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CYAN MAGENTA YELLOW BLACK
10 JUNI-GESPRÄCHE MIT OLIVER SACKS
DU BIST DEIN GEHIRN
Hirnforscher Oliver Sacks
über seinen ersten Orgasmus und
die Unmöglichkeit,
ein Gefühl zu beobachten
Wir lesen, Sie hatten in Zürich Ihren
ersten Orgasmus.
Ich hätte dieses Erlebnis nicht erwähnt,
aber wenn Sie es tun, gut. Bei meiner
letzten Lesung in Zürich war ich drauf
und dran, die Geschichte zu erzählen,
aber dann sah ich all die fremden Ge-
sichter im Publikum und dachte: Lass es
bleiben. Ich bin ziemlich schüchtern.
Es war in einem Schwimmbad.
Ja, im Sommer nach dem Krieg. Ich war
dreizehn, und wir verbrachten unsere
Ferien in der Schweiz. Auf dem Rück-
weg machten wir in Zürich Halt und be-
suchten ein Schwimmbad. Ich erinnere
mich, dass ich friedlich auf meinem
Korkbrett liegend durch das Becken pad-
delte. Plötzlich hatte ich dieses seltsame
Gefühl. Es war, als ob das Wasser mich
immer höher trüge, bis die Welle quasi
durch mich hindurchströmte. Ich hatte
keine Ahnung, was da mit mir geschah.
Erst in der Garderobe, als ich die Bade-
hose auszog, habe ich realisiert, was
eigentlich passiert war.
Heute Morgen waren Sie offensichtlich
auch schon schwimmen. Sie haben
Ihre nasse Badehose hier im Zug zum
Trocknen aufgehängt.
CYAN MAGENTA YELLOW BLACK
LT-Nr.TA Media AG Seite Film-Aus-Kontr.
MAGAZIN Datum
Visum
YELLOW
Ich schwimme täglich, wenn möglich.
Ich liebe es, von Wasser umgeben zu
sein, ich glaube, ich bin im Grunde ein
Wasserwesen. Wenn ich wütend bin,
schlage ich beim Schwimmen auf das
Wasser ein, das beruhigt mich. Oft aber
konzentriere ich mich ganz auf meine
Bewegungen, leere meinen Kopf, denke
an nichts, fühle nur noch das Wasser.
Sie sind der berühmteste Hirnforscher der
Welt. Sagen Sie uns, was ein Gehirn ist.
Ein Gehirn mit einem Körper ist ein Ins-
trument, mit dem man die Welt katego-
risieren kann. Wobei ich «mit einem
Körper» betonen möchte. Denn das Ge-
hirn ist unvorstellbar ohne den Sinnes-
apparat. Ein Gehirn in einem Einmach-
glas, künstlich am Leben gehalten, ist
nichts. Ihm fehlt der Körper, die Sinne,
die es mit Erfahrung versorgen. Blindge-
borene etwa, die mit vierzig Jahren plötz-
lich sehen können, wissen nicht, was sie
sehen. Das Gehirn versteht nicht, was
das Auge sieht. Also: Das Gehirn
braucht ein Leben, und es ermöglicht
gleichzeitig Leben.
Es gibt Neurologen, die behaupten,
das Gehirn sei ein Organ wie jedes
andere, die Leber etwa oder die Niere.
Platten-Aus-Kontr.
Job-Nr. M222S003
Datum
Visum
Natürlich ist das Gehirn, physiologisch
gesehen, genauso ein Organ wie das
Herz oder die Niere. Doch im Gegensatz
zu einer Niere generiert ein Gehirn eine
Art Selbstgefühl, eine Identität. Man
kann eine Niere oder eine Lunge trans-
plantieren, aber man kann kein Gehirn
transplantieren, denn das Gehirn ist die
Person selbst. Du bist dein Gehirn, und
dein Gehirn ist du.
Neurologen schauen heute dem Gehirn
mittels modernster Apparaturen
beim Denken und Fühlen zu. Wie sieht
ein Gefühl aus unter dem Mikroskop?
Das weiss ich nicht. Niemand weiss es.
Weil nichts, was mit Bewusstsein zu tun
hat, von aussen beobachtet werden kann,
und das schliesst Emotionen ein. Ge-
fühlen kann man sich nur nähern, in-
dem man mitfühlt: durch Introspektion,
durch verstehende Teilhabe.
Aber ein Gefühl besteht aus nichts
anderem als Neurosynapsen.
Natürlich: Emotionen sind mit neurona-
len Mustern in den Nervenzellen des Ge-
hirns verbunden. Sie hängen kausal von
ihnen ab, sind aber nicht mit ihnen iden-
tisch. Wie kommt man von einer be-
stimmten neuronalen Konstellation im
Gehirn dazu, dass der Mensch Freude,
Eifersucht oder Stolz empfindet? Oder
dass er das Gefühl hat, er selbst zu sein?
Das ist ein sehr seltsames Problem. Oder
vielleicht überhaupt nicht seltsam. Viel-
leicht noch nicht einmal ein Problem.
Sie sind unentschlossen.
Ich bin es mit Recht. Die Wissenschaft
kennt drei tiefe Fragen: jene nach den
Ursprüngen der Materie, des Lebens
und des Bewusstseins. Doch während
wir die Materie und das Leben weitge-
hend entschlüsselt haben, wissen wir
über das Bewusstsein noch immer we-
nig mehr als nichts. Die Frage nach der
Natur des Bewusstseins ist möglicher-
weise zu schwierig, um je beantwortet
zu werden. Oder zu einfach.
Die tragikomischen, oft skurrilen Fallstudien seiner
nervenkranken Patienten haben ihn berühmt ge-
macht: Der Brite Oliver Sacks, 69, ist der bekanntes-
te Hirnforscher der Welt. Sacks lebt seit 1960 in den
SEITE 10 DAS MAGAZIN 22 2002
USA und arbeitet als Neurologe und Psychiater unter
anderem am Albert Einstein College of Medicine in
New York. In diesem Jahr hat er seine Autobiografie
«Onkel Wolfram – Erinnerungen» veröffentlicht.
Gespräch Guido Egli und Finn Canonica
Bild Olaf Unverzart (olaf@unverzart)
Nächste Woche: Oliver Sacks sagt «Fuck!»,
entschuldigt sich und empfiehlt Opium.
Seite 10
ARO