßgeblichen Prinzipien des Denkens
geht, so etwas wie eine Quadratur des Kreises zu lösen? Sie fragte dort
nach Wissenschaftlichkeit, wo es nicht wissenschaftlich zuzugehen
scheint, wo keine methodischen Regeln von der Art der Forschungsre-
geln dasTun der Historiker bestimmen.
Es ist kein Zufall, daß der Formungs- und der Funktionsaspekt des
historischenWissens im Mittelpunkt der Selbstreflexion der Historiker
stand, als sie ihr Metier noch nicht primär als Wissenschaft verstan-
den.2 In der rhetorischen Tradition der Historik ging es vor allem um
Regeln der historiographischen Gestaltung, um eine normative Poetik
der Geschichtsschreibung, die die Historiker darüber belehrt, was es
heißt, .lesenswerte' und das hieß immer auch: wirkungsmächtige
Werke zu verfassen. Das ,Herz' des Lesers sollte angesprochen wer-
den; er sollte durch Historiographie zu praktischem Handeln befähigt
werden. Mit der Verwissenschaftlichung der Historiographie wech-
selte der Schwerpunkt ihrer Selbstreflexion. Er verlagerte sich von der
historiographischen Formung zu den methodischen Regeln der histori-

8
sehen Forschung. Der Form- und Wirkungsaspekt rückte an den Rand
fachlicher Professionalität, wenn nicht gar ins Abseits außerfachlicher
Angelegenheiten. So galt beispielsweise die Geschichtsdidaktik lange
Zeit nicht als integralerTeil der Fachdisziplin .Geschichte', sondern als
pädagogische Veranstaltung, die nur den Gebrauch historischenWis-
sens außerhalb der Fachgrenzen betrifft
Nichtsdestoweniger aber sind Formen und Funktionen des histori-
schenWissens zwei ursprüngliche und wesentliche Faktoren der diszi-
plinaren Matrix der Geschichtswissenschaft; sie sind und bleiben inte-
grale Elemente der wissenschaftlichen Erkenntnisarbeit. Schließlich
muß Geschichte nach wie vor ,geschrieben', also in irgendeiner Weise
dargestellt werden, und jede historische Darstellung steht - wie ver-
mittelt auch immer - in einem praktischen Funktionszusammenhang.
Von beidem zu abstrahieren, wäre eine unzulässige Begrenzung der
Domäne der Geschichtswissenschaft. Würde man ihr z. B., was die
Darstellung betrifft, nur die forschungsnahen Formen einer Monogra-
phie oder Quellenedition als wissenschaftsspezifisch zubilligen, dann
bliebe nicht nur nach wie vor der Formungsaspekt (wenn auch ganz re-
stringiert) historischer Fachlichkeit übrig, sondern überdies würde die
Geschichte als Wissenschaft um die historiographischen Früchte ihrer
Forschungsarbeit gebracht.
Das gleiche gilt für die praktische Funktion historischenWissens: Da
es stets - wenn auch oft auf verschlungenen Wegen - einen maßgebli-
chen Einfluß auf den historischen Erkenntnisprozeß (vor allem über
dessen Initiation, die historische Frage) ausübt, würde eine Ausblen-
dung dieses Faktors aus dem fachlichen Selbstverständnis der Ge-
schichtswissenschaft nur zu seiner unkontrollierten Wirkung, also zu
einem Stück praktischer Bewußtlosigkeit der historiographischen Pra-
xis beitragen. Überdies würden die Historiker daran gehindert, sich
mit ihrer Fachkompetenz direkt auf den praktischen Gebrauch des von
ihnen produzierten historischenWissens einzustellen, sich auf einen
solchen Gebrauch explizit zu beziehen. Politik durch historische Legi-
timation, Erziehung durch Geschichtsunterricht und Ästhetik durch
museale Präsentation historischer Erfahrungen und Deutungen, - dies
alles und manches andere auch würde dem Sachverstand der Histori-
ker entzogen, wenn sie den ihnen als Wissenschaftlern eigenen Ver-
stand nicht in den Formen und Funktionen des historischenWissens
zur Geltung bringen könnten.
Wie aber soll das möglich sein?

9
Die Formung des forschend gewonnenen historischenWissens und
dessen Funktion im praktischen Lebenszusammenhang der Historiker
und Historikerinnen müssen in deren fachlichem Selbstverständnis als
ursprüngliche und wesentliche Faktoren der disziplinaren Matrix der
Geschichtswissenschaft angesehen und ernstgenommen werden. Ge-
rade diese Eigenschaften, mit denen sich die historiographische For-
mung und der praktische Gebrauch des historischen Wissens von der
Wissenschaftlichkeit des historischen Erkenntnisprozesses zu entfer-
nen scheinen, müssen als wichtige Bestimmungsgrößen der histori-
schen Arbeit untersucht werden. Da eine Historik vornehmlich da-
nach fragt, worin die für die Geschichte als Fachwissenschaft maßgeb-
liche Ausprägung der historischen Erkenntnis besteht, gilt die Unter-
suchung der Faktoren ,Formen und Funktionen' vor allem zwei Fra-
gen: Welche Ordnungsschemata gibt es für diese Faktoren im histori-
schen Erkenntnisprozeß, und wie hängen diese Schemata mit den für
die Geschichte als Fachwissenschaft insgesamt konstitutiven Prinzi-
pien diskursiver Geltungssicherung zusammen? Wenn die Historiker
Texte verfassen und sich auf Anforderungen des kulturellen Lebens ih-
rer Gegenwart (z. B. auf politisches Ansinnen der Herrschaftslegitima-
tion, auf pädagogische Probleme des Geschichtsunterrichts, auf die
Gestaltung historischer Museen) beziehen oder wenn sie dort tätig
sind, - was machen sie dann mit ihrer Wissenschaft? Welchen Verfah-
rensarten und Regulativen folgen sie dann? Gibt es Ausprägungen die-
ser Regulative, von denen man sagen kann, daß sie der für die Ge-
schichte als Wissenschaft eigentümlichen Art des historischen Denkens
entsprechen?
Es würde in die Irre führen, wissenschaftsspezifische oder-konstitu-
tive Ordnungsschemata der historiographischen Gestaltung und der
praktischen Wirkung historischenWissens in der Form historiographi-
scher und politisch-didaktischer Kunstregeln zu entwerfen. So wün-
schenswert eine geschulte Rhetorik und politisch-didaktische Kompe-
tenzen von Historikern auch allemal sind, wenn es darum geht, histori-
sches Wissen als wichtige Orientierungsgröße der Lebenspraxis zur
Geltung zu bringen,-die Historik ist kein Rezeptbuch, und Vorschrif-
ten in Form von Rezepten sind letztlich innovationsfeindlich. Und da
die Wissenschaft eine institutionalisierte Innovationschance ist, wür-
den sich die infragestehenden Ordnungsschemata wissenschaftsfeind-
lich auswirken, wenn sie die Form von Kunstlehren annähmen. Aller-
dings ist das Gegenteil von steriler Rezeptologie nicht die bloße

10
Unordnung, keine dionysische Wildnis in der Grundlagendimension
der historiographischen Formung und der praktischen Wirkung histori-
schen Wissens. Denkbar wäre eine Einsicht in Prinzipien und eine Re-
flexion von Gesichtspunkten, die die Wissenschaftlichkeit der Ge-
schichtswissenschaft in der historiographischen Formung und kulturel-
len Wirkung historischen Wissens zur Geltung bringen könnten. Es
müßte sich um Prinzipien und Gesichtspunkte handeln, die die Nähe
der Formung und Wirkung zur methodischen Regulierung der histori-
schen Forschung ausmeßbar und abschätzbar machen. Vielleicht gibt
es sogar darüber hinaus auch in der vermeintlichen Wissenschafts-
ferne, in die die Lebendigkeit der Darstellung und der politisch-kultu-
rellen Wirkung das historische Wissen rückt, Gestaltungsprinzipien
dieser Lebendigkeit, die komplementär der Wissenschaftlichkeit des
historischenWissens entsprechen, um dessen Leben es geht.
Mit dieser Frage knüpfe ich an den Ausgangspunkt dieser Historik
an. Dort ging es um eine innere Verbindung der Wissenschaftlichkeit
der Geschichtswissenschaft mit der Eigenart historischen Denkens.
Von seinem lebensweltlichen Ursprung her sollte die besondere Ratio-
nalität der historischen Erkenntnis einsehbar werden. Die Frage nach
der historiographischen und politisch-kulturellen Lebendigkeit des hi-
storischenWissens führt zu diesem lebensweltlichen Ursprung der Ge-
schichtswissenschaft zurück: Der reflektierende Blick der Historik,
der es um Formen und Funktionen des historischen Denkens geht,
wendet sich zurück auf die elementaren und allgemeinen Prozesse der
narrativen Sinnbildung durch die Operationen des Geschichtsbe-
wußtseins.
Jetzt allerdings stellt sich die Frage nach dem lebensweltlichen Zu-
sammenhang historischenWissens spezifischer, als es hinsichtlich der
allgemeinen lebensweltlichen Grundlagen der historischen Forschung
der Fall war. Sie ist geschärft durch die Einsicht in die für die Ge-
schichte als Wissenschaft maßgeblichen methodischen Prinzipien dis-
kursiver Geltungssicherung, die das historische Denken als For-
schungsprozeß einrichten. Jetzt geht es bei der Frage nach dem histori-
schen Erzählen nicht mehr um die fundamentalen Operationen des
Geschichtsbewußtseins überhaupt und im ganzen, sondern um den
Formungsprozeß des historischen Wissens, der sich vom Erkenntnis-
prozeß der historischen Forschung unterscheiden und als unterschie-
dener systematisch auf die Forschung beziehen läßt. Daß in diesem Be-
zug ein wesentlicher Faktor der Wissenschaftsnähe oder der Wissen-

11
Schaftsspezifik der historiographischen Gestaltung liegt, daran dürfte
wohl kein Zweifel bestehen.
Auch dann, wenn die Historik über die Formung des historischen
Wissens hinaus nach dessen kulturellen Funktionen fragt, geht es um
historisches Erzählen als Basisoperation des Geschichtsbewußtseins.
Jetzt geht es darum, was dieses Erzählen als soziale Tatsache aus-
macht. Es geht um Verwendung und Gebrauch von .Geschichten' im
kulturellen Leben einer Gesellschaft. Und im Rahmen einer Historik
steht dabei der Wissenschaftsbezug dieses Gebrauchs im Mittelpunkt.
Was bewirkt die für die Geschichte als Wissenschaft maßgebliche Art
und Weise des Erzählens von Geschichten in deren praktischem Ge-
brauch? Welche Rolle kann und soll die argumentative Struktur histori-
scher Sinnbildung im kulturellen Leben einer Gesellschaft spielen?
Und wie kann und soll die Geschichte als Wissenschaft dieser Rolle ge-
recht werden?
Nach wie vor also geht es um die für die Geschichte alsWissenschaft
maßgebende Vernunft, um die Chancen diskursiver Geltungssiche-
rung im deutenden Umgang mit der menschlichen Vergangenheit.
Hinsichtlich der historiographischen Formung spitzt sich diese Ver-
nunftfrage auf das Problem zu, wie die historische Forschung und die
historiographische Formung aufeinander bezogen sind. Wie kann die
für die Forschung maßgebliche Diskursivität im deutenden Umgang
mit der historischen Erfahrung in der Darstellung historischer Deu-
tungen festgehalten, wie kann sie spezifisch historiographisch zur Gel-
tung gebracht werden? Die Antwort auf diese Frage betrifft den für
die historiographische Praxis maßgeblichen Gesichtspunkt des Adres-
satenbezuges. Er kann höchst unterschiedlich gestaltet werden. Eine
Historik, der es um Geschichte als Wissenschaft geht, nimmt den
Spielraum der historiographischen Möglichkeit unter dem Gesichts-
punkt in den Blick, wie das Vernunftvermögen der Adressaten im Um-
gang mit historischem Wissen und historischer Erfahrung gestärkt
werden kann.
Wenn sich die Historik der narrativen Sinnbildung des Geschichtsbe-
wußtseins als sozialer Tatsache zuwendet, dann fragt sie danach, ob
und wie sich die Geschichtswissenschaft zum praktischen Gebrauch
des von ihr produzierten historischen Wissens im Lebenszusammen-
hang der Historiker verhält. Die Geschichte alsWissenschaft steht in
einem für ihre ureigensten Erkenntnisoperationen höchst wichtigen
Verhältnis zur Lebenspraxis; sie kann ihr gegenüber keine strukturelle

12
Neutralität beanspruchen. Das haben die einschlägigen Überlegungen
zum Problem der historischen Objektivität ergeben.3 Es reicht aber
nicht aus. an die für die Geschichte alsWissenschaft maßgeblichen For-
men historischer Objektivität bloß zu erinnern, wenn die praktischen
Funktionen des historischenWissens zur Debatte stehen. Der prakti-
sche Gebrauch historischenWissens müßte vielmehr als unabweisbare
Zumutung an die Geschichtswissenschaft reflektiert werden. (Es ist
die Zumutung an die Fachleute, den Sitz ihrer Wissenschaft im Leben
nicht mit einem Elfenbeinturm im luftleeren Raum zu vertauschen.)
Es müßten besondere Gesichtspunkte und Prinzipen ausgemacht, ex-
pliziert und begründet werden, die den praktischen Gebrauch histori-
schenWissens betreffen. Der in der wissenschaftlichen Praxis selber in-
härente Lebensbezug muß reflektiert werden; dann kann er auch be-
wußt zur Geltung gebracht werden, wenn die Geschichtswissenschaft
(konkreter: wenn Historiker) zur Gestaltung dieses Lebensbezuges
selber aufgefordert werden. Immer wieder werden die Fachleute zu
solchen Gestaltungen aufgefordert, so z. B. wenn sie in Richtlinien-
kommissionen oder in Planungsgremien historischer Museen berufen
werden, und nicht selten drängt es sie zu solchen Tätigkeiten. Schon
deshalb sollte der Praxisbezug des historischenWissens nicht nur unter
der Fragestellung reflektiert und diskutiert werden, wie sich in ihm hi-
storische Objektivität sichern oder retten läßt, sondern als Problem ei-
ner aktiven Ausgestaltung formuliert und im Selbstverständnis der Ge-
schichtswissenschaft auch systematisch formuliert und angegangen
werden.
Wie dem auch sei, Geschichte steht als Fachwissenschaft stets in ei-
nem inneren Zusammenhang mit Erziehung, Politik und Kunst. Sie
muß sich zu diesem Zusammenhang selber verhalten, und es wäre eine
verhängnisvolle Verkürzung des fachlichen Selbstverständnisses der
professionalisierten Historiker, wenn sie den bloßen Vollzug des Wis-
senschaftsprozesses selber schon für ein hinreichendes Verhältnis hiel-
ten. Sie sollten es nicht anderen überlassen, die praktische Wirkung hi-
storischen Wissens auf Regulative hin zu bedenken und zu gestalten,
die anders sind als diejenigen der Forschung und der forschungsbezo-
genen Historiographie. Es gibt eben kulturelle Funktionen des histori-
schen Wissens, die nicht schon dadurch erfüllt werden, daß es produ-
ziert und historiographisch gestaltet wird, und es ist nicht einzusehen,
wieso die Geschichtswissenschaft von der Erfüllung dieser Funktionen
ferngehalten werden soll. Sie kann von ihnen nicht ferngehalten wer-

13
den, weil ihre Erkenntnisarbeit letztlich auf Impulsen beruht, die zu ih-
nen hinführen.
Mit den Fragen nach Formen und Funktionen des historischenWis-
sens kehrt der Gedankengang der Historik zurück an ihre Anfänge, wo
der Ursprung des historischen Denkens in den Kulturleistungen der
menschlichen Lebensführung aufgewiesen werden sollte. Mit dieser
Rückkehr sollte der Ertrag der bisherigen Überlegungen, der Aufweis
der für die Geschichte als Wissenschaft möglichen Vernunftchancen
des historischen Denkens, als Lebenschance im Kontext der Ge-
schichtswissenschaft deutlich werden. Was wäre eine Vernunft, zu der
die Geschichte alsWissenschaft fähig ist, wert, wenn sie dort nichts aus-
richtete, wo Wissenschaft verwurzelt ist: in den Vorgängen, in denen
Menschen sich darum mühen, menschlich zu leben.

14
1. KAPITEL

Topik - Formen der Geschichtsschreibung

Wenn es Nothdurft ist, Geschichte zu lernen, so


hat derjenige nicht für den Undank gearbeitet,
der sie aus einer trockenen Wissenschaft in eine
reizende verwandelt.
Friedrich Schiller4

Ich aber setze mir die rhetorisch lexikale Weltge-


schichte durch eegenes Ingenium zusammen; ich
prüfe, wer sich ewig bindet...
Hobble Frank"

Daß das Schreiben von Geschichte zur Aufgabe von Historikern ge-
hört, ist trivial. Wie es dazu gehört, ist ein Problem. Die Prozedur der
Geschichtsschreibung verschwimmt in der Reflexionsarbeit an den
Grundlagen der Geschichtswissenschaft im Zwielicht eines ungeklär-
ten Vorgangs. Dieser Vorgang wird natürlich vollzogen, und er ist auch
allerlei öffentlicher Anerkennung, ja sogar spezieller Preise wert; aber
im Gegensatz zur methodologischen Durchdringung der Forschung
sperrt sich die professionelle historiographische Praxis gegen eine Re-
gelung vergleichbarer Art. Sie wird einem Ingenium literarischer Kom-
petenz zugeordnet, deren Wichtigkeit unbestritten ist, die aber nichts-
destoweniger in einem unklaren Verhältnis zur Professionalität der hi-
storischen Forschung steht.
Ein unklares Verhältnis zwischen Wissenschaftlichkeit und historio-
graphischer Kunst in der Historik muß aber nicht unbedingt ein Nach-
teil sein. Im Gegenteil, es könnte in der Geschichtswissenschaft selber
der Produktivkraft literarischer Formung zugeschlagen werden, deren
Regellosigkeit zu ihrer Wirkungsmächtigkeit gehören könnte. Eine
solche Doppelbödigkeit in der Einschätzung dessen, was Historiker
tun, und eine solche Unterschiedlichkeit in der Regelung dieses Tuns
ist aber nichtsdestoweniger ein Problem, weil es die Logik der histori-
schen Erkenntnis selber und damit auch den Status der Geschichte als

15
Wissenschaft, ihre Geltungsansprüche und die Einschätzung ihrer
Rolle im kulturellen Leben der Gegenwart betrifft.
Ranke hatte das Problem, das diese Statusfrage aufwirft, so formu-
liert:
„Die Historie unterscheidet sich dadurch von anderen Wissenschaf-
ten, daß sie zugleich Kunst ist. Wissenschaft ist sie: indem sie sammelt,
findet, durchdringt; Kunst, indem sie das Gefundene, Erkannte, wie-
dergestaltet, darstellt. Andere Wissenschaften begnügen sich, das Ge-
fundene schlechthin als solches aufzuzeichnen: Bei der Historie gehört
das Vermögen derWiederhervorbringung dazu. AlsWissenschaft ist sie
der Philosophie, als Kunst der Poesie verwandt." 6
Ranke sah den Unterschied der Geschichtswissenschaft zu beiden
(Philosophie und Kunst) im forschenden Charakter der historischen
Erkenntnisoperationen, im Sammeln, Finden und Durchdringen von
Heuristik, Kritik und Interpretation. Daran hat sich bis heute nichts
geändert. Wir wissen inzwischen mehr über die ,Verwandtschaft' von
Historie und Philosophie, zumindest insoweit, als sich forschungsspe-
zifische Prozeduren der Theoriebildung und theoriegeleiteter histori-
scher Erklärungen identifizieren und beschreiben lassen. 7 Worin aber
die „Verwandtschaft" der historischen Forschung mit der Kunst be-
steht, was „dasVermögen derWiederhervorbringung" durch Historio-
graphie gegenüber der methodischen Rationalität der historischen
Forschung bedeutet, und ob und wie es von ihr Gebrauch macht oder
nicht vielmehr über eigene Vernunftprinzipien verfügt, - das sind nach
wie vor offene Fragen. Lange Zeit waren diese Fragen in der Ge-
schichtswissenschaft nicht vordringlich. Ranke z. B. war der Meinung,
es käme vor allem auf die „gründliche Erforschung des einzelnen" an,
und er ließ „das Übrige gottbefohlen", hielt also die historiographi-
sche Formung des forschend gewonnenen Wissens für eine leicht voll-
ziehbare Konsequenz aus der Forschung. Deren kritisches Potential
wurde entschieden gegen das „Erdichten" einer historiographischen
Tradition gewendet, die sich des Mittels literarischer Fiktionen be-
diente, um historische Vorgänge anschaulich zu vergegenwärtigen. 8
Demgegenüber wird aber in der aktuellen geschichtstheoretischen
Diskussion der Formungsaspekt des historischenWissens mit linguisti-
schen Argumenten als ausschlaggebend für den kognitiven Status und
die davon abhängende kulturelle Funktion des historischen Denkens
behauptet und begründet.
Die Historiographie ist ins Schlaglicht einer prinzipiellen Bedeu-

16
tung gerückt, das auf die Forschung und ihre methodischen Operatio-
nen den Schatten einer bloß sekundären Rationalisierung primär poe-
tischer oder rhetorischer Sinnbildungen wirft. Ist nun die Geschichts-
schreibung eine Funktion der Forschung oder die Forschung eine
Funktion der Geschichtsschreibung?
Ich halte diese Alternative für unproduktiv, weil sie wesentliche und
gleichursprüngliche Faktoren der disziplinaren Matrix so thematisiert,
daß die Erhellung der einen zur Verdunkelung der anderen führt. Da-
bei kommt es doch darauf an, das komplexe Gebilde ihrer systemati-
schen Zusammenhänge als Basis einer tragfähigen historischen Er-
kenntnisarbeit zu analysieren. Dazu ist es zunächst einmal notwendig,
mit der Frage nach den Formen der historischen Darstellung den
Bannkreis der Prinzipien der historischen Forschung zu überschreiten,
auf den derWissenschaftlichkeitsanspruch der Geschichtswissenschaft
das Selbstverständnis der Historiker einzuschränken pflegt.
In einem frühen Stadium der Wissenschaftsentwicklung waren For-
schung und Darstellung noch unter einen übergreifenden Methoden-
begriff subsumierbar. Noch in der ersten Fassung seiner Historik hielt
Droysen die Darstellung für eine Erkenntnisoperation, die sich zwang-
los an diejenige der Interpretation anschließen ließ.'' Je schärfer je-
doch der Blick auf die Regulative der historischen Erkenntnis wurde,
die sie als Forschungsprozeß definieren, desto strenger grenzte sich die
Darstellung als eine Operation eigener Art von derjenigen der For-
schung ab. Diese Abgrenzung besteht darin, daß die Forschung sich
grundsätzlich auf die Erfahrungsbestände der Vergangenheit und die
historische Darstellung sich grundsätzlich auf den Adressaten in der
Gegenwart bezieht. Mit diesem Adressatenbezug gewinnt der diszipli-
nare Faktor ,Formen der Darstellung' seine Eigenart und sein Eigen-
gewicht im historischen Erkenntnisprozeß. Mit ihm organisiert sich
die Historiographie nach eigenen, von der Forschung unterschiedenen
Regulativen.
Ich möchte in den folgenden Abschnitten zunächst diesen prinzipiel-
len Unterschied der historiographischen Formung von der histori-
schen Forschung herausarbeiten. Dazu reicht es freilich nicht, darauf
hinzuweisen, daß und wie das historische Wissen durch den Adressa-
tenbezug seiner Formung geprägt wird. Der Rückbezug der Ge-
schichtsschreibung auf die Forschung darf nicht fehlen; denn mit ihm
hält die Historiographie die Geltungsansprüche des historischenWis-
sens aufrecht, die es als Resultat der Forschung in sich trägt. Es geht

17
mir nicht darum, den Reichtum und die Vielfalt historiographischer
Darstellungsmöglichkeiten auszubreiten und den literarischen Cha-
rakter der Historiographie zu explizieren. Das liegt nicht nur an man-
gelnder literaturwissenschaftlicher Kompetenz, sondern hat einen sy-
stematischen Grund: Im Rahmen einer Historik reflektiert die Ge-
schichtwissenschaft ihre Grundlagen in der Absicht, den ihr alsWissen-
schaft eigentümlichen Anspruch auf Vernunft (als Inbegriff geltungssi-
chernder kognitiver Prinzipien) differenziert darzulegen und zu be-
gründen. Dies gilt auch für den Faktor der historiographischen Gestal-
tung des historischen Wissens. Die Literaturwissenschaft interessiert
sich für die ästhetischen Möglichkeiten, Eigentümlichkeiten und Qua-
litäten der Geschichtsschreibung. Dabei kann durchaus das Spezifi-
kum der wissenschaftskonstitutiven methodischen Rationalität aus
dem Blick geraten. Daher sollte es in einer Historik vornehmlich
darum gehen, nach dieser Rationalität in der Geschichtsschreibung zu
fragen.
Nichtsdestoweniger möchte ich die unproduktive Alternative Wis-
senschaft oder Literatur vermeiden und die Rankesche Einsicht in die
Einheit von Kunst und Wissenschaft erneuern. Daher richtet sich die
Frage nach der historiographischen Formung zunächst einmal zurück
auf die allgemeinen und elementaren Prozesse der historischen Sinn-
bildung, in denen sich die Erinnerungsarbeit des menschlichen Ge-
schichtsbewußtseins vollzieht. Ich ,hintergehe' gleichsam den Unter-
schied zwischen wissenschaftlichen und literarischen Elementen der
historischen Erkenntnis, indem ich deren lebensweltliche Fundamente
anspreche. Ich möchte also zunächst einmal die historiographische
Formung als Modus der lebensweltlichen Bewußtseinsoperation des
historischen Erzählens explizieren. Dabei möchte ich den Blick auf die
Spielbreite spezifisch historischer Modi der Sinnbildung über Zeiter-
fahrung richten. Sie soll in der Form einer allgemeinen Typologie des
historischen Erzählens ausgemessen werden: Mit ihrer Hilfe kann die
Vielfalt historiographischer Gestaltungen kategorial geordnet und cha-
rakterisiert werden. Erst auf der Folie einer solchenTypologie läßt sich
ausmachen, wie sich der Rationalitätsgewinn historiographisch aus-
trägt, den das historische Denken durch die Prozeduren der Forschung
gewinnt. Ich möchte daher abschließend der Frage nachgehen, wie
sich die Erträge der Forschung in den narrativen Sinnbildungsprozes-
sen des Geschichtsbewußtseins niederschlagen, deren innere Formen
typologisch erschlossen worden sind.

18
1. Historische Forschung und Geschichtsschreibung

a) Historiographie als Theorieproblem

Forschung und Geschichtsschreibung sind zwei Seiten und auch zwei


Phasen des historischen Erkenntnisprozesses. Sie lassen sich nur
künstlich voneinander unterscheiden. Denn jede Forschung zielt
grundsätzlich auf Geschichtsschreibung, und zwar nicht nur deshalb,
weil ihre Ergebnisse sprachlich verfaßt werden müssen, sondern weil
sie grundsätzlich und immer als Bausteine einer Geschichte fungieren
und auch so angesehen werden. Die durch die Forschung geleisteten
Problemlösungen stehen stets im Rahmen von Geschichten; sie dienen
der Klärung zeitlicher Verläufe im umgreifenden Zusammenhang ei-
nerVorstellung, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zum Sinn-
gebilde einer praktisch wirksamen Zeitorientierung verbindet.10 Um-
gekehrt gibt es keine Geschichtsschreibung, die nicht Wahrheitsan-
sprüche stellte, und damit ist sie tendenziell auf Forschung bezogen.
So sehr aber Forschung und Geschichtsschreibung ineinander über-
gehen oder zwei Seiten ein und derselben Sache darstellen, so lassen
sie sich andererseits aber nichtsdestoweniger plausibel unterscheiden
und (wenn auch in künstlicher Abstraktion) als zwei Phasen im histori-
schen Erkenntnisprozeß ansehen. Diese Unterscheidung beruht auf
den schon genannten zwei Prinzipien: dem Prinzip des Erfahrungsbe-
zuges des historischen Denkens bei der Forschung und dem Prinzip
des Adressatenbezuges bei der historischen Darstellung. Beide Prinzi-
pien bestimmen formale Aspekte der historischen Erkenntnis. Bei der
Forschung handelt es sich um eine kognitive Form, um eine gedankli-
che Struktur, die auf Regulativen des Verfahrens im Umgang mit der
historischen Erfahrung, also auf methodischen Prinzipien beruht. Bei
der Darstellung handelt es sich um eine expressive Form der sprach-
lich-,literarischen' Gestaltung, die auf Regulativen des Verfahrens im
Umgang mit historischem Interesse, also auf ästhetischen und rhetori-
schen Prinzipien beruht.
Beide Formaspekte kommen immer zusammen vor. Wieso gibt es
dann überhaupt ein Problem ihres Verhältnisses zueinander (wenn es
mehr sein soll als das allgemeine und in seiner Tiefgründigkeit den
Rahmen einer Historik natürlich überschreitende Problem von Spre-
chen und Denken)? Für die Problematik dieses Verhältnisses gibt es

19
weniger logische als historische Gründe. Im Verwissenschaftlichungs-
prozeß des historischen Denkens verselbständigt sich nämlich die For-
schung zum besonderen Gebilde einer akademischen Institution. Die
Ermittlung historischer Tatsachen und die Begründung ihrer Tatsäch-
lichkeit sind Elemente jeder Geschichtsschreibung (wobei allerdings
das, was Tatsächlichkeit und deren Plausibilität jeweils ist, im Laufe
der Zeiten und im Unterschied der Kulturen erheblich variieren
kann). Mit der Geschichtswissenschaft gewann jedoch die Forschung
im historischen Erkenntnisprozeß ein Eigengewicht, demgegenüber
die historiographische Gestaltung von Forschungsergebnissen als se-
kundär, ja als bloße Funktion der Forschung, erschien. Da die Wissen-
schaftlichkeit der historischen Erkenntnis mit ihrem forschenden Cha-
rakter identifiziert wurde, erschien der historiographische Gestal-
tungsvorgang als außerwissenschaftliche Angelegenheit. Rankes anti-
rhetorische Wendung: „Nackte Wahrheit ohne allen Schmuck"11
brachte zum Ausdruck, daß die entscheidende Sinnbildungsleistung
der historischen Erkenntnis im Forschungsprozeß gesehen wurde. Da
es hier darum ging, den spezifisch historischen Zusammenhang quel-
lenkritisch ermittelterTatsachen derVergangenheit empirisch zu ermit-
teln, blieb für die Darstellung eigentlich nichts spezifisch Erkenntnis-
mäßiges mehr übrig: Sie hatte der ermitteltenTatsächlichkeit lediglich
die adäquate Form zu geben.
Nichtsdestoweniger zeichnete diese Form nun ausgerechnet eine be-
sondere literarische Qualität aus, die in Theodor Mommsens Römi-
scher Geschichte sogar mit dem Nobelpreis für Literatur geehrt wurde
(1902). Das ändert aber nichts daran, daß im Selbstverständnis der
professionellen Historiker alle diejenigen Elemente und Faktoren der
historiographischen Gestaltung, die sich nicht funktional auf die For-
schung beziehen ließen, verdächtig waren: Sie hatten den haut goüt
unwissenschaftlichen Literatentums an sich. Der strenge Forschungs-
bezug allein war der für die Geschichte alsWissenschaft maßgebliche
Gesichtspunkt, unter dem Historiographie reflektiert wurde.12 Auch
die elaborierteste Theorie der Geschichtsschreibung im Horizont des
Historismus, Droysens Topik, entwickelt eine Typologie historiogra-
phischer Formen, die letztlich darauf beruht, daß die Erkenntnisope-
ration der historischen Interpretation auf verschiedene Dimensionen
des Geschichtsbewußtseins der Rezipienten bezogen wird.13 Das ei-
gentlich Literarische, womit sich historiographische Gestaltungen von
den operativen Vorgängen der historischen Forschung unterschieden,

20
und das - worauf die philosophische Ästhetik von Anfang an hingewie-
sen hatte - ein eigenes und nicht durch die kognitive Form der For-
schung substituierbares Element von Erkenntnis enthält, blieb eine
Quelle der Beunruhigung und des Dissenses im Selbstverständnis pro-
fessionalisierter Historiker. Von der Kontroverse zwischen Bury und
Trevelyan um die Jahrhundertv/ende an14 zieht sich bis in die Gegen-
wart eine Kette von Diskussionen, in denen der wissenschaftsspezifi-
sche und auf den Prozeduren der Forschung beruhende Charakter der
Geschichtsschreibung gegen ihre ästhetische Qualität als Produkt und
Manifestation einer eigenen sprachlichen Gestaltungskraft ausgespielt
wurde. Aktuelle Beispiele sind die Debatte zwischen Golo Mann und
Hans-Ulrich Wehler15 und Lawrence Stones Essay über die Wiederbe-
lebung der Erzählung und die daran sich anschließenden Auseinander-
setzungen.16
In der jüngeren Debatte über den wissenschaftlichen Status und die
Kunstnähe der Geschichtswissenschaft hat sich der Gegensatz der Per-
spektiven, in denen das Metier der Historiker erscheint, zu bemer-
kenswerter Schärfe gesteigert. Auf der einen Seite steht ein gewachse-
nes Selbstbewußtsein der Geschichtswissenschaft hinsichtlich ihrer
Rationalitätsansprüche; es gründet sich auf die Errungenschaften ana-
lytischer Methoden und des Gebrauchs theorieförmiger Konstrukte
zur erklärenden Rekonstruktion derVergangenheit. In dieser Hinsicht
ist der Kunstcharakter der Historiographie eher ein Relikt (noch)
nicht überwundener historiographischer Traditionen. Methodische
Rationalität steht gegen ästhetische Gestaltungskraft. „It will never be
literature" - dieser Ausspruch eines Vertreters der New Economic Hi-
story markiert den Gegensatz.17
Auf der anderen Seite steht eine wachsende Einsicht in die Unver-
zichtbarkeit erzählender Elemente in der Darstellung von Geschichte
(,erzählend' hier im engeren Sinne einer historiographischen Darstel-
lungsform neben anderen).18 Darüber hinaus wird der narrativen
Struktur des historischen Wissens in tieferen Einsichten eine beson-
dere Bedeutung beigemessen. Diese Struktur betrifft die logische Ei-
genart der historischen Erkenntnis. Zudem hat der geschärfte Blick
auf die narrativen Operationen des Geschichtsbewußtseins Faktoren
der historischen Erkenntnis ans Licht gebracht, die sich mit dem land-
läufigen Verständnis wissenschaftlicher Rationalität (das natürlich am
Paradebeispiel der mathematisierenden Naturwissenschaften entwik-
kelt worden ist) kaum vereinbaren lassen. Die für das historische Den-

21
ken fundamentalen Sinnkriterien, mit denen vergangene Gescheh-
nisse allererst in einen spezifisch geschichtlichen Zusammenhang ge-
rückt werden (post festum), haben eine besondere Qualität: Hayden
White hat sie als ,poetische' beschrieben und damit in der geschichts-
theoretischen Debatte höchst folgenreich gewirkt.19 Mit dieser narrati-
ven oder gar poetischen Eigenart sperrt sich das historische Denken
gegen seine Subsumtion unter ein einheitswissenschaftliches Konzept
(nomologischer) Rationalität. Der linguistische Blick dieses Konzepts
von (Meta-)Theorie der Geschichtswissenschaft gilt den sprachlichen
Prozeduren, durch die quellenkritisch ermittelte Tatsachen ihren spezi-
fisch historischen Sinn erhalten, indem sie narrativ miteinander ver-
knüpft werden und dabei Vergangenheit zu .Geschichte' wird. Diese
Prozeduren machen eine Tiefendimension der Historiographie aus, in
der sich überraschende Gemeinsamkeiten mit literarischen Formen
der Sinnbildung ergeben. In der geschichtswissenschaftlichen Inter-
pretation und Darstellung historischer Zusammenhänge prägen sich
fundamentale Modi sprachlicher Bedeutungsverleihung von Sachver-
halten aus, die bisher zumeist nur an literarischenTexten aufgewiesen
wurden. Hayden White hat diese Modi als Metapher, Metonymie.
Synekdoche und Ironie typologisch expliziert und als „Tropen" histori-
scher Sinnbildung interpretiert.20 Sie sind es, die letztlich die Interpre-
tation quellenkritisch ermittelter Tatsachen bestimmen; sie verleihen
dem zeitlichen Zusammenhang dieser Tatsachen seinen spezifisch
geschichtlichen Sinn. Im Lichte einer solchen Auffassung wird die For-
schung als bloße Rationalisierung solcher Sinngebungen verstanden.
Sie wird auf linguistische Prinzipien hin ,hinter'-fragt, die zum Inven-
tar jeder sprachlichen Weltbewältigung und Selbstdeutung des Men-
schen gehören. Sie liegen den methodischen Prozeduren der For-
schung voraus und zugrunde.
Die Behauptung, daß es sich bei den für die historische Interpreta-
tion ausschlaggebenden Gesichtspunkten um poetische Sinnkriterien
handelt, erschüttert den wissenschaftlichen Status der Geschichtswis-
senschaft gründlich. Sie ergibt sich freilich fast unvermeidlich aus dem
traditionellen Wissenschaftlichkeitsverständnis, mit dem sich die Ge-
schichtswissenschaft von ihrer vor-wissenschaftlichen, rhetorischen
Tradition abgegrenzt hatte. In diesem Verständnis garantiert die histo-
rische Forschung eine Tatsächlichkeit, mit der sich forschungsbezo-
gene historiographische Darstellungen fundamental von literarischen
Produktionen unterscheiden. Als Gegenbegriff gegen diese Tatsäch-

22
lichkeit, mit der der spezifisch literarische' oder ,künstlerische' Cha-
rakter nicht wissenschaftsspezifischer Sinnbildungen durch Erzählen
bezeichnet wurde, galt derjenige der Fiktion. Faktizität versus Fiktio-
nalität - darum ging es und geht es heute; nur die Bedeutung des Fikti-
ven hat sich radikal verändert: Es ist nicht mehr das Andere des Histo-
rischen, sondern sein eigentlicher Grund, zumindest ein wesentlicher
Teil von ihm.21
Die Geschichtswissenschaft hat sich lange Zeit viel auf ihre Fähig-
keit, aus den Quellen intersubjektiv überprüfbar Tatsachen (Informa-
tionen) zu ermitteln, zugute gehalten (und die Leistung der Quellen-
kritik läßt sich ja auch kaum in Abrede stellen). Das hat aber dazu ge-
führt, daß dem durch die historische Interpretation ermittelten Zu-
sammenhang der quellenkritisch erhobenen Tatsachen eine Tatsäch-
lichkeit gleicher Art unterstellt wurde. Der faktizistische Stolz der
Quellenkritik übertrug sich auf die eigentlich historische Deutung der
Vergangenheit. Damit zehrte die Geschichtswissenschaft vom kultu-
rellen Prestige einer positivistisch-empiristisch verstandenen Natur-
wissenschaft.22 Natürlich haben in einem solchen Wissenschaftsver-
ständnis Sinnkriterien keinen Platz, die dieTatsächlichkeit des Vergan-
genen in einen Bedeutungszusammenhang mit normativ bestimmten
Orientierungsproblemen der Gegenwart bringen. Im Lichte einer po-
sitivistisch-empiristisch verengten Wissenschaftsauffassung können
diese Gesichtspunkte nur als nicht- oder außer-wissenschaftlich er-
scheinen. Sie werden der Sphäre von Sinngebung und Selbstdeutung
zugeschlagen, die als Kunst die Wertfreiheit derWissenschaft mit Sinn-
und Bedeutungsverleihungen kompensiert. Man pflegt dann von Sinn-
,Stiftung' zu sprechen.
Die neuere Literaturtheorie hat sich viel darauf zugute gehalten, mit
dem Mythos von der Tatsächlichkeit der interpretierend aus den quel-
lenkritischen Befunden erhobenen Geschichte auch den Wissen-
schaftsanspruch der Geschichtswissenschaft infrage zu stellen.23 Sie
blieb freilich in ihrer Kritik von einem positivistischen Wissenschafts-
verständnis abhängig. Daß dieser Positivismus eine gänzlich unzurei-
chende Beschreibung der für die Geschichte alsWissenschaft maßgeb-
lichen methodischen Operationen darstellt, blieb unberücksichtigt.
Wenn es bei der Deutung von Wirklichkeit nur die Alternative zwischen
der Tatsächlichkeit quellenkritischer Befunde und der Fiktionalität
von Sinn- und Bedeutungszusammenhängen gibt, dann gehört die spe-
zifisch historische Erkenntnisoperation der Forschung, die Interpreta-

23
tion, zu letzterem. So läßt sich der poetisch-rhetorische gegen den wis-
senschaftlichen Charakter der Geschichtswissenschaft auspielen.
Schon die Forschung selber vollzieht mit der Prozedur der Interpre-
tation eine Sinnbildung. Daher lassen sich die forschend rekonstru-
ierten historischen Zusammenhänge zwischen den Tatsachen derVer-
gangenheit im Unterschied zur Tatsächlichkeit der quellenkritisch er-
mitteltenTatsachen mit einigem Recht als .Fiktionen' bezeichnen. Das
geht allerdings nur, wenn ein dubioser Wirklichkeitsbegriff unterstellt
wird, der Wirklichkeit als pure (sinn- und bedeutungslose) Faktizität
von Daten oder Informationen definiert. Aber was wäre damit gewon-
nen? Mit der Einsicht, daß der historische Zusammenhang einen ande-
ren ontologischen Status hat als die quellenkritisch ermittelte Tatsa-
che, hört ja die Interpretation noch nicht auf, eine wissenschaftsspezi-
fische Operation zu sein. Etwas vom poetischen Glanz narrativer Sinn-
bildung erleuchtet auch den Geist der Historiker dort, wo sie als For-
scher methodisch geregelt mit den Quellen umgehen. Für die Ge-
schichtsschreibung dürfte noch genügend Glanz für einen eigenen, ei-
nen besonderen Vollzug der narrativen Sinnbildung übrig bleiben.
Eine Problemstellung, in der Forschung und Darstellung gegensätz-
lich untereinander subsumiert oder aufeinander hin funktionalisiert
werden, ist unproduktiv. Forschung und Darstellung sollten beide als
unterschiedliche Vollzüge einer umgreifenden und sich in ihnen ausdif-
ferenzierenden Prozedur narrativer Sinnbildung über Zeiterfahrung
angesehen, analysiert und verstanden werden. Ihre Unterschiede kön-
nen produktiv mit der Frage angegangen werden, welche Gesichts-
punkte oder Regulative für den jeweiligen Vollzug narrativer Sinnbil-
dung durch Forschung und Geschichtsschreibung maßgebend sind.

b) Ästhetik und Rhetorik im Diskurs der Historiographie

Forschung ist der Vorgang narrativer Sinnbildung, in der sich der in je-
dem historischen Denken wirksame Erfahrungsbezug so ausprägt, daß
diese Sinnbildung eine bestimmte kognitive Prägnanz erhält. Diese
kognitive Prägnanz besteht in einem hohen Grad empirischer Sätti-
gung und explanatorischer Form von Geschichten: Forschungsbezo-
gen werden sie so erzählt, daß sie optimal empirisch begründet und
theoriegeleitet erklärt sind.
Die historiographische Darstellung ist demgegenüber ein Modus

24
narrativer Sinnbildung, in dem der Faktor der Adressierung, der An-
sprache von jemandem durch historisches Denken (das ja immer für je-
manden, für ein Publikum oder eine Gruppe von Forschern z. B., ge-
dacht wird) dominiert. Maßgebend für diesen Modus und seine Wis-
senschaftsspezifik ist der Gesichtspunkt der kommunikativen Präg-
nanz Sie betrifft die Rezeptionsfähigkeit von Geschichten. Sie besteht
darin, daß die Rezeption des historiographisch präsentierten histori-
schenWissens in praktischen Lebenszusammenhängen wohlbegründet
erfolgen kann.
Die historische Darstellung ist in ihrem von der Forschung unter-
schiedenen Eigensinn bestimmt durch eine kommunikative Dimen-
sion des historischen Wissens. In dieser Dimension entfaltet sich der in-
nere Bezug, in dem historisches Wissen zu Belangen der menschlichen
Daseinsorientierung steht. In ihr wird es fähig, Individuen und Grup-
pen über die zeitlichen Veränderungen ihrer selbst und ihrer Welt auf-
zuklären, das Verhältnis von Selbst- und Fremdzuschreibung zu be-
stimmten Standpunkten im gesellschaftlichen Leben zu artikulieren,
Macht- und Herrschaftsverhältnisse zu legitimieren und zu kritisieren,
Lebenschancen einzuschätzen und ähnliches.
Dieser .Sitz im Leben', den alles historische Wissen - wie vermittelt
auch immer - einnimmt, wird heutzutage mit der Kategorie des Dis-
kurses' angesprochen. Historischer Diskurs ist die Art der Rede, in der
historischesWissen ,lebt',d. h. als integralerTeil einer wirksamen Das-
einsorientierung auftritt, also ein wesentliches Moment sozialer Bezie-
hung in der menschlichen Lebenspraxis ausmacht. Im historischen
Diskurs wird historischesWissen zu einem Faktor von Deutungskultur,
zu einem Medium von Sozialisation und Individuierung. Als Diskurs
wirkt es in der Art und Weise mit, wie gegenwärtige Lebensverhält-
nisse in ihrer zeitlichen Erstreckung erfahren, gedeutet und im Lichte
von Deutungen praktisch bewältigt werden.
Kommunikative Prägnanz heißt, daß historischesWissen durch die
Art seiner Darstellung diese Funktionen erfüllen kann, und zwar auf
besonders gelingende, auf lebendig eingängige Weise. Die „nackte
Wahrheit", die Ranke am historischen Wissen als Forschungsprodukt
hervorgehoben hatte,24 muß so eingekleidet werden, daß dieses Wis-
sen in die kulturellen Vorgänge der menschlichen Lebenspraxis einge-
hen kann, in denen es um Erfahrung, Deutung und Behandlung zeitli-
cher Veränderung geht. Die Geschichtsschreibung muß die (durch For-
schung) gedeutete Zeit so präsentieren, daß sie zum Element des Le-

25
bens wird, das mit ihr (in den handlungsleitenden Intentionen seiner
Subjekte) eine wirksame zeitliche Richtungsbestimmung erfährt.
Diese Lebendigkeit, diese Partizipation des historischen Wissens an
der kulturellen Bewegtheit der menschlichen Praxis, tritt in der Histo-
riographie als ästhetische und rhetorische Kohärenz der historischen
Darstellung auf.
Die Termini,ästhetisch' und ,rhetorisch' sind erläuterungsbedürftig.
Beide sollen zum Ausdruck bringen, worum es eigentlich bei der histo-
riographischen Gestaltung historischen Wissens geht, insofern sie
mehr und anderes ist als der Gestaltungsvorgang des historischen Den-
kens in der Forschung.
Mit ,ästhetisch' möchte ich zweierlei bezeichnen: eine Ebene und
eine Absicht, mit der jemand durch historische Darstellungen ange-
sprochen wird. Ästhetisch ist eine prä-kognitive Ebene symbolischer
Kommunikation, auf der kognitive Gebilde wie Wissensbestände oder
Erkenntnisse aufruhen müssen, wenn sie im Leben einer Gesellschaft
oder eines Individuums kulturell wirksam sein sollen. Durch das ästhe-
tische Element der historiographischen Gestaltung wird historisches
Wissen sinnlich anschaubar, nimmt es teil an der Eindrucklichkeit und
Überzeugungskraft sinnlicher Anschauung.
Was gemeint ist, läßt sich an einem vielleicht trivialen Beispiel erläu-
tern: Im Geschichtsunterricht kann bei den Schülerinnen und Schü-
lern historischesWissen so angeeignet werden, daß es zu einem toten
Bestandteil ihres Wissensschatzes wird. Es ist dann nur Spielmasse ei-
ner Gedächtnisübung und kann (zwecks Erzielung guter Noten) leh-
rerwunschgemäß reproduziert werden. Es hat keinen Stellenwert in
den mentalen Vorgängen, mit denen Kinder und Jugendliche die zeitli-
che Dimension ihres eigenen Lebens und ihrer Umwelt sich deuten. In
trüben Stunden dürften sich manche Geschichtslehrer eingestehen,
daß viel zu viel der im Unterricht vermittelten Wissensbestände diesen
lebenspraktisch dysfunktionalen Status haben und daß es eine wenig
begründete Hoffnung ist, sie könnten vielleicht in späteren Lebenssi-
tuationen eine wirkliche Bedeutung gewinnen. Auf der anderen Seite
gibt es aber die jeden Geschichtslehrer beglückende Erfahrung, daß
historischesWissen zum Medium des Selbstausdrucks und der Selbst-
verständigung von Kindern und Jugendlichen über die zeitliche Di-
mension ihres eigenen Lebens werden kann. Und die pädagogische Al-
lerweltsweisheit lehrt, daß solche Eingängigkeit historischenWissens
in ganz hohem Maße von der Art abhängt, wie es kommunikativ im

26
Unterricht verhandelt wird. Es muß eine Lebendigkeit entfalten, mit
der es von den Betroffenen als Element ihres eigenen Lebens wahrge-
nommen und angeeignet werden kann. DerTerminus ,ästhetisch' soll
nun ausdrücken, daß diese Lebendigkeit eine prä- und meta-kognitive
Dimension hat, in der die kognitiven Formen und Gehalte der histori-
schen Erkenntnis verwurzelt sein müssen, wenn sie in den mental tief-
sitzenden Handlungsdispositionen durch Zeitdeutung wirken sollen.
Ein anderes Beispiel: Der Vorwurf der .Kälte', den manche Alltags-
historiker der theoriegeleitet arbeitenden Gesellschaftsgeschichte ma-
chen, betrifft deren Fähigkeit zu einer solchen Verwurzelung. Es han-
delt sich letztlich um ein ästhetisches Argument, das die kommunika-
tive Prägnanz des historischenWissens betrifft und nicht primär seine
kognitive. Daher sollte es auch nicht allein als Angelegenheit der For-
schung, sondern eher als das der Geschichtsschreibung diskutiert wer-
den.
Die ästhetische Dimension der Geschichtsschreibung besteht darin,
daß in die formale Gestaltung historischen Wissens die sprachlichen
Elemente eingehen, die die prä- und außerkognitiven Dimensionen
des historischen Diskurses betreffen. Mit diesen Elementen wird die
Subjektivität der Rezipienten auf der Ebene angesprochen, auf der sie
sich mit der Kraft bildhaft-symbolisierender und sinnlich aufgeladener
Weltbewältigung, Selbstexpression und Selbstverständigung bewegt.
Es geht also um mehr als bloß um die literarische Qualität historiogra-
phischerTexte. Es geht um die Kraft sprachlicher Anrede, auf der letzt-
lich auch die literarische Qualität eines Textes beruht: um die Fähig-
keit, Sinnbildungen so zu präsentieren, daß sie beim Rezipienten eine
Bewegung seiner eigenen Sinnbildungskräfte hervorrufen, die seine
Sinnbildungskompetenz erweitert und vertieft.
Damit ist bereits die zweite Bedeutung von .ästhetisch' angespro-
chen. Es meint eine bestimmte Absicht der historiographischen Ge-
staltung auf der vor- und außerkognitiven Ebene. Sie bezieht die sinnli-
che Anschauung und die Kraft bildlicherVorstellungen als Quellen der
praktischen Lebendigkeit historischen Wissens auf die kognitiven In-
halte der historischen Darstellung, und zwar so, daß die historische
Einsicht in den Triebkräften der Lebenspraxis dort, wo handlungslei-
tende Interessen sich formieren, befreiend wirken kann. Mit ihren äs-
thetischen Qualitäten wurzelt die Geschichtsschreibung nicht nur hi-
storisches Wissen in die intentionale Tiefendimension der menschli-
chen Lebenspraxis ein, sondern bringt dort zugleich historische Ein-

27
sieht als Entlastung von Handlungszwängen ein, die zu einem freien,
ungezwungenen Selbstverhältnis der Rezipienten in ihrer historischen
Erinnerung führen kann. Diese Absicht des Ästhetischen auf Freiheit
wurde von der klassischen Philosophie der Kunst (Kant, Schiller, He-
gel) herausgearbeitet.25 Sie läßt sich auch in der Geschichtsschreibung
als gestaltendes Element nachweisen. Sie ist dann wirksam, wenn das
historische Wissen so in den intentionalenTriebkräften der Lebenspra-
xis verwurzelt wird, daß es die historische Erinnerung auf ungezwun-
gene Einstellungen zur Vergangenheit hin öffnet. Mit ihren ästheti-
schen Elementen führt die Geschichtsschreibung historischesWissen
als Faktor der Befreiung in die Handlungsmotivation ein, die von hi-
storischen Erinnerungen abhängt. Zwänge werden so durchschaubar,
daß sie aufgebrochen werden können. Die Subjektivität der Angespro-
chenen wird in die Bewegung einer aktiven Anteilnahme am Erinner-
ten gebracht, aus der sie die Kraft zu einer schöpferischen Zukunfts-
spektive gewinnen kann. Es gibt so etwas wie eine Katharsis der Erin-
nerung durch Historiographie. Durch sie gewinnen die Rezipienten
eine vertiefte Einsicht in sich selbst, in ihre eigene Geschichtlichkeit,
und zugleich eine Handlungsmotivation, in die hinein sich ihr eigenes
Selbst freisetzt von den Zwängen unbegriffen gegenwärtiger („lasten-
der") Vergangenheit. Eine solche befreiende und stimulierende Ka-
tharsis beruht auf der ästhetischen Kohärenz der historiographischen
Gestaltung.
Ich möchte das an den schon erwähnten Beispielen verdeutlichen.
HistorischesWissen kann Kindern und Jugendlichen auf unterschiedli-
che Weise als Medium ihrer Daseinsorientierung ästhetisch angeson-
nen werden: Sie können zu politisch erwünschten Einstellungen mani-
puliert werden, mit denen sie sich ohnmächtig an herrschende Mächte
ausliefern; eine solche Lebendigkeit historischenWissens wäre ästhe-
tisch verfehlt. Sie können aber auch in ihren historischen Einstellun-
gen zu den herrschenden Mächten ihres Lebens ihrer selber mächtig
werden, sich selbst als Gestaltungskraft ihres Lebens gewinnen. Ein hi-
storisches Wissen mit solcher Lebenskraft wäre ästhetisch geglückt. -
Und was das ästhetische Argument betrifft, analytischer Theoriege-
brauch lasse .Wärme' im Umgang mit der historischen Erfahrung ver-
missen, so dürfte die reklamierte .Wärme' als Nähe zur je eigenen Le-
benspraxis und Selbsterfahrung wohl nur in dem Maße historiogra-
phisch plausibel werden, in dem sie nicht auf Kosten des Verstandes
geht, sondern historische Einsicht vertieft und erweitert.

28
In der klassischen Ästhetik wird die prä-kognitive Bewegung der
menschlichen Subjektivität, die durch den Eindruck von Sinnbildern
erzeugt wird, als freies Spiel der Einbildungskraft charakterisiert, das
sich durchaus nicht im Gegensatz zu den für die gedanklich-begriffli-
che Erkenntnisarbeit maßgeblichen Bewußtseinsoperationen voll-
zieht. Im Gegenteil: Das Spiel der Imaginationen gilt als notwendige
Ergänzung, wenn nicht gar als Voraussetzung für das Gelingen kogniti-
ver Leistungen. An dieser Ergänzungs- und Begründungsfunktion äs-
thetisch angeregter Bewußtseinsoperationen gilt es festzuhalten,
wenn das ästhetische Eigengewicht der historiographischen Gestal-
tung in derem Verhältnis zur historischen Forschung zur Geltung ge-
bracht werden soll. Allerdings wird die sinnbildende Imaginationskraft
im Felde des Geschichtsbewußtseins durch den Erfahrungsbezug der
Forschung systematisch begrenzt, - und das heißt immer auch: einge-
grenzt. Herder hat diese Grenze so markiert: „Der Dichter selbst wird
erwürgt, wenn man ihn als Geschichtsschreiber betrachtet."27 Die hi-
storiographische Gestaltung leidet strukturell an einer Grenze des für
eine ästhetische Sinnbildungsproduktion wesentlichen utopischen
Überschusses der Einbildungskraft.
Diese Grenze läßt sich nicht mit der Unterscheidung von Faktizität
und Fiktionalität bezeichnen, da der Sinn- und Bedeutungszusammen-
hang faktischer Geschehnisse in der Vergangenheit deren Faktizität
überschreitet. Wenn man nur die pure Tatsächlichkeit, daß etwas zu ei-
ner bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort auf eine bestimmte
Weise aus bestimmten Gründen der Fall war, als Inbegriff historischer
Faktizität nimmt, dann ist das spezifisch Historische an dieser Faktizi-
tät gerade nicht faktisch, sondern fiktional. Wenn aber .fiktional' hei-
ßen soll, daß dem historischen Zusammenhang von Tatsachen keine
Tatsächlichkeit zukommt, dann ist der utopieträchtigen Kraft des Ima-
ginierens im historischen Denken keine Grenze mehr gesetzt. Dann
macht es keinen Sinn mehr, historische Interpretationen nach dem Ge-
sichtspunkt zu diskutieren und zu kritisieren, in welchem Ausmaß sie
historische Erfahrung verarbeiten oder nicht.
Nun wird aber eine Geschichte ja durchaus nicht in der Schizophre-
nie einer puren Faktizität von Quelleninformationen auf der einen und
einer fiktionalen Imagination ihres spezifisch historischen Charakters
auf der anderen erzählt. Ihre gegenüber derTatsächlichkeit von Quel-
leninformationen viel wirklichere Tatsächlichkeit hat sie in der Form,
in der Vergangenheit immer ein wirksames Element gegenwärtiger

24
menschlicher Lebensführung ist. Die historische Erinnerung zaubert
keine imaginären Sinngebilde aus der Ferne tatsächlicher Vergangen-
heit in die Nähe menschlicher Handlungsorientierung, sondern sie
stellt eine (manchmal geradezu verzweifelte) Anstrengung dar, den
Determinationsdruck derVergangenheit auf das gegenwärtige Leben
und seine Zukunftschancen durch die Deutungsarbeit des Geschichts-
bewußtseins zu mildern. Das Geschichtsbewußtsein bemüht sich
darum, der Last derVergangenheit Gesichtspunkte und Perspektiven
einer Handlungsorientierung abzugewinnen, in denen die Subjektivi-
tät der Handelnden, ihr Streben nach einem freien Verhältnis zu sich
selbst und zu ihrer Welt, zur Geltung gebracht wird. Diese Freiheit ist
mit der oben angesprochenen Qualität des Ästhetischen als Absicht
der historischen Darstellung28 gemeint.
Der Druck derVergangenheit in den Voraussetzungen und Bedin-
gungen aktueller menschlicher Lebenspraxis ist so wirklich wie die in-
tentionalen Elemente dieser Praxis, mit denen die Betroffenen diesen
Druck in Impulse selbstbestimmten Handelns verwandeln wollen.
Diese Wirklichkeit liegt quer zur abstrakten Unterscheidung zwischen
Faktizität und Fiktionalität in der Erinnerungsarbeit des Geschichts-
bewußtseins. Erst dort, wo die Imaginationskraft symbolischer Welt-
deutung, Selbstverständigung und Selbstdarstellung über diese Wirk-
lichkeit hinausgeht, um eine utopische Zeitdimension in der Sinnbe-
stimmung dieses Handelns freizulegen und es in und mit ihr zu simulie-
ren, erst dort liegt die genannte Grenze ästhetischer Möglichkeiten
der historischen Darstellung.29 Und natürlich trennt diese Grenze von
den ästhetischen Potentialen historischer Sinnbildung alle die Berei-
che ästhetischer Sinnbildung ab, die durch die Freisetzung der Einbil-
dungskraft vom Erfahrungsdruck wirklicher Zeitverläufe eröffnet wer-
den.
Die formale Kohärenz, mit der die Geschichtsschreibung dem für
ihre Rolle im Sinnbildungsprozeß des Geschichtsbewußtseins maßgeb-
lichen Gesichtspunkt der kommunikativen Prägnanz Rechnung trägt,
wird mit der ästhetischen Qualität nicht hinreichend erfüllt. Die Kate-
gorie des Ästhetischen ist zu eng. Von ihrer utopienahen Qualität des
Wirklichkeitsüberschusses durch produktive Einbildungskraft abge-
schnitten, verengt sie den Blick auf die Sinnbildungsleistung historio-
graphischer Gestaltung. Mit ihr läßt sich das an der Historiographie
nicht hinreichend deutlich machen, was die Kategorie des Rhetori-
schen bezeichnet.

30
In dieser Kategorie steckt nämlich ein pragmatischer Wirklichkeits-
bezug, mit dem sich das Sinnbildungspotential der Historiographie
nicht negativ, sondern eher positiv von demjenigen ,rein' ästhetischer
Sinnbildungen (im Sinne eines prinzipiellen Wirklichkeitsüberschusses
der Einbildungskraft) in der Kunst unterscheidet. Obwohl die rhetori-
sche und die ästhetische Dimension narrativer Sinnbildungen sich im-
mer überschneiden, läßt sich mit der Kategorie des Rhetorischen die
Wirkungsabsicht auf den Adressaten, die grundsätzlich in jeder sprach-
lichen Gestaltung historischenWissens steckt, schärfer fassen als mit
der Kategorie des Ästhetischen. Die Kategorie des Ästhetischen the-
matisiert weniger die Wirkungsabsicht der Historiographie als viel-
mehr ihre Wirksamkeit oder Wirkungsmächtigkeit, die sie mit der
Kraft der in ihr enthaltenen imaginativen Komponenten entfalten
kann. Die rhetorische Qualität eines historiographischen Textes liegt
demgegenüber in seiner Appellstruktur, in der Art und Weise, wie er
den Adressaten in eine intentionale Bewegung bringt, die sich auf
seine Dispositionen zu Handlungen (in bezug auf andere und in bezug
auf sich selbst) erstreckt. Dieser Bezug auf Handlungsdispositionen
und praktisch wirksames Selbstverständnis wird dadurch gewährlei-
stet, daß die Sinngestalt einer gedeuteten Zeiterfahrung in sprachli-
chen Modi präsentiert wird, die zugleich Modi praktisch wirksamer
Handlungsorientierungen und Identitätsbildungen sind. Die Rhetorik
der Historiographie verbindet die Sprache des historischen Wissens
mit derjenigen Sprache, die die Adressaten des Wissens selber spre-
chen oder besser: immer schon gesprochen haben, insofern ihr Selbst-
und Weltverhältnis fundamental bestimmt ist durch Zeitdeutungen,
durch Einstellungen zu Zeiterfahrungen, durch Muster von Zeitdeu-
tungen. ,HistorischerTopos' ist die terminologische Bezeichnung für
solche die Geschichtsschreiber und ihre Adressaten verbindenden Ar-
ten von Rede oder Sprache, in denen Handeln und Identitätsbildung
zeitlich orientiert werden.30
Mit der Bezeichnung .Topos' für ihre Reflexion der Historiographie
bringt die Historik zum Ausdruck, daß der für die Geschichtsschrei-
bung maßgebliche Gesichtspunkt kommunikativer Prägnanz auf die
Rolle abzielt, die historischesWissen im kulturellen Diskurs ihrer Ge-
sellschaft spielt. .Rhetorisch' ist jede Historiographie, da sie stets
durch Absichten ihrer Autoren bestimmt ist, die sich an potentielle Re-
zipienten richten. Diese Zielrichtung läßt sich genauer bestimmen: Sie
geht (natürlich in unterschiedlichen Graden der Vermitteltheit) auf

31
den Ort der menschlichen Lebenspraxis, wo Sinngebilde gedeuteter
Zeit eine Orientierungsfunktion im praktischen Selbst- und Weltver-
hältnis von Subjekten spielen. Diese rhetorische Zielgerichtetheit ma-
nifestiert sich in ,topischen' Modi historiographischer Rede, in derVer-
wendung historischer Denk- und Argumentationsmuster, die in der
praktischen Lebensbewältigung eine wesentliche Rolle spielen. Ein
Topos verbindet „Systematisierungsabsicht und Überzeugungswillen
des Sprechens in zwangloser Weise";31 die Topik der Historiographie
weist auf, von welchen kulturell eingeschliffenen Mustern der histori-
schen Zeitdeutung wie Gebrauch gemacht wird, wenn historischesWis-
sen wirkungsvoll auf seine Adressaten bezogen wird.
Ästhetik und Rhetorik sind Dimensionen der historiographischen
Gestaltung, durch die historischesWissen die Eigenschaften gewinnt,
mit denen es einen ,Sitz im Leben' einnehmen kann: In der ästheti-
schen Dimension durch eine Sprachkraft, die ihm die prä- und außer-
kognitiven Dispositionen und Intentionen der angesprochenen Sub-
jekte erschließt; in der rhetorischen Dimension durch eine Zielgerich-
tetheit der Ansprache, die ihm die in der praktischen Lebensorientie-
rung und Identitätsbildung immer schon wirksamen Modi, Muster und
Strategien sprachlicher Argumentation erschließt, also den als kultu-
rellen Code wirksamen Diskurs des Historischen in einer Gesellschaft.
Die kommunikative Prägnanz der Historiographie stellt sich in der
ästhetischen und rhetorischen Kohärenz der jeweiligen historiographi-
schen Sprachgestaltung dar. Man könnte diese Kohärenz hinsichtlich
der ästhetischen Dimension als .Schönheit' und hinsichtlich der rheto-
rischen Dimension als .Wirksamkeit' bezeichnen (und damit der be-
kannten Horazischen Funktionsbestimmung der Poesie, dem Pro-
desse und Delectare die Ehre geben). Ästhetisch kohärent ist eine hi-
storiographische Gestaltung dann, wenn sie historischesWissen mit
den sprachlichen Ausdrücken einer Sinnhaftigkeit präsentiert, die dem
Sinnbedarf und dem Sinnbildungsvermögen der Adressaten ent-
spricht. Entsprechendes gilt für das historiographische Kriterium der
rhetorischen Kohärenz: Es wird von Gestaltungen erfüllt, die die ange-
sprochenen Subjekte dort betreffen, wo sie im Medium historischer
Sinnbildungen praktisch tätig sind.
In welchem Verhältnis stehen Ästhetik und Rhetorik der Ge-
schichtsschreibung? Zumeist ist diese Frage dadurch beantwortet wor-
den, daß jeweils die eine Dimension unter die andere untergeordnet
und mit ihr verrechnet wurde. Dies hängt mit der gegenläufigen Ent-

32
Wicklung beider Reflexionsarten über menschliche Kommunikation
zusammen. Die Ästhetik entwickelte sich als eine philosophische Dis-
ziplin, deren Betrachtung der Kunst einen ausgesprochen antirhetori-
schen Effekt hatte: Schönheit als eine besondere kognitive Qualität
sinnlicher Wahrnehmung wurde streng von praktischer Wirksamkeit
getrennt, ja in Gegensatz zu ihr gesetzt, so daß die ästhetische Qualität
einer Sinngestalt sich geradezu daran bemessen ließ, inwieweit sie da-
von Abstand nimmt, sich wirksam in handlungsleitende Absichten ein-
zumischen. Interesselosigkeit galt als wesentliche Qualität des Ästheti-
schen; die ästhetische Kohärenz eines Sinngebildes ließ sich daran fest-
machen, daß es beim Adressaten ein freies Verhältnis zu den Hand-
lungszwängen seiner Lebenssituation bewirkt, ihn also gerade nicht zu
bestimmten Handlungen drängt, sondern ihn vom Drang zum Han-
deln befreit und zu Einsichten in seinen Lebenszusammenhang befä-
higt, die ihm im interessegeleiteten Handlungsvollzug verborgen ge-
blieben wären. Ästhetische Kohärenz disponiert zu einer Freiheit von
Handlungszwängen, die dann ihrerseits dem Handeln eine neue Quali-
tät seiner leitenden Intentionen zuführt: Einsicht in handlungsüber-
greifende Sinnzusammenhänge, die Freiheit als Bewegungsgrund und
Absicht des Handelns zugleich beinhalten. Dieser Befreiungsfunktion
des Ästhetischen gegenüber erschien das Rhetorische als geradezu wi-
der-sinnig; denn es bindet ja die Adressaten einer Sinngestalt in die
Handlungszwänge gezielt ein, die durch die ästhetische Qualität der
Einbildungskraft aufgebrochen werden sollen.
Demgegenüber neigt die Rhetorik dazu, ästhetische Kohärenz nur
als einen rhetorischen Topos zu begreifen, der bestimmte Handlungs-
dispositionen bezweckt. Dies ist insofern nicht unrichtig, als ja die
durch ästhetische Kohärenz angesprochene Freiheitsqualität mensch-
lichen Handelns selber ein Bestimmungsgrund von Handeln ist, - frei-
lich nicht einer neben anderen, sondern derjenige mit der höchsten
Qualität, der eigentliche, der spezifisch menschliche Handlungs-
grund. Er setzt ein Handeln in Kraft, in dem Menschen sich wechsel-
seitig als Zwecke anerkennen und nicht als Mittel zur Verwirklichung
eigener Zwecke gebrauchen.
Ästhetik und Rhetorik müssen sich nicht gegenseitig widersprechen
und auch nicht einander unterordnen. Ihr Verhältnis läßt sich vielmehr
so bestimmen, daß sich die Rhetorik in der Ästhetik auf eine Wirkungs-
absicht sprachlicher Sinngestalt konzentriert, die die Adressaten vor-
gegebener Handlungszwänge enthebt, zu Reflexionen ihrer Freiheits-

33
Chancen befähigt und damit zu qualitativ anderem und neuem Han-
deln disponiert. In der Ästhetik wird die Rhetorik meta-pragmatisch:
Sie setzt eine Behandlung des Handelns in Gang; sie provoziert eine
Einstellung der Subjekte im Handeln zum Handeln, durch die es an
Triebkraft der Freiheit gewinnt.
Was bedeutet dies für die Historiographie? Es geht um eine kommu-
nikative Prägnanz der historiographischen Gestaltung, mit der sie
über ihre praktischen Einwirkungsabsichten (meist politischer Art)
hinausgelangt und ihre Adressaten zu Einsichten in zeitliche Zusam-
menhänge ihrer eigenen Lebenspraxis befähigt, die auch andere prak-
tische Absichten zulassen. Rankes Historiographie z. B. ist ganz zwei-
fellos von konservativen politischen Vorstellungen geprägt, aber die
mit Recht an ihr gerühmte ästhetische Qualität gefällt ja auch Rezi-
pienten mit anderen politischen Standpunkten. Sie bringt ihnen histo-
rische Einsichten nahe, die sie auch mit ihren abweichenden politi-
schen Standpunkten und Interessen betrifft und für sie bedeutend sein
können.
Kommunikative Prägnanz der Geschichtsschreibung besteht also in
einem Vermittlungszusammenhang von ästhetischer und rhetorischer
Kohärenz. In diesem Zusammenhang spielen kognitive Elemente eine
wesentliche Rolle. Für die Historik, der es ja darum geht, Geschichte
alsWissenschaft zu explizieren, ist diejenige Hinsicht auf die Historio-
graphie entscheidend, in der die kognitive Fermentierung ihrer kom-
munikativen Prägnanz hervortritt. Sie muß sich die Frage nach dem
Forschungsbezug der Geschichtsschreibung als Faktor ihrer ästheti-
schen und rhetorischen Kohärenz stellen. Welche Rolle spielt die kog-
nitive Prägnanz, die das historische Denken durch die Forschung er-
fährt, in der kommunikativen Prägnanz, die es durch die Historiogra-
phie erfährt?

c) Auswirkungen der Forschung

Um diese Frage beantworten zu können, möchte ich den Schritt näher


ins Auge fassen, der im historischen Erkenntnisprozeß von der For-
schung zur Darstellung führt. Zwar ist, wie gesagt, die Forschung ten-
denziell immer auf Darstellung hin ausgerichtet, und es läßt sich jeder
Forschungsbeitrag nur als Baustein zu einer Geschichte begreifen (und
auch nur so erbringen), aber diese bloße Tendenz, diese Virtualität,

34
muß in Manifestation, in Aktualität überführt werden. Um deutlich zu
machen, was hier eigentlich geschieht, ist vorab daran zu erinnern, was
geschieht, wenn Forschung in Gang kommt. Die Forschung beginnt
mit Abstraktionsleistungen, die durch die Geschichtsschreibung auf
dem durch die Forschung erreichten kognitiven Niveau historischen
Wissens wieder rückgängig gemacht werden müssen. Zwar knüpft die
Forschung mit der Erkenntnisoperation der Heuristik an Orientie-
rungsbedürfnisse der aktuellen Lebenspraxis an; sie sublimiert sie je-
doch zu Hinsichten auf den Erfahrungsbestand, in dem die Vergangen-
heit noch gegenwärtig ist. Das Erkenntnissubjekt kehrt mit der For-
schung seiner Gegenwart durch eine entschiedene empirische Wen-
dung zur Vergangenheit (,zu den Quellen selbst') den Rücken zu. Der
forschungsleitende theoretische Bezugsrahmen der historischen Inter-
pretation ist durchaus etwas anderes als ein zeitlicher Orientierungs-
rahmen der Lebenspraxis, wenn auch der eine aus dem anderen gene-
riert wird.
Die Forschung klammert die lebensweltliche Basis des historischen
Denkens, die Unruhe der Zeiterfahrung, die die historischen Fragen
gebiert, nicht aus (im Sinne eines neutralen Standpunktes der For-
scher außerhalb ihrer Zeit), sondern ein. Die Irritationen werden in
die regulierten Prozeduren der Arbeit am Quellenmaterial ruhigge-
stellt. Da überdies die Forschung grundsätzlich in Neuland des histori-
schenWissens vorstößt, läßt sie die schon errungenenWissensbestände
beiseite, und erst recht kreist der komplizierte Prozeß mehr oder weni-
ger theoriegeleiteter Befragung der Quellen und Interpretation ihrer
Informationen nicht um die Erschütterungen und Stabilisierungsver-
suche historischer Identität - so sehr hier die Quelle jeden historischen
Fragens liegen mag - , sondern um die Frage: „wie es eigentlich gewe-
sen."
Dann jedoch, wenn die Forschung die Antworten auf die gestellten
historischen Fragen gefunden hat und es darum geht, diese Antworten
so zu formulieren, daß sie als Antworten verständlich und wirksam
werden, dann muß das forschend gewonnene historische Wissen re-in-
tegriert werden in die schon vorhandenen Wissensbestände. Dann
stellt sich die Frage, nach welchen Gesichtspunkten diese Integration
erfolgen, was in welcher Hinsicht besonders wichtig oder weniger
wichtig sein soll. Diese Frage führt unvermeidlich zurück zu den beun-
ruhigenden Zeiterfahrungen und zu den Suchbewegungen der histori-
schen Identität im lebenspraktischen Kontext der historischen Er-

35
kenntnis. War dieser Kontext um der kognitiven Prägnanz des histori-
schen Wissens willen eingeklammert worden, so muß diese Einklam-
merung im Akt der historiographischen Gestaltung des forschend ge-
wonnenen historischen Wissens grundsätzlich wieder rückgängig ge-
macht werden.
Es ist natürlich etwas anderes, ob ein Forschungsergebnis vornehm-
lich an die Spezialisten adressiert wird oder ob es in einer seinem Inno-
vationsgrad entsprechenden neuen Konstellation mit schon vorhande-
nem historischen Wissen über die engen Zirkel der Spezialisten hinaus
sich an das allgemeine (und natürlich immer diffuse) Publikum der In-
teressierten wendet. Im ersteren Falle bleibt die Rückwendung des Er-
kenntnissubjekts zur Lebenssituation der Gegenwart eher ein implizi-
tes Moment historiographischer Gestaltung, und man muß schon viel
zwischen den Zeilen lesen, um herauszufinden, wo und wie die Gegen-
wartserfahrung die Forschungsleistung beeinflußt, wenn nicht gar ge-
neriert hat. Im zweiten Falle ist es mit dieser Zurückhaltung vorbei,
und dann entfaltet die Historiographie ihr ganzes Potential an kommu-
nikativer Prägnanz.
Wie bringen sich nun die kognitiven Errungenschaften der For-
schung zur Geltung, wenn die historische Erkenntnis in der historio-
graphischen Gestaltung zu ihren lebensweltlichen Kontexten und Ur-
sprüngen zurückkehrt? Die Antwort, die die Wissenschaftstradition
auf diese Frage gegeben hat und im alltäglichen Selbstverständnis der
professionellen Historiker immer noch gibt, lautet: durch Ent-Rheto-
risierung32 der historischen Darstellungen. Wie ein Leitfaden ziehen
sich antirhetorische Bemerkungen durch die Texte, in denen sich das
Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft als Fachwissenschaft
programmatisch niederschlägt.33Was ist mit diesemTopos, daß wissen-
schaftlich orientierte Historiographie mit Rhetorik nichts zu tun haben
will, gemeint? Verbreitet ist die Auffassung, eine forschungsorientierte
Historiographie sage schlicht, was der Fall gewesen sei. Sie sei im
Sinne einer als Neutralität verstandenen wissenschaftlichen Objektivi-
tät nicht in einer irgendwie bemerkenswerten Art und Weise auf Praxis
bezogen. Ranke hat dieser Auffassung die programmatischen Worte
verliehen: „Nackte Wahrheit ohne allen Schmuck; gründliche Erfor-
schung des einzelnen; das übrige gottbefohlen; nur kein Erdichten,
auch nicht im kleinsten, nur kein Hirngespinst."34 Eine solche Auffas-
sung blendet das Eigengewicht und die Eigenart der historiographi-
schen Darstellung aus dem historischen Erkenntnisprozeß aus. Immer-

36
hin gibt Ranke zu, daß es ein „Übriges" gibt. Praktisch hat er es weni-
ger Gott befohlen, sondern in der Art seiner Geschichtsschreibung
sehr wohl meisterlich zu handhaben gewußt, indem er seine For-
schungsergebnisse in die ästhetische Form einer großen historiographi-
schen Epik gebracht hat. Es kann auch kein Zweifel darüber bestehen,
daß diese Epik rhetorische Elemente hat, die Rankes Historiographie
durchaus folgenreich für die politische Kultur der Deutschen hat wer-
den lassen.
Explizit wendet sich der antirhetorischeTopos gegen einen historio-
graphischen Redeschmuck, der als Selbstzweck auftritt und gegen die
historiographische Verwendung fiktionaler Elemente. Solche fiktiona-
len Elemente stellen für Ranke die von Guicciardini in seine Darstel-
lung aufgenommenen fiktionalen Reden dar, in denen handelnde Per-
sonen Auskunft über die erklärenden Motive ihrer Handlungen ge-
ben. So einleuchtend beide Exklusionen aus der forschungsorientier-
ten Historiographie sind, so wenig aufschlußreich sind sie für den Sta-
tus ästhetischer und rhetorischer Elemente in ihr. Denn diese Ele-
mente bleiben von der kognitiven Prägnanz, die die Forschung dem hi-
storischen Denken verleiht, nicht unberührt. Die kognitiven Errun-
genschaften, die das historische Denken durch die Forschung gewinnt,
schlagen in die kommunikative Prägnanz der Historiographie ein und
prägen sie zu einer Qualität aus, mit der sich eine forschungsorien-
tierte Geschichtsschreibung von anderen Formen der historischen Ge-
staltung unterscheidet.
Forschungsorientierung läßt sich als Zielbestimmung des ästheti-
schen und rhetorischen Adressatenbezuges der Historiographie cha-
rakterisieren: Die ästhetische Bewegung der Einbildungskraft zeigt
auf eine Belebung der Erkenntniskräfte, und die rhetorische Anspra-
che topischer Strategien der Handlungsorientierung und Identitätsbil-
dung zielt auf Besonnenheit. Besonnenheit bindet die Durchsetzung
von Interessen und Geltungsansprüchen an den Modus einer Argu-
mentation. Die Stärke der Einbildungskraft wird an Erkenntnis und
die Überzeugungskraft historischer Topoi wird an Erfahrung und Ver-
ständigung ausgerichtet.
Erkenntniskräfte und Elemente des Argumentierens sind in der
menschlichen Lebenspraxis immer wirksam und tätig, also auch in der
Zeitorientierung des Handelns. Sie bilden das Fundament für jede Art
praktischer Vernunft. In der Geschichtsschreibung werden sie durch
den Forschungsbezug als Modus der Ansprache von Adressaten ver-

37
stärkt. Die Geschichtsschreibung übersetzt die Rationalität des Erfah-
rungsbezuges und der theoretischen Durchdringung, die das histori-
sche Wissen durch die Forschung gewinnt, in die praktische Vernunft,
die es im ästhetischen Subjektbezug und im rhetorischen Praxisbezug
gewinnen kann. Sie transformiert die methodische Rationalität der
Forschung in ein Vernunftpotential von Lebensformen. Die im
menschlichen Praxisvollzug immer wirksamen Elemente der Zeit-
orientierung werden durch eine forschungsbezogene Geschichts-
schreibung aufgeklärt. Die im menschlichen Selbstverständnis und in
der sinnhaften Deutung und absichtsvollen Lenkung seiner Lebens-
praxis wirksamen Elemente von Zeitsinn werden mit den Kräften be-
gründenden Denkens und denkend verarbeiteter Erfahrung aufgela-
den. Sinn wird an Vernunft gebunden: Dabei wird der Sinn aufge-
klärt', d. h. an die Verstandesleistungen der historischen Erkenntnis
gebunden, und umgekehrt werden diese Verstandesleistungen auf pra-
xisbestimmenden Sinn bezogen, also selber praktisch.
Diese Aufklärungsleistung, zu der die Geschichtsschreibung durch
ihre systematische Rückbindung an die historische Forschung befähigt
wird, spezifiziert die ästhetischen und rhetorischen Faktoren der Ge-
schichtsschreibung. Sie formen sich zu historischen Darstellungen aus.
die als wissenschaftsspezifisch oder zumindest wissenschaftsnah oder
-affin gelten können. Für die ästhetische Ansprache prä- und außerkog-
nitiver Sinnpotenzen der Lebenspraxis bedeutet Wissenschaftlichkeit:
Die imaginativen Kräfte der narrativen Sinnbildung werden auf die ko-
gnitiven Kompetenzen der angesprochenen Subjekte ausgerichtet.
Die blassen historischen Gedanken werden mit der Lebensglut emo-
tionaler Einstellungen und Motivationen aufgeladen, und umgekehrt
werden die dionysischen Mächte des Schönen in die Klarheit apolli-
nisch-rationaler Sinn-Gebilde transformiert. Für die rhetorische An-
sprache praxisleitender Absichten bedeutet Wissenschaftlichkeit: Der
Wille zur Macht, mit dem die Subjekte ihre praktischen Absichten stets
aufladen, wird durch einen Willen zur Wahrheit zivilisiert, der den Gel-
tungstrieb der Handlungssubjekte in Prozeduren von Verständigung
einbindet, die ihr soziales Leben erträglich machen.

38
2.Typologie der Geschichtsschreibung

Um die Aufklärungsfunktion, die der Forschungsbezug in der Domäne


der Geschichtsschreibung erfüllt, ausmachen zu können, ist es notwen-
dig, zur lebensweltlichen Basis der Erkenntnisoperationen des Ge-
schichtsbewußtseins zurückzukehren.35 Diese Basisoperationen müs-
sen jetzt so expliziert werden, daß die kommunikative Dimension des
historischenWissens deutlich wird. Die Geschichtsschreibung läßt sich
als derjenige Vorgang der narrativen Sinbildung charakterisieren, in
dem historischesWissen in die kommunikativen Vorgänge der mensch-
lichen Lebenspraxis eingeschrieben (oder besser: hinein-erzählt)
wird, in denen menschliches Handeln und das Selbstverständnis seiner
Subjekte sich an Vorstellungen sinnvoller Zeitverläufe orientiert.
Es geht mir im folgenden nicht darum, die Spielbreite literarischer
Darstellungsmöglichkeiten der Historiographie auszumessen, also
eine Gattungspoetik der Historiographie zu skizzieren (obwohl eine
Typologie der historiographischen Gattungen ein dringendes Deside-
rat der Historik darstellt). Ich möchte vielmehr die Spielbreite narrati-
ver Sinnbildungen begrifflich ausbreiten und kategorial ordnen. Ich
möchte deutlich machen, wie sich der kognitive Überschuß, den histo-
risches Denken durch die Forschung in der Geschichtswissenschaft ge-
winnt, im Adressatenbezug der Geschichtsschreibung auswirkt. Dazu
ist es notwendig, diesen Adressatenbezug in eine Struktur des historio-
graphischen Diskurses auseinanderzufalten, also gleichsam eine
Grammatik der Historiographie als Erkenntnisoperation der ,Topolo-
gisierung' historischenWissens zu skizzieren. Dies möchte ich in der
Form einerTypologie der historischen Sinnbildung versuchen, die den
für diese Sinnbildung maßgeblichen Gesichtspunkten folgt. Dabei
möchte ich besondere Aufmerksamkeit dem kommunikativen Aspekt
zuwenden, den das historische Wissen durch die Geschichtsschreibung
gewinnt.

a) Prinzipien der Differenzierung

Die ,topischen' Unterschiede und Ausdifferenzierungen der histori-


schen Sinnbildung lassen sich nach Gesichtspunkten schematisieren,
die aus der Orientierungsfunktion des historischen Wissens folgen.
Welche Bedingungen müssen erfüllt sein, damit die menschliche Le-

39
benspraxis als zeitlich orientiert gelten, also in und angesichts kontin-
genter Erfahrungen, die im Medium der historischen Erinnerung sinn-
bildend gedeutet worden sind, vollzogen werden kann? Die Antwort
auf diese Frage gibt eine Reihe von Prinzipien der historischen Orien-
tierung her, die so entwickelt werden kann, daß jedes Prinzip für sich
notwendig und alle zusammen hinreichend sind, um die Orientierungs-
funktion des historischenWissens zu erfüllen. Wenn diese Reihe gebil-
det ist, dann lassen sich die einzelnen Prinzipien und ihr innerer Zu-
sammenhang noch ausdifferenzieren nach den Hinsichten, die die Spe-
zifik einer historischen Sinnbildung im Gesamtbereich von Zeitdeu-
tung durch Erzählen bestimmen. Diese Hinsichten sind: Zeiterfah-
rungsverarbeitung im Medium der historischen Erinnerung, Bildung
einer Zeitverlaufsvorstellung (,Kontinuität'), die die drei Zeitdimen-
sionen in ein umgreifendes Sinngebilde synthetisiert, und schließlich
die Identitätsbildungsfunktion, die diese mit gedeuteter historischer
Erfahrung angereicherte Zeitverlaufsvorstellung im Lebensprozeß ih-
rer Subjekte erfüllt. Diese Funktion muß besonders auf die kommuni-
kative Form hin ins Auge gefaßt werden, in der sie sich erfüllt; denn mit
dieser Form entspricht die Geschichtsschreibung dem regulativen
Prinzip der kommunikativen Prägnanz.
Nach welchen fundamentalen Gesichtspunkten also wird die
menschliche Lebenspraxis historisch orientiert? Als erstes ist der Ge-
sichtspunkt der Orientierung durch Affirmation zu nennen. Jede histo-
rische Orientierung der menschlichen Lebenspraxis beruht auf der un-
hintergehbaren Voraussetzung, daß die Lebenspraxis vor aller bewußt
vollzogenen narrativen Sinnbildung immer schon orientiert ist. Und so
ist auch jede Form kommunikativer Verhandlung über zeitliche Per-
spektiven sozialer Verhältnisse notwendig gebunden an die Vorausset-
zung eines vorgängigen Einverständnisses unter den Beteiligten. Daß
man sich grundsätzlich verstehen kann und immer auch schon verstan-
den hat, ist Bedingung jeder Kommunikation. Sie gilt auch dort, wo
Konflikte in der historischen Orientierung ausgetragen werden; denn
mindestens darüber, was im Dissens ist, muß Einverständnis herr-
schen, sonst könnte man ja nicht einmal miteinander mit Aussicht auf
Erfolg streiten. Diese Vorgegebenheit zeitlicher Orientierung als Be-
dingung der Möglichkeit des menschlichen Lebensvollzuges ist die ob-
jektive Basis und der subjektive Ausgangspunkt jederTätigkeit des Ge-
schichtsbewußtseins und jeden kommunikativen Verstehens narrativer
Sinngebilde. Sie läßt sich als Tradition, als schlechthinnige Gegenwart

4(1
des Vergangenen näher beschreiben. In ihr ist Geschichte zugleich
objektiv und subjektiv immer schon .lebendig', als überwältigende
Macht vorentschiedender Lebenschancen und als sinnhafte Erschlos-
senheit der zeitlichen Erstreckung menschlicher Lebensvollzüge. An
diese Lebendigkeit und Wirksamkeit von Tradition knüpft jede be-
wußte historische Orientierung an. Affirmation als notwendige Bedin-
gung historischer Orientierung konstituiert den Topos des traditionalen
Erzählens und den ihm entsprechenden Typ narrativer Sinnbildung.
Ein zweites Prinzip typologischer Differenzierung wird sichtbar,
wenn man sich vergegenwärtigt, daß das vorgängige Einverständnis
über historische Orientierung im Modus derTradition nicht ausreicht,
und zwar grundsätzlich nicht. Immer dann, wenn Traditionen an die
(enge) Grenze ihrer Kapazität der Erfahrungsverarbeitung kommen,
wenn also eine Kontingenzerfahrung bewältigt werden muß, die nicht
schon vorab in eine traditionale Sinnbildung verarbeitet worden ist,
dann treten andere Gesichtspunkte der narrativen Sinnbildung in
Kraft. Der nächstliegende ist der der Regularität. Dieses Sinnkrite-
rium unterscheidet sich von dem der Affirmation durch einen weiter-
gehenden Erfahrungsbezug und einen höheren Abstraktionsgrad. Mit
ihm können unterschiedliche Traditionen in einheitliche Deutungen
von Zeiterfahrungen synthetisiert und zugleich das Ausmaß orientie-
rungsrelevanter historischer Erfahrungen erheblich ausgeweitet wer-
den. Regelhaftigkeiten sind ein notwendiges Inventar handlungsbe-
stimmender Erfahrungsdeutungen, und Regelkompetenz ist ein we-
sentliches Moment von Identitätsstärke. Als Gesichtspunkt der Kom-
munikation eröffnen Regeln einen Spielraum von Argumentation
über unterschiedliche Erfahrungen und Interessen, und zugleich bin-
den sie diese Unterschiedlichkeit zurück in die Möglichkeit der Kon-
sensbildung durch abstrakten Rekurs auf allgemeine und erfahrungs-
gestützte Gesichtspunkte. Dieses Prinzip der Regularität konstituiert
den Topos exemplarischen historischen Erzählens und den entspre-
chendenTyp narrativer Sinnbildung.
Ein drittes Differenzierungsprinzip beruht auf der fundamentalen
Tatsache jeder Kommunikation und daher auch des historischen Dis-
kurses, daß es verschiedene Subjekte (Individuen, Gruppen, Gesell-
schaften, Kulturen) sind, zu deren Lebenszusammenhang historische
Orientierungen gehören. Sie teilen sie miteinander, wenden sie gegen-
einander im Kampf um Macht und Anerkennung und können sie viel-
leicht auch füreinander gewinnen. Wie immer die Formen und Strate-

41
gien der Kommunikation im Medium narrativer Sinnbildung sich aus-
prägen mögen, - allemal bringen die beteiligten Subjekte ihre Unter-
schiedlichkeit und Gegensätzlichkeit in sie ein. Das Prinzip der Nega-
tion oder Abgrenzung trägt dieser Unterschiedlichkeit und Gegensätz-
lichkeit systematisch Rechnung. Es muß historische Orientierungen
geben, in und mit denen Subjekte ihre Unterschiedlichkeit oder Entge-
gensetzung zu anderen Subjekten zur Geltung bringen. Mit solchen
Orientierungen werden Subjekte eigensinnig; sie weisen ihnen vorge-
gebene und angesonnene Orientierungen zurück und entwickeln da-
bei ihre eigenen Orientierungen, die ihre Besonderheit, ihre Unter-
schiedlichkeit, ihre Gegensätzlichkeit zum Ausdruck bringen. Dieses
Prinzip der Negation konstituiert den Topos kritischen historischen Er
zählens und den ihm entsprechendenTypus narrativer Sinnbildung.
Die bisher genannten Differenzierungsprinzipien der historischen
Orientierung gleichen sich alle in einer Hinsicht: Sie richten die Sinn-
bildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins darauf aus, die Unruhe der
Zeit, die herausfordernde kontingente Veränderung des Menschen
und seiner Welt in eine Zeitvorstellung wegzuarbeiten oder zurückzu-
nehmen, in der Ruhe und Stetigkeit vorherrschen. Dies ist aber grund-
sätzlich nur in Grenzen möglich, die überschritten werden müssen,
wenn die das Geschichtsbewußtsein konstituierende Zeiterfahrung
wirklich bewältigt werden soll. Der zeitlichen Veränderung selber muß
eine handlungsorientierende Sinnqualität beigemessen werden kön-
nen, da sie sich nicht vollständig in die Sinngebilde der Erinnerung
stillstellen läßt, sondern dort selber als sinnvoll aufgenommen werden
muß. Dies geschieht durch das Prinzip der Transformation. Mit ihm
wird die zeitliche Veränderung selber zum orientierenden Gesichts-
punkt der Lebenspraxis und der Identitätsbildung. Diachrone Unter-
schiede und Verschiedenheiten werden nicht im Einverständnis durch
Tradition ferngehalten, von ihnen wird nicht durch die argumentative
Übereinstimmung im Rekurs auf Regeln abstrahiert, und sie gehen
auch nicht in die einfache Negation vorgegebener Orientierungen ein,
sondern können und müssen (wenn Kommunikation wirklich sein soll)
sich auch positiv entfalten können. Historische Orientierungen wer-
den dann nach unterschiedlichen Standpunkten perspektiviert und
diese Perspektiven und Standpunkte werden in die Vorstellung einer
umgreifenden dynamischen Einheit der Zeit integriert. Dieses Prinzip
konstituiert den Topos genetischen historischen Erzählens und die ent
sprechende Form narrativer Sinnbildung.

42
Die vier Prinzipien stehen in einem systematischen Zusammen-
hang. Eine historische Orientierung, die nur einem von ihnen exklusiv
verpflichtet wäre, läßt sich nicht denken; jedes Prinzip ruft notwendig
die anderen hervor, und erst alle zusammen lassen sich als hinrei-
chende Bedingungen für eine gelingende Zeitorientierung ansehen.
Die Prinzipien hängen auf eine sehr komplexe Art miteinander zu-
sammen: Sie bedingen sich wechselseitig und stehen zugleich in einem
Spannungsverhältnis. Sie formieren ihren Zusammenhang als ein dy-
namisches Verhältnis, das je nach den Umständen, unter denen histori-
sche Orientierungen lebenspraktisch notwendig werden, anders aus-
fällt. Diese Dynamik korrespondiert mit der inneren zeitlichen Dyna-
mik menschlicher Lebensverhältnisse. Sie stellt sozusagen die innere
Geschichtlichkeit historischer Orientierungen logisch sicher. Dies läßt
sich für die historiographische Formung historischen Wissens spezifi-
zieren, also in der Form einer Verknüpfung der für den historiographi-
schen Adressatenbezug des historischen Wissens maßgeblichen Ge-
sichtspunkte ausführen:
AlsTopoi des historischen Erzählens bilden die vier Prinzipien ein
Netz topischer Ausprägungen der Historiographie, die den Gesamtbe-
reich historischer Argumentationsstrategien abdecken: In ihren jewei-
ligen Konstellationen bilden die vierTopoi einen historischen Diskurs.
Und alsTypen narrativer Sinnbildung, die den Ausschlag für die narra-
tive Ordnung einer Geschichte geben, bilden sie Konstellationen, die
die spezifisch historische Sinngestalt von Geschichten abgeben und als
solche auch identifiziert werden können.

b) Traditionale Sinnbildung

Traditionales Erzählen ist eine Form narrativer Sinnbildung und einTo-


pos historischer Argumentation, die zeitliche Veränderungen von
Mensch und Welt mit der Vorstellung einer Dauer von Weltordnungen
und Lebensformen interpretiert. Geschichten, die dieser Form und
diesemTopos folgen, erinnern an verpflichtende Ursprünge gegenwär-
tiger Lebensverhältnisse und an ihre ständige Durchsetzung, Wieder-
kehr und Resistenz im Wandel der Zeit. Der Ursprungsmythos dürfte
eine besonders ,reine' Form diesesTyps sein, und es sind vor allem ritu-
elle Handlungen des historischen Diskurses, in dem traditionale histo-
rische Orientierungen sozial realisiert werden. Es finden sich aber na-

43
türlich auch zahllose Beispiele für diese Art des historischen Diskurses
in säkularen Gesellschaften und im Alltag heutzutage: Festreden zu Ju-
biläen z. B., in denen der Gesichtspunkt eines verpflichtenden Ur-
sprungs den rhetorischen Angelpunkt abgibt und die ja durchaus etwas
Ritualistisches an sich haben. (Der obligatorische Pflanzenschmuck
neben dem Pult des Redners hat Karl-Ernst Jeismann dazu veranlaßt,
von der ,Palm-Kübel-Funktion' eines historischen Denkens zu spre-
chen,37 das sich allzu willig in den Dienst traditioneller Legitimationen
begibt, ohne das kritische Potential derWissenschaft systematisch ein-
zubringen.)
Die für die Deutung der Zeiterfahrung maßgebliche Kategorie der
Kontinuität wird als Vorstellung der Dauer im Wandel ausgearbeitet
Das kann auf unterschiedliche Weise geschehen: Ein Sichdurchhalten
von normativ aufgeladenen Lebensformen kann empirisch konstatiert
und dargestellt werden; eine Vorstellung verborgener Ursprünge, die
sich nur von Zeit zu Zeit als Garanten stabiler Lebensverhältnisse ent-
bergen. kann entwickelt werden etc. Allemal wird die irritierende Un-
ruhe zeitlicher Veränderungen der menschlichen Lebensverhältnisse
durch die Vorstellung einer in der Tiefe oder im Grunde der Zeit wirk-
same Permanenz gültiger und empirisch wirksamer Ordnungsprinzi-
pien gebändigt.
Identität formiert sich in diesem Diskurs als Verankerung überkom-
mener sozialer Ausprägungen von Subjektivität in tiefsitzenden men-
talen Einstellungen, Wahrnehmungs- und Deutungsmustern und Moti-
vationen. Geschichten diesesTyps wirken identitätsbildend, indem sie
ihre Adressaten zur Nachahmung von Verhaltensmustern auffordern.
Ein gutes Beispiel für traditional formulierte und durch die Diskurse
derTradition stabilisierte tiefsitzende Identität ist die geschlechtliche.
Die Kraft traditionaler Sinnbildung in den Tiefen menschlichen
Selbstseins läßt sich in diesem Feld menschlicher Sozialisation und In-
dividuierung leicht typologisch und topologisch ausmachen.
Entsprechend elementar sind die Kommunikationsformen dieses
Diskurses: Er stiftet vorgängiges Einverständnis, das bis an die Gren-
zen der Frag- und Sprachlosigkeit, des Selbstverständlichen gehen
kann. (Freilich bedarf alles Selbstverständliche einer historischen Af-
firmation, wenn es im zeitlichen Wandel seiner Inhalte selbstverständ-
lich bleiben soll.) In den hervorgehobenen Formen historischer Orien-
tierung geht es um die expressive (und stets auch explikative und argu-
mentative) Präsentation eines ,Wir'-Gefühls, einer kollektiven Zuge-

44
hörigkeit zu einer (wie man heute zu sagen pflegt) ,Wertegemein-
schaft', die auf gemeinsamen (meist als schicksalshaft' präsentierten)
Vorgeschichten in den gegebenen Lebensumständen beruht. Das für
diese Form narrativer Sinnbildung maßgebliche Sinnkriterium ist die
Verankerung von Welt- und Lebensordnungen in der unbewußtenTiefe
der bewegenden Zeit: Mit ihm wird Zeit als Sinn verewigt.
Im Bereich der akademischen Historiographie stellt Gerhard Rit-
ters „Luther" ein gutes Beispiel dieser traditionalen Sinnbildung und
der in ihm herrschendenTopoi und Sprachformen dar.38 Ritter verall-
gemeinert die Krisenerfahrung des Ersten Weltkrieges und der frühen
Weimarer Republik zur Vorstellung eines okzidentalen Kulturverfalls.
Er macht die Frage unabweisbar, welche „Quellen geistiger Kraft" (5)
wieder zum Fließen gebracht werden können, um „unsere geistige Exi-
stenz" (6) zu erneuern und zu sichern. Ritter erinnert mit Luther ein-
dringlich an die Tradition christlichen Glaubens. Er allein sei im
Stande, die Kulturkrise der Gegenwart zu überwinden. Zugleich kann
die Erinnerung an Luther die tief erschütterte nationale Identität der
Deutschen stabilisieren. In Luther erneuert sich nicht nur (paradigma-
tisch für die Gegenwart) „das religiöse Mysterium des Urchristentums
... mit geheimnisvoll ursprünglicher Kraft" (33). sondern zugleich ist
er der Deutsche schlechthin: Sein Leben und Werk gehört zu einem
„Schicksal, das ... am gewaltigsten ... an der Gestaltung des deutschen
Wesens gehämmert hat" (8); Luther repräsentiert „in seiner ganzen
Wesensart" „uns Deutsche" (186). Ritter adressiert historischesWissen
über Luther mit der Absicht, daß „wir uns selber aus dem Wesen Mar-
tin Luthers zu verstehen suchen" (187). Auch der historiographische
Kommunikationsmodus ist ganz dem traditionalenTopos verpflichtet:
Ritter vereinnahmt den Leser mit häufiger Verwendung von ,wir' und
,uns' in eher beschwörenden Redewendungen, die das „eigentliche
Geheimnis" (13)39 Luthers als ursprünglich, fast meta-historisch, wir-
kende Glaubenskraft präsentieren. An sie soll und kann erfahrungs-
deutend, identitätsbildend und handlungsleitend angeknüpft werden.

c) Exemplarische Sinnbildung

DerTyp der exemplarischen Sinnbildung ist eine Form des historischen


Erzählens und einTopos der historischen Argumentation, die sich vom
Typ der traditionalen Sinnbildung durch eine Ausdehnung des Erfah-

45
rungsbereiches und durch ein höheres Abstraktionsniveau im normati-
ven Praxisbezug des historischen Wissens unterscheidet. Die engen
Grenzen, die eine traditionale Sinnbildung der Verarbeitung von Zeit-
erfahrung setzt, werden gesprengt: Es kommt nicht mehr nur auf dieje-
nigen Vorgänge und Geschehnisse in derVergangenheit an, in denen
der für die Bewältigung der gegenwärtigen Handlungssituation not-
wendige Sinn gestiftet worden ist, sondern es kommen jetzt alle die Er-
fahrungsbestände infrage, an denen sich relevante Sinnbestimmungen
der aktuellen Lebenspraxis erweisen, erhärten, demonstrieren lassen.
Dabei nehmen diese Sinnbestimmungen eine abstrakte Form an: Sie
sind nicht mehr leibhaftig in paradigmatischen Lebensordnungen vor-
stellbar, sondern werden als Regeln. Gesichtspunkte, Prinzipien ge-
dacht. Die exemplarische Sinnbildung folgt der bekannten Devise „Hi-
storia vitae magistra":40 Die Geschichte lehrt an der Fülle der von ihr
überlieferten Geschehnisse derVergangenheit allgemeine Handlungs-
regeln. Die historische Erinnerung wendet sich Erfahrungsbeständen
derVergangenheit zu, die als konkrete Fälle zeitlicher Veränderungen
(zumeist durch absichtsvolles Handeln) Regeln oder Prinzipien reprä-
sentieren, die für zeitliche Veränderungen und in ihnen erfolgendes
menschliches Handeln generell gelten. So lehren z. B. Geschichten,
die von Herrschertaten erzählen. Regeln des klugen Herrschens; Ge-
schichten vom Entstehen, von der Veränderung und vom Vergehen po-
litischer Gebilde lehren Einsichten in die Art und Weise, wie sich Herr-
schaft unter bestimmten Bedingungen verändert. Solche regelhaften
abstrakt-allgemeinen Einsichten lassen sich auf eine Fülle historischer
Beispiele übertragen und an ihnen erhärten.
Die Einheit der Zeit, die die erinnerten und historiographisch verge-
genwärtigten Vorkommnisse derVergangenheit bedeutsam für die Ge-
genwart machen und die Zukunft erfahrungsgeleitet erwarten lassen,
steckt in der zeitenthobenen Allgemeingültigkeit der aus den histori-
schen Vorkommnissen generierten und an ihnen konkretisierten Hand-
lungsregeln. Die historische Kontinuität, die die Zeiterfahrung der
Gegenwart überschaubar und behandelbar macht, ist jetzt nicht mehr
primär an einem innerzeitlichen Vorgang (wie bei der traditionalen
Sinnbildung an der archaischen Dauer gestifteter Sinnordnungen) ge-
bunden, sondern zur Allgemeinheit eines Regelgefüges sublimiert. Es
umfaßt die Fülle und Verschiedenheiten der Zeiten und erschließt mit
ihr die Lebensumstände der Gegenwart und ihren zeitlichen Wandel ei-
nem regelbewußtem Handeln. Mit der zeitenthobenen Geltung allge-

46
meiner Regeln lehrt die Geschichte ihre eigene Überzeitlichkeit als
ihre ,Moral', mit der sie Bedeutung für die aktuelle Lebenspraxis ge-
winnt.
Diese Lehre setzt ihre Adressaten frei in eine Kommunikation, in
der einzelne Erfahrungs- und Wissensbestände so verhandelt werden
können, daß die Kontrahenten sich an ihnen und mit ihnen über Re-
geln und Prinzipien verständigen und diese Regeln gemeinsam ihrem
Handeln zugrundelegen können. Diese Kommunikation bindet die
Unterschiedlichkeit konkreter Handlungssituationen an die Gemein-
samkeit übergreifender Regeln und Prinzipien. Das historische Argu-
mentieren entfaltet sich in den Dimensionen einer Urteilskraft, in de-
nen aus Einzelfällen allgemeine Regeln generiert und allgemeine Re-
geln an Einzelfällen konkretisiert werden. Die Geschichtsschreibung
ist eine Schule der Urteilskraft; die Geschichte macht, wieThukydides
es formuliert und zahllose Historiker bis zur Epochenschwelle in der
Mitte des 18. Jahrhunderts wiederholt haben, an Fällen des einmal Ge-
wesenen klug für immer. Die Geschichtsschreibung präsentiert histori-
schesWissen in einer Form, in der der Wechsel der Zeiten in „dauern-
den Besitz" verwandelt, die Fülle der Geschehnisse in und mit dem
Menschen in die Einsicht seiner Natur so aufgehoben wird, daß be-
wußt und systematisch in Rechnung gestellt werden kann, wie er unter
bestimmten Bedingungen oder in bestimmten Situationen handeln
wird oder soll.41
Historische Identität nimmt in diesem Typ narrativer Sinnbildung
die Form praxisermöglichender Regelkompetenz an. Identitätsbil-
dende Vorstellungen von Lebensordnungen werden prinzipiengeleitet
kritisierbar und begründbar. Mit den Modi kritisierender Begründung
und begründender Kritik steigert sich historische Identität über die
Grenzen traditionaler Rollenzuschreibungen hinaus in die Form einer
Selbstbegründung durch Rekurs auf Allgemeines und Prinzipielles.
Wer ich bin oder wer wir sind, das hängt vom Ausmaß meiner oder un-
serer Fähigkeit ab, als allgemein verbindlich angesehene Prinzipien
der Lebensordnung je für sich zu realisieren. (Man kann es auch nega-
tiv formulieren: In jeder Form traditional gebildeter Identität steckt
ein Stück Dogmatismus, insofern die Begrenztheit und Partikularität
identitätsbildenderTraditionen stets als das Eigentliche und Ganze an-
genommen wird, so daß Abweichungen nur negativ sanktioniert wer-
den können. Dieser Dogmatismus verwandelt sich imTyp exemplari-
scher Sinnbildung - nach der Grenzüberschreitung ins Abstrakt-Allge-

47
meine - in den Hochmut des Prinzipiellen, der für die je eigenen Le-
bensformen die Dignität in Anspruch nimmt, Manifestationen eines
allgemeinverbindlichen zu sein und nun natürlich dazu neigt, in abwei-
chenden Lebensformen schwächere oder verfehlte Formen einer sol-
chen Manifestation zu sehen.) Beispiele einer historischen Identität,
die durch die Formen undTopoi exemplarischer Sinnbildung geprägt
ist, sind Ausformungen einer nationalen Identität, die an menschheitli-
che Gesichtspunkte gebunden sind (wie die amerikanische und franzö-
sische an die Menschen- und Bürgerrechte).
Zusammenfassend läßt sich der historiographische Typ exemplari-
scher Sinnbildung hinsichtlich der von ihm präsentierten historischen
Erfahrung, seiner Konzeption eines übergreifenden Zeitzusammen-
hangs, der von ihm eröffneten Möglichkeit von Kommunikation und
Identität als eine Form des historischenWissens charakterisieren, die
den Sinnzusammenhang zeitlicher Phänomene in der Überzeitlichkeit
von Prinzipien und Regeln präsentiert. Zeit wird als Sinn verräumlicht,
d. h. sie gewinnt auf der Folie einer qualitativ gleichen Bedeutungs-
qualität der jeweilig gewußten Vergangenheit eine neue Weite der Er-
fahrung. Diese Weite gestattet es, unterschiedlicheTraditionen und Le-
bensordnungen in der historischen Orientierung zu berücksichtigen,
und zwar so, daß die Besonderheit der eigenen Lebenssituation im Ver-
gleich mit anderen sichtbar und zugleich durch den Bezug auf die All-
gemeinheit der für ihre Bewältigung maßgeblichen Handlungsregeln
aber auch systematisch eingeschränkt, in die Überzeitlichkeit prinzi-
pieller Geltungen .aufgehoben' wird.
Beispiele für eine Denk- und Argumentationsweise, in der .die Ge-
schichte' etwas Überzeitlich-Allgemeines .lehrt', gibt es im Alltagsle-
ben zuhauf. So werden in der politischen Publizistik aktuelle Vor-
kommnisse und Situationen häufig mit Verweisen auf historische Fälle
kommentiert, und zwar so, daß die prinzipielle Gleichartigkeit der bei-
den Zeiten unterstellt und die Erfahrung des historischen Beispiels der
Gegenwart zur Lehre dienen soll. Die Erinnerung an die nationalso-
zialistischen Verbrechen kann einer liberalen südafrikanischen Zei-
tung zur Anprangerung von Praktiken der Apartheidpolitik dienen,
und jeder wache Zeitgenosse der Bundesrepublik kennt die Parade-
rolle des historischen Exempels, die die Weimarer Republik zur Selbst-
verständigung und zur Kritik politischer Vorkommnisse und Entwick-
lungen der Bundesrepublik spielt.
Auf der Ebene wissenschaftlich elaborierter Historiographie lassen

48
sich ,reine' (im Sinne von: einfache) Formen exemplarischer Sinnbil-
dung nur selten ausmachen; denn mit der Verwissenschaftlichung der
Geschichtswissenschaft hat sich der bis dahin kulturell dominante Typ
exemplarischer Sinnbildung in denjenigen einer genetischen verwan-
delt.42 Nichtsdestoweniger lassen sich Elemente exemplarischen Den-
kens auf der Darstel'ungs- und Appel'ebene historiographischerTexte
nachweisen. Vor allem bei den historischen Themen, die unmittelbar
relevant für eine politische Selbstverständigung und Deutung sind, tre-
ten häufig exemplarische Topoi und ihnen entsprechende Darstel-
lungsmuster auf. Die akademische Geschichtsschreibung verhält sich
hier im Prinzip nicht sehr viel anders als die politische Publizistik, wie
ein Blick in die Arbeiten zur Weimarer Republik und zum Nationalso-
zialismus zeigen, die besonders einflußreich in der politischen Bildung
geworden sind. Die historische Interpretation mit derTotalitarismus-
theorie z. B. ist aus logischen Gründen durch denTyp exemplarischer
Sinnbildung bestimmt: Das historische Beispiel steht hier für eine all-
gemeine Struktur politischer Verhältnisse (freilich nicht in der Über-
zeitlichkeit klassischer politischer Theorie, sondern zumeist einge-
schränkt auf das 20. Jahrhundert).
Aber auch dort, wo solch ein Interpretationskonzept abgelehnt
wird, weil es Einsichten in historische Unterschiede zwischen verschie-
denen totalitären Systemen und in die Besonderheit des deutschen Fal-
les eher behindert, werden Sprachmuster und rhetorischeTopoi exem-
plarischer Art verwendet. So z. B. in dem Essay von Hans Mommsen
über „Die Last derVergangenheit", die die Situation der Bundesrepu-
blik am Ende der siebziger Jahre im Lichte der historischen Erfahrung
derWeimarer Republik und des Dritten Reiches beleuchtet. Auch hier
ist die Geschichte Lehrmeisterin des Lebens: „Die Erfahrung ... lehrt,
daß ... "43 Mit solchen oder ähnlichen sprachlichen Wendungen werden
Erscheinungen derWeimarer Republik, insbesondere ihres Scheiterns
dazu verwendet, um kritisch auf Entwicklungen der Bundesrepublik
in den späten siebziger Jahren hinzuweisen.

d) Kritische Sinnbildung

DerTyp kritischer Sinnbildung tritt in Formen des historischen Erzäh-


lens und in Topoi einer historischen Argumentation auf, in denen es
vor allem darum geht, kulturell wirksame historische Deutungsmuster

44
durch die deutende Mobilisierung widerstreitender historischer Erfah-
rungen zu depotenzieren. Eingeschliffene Muster historischer Selbst-
verständigung und damit zusammenhängende historische Legitimatio-
nen sozialer Beziehungen werden aufgebrochen, indem im Spiegel der
historischen Erinnerung alternative Möglichkeiten aufgewiesen wer-
den. In gleicherweise werden historische Deutungen gegenwärtiger
Lebensverhältnisse und daraus resultierende Zukunftsperspektiven
der Lebenspraxis mit dem Gewicht widerstreitender historischer Er-
fahrungen weggearbeitet und Platz für andere und neue Deutungsmu-
ster geschaffen.
Kritische Sinnbildung ist das Medium einer kulturellen Kommuni-
kation, in der der historische Diskurs sich grundlegend verändert,
etwa wenn neue Leitbilder an die Stelle alter treten, oder gar eine
ganze Symbolsprache des Historischen gegen eine neue ausgewechselt
wird. Die Überzeugungskraft einer historischen Sprache mit den ihr ei-
gentümlichen Darstellungsformen und Argumentationsmustern muß
selber mit sprachlichen Mitteln systematisch gebrochen werden, wenn
historisch anders, zugunsten neuer Orientierungen geredet werden
soll. Dies geschieht mit der Sprengkraft kritischer Sinnbildung und
den ihr eigentümlichen Formen undTopoi des historischen Denkens.
Kritische Historiographie präsentiert eine historische Erfahrung,
die vorgegebene historische Deutungsmuster problematisiert, relati-
viert, in ihrer Plausibilität grundsätzlich erschüttert. Die Historiogra-
phie spricht die Sprache der Gegenbeispiele, einer empirischen Sub-
version, die die vermeintliche Selbstverständlichkeit erfahrungsgesät-
tigter historischer Perspektivierungen der Lebenspraxis und der
Selbstverständigung erschüttert. So liebte es beispielsweise Voltaire,
die Geschichten, in denen sich die biblische Heilsgeschichte verdich-
tet, mit der Sprachform einer Skandalchronik zu verfremden und in ei-
nem ironischen Lichte zu präsentieren, in der ihre Heilsbedeutung ver-
schwindet; zugleich konnte er den historischen Erfahrungshorizont
der aktuellen Selbstverständigung durch nichteuropäische Beispiele
so erweitern, daß neue,,menschheitliche' Dimensionen einer gebilde-
ten historischen Identität eröffnet wurden.44
Die für die kritische Sinnbildung ausschlaggebende Vorstellung des
Zeitenzusammenhangs ist diejenige eines Bruchs von Kontinuität. Die
geschichtsphilosophische Signatur kritischer Sinnbildung ist ihr negati-
ver Bezug auf fundamentale Konzepte historischen Sinns. Sie depo-
tenziert Meistergeschichten; sie bricht kategoriale Gefüge auf und de-

50
struiert leitende Begriffe, Kategorien und Symbole. Eine solche Ar-
beit an der historischen Negation kulturell eingeschliffener histori-
scher Deutungsmuster und Denkformen läßt sich gegenwärtig in den
kulturwissenschaftlichen Denkströmungen beobachten, die unter den
Sammelbezeichnungen .Postmoderne'45 oder .Poststrukturalismus'46
firmieren. So hat z. B. Michel Foucault beeindruckende Gegenge-
schichten zu den Fortschrittsgeschichten der Modernisierung präsen-
tiert, die deren kulturelle Repräsentativität delegitimieren wollen.
Mit den Formen undTopoi kritischer Sinnbildung wird eine Kommu-
nikation inkraft gesetzt, die der Distanzierung von angesonnenen Mu-
stern historischer Zeitdeutungen und Identitätsbildungen dient. Eine
Kommunikation wird eröffnet, in der die Schwierigkeit, nein zu sagen,
durch historisches Wissen und Argumentieren erleichtert wird. Die
Subjekte können mit der Kraft der Negation sich selbst gewinnen, in-
dem sie sich von den Versuchen kultureller Mächte abgrenzen, sie sich
kulturell einzuverleiben, um mit ihrer Subjektivität Herrschaft aufzu-
laden. Historische Identität wird als Abweichung, als Selbstgewinn
durch die Erklärung, anders zu sein, gebildet. Die Kraft der Negativi-
tät stabilisiert die Stärke des Selbstseins. Durch die Formen undTopoi
kritischer Sinnbildung gewinnen Subjekte die Ich- undWir-Stärke trot-
zigen Eigensinns. Sie nehmen in der Auseinandersetzung um die histo-
rische Orientierung ihrer Gegenwart bewußt einen Standpunkt ein,
mit dem sie von vorgegebenen Standpunkten abrücken (wobei diese
oft überhaupt erst als Standpunkte sichtbar werden).
Die Aufklärung ist hierfür ein vorzügliches Beispiel: Sie arbeitete
den Konformitätsdruck ständischer Partikularisierung in den Eigen-
sinn eines Menschheitskriteriums weg, dessen moralische Universali-
tät einen Binnenraum bürgerlicher Subjektivität eröffnete, in den hin-
ein ganz neue Formen individueller und kollektiver Identität ausgebil-
det werden konnten (wie z. B. die nationale).
Freilich lebt die Überzeugungskraft kritischer Sprachformen und
praxisbezogener Argumentationsfiguren von dem, wogegen sie sich
wendet; sie zehrt ihre Kraft aus der Depotenzierung vorgegebener Wis-
sensbestände, Zeitverlaufsvorstellungen und Selbstverständigungen.
Mit dem Erlöschen der kulturellen Lebenskraft eines vorgegebenen
kulturellen Diskurses stirbt auch die sprachliche Kraft seiner Depoten-
zierung.
Mit der Ästhetik und Rhetorik der historischen Distanzierung ge-
winnt die narrative Sinnbildung sprachliche Potenzen, die sich zusam-

51
menfassend so charakterisieren lassen: Zeit wird als Sinn beurteilbar.
Das Subjekt tritt mit der Kraft des Neinsagens seiner Verstrickung in
zeitliche Veränderungen gegenüber; in diesem ,Gegenüber' besteht
der sprachlich geformte Sinn historisch gedeuteter Zeit. In der Distanz
zu Sinnvorgaben an die Zeiterfahrung, im Wegarbeiten des Konformi-
tätsdrucks, den zeitliche Veränderungen als Signale ihrer Bedeutung
an sich tragen, schöpfen die betroffenen Subjekte Atem, um das, was
sie im Medium der historischen Erinnerung glauben sein zu können
und sein wollen, ihrer eigenen Zeit kulturell einzupflanzen.
Nachdrückliche Beispiele einer solchen angestrengten Distanzie-
rung von überzeugungsstarken historischen Deutungsmustern bietet
auf der Ebene forschungsorientierter akademischer Geschichtsschrei-
bung die Frauengeschichte. Sie zieht einen nicht geringenTeil ihrer hi-
storiographischen Überzeugungskraft aus der schneidenden Distan-
zierung von kulturell vorgegebenen Geschlechtsstereotypen, gegen
deren Anpassungsdruck durch angestrengte historische Erinnerung
neue Chancen und Spielräume von Weiblichkeit gewonnen werden sol-
len. 47 Dadurch werden neue Ausblicke auf die historische Erfahrung
möglich, die ja deshalb so umfassend (und von schneidender Partei-
lichkeit nicht frei) sind, weil Gcschlechtlichkeitein fundamentaler und
höchst wirkungsvoller Faktor in den Prozeduren menschlicher Identi-
tätsbildung darstellt.

e) Genetische Sinnbildung

Der genetische Typ narrativer Sinnbildung tritt in historiographischen


Formen undTopoi auf, die das Moment der zeitlichen Veränderung ins
Zentrum der historischen Deutungsarbeit stellen. Zeit als Verände-
rung gewinnt eine positive Qualität; sie wird zur tragenden Sinnquali-
tät: Sie wird nicht mehr als Bedrohung historisch weggearbeitet, son-
dern als Qualität menschlicher Lebensformen hervorgehoben, als
Chance der Überbietung erreichter Standards von Lebensqualität, als
Eröffnung von Zukunftsperspektiven, die über den Horizont des Bis-
herigen qualitativ hinausgehen. Die Unruhe der Zeit wird nicht in die
tiefe Ewigkeit einer sich durchhaltenden Qualität von Lebensformen
oder in die überzeitliche Geltung handlungsleitender Regelsysteme
und Prinzipien und auch nicht in die abstrakte Negation bisheriger Le-
bensordnungen weggearbeitet, sondern zum Motor des Lebensge-

52
winns, zur gestaltenden Größe konsensfähiger Lebensformen historio-
graphisch stilisiert und topisch der Lebenspraxis als Impuls weiterer
Veränderungen angesonnen.
Im Modus genetischer Sinnbildung erhält die historische Erfahrung
eine neue Zeitqualität: Sie wird kategorial bestimmt durch eine struk-
turelle Divergenz zwischen der Erfahrung alles Bisherigen und der Er-
wartung des ganz Anderen. Die Gegenwart rückt in das Spannungsfeld
eines Übergangs vom einen zum anderen, und dieser Übergangscha-
rakter wird an den historisch erinnertenVorgängen und Geschehnissen
derVergangenheit sinnträchtig hervorgehoben.
Die maßgebliche Leitvorstellung, mit der die zeitlich dynamisierte
Vergangenheit an die praktisch bewegte Gegenwart so angeknüpft
wird, daß sich Zukunft als Überbietungschance eröffnet, ist diejenige
einer überdauernden, sich durchhaltenden qualitativen Veränderung.
Die erinnerte Fülle zeitlicherVeränderungen wird in eine Richtungsbe-
stimmung integriert, die über das Bisherige in die Zukunft verweist
und die gegenwärtigen Lebensverhältnisse als transitorisch erscheinen
läßt. Ihrer naheliegenden Kreislaufassoziationen entkleidet, werden
sprachliche Redewendungen zur Bezeichnung dieser Zeitrichtung ver-
wendet, die der Naturerfahrung entstammen und sich auf Vorgänge ei-
nes in sich geregelten, also sinnhaften Veränderungsprozesses bezie-
hen. Die bekannteste ist die (in den Rang einer höchst wirkungsvollen
historischen Kategorie erhobenen) .Entwicklung'. Kulturell wirksa-
mer als diese Kategorie und daher auch das vorzüglichste Beispiel für
die gedankliche Fassung dieser Zeitverlaufsvorstellung ist die Katego-
rie des Fortschritts.48 Andere Ausprägungen dieses Sinnkriteriums ge-
netischer Deutung von Zeiterfahrung sind .Prozeß', .Evolution' und
ihre Beschleunigung .Revolution'.
In den Formen undTopoi genetischer Sinnbildung wird historisches
Wissen zum Medium einer Kommunikation, die die Spielbreite der
Unterschiedlichkeit ihrer Subjekte über den Rahmen einer gemeinsa-
men Verpflichtung auf Regelsysteme und Prinzipien und über den
Rahmen einer kritischen Unterscheidung und Entgegensetzung hin-
aus qualitativ erweitert: Die miteinander kommunizierenden Subjekte
können über genetisch verfaßte Historiographie am andern und an
sich selbst Alteritätsqualitäten, Modi des Andersseins, wahrnehmen
und als Chancen der Identitätssteigerung durch Anerkennung nutzen.
Die Bewegung, die der historischen Erfahrung im Bedeutungsrahmen
der Sinnqualität von zeitlicher Veränderung zuteil wird, überträgt sich

53
auf den historischen Diskurs: In ihm können die Beteiligten über Ge-
schichten so miteinander kommunizieren, daß ihr jeweiliges Selbstsein
und die Wahrnehmung des Andersseins des Anderen selber in Bewe-
gung geraten. Veränderung kann als positive Qualität von Subjektivi-
tät behauptet, gelebt und anerkannt werden. Standpunkte werden
nicht mehr mimetisch reproduziert, auch nicht mehr unter Regelsy-
steme und Prinzipien subsumiert und ebenfalls nicht negativ gegenein-
ander statuiert, sondern sie werden kommunikativ verflüssigt, sie ver-
lieren ihre Enge, ihre Abstraktheit und ihre Negativität. Sie geraten in
eine Bewegung, in der sie sich als unterschiedliche so aufeinander be-
ziehen, daß sie zustimmungsfähig werden, ohne ihre Gegensätzlich-
keit im Prinzip preisgeben zu müssen.
Man kann es auch so formulieren: Der historische Diskurs eröffnet
den Beteiligten über historische Erinnerungen Individualisierungs-
chancen. Das gilt nicht nur für einzelne Individuen, sondern für Grup-
pen, Gesellschaften, ja ganze Kulturen. Der Eigensinn, den tenden-
ziell jedes Subjekt in der Interaktion mit anderen zur Geltung bringt
und der ja so etwas wie Kommunikation als Bewegung, als Prozeß kon-
stituiert, kann sich am Eigensinn anderer austragen und dabei eine um
Anerkennungsleistungen bereicherte neue Qualität gewinnen. Damit
endet natürlich der Kampf um die Durchsetzung sozialer Geltungsan-
sprüche nicht, der sich im Wirklichkeitsbereich der Kultur als Kommu-
nikation manifestiert; er gewinnt nur neue Formen, eine neue Strate-
gie. In ihr setzen sich neue Qualitäten von Subjektivität frei; in ihr wer-
den höhere Geltungsansprüche erhoben, da sich die Subjekte auf die
Spitze ihrer Individualität treiben. Der Kampf um Anerkennung wird
in dem gleichen Maße heftiger, in dem auch die Chancen eines neuen
Modus von Konsens in der Zurechnung historischer Perspektiven zu
eigenen sozialen Standpunkten wachsen: Es ist der Modus wechselsei-
tiger Anerkennung von Anderssein als Chance des Selbstseins.
Die historische Selbstverständigung, die mit den historiographi-
schen Formen und den rhetorischen Topoi genetischer Sinnbildung
möglich wird, gewinnt eine innere Zeitlichkeit: Sie entspricht der dy-
namisierten Zeiterfahrung genetisch verfaßter historischerWissensbe-
stände; sie trägt der durch den Gesichtspunkt der Veränderung selber
geprägten Vorstellung des übergreifenden Zeitverlaufs Rechnung;
und sie berücksichtigt die entsprechend im historischen Diskurs freige-
setzten Individualisierungschancen. Im Medium historischenWissens
sich formulierend, wird die zeitliche Kohärenz des eigenen Selbst an

54
die Bedingung von Veränderung geknüpft: Selbstsein ist eine Rich-
tungsbestimmung von Veränderung dessen, was man ist. Die Erinne-
rungen daran, was man war und wie man zu dem geworden ist, was
man ist, macht es plausibel, anders werden zu können. In diesem Wer-
den selber liegt das eigentliche Selbstsein. Ironisch könnte man von ei-
ner strukturellen Neurotisierung der historischen Identität sprechen,
zu der der genetische Typ narrativer Sinnbildung führt. Der klassische
Terminus für die typenspezifische Form historischer Identität ist natür-
lich nicht die Neurose, sondern Individualisierung durch Bildung. Ein
prominentes Beispiel für das Konzept historischer Identität ist die hi-
storistische Vorstellung einer nationalen Identität, die sich durch einen
langfristigen Prozeß kultureller Formation eines Volkes herausbildet
(im Unterschied zur traditionalen Vorstellung nationaler Identität, in
der die wesentlichen Qualitäten einer Nation sich im Laufe der Zeit als
gleiche durchhalten und lediglich modifizieren). Zusammenfassend
läßt sich der Typ genetischer Sinnbildung als eine Form des histori-
schenWissens charakterisieren, in der Zeit als Veränderung selber zum
historischen Sinn der erinnerten Vergangenheit wird: Zeit wird als Sinn
verzeitlicht.
Da die Geschichtsschreibung mit dem Prozeß ihrerVerwissenschaft-
lichung seit dem späten 18. Jahrhundert den Modus genetischer Sinn-
bildung als dominant ausgebildet hat, sind historiographische Bei-
spiele für diesen Typ Legion, obwohl es natürlich Präsentationen der
Fortschrittskategorie an Wissensbeständen gibt, in der Fortschritt sel-
ber zur Tradition geronnen, also seine innere zeitliche Dynamik in die
Stetigkeit einer gleichen Veränderungsart oder -qualität verloren hat.
Gegenwärtig werden die bislang ausgebildeten Deutungsmuster gene-
tischer Sinnbildung einer fundamentalen Kritik unterzogen, und ent-
sprechend können (post-)moderne Formen kritischer Sinnbildung do-
minieren. Es ist aber eine offene Frage, ob damit die kulturelle Domi-
nanz genetischer Sinnbildung in den ausgeprägtesten Formen historio-
graphischer Selbstverständigung moderner Gesellschaften gebrochen
ist.

55
Typ Erinnerung Kontinuität Kommunikation Identität Sinn
traditionale an Ursprünge von als Dauer in der Form von durch Übernahme Zeit wird als Sinn
Sinnbiidung Weltordnungen imWandel Einverständnis vorgegebener verewigt
und Weltordnungen
Lebensformen („Nachahmung")
exemplarische an Fälle, die als überzeitliche in der Form einer durch Regel- Zeit wird als Sinn
Sinnbildung allgemeine Geltung von Argumentation kompetenz in verräumlicht
Handlungsregeln Handlungsregeln, mit Urteilskraft Handlungs-
demonstrieren die zeitlich diffe- situationen
rente Lebens- („Klugheit")
formen umgreifen
kritische an Geschehnisse, als Bruch mit in der Form einer durch Zeit wird als Sinn
Sinnbildung die geltende wirksamen Zeit- bewußten Stand- Abweisung beurteilbar
historische verlaufs- punkteinnahme angesonnener
Orientierungen vorstellungen gegen angeson- Lebensformen
infragestellen nene oder vorge- („Eigensinn")
gebene soziale
Situierungen
genetische anVeränderun- als Entwicklung, in der Form einer durch Indivi- Zeit wird als Sinn
Sinnbildung gen,die von in der sich diskursiven dualisierung verzeitlicht
fremden und Lebensformen Beziehnung („Bildung")
anderen in verändern, um differierender
eigene Lebens- sich dynamisch Standpunkte und
formen führen auf Dauer Perspektiven
zustellen aufeinander
f) Komplexe Formen und Topoi

Die oben skizzierte Typologie kann dazu dienen, Geschichtsschrei-


bung auf regulative Gesichtspunkte hin durchsichtig zu machen, die
das spezifisch Historische im sprachlichen Gestaltungsprozeß betref-
fen. Es wirken natürlich auch andere Gesichtspunkte regulativ mit, -
welcher Geschichtsschreiber folgte nicht bewußt oder unbewußt litera-
rischen Vorbildern, und welche historiographische Schreibart wäre
nicht bewußt oder unbewußt von Schreibmustern geprägt, die in ande-
ren Bereichen der literarischen Gestaltung als derjenigen der Historio-
graphie liegen? Dort aber, wo der Formungsvorgang der Spezifik des
Geformten entspricht, also dem historischen Charakter des dargestell-
ten historischenWissens, dort lassen sich die geschilderten Typen als
Formen der Gestaltung wiederfinden und näher beschreiben.
Dabei tritt keinTypus rein für sich auf. Die typologischen Beschrei-
bungen isolieren künstlich einzelne Gestaltungselemente, die im Ge-
staltungsprozeß stets in komplexen Zusammenhängen mit den ande-
ren auftreten. Diese Zusammenhänge folgen einer eigenen Logik, die
noch einer genaueren Aufschlüsselung bedarf.49 Zwei Modi des Zu-
sammenhangs lassen sich als besonders wichtig hervorheben: Die ein-
zelnenTypen implizieren sich wechselseitig, also keiner kann ohne den
anderen auch nur gedacht werden; und unter bestimmten Bedingun-
gen gehen sie in einer nicht willkürlichen Weise ineinander über. Der
Implikationszusammenhang ist so zu denken, daß die Formelemente
der vierTypen in jeder historiographischen Gestaltung zusammen vor-
kommen. Natürlich nicht gleichgewichtig, sondern in variabler Mi-
schung, aber eben doch so, daß wesentliche Elemente des einen Typs
in einer erkennbaren Beziehung zu entsprechenden Elementen der an-
deren stehen. Diese Beziehung macht den eigentümlichen Duktus ei-
ner historiographischen Gestaltung aus, ihre ,Handschrift', ihre eigen-
tümliche innere Form. Das Transzendierungsverhältnis bringt eine
Spannung in die Korrelation typischer Elemente mit sich, die so etwas
wie eine innere Geschichtlichkeit der historiographischen Gestaltung
konstituiert. Abstrakt läßt sich diese Spannung als Tendenz des Typs
traditionaler Sinnbildung beschreiben, sich zur exemplarischen, der
exemplarischen, sich zur genetischen zu wandeln. Der Typ der kriti-
schen Sinnbildung fungiert als Medium und Katalysator des Über-
gangs. Bei diesen Übergängen steigert sich der Erfahrungsgehalt des
Geschichtsschreibung, und zugleich nimmt die Komplexität in der An-

57
Sprache von Subjekten zu, eine Komplexität, die die Ausprägung histo-
rischer Identität betrifft. In Gang gesetzt und tendenziell auch in Gang
gehalten werden diese Veränderungen im Beziehungsgeflecht der Ty-
pen durch Erfahrungsdruck und subjektives Geltungsstreben. Der
Umfang der deutend verarbeitbaren Zeiterfahrung und die Differen-
zierungskraft historischer Identitätsbildung nehmen im Wandel von
traditionalen über exemplarische zu genetischen Sinnbildungsformen
(vermittelt über kritische) zu.
Es ist mehr als nur eine Verlegenheitsvokabel, wenn das Verhältnis
der vierTypen zueinander in der historiographischen Formung histori-
schen Wissens ,dialektisch' genannt wird. Denn die Dialektik verbin-
det als logische Beziehung Implikation undTranszendierung. Es ist ein
Zusammenhang, der die Teile wirklich verbindet und sie zugleich ge-
geneinander in ,Widerspruch' setzt, also Momente der Negativität ent-
hält, die den Prozeß der historiographischen Formung mit einer inne-
ren Spannung zwischen den typischen Formelementen erfüllt. Diese
Spannung verleiht der Geschichtsschreibung eine eigene, innere Ge-
schichtlichkeit. Und mit ihr gewinnt sie ihren eigenen Reiz und die
Möglichkeit, bei den Angesprochenen mehr als bloß vorgefertigte hi-
storische Deutungsmuster in der Aufnahme neuen Wissens hervorzu-
rufen, sondern - und darin besteht jede wesentliche historiographische
Innovation - diese Deutungsmuster beim Rezipienten selber in eine
Bewegung der Veränderung zu bringten.
Mit der Typologie läßt sich der Prozeß der historiographischen For-
mung historischenWissens in mehreren Hinsichten untersuchen: Sie
kann zunächst einmal als analytisches Instrumentarium zur empiri-
schen Analyse historiographischer Phänomene dienen. Hier erfüllt die
Typologie die Aufgabe einer theoretischen Begriffsbildung. Mit deren
Hilfe kann die Eigenart historiographischer Gestaltungen ausgemacht
und interpretiert werden, und zwar dort, wo es um die Besonderheit
des Geschichtlichen geht. Die Eigenart eines historiographischenTex-
tes kann als besondere Konstellation typischer Elemente identifiziert
werden; das gilt auch für die Eigenart historiographischer Textsorten.
Darüber hinaus lassen sich einzelne Darstellungen oder Gruppen von
Darstellungen systematisch miteinander vergleichen; dabei dient die
typologische Begriffsbildung als Parameter. Schließlich lassen sich mit
der Typologie auch Veränderungen in der Formung historischen Wis-
sens theoriegeleitet rekonstruieren. Dabei kommt der begrifflichen
Spannung im systematischen Verhältnis der vierTypen eine besondere

58
Bedeutung zu, also der theoretischen Einsicht, daß die Geschichts-
schreibung unter bestimmten Bedingungen dazu tendiert, auf nicht
willkürliche Weise von einemTyp zu einem anderen überzugehen. Die
Typologie ermöglicht die Konstruktion historischer Perspektiven, die
das spezifisch Historische an historiographischen Gestaltungen be-
trifft. Sie bietet ein Begriffsraster an, mit dem deutlich gemacht und
aufgewiesen werden kann, wie die Geschichtsschreibung geschichtli-
che Veränderungen der menschlichen Lebenspraxis im Kern der histo-
riographischen Formung selber vollzieht.
Über diese analytische Funktion hinaus kann die Typologie noch
eine pragmatische Funktion erfüllen. Sie ergibt sich dann, wenn Histo-
rik ein wirkendes Element der Geschichtsschreibung selber wird: Sie
eröffnet dann einen Spielraum von Möglichkeiten, forschend gewon-
nenes historischesWissen so zu organisieren, daß es wirksam in den hi-
storischen Diskurs der Gegenwart eingehen kann. Damit meine ich
keine poetologische Normierung der Geschichtsschreibung, sondern
weise nur auf ein Reflexionspotential im Prozeß der historiographi-
schen Gestaltung selber hin. Die Frage, ob und wie ein solches Poten-
tial genutzt werden kann oder nicht, ist nicht der Willkür der Ge-
schichtsschreiber anheimgegeben, wenn sie vom Prestige derWissen-
schaftlichkeit zehren, also Geschichte forschungsbezogen schreiben
wollen. Dann wird nämlich der Forschungsbezug ein Element der hi-
storiographischen Gestaltung selber, und damit wird die Geschichts-
schreibung der Sprachhandlung der argumentativen Begründung ver-
pflichtet. Es gehört dann zu solchen Begründungen, die maßgebenden
Gesichtspunkte der narrativen Sinnbildung als solche für den poten-
tiellen Rezipienten erkennbar und reflektierbar zu machen.50Winfried
Schulze hat auf den bemerkenswerten Befund aufmerksam gemacht,
daß die jüngere Historiographie sich durch ein erstaunliches Maß inne-
rer Reflexivität auszeichnet.51 Ich sehe darin einen Indikator wissen-
schaftsspezifischer Rationalität.
Die Regulative einer solchen Reflexion historiographisch maßge-
bender Organisations- und Formungsprinzipien des historischenWis-
sens stehen natürlich nicht im Widerspruch zur .künstlerischen Frei-
heit' des Geschichtsschreibers. Entscheidend ist, daß diese Freiheit
ihre systematische Grenze an wissenschaftsspezifischen Wahrheitsan-
sprüchen hat. Damit ist mehr gemeint als die antirhetorische Regel,
der Geschichtsschreiber dürfe keine Tatsachen behaupten, die im Wi-
derspruch zu den Quelleninformationen stehen. Gemeint ist vor al-

59
lern, daß die Geschichtsschreibung nicht den Anschein eines narrati-
ven Sinnzusammenhangs erzeugen kann, der im Widerspruch zu den
methodischen Regulativen der historischen Interpretation steht. So
verlockend die Aussicht auch sein mag, Sinndefizite, die die Begrün-
dungsarbeit der historischen Forschung gelassen hat, mit ästhetisch-
rhetorischen Mitteln der Geschichtsschreibung kompensatorisch aus-
zufüllen, so wenig ist damit der Orientierungsfunktion des histori-
schenWissens gedient, um derentwillen es forschend gewonnen wird:
Letztlich werden die Rezipienten mit dem Schein einer ästhetischen
Stimmigkeit der historischen Welt über die Wirklichkeit betrogen, in
der sie sich doch durch historische Erinnerung orientieren wollen.
Die Typologie der narrativen Sinnbildung kann also in der Refle-
xionsarbeit der Geschichtswissenschaft an ihren Grundlagen eine Auf-
klärungsfunktion erfüllen. Sie kann zum Mittel der historiographi-
schen Gestaltung werden, wenn diese reflexiv über ihre maßgebenden
Gesichtspunkte Auskunft geben will. Dann wird dieTypologie zum Or-
ganon historiographischer Rationalität; mit ihr kann darüber aufge-
klärt werden, mit welchem argumentativen Gehalt historischesWissen
an potentielle Rezipienten ästhetisch und rhetorisch adressiert wird.
Manche mögen darin einen Vorgang sehen, in dem die Lebendigkeit
der Geschichtsschreibung mit der Gedankenblässe der Forschung und
der Reflexion angekränkelt wird und lieber für eine präreflexive Un-
mittelbarkeit ästhetisch eingängiger Geschichtsbilder plädieren. Die
in der Forschung durch die methodischen Regelungen des Erfahrungs-
bezuges systematisch unterdrückte dionysische Seite des Geschichts-
bewußtseins könnte dann historiographisch kompensiert werden (ge-
setzt, es finden sich Historiker, die trotz ihrer Professionalität über ge-
nug dionysische Schreibqualitäten verfügen). Die Eingängigkeit des
Geschichtsbildes steht jedoch als regulative Idee der Geschichtsschrei-
bung in einem höchst problematischen Verhältnis zur kognitiven Präg-
nanz der Forschung. Der historische Diskurs verlöre dann an kriti-
scher Potenz; er könnte eine Eigendynamik entfalten, die das öffent-
lich wirksame Geschichtsbewußtsein um die Früchte der historischen
Forschung brächte.
Aber vielleicht ist die umgekehrte Gefahr größer: Daß die Ge-
schichtsschreibung einen Gestus von Wissenschaftlichkeit aufweist,
mit dem unter dem Anschein der Sachlichkeit politische Botschaften
transportiert werden. Dann würde derWissenschafts- und Forschungs-
bezug der Geschichtsschreibung selber zur rhetorischen Floskel; er

60
würde bloß politische Absichten verbergen, also der Standpunktrefle-
xion entziehen, die zur Objektivität des historischen Denkens ge-
hört.52Wissenschaftlichkeit würde zum rhetorischen Schein; sie würde
durch eine bestimmte Art und Weise autoritärer historiographischer
Gestaltung in ihr Gegenteil verkehrt. Demgegenüber wäre eine Histo-
riographie wissenschaftsnäher, die über die Richtung, in die sie die Ge-
staltungskraft der historiographischen Formung historischen Wissens
lenkt, reflexiv Auskunft gibt. Sie vergißt über den Appell ans Herz des
Adressaten dessen Verstand nicht.

3. Wissenschaft als Formprinzip

Mit den vorhergehenden Bemerkungen zur inneren Reflexivität, die


der Geschichtsschreibung durch ihren Forschungsbezug zuwächst, ist
bereits das Problem angesprochen, wie sich Geschichte alsWissen-
schaft in der historiographischen Formung des historischen Wissens
ausprägt. Es müßte bereits deutlich geworden sein, daß es keinen sepa-
raten Typ wissenschaftsspezifischer historischer Sinnbildung gibt, der
neben oder gar über den vier geschilderten Typen anzusiedeln wäre.
Wissenschaft ist vielmehr ein bestimmter Modus des historischen Den-
kens, der in der Ausprägung der vierTypen und in ihrer Konfiguration
durchschlagen kann. Historiographie, die Formung des historischen
Wissens, muß als relativ eigenständiger Faktor der disziplinaren Matrix
der Geschichtswissenschaft angesehen werden. Wie nimmt sich in die-
sem Faktor Wissenschaftlichkeit aus, diese Helle des Bewußtseins,
diese innere Reflexivität, die ihm zuwächst, indem sich die Geschichts-
schreibung systematisch auf die historische Forschung zurückbezieht?
Ich möchte diese Frage typologisch stellen, d. h. ich möchte untersu-
chen, wie sich der aufklärende Wissenschaftsbezug der Geschichts-
schreibung in den für sie wesentlichen einzelnen typischen Elementen
und in deren systematischem Zusammenhang auswirkt.
Welche wissenschaftsspezifischen Gesichtspunkte werden in den hi-
storiographischen Gestaltungsprozeß des forschend gewonnenen hi-
storischen Wissens eingebracht? Es sind natürlich die drei methodi-
schen Strategien der Geltungssicherung narrativer Sinnbildung, die
ich in der Frage nach der Wissenschaftsspezifik des historischen Den-
kens bereits dargelegt habe:53 eine systematische Vertiefung des Erfah-

61
rungsgehaltes, eine systematische Erweiterung der von Standpunkten
abhängigen historischen Perspektive und eine systematische Steige-
rung der durch historisches Denken folgenden Bildung menschlicher
Identität. Werden nun diese drei Vernunftprinzipien des historischen
Denkens auf die vierTypen der Sinnbildung bezogen, dann laden sich
diese Typen in ihrem Zusammenhang mit einer inneren Dynamik auf;
sie geraten in eine argumentative Unruhe, die ihre Tendenz der Trans-
formation zu höheren Komplexitätsstufen verstärkt. Sie werden durch
Wissenschaftlichkeit gleichsam mit einem Streben nach Höherem ge-
impft, der traditionale Formen undTopoi zu exemplarischen Struktu-
ren treibt und exemplarische zu genetischen. Form undTopos der kriti-
schen Sinnbildung fungieren in dieser Dynamik als Medium des Über-
gangs. Man könnte auch sagen: Der kritische Typ wandert durch die
Wissenschaftlichkeit des historischen Denkens so in die anderenTypen
ein, daß er sie mit einer Formveränderungsdynamik versieht, die tradi-
tionale Elemente der Sinnbildung in exemplarische und exemplari-
sche in genetische überführt. Das heißt nun nicht, daß in dieser Dyna-
mik die traditionalen und die exemplarischen Elemente verschwin-
den, sondern lediglich, daß ihr Stellenwert in der Konfiguration der ty-
pischen Elemente sich so verändert, daß sie sich den Elementen der
anderenTypen unterordnen.
(a) Wissenschaftlichkeit heißt in den Formen und Topoi traditionaler
Sinnbildung grundsätzlich Traditionskritik. Sie bringt in die durch Tra-
ditionen gesteuerten Lebensorientierungen ein Element des Fragens
und Begründens ein, das die betroffenen Subjekte vom Anpassungs-
druck an vorgegebene Lebensordnungen (tendenziell) befreit. Das
heißt nicht unbedingt und in jeder Hinsicht Negation von Tradition,
sondern lediglich: eine Chance, sich zu Traditionen bewußt zu verhal-
ten, sie sich also auch aus guten Gründen zu eigen zu machen und fort-
zusetzen. Das schlechthinnige Vorgegebensein, der lebensweltliche
Apriori-Charakter historischer Deutungen in den objektiven Kultur-
vorgaben der Lebenspraxis wird relativiert, an Gründe gebunden.
Dies ist auch im vor-wissenschaftlichen Bereich kulturell notwendiger
Erinnerungsarbeit der Fall; denn traditionale historische Orientierun-
gen können nur in dem Maße kulturell wirksam werden, in dem sie ei-
gens veranstaltet, also in der Form von Geschichten lebendig gehalten
werden. In diese Lebendigkeit bringt die Wissenschaft das Element kri-
tischer Überprüfung und argumentativer Begründung ein. Kritisch
wirkt sie vor allem hinsichtlich des Erfahrungsgehaltes traditionaler

62
historischer Orientierungen. Er wird durch Forschung prinzipiell er-
weitert, und damit wird die Enge des Erfahrungshorizontes traditiona-
ler historischer Selbstverständigungen aufgebrochen. Die normative
Kraft, die die traditional vergegenwärtigten Tatsachen derVergangen-
heit für die Gegenwart haben, wird mit der Einsicht in das Andersge-
wesensein derVergangenheit gebrechen. Tatsachen und Normen be-
ginnen auseinanderzutreten und sich in ein komplexes Wechselverhält-
nis zu setzen. In diesem Wechselverhältnis geltenTraditionen nicht ein-
fach weiter, sondern sie müssen, um wirksam zu bleiben, produktiv
aus- und weitergestaltet werden (,erwirb es, um es zu besitzen'). Die
wachsende Einsicht in die Alterität derVergangenheit macht, wenn die
Traditionen weiter gelten sollen, einen expliziten Gegenwartsbezug
notwendig.
Man kann die Kritik- und Begründungspflicht, in die ein Wissen-
schaftsbezug die traditionale Sinnbildung bei der ästhetischen und to-
pischen Gestaltung historischenWissens nimmt, als Erschütterung des
festen Grundes fraglos geltender Traditionen ansehen und beklagen.
Wissenschaft als Medium historischer Erinnerung erscheint dann als
depotenzierende Kraft, als Teil einer Rationalisierung der menschli-
chen Lebenswelt, die ihre Sinnpotentiale austrocknet und sie nur noch
im imaginären Museum methodisch aufbereiteten historischen Wis-
sens als Kompensation von Sinnverlust präsentieren.54 Wer die Wissen-
schaft so als Einbruch tödlicher Rationalität in die Lebendigkeit tradi-
tionaler Daseinsorientierung einschätzt, verkennt, daß Wissenschaft-
lichkeit selber auf Traditionen beruht und durchaus ein Medium sein
kann, Traditionen lebendig werden zu lassen, wenn auch in anderen
Formen als derjenigen unvordenklicher Geltung durch schlichte Vor-
gegebenheit und kulturelle Wirksamkeit. Wissenschaft kann nicht nur
verschüttete Traditionen freilegen, sie kann Medium einer bewußten
Traditionspflege sein, und sie kann schließlich neue Sinnpotentiale der
historischen Erinnerung erschließen.
All dies freilich kann sie kraft der für sie maßgebenen Prinzipien ra-
tionaler Argumentation nur in einer bestimmten Weise: Traditionen
werden an die Geltungskraft guter Gründe gebunden oder sind im Me-
dium begründenden Denkens selber wirksam. Wissenschaft ist in ih-
rem kritischen Verhältnis zur fraglos vorgegebenen traditionalen Gel-
tung historischer Orientierungen eine Meta-Tradition. Sie zerstört Tra-
ditionen nicht, sondern erhebt sie auf ein bestimmtes kognitives Ni-
veau. Wie schon gesagt, müssen sich traditionale historische Orientie-

63
rungen in den Prozessen narrativer Sinnbildung des Geschichtsbe-
wußtseins verflüssigen, sie müssen als Geschichten erzählt werden, um
wirken zu können. Wissenschaftlichkeit ist ein Modus dieser Verflüssi-
gung. So betrachtet, kann sie durchaus zu einem Faktor der Bekräfti-
gung von Traditionen werden, - Bekräftigung durch Erfahrungsreich-
tum und durch kritische Überwindung enger zeitlicher Horizonte. Es
ist letztlich die Kraft von Erfahrungsgewinn und Perspektivenerweite-
rung, die traditionale Formen undTopoi der narrativen Sinnbildung in
die Nähe der exemplarischen treibt.
Hinsichtlich der an historische Topoi gebundenen Kommunikation
bedeutet dies, daß die sprachlose Selbstverständlichkeit des Einver-
ständnisses (durch Zugehörigkeit zu gleichen traditionsbestimmten
Lebensordnungen) in die Sprachlichkeit expliziter Verständigungen
überführt wird: Einverständnis wird zu Verstehen, es wird offen für die
argumentative Kraft des Prinzipiellen und Allgemeinen. Entspre-
chend weitet sich die im Medium traditionaler Sinnbildung angelegte
Bildung historischer Identität. Sie wächst sozusagen in die Bewußt-
seinsschichten kognitiver Erkenntnisleistungen hinein. Die Freiheits-
chancen, die damit den angesprochenen Subjekten eröffnet werden,
lassen sich in der Sprache der Rollentheorie so formulieren: Die Rol-
lenübernahme (als Form einer durch traditionale Sinnbildung bewirk-
ten Identität) wird an Einsicht, an ein bewußtes Selbstverhältnis der
Betroffenen gebunden; sie wird um Elemente der Rollengestaltung
bereichert. Die betroffenen Subjekte werden historiographisch so an-
gesprochen, daß sie sich ihrer selbst als mitgestaltenderTräger histori-
scherTraditionen bewußt werden.
(b) Auch in die Formen undTopoi exemplarischer Sinnbildung bringt
derWissenschaftsbezug der historiographischen Gestaltung ein funda-
mental kritisches Moment ein: Jetzt richtet sich die Kritik auf die Über-
zeitlichkeit der an den historischen Beispielen präsentierten Hand-
lungsregeln und Prinzipien der Lebensgestaltung. Die historische Er-
fahrung gewinnt nun ein Eigengewicht, mit dem sie die durch sie kon-
kretisierten Regeln selber relativiert, also tendenziell verzeitlicht.
Dies hat ambivalente Folgen. Einmal verlieren die handlungsleiten-
den Regeln die Überzeugungskraft überzeitlicher Geltung; sie welken
im Hauch des historischen Relativismus. Auf der anderen Seite nimmt
die Stärke der historischen Urteilskraft zu: Die Einsicht in die Zeitspe-
zifik von Handlungsregeln erhöht ihren Grad an historischer Konkret-
heit, und zugleich nimmt die Vielfalt undVerschiedenheit von Regulie-

64
rungen der menschlichen Lebenspraxis im Bewußtsein ihrer Subjekte
zu. Ihr Handeln gewinnt (über seine historische Orientierung) neue
Spielräume und damit auch Innovationschancen.
Entsprechend nimmt auch die Kommunikationsfähigkeit der betei-
ligten Subjekte im Medium der historischen Erinnerung zu: Die
schlichte Subsumption strittiger Fälle unter Regeln, die die Behand-
lung dieser Fälle unstrittig machen können, weicht einer komplexeren
Auseinandersetzung darüber, welche Erfahrungen zu welchen Regeln
passen und umgekehrt. Überdies stellt sich unvermeidlich die Frage,
ob es nicht Meta-Regeln gibt, mit denen der Differenzierungsschub in
der historischen Urteilskraft kognitiv verarbeitet werden kann. Die
Wissenschaftlichkeit historischen Denkens kann dann selber als diese
Meta-Regel eingebracht und als Element der historiographischen Ge-
staltung wirksam werden: Die für sie verbindlichen Prinzipien der Ar-
gumentation halten insofern dem Druck einer zeitlichen Relativierung
handlungsleitender Regeln stand, als sie die historiographische Prä-
sentation dieser Relativität selber organisieren und ihr damit allemal
einen Sinn verleihen. Freilich bleibt diese Meta-Regel der Wissen-
schaftlichkeit abstrakt und relativ leer von den Handlungszwängen,
die nach historischer Orientierung verlangen.
Wissenschaftlichkeit in den Formen undTopoi exemplarischer Sinn-
bildung eröffnet neue Möglichkeiten der Kommunikation: Die histori-
sche Selbstverständigung gewinnt an Fülle der Gesichtspunkte, an
Reichtum regelhafter Handlungsorientierungen und ihnen entspre-
chender Erfahrungen. Die zeitliche Relativität handlungsleitender
Regelsysteme erweitert den Spielraum des historischen Diskurses.
Selbstverständlichkeiten auf der Ebene abstrakter Prinzipien und Re-
geln werden sprachfähig und in das Für undWider ihres Erfahrungsge-
halts und ihrer Verallgemeinerungsfähigkeit hineingezogen. Entspre-
chend steigert sich die Regelkompetenz der beteiligten Subjekte: Sie
bereichern ihre historische Identität um das Wissen um divergente Re-
gelsysteme ihrer eigenen Lebenspraxis und um die Fähigkeit, diese Di-
vergenz unter übergeordneten Gesichtspunkten auszutarieren, also in
ein selber geregeltes Verhältnis von Regeln zu bringen,
(c) In den Formen undTopoi kritischer Sinnbildung wirkt sich Wissen-
schaftlichkeit als eine eigentümliche Ambivalenz der kritischen Atti-
tüde aus, mit der die Geltungskraft historischer Orientierungen ge-
schwächt werden soll: Sie wendet sich gegen sich selbst. Sie verliert die
Unschuld des einfach Alternativen und gewinnt die Nachdenklichkeit,

65
daß die Gegenposition nicht grundsätzlich und in jeder Hinsicht im
Unrecht sein kann. Die Depotenzierungskraft der eigenen Gegenge-
schichten wird an Begründungsregeln gebunden, die den mobilisierten
historischen Erfahrungen den Stachel des ganz Anderen zum Bisheri-
gen, und den Normen, die diese Erfahrungen mit historischer Bedeut-
samkeit aufladen, den Stachel der Unbedingtheit nehmen. Diese Dif-
ferenzierungen schwächen die Kraft des historischen Neinsagens nicht
notwendig. Wohl lassen sie rhetorische Brachialgewalt als Hebel zur hi-
storischen Umorientierung nicht mehr zu. Aber sie geben der Zustim-
mungsverweigerung zu praxisleitenden und identitätsbildenden histo-
rischen Perspektiven dieTreffsicherheit, die ein Nachweis von Begrün-
dungsmängeln auszeichnet. Was ist z. B. ein Rechtstitel wert, wenn er
auf gefälschten Urkunden beruht? Und wie stark kann eine Tradition
noch sein, wenn sich gegen ihren empirischen Gehalt dominante Ge-
genwartserfahrungen einwenden lassen?
Mit der Wissenschaftlichkeit nimmt die Diskursfähigkeit kritischer
Sinnbildung zu: Sie fordert den Gegner zu besseren Argumenten auf
und öffnet sich damit einer Vermittlung entgegengesetzter Stand-
punkte und Perspektiven. So geht sie letztlich als produktives Ferment
in eine umgreifende Sinnbildung ein, die nicht mehr von dem abhängig
ist, wogegen sie sich wendet (und insofern grundsätzlich nur die halbe
Wahrheit beanspruchen kann), sondern stattdessen die Kraft der Ent-
gegensetzung als Bewegung einer Erweiterung und Vertiefung von
Einsicht in sich hineinnimmt. DerTrotz eines schroffen Neins, mit dem
sich historische Identität als Ausgrenzung und Absonderung bildet,
mildert sich zu einem Eigensinn, der dem anderen die Chance ein-
räumt, anders zu sein, ohne gleich demVerdikt zu verfallen, deshalb ei-
gentlich nichts Wesentliches zu sein. In gewisser Weise nimmt sich die
kritische Sinnbildung in wissenschaftsspezifischen Formen selber zu-
rück: Sie läßt das, wogegen sie sich wendet, nicht mehr außer sich, son-
dern geht in die anderen Formen historischer Sinnbildung als Faktor
wissenschaftsspezifischer Argumentationskraft und innerer Dynamik
ein.
(d) Auch in den Formen undTopoi genetischer Sinnbildung wirkt Wis-
senschaftlichkeit als Kritik, Vertiefung des Erfahrungsbezuges, Steige-
rung der Komplexität historischer Bedeutungen. Ausweitung von
Kommunikationsmöglichkeiten und als Vertiefung historischer Identi-
tät. Kritisiert werden mit der durch Forschung erschlossenen histori-
schen Erfahrung zunächst einmal Zeitvorstellungen, in denen die

66
Konstanz von Sachverhalten und Lebensverhältnissen eine Rolle
spielt. Naturqualitäten in menschlichen Lebensverhältnissen werden
historisiert (so etwa die Geschlechtlichkeit). Wissenschaftlichkeit in
der genetischen Sinnbildung mißt sich am Ausmaß derVerzeitlichung
menschlicher Lebensverhältnisse. Zugleich aber bedeutet sie auch ei-
nen neuen Modus derVerzeitlichung selber. Sie führt zur Kritik an Ein-
linigkeiten und Zwangshaftigkeiten in der genetischen Zeitverlaufs-
vorstellung; sie löst beides auf in die Vielheit, Divergenz, ja Gegenläu-
figkeit von Entwicklungen. Damit steigert sie im historischen Diskurs
den Spielraum divergenter Perspektiven, in die sich Standpunkte zu hi-
storischen Orientierungen umsetzen lassen. Zugleich steigert sie die
Flexibilität historischer Identitätsbildung um die hermeneutische
Kraft, andere in ihrem Anderssein anzuerkennen. Die Zeitrichtung,
die das eigene Selbst in historischer Orientierung erhält, gewinnt ihr
besonderes, ihr individuelles Profil dadurch, daß sie mit den anderen
Zeiten der anderen Subjekte in einen Zusammenhang gebracht wird,
in dem Selbst- und Anderssein sich wechselseitig bestätigen und aner-
kennen.
Diese Steigerung von Vielfalt und Divergenz problematisiert natür-
lich die genetische Einheit des Zeitzusammenhangs. Worin kann noch
der Sinn einer solchen umgreifenden Zeitvorstellung bestehen, wenn
die je eigene, die individualisierende Zeit zu einem Moment innerhalb
ihrer selbst herabgesetzt wird? Gibt es so etwas wie eine Meta-Genetik
historischer Verläufe, zu der die Fermentierung genetischer Sinnbil-
dung durch Wissenschaftlichkeit führt? Wissenschaftlichkeit selber hat
in derTat die Züge einer solchen Meta-Dynamik von Entwicklungen,
insofern sie ja als Wissenschaft selber eine Dynamik des Erkennens
darstellt, sich selbst hinreichend nur als Prozeß verstehen kann, der
durch seine methodische Rationalität als Prozeß in Gang gehalten
wird. Reicht diese Prozeßhaftigkeit aus, um den Sinnzusammenhang
divergenter Zeitlichkeiten zu gewährleisten?

4. Wissenschaft und historischer Sinn

Die methodischen Regulative der Forschung sind formal, inhaltsleer.


Wissenschaft muß letztlich als ein nur formales Gerüst historischer
Sinnbildungen verstanden werden, das die Inhalte, die als Orientie-
rungsgröße der menschlichen Lebenspraxis zu gestaltende Geschich-

67
te, in ihrer inneren Sinnhaftigkeit nicht hinreichend trägt. Eine solche
Auffassung hat die Alltagserfahrung des wissenschaftlichen Betriebes
für sich, der sich ja gegenüber den Sinnbedürfnissen von Subjekten
(einschließlich der Wissenschaftler) eigentümlich neutral, ja in gewis-
ser Weise sogar abstoßend verhält. (So steht z. B. die Fülle von Anmer-
kungen, mit denen ein Text über das Ausmaß seiner Wissenschaftlich-
keit Ausdruck zu geben sich bemüht, in umgekehrt proportionalem
Verhältnis zu seiner Fähigkeit, das von ihm formulierte historische Wis-
sen als sinnhafte Größe in den Orientierungsrahmen der Lebenspraxis
eingehen zu lassen.)
Damit dürfte das Schlüsselproblem der Historiographie formuliert
sein: Wo nimmt sie die Gesichtspunkte ihrer Gestaltung her, mit denen
historisches Wissen seine kulturelle Potenz der Daseinsorientierung
gewinnt? Methodische Regulative der Geltungssicherung allein rei-
chen nicht aus. da sie nur formalen Charakter haben, während histori-
scher Sinn immer an Inhalten, an Geschehnissen, an Begebenheiten,
an Vorgängen, Entwicklungen, Ereignissen und Strukturen festge-
macht werden muß. Wie schließt sich die für die Geschichte alsWissen-
schaft maßgebliche methodische Rationalität des historischen Den-
kens, die dessen Formen bestimmt, mit seinen Inhalten zusammen, so
daß ein applikationsfähiges und orientierungsstarkes Sinngebilde,
eine gute Geschichte, entsteht?
Es liegt nahe, die Historiographie als einen Akt der Sinnstiftung auf-
zufassen, in dem das historische Denken über die Formalität seiner
methodischen Forschungsregulative in die Materialität einer sinnvol-
len Gestalt des historischenWissens übergeht. Nur zu gerne hat die Ge-
schichtswissenschaft lange Zeit eine solche Sinnstiftungskompetenz
für die Geschichtsschreibung in Anspruch genommen. Freilich ist es
ihr nie gelungen, diese Kompetenz umstandslos mit fachlicher Profes-
sionalität zu identifizieren. Der fachliche Verstand führt eben nicht
von selbst zur Sinnschöpfung der Historiographie, im Gegenteil: Er
dürfte sich gegenüber den ästhetischen und rhetorischen Möglichkei-
ten, Sinn sinnenfällig werden zu lassen, eher spröde, ja widerspenstig
verhalten, solange nicht die infragestehende historiographische Sinn-
gestalt mit den Formen diskursiver Argumentation identisch ist, die
die Geschichte alsWissenschaft konstituiert. Das aber ist sie solange
nicht, solange es sich nur um Formen und nicht um Inhalte handelt.
Wissenschaftsspezifische Historiographie ist eine Gestaltung des hi-
storischenWissens, die die diskursive Form des wissenschaftlichen Ar-

68
gumentierens an den dargestellten Inhalten der historischen Erfah-
rung aufscheinen läßt. Die wissenschaftliche Vernunft geht in die Sinn-
gestalt einer Geschichte ein, in der die Erfahrung derVergangenheit
Bedeutung für die Gegenwart gewinnt. Sie heftet sich sozusagen an die
fatsachen, genauer: Sie wird zu einem Ferment des Zeitzusammen-
hangs der Tatsachen, die als Geschichte historiographisch dargestellt
wird. Historiographie erhält die Signatur der Wissenschaftlichkeit,
wenn sie mit dem Erzählen einer Geschichte zugleich den wissen-
schaftlichen Umgang mit ihr miterzählt, und zwar so, daß er ein inte-
graler Bestandteil der erzählten Geschichte selber wird. Die Vernunft
des historischen Denkens, die die Geschichtswissenschaft für sich in
Anspruch nimmt, muß sie historiographisch an den dargestellten Sach-
verhalten zur Erscheinung bringen, sichtbar machen, wenn sie dem,
worum es geht, der historischen Orientierung der menschlichen Le-
benspraxis, nicht äußerlich, eben bloß abstrakt-formal bleiben soll.
Sie muß sich in die Inhalte der historischen Erfahrung hineinarbeiten,
in ihnen wiederscheinen oder an ihnen aufscheinen, so daß sie wirklich
zum integralen Bestandteil der erzählten Geschichte wird (und nicht
zum bloßen Beiwerk von Anmerkungen, die vomText ablenken). Wie
ist das möglich?
Mit dieser Frage möchte ich die vierTypen der historischen Sinnbil-
dung noch einmal ins Auge fassen, aber jetzt in einer gegenläufigen
Richtung, vom genetischen über den exemplarischen zurück zum tra-
ditionalen (wobei der kritische immer als notwendiges Medium des
Übergangs gedacht werden muß). Der Blick richtet sich deshalb zu-
rück, weil die infragestehende Einheit von Form und Inhalt in derTra-
dition ursprünglich gegeben ist. Sinn ist hier schon Sache und Sache ist
bereits Sinn. Diese Einheit gilt es als Prinzip der Vermittlung zwischen
methodischer Rationalität und historischer Erfahrung in der Formung
historischenWissens systematisch zur Geltung zu bringen. Sie befähigt
die Geschichtsschreibung zur Meta-Tradition, zur Meta-Regel und
zum übergreifenden Zeitzusammenhang in denTypen narrativer Sinn-
bildung. Sie erschließt sich als historiographisches Gestaltungsprinzip
im Rückblick von den elaborierten Formen wissenschaftsspezifischer
genetischer Sinnbildung zum Gestaltungsprinzip derTradition. Damit
ist keine Regression gemeint von den luftigen Gebilden eines erfah-
rungsfernen Zeitzusammenhangs divergenter Entwicklungen in die
Solidität einer ganz bestimmten, also höchst partikularenTradition, in
die hinein die Universalität wissenschaftlicher Geltungsansprüche zu-

W
rückgenommen werden müßte. Ich meine es anders: In derWeite und
Vielfalt wissenschaftsspezifisch elaborierter Darstellungsmöglichkei-
ten muß ein Äquivalent zur Tradition gefunden werden, ein Äquiva-
lent, das aber zugleich die systematische Erweiterung und Vertiefung
der narrativen Sinnbildung durch das Wissenschaftsprinzip in sich ent-
hält. Es geht um einen Gesichtspunkt von anthropologischer Univer-
salität, der zugleich die Sinnbildungskraft geltender Traditionen hat.
Mit seiner Universalität entspräche er der Meta-Tradition, Meta-Re-
gel und Meta-Entwicklung wissenschaftlichen Denkens, und mit der
Sinnbildungskraft von Traditionen könnte er dieses Denken wirksam
auf Lebenspraxis beziehen. Gibt es einen solchen Gesichtspunkt, und
wenn ja, wie ließe er sich plausibel machen?
Um zu verdeutlichen, worum es geht, möchte ich erst einmal überle-
gen, welche Rolle Sinnstiftung in der Historiographie spielen kann.
Unter dem Gesichtspunkt eines prinzipiellen Wissenschaftsbezuges
der Geschichtsschreibung kann Sinnstiftung nicht heißen, daß der Ge-
schichtsschreiber selber als Sinnstifter auftritt. Das könnte er nur in
der Form einer künstlerisch-ästhetischen, einer religiösen oder einer
ideologischen Sinnschöpfung, und in allen drei Fällen würde der Wis-
senschaftsbezug der Geschichtsschreibung durch Kunst, Religion oder
Ideologie55 überlagert, eingeklammert oder gar aufgehoben. Der Ge-
schichtsschreiber wäre eben kein Wissenschaftler mehr, sondern
Künstler,,Prophet' (im Sinne Max Webers) oder Ideologe, und die me-
thodische Rationalität der Geschichtswissenschaft würde auf diese
Sinnquelle hin instrumentalisiert. Kunst, Religion und Ideologie un-
terscheiden sich von der Geschichtswissenschaft, wenn sie Sinnstif-
tungskompetenz für sich in Anspruch nehmen. Sie rekurrieren auf ei-
gene Sinnquellen, und wenn der Geschichtsschreibung eine Sinnstif-
tungsfunktion zugebilligt werden soll, dann müßte plausibel gemacht
werden können, wie diese Sinnquellen das historische Denken und
Gestalten auch dort befruchten können, wo es den Mechanismen der
wissenschaftsspezifischen Geltungssicherung unterliegt. Macht man
mit dieser Bedingung ernst, dann rücken Kunst, Religion und Ideolo-
gie auf die erwähnten Meta-Ebenen der narrativen Sinnbildung. Wie
aber können sie dort die Kraft der Sinnstiftung noch entfalten, die sie
unberührt vom Prinzip methodischer Rationalität in sich haben mö-
gen?
Ich möchte nicht behaupten, daß die methodische Rationalität der
Geschichtswissenschaft die Sinnquellen von Kunst, Religion und Ideo-

70
logie einfach ausschaltet. Um kraft ihrer Form im kulturellen Leben
der Gegenwart wirken zu können, müssen die historischen Wissensbe-
stände vielmehr mit ästhetischen, religiösen und weltanschaulichen
Sinnpotentialen befruchtet werden, - aber wie? Träte der Historiker
als künstlerischer Sinnschöpfer, als religiöser Sinnstifter oder als ideo-
logischer Sinnlieferant auf, dann wäre er immer zugleich mehr als Hi-
storiker. Ja, fast unvermeidlich würde seine Professionalität aufgeso-
gen in die Attitüde des Künstlerischen, des Religiösen und des Ideolo-
gischen. Wenn sie aber nicht preisgegeben werden kann, weil mit ihr
die Überzeugungskraft wissenschaftsspezifischen Wissens verloren
ginge, dann muß der Geschichtsschreiber auf Sinnstiftungskompetenz
im Namen seiner Wissenschaft verzichten. Verliert er aber dann nicht
unvermeidlich die Sinnpotentiale, auf die seine Wissenschaft nicht ver-
zichten kann, wenn sie sich nicht selbst als kulturell besonders privile-
giertes Medium der historischen Orientierung von Lebenspraxis preis-
geben will?
Dies ist dann ganz entschieden nicht der Fall, wenn die Sinnpo-
tentiale der historiographischen Gestaltung im Medium der histori-
schen Erinnerung selber aktiviert werden, dort also, wo das Ge-
schichtsbewußtsein mit seinen Sinnbildungsoperationen seinen spezi-
fischen kulturellen Ort hat. Dann geht es nicht mehr primär darum.
Sinn zu stiften, sondern Sinn zu erinnern. Die Geschichtsschreibung
wird damit zugleich bescheidener und plausibler: bescheidener durch
Verzicht auf Stiftungskompetenz und plausibler, insofern sie auf den in
die menschliche Lebenswelt immer schon eingestifteten Sinn rekur-
riert.
In der Geschichtsschreibung kommt es nicht darauf an, Sinn zu stif-
ten, sondern gestifteten Sinn zu erinnern, und dies auf eine Weise, die
ihn als gestifteten mit dem ganzen Arsenal wissenschaftlicher Gel-
tungssicherung (und das heißt natürlich auch: einschließlich der Sinn-
kritik durch Erfahrungskontrolle, Standpunktreflexion undTheoreti-
sierung) zur Lösung der das Geschichtsbewußtsein bewegenden
Orientierungsprobleme der Gegenwart befähigt. Die Vergangenheit
ist immer mehr als ein Bestand sinnloserTatsachen, die nachträglich in
einen („historisch") sinnvollen Zusammenhang gebracht werden müs-
sen, sondern sie ist immer schon sinnvoll in den kulturellen Vorgängen
der Erinnerung lebendig. Der Historiker kann überhaupt kein Privileg
auf das von ihm herangezogene Sinnpotential anmelden, sondern die-
ses Potential ist immer schon in den Zeiten wirksam gewesen, manifest

71
geworden, die er schreibend vergegenwärtigt. Die infragestehende hi-
storiographische Einheit von Form und Inhalt ist in den Inhalten der
historischen Erfahrung immer schon vorentworfen. Denn die histori-
sche Erinnerung bewahrt etwas von derVergangenheit auf, das - wie
vermittelt auch immer - mit der Sinnhaftigkeit menschlichen Tuns zu-
sammenhängt. Dieser Zusammenhang verlängert sich in das histori-
sche Denken hinein und gewinnt in der Geschichtsschreibung seine
wirksame Gestalt. Die Meta-Ebene wissenschaftsspezifischer Sinnbil-
dung in traditionalen, exemplarischen und genetischen Formen und
Topoi, die im Medium kritischer Sinnbildung dynamisch miteinander
verflochten sind, ist in dieser inhaltlichen Vorgabe der historischen
Erinnerung angelegt. Sie muß und kann dann in den wissenschaftsspe-
zifischen Formen des historischen Denkens herausgearbeitet und dar-
gestellt werden.
Natürlich bleiben diese Sinnvorgaben an die historische Erinnerung
im Erinnerten nicht unberührt von der Art und Weise, wie sich die
Erinnerung historiographisch ausdrückt. Wissenschaftlichkeit als Ge-
staltungselement führt zu einer bestimmten Modifikation:Tendenziell
entwickelt sie aus den (ursprünglich traditionalen) Sinnvorgaben der
historischen Erinnerung Gesichtspunkte einer historischen Bedeu-
tung, die tendenziell die Menschengattung, ,Menschheit' als zugleich
empirisches und normatives Kriterium der historischen Identitätsbil-
dung betrifft. Diese menschheitliche Universalisierung steckt im Ra-
tionalitätsanspruch, mit dem die Geschichtswissenschaft sich in den hi-
storischen Diskurs ihrer Gegenwart einmischt: Sie stellt ihn auf eine
Vernunftfähigkeit der von den jeweiligen Problemen der historischen
Orientierung betroffenen Subjekte ab, die dem Menschen als Gat-
tungswesen grundsätzlich zukommt und die sich grundsätzlich in allen
historischen Relikten menschlichen Handelns und Leidens in derVer-
gangenheit zum Ausdruck bringt, d. h. zur Gegenwart .spricht'.
Dieser Logos der Sprache, der das historische Denken in seiner
Sinn-Suche mit den Sinnvorgaben des von ihm Bedachten verbindet,
weil er beides tätig wirkend durchzieht, stellt sich in derWissenschaft
als eine bestimmte Kommunikationsform dar, die sowohl in ihrer em-
pirischen Ausrichtung wie in ihrer normativen Bestimmtheit mensch-
heitlich bestimmt ist: empirisch, weil sich der Bereich der historischen
Erfahrung mit demjenigen der zeitlichen Manifestation der Menschen-
gattung grundsätzlich deckt, und normativ, weil die für die geschichtli-
che Qualität der menschlichen Vergangenheit maßgeblichen Gesichts-

72
punkte ihrer Bedeutung für die Gegenwart die menschheitliche Di-
mension aktueller Formen und Inhalte der historischen Identitätsbil-
dung betrifft. (Die Menschen- und Bürgerrechte, die diese Dimension
bekanntlich zum Ausdruck bringen, sind integraler Bestandteil solcher
identitätsbildenden historischen Inhalte.) Es ist schwierig, die anthro-
pologische Universalität, die ein wissenschaftsspezifisches historiogra-
phisches Sinnbildungskriterium auszeichnet, jenseits konkreter histo-
riographischer Gestaltungen, also unabhängig von historischen Inhal-
ten und einzelnen Darstellungsformen zu explizieren. Es handelt sich
um Gesichtspunkte, mit denen die Historiographie der anthropologi-
schen Universalität historischer Kategorien gestaltend entspricht: Am
je Besonderen scheint das Allgemein-menschliche auf, an den darge-
stellten Inhalten findet derVernunftanspruch, mit dem die Geschichte
alsWissenschaft das von ihr produzierte Wissen an die Orientierungs-
bedürfnisse der menschlichen Lebenspraxis adressiert, wie gebrochen
auch immer, seinen Reflex, seinen Widerschein.
Das kann (und ist) auf unterschiedliche Weise geschehen. So kann
der Sinn der Geschichte historiographisch Gestalt annehmen in der
Form einer Erzählung, in der konkrete zeitliche Ereignisfolgen an-
schaulich geschildert werden. Er erscheint dann im narrativen Duktus
solcher Geschehnisse, er wird an und mit den Tatsachen präsentiert.
Dieser Darstellungsmodus wird landläufig mit erzählender' Ge-
schichtsschreibung bezeichnet. Ihre bekanntesten Beispiele finden
sich in der großen epischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhun-
derts. Sinn präsentiert sich hier in der ästhetischen Konsistenz ereig-
nisgeschichtlicher Darstellungen. Diese Darstellungsform wird ihr
Recht in der Historiographie immer behalten, wenn auch vielleicht
nur als Teil einer komplexeren Form des historischenWissens. Sie ist
die eingängigste, vermutlich auch ursprünglichste und im Modus der
Sinnbildung auch einfachste Art, historischen Sinn narrativ sinnenfäl-
lig werden zu lassen. Ihre Grenzen liegen in ihrer geschichtstheoreti-
schen Voraussetzung, daß nämlich eine zeitliche Ereignisfolge derVer-
gangenheit als materialerTräger von Sinnbestimmungen ausreicht, hi-
storischer Sinn also im Umkreis zeitlich bewegter Ereignisse ge-
schieht, bzw. geschehen ist und vom Historiker mimetisch reprodu-
ziert werden kann.
Eine ganz andere Präsentationsform liegt vor, wenn die für die je-
weilige historische Darstellung maßgeblichen Sinnzusammenhänge in
einer besonderen Form expliziert werden, also in Textteilen,

73
die ausdrücklich Auskunft darüber geben, nach welchen Gesichts-
punkten die jeweilige Interpretation erfolgt ist. Der Sinn einer Ge-
schichte wird in einer unsinnlich-theoretischen Abstraktionsform
sprachlich sinnenfällig. Beispiele für diese Art liefert die moderne
theorieorientierte Sozialgeschichte zur Genüge.56 Natürlich be-
schränkt sich in dieser Darstellungsform die Sinnpräsentation nicht
auf solche aparten Textteile; denn schließlich handelt es sich fast im-
mer um Texte, in denen diese Teile mit den anderen selber noch in ei-
nem inneren Argumentationszusammenhang stehen, also um eine In-
tegration dieserTextteile in den Gesamttext. Allerdings können solche
theorieförmigen oder theorienahen Konzepte von Historiographie
auch als selbständige Texte auftreten. Sie indizieren im historiographi-
schen Diskurs das Eigenrecht theoretischer Erörterungen. Klassisch
ist das Beispiel von Schlözers „Vorstellung seiner Universalhistorie";57
aber auch in der heutigen Historiographie gibt es entsprechende
Texte.58 Solche Formen sind immer dann unverzichtbar, wenn die Ge-
schichtsschreibung auf den für die historische Forschung wichtigen me-
thodischen Gesichtspunkt derTheoretisierung verpflichtet wird.
Die beiden genannten Formen sind in einer Hinsicht gleich: Sie prä-
sentieren den historischen Sinnzusammenhang, der das dargestellte
Wissen um die Vergangenheit organisiert, als eine geschlossene Größe,
als etwas fix und fertig Darstellbares. Sie unterscheiden sich in der Art.
wie sie diese Geschlossenheit des historischen Sinns präsentieren: im-
plizit und damit wenig diskursfähig oder explizit und damit kritisch
überprüfbar und argumentativ modifizierbar.
Historischer Sinn kann aber auch anders präsentiert werden, so
nämlich, daß er sich erst in einem kompliziertenWechselspiel zwischen
Text und Rezipienten konstituiert. Es handelt sich dann um eine .of-
fene Form' historiographischer Gestaltung,59 die den Leser als poten-
tiellen Mitautor der erzählten Geschichte ausdrücklich in Anspruch
nimmt. Die Historiographie würde - in den Worten Francis Bacons,
die einen wissenschaftsspezifischen Darstellungsmodus beschreiben, -
„invite men, both to ponder that which was invented, and to add and
supply (die Menschen einladen, das abzuwägen, was aufgefunden
wurde, als auch etwas hinzuzufügen und weiterzubringen)."60 Der im-
plizite Leser', den jederText als Gestaltungsprinzip enthält, wird in der
Darstellungsform selber explizit gemacht, ja in den Rang eines Mitau-
tors erhoben. Eine solcheTextform eröffnet Kommunikationsmöglich-
keiten im Lesen oder Wahrnehmen (wenn es sich um bildliche ,Texte'

74
wie etwa Filme handelt) ganz besonderer Art, die den beiden anderen
Darstellungsformen vorenthalten ist. Zwar ist jeder Leser grundsätz-
lich Mitproduzent von Sinn im Leseakt,61 aber diese Mitproduzenten-
schaft wird im dritten Darstellungstyp auf die Spitze getrieben. Aller-
dings werden dabei nicht wenige Konsumgewohnheiten historisch In-
teressierter gestört. Die historiographische Gestaltung wird unfertig,
fragmentarisch, manchmal auch rätselhaft. Sie zeigt damit freilich nur
an. wie schwer, vielleicht sogar unmöglich es ist, die erinnerte Vergan-
genheit in konsistente zeitliche Sinnzusammenhänge bruchlos ^wohl-
gefällig' oder .theoretisch schlüssig') aufgehen zu lassen.
Bekannte Beispiele für diesenTyp historiographischer Sinnpräsenta-
tion sind selten. Ich verweise auf Schulbücher, die demTyp des Arbeits-
buches extrem verpflichtet sind62 und auf „Geschichte und Eigensinn"
von Oskar Negt und Alexander Kluge,63 deren außerordentlicher Er-
folg beim Publikum in einem erstaunlichen Mißverhältnis zur Reso-
nanz in der Geschichtswissenschaft steht. Zweifellos ist dieserTyp der
modernste, und er entspricht auch der grundsätzlichen Fragwürdigkeit
geschlossener und anschaulicher Sinnpräsentationen, einer Fragwür-
digkeit, die die moderne Kunst unübersehbar artikuliert. Entschei-
dend für die Plausibilität dieser Form ist es, daß sie die Adressaten
nicht in einer schlichten Ratlosigkeit beläßt oder einer puren Willkür
eigener Urteilsbildungen überantwortet, sondern daß sie sie durch die
Art ihrer Ansprache zu Sinnbildungsleistungen anregt, die ihre Ver-
nunftpotentiale, ihre Nachdenklichkeit und ihre Betroffenheit zu-
gleich aufs höchste aktivieren. Dann kann die Abwesenheit sinnenfälli-
gen historischen Sinns höchst sinnvoll sein, weil sie die Lüge glatter
Formen vermeidet und die irritierende Schwere historischer Sinnlosig-
keitserfahrungen als Motivation, ihr sinnbildend standzuhalten, auf
sich nimmt.

75
2. KAPITEL

Didaktik - Funktionen des historischenWissens

Was helfen mir in meiner täglichen Not Seine


grasbewachsenen Olims-Welthistorien?
Raabe64

Auch ist die Gegenwart gar nicht verständlich


ohne die Vergangenheit und ohne ein hohes Maß
Bildung, eine Sättigung mit den höchsten Pro-
dukten, mit dem gediegensten Geist des Zeital-
ters und derVorzeit, und eine Verdauung, woraus
der menschlich prophetische Blick entsteht ...
Novalis65

Es ist nicht meine Absicht, im folgenden Kapitel den Umriß einer Ge-
schichtsdidaktik zu skizzieren. Ich möchte nur diejenigen geschichtsdi-
daktischen Gesichtspunkte herausarbeiten und darlegen, die für eine
Historik wesentlich sind, ohne damit zugleich behaupten zu wollen,
daß sich die Geschichtsdidaktik als Fachdisziplin auf der Historik grün-
det oder von ihr hergeleitet werden kann. In den folgenden Überle-
gungen geht es mir also nicht um die vielfältigen praktischen Verwen-
dungen, die historischesWissen in der Lebenspraxis erfährt, sondern
um den eher abstraktenTatbestand, daß der Erkenntnisprozeß der Ge-
schichtswissenschaft immer durch einen Bezug auf die praktische Ver-
wendung des in diesem Prozeß forschend erarbeiteten und historiogra-
phisch gestalteten historischenWissens bestimmt ist. Praxis als Bestim-
mungsfaktor von Wissenschaft: Das ist dasThema.
Wirkung in der Lebenspraxis ist (wie vermittelt auch immer) stets
ein Faktor des historischen Erkenntnisprozesses, und zwar ein Faktor
grundsätzlicher Art, so daß er alsTeil der disziplinaren Matrix der Ge-
schichtswissenschaft betrachtet werden kann und muß. Diese Wirkung
kann auf mehr oder weniger bewußten Absichten der Historiker beru-
hen, aber auch auf Erwartungen, Zumutungen und Ansinnen, die ih-

76
nen aus dem gesellschaftlichen Kontext ihrer Arbeit heraus erwach-
sen. Sie können und wollen mit ihrer wissenschaftlichen Arbeit wir-
ken. Manchmal verhehlen sie dieses Können und Wollen und treten
mit der Unschuldsmiene eines .reinen' wissenschaftlichen Interesses
auf, manchmal geben sie ausdrücklich Rechenschaft über diese Ab-
sichten. In beiden Fällen ist das Verhältnis von Wirkungsabsicht und
wissenschaftlichem Geltungsanspruch unklar.66 Da es eine prinzipielle
Wertneutralität der historischen Erkenntnis nicht gibt, die Arbeit des
Historikers also immer von Praxisbezügen durchsetzt und bestimmt
ist, sollte dieser Bezug bewußt gehandhabt und allemal der irreführen-
den Attitüde der Neutralität oder einer unbedachten Einstellung zum
Praxisbezug vorgezogen werden. Das heißt natürlich nicht, daß die
Geschichtswissenschaft Tor undTür der fachlichen Argumentation po-
litischen Zwecken öffnen sollte, beileibe nicht: Im Gegenteil geht es in
der Historik darum, den konstitutiven Praxisbezug der historischen
Erkenntnis so zu thematisieren, daß in ihm selbst die Möglichkeit wis-
senschaftsspezifischer Verfahrensarten und die dafür maßgeblichen re-
gulativen Gesichtspunkte sichtbar werden. Ein Wissen um diese Ge-
sichtspunkte kann die Geschichtswissenschaft vor politischem Miß-
brauch schützen und zugleich aber auch die Autorität stützen, die ihr
(manchmal) im politischen Streit um historische Orientierungen zuge-
billigt wird. Und natürlich ist ein solches Wissen unverzichtbar, wenn
die Geschichtswissenschaft von dieser Autorität verantwortlich Ge-
brauch machen und ihr Gewicht als Fach in die Waagschale politischer
Entscheidungen werfen will.
Es ist nicht meine Absicht, den weiten Bereich von Praxisfeldern
auszumessen, in denen historischesWissen wirksam sein kann. Auf
dem ziemlich abstrakten Argumentationsniveau von ,Grundzügen ei-
ner Historik' kann es nur um Prinzipien, um allgemeine Regulative des
Praxisbezuges von historischem Wissen gehen. Ich möchte .Praxis'
dort thematisieren, wo historischesWissen seine ganz besondere und
nur ihm allein zukommende Funktion in der menschlichen Lebensfüh-
rung hat. Dies ist der kulturelle Ort im Leben einer Gesellschaft, wo
Subjekte sich historisch orientieren und eine historische Identität bil-
den müssen, um leben, oder genauer: absichtsvoll handeln zu können.
Historische Orientierung menschlichen Lebens nach innen (Identität)
und außen (Praxis), - darauf geht letztlich alles historische Denken;
sie konstituiert seine eigene (narrative) Logik, die Dynamik seines
Vollzuges und schließlich auch seine wissenschaftsspezifischen Regula-

77
tive und Formen. Wie das historische Denken diese seine konstitutive
Absicht in seinem Lebenszusammenhang verwirklichen kann, und
zwar kraft seiner wissenschaftlichen Verfassung, das ist die Leitfrage ei-
ner .Didaktik' als systematisch notwendiger Teil der Historik. Das
Wort ,Didaktik' indiziert, daß es sich bei der praktischen Funktion hi-
storischenWissens um eine Wirkung in Lernprozessen handelt. Damit
ist viel mehr gemeint als die eine Lernform des schulischen Geschichts-
unterrichts (die fast immer mit dem Wort .Didaktik' konnotiert wird).
.Lernen' meint vielmehr eine elementare Lebensform, einen funda-
mentalen Modus von Kultur, in dem sich Wissenschaft ausprägt, der
durch Wissenschaft vollzogen wird und auf den Wissenschaft sich be-
sonders nachdrücklich auswirken kann. Was hier durch Wissenschaft
ausgerichtet werden kann, wird unter der klassischen Bezeichnung
,Bildung' abgehandelt.
Ich möchte historische Bildung in zwei Hinsichten thematisieren, in
einem Quer- und einem Längsschnitt. Der Querschnitt dröselt histori-
schesWissen als Synthese von Erfahrung und Deutung auf, um in der
Unterschiedlichkeit und im Zusammenhang dieser beiden Dimensio-
nen und ihrer Zuordnung auf die dritte, erst eigentlich lebensprakti-
sche Dimension der Orientierung deutlich zu machen, wie und wo-
durch historisches Wissen wissenschaftsspezifisch praktisch wirken
kann. Im Längsschnitt geht es um Bildung als Prozeß der Sozialisation
und Individualisierung, um die innere Entwicklungsdynamik histori-
scher Identitätsbildung und natürlich besonders darum, ob und wie
diese Dynamik durch Wissenschaft beeinflußt werden kann und soll.

1. Historik und Didaktik

.Didaktik' ist im Gebiet des historischen Denkens ein höchst mißver-


ständlicher Begriff. Einerseits verfügt er über eine ehrwürdige Tradi-
tion. Vor ihrer Verwissenschaftlichung reflektierte die Historie ihre
Grundlagen in einer Art und Weise, für die sich nicht erst heutzutage
der Begriff .didaktisch' anbietet: Es ging um Lehren und Lernen von
Geschichte, um die Frage, wie sie eingängig so geschrieben werden
kann, daß die Rezipienten etwas fürs Leben lernen.67 ,Methode'-die-
ser Schlüsselbegriff für Rationalität - wurde im Selbstverständnis der
Historiker bis weit in das 18. Jahrhundert hinein immer auch als Pro-

78
blem der Didaktik angesehen. Praxisbezug des historischenWissens
galt als wesentliches Kriterium für die historiographische Formung,
und damit bestimmte er zugleich die Art der historischen Interpreta-
tion, des historischen Denkens insgesamt.68 Noch zu einer Zeit, als die
Geschichte bereits ihren fachwissenschaftlichen Status erreicht und re-
flexiv durch Historik begründet hatte, stand der Didaktik-Begriff in
hohem Ansehen: Kein Geringerer als Johann Gustav Droysen bezeich-
nete die höchste Form der Geschichtsschreibung als ,didaktische':
geht es in ihr doch buchstäblich ums Ganze, nämlich um die weltge-
schichtliche Dimension menschlicher Selbstverständigung, um die
höchste Form historischer Identität und entsprechend um den Kern
und die fundamentale Absicht geschichtswissenschaftlicher Erkennt-
nis:
„Aus dem didaktischen Interesse erwächst das Bedürfnis dieser
weltgeschichtlichen Fassung, in ihr erst rechtfertigt sich die historische
Wissenschaft als solche; denn erst hier kommt sie ganz zu sich selbst,
hier schließt sie sich zu derTotalität zusammen, die ihr überhaupt ver-
gönnt ist."69
In krassem Mißverhältnis zu diesem Sprachgebrauch steht heutzu-
tage (und nicht erst seit gestern) die weitverbreitete und - wie es
scheint: unausrottbare -Vorstellung, Didaktik sei eine der Geschichte
alsWissenschaft ganz äußerliche Angelegenheit; in ihr gehe es um eine
Anwendung und Vermittlung des von der Geschichte alsWissenschaft
produzierten historischen Wissens in wissenschaftsexterne Bereiche
des historischen Lernens. Didaktiker seienTransporteure, Übersetzer,
die von derWissenschaft gelieferte Produkte an den Mann (bzw. an die
Frau) - meist spricht man von ,dem Schüler'-zu bringen habe. Didak-
tik verhalte sich zum wissenschaftlich produzierten historischen Wis-
sen wie das Marketing zur Warenproduktion.
Diese vorherrschende Auffassung, die eher Mentalitätscharakter
hat und nur selten eigens expliziert oder gar begründet wird, billigt der
Didaktik mit dem sogenannten ,Vermittlungs'-Aspekt durchaus ein
kognitives und pragmatisches Eigenrecht zu. Seine Nutzung freilich ist
zugleich so etwas wie seine Rücknahme. Denn die meisten professio-
nellen Historiker stimmen darin überein, daß diese Vermittlung letzt-
lich nichts anderes zu sein hat, als eine möglichst ungebrochene Über-
nahme der für die Geschichte alsWissenschaft jeweils maßgeblichen
Formen und Inhalte des historischenWissens. Lediglich reduziert sol-
len sie werden auf das geringe Maß des Aufnahmevermögens von Sub-

79
jekten, die keine Fachhistoriker sind und auch nicht vorhaben, es zu
werden. Solche (vor allem unter Gymnasiallehrern verbreitete) Ein-
stellung wird ,Abbilddidaktik' genannt. In modernerer Sprachform
könnte man von ,Copy-Didaktik' sprechen (Das hätte den Vorteil, Di-
daktik alsTransport historischenWissens von derWissenschaft in nicht-
wissenschaftliche Bereiche um die sprachliche Assoziation der Verklei-
nerungsmöglichkeiten, wie sie ja inzwischen gängige Kopierautoma-
ten bereitstellen, zu bereichern.)
• Diese Externalisierung und Funktionalisierung der Didaktik ist der
Reflex eines verengten Wissenschaftsverständnisses professionalisier-
ter Historiker: In dem Maße, in dem Wissenschaftlichkeit lediglich mit
den Prozeduren der Forschung und der Art von Wissensbeständen
identifiziert wird, die durch Forschung entstehen, fallen die für den hi-
storischen Erkenntnisprozeß maßgeblichen anderen Faktoren, vor al-
lem die Generierung historischer Fragen aus Orientierungsbedürfnis-
sen der Lebenspraxis, der Adressatenbezug der historiographischen
Formung und natürlich vor allem die praktische Orientierungsfunk-
tion historischen Wissens (als Gesichtspunkt, der in der Produktion
dieses Wissens selber wirksam ist) einer ,Wissenschaftsvergessenheit'
anheim. 70 Sie können aus der Verantwortung derWissenschaft entlas-
sen und anderen Instanzen zugewiesen werden. Die Didaktik ist das
prominenteste Beispiel einer solchen Instanz als Exil für einen nicht
gerade unwichtigen Faktor der historischen Erkenntnis. (Ein anderes
Beispiel ist die Auswanderung der Geschichtsschreibung aus der Do-
mäne reflektierter Fachlichkeit in die Poetik und Linguistik, wo sie
dann auch prompt unterVerlust ihrer inneren Wissenschaftlichkeit the-
matisiert wird.)
Es gibt natürlich einen guten Grund dafür, didaktische Überlegun-
gen von der Grundlagenreflexion der Geschichtswissenschaft zu tren-
nen. Der Geschichtsunterricht in den Schulen verlangt von den Leh-
rern eine Kompetenz, die nicht schon mit ihrer Fachkompetenz hinrei-
chend mitgegeben ist. Didaktik ist der disziplinare Ort, wo diese spezi-
fische Kompetenz für Unterricht, für Lehren, formuliert und reflek-
tiert wird. Die dafür notwendigen Erfahrungen, Untersuchungen, Er-
probungen, Erkenntnisse und Reflexionen haben ihr Eigengewicht,
ihre eigene Logik gegenüber dem, was Geschichte alsWissenschaft lei-
stet und leisten kann. Die Didaktik der Geschichte trägt mit einer ge-
wissen disziplinaren Selbständigkeit und Unabhängigkeit diesen Un-
terschieden zwischen der Erkenntnisarbeit der Geschichtswissen-

80
Schaft und derTätigkeit von Geschichtslehrern im Schulunterricht sy-
stematisch Rechnung.
Das Problem ist nicht diese Selbständigkeit und Unterschiedlichkeit
der Geschichtsdidaktik, sondern ihr Verhältnis zur Geschichtswissen-
schaft, und vor allem ihr Status in diesem Verhältnis. Jeder Lehrer muß
ja mindestens zwei Seelen in seiner Brust vereinigen: diejenige der
Fachlichkeit, die ihm (mühevoll genug) durch sein Studium erwachsen
ist, und diejenige seines Lehrerseins, die pädagogische also, ohne die
er (sollte man meinen) sein Fach nicht erfolgreich unterrichten kann.
In der Ausbildung liegt - mindestens, was die aufgewendete Zeit be-
trifft,- der Schwerpunkt ganz eindeutig auf dem Erwerb fachlicher Pro-
fessionalität. Da liegt es dann nahe, die pädagogische Professionalität
auf eine bloß technische Kompetenz des Unterrichtens zu begrenzen,
so daß die Rede von ,Anwendung' oder .Vermittlung' ihren guten Sinn
hätte. Geschichtsdidaktik wäre dann im wesentlichen Unterrichtsme-
thodik und als solche stünde sie in einem klaren Indifferenzverhältnis
zu den fachspezifischen Mechanismen der historischen Erkenntnisar-
beit. Die Didaktik ginge dann auch die Historik nichts an.
Eine solche wohlwollende Neutralität läßt sich jedoch nur um den
hohen Preis einer Ausblendung wesentlicher Problembereiche in bei-
den Disziplinen aufrechterhalten. Das Lehren von Geschichte im Un-
terricht ist eine Funktion des historischen Lernens der Kinder und Ju-
gendlichen. Was es heißt, daß und wie Kinder und Jugendliche Ge-
schichte lernen, ist also eine zentrale Frage der Geschichtsdidaktik,
und sie läßt sich mit einer Unterrichtstechnologie nicht nur nicht be-
antworten, sondern jede Unterrichtsmethodik hat eine Antwort auf
diese Frage zu ihrer eigenen Voraussetzung. Mit dem Lernen von Ge-
schichte wird Geschichtsbewußtsein in der Geschichtsdidaktik thema-
tisch.71 Überdies vollziehen sich historische Lernprozesse überhaupt
nicht exklusiv im Geschichtsunterricht, sondern in den ganz unter-
schiedlichen und komplexen Lebenszusammenhängen der Lernen-
den, in denen Geschichtsbewußtsein eine Rolle spielt. Damit öffnet
sich der Gegenstandsbereich des geschichtsdidaktischen Denkens zum
weiten Feld des Geschichtsbewußtseins, und die Geschichtsdidaktik
gerät ins Gehege der Historik.72
Umgekehrt nähert sich auch die Historik fast zwangsläufig der Ge-
schichtsdidaktik. Wenn sie Orientierungsbedürfnisse, die der mensch-
lichen Lebenspraxis aus irritierenden Zeiterfahrungen erwachsen, als
Anstöße zu historischen Erkenntnisleistungen thematisiert, dann wird

81
ihr nicht entgehen, daß solche Bedürfnisse auch als Lernbedürfnisse
auftreten können (ja müssen), wie sie sich z. B. in schulischen Lehrplä-
nen institutionell niederschlagen. Ähnlich ist es bei der Untersuchung
des disziplinaren Faktors ,Formen der Darstellung': Der hier ins Auge
gefaßte Adressatenbezug des historischenWissens ist immer auch ein
Bezug auf Lernvorgänge im gesellschaftlichen Umfeld der Geschichts-
wissenschaft.
Die Geschichtswissenschaft kann sich also in ihrer Fachlichkeit nicht
freihalten von Impulsen, die vom Lehren und Lernen von Geschichte
ausgehen. Didaktik ist in ihr selbst stets der Fall. Das zeigt eine unre-
stringierte Historik zur Genüge, wenn sie Orientierungsbedürfnisse,
Formen der Darstellung und Funktionen der Daseinsorientierung the-
matisiert. Sie geht zwanglos und konsequent in Didaktik über, wenn es
bei den drei genannten Faktoren der disziplinaren Matrix um Lernen
geht. Und das ist stets und notwendig der Fall, da Lernen ein elementa-
rer Vollzug der Lebenspraxis ist, aus der die historische Erkenntnis er-
wächst und in der sie ihre besondere, dem Modus ihrer Wissenschaft-
lichkeit entsprechende Rolle spielt oder spielen kann. Umgekehrt geht
auch eine Didaktik der Geschichte zwanglos und konsequent in Histo-
rik über, immer dann nämlich, wenn sie danach fragt, was Wissen-
schaftlichkeit der historischen Erkenntnis für historisches Lernen be-
deutet.73 Geschichte kann auf unterschiedliche Weise und mit unter-
schiedlichen Inhalten gelernt werden, und natürlich ist die Geschichts-
wissenschaft für die Geschichtsdidaktik eine Instanz, die sie konsultie-
ren muß, wenn sie unterschiedliche Formen und Inhalte des histori-
schen Lernens gegeneinander abwägt.
Dieses wechselseitige Ineinanderübergehen von Historik und Di-
daktik ist nicht unproblematisch, weil Unterordnungen und Funktio-
nalisierungen naheliegen. So ist etwa die (zumeist verhohlene, aber
nichtsdestoweniger praktisch außerordentlich wirksame) Abbilddidak-
tik ein Versuch, ein Konzept historischen Lernens aus den Mechanis-
men wissenschaftsspezifischer historischer Erkenntnisprozesse abzu-
leiten, also letztlich Didaktik in Historik zu fundieren. Sogar Kon-
zepte von Geschichtsdidaktik, die die Absicht einer Abbilddidaktik
weit von sich weisen, sind nicht frei davon, sich in Form einer Historik
höchst erhebliche Direktiven des historischen Lernens vorgeben zu
lassen: Sie legt fest, was als Geschichte gelernt werden soll, und ihre
methodische Rationalität entscheidet als kritische Instanz darüber,
welche Modi historischen Denkens gelernt werden sollen.74 Dabei

82
wird nur zu oft übersehen, daß die Wissenschaft ihrerseits auf einem le-
bensweltlichen Fundament beruht, ihr also Fragen und Probleme aus
einem Bereich der Lebenspraxis zuwachsen, der auch von der Didak-
tik als Konstitutionszusammenhang und Bedingungsfeld historischen
Lernens untersucht wird.
Es gibt auch Argumente, die in die Richtung einer umgekehrten
Funktionalisierung weisen. Dann sind es didaktische Gesichtspunkte,
denen sich die Geschichtswissenschaft zu fügen hat, wenn sie als In-
stanz historischen Lernens ernstgenommen werden soll. Sie verliert
dann in gewisser Weise ihre Autonomie. Zumindest muß sie sich die
prinzipielle Kritik gefallen lassen, dann lebensundienlich zu sein,
wenn sie nicht (über Historik) die von der Geschichtsdidaktik eingese-
henen Erfordernisse des historischen Lernens sich zu eigen macht.
Solche wechselseitigen Einvernahmen von Historik und Didaktik
sind unproduktiv. Sie verhindern Einsichten in die Eigenart der jeweils
angesprochenen Sachverhalte (Geschichte alsWissenschaft und histo-
risches Lernen) und bringen das jeweils andere Sachgebiet nur ver-
kürzt zur Geltung. Diese Einseitigkeiten können vermieden werden,
wenn deutlich wird, daß Historik und Didaktik einen gemeinsamen
Ausgangspunkt haben, sich aber mit verschiedenen Erkenntnisinteres-
sen in unterschiedlichen Erkenntnisrichtungen entwickeln. Da sowohl
die Geschichte alsWissenschaft wie auch das historische Lernen in den
lebensweltlichen Operationen und Prozessen des Geschichtsbewußt-
seins fundiert sind, konvergieren Historik und Didaktik mit diesem
Thema. Sie erarbeiten es sich aber in unterschiedlicherweise: Die Hi-
storik fragt nach Vernunftchancen der historischen Erkenntnis und die
Didaktik nach Lernchancen des Geschichtsbewußtseins. Beides hängt
natürlich eng miteinander zusammen, ist aber nicht das gleiche. Die
Historik thematisiert didaktische Fragestellungen genau in dem Um-
fang, in dem sie zur Aufklärung des wissenschaftlichen Erkenntnispro-
zesses notwendig sind. Und das ist dort unübersehbar der Fall, wo
praktische Funktionen des historischenWissens Bestimmungsfaktoren
der historischen Erkenntnis selber sind, wo sich also im Erkenntnis-
prozeß Bezüge auf die Gestaltung der Lebenspraxis mit Hilfe histori-
schenWissens aufweisen lassen, -Bezüge, die sich wissenschaftsspezi-
fisch gestalten lassen. Wissenschaft wird dann thematisch als Wirkungs-
faktor von Lebenspraxis. Wissenschaftliche Vernunft wird als prakti-
sche Vernunft in Anspruch genommen, - sei es, indem Historiker sie
der Praxis empfehlen, sei es, daß die Praxis sie von derWissenschaft

83
verlangt. Die Historik fragt nach Wissenschaft als Lebensform, als kul-
turelles Prinzip sozialer Wirklichkeit, unter der leitenden Hinsicht, ob
und wie sich ihre Vernunftansprüche praktisch verwirklichen lassen.
Das Spektrum solcher Ansprüche oder Inanspruchnahmen wissen-
schaftlichen Sachverstandes ist weit. Wo immer Geschichtsbewußtsein
eine öffentliche Rolle spielt, fehlen die Historiker nicht, die sie ganz
oder mindestens teilweise zu spielen bereit und in der Lage sind. Sie
nehmen dabei eine Autorität in Anspruch, die im Vernunftanspruch
der Geschichte alsWissenschaft begründet ist. Und wenn sie dies zu
Recht tun, dann muß sich die der Geschichte alsWissenschaft eigen-
tümliche Vernunft auch und gerade im praktischen Umgang mit histori-
schem Wissen aufweisen lassen. Dieser Aufweis ist Didaktik in der Hi-
storik.
,Didaktik' ist ein mißverständlicher Begriff, da er heutzutage nur ei-
nen speziellen Bereich von Pädagogik bezeichnet, denjenigen näm-
lich, der sich auf schulischen Unterricht bezieht.75 Mit der erwähnten
Ausdehnung des Gegenstands der geschichtsdidaktischen Reflexion
auf das weite Feld von Tätigkeiten und Funktionen des Geschichtsbe-
wußtseins ist diese Verengung prinzipiell aufgehoben. Auch dann,
wenn man die Gefahr einer Allzuständigkeit der Didaktik in der ver-
schwimmenden Weite des Sachverhalts .Geschichtsbewußtsein' ver-
hindern möchte und stattdessen präzisierend Didaktik als Wissen-
schaft vom historischen Lernen charakterisiert,76 deckt .Lernen" im-
mer noch das ab, um was es der Didaktik in der Historik geht: Wenn
Lernen nur allgemein und fundamental genug als Vorgang verstanden
wird, in dem Erfahrungen in Kompetenzen deutend verarbeitet wer-
den, dann deckt dieser Lernbegriff das ab, was zur Debatte steht: Es
geht um den Beitrag der Geschichtswissenschaft zur Entwicklung der-
jenigen Kompetenzen des Geschichtsbewußtseins, die zur Bewälti-
gung praktischer Orientierungsprobleme mit Hilfe historischen Wis-
sens notwendig sind.

84
2. Was ist historische Bildung?

.Bildung' ist die didaktische Kategorie, die die infragestehenden Kom-


petenzen charakterisiert. Die Bildungskategorie bindet kulturelle
Kompetenzen an kognitive Niveaus, und umgekehrt bindet sie Wis-
sensformen und -inhalte in Dimensionen ihres praktischen Gebrauchs
ein. Diese Praxis-Dimensionen drohen den Wissenschaften aufgrund
ihres inneren Differenzierungs- und Spezialisierungsdrangs dauernd
dauernd zu entgleiten. Daher ist eine eigene Reflexionsanstrengung
erforderlich, wenn die praktische Verwendung des wissenschaftlich
produzierten Wissens ein Gesichtspunkt des Selbstverständnisses der
Wissenschaften und ihrer Wissensproduktion und -Präsentation wer-
den soll.
,Bildung' meint ein Ensemble von Kompetenzen der Welt- und
Selbstdeutung, das ein Höchstmaß an Handlungsorientierung mit ei-
nem Höchstmaß an Selbsterkenntnis verbindet und damit ein Höchst-
maß an Selbstverwirklichung oder Identitätsstärke ermöglicht. Es han-
delt sich um Kompetenzen, die zugleich auf Wissen, auf Praxis und auf
Subjektivität bezogen sind. Wie sind diese Bezüge ausgeprägt und
woran bemißt sich ihr Gelingen oder Mißlingen? Bildung ist kritisch
gegen Vereinseitigung, gegen Spezialisierung und gegen Praxis- und
Subjektferne gerichtet. Sie meint die Fähigkeit, umgreifende Zusam-
menhänge wahrzunehmen und zu reflektieren, in denen jeweils spe-
zielle Fähigkeiten ausgebildet und angewendet werden. Die Bildungs-
kategorie spricht einen Zusammenhang von Wissen und Handeln an,
den das Orientierungsbedürfnis der Handlungssubjekte verlangt,
denn es zielt immer auf eine Vorstellung vom Ganzen der jeweiligen
Handlungssituation und der handelnd zu bewältigenden Probleme.
Bildung nimmt diese Richtung des Orientierungsbedürfnisses ernst;
sie kehrt es gegen die mit der wissenschaftlichen Wissensproduktion
notwendig verbundene Fragmentierung von Wissensbeständen. Sie
hält zugleich damit auch das Bedürfnis der handelnden Subjekte fest,
sich selbst als Personen im Gebrauch von Wissen zu Orientierungs-
zwecken ihrer eigenen Lebenspraxis zur Geltung zu bringen, sich ein-
zubringen' als Instanz der Legitimation praxisbestimmender Lebens-
formen. Sie kehrt diesen Anspruch gegen die Funktionalisierung von
Subjektivität auf den Sachzwang empirischen Wissens und seiner tech-
nischen Verwendbarkeit hin. Schließlich hält Bildung dort, woTheorie
und Praxis, Wissen und Handeln sich überschneiden, an den Gesichts-

85
punkten pragmatischer Relevanz und moralischer Dignität wissen-
schaftlich produzierten Wissens fest. Solche Gesichtspunkte kommen
immer dann ins Spiel, wenn Wissen zur Verständigung über Situationen
und über deren Bewältigung verwendet wird.
Bildung organisiert Wissensbestände also in drei Hinsichten, die sich
zwingend aus der Sinnbestimmtheit menschlichen Handelns ergeben:
Sie hält fest an der Vorstellung einer durch Wissen zu erschließenden
Ganzheit von Welt in Lebenssituationen und -Vollzügen; sie hält daran
fest, daß Wissen als wesentliches Element im Orientierungsrahmen
der Lebenspraxis einen inneren Bezug auf diese Praxis haben muß;
und sie hält daran fest, daß Wissen als Medium der Handlungsorientie-
rung zugleich die Subjektivität, das Selbst-Sein oder auch (einfacher:)
das Geltungsstreben der handelnden Subjekte im Handlungsvollzug
wirksam ausdrücken muß. Diese drei Hinsichten lassen sich gegen-
über der unübersehbaren Ausdifferenzierung von Wissensbeständen
durch die Wissenschaften und der damit verbundenen Suspendierung
von Praxis in der Wissensproduktion und der damit ebenfalls verbun-
denen Ausblendung expressiver Geltungsansprüche von Subjekten
auf unterschiedliche Weise zur Geltung bringen. In grober Vereinfa-
chung: kompensatorisch oder komplementär.
Kompensatorisch stellt sich Bildung neben oder gegen die wissen-
schaftliche Wissensproduktion, überläßt diese unkritisch ihren Eigen-
gesetzlichkeiten, spaltet die auf Ganzheit, Lebensbezug und Subjekti-
vität gerichteten Orientierungsbedürfnisse von der inneren Rationali-
tät wissenschaftlichen Wissens ab und befriedigt sie mit nicht-wissen-
schaftlichen Mitteln. Dafür wird zumeist die Kunst in Anspruch ge-
nommen, die damit auf fatale Weise aus der kognitiven Dimension
menschlichen Weltverständnisses und menschlicher Selbstdeutung
ausgeblendet wird.
Bildung kann aber auch komplementär erfolgen. Dann geht es
darum, in den Wissensbeständen und der Wissensproduktion der Wis-
senschaften selber die jeweiligen Hinsichten zu realisieren. Das ist nur
durch eine Reflexionsarbeit an den Regulativen und Prinzipien mög-
lich, mit denen die Wissenschaften ihr Verhältnis zur Erfahrung, zur
Praxis und zur Subjektivität kategorial organisieren. Solche Reflexio-
nen weisen das Allgemeine im Besonderen von Wissensbeständen, die
Praxis in derTheorie und die Subjektivität in der methodischen Diszi-
plinierung des Denkens auf. Sie geben damit den an der Wissenspro-
duktion und -Verwendung beteiligten Subjekten die Möglichkeit zu ei-

86
ner Kommunikation, in der jeweils unterschiedliche Kompetenzen
sich in Verständigungen über die Deutung und Bewältigung gemeinsa-
mer Probleme aneinander abarbeiten können. In einer solchen Ver-
ständigungsarbeit werden Wissensgrenzen verschoben, Wissensbe-
stände integriert, Möglichkeiten kognitiver Orientierung von Praxis
erschlossen und erprobt und Subjektivität zu Selbsterkenntnis undVer-
stehensbereitschaft und -fähigkeit gestärkt.
In dieser Form eines komplementären Bezuges auf Ganzheit, Praxis
und Subjektivität ist Bildung ein dynamischer Prozeß: Orientierung
und Identitätsstärke werden durch eine kommunikative Bewegung der
beteiligten Subjekte errungen. Weltdeutung und Selbstverständnis
sind dann keine fixen (dogmatischen) Größen mehr, die in konsumier-
baren Bildungsgütern sich ausprägen, sondern dynamische Bewegun-
gen an und mit den die Lebenspraxis jeweils kulturell bestimmenden
Wissensformen und -inhalten.
Komplementäre Bildung steht also gegen Spezialistentum, Praxis-
abstinenz und Subjektivitätsschwäche. Sie steht gegen die drei Eigen-
schaften, die zusammen gefaßt das .Fachmenschentum' auszeichnen,
das Max Weber in seiner apokalyptischen Vision einer allgemeinen Fel-
lachisierung der okzidentalen Kultur mit fortschreitender Rationali-
sierung und Bürokratisierung beschworen hatte.77 Als bloße Kompen-
sation bestärkt Bildung die Ignoranz fürs Allgemeine beim Speziali-
sten, die Scheu vor einerVerantwortung, die über das technische Funk-
tionieren praktischer Wissensverwendung hinausgeht und die Ich-
schwäche von Subjekten, die sich nur noch als Funktionsträger, als
nützliches Rädchen im Getriebe empfinden und damit zu dem „Ge-
schlecht erfinderischer Zwerge" gehören, „die für jeden Zweck gemie-
tet werden können".78 Die komplementäre Bildungskonzeption bricht
das Spezialistentum durch den Blick auf theoretische Implikationen
spezieller Wissensbestände auf, die sie mit anderem Wissen systema-
tisch verbindet. Sie erschließt durch einen Blick auf lebensweltliche
Fundamente des Wissens deren innere Beziehung auf Praxis, und
durch eine Reflexion auf Voraussetzungen und Prinzipien methodi-
scher Rationalität kann sie Subjektivität als Willen zur Wahrheit und
damit zugleich Wissen als Dimension der Selbsterfahrung aufklären.
Im Sinne eines solchen reflexiv-komplementären Bildungskonzep-
tes ist historisches Denken dann .gebildet', wenn es auf Ganzheit,
Handeln und auf das Selbst seiner Subjekte bezogen ist. Alle drei Be-
züge sind nicht schon hinreichend mit dem wissenschaftsspezifischen

87
Erkenntnisprozeß gegeben und realisiert, im Gegenteil: Wie bei jeder
anderen Wissenschaft zersplittert sich auch in der Geschichtswissen-
schaft die Ganzheit historischen Wissens in eine unübersehbare Viel-
heit von Wissensbeständen, die in immer enger werdenden Grenzen
nur noch von Spezialisten übersehen werden können. Mit der zuneh-
menden methodischen Rationalität der historischen Forschung und
der damit verbundenen Entwicklung einer Fülle verschiedener For-
schungstechniken entfernt sich das forschend gewonnene historische
Wissen immer mehr von den Belangen alltäglicher Lebenspraxis, und
die unvermeidlich als ,Betrieb' sich institutionalisierende Wissen-
schaftspraxis läßt nur in sehr engen Grenzen, gepreßt durch das Filter
enormer Disziplinierungen zur methodischen Rationalität, so etwas
wie Subjektivität noch zu.
Freilich: Schon die historiographische Formung des forschend ge-
wonnenen historischen Wissens bringt Gesichtspunkte der Kohärenz
und der Akzeptanz ins Spiel, die mit Ganzheit, Praxisbezug und Sub-
jektivität zu tun haben. Daß diese Gesichtspunkte dem von der Ge-
schichte alsWissenschaft produzierten historischenWissen nicht äußer-
lich und fremd sind, läßt sich in der Reflexionsarbeit der Historik an
den Grundlagen der Geschichtswissenschaft im einzelnen darlegen.
Es ist die Aufgabe der Didaktik als integralerTeil dieser Grundlagenre-
flexion, die für Bildung maßgeblichen drei Hinsichten im Bezug auf
das von der Geschichte alsWissenschaft produzierte historischeWissen
darzulegen. Die Didaktik ist nicht selber die Reflexion des Ganzen,
der Praxis und der Subjektivität in der wissenschaftsspezifischen Wis-
sensproduktion, sondern sie expliziert Gesichtspunkte und Strategien
einer solchen Reflexion, ist also eine Art Organon der historischen Bil-
dung. Sie legt deren Möglichkeiten frei, ohne sie schon hinreichend
realisieren zu können. Ihre Verwirklichung ist Sache der historischen
Erkenntnisarbeit selber. Will diese Arbeit nicht blind für ihre eigenen
Fundamentalfaktoren sein, sollte sie bildungsspezifische Hinsichten
zu ihrem integralen Bestandteil machen.
Wie nimmt sich die praktische Funktion historischenWissens als Ge-
sichtspunkt im Erkenntnisprozeß der Geschichtswissenschaft aus?
Lassen sich wissenschaftsspezifische Prozeduren angeben, die die Art
und Weise festlegen, wie wissenschaftlich produziertes historisches
Wissen seiner innerenWissenschaftlichkeit entsprechend praktisch ver-
wendet werden kann? .Historische Bildung' ist eine Antwort auf diese
Frage: Sie legt Wissenschaftlichkeit als eine Eigenschaft historischen

88
Wissens aus, die seine Brauchbarkeit für Orientierungszwecke betrifft,
eben als ,Bildungssinn' dieses Wissens, seine innere Bezogenheit auf
Ganzheiten, auf Praxis und auf Subjektivität. Wie ist diese innere Be-
zogenheit zu denken, wo wird sie manifest, und wie läßt sie sich aus-
drücklich realisieren?
,Ganzheit' ist eine Qualität im Gebrauch von Wissen, das einer be-
stimmten Ausrichtung von Handlungsorientierung entspricht. Han-
deln ist dann orientiert, wenn die Handelnden den Zusammenhang
ihrer Bedingungen und Umstände überblicken. Dann erfolgt es in ei-
nem ,Horizont' von Deutungen, in denen die jeweils Betroffenen die
von ihnen handelnd zu bewältigenden Probleme formulieren, Mög-
lichkeiten ihrer Lösung erörtern, Folgen ihres Handelns abschätzen
und sich dabei über ihr Verhältnis zueinander verständigen können.
Zu einem solchen Horizont gehört eine grundsätzliche Erschlossen-
heit der Situation, eine Weltdeutung und ein Selbstverständnis der Be-
teiligten, eine Sprachlichkeit ihres Umgangs mit den Umständen ihrer
Welt, mit sich selbst und mit den anderen, mit denen sie es zu tun ha-
ben. Es geht um eine Erschlossenheit fundamentaler Art, ohne die
sinnvolles Handeln, menschliches Leben überhaupt, gar nicht ge-
dacht werden kann.
In den kognitiven Veranstaltungen des wissenschaftsspezifischen hi-
storischen Denkens gibt es ein Äquivalent dieser grundsätzlichen Er-
schlossenheit: die historischen Kategorien, das Netz historischer Uni-
versalien, mit dem im weiten Bereich der Zeiterfahrungen der beson-
dere Erfahrungsbereich des Geschichtlichen erschlossen und Möglich-
keiten seiner kognitiven Aneignung festgelegt werden.79 DieTheoreti-
sierungsarbeit an den historischen Kategorien, die Denkanstrengun-
gen einer theoretischen historischen Anthropologie also, verleihen
dem historischen Wissen grundsätzlich Bildungs-Charakter. Katego-
riale Reflektiertheit ist eine notwendige Bedingung des Bildungswerts
des historischenWissens. Mit ihrer inneren kategorialen Struktur sind
die unterschiedlichsten historischen Wissensbestände systematisch
aufeinander bezogen. Kategoriale Denkformen sind das Allgemeine
im Besonderen des historischen Denkens, gleichsam die eine Ge-
schichte in den vielen Geschichten. Sie geben die Leitfäden einer Inte-
gration forschend gewonnenen historischenWissens in praxisrelevante
und orientierungsstarke historische Wissensbestände ab. (Es versteht
sich von selbst, daß sich im Forschungsprozeß als Arbeit am Einzelnen
und Besonderen tendenziell diese inneren kategorialen Ordnungs-

89
Schemata des Wissens ändern. Sie nehmen teil an der Dynamik des Er-
kenntnisfortschritts.)
Allerdings sind die ganzheitstiftenden historischen Kategorien
meta-historischer Art. Sie geben dem historischen Wissen noch nicht
die innere Struktur, mit der es die Bildungsfunktion des Praxisbezuges
erfüllen kann. Dies geschieht erst im Schritt von den metahistorischen
Kategorien, die den Gesamtbereich der historischen Erfahrung ord-
nend erschließen, zu den theoretischen Konzepten einzelner Ge-
schichten, die empirische Zeitverläufe kognitiv aufschlüsseln.80 Jede
historische Erkenntnis ist durch einen Gegenwartsbezug in der Inter-
pretation der jeweils thematisiertenVergangenheit geprägt, und dieser
Gegenwartsbezug läßt sich theoretisch explizieren (z.B. in der Form
einer Periodisierung). Mit ihm formiert sich historischesWissen ten-
denziell auf die Bildungsfunktion des Praxisbezuges hin: An und mit
ihm wird der Standpunkt derjenigen sichtbar und diskutierbar, an die
es (historiographisch) gerichtet wird. Zugleich mit dieser Perspektivie-
rung, die das historische Wissen durch den Gegenwartsbezug, die
Standpunktabhängigkeit der historischen Interpretation, erfährt, wird
die Identität der Adressaten angesprochen. Denn in die jeweils erken-
nend mit den Quelleninformationen empirisch erhärtete Zeitperspek-
tive hinein denken sich die angesprochenen Subjekte die zeitliche Di-
mension ihrer eigenen Lebenspraxis. Damit ist auch der Subjektbezug
von Bildung in der inneren kategorialen Organisation des historischen
Wissens aufgewiesen. Subjektivität geht in die Weite eines historischen
Blicks auf, der an den Erscheinungen derVergangenheit Menschheits-
qualitäten allgemeiner Bedeutung ausmachen kann, und sie stärkt sich
in Formen einer historischen Identität, die sich durch Interpretation
des eigenen Standpunktes mit den Kriterien einer solchen allgemeinen
Bedeutung bildet.
Die für die Geschichte als Wissenschaft maßgeblichen Prinzipien
und Formen des historischen Denkens selber sind es also, die histori-
schesWissen auf Bildung hin anlegen, ihm einen inneren Bildungswert
verleihen.
Damit ist natürlich nicht gesagt, daß die Bildungsfunktion des histo-
rischen Wissens bereits hinreichend durch seine Produktion durch For-
schung und seine Präsentation durch Historiographie erfüllt wäre. Bil-
dung ist eine Art und Weise, dieses Wissen zu rezipieren, mit ihm prak-
tisch umzugehen, sich zu ihm einzustellen, es zu gebrauchen. Es han-
delt sich um einen Gebrauch, der nicht notwendig an die Professionali-

90
tat, an das ,Fachmenschentum' von Historikern, gebunden ist, son-
dern für alle diejenigen charakteristisch ist, die ihrWelt- und Selbstver-
ständnis in der Orientierung ihrer Lebenspraxis auf einem bestimmten
kognitiven Niveau vollziehen wollen oder müssen. Die Höhe dieses
Niveaus ist etwas anderes als der Spezialisierungsgrad fachlicher Kom-
petenz, durch den allein die Erkenntnisleistungen der Forschung mög-
lich werden. Das kognitive Niveau des Wissensgebrauchs, das Bildung
definiert, bemißt sich vielmehr am Grad der Durchsichtigkeit des wis-
senschaftlich (also spezialistisch-fachmännisch) produzierten Wissens
auf seine innere Allgemeinheit, seinen inneren Bezug auf Praxis und
Subjektivität, wie sie beim historischen Wissen durch die ihm eigen-
tümliche, theoriegeleitete Perspektivierung gewährleistet ist. Bildung
ist primär keine Frage der Verfügung über Wissensbestände, sondern
über Wissensformen, über kognitive Prinzipien, die die Applikation
von Wissensbeständen auf Orientierungsprobleme bestimmen. Sie ist
eine Frage kognitiver Kompetenzen in der zeitlichen Perspektivierung
der eigenen Lebenspraxis, des Selbstverhältnisses und kommunikati-
ver Zusammenhänge mit anderen.
Natürlich sind diese Kompetenzen an Wissensinhalte gebunden; sie
können nicht leer von kognitiv aufbereiteter, gedeuteter Zeiterfah-
rung derVergangenheit sein. Sie bilden sich ja überhaupt erst in der
Deutung von Zeiterfahrungen und werden dort zur Geltung gebracht,
wo es zur Bewältigung von Problemen der eigenen Lebenspraxis not-
wendig ist, historisch zu argumentieren. Historische Bildung ist ein
Modus dieser Argumentation. Er ist dadurch bestimmt, daß er die
durch die Geschichte als Wissenschaft verkörperten Vernunftpo-
tentiale des historischen Denkens als Modi einer lebenspraktischen Ar-
gumentation zur Geltung bringt, Wissenschaft also in gewisser Weise
,lebf. Die historische Bildung bindet die eigene Selbstverständigung
durch historische Erinnerung, die historische Definition des eigenen
Standpunktes im sozialen Leben der Gegenwart und die Ausrichtung
der eigenen Lebensführung an Vorstellungen sinnhafter Zeitverläufe,
also auch die handlungsbestimmende Perspektivierung von Zukunft,
an Diskursformen, die den Geist derWissenschaft atmen.
Karl-Ernst Jeismann hat das, worauf es hier ankommt, mit dem
glücklichen Ausdruck „engagierte Besonnenheit" bezeichnet:81 Das
.Engagierte' meint Lebenspraxis, Vollzug eigener Existenz im sozia-
len Kampf um Anerkennung, in der Einnahme und Verteidigung von
Standpunkten, in der Durchsetzung subjektiver Geltungsansprüche,

91
in der Einbindung in und Ausübung von Herrschaft, in derTeilhabe an
den kulturellen Vorgängen, die das eigene Selbst, das Verhältnis zu
anderen, den Ort in der Natur bestimmen, kurz in all das, was das
Wort .Praxis' meint. Es geht um den Ort der menschlichen Existenz,
wo Subjekte handeln und leiden müssen, um leben zu können, und
vor allem: wo sie verstrickt sind bis in die tiefsten Schichten ihres
Selbstseins in zeitliche Vorgänge, in Veränderungen ihrer Welt und ih-
rer selbst. ,Besonnenheit' meint einen Modus denkenden Umgangs
mit dieser Verstrickung, die Aktualisierung von Vernunftpotentialen
(Möglichkeiten verständigungsorientierter Argumentation) im Voll-
zug der Praxis, in diesem Engagiertsein in der eigenen Zeit, der zeit-
lich dimensionierten eigenen sozialen Realität. Der Bildungssinn,
den wissenschaftlich produziertes historisches Wissen, also die Ge-
schichte alsWissenschaft insgesamt, in seinen praktischen Funktionen
hat, besteht darin, daß es diese Besonnenheit im Engagement des Le-
bens ermöglicht. Und das kann es durch die Art, wie es durch Wissen-
schaft produziert und adressiert wird. Die Geschichtswissenschaft
kann die ihr alsWissenschaft verfügbaren Vcrnunftpotentiale als Modi
einer durchgängigen .Besonnenheit' historischenWissens im Engage-
ment der Lebenspraxis ausprägen. Sic kann Kunde geben von einer
inneren theorieförmigen Strukturierung des historischen Wissens,
von seiner inneren Allgemeinheit, seinem leitenden Praxisbezug und
von den in ihm als Erkenntnisprinzipien wirksamen Vorstellungen
historischer Identität.
Emphatisch formuliert besteht der Bildungssinn der Geschichtswis-
senschaft darin, daß sie das Licht ihrer allgemeinen und fundamenta-
len Vernunftprinzipien nicht unter den Scheffel des Fachmenschen-
tums stellt, sondern es aus den Wissensbeständen und in den Wissens-
formen, die sie an Fachlichkeit und Spezialistentum bindet, heraus-
leuchten läßt. Dazu freilich bedarf es bei allen Beteiligten, also den
Wissen produzierenden Forschern, den Wissen gestaltenden Ge-
schichtsschreibern und bei denjenigen, die dieses Wissen zu Orientie-
rungszwecken ihrer Lebenspraxis verwenden wollen, einer prinzipiell
gemeinsamen Vorstellung über diese Vernunft. Sie müssen sich prinzi-
piell einig darüber sein, zumindest sich aber tendenziell darüber eini-
gen können, was historischesWissen in seiner Wissenschaftlichkeit so
vernünftig macht, daß es im Engagement der Lebenspraxis zur Beson-
nenheit führen und dadurch Praxis humanisieren kann. Diese Gemein-
samkeit besteht in den Vernunftprinzipien, die geschichtliches Denken

92
grundsätzlich auszeichnet, die als lebensweltliche Kräfte der Geltungs-
sicherung im Erzählen von Geschichten immer wirksam sind.82 Auf ih-
nen beruhen letztinstanzlich die Vernunftansprüche, die die Ge-
schichte alsWissenschaft stellt, und auch die Ansprüche, die an die Wis-
senschaft hinsichtlich ihrer Orientierungsleistungen gestellt werden.
Es ist ihre Zeitgenossenschaft, ihr Interesse, in und durch ihre Wissen-
schaft „teilzuhaben an der Gemeinschaft der Kulturmenschen",83 die
die Fachleute in ihrer Erkenntnisarbeit an den Orientierungsbedarf ih-
rer Gegenwart bindet. Zugleich bindet sie aber umgekehrt auch die
Verwendung des fachlich produzierten Wissens an Bildungsansprüche,
also an kognitive Niveaus und Kompetenzen derjenigen, die davon
Gebrauch machen wollen.

3. Die drei Lerndimensionen der historischen Bildung

Die Geschichtswissenschaft ist mit ihren Vernunftansprüchen als histo-


rische Bildung praktisch wirksam. Ihre Wirkung zielt auf ein Bündel
von Kompetenzen zur historischen Orientierung der Lebenspraxis,
das sich als .narrative Kompetenz' des Geschichtsbewußtseins zusam-
menfassen läßt. Damit ist die Fähigkeit von Menschen zu einer histori-
schen Sinnbildung gemeint, mit der sie den kulturellen Orientierungs-
rahmen ihrer Lebenspraxis, ihre Welt- und Selbstdeutung zeitlich aus-
richten. Eine solche Kompetenz zur zeitlichen Orientierung in der Ge-
genwart durch bewußte Erinnerung ist das Ergebnis eines Lernprozes-
ses. Bildung beruht auf Lernen und ist zugleich eine Weise des Lernens
selber. Historische Bildung läßt sich daher auch nicht als ein fester Be-
stand zeitlicher Orientierungen denken, den man erwerben kann und
dann wie einen Besitz (als kulturelles Gütesiegel einer sozialen Posi-
tion) ,haf (etwa ausweislich eines Reifezeugnisses, eines bestandenen
Universitätsexamens oder prestigeträchtiger Historiographie mit Le-
derrücken und Goldschnitt im Bücherschrank). Historische Bildung
ist vielmehr die Fähigkeit zu einer bestimmten narrativen Sinnbildung.
Deren besondere Qualität besteht darin, die immer wieder und immer
wieder neu im aktuellen Lebensprozeß einströmenden Erfahrungen
zeitlichen Wandels auf dem durch die Geschichtswissenschaft reprä-
sentierten kognitiven Niveau geistig in die historische Orientierung
dieser Lebenspraxis immer wieder und immer wieder neu (also: pro-

93
duktiv) einzuarbeiten. Lernen ist Verarbeitung von Erfahrung in Deu-
tungs- und Handlungskompetenz, und historische Bildung ist nichts
anderes als eine besonders entwickelte Lernfähigkeit. Diese Fähigkeit
des historischen Lernens muß selber gelernt werden. Wie?
Ich möchte diese Frage dadurch beantworten, daß ich zunächst hi-
storisches Lernen als einen Modus der Sinnbildungsprozeduren des
Geschichtsbewußtseins schildere; dann möchte ich diesen Modus dar-
aufhin betrachten, wie in ihm die Kompetenzen erwachsen können,
die historische Bildung ausmachen. (Wie diese Möglichkeiten dann er-
griffen und durch einen eigens organisierten und mit didaktischer
Kompetenz auch betriebenen Lernprozeß realisiert werden können,
ist keine Frage der Didaktik in der Historik mehr, sondern Angelegen-
heit der Geschichtsdidaktik als einer gegenüber der Historik relativ ei-
genständigen Spezialdisziplin der Geschichtswissenschaft.)
Geschichtsbewußtsein ist Sinnbildung über Zeiterfahrung im Mo-
dus einer Erinnerung, die hinter die Grenzen der eigenen Lebenspra-
xis zurückreicht. Die Fähigkeit zu einer solchen Sinnbildung muß ge-
lernt werden, und sie wird im Vollzug dieser Sinnbildung selber ge-
lernt. Welche besondere Qualität der für das Geschichtsbewußtsein
maßgeblichen Operationen lassen sich ausmachen, wenn nicht jede hi-
storische Erinnerung, nicht jeder Vorgang narrativer Sinnbildung über
Zeiterfahrung zum Zweck der Daseinsorientierung schon als histori-
sches Lernen gelten soll?
Um mich nicht in den Untiefen der Lernpsychologie zu verlieren,
möchte ich ein (vielleicht allzu) simples Beispiel wählen: Schwimmen
lernen und Schwimmen selber lassen sich als zwei unterschiedliche Vor-
gänge klar auseinanderhalten, obwohl sie beide im Wasser als ähnliche
Körperbewegungen vor sich gehen. Beim Schwimmenlernen wird ge-
schwommen (wenn auch noch nicht .richtig'), und beim Schwimmen,
das nicht aus Lernzwecken unternommen wird, kann durchaus noch
etwas gelernt werden. Nun ist es mit der Geschichte etwas komplizier-
ter als mit dem Schwimmen; es ist gar nicht so einfach, die Fähigkeiten
genau anzugeben, die man gelernt hat, wenn Geschichte gelernt wor-
den ist. Merkwürdigerweise hat die Geschichtsdidaktik die Frage noch
nicht ernsthaft diskutiert, welchem Verhalten man eigentlich ablesen
kann, ob jemand ein entwickeltes Geschichtsbewußtsein, also Ge-
schichte gelernt hat. Gibt es im historischen Lernen ein Durchbrucher-
lebnis von der Art (wie beim Schwimmen): Jetzt kann ich es!'?Welche
Beschäftigung mit derVergangenheit ist kein Lernprozeß? Da Lernen

94
auch Erwerb neuen Wissens bedeuten kann, läßt sich schon eine pas-
sive Fernsehunterhaltung, die etwas mit historischen Stoffen zu tun
hat und neue (sachlich zutreffende) Informationen enthält, als Lernen
ansprechen, wenn diese Informationen wahrgenommen und irgendwo
im Geschichtsbewußtsein gespeichert werden. Lediglich eine bloße
Wiederholung dessen, was man eh schon weiß, wäre kein Lernvor-
gang. Operationen des Geschichtsbewußtseins oder verschiedene Ar-
ten, sich mit Geschichte zu beschäftigen, lassen sich also nach Graden
von Lernintensität unterscheiden, gewichten und ordnen. Welches Kri-
terium für die Lernqualität liegt einer solchen Unterscheidung, Ge-
wichtung und Ordnung zugrunde?
Diese Frage ist eine geschichtsdidaktische Schlüsselfrage. Ohne
Antwort darauf kann nicht ausgemacht werden, worin die narrative
Kompetenz der historischen Bildung besteht. Was in den mentalen Vor-
gängen des Geschichtsbewußtseins ist lernspezifisch, und nach wel-
chen Gesichtspunkten läßt sich ihre Lernqualität ausmachen und beur-
teilen? Ich möchte diese Fragen dadurch beantworten, daß ich zwei
Bezugspunkte unterscheide, zwischen denen, und drei Ebenen oder
Dimensionen, auf bzw. in denen historisches Lernen erfolgt.
Lernen ist ein dynamischer Prozeß, in dem sich das lernende Sub-
jekt verändert. Es gewinnt etwas, es eignet sich etwas an, - eine Ein-
sicht, eine Fähigkeit oder ein Bündel von beidem. Im historischen Ler-
nen wird ,Geschichte' angeeignet: Eine objektive Gegebenheit, ein
zeitliches Geschehen, das in derVergangenheit gespielt hat, wird zu ei-
ner Bewußtseinsangelegenheit, wird subjektiv. Es beginnt eine Rolle
im geistigen Haushalt eines Subjektes zu spielen. Historisches Lernen
ist ein Bewußtseinsprozeß, der zwischen diesen beiden Bezugspunk-
ten spielt: Auf der einen Seite eine objektive Vorgabe zeitlicher Verän-
derungen des Menschen und seiner Welt in derVergangenheit und auf
der anderen Seite ein subjektives Selbstsein, ein Selbstverständnis und
eine Lebensorientierung in der Zeit. Historisches Lernen läßt sich als
doppelte Bewegung charakterisieren: Etwas Objektives wird subjek-
tiv, ein Erfahrungsinhalt zeitlicher Vorgänge wird angeignet; und zu-
gleich arbeitet sich ein Subjekt an der Erfahrung ab, es wird an ihr
gleichsam sich selbst objektiv. Damit ist nicht gemeint, daß die zu ler-
nende Geschichte als fix und fertiger Sachverhalt empirisch vorgege-
ben ist und nur bewußtseinsmäßig reproduziert (objektivistisch gespie-
gelt), das Subjekt also lernend nur an der zu lernenden Geschichte aus-
gerichtet werden muß. In einer solchen Auffassung des Lernprozesses

95
wird die produktive Rolle des Subjekts unterbelichtet und .Ge-
schichte' als Lerninhalt auf falsche Weise verdinglicht.84 Auf der ande-
ren Seite ist Geschichte mehr als ein bloß subjektives Konstrukt des
Geschichtsbewußtseins.
,Objektiv' vorgegeben ist Geschichte auf doppelte Weise: Einmal als
quasi-dingliches Sediment zeitlicher Entwicklungen in den Lebensver-
hältnissen der Gegenwart (jeder Mensch wird in Geschichte hineinge-
boren, in die Vergangenheit hinein, die in der Gegenwart aufgehoben
ist); und dann natürlich in den besonderen Sachverhalten (wie Doku-
menten, Denkmälern oder ähnlichem), die davon Kunde geben, was
wann wo wie und warum der Fall war. Der Erfahrungsdruck der ersten
Vorgabe von ,Geschichte' ist qualitativ anders - er hat die fast zwangs-
hafte Form eines Anpassungsdrucks - und erheblich stärker als derje-
nige der zweiten. Zur historischen Aneignung der eigenen Gegenwart
muß jedoch der Schritt von der einen zur anderen Erfahrung getan
werden. Das ist mehr als bloß eine Angelegenheit von Schule. Denn
dieser Schritt ist in den realen Lebensverhältnissen der lernenden Sub-
jekte immer schon getan: Geschichte hat sich vor allen bewußten An-
strengungen des Lernens selber immer schon vor-geschrieben. Diese
Vor-Schrift besteht nicht bloß darin, daß die gegenwärtigen Lebensver-
hältnisse so geworden sind, wie sie sind; wenn es bloß auf die Gegeben-
heit dieser Verhältnisse ankäme, dann könnte man ihr zeitliches Wer-
den oder Gewordensein vergessen. Geschichten sind vielmehr immer
auch so vor-geschrieben, daß sie in der Form bewußter Erinnerung
und gedeuteterVergangenheit selber einTeil der realen Lebensverhält-
nisse sind, in denen gelernt werden muß, um mit ihnen fertig werden
zu können. Geschichten sind z. B.Teil der politischen Kultur oder Mo-
ment wirksamer Konstellationen menschlicher Identität wie etwa der
nationalen oder der geschlechtlichen. Die in die menschliche Lebens-
welt als eigene Realität (also: auch ,objektiv', z.B. als Denkmäler, hi-
storische Ausstellungen, Richtlinien des Geschichtsunterrichts) einge-
lagerten Geschichten schlagen eine Brücke von den geschichtlichen
Vorgaben in den eigenen Lebensverhältnissen zur dokumentarischen
Vorgabe historischer Erfahrungen, von der Geschichte, die vor aller
Erinnerung als Ensemble zeitlicher Bedingungen der Lebenspraxis
wirkt, zur Geschichte, die aus den Archiven der Erinnerung .ausgegra-
ben' wird und als Bewußtseinsinhalt durch Lernen entsteht.
Aneignung .objektiver' Geschichte durch historisches Lernen ist
also eine (narrative) Verflüssigung der zeitlichen Bedingungen aktuel-

96
;r Lebensverhältnisse. Sie geht von den Geschichten aus, die als kul-
ureller Teil zur sozialen Wirklichkeit dieser Verhältnisse selber gehö-
en. Das Subjekt richtet sich nicht lernend an objektiver Geschichte
us; das braucht es nämlich gar nicht, weil es in ihr vorgängig immer
chon ausgerichtet ist (konkret: in sie hineingeboren wird und in sie
linein aufwächst). Es muß sich vielmehr in ihr oder besser: aus ihr
elbst gewinnen. Es muß seine Subjektivität durch eine mehr oder we-
üger bewußte Aneignung dieser Geschichte aufbauen zur Form seiner
listorischen Identität; es muß sie und d.h.: sich selbst lernen.
Dabei bringt es natürlich sich selbst zur Geltung; es setzt sich 1er-
lend in die zeitliche Dimension seiner eigenen Identität ein und ge-
vinnt sich selbst, seine Zeit. Das heißt aber nicht, daß es sich die ge-
ichichtlichen Vorgaben seiner Existenz nach Maßgabe eigener Interes-
;en, Wünsche. Hoffnungen, Sehnsüchte und Ängste einfach zurechtle-
gen könnte. Natürlich sind solche Absichten stets wirksam, aber sie
ragen zur wirklichen Aneignung der objektiven Geschichte, zur orien-
ierungsstarken Ausarbeitung historischen Selbstverständnisses nicht
iveit genug. Vielmehr müssen die Interessen, Erwartungen und An-
sprüche auf den Erfahrungsbestand der objektiven Geschichte gerich-
tet, an ihm abgearbeitet, durch ihn modifiziert und empirisch konkreti-
siert - und dadurch tragfähig gemacht - werden.
Diese doppelte Lernbewegung von der objektiven Vorgabe zur sub-
jektiven Aneignung und von subjektivem Geltungsstreben zu objekti-
ver Einsicht erreicht das Niveau oder die Qualität von Bildung, wenn
es den für Geschichte alsWissenschaft charakteristischen Zusammen-
hang von Objektivität und Subjektivität des historischen Denkens rea-
lisiert. Damit ist gemeint, daß der Lernprozeß im Schritt von der Vor-
gegebenheit derVergangenheit in den gewordenen Umständen der ei-
genen Lebenspraxis zu den Quellen ihrer Überlieferung die Züge ei-
ner Verfremdung annimmt. An derVergangenheit wird ein spezifisch
Anderes an Zeitqualität, ihre geschichtsspezifische Alterität, wahrge-
nommen und als geistig zu bewältigender Vorwurf an die eigenen,
handlungsleitenden Zeitvorstellungen gewürdigt und ernst genom-
men. Bildung ist die Fähigkeit, sich der Alterität derVergangenheit
auszusetzen, den Schleier des Vertrauten, den sie im Gewordensein
der eigenen Lebensumstände an sich trägt, zu durchdringen und das
dabei wahrnehmbare Fremde als Eigenes zu erkennen. Bildung ist
eine Steigerung von Subjektivierungszumutungen im erkennenden
Umgang mit derVergangenheit. ,
C •ajferische >
Stastob&öothek 97
V. München J
Das bezieht sich einmal auf die Vergangenheit, die in den eigener
Lebensumständen geronnen ist. Ihre gebildete Aneignung als die ei
gene erstreckt sich dann auch auf Verborgenes, Verdrängtes, auf Hin
terlassenschaften, die objektiv wirksam sind, die aber, weil sie wehtun
in den für die lernenden Subjekte vorgegebenen kulturellen Mechanis
men der historischen Erinnerung verdrängt und vergessen worden
sind. Die historische Bildung folgt dem „audiator et altera pars" dort
wo ,die andere Partei' Dissens zu liebgewordenenTraditionen und Vor
Stellungen bedeutet. Bildung öffnet das Geschichtsbewußtsein einem
Dissens, der in den eigenen Lebensumständen steckt, der die lernen
den Subjekte also wirklich betrifft und von ihnen letztlich überwunder
werden muß, wenn sie sich die Geschichte, deren Ergebnis sie selbei
sind, wirklich geistig zu eigen machen wollen.
Entsprechend bedeutet historische Bildung in der Lernbewegung
der Objektivierung von Subjektivität eine grundsätzliche Verflüssi
gung eigener Standpunkte, eine bestimmte Art von Eigensinn in dei
deutenden Aneignung der Erfahrung derVergangenheit. Bloße Stand
punktbehauptungen mit entsprechend selektiven Wahrnehmungen
und agressiven Deutungsmustern und Geltungsansprüchen werden in
die Fähigkeit offenen Argumentierens verwandelt. Dazu gehört eine
gestiegene Empathiefähigkeit und die Bereitschaft, die Partikularität
der eigenen historischen Identität so einzusehen, daß die für diese Par-
tikularität maßgeblichen Grenzen Räume für ein grundsätzliches An-
derssein derjenigen Subjekte eröffnen, gegen die und mit denen je-
weils subjektive Geltungsansprüche in historischen Orientierungen
verhandelt und durchgesetzt werden. Gebildet ist eine Selbsterkennt-
nis im Spiegel derVergangenheit, wenn sie Selbstkritik impliziert als
Fähigkeit, die Grenzlinien wahrzunehmen, die die eigene Identität
vom Anderssein der Anderen unterscheidet, und sie dabei so wahrzu-
nehmen, daß zugleich Einsicht und Verständnis des Anderssein erwor-
ben wird. Selbstkritik als Anerkennungschance: Das wäre die subjek-
tive Entsprechung der objektiven Seite des historischen Lernens, wo
Verdrängtes erinnert werden muß. damit es sich nicht zwangshaft im
zeitlichen Entwicklungsprozeß der eigenen Lebensumstände wieder-
holt. Mit dieser Fähigkeit, die Schmerzgrenze der historischen Erfah-
rung zu erweitern, eröffnet die historische Bildung zugleich eine Frei-
heitschance, - Freiheit als Überwindung zwangshafter Verdrängungen
und deren Folgen, der dauernden Wiederholung des Verdrängten. Hi-
storische Bildung befreit zur Überwindung von Verdrängungszwän-

98
gen, die von den kulturellen Vorgaben der historischen Erinnerung an
die lernenden Subjekte ausgehen.
Aber noch in einer zweiten Hinsicht überschreitet die historische
Bildung Erfahrungsgrenzen: Sie weitet die historische Orientierung
auf Vergangenheiten aus, die gar nicht in den eigenen gegenwärtigen
Lebensumständen sedimentiert sind. Sie öffnet den historischen Blick
in eine zeitliche Weite, die die eigene Gegenwart und die in ihr geron-
nene Geschichte relativiert auf andere Geschichten hin, die von ande-
ren Möglichkeiten, Mensch zu sein, als den eigenen künden und eben
dadurch die Besonderheit der eigenen historischen Wirklichkeit in ei-
nem Ausmaß sichtbar werden lassen, das die Konzentration auf die ei-
gene Geschichte gar nicht hergibt. Mit der geistigen Aneignung dieser
Vergangenheiten gewinnt die Subjektivität der Lernenden neue, unge-
ahnte historische Innenräume. Sie bringt ihr Selbstsein in einer Fülle
von Verschiedenheiten des Menschseins unter und weitet damit den
Horizont der Selbstverständigung tendenziell auf den der Menschheit
als Inbegriff zeitlich differenter Ausprägungen der einen Gattung aus.
Bildung steigert das Bewußtsein der eigenen historischen Relativität
und damit die innere zeitliche Dynamik von historischer Identität. Sie
verliert die Borniertheit des historisch Gesicherten und Selbstver-
ständlichen und gewinnt mit der Labilität von Kontingenz die Freiheit,
das Anderssein der Anderen einzusehen und als grundsätzlich berech-
tigt anzuerkennen. Historische Bildung bedeutet damit zugleich auch
ein höheres Bewußtsein des Selbst- und Eigensinns.
Dieser doppelte Lernprozeß der historischen Erfahrungsaneignung
und des historischen Selbstgewinns wird im wesentlichen durch drei
Operationen vollzogen, die sich als Erfahrung, Deutung und Orientie-
rung (künstlich) unterscheiden und entsprechend auch als unterschied-
liche Ebenen oder Dimensionen des historischen Lernens analysieren
lassen. Als historisches Lernen kann die Tätigkeit des Geschichtsbe-
wußtseins dann angesprochen werden, wenn sie einen Zuwachs an Er-
fahrung der menschlichen Vergangenheit, an Kompetenz zur histori-
schen Deutung dieser Erfahrung und an der Fähigkeit, historische
Deutungen in den Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis
einzufügen und wirksam werden zu lassen, erbringt.85 Die Unterschei-
dung dieser drei Ebenen oder Dimensionen hat denVörteil, daß sieTä-
tigkeitsbereiche des Geschichtsbewußtseins sichtbar macht, die oft
übersehen werden. Vor allem aber macht sie deutlich, worauf es im hi-
storischen Lernen und in der historischen Bildung; ankommt: eben

99
nicht nur auf eine einzige Fähigkeit, sondern auf mehrere und auf ein
harmonisches, ausgeglichenes Verhältnis zwischen ihnen. Zu oft wird
in der Geschichtsdidaktik die Deutungs- und Orientierungskompe-
tenz gegenüber der Komponente des empirischen Wissens vernachläs-
sigt, und fast immer wird übersehen, daß historischesWissen ein Pro-
dukt aus Erfahrung und Deutung, also Ergebnis einer Synthese ist und
nicht einfach als fertiger Lerninhalt angesehen werden kann. Zu oft
kommt es auch zu Ungleichgewichtigkeiten im Verhältnis der drei
Komponenten zueinander. Was nützt z. B. ein ausgebreitetes histori-
schesWissen, wenn es als bloße Gedächtnisleistung erlernt worden ist
und keine Orientierungskraft hat? Und auf der anderen Seite: Was
nützt die Fähigkeit zur historischen Reflexion und Kritik von Praxis-
entwürfen, wenn sie erfahrungsarm ist?
Ich möchte im folgenden die drei erwähnten Komponenten des hi-
storischen Lernens einzeln skizzieren, anschließend einige wesentli-
che Zusammenhänge zwischen ihnen charakterisieren und dann über-
legen, wie sie jeweils für sich und im Zusammenhang spezifiziert wer-
den müßten, wenn historisches Lernen in historische Bildung münden
soll.
(a) Historisches Lernen ist Zuwachs an Erfahrung im Orientierungs-
rahmen der Lebenspraxis. Die Operationen des Geschichtsbewußts-
eins lassen sich als Lernprozesse ansprechen, wenn es in ihnen darum
geht, den Bestand an Wissen darüber, was in derVergangenheit der Fall
war, zu vermehren. Dazu ist es nötig, daß sich das Bewußtsein auf neue
Erfahrungen hin öffnet. Historisches Lernen hängt von der Bereit-
schaft ab, sich Erfahrungen auszusetzen, die einen spezifisch histori-
schen Charakter haben. Was für Erfahrungen sind das. und welcher
Anstöße bedarf es, um sie aufnehmen zu können? Es geht nicht ein-
fach um die Wahrnehmung, daß irgendetwas in derVergangenheit der
Fall war. Nichts ist dadurch, daß es bloß vergangen ist, schon histo-
risch. Der historische Charakter von etwas besteht in einer bestimm-
ten Zeitqualität: Die Erfahrung, um die es geht, ist die eines qualitati-
ven Unterschiedes zwischen Vergangenheit und Gegenwart: daß die
Vergangenheit etwas qualitativ anderes, eine andere Zeit ist als die Ge-
genwart. Darum geht es und darum, daß diese andere Zeit in die ei-
gene vergangen ist und in ihr verwandelt weiterlebt. Auf dieser Unter-
scheidung beruhend, ist historische Erfahrung dann auch eine Wahr-
nehmung, die in derVergangenheit selber qualitative Zeitunterschiede
und Zeitübergänge ausmacht.

100
Historische Erfahrung ist also grundsätzlich Zeitdifferenz- und
Übergangserfahrung. Die Erfahrung von Zeitdifferenz (eine alte Kir-
che neben einem modernen Bankgebäude, das Fachwerkhaus neben
der Jugendstilfassade und dem Bungalow) hat ihren besonderen Reiz,
- eine Faszination, die zu den wichtigsten Anstößen des historischen
Lernens gehört. Allerdings wird eine bewußte und aktive Zuwendung
zu dieser Erfahrung, die Absicht, sie sich durch eine eigene Deutungs-
leistung anzueignen, durch eine solche vom Erfahrungsobjekt ausge-
hende Faszination allein nur selten entstehen. Dazu bedarf es eines
weiteren, aus Orientierungsproblemen der eigenen Gegenwart erfol-
genden Anstoßes: So richten z. B. Divergenzen zwischen Zukunftser-
wartungen und Gegenwartserfahrungen, die handelnd bewältigt wer-
den müssen, den Blick auf die Vergangenheit, damit mit ihrer Erfah-
rung eine realistische Vorstellung davon entwickelt werden kann, wie
sie überbrückt werden können. Die erfahrene Alterität derVergangen-
heit eröffnet das Zukunftspotential der eigenen Gegenwart. Dazu frei-
lich muß sie deutend auf die Gegenwart bezogen, also geistig in den
Orientierungsrahmen der eigenen Lebenspraxis eingearbeitet wer-
den.
Historisches Lernen wird in der Dimension der Erfahrung zu einem
Bildungsprozeß, wenn sich eine bestimmte Erfahrungskompetenz ge-
bildet hat. Diese Kompetenz besteht darin, daß der empirische Gehalt
historischenWissens nicht mehr nur durch Aneignung und Übernahme
von Wissensbeständen mitübernommen wird und nicht nur die sich
von außen her aufdrängenden Zeiterfahrungen aufgegriffen und verar-
beitet werden, sondern daß es zu einer vom Subjekt selbst ausgehen-
den Suchbewegung, zur empirischen Neugier kommt, historische Er-
fahrungen also bewußt vollzogen werden. Bildung ist eine Strukturver-
schiebung in der Art des Erfahrens. Erfahrung hat ja immer eine pas-
sive und eine aktive Seite: Etwas drückt sich von außen ins Bewußtsein
ein, und zugleich wird es von dort aus aufgenommen und mit eigenen
Deutungsleitungen allererst wahrnehmbar und kenntlich gemacht.
Der Transformationsvorgang der Erfahrung, in dem Lernen zur Bil-
dung wird, ist eine Akzentverschiebung von der passiven zur aktiven
Seite. Das Subjekt tritt aus den Erfahrungsgrenzen des ihm eigenen
und auch des ihm angesonnenen historischenWissens heraus und be-
gibt sich auf die Suche nach neuen historischen Erfahrungen. Es er-
schließt sich dabei auch neue, seinen eigenen Interessen, Sehnsüchten
und Hoffnungen entsprechende Dimensionen der historischen Erfah-

101
rung. Es entwickelt Sinn für zeitliche Alterität und für die zeitlichen
Vorgänge, die vom erfahrenen Anderen zum gelebten Eigenen führen
und damit zugleich dieses Eigene sehr viel bewußter machen und ihm
eine höhere innere zeitliche Dynamik verleihen.
Solche Erfahrungssuchbewegungen der historischen Bildung sind
nur in relativ entlasteten Situationen möglich. Der Zeiterfahrungs-
druck der Gegenwart muß so gemildert werden können, das Subjekt
muß einen Spielraum des Selbstseins, der Selbstverantwortlichkeit ge-
wonnen haben, um über die ihm vorgegebene Art von Zeiterfahrung
wirklich tätig hinausgehen zu können. Diese Entlastung von Hand-
lungszwängen führt im Bereich der historischen Bildung oft in ein ab-
strakt ästhetisches Verhältnis zur erfahrenen Alterität derVergangen-
heit. Sie verbleibt in einer eigentümlichen Unverbindlichkeit gegen-
über den pragmatischen Erfordernissen der Gegenwart. Die bildend
angeeignete Erfahrung historischer Alterität kann in ästhetischer
Kompensation von Handlungszwängen verpuffen. Dabei freilich per-
vertiert die Bildung zur Ortlosigkeit im Orientierungsrahmen der Le-
benspraxis. Die Freiheit zur eigenen historischen Erfahrung kann zu
einer ästhetischen Weltlosigkeit der Bildung führen, die sich wie ein
Schleier auf den historischen Blick legt, der die gegenwärtigen Lebens-
verhältnisse in ihrer inneren Zeitlichkeit durchsichtig machen sollte.
Gegenüber einer solchen weltlosen Innerlichkeit der historischen
Bildung ist an den konstitutiven Praxisbezug zu erinnern, durch den hi-
storisches Wissen seine Bildungsqualität erhält. Natürlich sind die
durch Bildung eröffneten Bereiche historischer Alteritätserfahrungen
nicht direkt auf aktuelles Handeln orientierend zu beziehen. (Hier lie-
gen zahlreiche Verkürzungen in gängigen Auffassungen vom Beitrag
der Geschichte zur politischen Bildung.) Wohl jedoch kann der gebil-
dete historische Blick auf die Alterität derVergangenheit das Bewußt-
sein für die Zeitspezifik der eigenen Gegenwart schärfen. Es kann das
Bewußtsein davon vertiefen, daß es heutzutage nicht so zugeht, wie es
immer zuzugehen pflegt, sondern auf eine besondere Weise, weil die
Bedingungen der eigenen Lebenspraxis historisch spezifisch sind. In
einem solchen Bewußtsein lebt ein gesteigerter „Sinn für die Wirklich-
keit" (Humboldt) der eigenen Gegenwart, und ein solcher Sinn
kommt stets der Handlungskompetenz seiner Subjekte zugute,
(b) Historisches Lernen ist Zuwachs an Deutungskompetenz. In dieser
Dimension des historischen Lernens schlägt der Erfahrungs- und Wis-
senszuwachs in eine produktive Veränderung der Deutungsmuster um.

102
n die hinein er verarbeitet wird. Solche Deutungsmuster integrieren
'erschiedene Wissensbestände und Erfahrungsinhalte, die die menschl-
iche Vergangenheit betreffen, in einen umgreifenden Zusammen-
lang, in ein sogenanntes ,Geschichtsbild'. Sie geben den Beständen ei-
len .historischen Sinn'. Sie legen Bedeutungen fest und ermöglichen
Jnterscheidungen nachWichtigkeitsgesichtspunkten. Sie geben dem,
vas empirisch gewußt wird, einen Stellenwert in historischenVerlaufs-
/orstellungen. Sie treten als Sichtweisen, als Perspektiven auf und fla-
uen im Geschichtsbewußtsein einen theorieähnlichen Status. Das
leißt nicht, daß sie stets und notwendig alsTheorien, also in expliziter,
/on den empirischen Elementen des historischenWissens unterschie-
denen Formen vorkommen müssen. Meist wirken sie eher als unbe-
wußte Wahrnehmungsmuster und implizite Ordnungsschemata, die
aus Erfahrung erst Wissen (d. h. komplexe Erfahrungszusammen-
hänge) machen. Letztlich entscheiden solche Deutungsmuster dar-
über, was an historisch Erfahrenem und historisch Bewußtem spezi-
fisch .historisch' ist, worin sein eigentümlicher Zeitstatus besteht, mit
dem es Inhalt von Geschichten wird.
Zuwachs an Deutungskompetenz im historischen Lernprozeß heißt:
die jeweils bei der Erfahrungsverarbeitung und Wissensorganisation
wirksamen Deutungsmuster geraten in Bewegung; sie werden flexi-
bel, erweitern und differenzieren sich und werden schließlich reflexiv
bewußt und argumentativ verwendbar. In dieser Bewegung zu einer
höheren Komplexität verändern sie sich qualitativ: Traditionale Deu-
tungsmuster werden exemplarisch, exemplarische kritisch und kriti-
sche genetisch. Aber auch innerhalb dieser Grundformen der histori-
schen Sinnbildung sind qualitative Zuwächse an Deutungsmöglichkei-
ten aufweisbar.86 Solche Stufen müssen lernend zur Bildung hin durch-
laufen werden. Es sind vor allem kognitive und affektive Dissonanzen
zwischen Zeiterfahrungen und historischen Deutungsmustern, die
Lernen als Deutungskompetenzzuwachs ermöglichen und zu neuen
Formen und Inhalten des historischen Wissens führen können. Der
Lernvorgang selber läßt sich beschreiben als Schritt vom quasi-natürli-
chen Dogmatismus historischer Einstellungen (meine Geschichte -
oder vielleicht auch: die Geschichte des Lehrers - ist die einzig mögli-
che und wahre) zur Perspektivierung historischenWissens, in der die
Perspektive selber argumentativ aufgewiesen und dann auch argumen-
tativ verändert werden kann.
Lernen als Zuwachs von Deutungskompetenz wird zur Bildung,

103
wenn die für die historische Deutung maßgeblichen Sinnbildungsmu-
ster als solche bewußt, also zu einer Angelegenheit eigener Erkennt-
nisbemühungen werden. Historische Bildung gewinnt den Hauch des
Philosophischen, der über allen Gebildeten schwebt: Sie sind in der
Lage, die jeweilig in der deutenden Verarbeitung historischer Erfah-
rung und in der Aneignung historischer Wissensbestände wirksamen
Philosophien der Geschichte' als solche zu handhaben. Sie können sie
aussprechen - als Deutungsmuster, als Interpretationsrahmen, als Sy-
stem historischer Universalien, als anthropologische Grundbestim-
mungen menschlicher Geschichtlichkeit oder wie immer -, und sie
können sie im Umgang mit Erfahrungen und Wissensbeständen auch
produktiv einbringen. Vor allem aber können sie mit neuen Erfahrun-
gen und Wissensbeständen geläufige Deutungsmuster problematisie-
ren und modifizieren. Man kann diese Reflexionskompetenz der histo-
rischen Bildung im Umgang mit den Deutungsmustern (der übrigens
in historischen Lernprozessen schon ganz früh geübt werden kann87)
auch als wesentlichen Faktor der „ewigen Jugendlichkeit" beschrei-
ben, die nach Max Weber88 die Kulturwissenschaften auszeichnet: Ge-
meint ist die Fähigkeit der historisch Interessierten, ihre Zeitgenossen-
schaft in neue Gesichtspunkte und Perspektiven umzusetzen, in und
mit denen sie historische Erfahrungen machen und deuten können,
(c) Historisches Lernen ist Zuwachs an Orientierungskompetenz.
Diese Kompetenz betrifft die praktische Funktion gedeuteter histori-
scher Erfahrungen, den Gebrauch historischer Wissensbestände, die
in umgreifenden Deutungsmustern geordnet sind, zur sinnhaften Aus-
richtung der eigenen Lebenspraxis in den zeitlichen Prozessen, in de-
nen sich Mensch und Welt verändern. Menschliche Weltdeutung und
Selbstverständnis haben immer spezifisch historische Elemente. Diese
Elemente beziehen sich auf die diachrone Innen-und Außenseite der
Lebenspraxis, auf den Orientierungsrahmen von Handlungen und auf
die Identität seiner Subjekte.
Die Art und Weise innerer und äußerer Zeitorientierung des eigenen
Daseins muß gelernt werden. Sie ist bereits im Erwerb von Deutungs-
kompetenz angelegt; denn die jeweils lernend zu erarbeitenden Deu-
tungsmuster enthalten kategoriale (Sinn-)Bestimmungen von Zeitver-
läufen, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umgreifen. Histo-
rische Orientierungskompetenz ist die Fähigkeit, die mit Wissen und
Erfahrung gefüllten Deutungsmuster (anknüpfend an ihren eigenen
Gegenwartsbezug) auf die eigene Lebenssituation zu beziehen, sie an-

104
zuwenden, um den eigenen Standpunkt im Lebenszusammenhang der
Gegenwart auszumachen und bewußt zu reflektieren. Der natürlich
immer .objektiv' (durch Geschlecht, Alter, soziale Lage, Mutterspra-
che usw.) vorhandene Standpunkt enthält dadurch eine subjektive
temporale Richtung. Er wird zeitlich gerichtet, und mit seiner subjekti-
ven Qualität wird er auch im Prinzip veränderbar; Er fällt (zumindest
partiell) in die Reflexions- und Handlungskompetenz der Betroffe-
nen. Quasi-natürliche Vorgaben der Lebenssituation und der eigenen
Identität werden mit der Kraft empirisch gehaltvoller historischer
Deutungen aufgeladen. Sie verflüssigen sich zu Standpunkten, die im
Medium einer historischen Argumentation zur Geltung gebracht und
dabei auch verändert werden können.
Durch historisches Lernen verändern sich die maßgebenden Orien-
tierungsrahmen der Lebenspraxis: Sie werden historisiert und dadurch
mit ,Sinn für die Wirklichkeit' (Wilhelm von Humboldt) angereichert.
Dieser Sinn läßt sich näher bestimmen als Fähigkeit, die Historizität
der eigenen Welt und des eigenen Selbst wahrzunehmen und als Hand-
lungs- und (Selbst-) Bildungschancen zu erkennen. Auch diese Verän-
derung hat eine bestimmte Qualität, eine eindeutige Richtung: Sie
führt vom Zwang autoritärer Standpunktvorgaben und Lebensper-
spektivierungen zur Freiheit der historisch begründenden Standpunkt-
reflexion und Perspektivenwahl.
In dieser Entwicklungsrichtung wird historisches Lernen zur histori-
schen Bildung als Meta-Kompetenz des Lernens, als Lernen des Ler-
nens. In ihm lädt sich der eigene Standpunkt mit Zeitlichkeit auf. Das
Selbstsein der Subjekte, ihre historische Identität wird prozessual und
damit zugleich gebunden an die kognitiven Kompetenzen, die die hi-
storische Bildung als Fähigkeit, maßgebende Deutungsmuster der hi-
storischen Erfahrung zu reflektieren, dem Selbstverständnis zur Verfü-
gung stellt. Mit dieser innerenTemporalisierung wird das historische
Selbstverhältnis der Gebildeten und ihr Standpunkt im sozialen Leben
der Gegenwart erheblich relativiert. Man könnte dies als Verlust des
Bodens unter den Füßen, als Handlungsschwäche durch Bildung ver-
stehen, wenn es sich nicht um einen Entdogmatisierungsprozeß im
Selbstverhältnis und in der Einschätzung des eigenen Standortes han-
delte, der Freiheitschancen eröffnet. Temporalisierung von Identität
bedeutet einen Gewinn an Selbst-Sein und an Sicherheit des Stand-
punktes, die dessen innere Unsicherheit, seine inhärente Zeitlichkeit
betrifft. Eine historische Relativierung im Selbstverhältnis und im

105
Standpunktbezug bedeutet, daß die Selbstverständlichkeiten weg-
schmelzen, die Handlungsorientierungen und Einstellungen ange-
sichts des Zeitflusses der eigenen Lebenspraxis auszeichnen. Sie wer-
den durch zunehmendes Kontingenzbewußtsein ersetzt, dem zwar die
(sowieso falschen) Sicherheiten, daß sich schon nichts wesentliches än-
dern werde, entgleiten, aber doch zugunsten offener Zukunftsdimen-
sionen, die als Handlungschancen wahrgenommen und zur eigenen
Lebensqualität gerechnet werden können. Dies betrifft übrigens eben-
sosehr die Selbstverständlichkeit, mit der die traditionelle Fortschritts-
vorstellung lebenspraktisch wirksam ist. wie zugleich auch die opposi-
tionelle Selbstverständlichkeit, mit der es ausgemacht ist, daß alles nur
in einer Katastrophe enden kann.89 Beides ist hinsichtlich der Ein-
sichtsmöglichkeiten in die Kontingenz der eigenen Lebensform, die
die historische Bildung vermitteln kann, gleich ungebildet, oder, um es
weniger arrogant zu formulieren: durch Bildung aufklärungsbedürf-
tig-
(d) Die drei skizzierten Dimensionen des historischen Lernens und
seine Bildungsqualität sind natürlich aufs engste ineinander ver-
schränkt. Es gibt keine deutungsfreie historische Erfahrung und keine
erfahrunsfreie historische Orientierung, und jedes Deutungsmuster ist
zugleich erfahrungs- und orientierungsbezogen. Mit ihrem inneren
Zusammenhang repräsentieren sie die Komplexität des historischen
Lernens, seine Doppelpoligkeit zwischen Erfahrungsaneignung und
Selbstgewinn in den mentalen Bewegungen des Geschichtsbewußt-
seins.
Es wäre verfehlt, die Einheit des historischen Lernens, mit der es
sich bei aller Vielschichtigkeit von anderen Lernvorgängen klar unter-
scheidet, von der Objektseite her zu definieren. Sie würde dann von
der Geschichte her bestimmt, die als kulturell wirksamer Erfahrungs-
bestand lernend angeeignet und über Deutungsvorgänge zu Orientie-
rungszwecken zurVerfügung gestellt wird. Zwar wird die Bildungsqua-
lität des historischen Lernens immer noch recht häufig mit dem Aus-
maß verfügbarer Wissensbestände identifiziert, und entsprechend wer-
den Lernvorgänge mit Bildungsansprüchen auf den Erwerb solcher
Wissensbestände konzentriert. Einer solchen Auffassung von Lernen
und Bildung liegt jedoch eine (zumeist implizite) Geschichtsdidaktik
zugrunde, in der es vor allem auf eine Ausrichtung der lernenden Sub-
jekte an einem vorgegebenen Kanon historischer Gegenstände an-
kommt. Bildung ist hier nur eine intelligente Weise dieser Ausrichtung

106
und eine entsprechendeTeilhabe an der in ihr liegenden Ausübung von
Herrschaft. Das Entscheidende an der Bildung, die Dynamik der Sub-
jektivität im Lernen des Lernens, versteinerte hier im historischenWis-
sensbestand. Ein weitgehend nur rezeptiv angeeignetes historisches
Wissen würde die Fähigkeit zur Deutung und zum orientierenden Ge-
brauch histoiischer Erfahrungen ehei verhindern als fördern. Die in
ihm eingelagerten Deutungen würden als solche weder wahrgenom-
men, also in ihrer fundamentalen Funktion der Wissensorganisation
übersehen, noch könnten sie die lernende Subjektivität als Quelle
neuen Fragens und als Bereitschaft zu neuer historischer Erfahrung
anregen. Noch weniger ließe sich das (an-)gelernte historische Wissen
produktiv auf Orientierungsprobleme der Lebenspraxis beziehen. Im
Sinne einer vermeintlichen Sachlichkeit verlöre das historische Wissen
seine kulturelle Orientierungsfunktion, um deren Erfüllung willen es
letztlich produziert wird.
Umgekehrt ist es aber genauso verfehlt, den historischen Lernvor-
gang didaktisch ganz vom subjektiven Interesse der Lernenden her zu
konzipieren, so daß das Erfahrungs- und Wissensmoment des Ge-
schichtsbewußtseins zur bloßen Folie würde, auf der sich die Subjekti-
vität der Lernenden einschriebe. Bildung wäre dann gesteigerte, viel-
leicht sogar überstiegene Subjektivität. Die historische Erfahrung und
das erfahrungsgesättigte historische Wissen verlören dann ihre Wider-
ständigkeit gegen die projektive Kraft des Meinens, Wünschens, Hof-
fens und Fürchtens. Den Lernenden würde die Chance genommen,
ihre Subjektivität so an der Erfahrung abzuarbeiten, daß sie sie aus der
Entäußerung an die ,Sache' gestärkt zurückgewinnen. Subjektive
Orientierungsbedürfnisse oder -gesichtspunkte können didaktisch so
ins Spiel gebracht (und Lernen entsprechend zur Bildung hin organi-
siert) werden, daß das Geschichtsbewußtsein resistent gegen irritie-
rende Erfahrungen und Wissensinhalte würde. In einem solchen Lern-
prozeß führte das subjektive Interesse nur zur ideologischen Fixierung
von Orientierungen mit entsprechend dogmatischen Formen histori-
scher Identität. Die Lernenden würden um den .Sinn für die Wirklich-
keit' betrogen, den ihnen die Arbeit an der Deutung historischer Er-
fahrung erschließt. Ihre Deutungen und Orientierungen würden erfah-
rungsarm.
Beide Vereinseitigungen lassen sich dadurch vermeiden, daß das hi-
storische Lernen als ein Vorgang betrachtet wird, in dem die Lernen-
den die Fähigkeit zu einer argumentativen Balance zwischen Erfah-

107
rungs- und Subjektbezug erwerben. Im Medium des Argumentierens
kann die historische Erfahrung nur schlecht zu deutungs- und orientie-
rungsschwachenWissensbeständen gerinnen, und das Medium des Ar-
gumentierens hält zugleich die Deutungsmuster und Orientierungs-
rahmen erfahrungsoffen und flexibel. Die Operationen des Ge-
schichtsbewußtseins sollten also primär unter dem Gesichtspunkt als
historisches Lernen angesehen, organisiert und beeinflußt werden,
daß es um den Erwerb einer solchen Argumentationskompetenz geht,
in der alle drei Dimensionen: Erfahrung oder Wissen, Deutung und
Orientierung in ihrer Verschränkung berücksichtigt werden. Es geht
darum, die beiden Bezugsgrößen: Geschichte als objektive Vorgabe in
den Lebensverhältnissen der Gegenwart und Geschichte als subjekti-
ves Konstrukt interessegeleiteter praktischer Orientierung in Balance
zu bringen und zu halten. .Gebildet' ist diese Balance, wenn sie im
Prinzip dem Argumentationsniveau der Geschichte als Wissenschaft
entspricht.
Damit ist natürlich nicht die Professionalität von Historikern ge-
meint, sondern ein kognitives Niveau in der Verwendung und Refle-
xion prinzipieller Gesichtspunkte und Modi des historischen Denkens.
Es geht um die Vernunft, die die Geschichte alsWissenschaft dort ein-
bringen und entfalten kann, wo sie sich nicht zur methodischen Ratio-
nalität der historischen Forschung ausdifferenziert und spezialisiert
(und sich dabei unvermeidlich von der Lebenspraxis und von den für
sie geeigneten und maßgeblichen Formen und Inhalten vernünftiger
zeitlicher Orientierung entfernt), sondern es geht eben um diese
praxisadäquate Vernunft des historischen Denkens. Sie liegt in den
fundamentalen und allgemeinen Modi der Geltungssicherung histori-
schen Erzählens beschlossen, aus denen sich so etwas wie Geschichte
als Wissenschaft in ihrer relativen Abgehobenheit von den Belangen
und Bedürfnissen der Lebenspraxis entwickelt,90 auf die sie jedoch
nichtsdestoweniger, wenn sie ihre eigene Lebendigkeit nicht verlieren
will, stets rückbezogen ist. Bildung ist der Modus, in dem Geschichte
alsWissenschaft diese Rückbindung vollzieht. Was kann sie hier als ihr
ureigenstes, als Vernunft, in die Lebenspraxis einbringen?

108
4. Die kognitive Kraft der Geschichtskultur

Das Feld, in dem die Vernunftpotentiale des historischen Denkens le-


benspraktisch zur Geltung gebracht werden können, möchte ich ,Ge-
schichtskultur' nennen. Mit diesem Ausdruck soll deutlich werden,
daß das spezifisch Historische im kulturellen Orientierungsrahmen
der menschlichen Lebenspraxis einen eigenen und besonderen Ort
hat. Es wäre verfehlt, die spezifisch historischen Orientierungspro-
bleme der Lebenspraxis ausschließlich oder überwiegend dem Bereich
der politischen Kultur zuzuschlagen, obwohl der innere Praxisbezug
des historischen Denkens vor allem als politischer deutlich wird. So
streiten Historiker immer wieder und nicht erst heute91 in, mit und
über diesen politischen Praxisbezug des historischen Wissens.92 Ge-
schichtskultur ist auch mehr und Anderes als die Domäne der von der
Geschichtswissenschaft verwalteten Erkenntnis in der praktischen Ver-
wendung historischenWissens. So enthält schon die Geschichtsschrei-
bung als notwendiger Faktor des historischen Erkenntnisprozesses äs-
thetische und rhetorische Faktoren, die Wissen als kognitive Gebilde
allererst zur praktischen Verwendung befähigen.
Geschichtskultur ist zunächst nichts anderes als derjenige Bereich
menschlicherWeltdeutung und Selbstverständigung, in dem die für das
menschliche Geschichtsbewußtsein maßgeblichen Operationen der
Sinnbildung über Zeiterfahrung vollzogen werden müssen, damit sich
handelnde und leidende Subjekte in den zeitlichen Veränderungen ih-
rer Welt und ihrer selbst zurechtfinden können. Um die besondere
Rolle, die die Geschichtswissenschaft als Vernunftpotential dieser
Operationen spielen kann, bezeichnen zu können, ist es notwendig,
den kognitiven Bereich, den diese Potentiale abdecken, von nicht-kog-
nitiven (künstlich) zu unterscheiden. Sonst kann nämlich nicht deut-
lich gemacht werden, auf welchen Vernunftbedarf sich eigentlich die
historischen Bildungsansprüche beziehen lassen, mit der die Ge-
schichtswissenschaft ihre Wissensbestände an die Lebenspraxis adres-
siert. Denn es gibt ja bei der historischen Orientierung der Lebenspra-
xis nicht nur ein Bedürfnis nach einer den kognitiven Leistungen der
Geschichtswissenschaft entsprechenden Vernunft, sondern durchaus
auch andere Bedürfnisse, denen das historische Wissen entsprechen
muß. Dies sind vor allem politische und ästhetische. (Die religiösen
klammere ich zur Vereinfachung der Problemstellung aus; die ideologi-
schen93 sind eine Abart der kognitiven.)

109
Daß historischesWissen in die ästhetische und in die politische Di-
mension praktischer Lebensorientierung hineinreicht, ist trivial. Wie
es aber mit den ihm von der Geschichte alsWissenschaft imprägnierten
kognitiven Vernunftansprüchen den spezifisch ästhetischen und politi-
schen Gesichtspunkten der Praxisorientierung entspricht, ja ob es ih-
nen überhaupt entsprechen kann, das ist durchaus klärungsbedürftig.
Ohne eine solche Klärung hinge historische Bildung als Ensemble kul-
tureller Kompetenzen in der Luft: Wo und wie können und müßten
diese Kompetenzen wirksam werden?
Mit dem Terminus ,Geschichtskultur' soll die von derWissenschaft
kultivierte kognitive Seite der historischen Erinnerungsarbeit systema-
tisch mit der politischen und ästhetischen Seite der gleichen Arbeit ver-
bunden werden. Keine Seite kann ohne die andere gedacht werden, ja
es ist bereits eine Frage der Vernunft in der praktischen Verwendung hi-
storischen Wissens, wie sie jeweils aufeinander bezogen werden. Wis-
senschaft, Politik und Kunst können sich im Felde des Geschichtsbe-
wußtseins (als kulturellem Faktor der Daseinsorientierung) wechsel-
seitig instrumentalisieren und dabei die jeweils in Dienst genommene
Dimension des historischenWissens durch die herrschende verkürzen
und verstümmeln. Dies ist fast immer dann der Fall, wenn die einzel-
nen Dimensionen der Geschichtskultur nicht auseinandergehalten
werden, sondern in der naiven Selbstverständlichkeit je einer Dimen-
sion deren Unterschiede und Beziehungen zu den anderen übersehen
werden. Sie können sich aber auch gegenseitig ins Recht setzen, so daß
ihre je spezifischen Vernunftpotentiale sich wechselseitig ergänzen und
dadurch insgesamt steigern.
Diese Argumentation mag überraschen, denn bisher ist stets nur
von der Vernunft die Rede gewesen, die die Geschichte alsWissen-
schaft konstituiert, also von den geltungssichernden Prinzipien der hi-
storischen Erkenntnis. Gibt es daneben noch eine andere Vernunft?
Macht es Sinn, von einer spezifisch politischen oder einer spezifisch äs-
thetischen Vernunft zu reden? Eine solche Rede ist nur für diejenigen
sinnlos, die vorab schon fest davon überzeugt sind, daß die Wissen-
schaft einen exklusiven Anspruch auf menschliche Vernunft hat. Ein
unbefangener Blick darauf, wo und wie in der menschlichen Lebens-
praxis von Vernunft die Rede ist und etwas geschieht, das man ver-
nünftig' im Sinne von ,mit guten Gründen akzeptierbar' nennen
könnte, läßt die Rede von einer spezifisch politischen oder ästheti-
schen Vernunft durchaus nicht unsinnig erscheinen.

110
So wie Vernunft in der kognitiven Dimension des Geschichtsbe-
wußtseins eine bestimmte Art und Weise der Geltungssicherung meint,
so läßt sich von politischer Vernunft reden, wenn es um eine bestimmte
Art und Weise der Geltungssicherung von Herrschaft und Macht geht,
um ihre Legitimität. So wie es in der kognitiven Dimension die Prinzi-
pien der methodischen Rationalität sind, die Vernunft als kognitive
Geltungssicherung definieren, so sind es in der politischen Dimension
des Geschichtsbewußtseins (wo es ja unübersehbar eine wichtige
Rolle in der Legitimation von Herrschaft spielt) die Prinzipien rechtli-
cher Sicherung und Kontrolle von Herrschaft, die als politische Ver-
nunft der Legitimation angesehen werden müssen. So wie sich die me-
thodische Rationalität der historischen Erkenntnis in den Regeln der
historischen Methode detailliert darlegen und im Forschungsvollzug
aufweisen läßt, so läßt sich das Prinzip rechtlicher Legitimation von
Herrschaft detailliert als System von Menschen- und Bürgerrechten
darlegen und im Vollzug von Kritik und Legitimation von Herrschaft
und der gesellschaftlichen Organisation von Macht aufweisen.
Analoge Gesichtspunkte einer spezifisch ästhetischen Vernunft las-
sen sich ebenfalls explizieren und begründen. Es sind die Prinzipien ei-
ner formalen Gestaltung, die Wissensbestände so zu wirksamen Fakto-
ren der historischen Orientierung machen, daß sie in die Tiefen der
Subjektivität eingehen lassen, wo Herrschaft verankert wird und Den-
ken als Medium der Selbstverständigung entspringt. Die entspre-
chende Analogie zu den Prinzipien der methodischen Rationalität und
der rechtlichen Rationalität besteht in der Autonomie der künstleri-
schen Gestaltung als konstitutiven Faktor narrativer Sinnbildung.
Was das Verhältnis der drei Dimensionen der Geschichtskultur zu-
einander betrifft, so läßt sich auch hier von Vernunft sprechen. Sie
meint formal ein wechselseitiges Zugeständnis von Autonomie und zu-
gleich die Einsicht einer Abhängigkeit voneinander. Das heißt zu-
nächst einmal: Verzicht auf gegenseitige Instrumentalisierung, und es
heißt überdies, daß die jeweiligen Prinzipien der Sicherung von Gel-
tung und formaler Kohärenz jeweils so ausgeprägt werden, daß sie sich
gegenseitig in Kraft setzen. Das ist so zu denken, daß der historische
Verstand durch die ästhetisch angesprochenen Sinne der historischen
Wahrnehmung angeregt wird, daß die kognitiven Leistungen die recht-
lichen Sanktionen des Willens zur Macht stärken und daß der politi-
sche Machtwille der Wahrheitsfindung dient (so etwas ist ja nicht prin-
zipiell ausgeschlossen).

111
Vernunft in der Erinnerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins ist
aber mehr als nur ein Zusammenhang formaler Prinzipien von Wahr-
heit, Macht und Schönheit (um die drei Dimensionen kategorial mit
den traditionellen Begriffen zu bezeichnen). Vernünftig sind natürlich
auch Inhalte der historischen Erinnerung, die zur Orientierung in der
Gegenwart und zur Selbstverständigung dienen, seien es nun kognitiv
durchdachte, politisch verwendete oder ästhetisch gestaltete. Solche
inhaltlichen Vernunftqualitäten lassen sich ausmachen: Sie bestehen in
all den Prozessen und Vorgängen derVergangenheit, die sich als Huma-
nisierung bestimmen lassen, wie Abschaffung von Not, Elend, Leid.
Unterdrückung und Ausbeutung und Befreiung zur Autonomie der be-
teiligten Subjekte, Erarbeitung rationaler Standards von Argumenta-
tion, Freisetzung des menschlichen Selbst- und Weltverhältnisses in
spielerische Artikulation von Sinnbedürfnissen und anderes. Vernünf-
tig sind historische Erinnerungen, die diese Prozesse und Vorgänge
festhalten oder ihr Fehlen und Verfehlen in derVergangenheit aufwei-
sen.
Es geht nun darum, diese formalen und inhaltlichen Gesichtspunkte
der historischen Vernunft in dem als Bildung bestimmten Praxisbezug
des historischenWissens aufzuweisen und zu explizieren. Wie wirkt die
kognitive Kraft der historischen Bildung politisch und ästhetisch?
Ich möchte jetzt nicht die weitverzweigten Gefilde politischen und
ästhetischen Handelns daraufhin durchforsten, was in ihnen durch hi-
storische Bildung ausgerichtet werden kann. Ich möchte vielmehr nur
den engeren Bereich der Geschichtskultur ansprechen und danach fra-
gen, wie dessen politische und ästhetische Dimensionen mit der kogni-
tiven zusammenhängen. So wie historische Bildung in den vorherge-
henden Abschnitten expliziert worden ist, dürfte klar sein, daß sie in
sich schon politische und ästhetische Momente enthält. Diese Mo-
mente möchte ich beschreiben, und zwar unter der Leitfrage, wie ihre
spezifischen Vernunftpotentiale durch die kognitiven Leistungen der
historischen Bildung positiv beeinflußt werden können.
Was das Verhältnis der kognitiven Seite der Geschichtskultur zur po-
litischen betrifft, so läßt es sich in formaler und inhaltlicher Hinsicht
diskutieren. Formal geht es um die Art und Weise, wie sich rational-
wissenschaftliches und politisches Argumentieren zueinander verhal-
ten und durch wissenschaftsbestimmte historische Bildung beeinflußt
werden können; inhaltlich geht es darum, ob und wie die von der Ge-
schichte als Wissenschaft in die Geschichtskultur eingebrachten Ver-

112
tiunftpotentiale in der spezifisch politischen Dimension der Ge-
schichtskultur produktiv wirken können.
Im Verhältnis von Wissenschaft und Politik gibt es eine naturwüch-
sige Tendenz wechselseitiger Instrumentalisierung. Sie tritt oft in der
Form auf, daß politische Argumente unter wissenschaftliche subsu-
miert werden, in ihnen verschwinden und umgekehrt. In beiden Fällen
kommt es zu grundsätzlichen Verkürzungen und Störungen in der Ge-
schichtskultur. Subsumiert die Wissenschaft die politische Seite der
Geschichtskultur unter sich, dann treten Machtfragen im Gewände
von Wahrheitsfragen auf, und das Ergebnis ist ein Dogmatismus histo-
rischer Deutungen mit zwangshaften Orientierungsansprüchen.
Machtfragen verschwinden in Wahrheitsfragen, und dabei wird die
Wahrheit zur Ideologie. Ein bekanntes Beispiel dafür ist der orthodoxe
Marxismus-Leninismus, in dem politische Entscheidungen letztlich
(ideologisch) auf wahrheitsfähigen Einsichten beruhen sollen. In die-
sem Falle geht die Offenheit und Vieldeutigkeit historischer Erfahrun-
gen und letztlich der diskursive Charakter ihrer Deutungen verloren.
Subsumiert umgekehrt die Politik die Wissenschaft unter sich, dann
werden die entscheidenden Sinnkriterien des historischen Denkens als
nicht wahrheitsfähig, sondern letztlich als bloßer Ausdruck von Inter-
essenlagen und Machtbestrebungen angesehen. Dies führt notwendig
zum Dezisionismus. Die Macht verliert das Auge der Wahrheit; sie
wird blind, einsichtslos, vom bloßen Willen zu sich selbst getrieben.
Die Wissenschaft wird relativistisch; sie umgibt lediglich politisch er-
wünschte historische Legitimationen mit dem Schleier der Fakten-
treue. Die für historisches Denken letztlich entscheidenden Gesichts-
punkte von Sinn und Bedeutung, die der Vergangenheit als Erfah-
rungsbestand für Gegenwart und Zukunft zukommen, werden als pri-
mär politische Angelegenheit durch die Wissenschaft nur sekundär ra-
tionalisiert. Dazu bedarf es nicht immer politischen Drucks auf die
Wissenschaft; allzu oft sind es die professionellen Historiker selber, die
die für sie als Zeitgenossen maßgeblichen politischen Gesichtspunkte
als wissenschaftlich maßgebende für die historische Interpretation an-
sehen, anwenden und mit dem kulturellen Prestige ihrer Professionali-
tät öffentlich wirksam vertreten und damit politische Macht gewinnen.
Diese naturwüchsigen Tendenzen wechselseitiger Instrumentalisie-
rungen von Wissenschaft und Politik in der Geschichtskultur können
durch historische Bildung systematisch gebrochen werden. Politische
Interessen und wissenschaftliche Wahrheitsansprüche schließen sich

113
weder gegenseitig aus, noch sind sie untereinander subsumierbar, son-
dern sie stehen in einem komplexen Wechselverhältnis, in dem die In-
teressen zum Lebensnerv derWissenschaft gehören und umgekehrt die
Wissenschaft zur kritischen Instanz politischer Machtansprüche wird.94
Die Wissenschaft führt (über die Bildung) in den politischen Kampf
um die kulturelle Formierung historischer Erinnerungen das friedliche
Mittel methodisch geregelter, begrifflich-argumentativer Kommuni-
kation ein. Als Kraft einer diskursiven Unruhe lädt diese Kommunika-
tion nicht die Macht mit Wahrheit ideologisch auf und macht sie da-
durch nur noch mächtiger, nämlich totalitär; sondern sie öffnet den
Diskurs der Macht tendenziell für alle Betroffenen, indem sie auf eine
Vernunft rekurriert, die grundsätzlich allen von Macht- und Herr-
schaftsverhältnissen Betroffenen zugesprochen werden muß. Mit die-
ser Vernunft kann und muß die Legitimität dieserVerhältnisse kritisch
überprüft werden. Dazu ist die Wissenschaft insofern in der Lage, als
sie ja schon in den für sie maßgeblichen Prozeduren der Erkenntnispra-
xis mit Fragestellungen, Gesichtspunkten und Hinsichten an den Quel-
len arbeitet, in denen sich politische Interessen kognitiv verkörpern.
„Ach Politik! und doch, wer kann davon lassen?"95
Politik ist in den methodischen Prozeduren des wissenschaftlichen
Erkenntnisprozesses freilich so verkörpert, daß der ihr lebensweltlich
bestimmend zugrunde liegende Willen zur Macht grundsätzlich durch
den der Wissenschaft lebensweltlich zugrunde liegenden Willen zur
Wahrheit systematisch gebrochen wird. Die Wissenschaft setzt der
Macht das Auge der Wahrheit ein, damit diejenigen, die im Medium
der Macht miteinander leben müssen, miteinander auskommen kön-
nen, ohne sich tendenziell immerfort totschlagen zu müssen. Die Fra-
gilität einer solchen kognitiven Moderation politischer Willensstärke
ist evident; ob sie nicht letztlich doch bloßer Schein ist oder begrün-
dete Hoffnung, ist kein formales, sondern ein inhaltliches Problem.
In inhaltlicher Hinsicht wäre es um das Vernunftspotential der histo-
rischen Bildung in der politischen Dimension der Geschichtskultur
schlecht bestellt, wenn politisches Handeln mit den Zwecken Macht
und Herrschaft nicht von sich aus auf so etwas wie Vernunft angewie-
sen wäre, nämlich auf die Zustimmung der von diesem Handeln, von
Herrschaft und Macht Betroffenen. ,Legitimität' ist die Kategorie die-
ser inneren Vernunft des Politischen, und in ihr kann sich die kognitive
Kraft historischer Bildung in der Geschichtskultur zur Geltung brin-
gen. Hier ist historisches Wissen wesentlich und notwendig. Es läßt

114
sich keine Form von Herrschaft denken, zu deren Legitimation nicht
auf historische Wissensbestände rekurriert werden müßte. Die an
Macht und Herrschaft Beteiligten legen mit historischen Argumenten
ihr Verhältnis zueinander im Laufe der Zeit fest und internalisieren es
auch in der Form einer historischen Identität. Die praktische Wirkung
historischer Bildung besteht hier darin, daß die legitimierenden histo-
rischen Argumente kommunikativ verflüssigt werden. Grundsätzlich
dürfen jetzt alle Betroffenen argumentieren. (Ob sie es dann auch kön-
nen, ist eine Frage der politischen Bekräftigung historischer Bildung).
Historische Legitimität verliert dann den ihr politisch nur allzu natür-
lich zuwachsenden Zwang von Konsensbildung (einschließlich der In-
ternalisierung gemeinschaftsbildender Zwänge in kulturell dominie-
renden Formen der historischen Identität). Dieser Zwang wird (im
Prinzip) aufgebrochen, (im Prinzip) in Freiheit der Zustimmung über
selbstbestimmte historische Erinnerung verwandelt. Herrschaft in der
Geschichtskultur wird vernünftig (ohne daß damit diejenigen, die die
Vernunft als wissenschaftliche Professionalität sich zuschreiben, schon
zu Herrschenden werden).
An den zentralen Prinzipien moderner Legitimation politischer
Herrschaft, an den Menschen- und Bürgerrechten, ließe sich im einzel-
nen aufweisen, was eine solche Verflüssigung bedeutet.96 Die Men-
schen- und Bürgerrechte gewinnen mit ihr eine eigene historische Di-
mension, eine innere zeitliche Dynamik, die ihr Humanisierungspo-
tential politischer Herrschaft als noch längst nicht ausgeschöpft erken-
nen läßt und zu entsprechenden politischen Veränderungen anregen
kann. Eine solche innere Historisierung wäre das Gegenteil einer Re-
lativität von Geltung. Sie könnte überhaupt erst dazu führen, daß der
Unterschiedlichkeit von Kulturen im Universalismus ihrer Geltung sy-
stematisch Rechnung getragen wird. Die politische Wirkung histori-
schenWissens ließe sich auch am Beispiel der nationalen Identität de-
monstrieren . Ohne die kognitiven Kräfte der historischen Bildung ten-
diert die nationale Identität zu einer mentalen Innen- und Außenbezie-
hung, die ein nicht unerhebliches Agressionspotential einschließt und
unter bestimmten Bedingungen auch destruktiv freiläßt. Mit der Er-
fahrungs-, Deutungs- und Orientierungskompetenz der historischen
Bildung läßt sich die Negativität dieser naturwüchsigen Form nationa-
ler Identität transformieren. Sie kann durch die komplexen Deutungs-
formen exemplarischen, kritischen und genetischen historischen Den-
kens hindurch verwandelt werden und dabei an Umfang und Intensität

115
der historischen Erfahrung gewinnen. Am Ende eines solchen Trans-
formationsprozesses der Bildung stünde dann ein nationales Selbstver-
hältnis, das das Anderssein anderer Nationen als Herausforderung zur
Stärkung der eigenen Identität durch Anerkennung dieses Anders-
seins versteht. Ranke hat diese gebildete' Form des Nationalismus ge-
meint, als er davon sprach, daß „in der Herbeiziehung der verschiede-
nen Nationen und der Individuen zur Idee der Menschheit und der
Kultur ... der Fortschritt ein unbedingter" sei. Diese (historistische)
Idee der Vielfalt in der Einheit stärkt in der Geschichtskultur die Ein-
stellungen und mentalen Kräfte, die das Anderssein der Anderen nicht
als Bedrohung des Selbstseins, sondern als dessen Bestätigung (durch
wechselseitige Anerkennung) ansehen.
Was die Rolle der historischen Bildung in der ästhetischen Dimen-
sion der Geschichtskultur betrifft, so geht es auch hier um formale und
inhaltliche Gesichtspunkte. So wie beim Verhältnis von kognitiver und
politischer Dimension gibt es auch im Verhältnis von kognitiver und äs-
thetischer naturwüchsige Tendenzen wechselseitiger Instrumentalisie-
rung. Unter Historikern ist die Auffassung fast selbstverständlich, daß
der Kunst im Bereich des historischen Denkens als einzig legitimer
Funktion die der .Umsetzung' oder .Vermittlung' kognitiver Inhalte in
ästhetisch wohlgefällige Formen zukomme. Kunst wird gleichsam
apriori didaktisiert und damit ihres Eigengewichts in der Geschichts-
kultur beraubt. Kunst ist die Verbildlichung dessen, was Politiker wol-
len und Wissenschaftler denken. Nun geht aber die ästhetische Quali-
tät des Geschichtsbewußtseins mitnichten in dieser Instrumentalisie-
rung auf. Es bleibt ein nicht instrumentalisierbarer Rest. Je entschie-
dener die Kunst in den Dienst wissenschaftlicher Erkenntnisse oder
politischer Legitimationen genommen wird. umso widerständiger ent-
wickelt sie einen ästhetischen Eigensinn und bringt ihn gegen jede In-
strumentalisierung zur Geltung. Die Kunst verteidigt damit das Eigen-
gewicht der sinnlichen Anschauung gegen seine kognitive und politi-
sche Indienstnahme. Im Zuge dieserVerteidigung kann sich in der Ge-
schichtskultur die ästhetische Dimension der historischen Erinnerung
in einer durchaus verhängnisvollen Weise von ihren kognitiven und po-
litischen Faktoren abspalten. Das Medium der sinnlichen Anschauung
kann selber zur exklusiven Botschaft von Geschichte werden; es kann
sich gegenüber den wissenschaftlich und politisch vorgegebenen Inhal-
ten verselbständigen, sich als Darstellungsform selber inszenieren und
dabei zugleich die Inhalte, die jeweilig zu erzählende Geschichte, als

116
bloßes Mittel zum Zweck ästhetischen Eigensinns instrumentalisie-
ren. Die ästhetische Form wird dann selber zum historischen Inhalt,
und dabei werden die politisch-praktische und die wissenschaftlich-
kognitive Seite historischer Darstellungen sekundär, ja in Grenzfällen
sogar wesenslos. Solche Tendenzen lassen sich an manchen Versuchen
ausweisen, Geschichte in Ausstellungen zu inszenieren. Sc unverzicht-
bar die Inszenierungsform und die dazugehörige Dramaturgie sein
dürften, wenn die sinnliche Qualität historischer Erfahrungen und
Deutungen gesteigert, Geschichte also den Sinnen ausgestellt werden
soll, so wenig freilich reichen sie allein schon hin, das spezifisch Histo-
rische an der Erfahrung und ihrer deutenden Gestaltung zu präsentie-
ren.98
Verselbständigt sich das Medium der ästhetischen Anschauung ge-
gen seine Instrumentalisierung durch Wissenschaft und Politik, dann
werden zwar die in ihm beschlossenen Gestaltungsmöglichkeiten frei-
gesetzt und ein Raum genuin ästhetischer Erfahrung und Bedeutung
von Geschichte eröffnet, jedoch um einen hohen Preis: Die Macht der
Bilder tendiert zum Wahnsinn des Gedankens und zur Verschleierung
politischer Machtansprüche. In dieser Wendung gegen Wissenschaft
und Politik führt der ästhetische Eigensinn der Geschichtskultur zur lr-
rationalisierung und Entpolitisierung des Geschichtsbewußtseins in
den Schichten, in denen es ästhetisch konstituiert ist. Die sinnliche Fas-
zination der geschichtlichen Erfahrung läßt dann keine politische und
wissenschaftlich-rationale Aufklärung mehr zu.
Die Folgen einer solchen subversiv gegen die Machtansprüche von
Wissenschaft und Politik sich zurWehr setzenden Ästhetik sind proble-
matisch: Dort, wo historische Identität sich in tieferen Gefühlslagen
der Subjekte bildet oder verankert ist, verliert sie wesentliche Disposi-
tionen zu politischer Orientierung und rationaler Reflexion. Das glei-
che gilt für die Fähigkeit und Bereitschaft der Subjekte zur histori-
schen Erfahrung: Die Alterität der Zeit wird zur Angelegenheit einer
ästhetischen Faszination oder eines Genusses, die keine Folgen mehr
für eine realistische Orientierung der eigenen Lebenspraxis haben,
sondern im Gegenteil dem Orientierungsrahmen der Lebenspraxis we-
sentliche Momente der historischen Erfahrung und Sinnbildung rau-
ben. Zumindest wird die historische Erfahrung, die über das Medium
einer verselbständigten sinnlichen Anschauung in den historischen
Orientierungsrahmen der aktuellen Lebenspraxis gelenkt wird und
Zugang zu den Bildungsprozessen der historischen Identität findet,

117
von denjenigen Bereichen des menschlichen Welt- und Selbstverhält-
nisses abgelenkt, wo Machtverhältnisse und rationales Argumentieren
eine Rolle spielen. Die vonThomas Mann in seinen „Betrachtungen ei-
nes Unpolitischen" geschilderte typisch deutsche Attitüde einer
machtgeschützten Innerlichkeit ist ein gutes historisches Beispiel da-
für, was eine solche Verwerfung zwischen ästhetischer Bildung, Politik
und Wissenschaft im Bereich der politischen Kultur bewirken kann. 99
Eine abgespaltene Ästhetik der historischen Erfahrung kann gerade
dann, wenn es gilt, aktuelle Krisenerfahrungen diskursiv zu verhan-
deln und über historische Erinnerung in politische Handlungsstrate-
gien umzusetzen, eine ausgesprochene Blockadewirkung ausüben.
Der schöne Schein kann den Blick auf die Wirklichkeit verstellen. Die
Geschichte, die als Inhalt rationaler Argumentation und politischer
Orientierung dienen könnte, verliert dann in ästhetischer Form genau
die Orientierungskraft, die in Anspruch genommen werden müßte,
um den Herausforderungen der Gegenwart begegnen zu können.
Stattdessen fungiert sie als gewichtiger Beitrag zu einem kulturellen
Gehäuse, in dem es sich am Rande des Abgrundes wohlig post-modern
leben läßt.
Es wäre natürlich verfehlt, diesen verhängnisvollen Folgen einer
dem Zugriff politischer und wissenschaftlicher Instrumentalisierung
entfliehenden Ästhetik des Geschichtsbewußtseins dadurch begegnen
zu wollen, daß dieser Zugriff noch fester wird. Das würde lediglich den
subversiven Charakter des Ästhetischen in der Geschichtskultur ver-
stärken. Die ästhetische Dimension läßt sich nämlich grundsätzlich
nicht auf erwünschte Realisierungsfunktionen politischer Interessen
und wissenschaftlicher Interpretationen beschränken: Als eigentümli-
ches und eigenständiges Medium der historischen Erfahrung und Deu-
tung konstituiert es einen eigenen Umgang mit der Geschichte. Die
seit Piaton nicht abreißenden Versuche, die Künstler zu Designern ko-
gnitiver und politischer Botschaften zu machen und sie imWeigerungs-
falle aus der öffentlichen Erinnerungsarbeit zu exilieren, scheitern
apriori an der Grundsätzlichkeit, Ursprünglichkeit und Unersetzlich-
keit der Kunst als Medium menschlicherWeltdeutung und Selbsterfah-
rung und Bedürfnisartikulation.
Historische Bildung hat in der Geschichtskultur die wichtige Auf-
gabe, im deutenden Umgang mit der historischen Erfahrung das Ei-
gengewicht ästhetischer Faktoren anzuerkennen und zur Geltung zu
bringen. Der Einbildungskraft sollte Raum zum freien Spiel mit der

118
Erfahrung derVergangenheit geschaffen werden. Dieses Spiel sollte
kritisch auf die Zwänge politischer Herrschaftsansprüche und rationa-
ler Stringenz in der historischen Erinnerungsarbeit bezogen und damit
der freie Umgang mit historischen Erfahrungen und handlungsleiten-
den Deutungen erweitert werden. Die philosophische Ästhetik hat mit
Recht immer wieder darauf hingewiesen, daß ein solches Spiel der Ein-
bildungskraft zu einem wesentlichen Faktor der menschlichen Freiheit
gehört. Die Kunst erschließt der Erinnerungsarbeit des Geschichtsbe-
wußtseins ein Sinnpotential, das zur Lebendigkeit jeder Geschichts-
kultur gehört.100
Das heißt freilich nicht, daß die Kunst die eigentliche Sinnstiftungs-
kompetenz in der Geschichtskultur hätte.101 Eine solche Kompetenz
ist grundsätzlich problematisch, nicht nur für den engeren Bereich des
Geschichtsbewußtseins: Mit dem Autonomwerden der Kunst im Pro-
zeß der Modernisierung problematisiert sie kontinuierlich eben diese
Kompetenz, und zwar so, daß sie sich selbst der Lüge bezichtigen muß,
wenn sie sie für sich in Anspruch nimmt. Diese grundsätzliche Grenze
ästhetischer Sinngebung in der Be-Deutung der historischen Erfah-
rung öffnet die ästhetische Dimension der Geschichtskultur für eine
produktive Beziehung zur kognitiven und politischen. Erst in einer of-
fenenWechselbeziehung wird historischer Sinn in dem Maße artikulier-
bar, in dem die Lebenspraxis auf historische Orientierung angewiesen
ist. Die durch die Geschichte alsWissenschaft ermöglichte historische
Bildung kann für diese Offenheit im Wechselverhältnis der drei Dimen-
sionen der Geschichtskultur einstehen.
Welche Grenzen hat diese Offenheit? Diese Frage zielt auf dieTatsa-
che, daß die Sinnbildungsleistungen der Kunst auf einer produktiven
Imagination beruhen, deren Status und Rolle in der Geschichtskultur
umstritten sind. Man sollte meinen, es sei klar, daß die Vernunftpo-
tentiale, die die Geschichtswissenschaft in die Geschichtskultur ein-
bringen kann, dort ihre absolute Grenze finden müssen, wo Sinnbil-
dung an die Überschreitung der Erfahrungsgrenzen des historischen
Denkens gebunden ist. Die Kunst ist eine Artikulation des den Men-
schen eigentümlichen Intentionalitätsüberschusses seiner Lebenspra-
xis über die Tatsächlichkeit seiner Lebensbedingungen und über die
Tatsächlichkeit des Gewesenen hinaus. Sie erschließt Spielräume der
Bedürfnisartikulation und der Sinnbildung, die den Erfahrungshori-
zont des Geschichtsbewußtseins grundsätzlich übersteigen. Dies hat
sie mit der Religion gemeinsam. Kunst und Religion stehen als Sinn-

119
quellen für Ausgriffe ins Meta-Historische. Sie gehören zwar zum In-
halt historischer Sinnbildung, da sie Bestandteile der historischen Er-
fahrung sind, und als solche wirken sie, gebunden an das erfahrungsbe-
zogene Medium der historischen Erinnerung und Deutung auch in der
Geschichtskultur. Sie treten dabei aber als Erfahrungen auf, deren hi-
storische Deutung selber von den ihnen eigentümlichen Quellen der
Sinnbildung abgeschnitten zu sein scheinen. Denn eine historische
Sinnbildung, die sich das Vernunftpotential der Geschichtswissen-
schaft zu eigen gemacht hat, kann weder mit religiösem Heilsanspruch
noch mit spezifisch künstlerischer Imagination erfolgen.
Beschränkt also das Geschichtsbewußtsein mit den Vernunftpo-
tentialen der Geschichtskultur nicht die Lebenskraft von Kunst und
Religion als Sinnquellen auf das Ausmaß einer Erinnerung, die Gewe-
senes festhält und dabei zugleich weiß, daß ihre Kräfte zu dem Leben
nicht ausreichen, das das Erinnerte einst hatte? Ist die Geschichtskul-
tur nicht letztlich doch nur ein Schattenreich im Vergleich mit den Vor-
gängen kultureller Innovation, in denen Zeit sich neu gebiert, sich
menschliche Lebensverhältnisse ins historisch Unvordenkliche ent-
wickeln, über alle Erinnerung hinaus? Ja, hängt die Innovationsfähig-
keit der Geschichtskultur selber nicht von solchen meta-historischen
Kräften der Sinnbildung ab, die sie mit ihren Vernunftleistungen wohl
in einen argumentativen Diskurs verwandeln, aber durch ihre Ver-
nunft nie ersetzen kann?
Diese Fragen machen auf eine prinzipielle Grenze der Vernunft auf-
merksam, die die Geschichtswissenschaft in die Geschichtskultur ihrer
Zeit einbringen kann. Zugleich verweist sie aber auch auf etwas für
diese Vernunft selber sehr Wesentliches: Die Innovationsfähigkeit der
Geschichtskultur selber, ihre Lebendigkeit also, hängt von eben die-
sen Sinnpotentialen ab, deren die historische Bildung nicht mächtig
ist. Heißt das, daß Geschichte nur in dem Maße lebendig werden
kann, indem ihr meta-historische Sinnquellen zufließen? Es dürfte ei-
ner Historik, die die Vernunftfähigkeit des historischen Denkens als
Erkenntnisprozeß und als Faktor der Lebenspraxis erörtert, wohl an-
stehen, mit einem Blick über die Grenze dieser Vernunft ins Meta-Hi-
storische zu schließen.

120
Schluß: Utopie, Alterität, Kairos-
Die Zukunft aus derVergangenheit

Weisheit ist nicht derWeisheit letzter


Schluß. Donald Duck102

...wenn die, so singen oder küssen,


mehr alsdieTiefgelehrten wissen...
Novalis103

Historische Bildung erhöht die Vernunftchancen der Geschichtskultur


durch Erfahrungsoffenheit, ästhetische Sensibilität, politische Refle-
xion und diskursive Begründungen. Sie ist dabei auf die Sinnpoten-
tiale angewiesen, die die historische Erinnerung mit ihren Inhalten
aufbewahrt und erneuert. Der Vernunftanspruch der historischen Bil-
dung knüpft an das immer schon Gestiftetsein historischen Sinns in der
historischen Erfahrung an. Die historische Bildung kann es aber
grundsätzlich nicht dabei bewenden lassen, diesen immer schon gestif-
teten Sinn bloß weiterzutransportieren. Das ginge nur um den Preis ei-
ner höchst restriktiven traditionalistischen Ausblendung der aktuellen
Zeiterfahrungen, die vorgegebene Lebensumstände und -Ordnungen
problematisieren. Die in die Lebensumstände immer schon objektiv
eingestifteten handlungsorientierenden Sinnkriterien bedürfen der ak-
tiven, produktiven Weiterbildung in der historischen Erinnerung, in
der sich die irritierenden Zeiterfahrungen der Gegenwart spiegeln.
Kann eine solche produktive Weiterbildung von Sinnkriterien durch
das Geschichtsbewußtsein selber erfolgen, oder ist es an die Sinnvor-
gaben der von ihm erinnerten Vergangenheit gebunden? Ist die Erin-
nerungsarbeit des Geschichtsbewußtseins von den besonderen Sinn-
quellen abgeschnitten, die immer dann fließen, wenn Menschen sich
über die ihnen vorgegebenen Umstände und Bedingungen ihres Han-
delns hinwegsetzen, um Möglichkeiten des ganz Anderen zu erschlie-
ßen? Steht die historische Erinnerung mit ihren Sinnpotentialen im Wi-
derspruch zu einer sinnträchtigen Zukunftserwartung, die sich über al-
les Bisherige erhebt? Wie verhält sich die Sinnbildung des Geschichts-

121
bewußtseins zur Zukunft als einer Zeitdimension der aktuellen Le-
benspraxis, die eben gerade nicht in der Bedeutung aufgeht, die die
Zeiterfahrung derVergangenheit für die Orientierung in der Gegen-
wart hat?
Die der Zeit gewidmete Sinnbildung des menschlichen Bewußtseins
erschöpft sich nicht im Medium der Erinnerung. Es gibt utopische Aus-
griffe in die Zukunft, die über den Tatsachenbestand derVergangen-
heit grundsätzlich hinausgehen und eben in dieser grundsätzlichen
Überschreitung ihren besonderen Sinn haben: Mit ihnen werden Hoff-
nung und Sehnsucht als wichtige Triebkräfte weltverändernden
menschlichen Handelns und des menschlichen Selbstverständnisses
belebt und zu Faktoren der Daseinsorientierung gemacht, die durch
das Geschichtsbewußtsein nicht generiert werden können. An utopi-
schen Ausgriffen ins ganz Andere der gegebenen Lebensumstände läßt
sich die Vernunftgrenze der Geschichtskultur und ihr Angewiesensein
auf meta-historische Sinnbildungen exemplarisch erörtern. Das Uner-
hörte in der Sinnbildungsarbeit des menschlichen Bewußtseins besteht
ja darin, daß in ihr ein Akt derTranszendierung alles Gegebenen erfol-
gen kann, in dem die Möglichkeit des ganz Anderen aufblitzt und als
gestaltendes Element in die kulturelle Organisation gegebener Le-
bensverhältnisse eingehen kann.
Eine radikale und geläufige Form dieses ganz Anderen ist die Uto-
pie. Ich verstehe darunter im folgenden nicht die spezifische Literatur-
gattung des frühneuzeitlichen Staatsromans und seiner Filiationen bis
in die Gegenwart, sondern etwas Grundsätzlicheres: eine bestimmte
Art und Weise des deutenden Umgangs mit der Erfahrung gegebener
Lebensverhältnisse.104 Utopisches Denken ist durch eine Negation der
Wirklichkeit gegebener Lebensverhältnisse definiert. Es artikuliert
Bedürfnisse in der Erwartung von Lebensverhältnissen, indem es von
gegebenen Restriktionen der Bedürfnisbefriedigung absieht. Utopi-
sche Sinnbildung beruht auf der Voraussetzung, daß sich die aktuellen
Handlungsbedingungen als irreal setzen und in Vorstellungen ganz an-
derer Handlungsbedingungen überschreiten lassen. Dieses Irrealset-
zen aktueller handlungsrelevanter Erfahrungen geschieht letztlich mit
der Absicht, diese Erfahrungen als Störfaktoren einer wünschbaren
Praxis oder Lebensform erscheinen zu lassen und dadurch ein Han-
deln anzustiften, das diese Erfahrungsinhalte, also real gegebene Re-
striktionen von Handlungschancen beseitigen soll. Indem das utopi-
sche Denken reale Lebensverhältnisse fiktiv außer Kraft setzt, schlägt

122
es gleichsam eine Schneise in die menschliche Daseinsorientierung, in
der Vorstellungen anderer Lebensverhältnisse als Ausdruck hand-
lungsmotivierender Bedürfnisse nach Weltveränderung erscheinen
können.
Das trifft grundsätzlich auch für ,negative' Utopien zu, obwohl
diese auf den ersten Blick einen anderen Erfahrungsbezug aufzuwei-
sen scheinen. Sie machen auf ein Entwicklungspotential in den empi-
risch gegebenen Lebensumständen und -Verhältnissen aufmerksam,
indem sie aktuelle Erfahrungen nicht systematisch außer Kraft setzen,
sondern ihnen eine hohe Bedeutung für die Abschätzung von Hand-
lungschancen beimessen. Dennoch handelt es sich auch bei diesen
Utopien um Vorstellungen, die ihre Plausibilität dadurch gewinnen,
daß in ihnen systematisch von Erfahrungen abgesehen wird. Diese Vor-
stellungen bestehen nämlich in Extrapolationen künstlich isolierter
Faktoren der Erfahrungswelt. Sie sind also genau in dem Maße plausi-
bel, in dem sie von anderen Faktoren der gleichen Erfahrungswelt ab-
sehen. Sie führen aus, was der Fall sein würde, wenn sich die eine oder
andere Entwicklungstendenz gegenwärtiger Lebensverhältnisse ge-
gen andere, gegenläufige oder hemmende durchsetzte.
Das utopische Denken formuliert Vorstellungen sozialer Realität als
Handlungsorientierungen, die mit der Erfahrung sozialer Realität als
Handlungsbedingung nicht vermittelt sind. In dieser Vermittlungslo-
sigkeit, ja Entgegensetzung zwischen Orientierung und Erfahrung
liegt die Eigenart des Utopischen. Es befähigt zu einer Kritik an gege-
benen Lebensverhältnissen und zu Entwürfen von wünschbaren Alter-
nativen, die einen besonderen Freiheitsspielraum aufweisen. Utopien
sind prinzipiell überschwenglich; sie artikulieren Bedürfnisse, die aus
einer abstrakten Überhebung über vorgegebene Handlungsspiel-
räume die Stärke ihrer Wünschbarkeit ziehen. Sie bringen mehr Be-
dürfnisse zum Ausdruck, als sich unter gegebenen Bedingungen reali-
sieren lassen; daher sind sie reich gegenüber der Armut faktisch erfol-
gender Bedürfnisbefriedigung. Sie sind durch Hoffnungen konstitu-
iert, die über den Bereich des hier und jetzt Machbaren hinausgehen,
ohne daß sie die Erfüllbarkeit dieser Hoffnungen grundsätzlich infrage
stellten. Die Plausibilität ihrer überschwenglichen Vorstellungen von
dem, was sein soll, oder ihre überschwenglichen Furcht vor dem, was
sein kann, beruht auf zwei Gründen. Einmal nämlich bringt sie Be-
dürfnisse und Ängste zur Sprache, die ihre Adressaten als eigene er-
kennen; und außerdem läßt sie die Befriedigung dieser Bedürfnisse

123
(und auch die Beschwichtigung dieser Befürchtungen und Ängste) un-
ter Bedingungen erwarten, auf die sie zwar nicht als wirkliche Erfah-
rungstatsachen verweisen kann, die sie aber als mögliche präsentiert.
Dieser Rekurs auf mögliche Handlungsbedingungen, die erfahrene
wirkliche außer Kraft gesetzt haben, machen utopische Sinnbildungen
als überschwenglich-reiche zugleich auch überschwenglich-arm, - arm
gegenüber dem Reichtum der Erfahrung dessen, was der Mensch ist
und war. (In dieser Armut liegt auch der totalitäre Charakter bestimm-
ter Utopieformen, der immer dann manifest wird, wenn aus dem spie-
lerisch fiktionalen Außerkraftsetzen der Erfahrung gegebener Hand-
lungsbedingungen der Ernst einer politischen Praxis wird).
Utopisches Bewußtsein basiert auf einem Überschuß von Bedürf-
nissen über die jeweils gegebenen Mittel zu ihrer Befriedigung. Es hat
die lebensweltlichc Funktion, menschliches Dasein an Vorstellungen
zu orientieren, die grundsätzlich über das hinaus sind, was empirisch
der Fall ist. Utopien erfüllen dieTraumfunktion des menschlichen Be-
wußtseins dort, wo es um eine bewußte (wache) Artikulation hand-
lungsleitender Vorstellungen wünschbarer Lebensverhältnisse geht.
Utopien gehören also zu den Träumen, die Menschen mit der ganzen
Anstrengung ihres Geistes träumen müssen, um es im nüchternen Zu-
stand erfahrungsgeleiteter Lebensfristung mit sich selbst und ihrer
Welt aushalten zu können. Wer diese Träume verbietet, weil sie über-
heblich sind, und, unmittelbar in Praxis übersetzt, zerstörerisch wir-
ken und die intendierte Freiheit von Restriktionen der Wunscherfül-
lung in institutionalisierte Zwänge verordneter Wunscherfüllung um-
schlagen lassen, - wer sie aus diesen Gründen ablehnt, beraubt das Le-
ben der lebensnotwendigen Überschwenglichkeit der Hoffnung.
Ohne solcheTräume würden die Menschen zugrunde gehen; denn mit
ihrer Verhinderung würde ein lebenswichtiger Quell von Handlungs-
motivationen austrocknen. Weil menschliches Handeln ohne den In-
tentionalitätsüberschuß seiner Subjekte über die gegebenen Bedin-
gungen und Umstände ihres Handelns gar nicht gedacht werden
kann,105 muß man wohl sagen, daß es nichts Unrealistischeres gibt, als
eine anti-utopische Beschränkung menschlicher Lebensabsichten auf
die Realität.
Andererseits würde freilich dieser Intentionalitätsüberschuß, den
das utopische Bewußtsein realisiert, sich im Nirgendwo jenseits realer
Handlungsbedingungen verlieren, d.h. überhaupt nicht mehr als
Handlungsintention wirken können, also schlicht sich selbst negieren.

124
wenn er im utopischen Status seinerVermittlungslosigkeit mit den em-
pirischen Bedingungen des menschlichen Handelns verbliebe. Das
utopische Bewußtsein ist um der Erfüllung seiner ureigenen Funktion
der Daseinsorientierung willen darauf angewiesen, als utopisches kriti-
siert zu werden.
Damit kommt das historische Denken ins Spiel. Es ist grundsätzlich
utopiekritisch, weil es den Intentionalitätsüberschuß des menschli-
chen Handelns an die akkumulierten Erfahrungen davon zurückbin-
det, was menschliches Handeln im Laufe der Zeit bewirkt und nicht
bewirkt hat. Es unterwirft die überschwenglichen Hoffnungen, mit de-
nen Utopien vom Reich der Freiheit träumen, im Reich der Notwen-
digkeit der domestizierenden Kraft der Erinnerung an das, was der
Fall war. Es ernüchtert utopische Sinnbildungen, um den dort entwik-
kelten Vorstellungen davon, was der Fall sein soll, den Boden unter
den Füßen zu verschaffen, den sie brauchen, um Faktoren der Hand-
lungssteuerung zu sein. Das Geschichtsbewußtsein bringt in den
Orientierungsrahmen der menschlichen Praxis die Erfahrung ein, die
das utopische Denken um der Kraft der Hoffnung willen überspringt
und außer Kraft setzt. Geschichtsbewußtsein dämpft also Erwartungs-
überschüsse in Handlungsabsichten; entsprechend unbeliebt machen
sich Historiker bei denen, die dazu neigen, um der Zukunft des ganz
Anderen willen zu vergessen, wie anders gegenüber diesem Anderen
bisher die Vergangenheit war. Das historische Denken kehrt das Reali-
tätsprinzip der Erfahrung gegen das Lustprinzip überschwenglicher
utopischer Bedürfnisartikulationen. Dem Reiz der von restringieren-
den Realisationschancen entblößten Vorstellungen wünschbarer Wel-
ten setzt es die Zucht eines Erfahrungskleides entgegen, in das es die
dominierenden Handlungsabsichten der gegenwärtigen Lebenspraxis
einhüllt, indem es sie auf die Probe des Exempels derVergangenheit
stellt.
Bleibt damit im spezifisch historischen Orientierungsrahmen der ak-
tuellen Lebenspraxis kein utopisches Element von Sinnbildung mehr
übrig? Diese Frage mag diejenigen, die ihre Bedürfnisse durch strenge
Artikulationszensur in den Grenzen gegebener Realisationschancen
halten möchten, nicht weiter beunruhigen (obwohl ihre Träume sie ei-
nes besseren belehren könnten). Hielte sich das Geschichtsbewußt-
sein die Sinnpotentiale überschwenglicher Bedürfnisartikulationen
vom Leibe, würde es die menschliche Lebenspraxis um ein Element
von Zukunft betrügen, ohne das sie letztlich unmenschlich würde. Was

125
wäre die Orientierungsleistung des historischenWissens ohne den Er-
wartungsüberschuß im menschlichen Zeitverhältnis, der allem utopi-
schen Denken konstitutiv zugrunde liegt?Wenn die Historie sich dabei
beruhigen könnte, sich zur Utopie so kritisch zu verhalten wie in der
Freudschen Psychoanalyse das Realitätsprinzip zum Lustprinzip,
dann muß sie sich die Frage gefallen lassen: Was wäre ein Mensch, der
über dem Realitätsprinzip der historischen Daseinsorientierung seine
Lust am Dasein verloren hätte?
Die Frage ist also, ob die Historie nicht ihrerseits von dem Erwar-
tungsüberschuß in ihren Sinnbildungen lebt, den sie an der Utopie kri-
tisiert. Man kann schon deshalb diese Frage nicht verneinen, weil auch
das historische Denken die Realität gegebener Lebensumstände und -
Verhältnisse nicht so läßt, wie sie zunächst und augenscheinlich da ist.
Schließlich bringt es diese Realität in die Bewegung einer Geschichte.
Die Historie übersteigert die gegenwärtigen Lebensverhältnisse in ver-
gangene. Sie läßt die Gegenwart in die Vergangenheit vergehen, die in
ihr immer schon, wenn auch nicht als Vergangenheit, gegenwärtig
ist.106 Sie tut dies, um Gegenwartserfahrungen, die Handlungsabsich-
ten und Zukunftserwartungen nicht entsprechen, die quer liegen zur
intentionalen Ausrichtung des menschlichen Handelns im Strom der
Zeit, so zu deuten, daß Erfahrungen und Absichten zueinander pas-
sen. Das historische Denken bringt die empirischen Handlungsbedin-
gungen, die die Utopie als wirkliche zugunsten anderer möglicher
überspringt, in die Bewegung einer Zeitverlaufsvorstellung, die in die
Vergangenheit zurückreicht und in die Zukunft vorgreift. In dieser Be-
wegung werden gegebene Handlungsbedingungen hineingerissen in
einen Zeitverlauf, in dem Handeln bedürfnisgetrieben und absichts-
voll über das hinausgeht, was realiter der Fall ist.
Der Anstoß zu dieser Bewegung kommt natürlich nicht von den
Handlungsumständen, sondern von den Absichten und Erwartungen,
die über das, was der Fall ist, hinausgehen auf das hin, was sein soll. In-
sofern wird die Historie vom gleichen Intentionalitätsüberschuß zu ih-
ren Orientierungsleistungen getrieben wie die Utopie. Nur schlägt sie
aus dem Überschuß von Handlungsabsichten über Handlungsbedin-
gungen, von Bedürfnissen über die Mittel ihrer Befriedigung, nicht
den utopischen Funken einer Erwartung des ganz Anderen, sondern
den historischen Funken einer Erinnerung, daß es einmal anders war.
Das soll nun nicht heißen, daß die Historie bloß eine zeitverkehrte,
eine rückwärtsgewandte Utopie ist. Eine solche Auffassung würde den

126
konstitutiven Bezug des historischen Denkens auf die Erinnerung als
Erfahrungsreservoir unterschlagen. Das Andere der Erinnerung, zu
dem das historische Denken, angestoßen von der gleichen Transzen-
dierungskraft handlungsleitender Intentionalität wie die Utopie, vor-
stößt, ist nicht das Andere einer erfahrungsleeren Möglichkeit, die mit
Sehnsucht, Angst, Hoffnung oder wie immer gefüllt werden kann, son-
dern das Andere der Wirklichkeit selber, wie es durch die Erinnerung
als Vergangenheit vergegenwärtigt wird.
Das historische Denken wird utopiekritisch nicht dadurch, daß es
den Überschwang der Hoffnung an den restriktiven Bedingungen zu-
schanden werden läßt, unter denen sie in gegebenen Verhältnissen nur
realisiert werden kann. Es richtet vielmehr diesen Überschwang als
Frage an die Erinnerung, um mit ihrem Erfahrungspotential die gege-
benenVerhältnisse hinsichtlich ihrer Beweglichkeit im Fluß der Zeit zu
interpretieren. Und es interpretiert die Gegenwart im Bild derVergan-
genheit so, daß sich die gegenwärtig gegebenen Handlungsbedingun-
gen (als zeitlich bewegte) dem Vorgang ihrer Überschreitung durch ab-
sichts- und erwartungsvolles Handeln einfügen. Dabei büßt der Hoff-
nungsüberschwang handlungsleitender Absichten und Erwartungen
mancherlei ein. Seine utopische Artikulation erhält das Beiwort .nur'.
Er wird aber keineswegs zunichte, da er ja die restringierenden Ver-
hältnisse in den Formen des historischen Bewußtseins als Verhältnisse
deutet, die sich ändern. Er erhält das Gewicht erfahrungsgesättigter
Erinnerung: Die Historie kann Hoffnung geduldig und zäh machen.
Sie transformiert den Überschwang der Utopie in den Überschuß von
Erwartungen und Absichten, der den Erfahrungsreichtum derVergan-
genheit für sich hat.
Die Sinnbildungsarbeit des Geschichtsbewußtseins ist selber utopie-
bedürftig: Die Deutungsarbeit an der Erfahrung derVergangenheit be-
darf eines Anstoßes, der aus dem Intentionalitätsüberschuß des
menschlichen Handelns über seinen Erfahrungshorizont hinaus her-
rührt. In den leitenden Sinnkriterien, mit denen das Geschichtsbe-
wußtsein die Erfahrung derVergangenheit deutet, steckt etwas vom
Geist, der auch die Utopie beseelt. Auch das historische Denken ist
von Vorstellungen einer menschlichen Lebensordnung in der Zeit ge-
leitet, die die jeweils aktuellen Handlungsbedingungen übersteigen.
Allerdings unterscheidet es sich vom utopischen dadurch, daß es die
Wirklichkeit gegenwärtiger Lebensumstände nicht fiktionalisiert, son-
dern historisiert. Und der Unterschied zwischen beiden besteht darin,

127
daß durch die Historisierung das intendierte Anderssein des Menschen
im Verlauf der Zeit als möglich beziehungsweise erwartbar erscheint.
Hier liegt eine fundamentale Differenz zwischen den historischen
Sinnkriterien einer allgemeinen Zeitverlaufsvorstellung und der Uto-
pie des ganz Anderen.
Im Geschichtsbewußtsein verblassen die utopisch ausgemalten Bil-
der eines wünschbaren Andersseins. Denn die Historie richtet den An-
stoß zum Anderssein utopiekritisch in die Vergangenheit, um Vorstel-
lungen über Zeitverläufe zu gewinnen, in denen gegenwärtige Verhält-
nisse sich auf Erwartungen und Absichten realistisch ausrichten. Da-
mit verschwindet freilich die aus dem Intentionalitätsüberschuß des
menschlichen Lebens gespeiste Vorstellung eines Anderen nicht. Sie
verändert nur qualitativ ihre Konturen: Aus der erfahrungsenthobenen
Utopie wird eine erfahrungsgesättigte Alterität. Empirisch gegebene
Handlungsbedingungen werden nicht übersprungen, sondern hinsicht-
lich der in ihnen präsenten Vergangenheit in das Andere ihrer selbst
verwandelt.
Das historische Denken läßt mit der Kraft der Erinnerung im Status
quo gegebener Lebensumstände und -Verhältnisse ein Bild ihrer Ver-
änderung in derVergangenheit erscheinen, mit dem sich der Bann ih-
res So-und-nicht-anders-seins brechen läßt. Der Faktizitätsdruck ge-
genwärtiger Verhältnisse wird in dem Maße, wie er Handlungen durch
Lähmung ihres Intentionalitätsüberschusses hemmt, durch histori-
sches Denken aufgefangen und durch die Erinnerung zu handlungser-
möglichenden Vorstellungen zeitlichen Andersseins kanalisiert. Das
historische Denken alteriert die Gegenwart zu ihrer eigenen Vergan-
genheit und läßt in deren Widerschein eine Zukunft sichtbar werden,
die ohne überschwengliche Negation gegebener Handlungsbedingun-
gen erwartet und beabsichtigt werden kann.
Alterität ist die Melodie derVergangenheit, die das historische Be-
wußtsein den Lebensverhältnissen der Gegenwart vorspielt, um sie
zum Tanzen zu bringen. Sie müssen in die Bewegung diesesTanzes ge-
bracht werden, damit die von ihnen Betroffenen sie auch und gerade
dort als ihre eigenen ansehen können, wo sie über sie hinauswollen.
Sie müssen als Andersgewesene erscheinen, damit sie als Anderswer-
dende eingeschätzt werden können. Die Alterität des historischen Be-
wußtseins ist sozusagen der kulturelle Anlauf, den die Menschen neh-
men müssen, um über die gegebenen Bedingungen ihres Handelns so
hinaus zu gelangen, wie sie es utopisch gerne möchten, aber gerade

128
leshalb nicht schaffen, weil sie sie in der Utopie bloß fiktiv außer Kraft
;etzen, sie in Gedanken bloß negieren, aber nicht aufheben (im dop-
pelten Sinne des Wortes) können. Die Sinnbildungsleistung des Ge-
ichichtsbewußtseins läßt demgegenüber die Lebensumstände der Ge-
genwart in ihre eigene Vergangenheit hinein alterieren. Es hebt sie
larin auf, daß sie anders waren, als sie zu dem wurden, was sie jetzt
sind. Sie erscheinen in der Bewegung eines Zeitverlaufs, in dem sie
sich dauernd aufheben und von dem her auch ihre Aufhebung in der
Zukunft plausibel erscheint. Dafür möchte ich ein Beispiel nennen.
Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte" präsentiert die griechi-
sche Antike als weltgeschichtliche Kulturschöpfung. Burckhardt alte-
riert die Lebensverhältnisse seiner Gegenwart, die er als tiefgehenden
Kulturbruch, ja als Ende von Kultur überhaupt erfährt, in die Ur-
sprünge dessen hinein, was auf dem Spiele steht, um damit eine Hoff-
nung auf eine allgemeine Kulturerneuerung historisch plausibel zu ma-
chen.107
In der Regel sind es nicht gerade Historiker, die die Sehnsucht nach
dem Anderen formulieren, der sie durch die Erfahrung vom Anders-
werden in derVergangenheit realistische Handlungschancen erschlie-
ßen. Eher zeichnen sich große Historiker durch ihre Sensibilität für sol-
che Sehnsucht, für Veränderungen im Erwartungshorizont ihrer Zeit
und dann vor allem durch ihre Fähigkeit aus, diese Veränderungen im
Spiegel derVergangenheit zu deuten. In dieser Übertragung von zu-
kunftsgerichteten Erwartungen und Absichten auf die Erfahrung der
Vergangenheit besteht ja letztlich die Orientierungsfunktion der Histo-
rie. Dazu aber sind Deutungsmuster von Zeiterfahrungen notwendig,
die das historische Denken den zeitgenössischen Erwartungen und Ab-
sichten nicht einfach entnehmen kann, auf die es reagiert. Das zeigt
zur Genüge seine utopie-kritische Funktion. Es muß solche Deutungs-
muster in den komplizierten Prozessen der historischen Sinnbildung
selber hervorbringen. Dabei wirkt sich die für die Geschichte alsWis-
senschaft konstitutive Form vernünftigen Argumentierens aus. Ver-
nunft geht als regulative Idee einer humanen Umgangsform von Men-
schen miteinander in die leitenden Hinsichten ein, in denen die Ver-
gangenheit den Sinn einer praxisorientierenden und identitätsbilden-
den Geschichte gewinnt. Mit dieser Idee schärft die Geschichtswissen-
schaft den historischen Blick auf zeitliche Vorgänge in derVergangen-
heit, die sich als Manifestation einer solchen Vernunft deuten lassen,
zugleich aber auch belastet sie utopiekritisch handlungsleitende Hoff-

129
nungen und Sehnsüchte mit der Erfahrungsschwere von Unvernunft
(wobei diejenige Unvernunft besonders schwer wiegt, die sich im Na-
men der Vernunft ereignet hat).
In der für die Geschichte als Wissenschaft und für historische Bil-
dung maßgeblichen Idee menschlicher Vernunfttätigkeit steckt selber
eine Utopie: Die Vorstellung, daß sich die menschliche Gesellschaft in
der Form einer universellen wechselseitigen Anerkennung durch ratio-
nale Argumentation vollzieht. In die Form einer Alterierungsabsicht
gebracht, wird diese Vorstellung ent-utopisiert. Sie wird zur Suchbewe-
gung erfahrungsbezogenen historischen Denkens. Ist eine solche Ent-
Utopisierung von Vernunft die einzige Form, in der die historische Bil-
dung Vernunft als Sinnpotential in die Erinnerungsarbeit des Ge-
schichtsbewußtseins einbringen kann? Ist das Ende der Utopie und da-
mit ein Verzicht auf die sinnträchtigen utopischen Formen von Fiktio-
nalität in der Sinnbildung über Zeiterfahrung das letzte Wort einer von
der regulativen Idee menschlicher Vernunftpraxis geleiteten histori-
schen Erkenntnis?
Daran sind einige Zweifel angebracht. Reicht eigentlich die regula-
tive Idee von Geschichte als zeitlich sich erstreckende Universalisie-
rung von Anerkennung108 zur Alterierungsleistung der historischen
Erinnerung aus? Die Zeitorientierungsfunktion des historischen Den-
kens entspringt aus einer dem Menschen als Gattungswesen eigentüm-
lichen Divergenz von Erfahrung und Erwartung, aus der ewigen Un-
ruhe des menschlichen Herzens, wie Augustinus sagen würde. DerAl-
terierungsimpuls des historischen Denkens hängt in Art und Ausmaß
von dem Erwartungsüberschuß ab, auf den es kritisch reagiert, wenn
er sich utopisch formuliert. Nun gehört aber die utopische Formulie-
rung und die in ihm wirksame Fiktionalität von Zeitvorstellungen ge-
rade zur Stärke dieses Überschusses. Indem die Utopie Erfahrungen
von Handlungsschranken überspringt, treibt sie Erwartungen auf die
Spitze. Demgegenüber muß die Historie, was das von ihr freigesetzte
utopie-kritische Erfahrungspotential der Erinnerung betrifft, schwä-
cher sein. Sie bricht den Erwartungen die utopische Spitze ab, damit
diejenigen, die sie hegen, den Boden der Wirklichkeit nicht unter den
Füßen verlieren. Nur: wenn man (um im Bilde zu bleiben) gehen, also
handelnd seine Handlungsschranken aufheben will, um überschüssige
Bedürfnisse befriedigen zu können, dann muß man die Füße vom Bo
den heben können.
Mit anderen Worten bedarf die Historie ihrerseits der Utopie, damit

130
hr Utopie-Äquivalent, ihre Alterierung der Zeiterfahrung, seine
uinktion der Daseinsorientierung wirklich erfüllen kann. Erwartungs-
iberschüsse werden durch utopische Vorstellungen der anderen Welt
ils der eigentlich eigenen erst stark; ihr Überschwang setzt die Histo-
ie in ihr utopie-kritisches Recht ein und läßt sie neue Erfahrungsberei-
:he unter neuen Deutungshinsichten erschließen. Das Alterierungs-
jotential der Historie würde ohne Herausforderung durch positive
ind negative Utopien schrumpfen.
Was aber können Geschichte als Wissenschaft und historische Bil-
dung als utopische Bekräftigung der historischen Erinnerung bieten?
Streng genommen nur ein Prinzip von Vernunft als eine Form der Kom-
nunikation, die begrifflich verfaßt, erfahrungsbezogen, methodisch
geregelt, argumentativ bewegt und konsensorientiert ist. Auf Lebens-
praxis bezogen, ist es eine regulative Idee, also schwach hinsichtlich
der Stärkung von historischer Erinnerung zum Element und Faktor
handlungsbestimmender Daseinsorientierung und Identitätsbildung.
Sie kann diese Schwäche überwinden und erinnerungsstark werden,
wenn sie in Bildern vergangener Geschehnisse lebendig wird, wenn sie
(als universelles Prinzip) an partikularen Erfahrungsinhalten wirkli-
cher Vernunfttätigkeit sich konkretisiert, also in Geschichten auf-
scheint.
Aus der (a-historischen, prinzipiellen) regulativen Idee menschli-
cher Vernunfttätigkeit lassen sich historische Perspektiven zur Deu-
tung derVergangenheit ableiten. Sie eröffnen sich durch die Frage: Wie
vernünftig ist der Mensch im Laufe der Zeit geworden, oder besser:
was hat er im Laufe der Zeit aus seiner Vernunft gemacht? Diese Per-
spektiven sind abstrakt. Sie müssen an der historischen Erfahrung zu
vernünftigen einzelnen Geschichten konkretisiert werden. Die dazu
notwendigen partiellen Hinsichten fließen dem historischen Denken
aus dem jeweiligen Deutungsbedarf seiner Gegenwart zu. Diese par-
tiellen Hinsichten können nun die allgemeine Hinsicht der regulativen
Idee so in den Hintergrund treten lassen, daß sie historiographie-prak-
tisch nur noch wenig ausrichtet. Die allgemeine Vernunftidee muß also
immer wieder so aufs Partikulare bezogen werden, daß sie sich an ihm
entzünden kann. Was wäre geeigneter dafür als eine erfahrungsüber-
schießende Erwartung in der Form einer utopischen Formulierung?
Denn diese imaginiert ja Erfüllungen von Erwartungen, die ohne Re-
kurs auf je partikulare, als möglich entworfene Erfüllungsbedingun-
gen gar nicht imaginiert werden können.

131
Von der Sache her stellt aber jede Utopie eine Kritik an der Historie
dar, da sie deren Erfahrungsbezug als Schranke von Sinnbildung be-
zeichnet und überschreitet. Die Kritik hat zunächt einmal die guten
Gründe des Intentionalitätsüberschusses für sich, mit denen Men-
schen die gegebenen Tatsachen ihrer Lebensumstände behandeln.
Darüber hinaus aber treibt sie indirekt das Alterierungsstreben des
Geschichtsbewußtseins auf die Spitze, die die Historie vom Über-
schwang der Utopie abgebrochen hat. Indem sie wider den Stachel des
Erfahrungsbezuges lockt, lenkt sie den historischen Sinn aufs Äußer-
ste an Alterität und Erfahrung. Die Historie kann als Historie diese
Kritik an sich selbst nicht vollziehen und der verblassenden Alterität
ihrer Erinnerung mit den frischen Farben eines utopischen Über-
schwangs über die Zeiterfahrungen derVergangenheit aufhelfen. Sie
kann sich nur sensibel machen für die Anstöße zur Alterität, die aus
utopischem Überschwang im Erwartungshorizont ihrer Gegenwart er-
folgen können.
Zwischen Utopie und Historie, zwischen einer Sinnbildung über
Zeiterfahrung, die sich der Sinnpotentiale der erfahrungsübersteigen-
den Fiktionalisierung bedient, und einer Sinnbildung, die diese Fiktio-
nalität in den Erfahrungsgehalt von Zeitvorstcllungen ab- und wegar-
beitet, herrscht also die strukturelle Spannung einer wechselseitigen
Herausforderung und Kritik. Sie brauchen einander zur Realisation
ihrer eigenen Absichten, und sie realisieren ihre je spezifische Zeit-
orientierungsfunktion doch zugleich durch kritische Abgrenzung von-
einander. Läßt sich dieser Widerspruch zwischen ihrer inneren Ange-
wiesenheit aufeinander und ihrer kritischen Distanz voneinander auf-
lösen? Gibt es eine Synthese zwischen Überschwang und Erfahrung in
der zeitlichen Bewegung des menschlichen Daseins, die den Gegen-
satz zwischen Utopie und Historie in eine umfassende Einheit auf-
hebt? Es müßte sich bei dieser Synthese um ein Zeitphänomen han-
deln, in dem die Erfahrung gegebener Lebensverhältnisse selber er-
fahrungstranszendierend wäre. Restriktive Handlungsbedingungen
müßten gleichsam von selber den Blick frei geben auf den anderen Zu-
stand, der als der eigentlich eigene erscheint. Bezogen auf die Utopie
müßte es die Präsenz des Anderen im Eigenen sein, eine Erwartung
und Absicht, die ihre Erfüllung selber schon in sich hätte, so daß sie ei-
ner Negation von wirksamen Handlungsbedingungen nicht bedürfte
um angesichts möglicher anderer Handlungsbedingungen plausibel zu
sein. Bezogen auf die Historie müßte es eine Zeiterfahrung sein, in dei

132
iie Alterität derVergangenheit noch ein aktuelles, zukunftweisendes
Vtovens enthielte, - eine intentionale Bewegung, die über die gegen-
wärtig gegebenen Handlungsbedingungen hinausschießt und zugleich
die historische Erfahrung in Kraft setzt.
Eine solche Zeiterfahrung, die selber die Grenzen der Erfahrung
sprengt, ist ein Kairos. Kairos meint erfüllte Zeit.109 Um was für eine
Zeit es sich handelt, läßt sich am besten an der Schilderung eines Kai-
ros in der Beziehung zweier Menschen ablesen, die Robert Musil in
seiner Novelle „Die Vollendung der Liebe" gibt:
„Die Gegenstände hielten umher den Atem an, das Licht an der
Wand erstarrte zu goldenen Spitzen ... .Es schwieg alles und wartete
und war ihretwegen da; ... die Zeit, die wie ein endlos glitzernder Fa-
den durch die Welt läuft, schien mitten durch dieses Zimmer zu gehen
und schien plötzlich einzuhalten und steif zu werden, ganz steif und
still und glitzernd,... und die Gegenstände rückten ein wenig aneinan-
der. Es war jenes Stillstehen und dann leise Senken, wie wenn sich
plötzlich Flächen ordnen und ein Kristall sich bildet.... Um diese bei-
den Menschen, durch die seine Mitte lief und die sich mit einem mal
dieses Atemanhaltcn und Wölben und Um-sie-Lehnen wie durch tau-
sende spiegelnder Flächen ansahen und wieder so ansahen, als ob sie
einander zum ersten mal erblickten ... ." n0
Solche Augenblicke gibt es auch jenseits der Liebeserfahrung einzel-
ner Menschen. Es gibt sie in ,historischer' Form als besonders hervor-
gehobene Zeitspannen, in denen sich Sinn und Bedeutung zeitlicher
Veränderungen zu innerzeitlichen Momenten verdichten. .Eine' Zeit
erfüllt sich mit dem Sinn .der' oder .aller' Zeit; in einem Augenblick
des Handelns einer Generation verdichtet sich das Schicksal vieler Ge-
nerationen. Solch eine Zeiterfahrung bringt z. B.Thomas Paine zum
Ausdruck; er erlebt die amerikanische Revolution als Kairos der Welt-
geschichte und entsprechend gestaltet er sie (mit der Kraft seiner Rhe-
torik) mit:
„Unsere Gegenwart ist die besondere Zeit, die sich einer Nation nur
einmal bietet, die Zeit, sich eine Regierungsform zu geben ... . Wir ha-
ben die Möglichkeit und alle guten Gründe, die edelste und reinste Ver-
fassung auf dieser Erde zu vereinbaren. Es liegt in unserer Hand, die
Welt nocheinmal zu beginnen."111
,Erfüllt' ist die Zeit eines Kairos mit Vergangenheit und Zukunft. Sie
wird als Erfüllung des Versprechens derVergangenheit auf eine gelin-
gende Zukunft und als Erfüllung der in die Zukunft gerichteten Hoff-

133
nungen erfahren. Es ist eine Zeit, in der menschliches Handeln und
Leiden mit dem Pathos eines menschheitlichen Sinns vollzogen wird.
Die Gestaltung der Lebensumstände in dieser Zeit gilt als paradigma-
tisch für alle Zeit. In ihr heben sich die grundsätzlichen Unterschiede
zwischen dem ,nicht mehr' der Vergangenheit und dem .noch nicht'
der Zukunft auf in der Erfahrung des schlechthinnigen .Hier und
Jetzt'.
Jede Kultur, jede Bewegung, ja grundsätzlich auch jedes Indivi-
duum hat solche Kairos-Zeiten. Karl Jaspers hat für die ganze Mensch-
heit einen solchen Kairos in der ,Achsenzeit' ausgemacht; für die Pro-
testanten ist es die Formationsphase der Reformation, für die Marxi-
sten die Pariser Komune und natürlich die Oktoberrevolution. Die
Denkfigur des Kairos als Kategorie historischer Sinnbildung wurde im
frühen Christentum ausgebildet. Der christliche Kairos ist die zeitlich
definierte Leibhaftigkeit Gottes auf Erden. Die drei Jahre, in denen
Jesus von Nazaret die Nähe des Reiches Gottes lehrte und durch sein
Wirken selber vollzog, umgreifen in ihrer Bedeutung für die Christen
alle Zeit dieserWelt; deren historischer Sinn wird innerzeitlich - als be-
sondere Zeit des Kairos - sichtbar."2 Diese Kairosvorstellung ist inso-
fern klassisch, als sie besonders markant die innerzeitliche Überzeit-
lichkeit eines geschichtlichen Augenblicks demonstriert, in dem Uto-
pie und Alterität zu einem umgreifenden Gebilde zeitlichen Sinns zu-
sammenschießen.
Ein historiographisches Erzählen, das die Zeiterfahrung eines Kai-
ros vergegenwärtigt, vereinigt also historische Alterität und geschichts-
transzendierende Utopie in sich. Es bindet sie zur Einheit eines histori-
schen Augenblicks zusammen, der zwei wesentliche Eigenschaften
hat: Einmal kann er als reale Zeiterfahrung erinnert werden; er ent-
hält die Schwere der Handlungsbedingungen in sich, die die Historie
utopiekritisch zur Geltung bringt. Und zweitens geht er grundsätzlich
über diesen Erfahrungshorizont der historischen Erinnerung hinaus;
denn in ihm sind unter partikularen Handlungsbedingungen Absichten
realisiert, die über diese Bedingungen hinausreichen und die mit ei-
nem solchen Überschuß über ihre erfolgte Realisierung selber ge-
schichtlich wirksam geworden sind, ja überdies noch als zu realisie-
rende Zukunftsperspektiven gegenwärtiges Handeln orientieren.
Geschichten, die solche Augenblicke als kairos-artig hervorheben
und erinnern, gibt es: alle die (zumeist traditional erzählten) Geschich-
ten, die das Inkrafttreten von Lebensordnungen und -regeln schildern,

134
die noch gegenwärtiges Handeln zur Veränderung der Bedingungen
anleitet, in die sie in restringierter Form eingegangen sind. Das Sinn-
potential von Tradition wird in solchen Geschichten als Transzendie-
rungskraft der Lebensverhältnisse wirksam werden, in die diese Tradi-
tionen kulturell eingelagert sind. Ein gutes Beispiel könnte die Ge-
schichte der Menschen- und Bürgerrechte sein; sie könnte an einen
Kairos erinnern: Sie könnte erzählen, wie in einem weltgeschichtli-
chen Augenblick (am Ende des 18. Jahrhunderts) Elemente von Ver-
nunft politische Realität geworden sind, die sich einmal als nicht mehr
hintergehbar herausgestellt haben und die zugleich aber auch norma-
tive Übergriffe in die Zukunftsperspektive der gegenwärtigen Praxis
enthalten, - Sollensbestimmungen, denen sich niemand mit guten
Gründen entziehen kann. Solche Geschichten präsentieren histori-
sche Augenblicke als geschichtliche Erfahrungen mit Vernunftpraxis,
und sie deuten diese Erfahrungen so, als wäre die regulative Idee der
menschlichen Vernunftpraxis für sie konstitutiv gewesen.

135
Anmerkungen

Ich verweise auf die beiden vorhergehenden Teile dieser „Grundzüge einer
Historik" mit römischen und arabischen Zahlen ohne weitere Nachweise.Titel,
die in den Bibliographien der dreiTeile vorkommen, werden nur mit Verfasser-
namen, Kurztitel und Nummer des bibliographischen Abschnitts zitiert.

1 K. Lamprecht: Paralipomena der Deutschen Geschichte (1910), in: ders.:


Ausgewählte Schriften zur Wirtschafts- und Kulturgeschichte und zurTheo-
rie der Geschichtswissenschaft. Aalen 1974, S. 719-24, zit. S. 719.
2 Zur Entwicklung der Historik vgl. die zusammenfassenden Bemerkungen
von H.W. Blanke: Georg Andreas Wills „Einleitung in die historische Ge-
lahrtheit" (1766) und die Anfänge moderner Historik-Vorlesungen in
Deutschland, in: Dilthey-Jahrbuch für Philosophie und Geschichte der Gei-
steswissenschaften 2 (1984), S. 193-265. bes. S. 196-206. Ferner J. Rüsen:
Geschichtsschreibung alsTheorieproblem (14).
3 Vgl. 1,116 ff.
4 Brief an Körner vom 8. Januar 1788.
5 In: K. May: Der Geist der Llana estakado, hg v. B. Koscinszko. Stuttgart
1984, S. 49.
6 L. von Ranke: Die Idee der Universalhistone (1835), in: ders.: Vorlesungs-
einleitungen, hg. v. V Dotterweich;W. P. Fuchs (AusWerk und Nachlaß. Bd.
4) München 1975, S. 72.
7 Dazu II, 19 ff.
8 Ich zitiere aus Rankes Kritik an den (wie er meinte) „falschen Erzählungen"
Guicciardinis: L. von Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtschreiber. Leip-
zig 21874, S. 24.
9 Dazu J. Rüsen: Bemerkungen zu DroysensTypologie der Geschichtsschrei-
bung, in: R. Koselleck u. a. (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung (14),
S. 192-200.
10 Dazu im einzelnen I. 48 ff.
11 L. v. Ranke: Zur Kritik neuerer Geschichtschreibung (wie Anm. 8), S. 24.
12 Zu dieser Reflexion vgl. die bahnbrechende Untersuchung von H.-J. Pan-
del: Mimesisund Apodeixis(14).

136
Anmerkungen zu Seite 20-31

3 Dazu J. Rüsen: Bemerkungen zu DroysensTypologie der Geschichtsschrei-


bung, in: R. Koselleck u. a (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung (14),
S. 192-200;W. Schiffer:Theorien der Geschichtsschreibung (14).
4 Dokumentiert in F. Stern (Hg.): Geschichte und Geschichtsschreibung.
Möglichkeiten, Aufgaben, Methoden. Texte von Voltaire bis zur Gegen-
wart. München 1966, S. 214-252.
.5 In: J. Kocka;T. Nipperdey (Hg.):Theorie und Erzählung in der Geschichte
(Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik. Bd. 3). München 1979. S.
17-62.
L6 L. Stone:The Revival of Narrative: Reflections on a New Old History, in:
Past and Present 85 (1979), S. 3-24; E. J. Hobsbawm:The Revival of Narra-
tive: Some Comments, in: Past and Present 86 (1980), S. 3-8.
[7 L. E. Davies:The New Economic History. ACritique, in: R. L. Andreano
(Hg.): The New Economic History. Recent Papers on Methodology. New
York 1970, S. 65.
18 Die „Zeitschrift für Geschichtswissenschaft" hat dicsemThema ein ganzes
Heft gewidmet (ZfG 34 [1986], H. 2).
19 H. White: Metahistory (14),Tropics of Discourse (15),The Content of the
Form (15).
20 Ders.: Metahistory (14), S. 31 ff.
21 Vgl. dazu R. Barthes: Die Historie und ihr Diskurs (14): H. R. Jauss: Der
Gebrauch der Fiktion in Formen der Anschauung und Darstellung der Ge-
schichte, in: R. Koselleck u. a. (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung
(14), S. 415-451.
22 Typisch dafür z. B. H. v. Sybel: Über die Gesetze des historischenWissens
(1864), in: ders.: Vorträge und Aufsätze. Berlin 1874. S. 1-20.
23 So z. B. Roland Barthes: Die Historie und ihr Diskurs (14).
24 Siehe oben S. 20 und Anm. 9.
25 Zu Hegels Ästhetik vgl. meine Interpretation in J. Rüsen: Ästhetik und Ge-
schichte (15). S. 41 ff.
26 Ich denke vor allem an Kants „Kritik der Urteilskraft" (1790) und Schillers
„Über die ästhetische Erziehung des Menschen, in einer Reihe von Briefen"
(1795).
27 Werke, hg. v. B. Suphan, Bd. 11, S. 76.
28 Siehe oben S. 27.
29 Das heißt nicht, daß von utopischen Sinnkonstrukten nicht produktive Im-
pulse für die Geschichtsschreibung ausgehen können. Siehe dazu unten.
S. 121 ff.
30 Zur Topik und Rhetorik allgemein vgl. den instruktiven Überblick von L.
Fischer: Topik. Rhetorik, in: H. L. Arnold; V Sinemus (Hg.): Grundzüge
der Literatur- und Sprachwissenschaft. Bd. 1: Literaturwissenschaft. Mün-

137
Anmerkungen zu Seite 32-51

chen 1973, S. 134-156, 157-164. Ferner grundlegend: Bornscheuer: Topik


(15). Einen Überblick über die neuere (westdeutsche) Diskussion geben
Breuer; Schanze (Hg.):Topik (15).
31 D. Harth: Strukturprobleme der Literaturwissenschaft, in: ders.; P. Geb-
hardt (Hg.): Erkenntnis der Literatur. Theorien, Konzepte, Methoden der
Literaturwissenschaft. Stuttgart 1982, S. 7.
32 Zu diesem Begriff (und seiner Problematik) vgl. II, 13 f.
33 So erklärt - um nur ein einziges Beispiel zu nenne- die „Revue Historique"
im programmatischen Einleitungsaufsatz ihres ersten Heftes: „... chaque af-
firmation soit accompagnee de preuves. de renvois aux sources et de citat-
ions. tout en exclusant severement les generalites vagues et les deVeloppe-
ments oratoires ..." G. Monod, G. Fagniez: Avant propos. in: Revue Histo-
rique 1 (1876), S. l-4,za.S.2.
34 WieAnm.8
35 Vgl. dazu 1,48 ff.
36 Dazu schon 1, 72 ff.
37 Diskussionsbemerkung auf einerTagung der Evangelischen Akademie Loc-
cum.
38 G. Ritter: Luther. Gestalt undTat. Zuerst 1925; unverändert 1943 und 1959
Ich zitiere ausderTaschenbuchausgabe, Stuttgart 1962.
39 Das .Geheimnis', das Luther der historischen Betrachtung bietet und durch
die historische Betrachtung als Aufschluß über deutsche Identität und
christliche Gläubigkeit entschlüsselt werden kann, durchzieht wie ein Leit-
faden sprachlich Ritters Werk (14, 24, 32, 182, 195 u. ö.).
40 Eindrucksvoll beschrieben von R. Koselleck: Historia magistra vitae. Über
die Auflösung desTopos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in:
ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten. Frank-
furt 1979, S. 38-66.
41 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges, eingel. u. übertr. v.
G. P. Landmann. Zürich/München 1976,1, 22.
42 Vgl. dazu J. Rüsen: Von der Aufklärung zum Historismus. Idealtypische
Perspektiven eines Strukturwandels, in: H.-W. Blanke; J. Rüsen (Hg.):Von
der Aufklärung zum Historismus. Zum Strukturwandel des historischen
Denkens. Paderborn 1984, S. 15-58.
43 H. Mommsen: Die Last derVergangenheit, in: J. Habermas (Hg.): Stich-
worte zur ,Geistigen Situation der Zeit'. Bd. 1: Nation und Republik.
Frankfurt/M. 1979, S. 164-184, zit. S. 167.
44 So z. B. im „Essai sur les moeurs et l'esprit des nations".
45 Vgl. J. Rüsen: Historische Aufklärung im Angesicht der Post-Moderne: Ge-
schichte im Zeitalter der „neuen Unübersichtlichkeit", in: Streitfall deut-
sche Geschichte. Geschichts- und Gegenwartsbewußtsein in den 80er Jah-

138
Anmerkungen zu Seite 51-76

ren, hg. v. d. Landeszentrale f. politische Bildung NRW. Essen 1988, S.


17-38.
6 Dazu M. Frank: Was ist Neostrukturalismus? Frankfurt 1984
7 Zur Diskussion vgl. U. A. J. Becher; J. Rüsen (Hg.): Weiblichkeit in ge-
schichtlicher Perspektive. Fallstudien und Reflexionen zu Grundproble-
men der historischen Frauenforschung. Frankfurt 1988.
8 Vgl. J. Rüsen: Fortschritt. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Frag-
würdigkeit einer historischen Kategorie, in: Geschichte lernen. Geschichts-
unterricht heute 1 (1987), H. 1, S. 8-12.
19 Ansätze dazu in: J. Rüsen: Die vierTypen (15), S. 563 ff.
iO Vgl. 1,113 ff.
il Vgl. W Schulze: Formen der Präsentation von Geschichte (14).
i2 Dazu 1,98 ff.
»3 Dazu 1,85 ff.
>4 Soz. B. beiA. Heuß: Verlust der Geschichte. Göttingen 1956.
>5 Ich verstehe unter Ideologie eine gedanklich-begriffliche Weltanschauung
mit unbedingtem Geltungsanspruch für die Orientierung der Lebenspraxis.
Im Unterschied zu Religion rekurriert sie exklusiv auf profane Erfahrun-
gen, und zumeist billigt sie der Wissenschaftlichkeit des Denkens eine uni-
verselle Erklärungs- und Orientierungsfähigkeit zu.
56 Z. B. H.-U. Wehler: Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Bisher 2 (von 4)
Bde. München 1987 ff. Hier finden sich die entsprechenden Passagen in der
Einleitung (Bd. 1, S. 6-31).
57 A. L. Schlözer: Vorstellung seiner Universalhistorie. Göttingen 1772.
58 Z. B. J. Kocka: Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbil-
dung in Deutschland 1800-1875. Berlin 1983.
59 Zur Unterscheidung offener und geschlossener Formen vgl. V. Klotz: Ge-
schlossene und offene Form im Drama. München 41969.
60 The Works of Francis Bacon, hg. v. Speddingu. a. Bd. 3. ND Stuttgart 1963,
S. 498. Vgl. W. Krohn: Francis Bacon. München 1987, S. 173.
61 W. Iser: Der implizite Leser. Kommunikationsformen des Romans von
Bunyan bis Beckett. München 21979.
62 So vor allem H.-D. Schmid (Hg.): Fragen an die Geschichte. 4 Bde. Frank-
furt 1974.
63 O. Negt; A. Kluge: Geschichte und Eigensinn. Frankfurt 1981 u. ö.
64 W. Raabe: Das Odfeld, in: Sämtl. Werke, hg. v. K. Hoppe. Göttingen 1960
ff. Bd. 17, S. 28
65 Novalis: Fragment 1515, in: ders.:Werke, Briefe, Dokumente, hg. v. E.Was-
muth. Bd. 2: Fragmente I. Heidelberg 1957, S. 402.
66 Der sogenannte .Historikerstreit' zeigt das Gesagte überdeutlich: Seine
Schärfe beruht nicht zuletzt darauf, daß es keine Regeln des fachwissen-

139
Anmerkungen zu Seite 78-87

schaftlichen Diskurses zu geben scheint, die die politischen Voraussetzun-


gen, Implikationen und Verwendungsmöglichkeiten historischer Erkennt-
nis (oder Erkenntnisansprüche) umgreifen. Die Entrüstung über politische
Kritik bei Historikern, die den politischen Gehalt ihrer Interpretationen we-
der reflektieren noch eingestehen wollen, ist ohne dieses Manko nicht ver-
ständlich. Die Freiheit derWissenschaft ist weniger ein Schutz vor einer po-
litischen Reflexion historischer Aussagen, sondern ein Modus dieser Refle-
xion selber. Das heißt freilich zugleich, daß dieser Modus selber kein primär
politischer ist. sondern den Regeln verpflichtet ist. die Zustimmung von
Machtzwängen entlasten und an Einsicht binden.
67 Vgl. den knappen Überblick bei H.W. Blanke (Anm. 2), vor allem aber H.-
J. Pandel: Historik und Didaktik (16).
68 Vgl. dazu den Überblick: J. Rüsen:W. Schulze: Historische Methode (10).
69 J. G. Droysen: Historik, hg. v. R Leyh (4), S. 253 f.
70 Dazu J. Rüsen: Aufklärung und Historismus - Historische Prämissen und
Optionen der Geschichtsdidaktik (16).
71 Dazu bahnbrechend R. Schörken: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbe-
wußtsein (16) und K.-E. Jeismann: Didaktik der Geschichte (16).
72 DazuJ. Rüsen: Didacticsof History (16).
73 In der Regel beginnen systematisch angelegte Geschichtsdidaktiken mit Hi-
storik; so zuletzt J. Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik (16). Das ist nicht
unproblematisch, da allzuschnell die ursprüngliche und fundamentale Di-
mension übersehen wird, in der sich historisches Lernen vollzieht. Allzu-
schnell wird es in seiner Eigenart und Funktion von der wissenschaftlichen
Form des historischen Erkennens abgeleitet. Vgl. meine Kritik: Juste milieu
-geschichtsdidaktisch. in: Geschichte lernen 1 (1988), H. 2. S. 6-7.
74 Soz. B. bei R. Rohlfes: Geschichte und ihre Didaktik (16).
75 In der heute kaum bekannten und noch viel weniger im fachlichen Selbstver-
ständnis der Geschichtswissenschaft berücksichtigten Tradition geschichts-
didaktischen Denkens. Vgl. H.-J. Pandel: Historik und Didaktik. Das Pro-
blem der Distribution historiographisch erzeugten Wissens in der deutschen
Geschichtswissenschaft von der Spätaufklärung zum Frühhistorismus
(1765-1830)(16).
76 Vgl. J. Rüsen: Ansätze zu einerTheorie des historischen Lernens I (16), bes.
S. 249 ff.
77 M. Weber: Parlament und Regierung im neugeordneten Deutschland, in:
ders.: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914-1918, hg. v.W J.
Mommsen (Max-Weber-Gesamtausgabe 1/15).Tübingen 1984, S. 449 ff.
78 B. Brecht: Leben des Galilei, 14. Abschnitt (in: ders.: Werke. Große Berli-
ner und Frankfurter Ausgabe, Bd. 5). Berlin u. Weimar; Frankfurt 1988. S.
284 f.

140
Anmerkungen zu Seite 89-109

79 Dazu II, 55 ff.


SO Vgl. IL 63 ff.
81 K.- E. Jeismann: Didaktik der Geschichte (16), S. 63
82 Dazu 1,76 ff.
83 M.Weber: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre (4), S. 600.
84 Eine solche Ausrichtung sehe ich bei H. Jung / G. von Staehr: Historisches
Lernen. 2 Bde.. Köln 1983 u. 1985.
85 Diese Unterscheidung entspricht der Gliederung der Operationen des Ge-
schichtsbewußtseins, die K.-E. Jeismann in seiner Didaktik des Geschichts-
unterrichts als wesentliche Lernoperationen vorgeschlagen hat: Analyse,
Sachurteil. Wertung. Ich glaube, daß .Erfahrung. Deutung und Orientie-
rung' umfassender und fundamentaler sind, also auch nicht nur engere ko-
gnitive Bereiche des Geschichtsbewußtseins ansprechen, um die es Jeis-
mann vor allem zu gehen scheint. Siehe K.-E. Jeismann: Grundfragen des
Geschichtsunterrichts, in: G. C. Behrmann / K.-E. Jeismann / Hans Süß-
muth: Geschichte und Politik. Didaktische Grundlegung eines kooperati-
ven Unterrichts. Paderborn 1978, S. 76-107, bes. S. 76 ff. Ferner K.-E. Jeis-
mann: Geschichte als Horizont der Gegenwart (16), S. 61 ff.
86 So hat z.B. H.-G. Schmidt drei Stufen des Exemplarischen aufgewiesen und
beschrieben: Exemplarisches historisches Erzählen, in: Geschichtsdidaktik
10 (1985), S. 279-287. Vgl. auch seinen ersten Bericht über empirische Un-
tersuchungen narrativer Sinnbildungen von Kindern und Jugendlichen:
„Eine Geschichte zum Nachdenken". Erzähltypologie, narrative Kompe-
tenz und Geschichtsbewußtsein: Bericht über einen Versuch der empiri-
schen Erforschung des Geschichtsbewußtseins von Schülern der Sekundar-
stufe I (Unter- und Mittelstufe), in: Geschichtsdidaktik 12 (1987), S. 28-35.
87 S. dazu denVorschlag von I. Rüsen: „Das Gute bleibt-wie schön!" Histori-
sche Deutungsmuster in der Werbung, in: Geschichte lernen 1 (1987), H. 1,
S. 27-36.
88 M.Weber: Die .Objektivität'sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer
Erkenntnis (1904), in: ders.: Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre.
Tübingen 31968. S. 146-214.
89 Vgl. J. Rüsen: Fortschritt. Geschichtsdidaktische Überlegungen zur Frag-
würdigkeit einer historischen Kategorie, in: Geschichte lernen, H. 1, De-
zember 1987, S. 8-12.
90 Vgl. 1,85 ff.
91 Ich erinnere z. B. an den Berliner Antisemitismusstreit (Vgl. W. Boehlich
[Hg.]: Der Berliner Antisemitismusstreit. Frankfurt 21988) und an die Aus-
einandersetzung um Gervinus' historische Beurteilung der Reichsgrün-
dung. (Vgl. W. Boehlich [Hg.]: Der Hochverratsprozeß gegen Gervinus.
Frankfurt/M. 1967. Dazu J. Rüsen: Gervinus' Kritik an der Reichsgrün-

141
Anmerkungen zu Seite 109-126

düng. Eine Fallstudie zur Logik des historischen Urteils, in: H. Berding u.
a. (Hg.): Vom Staat des Ancien Regime zum modernen Parteienstaat. Fest-
schrift f.Theodor Schieder. München 1978, S. 313-329.
92 Vgl.Anm.66.
93 Siehe oben. S. 70 ff.
94 Siehe dazu 1.116 ff.
95 T. Mommsen. Brief vom 8. März 1896, zit. v. A.Wucher: Theodor Momm-
sen. Geschichtschreibung und Politik. Göttingen 21968, S. 50.
96 Einige Argumente dazu in: J. Rüsen: Menschenrechte für alle? Über die
Universalität und Kulturabhängigkeit der Menschenrechte, in: Perspekti-
ven. Zeitschrift für Wissenschaft. Kultur und Praxis 2 (1986), H. 7, S. 5-9.
97 L. von Ranke: Über die Epochen der neueren Geschichte. Historisch-kri-
tische Ausgabe, hg. v.T. Schieder/H. Berding (AusWerk und Nachlaß, Bd.
2). München 1971, S. 80.
98 Zum Problemkomplex vgl. J. Rüsen; W. Ernst: T. Grütter / (Hg.): Ge-
schichte sehen. Beiträge zur Ästhetik historischer Museen (Geschichtsdi-
daktik. Studien. Materialien NF. Bd. 1). Pfaffenweiler 1988. Ein beson-
ders markantes Beispiel für eine vom Historischen abgespaltene Ästhetik
ist der Hitler-Film von H.-J. Syberberg. Der Beifall, den dieser Film in der
Kunstkritik gefunden hat. gilt seiner Rettung des ästhetischen Eigensinns
in der Artikulation und Be-Deutung der historischen Erfahrung. Unüber-
sehbar steht jedoch auf der anderen Seite die ästhetische Faszination, die
von der ungehemmten Macht der Bilder bei derVergegenwärtigung histo-
rischer Erfahrungen ausgeht, in einem tief gebrochenen Verhältnis zu den
politischen und kognitiven Inhalten, die zugleich mittransportiert und ver-
mittelt werden. Siehe dazu S. Friedländer: Kitsch und Tod. Der Wider-
schein des Nazismus. München 1984. A. Kaes: Deutschlandbilder. Die
Wiederkehr der Geschichte als Film. München 1987.
99 T. Mann: Betrachtungen eines Unpolitischen. Frankfurt 1956.
100 Vgl. J. Rüsen: Ästhetik und Geschichte (15).
101 S. oben S. 70 ff.
102 Micky Maus Nr. 43, 24. Oktober 1978.
103 Novalis: Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren (in: ders: Werke, Briefe,
Dokumente (wie Anm. 65). Bd. 1: Die Dichtungen). Heidelberg 1957. S.
461.
104 Zur Spielbreite des Utopischen vgl. W Voßkamp (Hg.): Utopieforschung.
Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie. 3 Bde. Stuttgart 1982,
Frankfurt 21986. Den folgenden Überlegungen liegt mein Beitrag: Ge-
schichte und Utopie (ebd.. Bd. 1. S. 356-374) zugrunde.
105 S. dazu 1,70.
106 S. dazu 1,72 ff.

142
Anmerkungen zu Seite 128-134

07 Vgl. dazu J. Rüsen: Die Uhr, der die Stunde schlägt. Geschichte als Prozeß
der Kultur bei Jacob Burckhardt, in: K.-G. Faber/C.Meier (Hg.): Histori-
sche Prozesse (Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik, Bd. 2).
München 1978, S. 186-217. Ferner die tiefschürfende und anregende Unter-
suchung von E. Flaig: Angeschaute Geschichte. Zu Jacob Burckhardts
„Griechische Kulturgeschichte". Rheinfelden 1987.
08 Siehe dazu 1.115 ff.
09 Vgl. P.Tillich: Kairos und Utopie, in: ders.: Auf der Grenze. Aus dem Le-
benswerk PaulTillichs. München 1962, S. 120-128; ders.: Die politische
Bedeutung der Utopie, in: ders.: Für und wider den Sozialismus. München
1969, S. 135-184; ders.: Kairos und Logos. Eine Untersuchung zur Meta-
physik des Erkennens, in: ders. (Hg.): Kairos. Zur Geisteslage und Gei-
steswendung. Darmstadt 1926, S. 23-76.
10 In: R. Musil: Sämtliche Erzählungen. Hamburg 1968, S. 175.
111 T. Paine: Common Sense, in: A. u.W P.Adams (Hg.): Die Amerikanische
Revolution und die Verfassung 1754-1791. München 1987, S. 235.
[12 Vgl. O. Cullmann: Christus und die Zeit. Die urchristliche Zeit- und Ge-
schichtsauffassung. Zolikon/Zürich 1946

143
Literaturhinweise

Die Numerierung der Abschnitte schließt an die beiden vorhergehenden Bände


an. Auch jetzt kann ich keine repräsentativen oder gar erschöpfenden Angaben
zur einschlägigen Literatur machen, sondern nur dieTitel nennen, die für mich
wichtig geworden sind oder die einen Zugang zur weit verzweigten Diskussion
der angesprochenenThematik versprechen.

14. Geschichtsschreibung, allgemein

Barthes, R.: Die Historie und ihr Diskurs, in: Alternative 11 (1968). S. 171-180.
Canary, R H . ; Kozicki.H. (Hg.):ThcWritingof History.Literary Form and Hi-
storical Understanding. Madison 1978
Harth. D.: Geschichtsschreibung, in: K. Bergmann u. a. (Hg.): Handbuch der
Geschichtsdidaktik. Düsseldorf ?1985, S. 156-159
LaCapra, D.: Geschichte und Kritik. Frankfurt 1987 (besonders die Kapitel:
..Rhetorik und Geschichte" und „Geschichte und Roman")
Lypp. B.: Über drei verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben (Bemerkun-
gen zur Logik des historischen Diskurses im Hinblick auf Nietzsche), in: Lite-
raturmagazin 12 (1980). S. 287-316.
Koselleck, R.; Lutz, H.; Rüsen, J. (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung
(Theorie der Geschichte, Beiträge zur Historik, Bd. 4). München 1982
Pandel, H.-J.: Mimesis und Apodeixis. Mimetische und diskursive Erkenntnis
in den Theorien der Geschichtsschreibung im zweiten Drittel des 19. Jahr-
hunderts. Habil. Sehr. Osnabrück 1985 (i. Dr.)
Röttgers. K.: Der kommunikative Text und die Zeitstruktur von Geschichten.
Freiburg 1982
Rossi. P. (Hg.):Theorie der modernen Geschichtsschreibung. Frankfurt 1987
Rüsen, J.: Geschichtsschreibung als Theorieproblem der Geschichtswissen-
schaft. Skizze zum historischen Hintergrund der gegenwärtigen Diskussion,
in: R. Koselleck; H. Lutz; J. Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschrei-
bung, S. 14-35
Rüsen, J.: Die vierTypen des historischen Erzählens, in: R. Koselleck; H. Lutz;
J. Rüsen (Hg.): Formen der Geschichtsschreibung, S. 514-605 (eine knappe

144
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in: H.-U. Gumbrecht u. a. [Hg.]: La Litterature Historiques des Origines ä
1500 [Grundriß der romanischen Literaturen des Mittelalters, Bd. 11/1]. Hei-
delberg 1986, S. 40-49)
Schiffer, W: Theorien der Geschichtsschreibung und ihre erzähltheoretische
Relevanz. Danto, Habermas, Baumgartner, Droysen. Stuttgart 1980
Schulze, W: Formen der Präsentation von Geschichte, in: B. Mütter; S.
Quandt (Hg.): Historie, Didaktik. Kommunikation. Wissenschaftsge-
schichte und aktuelle Herausforderungen. Marburg 1988, S. 97-108
White, H.: Metahistory. The Historical Imagination in Nineteenth Century
Europe. Baltimore 1973

15. Zum Verhältnis von Geschichtsschreibung,


Literatur, Didaktik und Rhetorik

Breuer, D.; Schanze, H. (Hg.):Topik. Beiträge zur interdisziplinären Diskus-


sion. München 1981
Bornscheucr, L.: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft.
Frankfurt 1976
Gossman, L.: History and Literature, in: R. H. Canary; H. Kozicki (Hg.):The
Writing of History. Literary Form and Historical Understanding. Madison;
London 1978, S. 3-39
Hughes, H. S.: History as Art and as Science.Twin Vistasofthe Past. New York
1964
Jeismann, K.-E.: Quandt, S. (Hg.): Geschichtsdarstellung. Determinanten
und Prinzipien. Göttingen 1982
Koselleck. R.; Stempel, W.-D. (Hg.): Geschichte - Ereignis und Erzählung
(Poetik und Hermeneutik, Bd. 5). München 1973
Mink. L. O.: History and Fiction as Modes of Comprehension, in: R. Cohen
(Hg.): New Directions in Literary History. London 1974, S. 107-124
Quandt, S.; Süssmuth. H. (Hg.): Historisches Erzählen. Formen und Funktio-
nen. Göttingen 1982
Rüsen, J.: Ästhetik und Geschichte. Geschichtstheoretische Untersuchungen
zum Begründungszusammenhang von Kunst, Gesellschaft und Wissenschaft.
Stuttgart 1976
White, H.:Tropicsof Discourse. Essays in Cultural Criticism. Baltimore 1978
White. H.: The Content of the Form. Narrative Discourse and Historical Re-
presentation. Baltimore 1987

145
16. Historische Bildung, historisches Lernen,
historische Identität

Angehrn, E.: Geschichte und Identität. Berlin 1985


Becher, U. A. J.: Personale und historische Identität, in: K. Bergmann; J. Rü-
sen (Hg.): Geschichtsdidaktik: Theorie für die Praxis. Düsseldorf 1978, S.
57-66.
Becher. U A. J.: Identität durch Geschichte?, in: dies. u. K. Bergmann (Hg.):
Geschichte - Nutzen oder Nachteil für das Leben. Düsseldorf 1986, S. 55-59
Becher, U. A. J.; Bergmann, K. (Hg.): Geschichte - Nutzen oder Nachteil für
das Leben. Düsseldorf 1986.
Jeismann, K.-E.: Didaktik der Geschichte: Das spezifische Bedingungsfeld des
Geschichtsunterrichts; Grundfragen des Geschichtsunterrichts, in: G. C.
Behrmann; K.-E. Jeismann; H. Süssmuth: Geschichte und Politik. Didakti-
sche Grundlegung eines kooperativen Unterrichts. Paderborn 1978, S. 50-
108
Jeismann, K.-E.: Geschichte als Horizont der Gegenwart. Über den Zusam-
menhang von Vergangenheitsdeutung, Gegenwartsverständnis und Zu-
kunftsperspektive. Paderborn 1985
Kosthorst, E. (Hg.): Geschichtswissenschaft. Didaktik - Forschung-Theorie.
Göttingen 1977
Marquard. O.; Stierle, K. (Hg.): Identität (Poetik und Hermeneutik, Bd. 8).
München 1979
Pandel, H.-J.: Historik und Didaktik. Das Problem der Distribution historio-
graphisch erzeugten Wissens in der deutschen Geschichtswissenschaft von
derSpätaufklärungzumFrühhistorismus(1765-1830). Diss. Osnabrück 1983
Rohlfes, J.: Geschichte und ihre Didaktik. Göttingen 1986
Rüsen, J.: Zum Verhältnis vonTheorie und Didaktik der Geschichte, in: ders.:
Für eine erneuerte Historik. Studien zur Theorie der Geschichtswissen-
schaft. Stuttgart 1976, S. 165-181
Rüsen, J.: Ansätze zu einer Theorie des historischen Lernens I und II, in: Ge-
schichtsdidaktik 10 (1985), S. 249-265; 12 (1987), S. 15-27.
Rüsen, J.: The Didactics of History in West Germany: Towards a New Self-
AwarenessofHistoricalStudies.in: History andTheory 26(1987), S. 275-286
Rüsen, J.: Aufklärung und Historismus - Historische Prämissen und Optionen
der Geschichtsdidaktik, in: B. Mütter; S. Quandt (Hg.): Historie, Didaktik.
Kommunikation. Wissenschaftsgeschichte und aktuelle Herausforderungen.
Marburg 1988, S. 49-65
Rüsen, J.: Vernunftspotentiale der Geschichtskultur, in: ders.; E. Lämmert; P.
Glotz (Hg.): Die Zukunft der Aufklärung. Frankfurt 1988, S. 105-115
Schorken, R.: Geschichtsdidaktik und Geschichtsbewußtsein, in: Geschichte
in Wissenschaft und Unterricht 23 (1972), S. 81-89
Süßmuth, H. (Hg.): Geschichtsdidaktische Positionen. Paderborn 1980.

146
Register

1. P e r s o n e n

Augustinus 130 Mann, G. 21


Musil, R. 133
Bacon, F. 74
Burckhardt, J. 129 Negt, O. 75
B u r y J . B . 21 Novalis (d. i. Friedrich von
Hardenberg) 76, 121
Donald Duck 121
Paine, T. 133
Foucault, M. 51
Raabe, W. 76
Guicciardini, F. 37
Ranke, L. von 18, 20, 25, 34,
Hegel, G. W. F. 28
36 f., 116
Herder, J G . 29
Horaz 32 Schiller, F. 15,28
Humboldt, W. von 105 Schulze, W. 59
Stone.L. 21
Jaspers, K. 134
Jeismann, K.-E. 91 Trevelyan, G. M. 21
Jesus von Nazaret 134
Voltaire 50
Kant, I. 28
Wehler, H.-U. 21
Kluge, A. 75
White, H. 22
Lamprecht, K. 7 Weber, M. 70, 87, 104

147
2. Begriffe

Adressatenbezug 82 Erfahrung, Deutung, Orientierung)


Anderssein (s. auch Zeiterfahrung) 94,99, 106 f., 110, 112, 128
116 Geschichtsbild 103
Aufklärung 38 Geschichtskultur 109 f., 112,
Autonomie 111 114, 116
Ästhetik Geschichtsphilosophie 104
- klassische 29
-philosophische 119
Herrschaft (s. auch Geltungssiche-
Ästhetik und Rhetorik 30, 32 f.
rung, Legitimität) 10, 92, 105,
ästhetisch 26 f., 102, 116
107, 111, 114, 115
Historik 5, 8, 10, 17 f., 3 1 , 59, 76 f.,
Besonnenheit 37, 92
79,84, 120
Bürokratisierung, Rationalisierung
Historik und Didaktik 78, 82 f.
87
Historische Bildung5,55,78,85-88,
90, 9 3 - 9 9 , 102-105. 108, 112,
Dezisionismus 1 13
115-118, 121. 130
Dialektik, dialektisch 58
Historische Kategorien 51, 73, 89 f.
Didaktik 10, 76, 7 8 - 8 0 , 82, 84, 94
Historische Kompetenz 35
Diskurs, diskursiv (s. auch Gcltungs-
- Argumentations- 108
sicherung, Legitimität) 12, 24 f.,
- Deutungs-94, 102
27, 3 1 , 3 9 , 4 1 , 43 f.. 54, 59, 65 f..
- Erfahrungs- 101
6 8 , 7 2 . 7 4 , 9 1 , 113. 118, 120
- Handlungs- 94, 102, 105 f.
Dissonanz 103
- Orientierungs- 85, 9 3 , 104,
Dogmatismus 107, 113
107. 109
-Reflexions- 104 f.
Entrhetorisierung 36
Historischer Sinn 22 f., 29,45,48,52,
Erfahrung, Deutung, Orientierung
5 5 . 6 7 - 6 9 , 7 1 - 7 4 , 103 f., 109,
99, 108, 115
111. 121, 129, 134
Evolution 53
Historisches Erzählen (s. auch
Narration) 108
Faktizität und Fiktionalitat 23, 29 f.
Historisierung 115
Faszination, ästhetische 117
Hoffnung 124
Forschung 24, 34
Humanisierung 112
Fortschritt 53
Frauengeschichte 52
Freiheit 30, 33, 98, 105. 119 Identität 73, 104, 105
- geschlechtliche 96
Geltungssicherung. Legitimität - historische 64, 77,97, 99, 105, 107,
(s. auch Narration, Vernunft) 115, 117
7, 11 f., 6 1 , 6 8 , 70 f., 85, 93, 108, -nationale 55, 96, 115
111, 114 Ideologie 109, 113
Geschichte als Wissenschaft 108 Implikationszusammenhang 57 f.
Geschichtsbewußtsein (s. auch Individualisierung 54

148
Instrumentalisierung 113 Professionalität 108, 113, 115
Intentionalitätsüberschuß 124, 126 f. Prozeß 53

Kairos 121, 133 f. Rationalität 22


Kohärenz 26. 32, 5 5 , 8 8 Revolution 53
- ästhetische 28, 32, 33 f. Rhetorik, rhetorisch 33
- formale (s. auch Prägnanz) 30, 111
Kommunikation 53, 114 Schönheit, Kunst 32, 116
Kompensation, ästhetische 102 Schulischer Unterricht 84
Kompetenz Selbstsein (s. auch Identität) 116
- kognitive 93, 105 Sinn für die Wirklichkeit 105, 107
-kulturelle 110 Standpunkt 105
- narrative 93 Subjektivität 2 7 - 3 0 , 99, 111
Kontingenz 99, 106
Kontinuität 24, 44, 46, 50 Temporalisierung 105
Kulturwissenschaften 104 Theorien 103
Topos, Topik 31, 33
Transzcndierungsverhältnis 57
l.cbcnspraxis, Lebenswclt 85, 96,
Typologie
107-109
- Funktionen (analytische,
Logos 72
pragmatische) 59

Marxismus-Leninismus 113 Utopie 121 I.


Menschen- und Bürgerrechte 111. Utopiekritik 125
115, 135
Modernisierung 1 19 Vernunft 108, 111, 114. 121. 129

Narration 21, 93, 108 Wille zur Macht 111, 113 f.


Negativitat, Kritik (s. auch Narration) Wille zur Wahrheit 114
5 1 , 5 4 , 5 8 . 115, 122 Wirklichkeit 24
New Economic History 21
Zeiterfahrung 100-102
Politik, politische Kultur 109, 114 -Alterität, Zeitdifferenz 97, 101 f..
Positivismus, positivistisch 23 117. 121, 128. 130 f.
Postmoderne 118 - Gegenwartserfahrung.
Praxis 92, 102 Zukunftsbezug 101
Prägnanz Zeitverlaufsvorstellung (s. auch
- kognitive 24, 3 4 - 3 7 , 60 Kontinuität) 40, 53, 67, 126, 128
-kommunikative (s. auch Kohärenz) Zukunft (s. auch Utopie) 106,
25,27,30-36,40 121 f.. 125

Stey*rische
StaatsbfcBothek

149

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