Sie sind auf Seite 1von 1

Unterm

Lyrikmond
Gedichte lesen und hören,
schreiben und
interpretieren

Erstmal selbst probieren und dann vergleichen? 10 Tipps für


bessere Gedichtinterpretationen.

Interpretation: Sommerbild
Sommerbild? Wenn ich mir einen Augenblick vorstelle,
das Gedicht noch nie gelesen zu haben, dann könnte
ich mir viele Bilder in einem Gedicht mit diesem Titel
vorstellen, aber kein Bild vom Tod einer Rose. Ist das
nicht eher ein Herbstmotiv?

Anscheinend nicht. Friedrich Hebbel bietet in diesem


Gedicht eine interessante Perspektive auf den Sommer
jenseits der konventionellen Erwartungen. Was genau
diese Perspektive ist, das soll in der Interpretation
geklärt werden. Doch wie immer zuerst das
unvermeidliche Metrum:
Wenn in einem Vers der Dichter fünf mal aus der Hocke
hoch hüpft, nennt man das einen fünfhebigen Jambus.
Bleibt er am Schluss an der Decke kleben, heißt das
männliche Kadenz. Die durchgehende Hebung am
Schluss plus die Tatsache, dass jeder Vers ein Satz ist
(Zeilenstil), tragen zu einem ruhigen Tempo mit
merklichen Pausen am Versschluss bei. Es gibt jedoch
eine Ausnahme von den hier angeführten Regeln, was
immer gut ist – für den Dichter, sein Gedicht ist dann
nicht so langweilig, und für den Interpreten, da hat er
was zum Beißen.
Das Gedicht beginnt, wo auch sonst immer alles
beginnt, beim „Ich“. Trotzdem ist dies ein seltener
Anfang bei einem Naturgedicht. Mit diesem lyrischen
Ich steht und fällt der Text, denn die ersten beiden Verse
zeigen, dass dieses Ich zu Übertreibungen neigt. „Des
Sommers letzte Rose“? Könnte nicht drei Straßen weiter
noch eine stehen? Was dieses Ich wohl eher meint, ist,
dass ihm diese Rose als die letzte erscheint. Der
Gedanke „als ob sie bluten könne“ als Kennzeichnung
für das Rot der Rose deutet ebenfalls auf eine etwa
überschäumende Phantasie. Diese beiden Verse lassen
darauf schließen, dass dieses Ich sich in einer
besonderen Situation befand, als es Schönheit und
Schmerz so nah beieinander dachte.
Explizit wird das lyrische Ich dann im vierten Vers, in
dem es seinen Gedanken „schaudernd“ ausspricht. Das
„weit“ kann dabei für das Alter stehen, woran man bei
einer Rose aber nicht unbedingt denken würde. Eher
könnte „weit“ im Sinne von „weit gekommen“, „es weit
gebracht haben“ gemeint sein. Die Rose ist sozusagen
am Höhepunkt ihres Seins angekommen, schöner kann
sie nicht mehr werden, doch das ist gleichzeitig der
Beginn ihres Absterbens. Dieser Gedanke wird in der
zweiten Strophe abgebildet:
Der erste Vers betont den absoluten Stillstand der Welt
an einem heißen Tag. Nichts regt sich, kein Vor und
kein Zurück. Das kann man als die Beschreibung eines
Höhepunkts lesen, der durch jede Änderung
aufgehoben würde. Doch die Welt steht niemals still.
Hier hebt ein „weißer Schmetterling“ als Kontrast zur
roten Rose durch seine „leise“ Bewegung den Stillstand
auf. Betont wird dies durch die Akzentverschiebung zu
Beginn des dritten Verses. Dort wird die erste Silbe
„Doch“ gehoben, die beiden folgenden gesenkt, bevor
die nächste Hebung kommt, und dann geht es im
jambischen Versmaß weiter. Ebenso klingen die beiden
„ch“ von „Doch“ und „auch“ an „Hauch“ aus dem
ersten Vers an. Auch rein lautlich wird hier ein Hauch
erzeugt.

Der dritte Vers ist ausnahmsweise nicht ein vollständiger


Satz, per Zeilensprung (Enjambement) geht es in Vers
vier weiter. Dieser Zeilensprung ist bewundernswert
konstruiert. Die Schlusshebung bei „Flügelschlag“
erzeugt durch die damit einhergehende Pause einen
letzten Stillstand, bevor „bewegte“ diesen im doppelten
Sinne auflöst.
Zum Schluss greift das lyrische Ich wieder auf seine
Phantasie zurück, indem es der Rose Empfindung
zuschreibt und ein Anzeichen für ihr „Vergehen“
entdeckt. Vielleicht fällt ein Blütenblatt, doch dies wäre
in dieser fokussierten Welt ein Ereignis gewesen, das
hätte beschrieben werden müssen. Eher denke ich an
ein leichtes Entfärben durch die gedankliche
Verbindung vom Rot der Rose zum Weiß des
Schmetterlings, mehr ein Gefühl als beobachtete
Realität.
Was das lyrische Ich in diesen zwei Strophen
beschreibt, erscheint weniger als realistische
Darstellung, mehr als ein Spiegelbild seines eigenen
Innenlebens. Die Rose ist sowieso ein zwiespältiges
Symbol zwischen Liebe und Tod; Schönheit (Blüte) und
Schmerz (Dornen) sind damit verbunden (siehe auch
den Rosen-Artikel bei moers.de). Dies wird von dem
„Ich“, das am Anfang von allem steht, noch wesentlich
überhöht durch den Gedanken an Blut, den
todbringenden Schmetterling. „So weit im Leben, ist zu
nah am Tod!“ Das scheint die Situation zu sein, auf die
das lyrische Ich zurückblickt. Vielleicht war es eine
große Liebe, vielleicht ein Gefühl, auf dem Höhepunkt
seines Schaffens zu stehen, „es geschafft zu haben“.
Doch in diesem Hochgefühl war schon seine
Vergänglichkeit eingebaut, was im Rückblick durch das
Bild eines weißen Schmetterlings, der um eine Rose
strich, zum Ausdruck gebracht wird.
Bleibt die Frage: Was ist die besondere Perspektive auf
den Sommer? Der Sommer beginnt in Europa
bekanntlich mit dem längsten Tag des Jahres, also mit
dem Höhepunkt. Danach kommt zwar noch all das, was
man mit dem Sommer verbindet, die Natur blüht, die
Sonne scheint, aber: Die Tage werden kürzer. Der
Höhepunkt des längsten Tages ist, und darüber sollte
man sich nicht täuschen lassen, wenn man den Sommer
genießt, der Anfang vom Ende. Das Gedicht ist also
wirklich ein Abbild des Sommers.

Autor: Hans-Peter Kraus (Kontakt)


Nutzung der Textaussagen auf eigene Gefahr. Den Text zu
kopieren und an anderem Orte online zu stellen, birgt Risiken und
Nebenwirkungen. Besser ist es, ihn zu verlinken. Adresse:
https://www.lyrikmond.de/gedicht-347.php

Interpretationen im Web:
Bei norberto42 findet man eine sehr ausführliche
Sezierung der ersten Strophe plus einen Link zur
Analyse des gesamten Gedichts.

Das könnte Ihnen auch gefallen