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Migration und Geschlechterverhältnisse

Eva Hausbacher • Elisabeth Klaus


Ralph Poole • Ulrike Brandl
Ingrid Schmutzhart (Hrsg.)

Migration und
Geschlechterverhältnisse
Kann die Migrantin sprechen?

RESEARCH
Herausgeber Bernhard Schmidt
Eva Hausbacher, Langenhagen, Deutschland
Elisabeth Klaus,
Ralph Poole,
Ulrike Brandl,
Ingrid Schmutzhart,
Salzburg, Österreiche
Linz, Österreich

Die Publikation entstand mit Unterstützung von:


Bundesministerium für Wissenschaft und Forschung
Stiftungs- und Förderungsgesellschaft der Paris-Lodron-Universität Salzburg
Kulturabteilung der Stadt Salzburg, Magistrat

ISBN 978-3-531-17990-2 ISBN 978-3-531-93189-0 (eBook)


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen National-


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Inhaltsverzeichnis

Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl


Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und
Geschlechterverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Abschnitt I: Intersektionelle und transkulturelle Perspektiven

Sigrid Kannengießer
Transkulturelle Intrasektionalität als Perspektive in der
geschlechtertheoretischen Migrationsforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24

Leila Hadj-Abdou
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? . . . . . . . . . . . . 41

Paul Scheibelhofer
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62

Sylvia Hahn
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) . . . 83

Gesa Mackenthun
Deep Travels, Mixed Voices . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102

Christa Gürtler und Eva Hausbacher


Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen . . . 122

Abschnitt II: Aktuelle Migrationsdebatten

Podiumsdiskussion
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von
Migration und Gender . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144

Melita H. Sunjic
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161
6 Inhaltsverzeichnis

Anna Wildt
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179

Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer


Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa.
Ein Überblick über das Forschungsprojekt VEIL . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff


Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der
österreichischen Presse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 213

Schahrzad Farrokhzad
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“
Geschlechterarrangements – von Leitbildern und Realitäten
im interkulturellen und intergenerativen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231

AutorInnenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen?
Migration und Geschlechterverhältnisse
Eva Hausbacher, Elisabeth Klaus, Ralph Poole, Ingrid Schmutzhart
und Ulrike Brandl

„Can the subaltern speak?“ hat Gayatri Spivak (2007) in einem der Schlüsseltexte
postkolonialer Theorie gefragt. Spivaks Antwort darauf ist, dass die „fremde“
Frau in Europa nie sprechen kann, weil sie immer lediglich Repräsentierte ist und
als diese „Andere“ keine Stimme besitzt. Der Titel des Sammelbandes greift Spi-
vaks Frage auf, die einzelnen Beiträge denken sie weiter und beleuchten sie von
ganz verschiedenen Seiten neu. Betrachtet man die Repräsentationen von Mi-
grantinnen im politischen, kulturellen, medialen und auch wissenschaftlichen
Diskurs, so scheint sich zunächst deren Ausschluss immer aufs Neue zu bestäti-
gen. Ob als „Kopftuch tragende Frau“ oder als Selbstmordattentäterin, Migran-
tinnen, besonders islamischer Herkunft, werden als „Exotin, Unterdrückte oder
Fundamentalistin“ (Farrokhzad 2006) stereotypisiert. Als „Fremde“ bleiben sie
auch im Migrationsdiskurs stumm. Aber kann die Eingangsfrage nicht auch be-
jaht werden? Immer mehr Migrantinnen melden sich in der Öffentlichkeit zu
Wort und diskutieren ihre Erfahrungen. Im Erlangen neuer gesellschaftlicher Po-
sitionen werden sie hörbarer und sichtbarer. Weiters sind die Migrantinnen auch
im Neuentwurf transnationaler und transkultureller Identitäten repräsentiert und
erlangen so eine Stimme im Prozess des Verschmelzens und Verschiebens der
Grenzen von Eigenem und Fremdem.
Wir leben in einem migratorischen Europa des Unterwegs-Seins und der Ver-
änderungen, wo frühere Determinierungen und feste Verortungen überholt sind.
Auch weltweit sind seit den 1980er Jahren Spielraum und Tempo der globalen
Migration wesentlich gewachsen. Sie ist einerseits zum Normalfall im globalen
Alltag geworden und wird nicht mehr als Ausnahme, als Bruch oder als „Entwur-
zelung“ gefasst, ist andererseits aber immer noch Störfall, der als Folgeerschei-
nung von Krise und Umbruch eine Abweichung von traditionellen Lebensformen
bedeutet und diese „bedroht“. Einmal wird Migration also stärker als „Möglich-
keit“ gefasst, die neue Gesellschafts- und Identitätsentwürfe forciert, einmal stär-
ker als „Verlust“ von Eigenem, von Heimat, von Identität (vgl. Köstlin 2000). Al-
lerdings beschränkt sich die Produktivität der Migrationserfahrung auf eine rela-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_1,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
8 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

tiv kleine Schicht kulturell Privilegierter, während die Masse der MigrantInnen in
der globalisierten Welt mit prekären Arbeits- und Lebensbedingungen zu kämp-
fen hat.
Diese konkreten migratorischen Lebenserfahrungen und multikulturell über-
lagerten Lebensweisen eröffnen auch neue Reflexionsräume individueller, kultu-
reller und politischer Selbstverständigung. Dabei stellt die Perspektive der Gen-
der Studies ein Desiderat in der gegenwärtigen Migrationsforschung dar. Dies
lässt sich darauf zurückführen, dass sich die beiden Bereiche Migrationsfor-
schung und Frauen- und Geschlechterforschung getrennt voneinander entwickelt
haben und sich bislang nur wenige Arbeiten mit der Ko-Konstruktion von Gender
und ethnischer bzw. nationalkultureller Identität und der Überschneidung von
„doing gender“ und „doing ethnicity“ befassen (vgl. Lutz 2004, Lünenborg/Frit-
sche/Bach 2011). Weder Geschlecht noch Ethnizität sind naturgegeben und un-
veränderlich, vielmehr werden sie als „immer wieder neu verhandelbares (Zwi-
schen)Ergebnis von Prozessen der Fremd- und Selbstzuschreibung“ (Krüger-
Potratz 2007, 452) gesehen. In der klassischen Migrationsforschung geht man zu-
nächst von eindeutig abgeschlossenen nationalkulturellen, ethnischen, geschlech-
terspezifischen Identitäten aus. Dadurch bleiben dichotom angeordnete Bilder
von Herkunfts- und Zielländern oder „push and pull“-Faktoren in der wissen-
schaftlichen Konzeptualisierung von Migration präsent. Neuere analytische Be-
griffe wie Hybridität oder Intersektionalität, die in den Gender, Queer und Post-
colonial Studies entwickelt wurden, verschieben diesen Blick auf Migration ganz
grundlegend: Migrationsphänomene werden hier nicht länger als Bewegungen
verstanden, die zielgerichtet sind oder einen eindeutig definierbaren Anfangs-
und Endpunkt aufweisen. Vielmehr betonen diese Konzepte die Dezentriertheit
von Lebensverläufen überhaupt und gehen von Transnationalität, Transkulturali-
tät und Mehrsprachigkeit als Norm aus.
Anspruch dieser Publikation ist es, dem genannten Forschungsdesiderat ent-
gegenzuwirken und das Phänomen der Migration in seinen die Geschlechterver-
hältnisse betreffenden Zusammenhängen aus interdisziplinärer Perspektive zu
untersuchen. Dabei beleuchten die einzelnen Beiträge die vielfältigen Verschrän-
kungen von kultureller Differenz und Geschlechterdifferenz im Rahmen ver-
schiedener Forschungsfelder. In den Beiträgen des Teils I werden intersektionelle
und transkulturelle Perspektiven vorgestellt, die Beiträge des Teils II hingegen
thematisieren Aspekte der aktuellen Migrationsdebatten.
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 9

I Intersektionelle und transkulturelle Perspektiven

Dass in den „imaginären Geographien“ dieser Welt ebenso wie in den Konstruk-
tionen nationalkultureller Identität immer schon geschlechtsspezifische Zuschrei-
bungen eine sehr wichtige Rolle gespielt haben, wurde bereits mehrfach darge-
legt (Todorov 1985, Yuval-Davis 1997, Ivekoviç 2000, Uerlings 2001 u. a.). Bis-
herige Forschungen haben nachgewiesen, dass die interkulturelle Auseinander-
setzung bis in ihre feinsten Verästelungen mit einer zentralen geschlechtertheore-
tischen Debatte verknüpft ist, denn auch ihr liegen die aristotelischen Dichoto-
mien männlich/weiblich, aktiv/passiv, Seele/Körper, Form/Materie usw. zugrun-
de. Diese reichen hinein bis in Unterscheidungen wie der zwischen dem weib-
lich-passiven, vermeintlich privaten Raum und dem männlich-aktiven öffentli-
chen Raum, der männliche Beweglichkeit qua Reisen, Schreiben, Bildung und
Perfektibilität umfasst (vgl. Uerlings 2001).
Die HerausgeberInnen des vorliegenden Bandes gehen davon aus, dass sich
dieser Zusammenhang insbesondere in Bezug auf migratorische Phänomene
nachweisen lässt und eine Vielzahl von Parallelen in der Wahrnehmung und Be-
schreibung des Fremden der anderen Kultur und des Fremden des anderen Ge-
schlechts gegeben sind.
Die Verschränkungen und die Parallelen von Gender Studies und Migra-
tionsforschung fokussieren im Begriff der Multi-Axialität oder „Intersektionali-
tät“ von Identität – sowohl eines Individuums als auch einer Nationalkultur –,
wonach Nationalität, Ethnizität, Klasse, Geschlecht und Sexualität immer in
Wechselwirkung miteinander stehen. Beispielsweise ist der Zusammenhang von
der Eroberung fremden Territoriums und der Erkundung des weiblichen Ge-
schlechts spätestens seit Sigmund Freuds berühmtem Diktum von der Frau als
„dark continent“ offenkundig geworden. An diesem Beispiel zeigt sich, in welch
hohem Maß das (metaphorische) Sprechen über das „Andere“ der (eigenen)
Kultur mit dem Sprechen über Weiblichkeit zusammenfließt (vgl. Weigel 1987,
Cheauré/Nohejl/Napp 2005), wie die Critical Whiteness Studies herausgearbei-
tet haben.
Die Beiträge sind das Ergebnis einer interdisziplinären Zusammenarbeit und
spiegeln Ergebnisse aus verschiedenen Disziplinen, die zeigen, inwieweit etwa
gesellschaftliche, rechtliche, politische, mediale, kulturelle oder literarische
Konzepte von kultureller Differenz mit Lesarten der Geschlechterdifferenz ver-
woben sind. So wird sichtbar, dass sich aus der Perspektive der Geschlechter-
konfiguration und ihrer kulturellen Einbettung heraus Fremdheit anders bzw.
neu bestimmen lässt. Folgende Leitfragen verknüpfen die Beiträge in diesem
Teil:
10 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

• Wie lässt sich der Zusammenhang von nationalkulturellen und geschlecht-


lichen Identitäten insbesondere in Bezug auf migratorische Phänomene ana-
lysieren?
• Was können Gender Studies zur Migrationsforschung beitragen und vice
versa?
• Können aus den Bewältigungskonzepten kultureller Differenz auch neue Ver-
stehensmuster für die Geschlechter-Differenz gewonnen werden?
• Wie verändert sich die Kategorie Geschlecht im Kontext von Migration, wenn
sie als geographisch-politische Kategorie (vgl. Gutiérrez Rodríguez 2004) ge-
fasst wird, in einer zunehmend transkulturell bestimmten Welt?
• Von Interesse sind hier auch Verortungs- und Positionierungsfragen auf Sei-
ten der ForscherInnen, die möglichen Konzeptualisierungen von Frau-/Mann-
sein im Kontext unterschiedlicher Kulturen nachgehen.

Je nach theoretischem Zugang zu Migrationsphänomenen werden ganz be-


stimmte Fragestellungen und Themen gefördert, gleichzeitig andere ausgeblendet
und vernachlässigt. So basiert die Integrationsforschung (Esser 1980), die sich im
Rahmen der Migrationsforschung in den 1980er Jahren etabliert hat, auf der ko-
gnitiven Handlungstheorie. Hier wird Migration zu einem unilinearen Prozess der
Aus- und Einwanderung, wobei die vielfältigen Zwischenformen, etwa Trans-
und Pendelmigration, konzeptionell unberücksichtigt bleiben. In dieser Tradi-
tionslinie meint Integration einen Prozess der Assimilation, den die jeweiligen
MigrantInnen zu durchlaufen haben. Sie sind es, die diese Aufgaben erfolgreich
meistern müssen oder, falls nicht, zur Desintegration der Gesellschaft beitragen.
Eine solche Logik schreibt allein MigrantInnen die Aufgabe zur Integration zu
und missachtet damit die Rechte von MigrantInnen auf Inklusion und kulturelle
sowie gesellschaftliche Partizipation.
Die klassische Migrationsforschung ist weitgehend sozialwissenschaftlich
dominiert. Sie stellt Fragen nach den Ursachen, Motiven und Zwecken von Mi-
gration und differenziert unterschiedliche Wanderungsformen (freiwillige vs.
Zwangsmigration, Armuts- und „betterment“-Migration, Binnen- und internatio-
nale bzw. interkontinentale Migration, temporäre vs. permanente bzw. Pendel-
Migration). Das „Push-Pull-Modell“ von Everett Lee aus den 1960er Jahren
(1966) ist ein lange Zeit gängiges Beschreibungskonzept für Migration gewesen
und geht davon aus, dass Arbeitskräftebedarf (pull) in einem Land vom Arbeits-
kräfteüberschuss (push) in einem anderen Land profitieren kann. Diesem Zugang
wird vorgeworfen, dass dabei Migrationsentscheidungen entindividualisiert be-
trachtet werden. Zudem geht die klassische Migrationsforschung von einer abge-
schlossenen nationalkulturellen, ethnischen, geschlechterspezifischen Identitäts-
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 11

vorstellung aus. Ein- und Auswanderung, Herkunfts- und Zielkultur, push und
pull bleiben einander entgegengesetzt angeordnete Bereiche. Dem gegenüber rü-
cken seit den 1990er Jahren transnationale Phänomene immer stärker ins Zen-
trum der Migrationsforschung, Konzepte der Beschreibung multi- und interkultu-
reller Phänomene werden durch vielversprechende neue Ansätze in transnationa-
len und transkulturellen Forschungsperspektiven abgelöst. Sie stellen die Erklä-
rungskraft statischer Modelle von Gesellschaft, Nation und Kultur in Frage.
Neuere analytische Begriffe wie Hybridität oder „third space“ (Bhaba 1994) ver-
schieben dabei den traditionellen Blick auf Migrationsphänomene, die nicht mehr
länger als Bewegungen verstanden werden, welche zielgerichtet sind oder einen
eindeutig definierbaren Ausgangs- und Endpunkt aufweisen. Vielmehr betonen
diese Konzepte die Dezentriertheit von Lebensläufen überhaupt und gehen davon
aus, dass Transnationalität und Transkulturalität immer häufiger werden. Dabei
werden in den Postcolonial Studies entwickelte Theoreme auf Migrationsphäno-
mene übertragen und in Frage gestellt, ob diese mit soziologischen und ideologie-
kritischen Ansätzen allein adäquat beschreibbar sind. In diesem „Richtungsstreit“
zwischen einer De-Dramatisierung von Differenzen gegenüber einer Re-Drama-
tisierung sozialer Ungerechtigkeiten gerät abermals die Perspektive der Akteu-
rInnen außer Acht (vgl. Lutz 2004). Genau darin liegt aber auch ein Aspekt der
Kritik an den neueren transkulturellen Zugängen, nämlich dass sie das Phänomen
der Migration für kulturtheoretische Modellbildung vereinnahmen und dabei
konkrete Lebensrealitäten von MigrantInnen übergehen.
Parallel dazu verläuft auch innerhalb feministischer Ansätze der Migrations-
forschung ein vergleichbarer Paradigmenwechsel: Ging es ersten feministischen
Studien darum, Frauen im Migrationsprozess sichtbar zu machen und die Spezi-
fik weiblicher Migration herauszustellen, so fokussieren neuere Forschungen
verstärkt die Konstruktionen von Weiblichkeit und Männlichkeit sowie Öffent-
lichkeit und Privatheit im Migrationskontext (vgl. Prodolliet 1999).
Die Beiträge in diesem Band füllen Lücken in der Migrationsforschung und
erproben neue Ansätze. Helma Lutz hat die These ausgearbeitet, dass Geschlech-
terverhältnisse im 21. Jahrhundert sich nur dann adäquat begreifen und analysie-
ren lassen, wenn sie Prozesse der Transnationalisierung berücksichtigen. Trans-
nationale Mobilität und Informationsprozesse, die Verdichtung von Zeit und
Raum, die globale digitale Vernetzung haben den Weg bereitet für die Globalisie-
rung von Biographien. In diesem Rahmen müssen allerdings vertraute Konzepte
auf den Prüfstand: Wer ist „die Migrantin“? Wer spricht oder darf sprechen? Wer
wird gezeigt und wer darf sich zeigen? Die intersektionale Perspektive verknüpft
Sigrid Kannengießer in ihrem Beitrag „Transkulturelle Intrasektionalität und
Postkolonialismus“ mit Fragen transkultureller Forschung. Sie zeigt auf, wie die
12 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

intrasektional-transkulturelle Perspektive in der geschlechtertheoretischen Mi-


grationsforschung Anwendung finden kann. Während Transkulturalität nach Hy-
bridisierungs- und Differenzkonstruktionen innerhalb kultureller Identitäten oder
zwischen solchen sucht, fragt der Ansatz der Intersektionalität nach dem Zusam-
menspiel verschiedener sozio-kultureller Kategorien. Verortet in der kritischen
Kulturtheorie, kann eine intrasektional-transkulturelle Perspektive Machtstruktu-
ren sichtbar machen. Unter Einbeziehung postkolonialer Feminismen stellt eine
solche Perspektive die Möglichkeit dar, homogenisierende Essentialismen zu
vermeiden und Ungleichheitsstrukturen aufzudecken. Vergeschlechtlichte Migra-
tionsprozesse können so untersucht und das Wirken der vieldimensionalen Kate-
gorie Geschlecht in diesen analysiert werden.
Ebenfalls nach den prinzipiellen Perspektiven einer Forschung, die intersek-
tionale Gender Studies und Migrationsforschung verknüpft, fragt Leila Hadj-
Abdou. In „Die Herausforderung Migration für den Feminismus“ greift sie die
frühe Thematisierung der neueren Gender Studies auf, ob Gleichheitsbemühun-
gen und Forderungen nach Anerkennung von Differenz sich ausschließen. Ana-
log stellen auch das Recht auf kulturelle Differenz und das Recht auf Geschlech-
tergleichheit keine Gegensätze dar, sondern bedingen sich vielmehr gegenseitig.
Eine intersektionale Perspektive, die die Verschränkungen von Ungleichheiten
aufgrund verschiedener Zugehörigkeiten thematisiert, ist deshalb für Hadj-
Abdou notwendige Voraussetzung, um das Gleichheitsprinzip für alle Frauen
durchzusetzen. Dabei steht, so Hadj-Abdou, in den Debatten um Zuwanderung
als zentraler Wert die Geschlechtergleichheit im Vordergrund zulasten einer auch
notwendigen Anerkennung und Wertschätzung kultureller Differenz. Aus dieser
Perspektive erscheinen Transkulturalität und Frauenrechte als unvereinbar. Der
solchermaßen reduktionistisch argumentierende Gleichheitsdiskurs führt zur Le-
gitimierung restriktiver Einwanderungspolitiken. Das von Hadj-Abdou analy-
sierte 2011 in Frankreich in Kraft getretene Verbot der Vollverschleierung steht
hier beispielhaft für politische Regulierungen und migrationspolitische Entwick-
lungen in vielen anderen europäischen Staaten.
Wie „fremde“ Weiblichkeit ist auch „fremde“ Männlichkeit kulturellen Ste-
reotypisierungen unterworfen. Paul Scheibelhofer analysiert in seinem Beitrag
„Migration, Männlichkeit & die ‚Krise des Multikulturalismus’. Konstruktionen
türkisch-migrantischer Männlichkeit in Österreich“ dominante Repräsentationen
des „türkisch-muslimischen Mannes“ im deutschsprachigen Raum. In kritischer
Re-Lektüre der politischen Diskurse in Österreich seit Beginn der sogenannten
„Gastarbeitermigration“ der 1960er Jahre beobachtet Scheibelhofer einen Wandel
der Konstruktionsmechanismen. Wurde „fremde“ Männlichkeit zunächst vorwie-
gend als ein zu rekrutierender „gesunder“ und belastbarer Arbeiterkörper imagi-
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 13

niert, so erscheint der „Ausländer“ im Zuge der wachsenden Migration aus Osteu-
ropa im Verlauf der 1980er Jahre zunehmend als gefährlich und kriminell und
wird schließlich in den gegenwärtigen Debatten zum nicht-integrierbaren, weil
rückständigen und patriarchalen „Problemfall“ einer restriktiven Migrationspoli-
tik. Trotz der Diskussionen um eine wünschenswerte multikulturelle Gesellschaft
haben sich, so das Fazit des Beitrags, die Bilder vom „türkisch-muslimischen
Mann“ in ihrem Rückgriff auf orientalistische Stereotypen kaum verändert, son-
dern bleiben einem Diskurs kultureller und religiöser Fremdheit verhaftet.
Die Kehrseite der historischen Fixierung auf „fremde Männlichkeit“ – sei es
als männlicher Arbeitskörper oder als stets der Kriminalität verdächtiger –, näm-
lich den Ausschluss der Frauen aus der Migrationsdebatte, greift die Historikerin
Sylvia Hahn in ihrem Beitrag „Wo sind die Frauen? Oder: Wie die Frauen in der
Migrationsgeschichte verloren gingen“ auf. Obwohl Forschungen über die Mi-
grationen der Bevölkerung mittlerweile auf eine mehr als hundertjährige Ge-
schichte zurückblicken können, kommen Frauen als Migrantinnen nur selten dar-
in vor. Wenn sie erwähnt werden, dann geschieht dies im Zusammenhang mit der
männlichen Wanderung, wobei Frauen hier überwiegend als „Abhängige“ der
Männer, als Mit- oder Nachwandernde beschrieben werden. Frauen als Migran-
tinnen wurden in Forschung und Gesellschaft über lange Zeit nicht wahrgenom-
men bzw. ausgeblendet. Hahn geht deren Spuren nach, um die „wandernden“
Frauen in die (historische) Migrationsforschung einzuschreiben.
Die Ignoranz gegenüber Migrantinnen und ihren Leistungen findet sich auch
in vielen anderen Disziplinen. Zwei Beiträge in diesem Band gehen den Spuren
von Migrantinnen in ästhetischen Diskursen und transkulturellen Literaturen
nach. Wenn die Kunst, die Literatur ins Spiel kommt, gilt es auch die ästhetische
Differenz zu berücksichtigen: „Diese ermöglicht es der Kunst, die Dichotomien,
die die eigene Kultur strukturieren, zu inszenieren und dabei die Vielstimmigkeit
der sozialen und kulturellen Welten anders zu Gehör bzw. vor Augen zu bringen,
als es herrschende Diskurse tun. Die Kunst kann dies, indem sie sich kritisch oder
parodistisch zu den kulturellen Prätexten verhält, aber auch, indem sie herr-
schende Dichotomien dekonstruktivistisch dezentriert oder schlicht Repräsenta-
tionen als solche vorführt. [. . .] Zu welchen Spannungen und Zerreißproben die
Nutzung dieses ästhetischen Potentials im inter- oder transkulturellen Kontext
führen kann, hat der Fall Salman Rushdie eindrücklich vorgeführt.“ (Uerlings
2001: 20 f.) Der transkulturelle Diskurs erfährt in den Migrationsliteraturen viel-
gestaltige Ausprägung. Dabei ist die ästhetische Differenz ein Prisma von kultu-
rellen und sexuellen Differenzen. Die biographisch bedingte „in-between-Konsti-
tution“ der MigrationsautorInnen bereichert ihre Poetik um vielfältige Doppelun-
gen und eröffnet neue Facetten im Spiel der Differenzen.
14 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

Ausgehend von allgemeinen Überlegungen über Kolonialismus und die Ent-


stehung des modernen Romans geht Gesa Mackenthun in „Deep Travels, Mixed
Voices. Die Erosion narrativer Konventionen in Fiktionen über (weibliche) Mi-
gration“ der Frage nach, welche narrativen Mittel der novellistische Diskurs be-
reit hält, um subalterne Stimmen von MigrantInnen zum Sprechen zu bringen
bzw. ihre Sprachlosigkeit effektvoll zu inszenieren. Als literarische Beispiele die-
nen neuere Romane, die auf unterschiedliche Art das Repertoire der Romanform
zur Artikulation „subalterner“ Stimmen ausschöpfen: Anne Michaels „Fugitive
Pieces“, Michael Ondaatjes „Anil’s Ghost“ und Margaret Atwoods „Alias
Grace“. Dabei werden Zusammenhänge zwischen der thematischen Darstellung
von Migration in diesen Romanen und ihren vielstimmigen Erzählweisen deut-
lich.
Christa Gürtler und Eva Hausbacher fragen im Anschluss daran, ob von ei-
ner Migrationsliteratur gesprochen werden kann und falls ja, welche Merkmale
diese aufweist. „Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Auto-
rinnen“ thematisiert damit grundlegend die Rolle von Literatur im Prozess der
durch Globalisierung und Migration eingetretenen kulturellen Veränderungen.
Fest steht, dass die sich dabei herausbildenden Zwischen- und Transiträume
wichtige Zentren ästhetischer Innovation werden. Der Beitrag fragt nach den Zu-
sammenhängen zwischen Migrationssituation und Schreibstrategien und be-
schreibt das Zusammenwirken von Erzählformen und transnationalen Identitäts-
mustern. Wo lässt sich diese neue Migrationsliteratur, die innerhalb nationaler Li-
teraturen keinen Platz findet, verorten, wenn sich auch die transnationalen Bio-
graphien der Autorinnen den Einteilungsmustern klassischer Nationalstaatszuge-
hörigkeit entziehen? Die Texte von vier Schriftstellerinnen werden als Beispiele
einer solchen Literatur „in Bewegung“, in den Zwischenräumen und Überlappun-
gen der Kulturen vorgestellt: Yoko Tawada, Ilma Rakusa, Julya Rabinowich und
Marija Rybakova.

II Aktuelle Migrationsdebatten

Im Teil II des Bandes sind Beiträge gesammelt, die sich mit aktuellen Migrations-
debatten beschäftigen. Der Bogen reicht von einer Diskussionsrunde mit Verant-
wortlichen von Integrationsprojekten und -maßnahmen über eine Bestandsauf-
nahme von Fluchtgründen und -bewegungen von Frauen, ihrer Behandlung vor
österreichischen Gerichten bis hin zur Diskussion der Schleierdebatte in Politik
und Medien und zu interkulturellen Geschlechterarrangements.
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 15

Akademische Migrantinnen – unter ihnen etwa Gayatri Spivak, Seyla Benha-


bib, Avtar Brah, Rosi Braidotti, Saskia Sassen oder Julia Kristeva – haben die De-
batten über Geschlechterverhältnisse und Migration geprägt. Neben der Transna-
tionalisierung der Eliten gibt es aber weiterhin auch eine Transnationalisierung
„von unten“: Frauen und Männer, die ihr Land verlassen und ihre Familien im
Herkunftsland zurücklassen (müssen), um in einem anderen unter prekären Be-
dingungen zu arbeiten. Dass das Phänomen der Migration immer stärker Frauen
betrifft, beweisen neueste Statistiken (vgl. Lutz 2004, Munk 2006), da die globa-
len ökonomischen, sozialen und politischen Strukturen zu einer Feminisierung
der Armut und infolgedessen zu einer höheren Mobilität von Frauen führen. Dass
seit Anfang der 1990er Jahre sich immer mehr Frauen unter den MigrantInnen
befinden, hängt mit dem stetigen Wachstum des Dienstleistungssektors zusam-
men, in dem überdurchschnittlich viele Frauen tätig sind. Migrantinnen lösen in
diesen Berufen Frauen aus der einheimischen Mittelklasse ab und ermöglichen es
ihnen, angesehenere und wahrnehmbarere Tätigkeiten auszuüben. So stellt die
Nutzung der reproduktiven Arbeitskraft von Migrantinnen die traditionelle Rol-
lenverteilung zwischen den Geschlechtern auf einer neuen Ebene wieder her
(vgl. Tjurjukanova 2006). Die rechtliche Situation in Einwanderungsstaaten re-
gelt die Situation von Migrantinnen und Migranten unterschiedslos, die prakti-
sche Anwendung zeigt, dass geschlechterspezifische Kriterien eine große Rolle
spielen (z. B. geschlechterspezifische Fluchtgründe im Flüchtlingsanerkennungs-
verfahren, Regelungen über Familienzusammenführung, Bestimmungen zur In-
tegration).
Folgende Leitfragen spiegeln sich in den Beiträgen des Sammelbandes, die
sich aktuellen Migrationsdebatten widmen:

• Lassen sich weibliche/männliche Migrationsmuster unterscheiden?


• Gibt es geschlechtergebundene Erfahrungen von Migration und Flucht?
• Welche Bedeutung nehmen geschlechterspezifische Markierungen von priva-
tem und öffentlichem Raum im Migrationszusammenhang ein?
• Wie ist die praktische Umsetzung der gleichen rechtlichen Ausgangssituation
in Einwanderungsstaaten für Migrantinnen und Migranten?
• Wie manifestieren sich genderspezifische Konnotationen in der nationalkultu-
rellen Konstruktion des Eigenen und Fremden und wie werden diese gesell-
schaftspolitisch, rechtlich, textuell-künstlerisch usw. übersetzt? Wie werden
sie in den Medien produziert und reproduziert?
• Sind interkulturelle Begegnungen geschlechtlich semantisiert, schreiben sie
traditionelle Geschlechterrollen fort, oder forciert die inter- bzw. transkultu-
relle Disposition ein Ausbrechen aus stereotypen Geschlechtermustern?
16 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

Einen Problemaufriss gibt eine Diskussionsrunde, die 2010 an der Universität


Salzburg unter dem Thema „Kann die Migrantin sprechen?“ stattfand und von
Eva Schmidhuber (Radiofabrik Salzburg) moderiert wurde. Die TeilnehmerInnen
Angela Lindenthaler (Verein Viele), Manfred Oberlechner (Migrationsstelle des
Landes Salzburg), Danijela Ristic (Radiofabrik „Willkommen in Salzburg“),
Gerlinde Ulucinar Yentürk (Integrationsbeauftragte, Büro für interkulturelles Zu-
sammenleben, Hallein) und Ebru Yurtseven (Muslimische Jugend Österreich) ge-
ben einen Überblick über ihre Arbeit und diskutieren Probleme und Erfolge,
Chancen und Grenzen ihrer Arbeit.
Wenn es um Flucht und Fluchtgründe geht, dann ist die öffentliche Wahrneh-
mung vom Bild des politisch verfolgten Mannes bzw. des aus ökonomischen
Gründen Asyl beantragenden Mannes geprägt. Statistiken zeigen, dass in den eu-
ropäischen Ländern tatsächlich der Anteil männlicher Asylantragsteller höher ist
als der weiblicher. Weltweit sind derzeit jedoch rund fünf Millionen Frauen und
Mädchen auf der Flucht. Diese sind häufig besonders schutzlos und laufen spe-
ziell in bewaffneten Konflikten Gefahr, zu Opfern von systematischen Gewalt-
handlungen durch die Konfliktparteien zu werden. Frauen sind auf der Flucht
auch mit geschlechtsspezifischen Barrieren konfrontiert. Der Beitrag von Melita
Sunjic „Frauen auf der Flucht“ zeichnet die Entwicklung der Tätigkeit des Flücht-
lingshilfswerkes der Vereinten Nationen (UNHCR) nach. Gezielte Projekte und
die Erarbeitung von entsprechenden rechtlichen Rahmenbedingungen sollen
dazu beitragen, die Lage der Flüchtlingsfrauen zu verbessern. Sunjic behandelt
darüber hinaus ein eher selten diskutiertes Thema: Die Flüchtlingsgemeinschaf-
ten selbst mussten und müssen lernen, dass Frauen in dieser Gemeinschaft eigene
Rechte und Bedürfnisse und insbesondere auch einen Anspruch auf Selbstvertre-
tung haben. In ihrem Beitrag zeigt die Journalistin auch auf, wie schwierig der
Zugang zum Asylverfahren in Europa wurde.
Der Beitrag der Juristin Anna Wildt ergänzt und bestätigt diese Befunde und
konkretisiert sie in Bezug auf die Rechtsprechung in Österreich. „Frauen im Spie-
gel des österreichischen Asylrechts“ behandelt insbesondere jene Verfahren, in
denen Frauen eine Asylgewährung aufgrund geschlechtsspezifischer Verfolgung
beantragt haben. Die Beschreibung der Rechtspraxis zeigt, wie Flüchtlingsfrauen
bei der Flucht nach Österreich von einer geschlechterhierarchisch strukturierten
Gesellschaft in die nächste geraten und sich hier insbesondere auch mit Ge-
schlechterstereotypen und -vorurteilen von Juristinnen und Juristen konfrontiert
sehen. Wildt geht in ihrem Beitrag folgenden Fragen nach: Wie werden Flücht-
lingsfrauen im Ermittlungsverfahren gesehen? Wie passen die per Gesetz festge-
stellten Asylgründe zur Fluchtsituation von Frauen? Wie werden die Anliegen
von asylsuchenden Frauen wahrgenommen? Wildt kommt zu dem Schluss, dass
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 17

Geschlecht die Asylgewährung und die Beweiswürdigung beeinflusst. Abschlie-


ßend zeigt die Autorin Möglichkeiten auf, um die Situation für Asylwerberinnen,
insbesondere in der Vorbereitung auf das Verfahren, zu verbessern und Rechtsbe-
ratung und -vertretung partizipatorischer zu gestalten.
Die nächsten beiden Beiträge des Bandes setzen sich mit der Repräsentation
von Frauen, die Schleier oder Kopftuch tragen, auseinander. Hadj-Abdou,
Gresch, Rosenberger und Sauer stellen Ergebnisse einer Mehr-Länder-Studie
vor, die die sogenannten „Kopftuchdebatten“, die Debatten über das muslimische
Kopftuch, in verschiedenen europäischen Ländern untersucht hat. Zu den Haupt-
ergebnissen zählt, dass es trotz der Zunahme restriktiver Politik sehr unterschied-
liche Regulierungen in Bezug auf die Körper- und Haarbedeckung von Musli-
minnen gibt. Auch von einer diskursiven Europäisierung kann nicht gesprochen
werden, da nationale Politik und nicht die in der EU geltenden Antidiskriminie-
rungsgesetze die Debatten bestimmen. Des Weiteren ist die jeweilige politische,
kulturelle oder historische Rahmung der Kopftuchdebatten für deren Verlauf und
Ausprägung entscheidend. So begründet in Österreich eine schon lang andau-
ernde Anerkennung der muslimischen Glaubensgemeinschaft das Fehlen von
Restriktionen gegen Frauen, die Kopftuch tragen. Dieser Beitrag schließt mit
Empfehlungen für die EU-Politik, um Diskriminierungen zu vermeiden und in
den Entscheidungsprozessen gleiche Rechte für muslimische Frauen zu gewähr-
leisten.
Trotz einer insgesamt liberalen Haltung in der Kopftuchdebatte sind aber auch
in Österreich das Kopftuch und die Verschleierung zum vielfältigen Symbol für
ein Anders- und Fremdsein geworden. In dem zweiten Beitrag zur Schleierde-
batte „Intersektionale Verortungen: Bilder von verschleierten Frauen in der öster-
reichischen Presse“ gehen Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirch-
hoff der Frage nach, wie Medien an Konstruktionen und Grenzziehungen vom
„Eigenen“ und „Fremden“ beteiligt sind. In einer Untersuchung der Bildbericht-
erstattung über verschleierte Frauen in einer Auswahl österreichischer Zeitungen
wird analysiert, wie bei diesen Printmedien Schleier und Kopftuch als Markie-
rung kultureller Differenz in Migrationsdiskursen dienen. Es werden dabei drei
Typen medialer Identitätsräume zur Verortung verschleierter Frauen ausgemacht:
(1) Die Konstruktion von politisch-geographischen Räumen erlaubt es beispiels-
weise, islamisch geprägte Nationen wie Afghanistan und Iran und deren antiame-
rikanische Politik durch den Fokus auf Burka tragende Frauen darzustellen.
(2) Identitätspolitische Räume wiederum können vermittels territorialer oder
symbolischer Grenzsetzungen Ein- und Ausschlussverfahren einer Gesellschaft
produzieren, so am Beispiel „der Schleierfrau“ und vermeintlichen islamistischen
Terroristin Mona S., die wegen ihrer Weigerung, vor Gericht den Schleier abzule-
18 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

gen, vom Recht auf Teilnahme an der eigenen Gerichtsverhandlung ausgeschlos-


sen wurde. (3) Als Zwischenräume wiederum werden mediale Identitätsräume
besonders im Kontext kultureller Produktion verstanden, so in der feministischen
künstlerischen Darstellung verschleierter Frauen als Auseinandersetzung mit
dem islamistischen Fundamentalismus durch die Fotografin Shirin Neshat, die
traditionelle mediale Stereotypen „der verschleierten Frau“ aufzubrechen und die
Vielfalt transkultureller Bedeutungen aufzuzeigen sucht.
Der letzte Beitrag verändert die Forschungsperspektive und hinterfragt gän-
gige Stereotype, indem darin Frauen und Männer mit und ohne Migrationshinter-
grund vergleichend zu Wort kommen. Schahrzad Farrokhzad präsentiert Ergeb-
nisse einer qualitativen Studie, die im Auftrag des Ministeriums für Generatio-
nen, Familien, Frauen und Integration in NRW/Deutschland erstellt wurde. Leben
und planen „Einheimische“ durchweg gleichberechtigtere und eher symmetrische
Partnerschaften und Familienstile als Menschen mit Migrationshintergrund? Vor-
gestellt werden „Geschlechterarrangements von Frauen und Männern im inter-
kulturellen Vergleich“, und zwar in Familien ohne und mit Migrationshintergrund
(Türkei und ehemalige Sowjetunion). Die Studie ist intergenerativ ausgerichtet
und knüpft an die Erkenntnisse der bekannten SINUS-Studien zu Migrantenmi-
lieus (2007 und 2008) an, in denen ein zentrales Ergebnis war, dass Milieuzuge-
hörigkeit sowohl für die soziale Lage als auch für Einstellungen und Lebensstil
deutlich ausschlaggebender war als der Herkunftskontext.

Fazit

Der vorliegende Band führt die Forschungsfelder Migration und Geschlecht zu-
sammen. Der sozialwissenschaftlichen Dominanz in der Migrations- und Ge-
schlechterforschung wird hier ein dezidiert interdisziplinäres Konzept entgegen-
gestellt, das auch Beiträge aus den Literatur-, Kultur- und Rechtswissenschaften,
aber auch aus der Migrations-/Integrationspraxis und dem Journalismus umfasst.
Die Publikation berücksichtigt damit gleichermaßen die gesellschaftspolitische
Virulenz von Migration als auch deren Bedeutung in verschiedenen disziplinären
und interdisziplinären Diskursen.
Dabei sind Sammelbände, zumal wenn ihre Beiträge auf eine Vielfalt an Diszipli-
nen zurückgreifen und damit unterschiedliche Schreibweisen verbunden sind, immer
in Gefahr, eine Fülle an nicht miteinander verbundenen Themen zu behandeln. Um
dem zu entgehen, zieht sich durch das Buch wie ein „Roter Faden“ die Positionierung
im Rahmen einer kritischen Migrationsforschung sowie die Fokussierung auf inter-
Einleitung: Kann die Migrantin sprechen? Migration und Geschlechterverhältnisse 19

sektionale, transkulturelle und postkoloniale Perspektiven. Zugleich haben wir eine


Schwerpunktsetzung auf Asyl- und Kopftuchdebatten vorgenommen.
Theorie und Praxis stehen gerade bei der Behandlung von Themen, die inner-
halb einer Gesellschaft kontrovers und vehement diskutiert werden, wie es für die
Migrationsdebatte gilt, in einem Spannungsverhältnis. In den Gender Studies
drückt sich das etwa darin aus, dass das im politischen Bereich wirksame „Gen-
der Mainstreaming“ neueren Ansätzen und Erkenntnissen der „Gender und Queer
Studies“ partiell entgegensteht. Eine Brücke zwischen diesen Positionen baut das
Konzept des „strategischen Essentialismus“: Manchmal ist es notwendig, Frauen
und Männer zu benennen, um Diskriminierungen sichtbar werden zu lassen und
abzubauen, selbst wenn dies eine Reproduktion des binären Systems der Zweige-
schlechtlichkeit bedeutet und die heteronormative Fundierung der Gesellschaft
bestätigt. Ähnliches gilt für das von Ethnizität, Migration und Rassismus abge-
steckte Feld. Ein alleiniger Fokus auf theoretische Diskurse innerhalb der Migra-
tionsforschung bleibt unbefriedigend, da er keine Transformationskraft zu entfal-
ten vermag. Die Erkenntnis, dass kritische Migrationsforschung besonders auch
das Verhältnis Theorie – Praxis berücksichtigen muss, drückt sich in der Zweitei-
lung des Bandes aus und in der Aufnahme von Beiträgen, die aktuelle politische,
juristische und mediale Fragen berücksichtigen. Die Zusammenführung von
Theoriediskursen mit alltagsrelevanten gesellschaftlichen Migrationsdebatten so-
wie die Einbindung konkreter Problemhorizonte aus Salzburger Migrations-/In-
tegrationsprojekten stellt eine Besonderheit dieses Bandes dar. Theoriediskurse
brauchen eine Anbindung an konkrete Lebensverhältnisse, um gesellschaftliche
Relevanz zu entfalten. Praxisprojekte benötigen im Gegenzug die durch die kriti-
sche Migrationsforschung – etwa in deren Kritik am „Managing Diversity“-Kon-
zept oder am Integrationsbegriff – bereitgestellten Reflexionshorizonte, um nach-
haltige Veränderungen herbeiführen zu können. Die Frage „Kann die Migrantin
sprechen?“ hat einen theoretischen wie praktischen Kern und lässt sich nur im
Blick auf beides beantworten.
In Spivaks Perspektive reproduziert jedwedes Sprechen über Migrantinnen de-
ren Ausschluss, weil dieses sich notwendig auf Konzepte berufen und Sprechwei-
sen verwenden muss, in die koloniale und rassistische Strukturen eingeschrieben
sind. „Die Migrantinnen“ stellen keine identifizierbare Gruppe dar, vielmehr wird
durch diese Benennung eine Grenzziehung vorgenommen, die Fremdheit markiert
und so Ausschlüsse aus Gesellschaft und Kultur begründet. Auf eine theoretische
wie interventionistische Beschäftigung mit Migrationsforschung können und
wollten wir trotz dieser Problematik nicht verzichten. Wie das „doing gender“ fin-
den das „doing ethnicity“ und „doing culture“ im gesellschaftlich Denk- und Sag-
baren ihre Grenzen, eröffnen aber zugleich Platz für neue Gestaltungsräume.
20 Hausbacher, Klaus, Poole, Schmutzhart und Brandl

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Abschnitt I:
Intersektionelle und transkulturelle
Perspektiven
Transkulturelle Intrasektionalität als Perspektive in
der geschlechtertheoretischen Migrationsforschung
Sigrid Kannengießer

Die Ansätze der Transkulturalität und Intersektionalität erfahren in verschiede-


nen Forschungsdisziplinen derzeit einen Boom. Transkulturalität findet v. a. in
den Literatur- und Kulturwissenschaft zunehmend Beachtung; Intersektionalität
ist ein überwiegend in der Geschlechterforschung diskutiertes Konzept. Beide
Ansätze beobachten Prozesse der Identitätskonstruktion: Während Transkultura-
lität nach Hybridisierungs- und Differenzkonstruktionen innerhalb kultureller
Identitäten oder zwischen solchen sucht, fragt der Ansatz der Intersektionalität
nach dem Zusammenspiel verschiedener sozio-kultureller Kategorien.
Sowohl Kultur als auch Geschlecht erfahren tiefgreifende Wandlungspro-
zesse durch Globalisierung, denn diese durchdringt mittlerweile alle gesellschaft-
lichen und Lebensbereiche. Dabei ist Globalisierung kein neues Phänomen, doch
nimmt sie an Qualität und Intensität zu. Ein Phänomen zunehmender Globalisie-
rung sind Migrationsprozesse, die global und/oder regional verlaufen. Die Form
und der Verlauf von Migration sind divers, Migrant_innen kommen aus verschie-
denen sozialen Klassen, sind unterschiedlichen Alters und Geschlechts, und auch
die Ursachen der Migration sind sehr verschieden. Doch „Migration wurde lange
Zeit ,geschlechtslos‘ und aus androzentrischer Perspektive betrachtet“ (Westphal
2004: 1, siehe auch Treibel 2008: 141 ff.). Aus einer Geschlechterperspektive ist
jedoch zu konstatieren, dass Migrationsbewegungen vergeschlechtlicht sind: So
sind es z. B. überwiegend männliche Flüchtlinge, die den gefährlichen Weg von
Afrika nach Europa über das Mittelmeer auf sich nehmen, zum anderen sind es
weibliche Migrantinnen, die in „westlichen“ Ländern in der Pflege- und Haus-
arbeit arbeiten, um durch ihre Arbeit sich und ihre Familien, die oftmals in den
Heimatländer geblieben sind, zu finanzieren.
Die internationale Migration ist immer stärker feminisiert (Morokvasic 2009:
29). Annette Treibel unterscheidet zwischen verschiedenen Migrationsmotiven
weiblicher Migrantinnen: Flucht-, Arbeits-, Heiratsmigration und dem erzwunge-
nen Frauenhandel (Treibel 2009: 106 f.). Eine Feminisierung der Migration ist
v. a. in Form von temporärer und nachfrageorientierter Arbeitsmigration zu beob-
achten (Westphal 2004: 1). Eine Vielzahl von Migrantinnen findet Beschäfti-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_2,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Transkulturelle Intrasektionalität 25

gungsverhältnisse in Form reproduktiver Arbeit, sogenannter „Care-Arbeit“. Für


dieses Phänomen, aber auch weitere Felder vergeschlechtlichter Migrationspro-
zesse, liegt in der geschlechtertheoretischen Migrationsforschung eine Vielzahl
empirischer Analysen vor.1 Ich möchte im Folgenden keinen weiteren empiri-
schen Beitrag zu diesem Forschungsfeld leisten. Vielmehr möchte ich eine theo-
retische Perspektive für die geschlechtertheoretische Migrationsforschung vor-
schlagen, die meiner Meinung nach dazu verhelfen kann, vergeschlechtlichte Mi-
grationsprozesse zu analysieren. Um Geschlecht als sozio-kulturelle Kategorie in
einer globalisierten Welt und innerhalb der Migrationsforschung begreifen zu
können, möchte ich in diesem Beitrag die Kombination der Forschungsperspekti-
ven Transkulturalität und Intersektionalität ausarbeiten. Eine solche Kombination
stellt einen brauchbaren Ansatz für die Geschechterforschung im Allgemeinen
und die geschlechtertheoretische Migrationsforschung im Besonderen dar. Im
Folgenden erläutere ich daher sowohl das Konzept der Transkulturalität als auch
das der Intersektionalität und zeige in einem weiteren Schritt die gegenseitige
Anschlussfähigkeit der Ansätze auf. In einem letzten Teil möchte ich die Brauch-
barkeit dieser Perspektivenkombination in der geschlechtertheoretischen Migra-
tionsforschung aufzeigen.

1 Transkulturalität als Phänomen kultureller Globalisierung

Transkulturalität wird in diesem Beitrag zum einen als Phänomen (kultureller)


Globalisierung und zum anderen als kritische Perspektive auf kulturelle Globali-
sierungsprozesse verstanden. Globalisierung ist seit den 1990er Jahren im (wis-
senschaftlichen) Diskurs ein viel gebrauchter Begriff, doch ist dieser weder ein-
deutig definiert, noch wird er einheitlich verwendet. „Globalisierung ist ein kom-
plexer multidimensionaler Prozess der Entgrenzung und Enträumlichung zum ei-
nen, der Verdichtung und Vernetzung zum anderen“ (Tetzlaff 2000: 24). Globali-
sierung verändert Raum- und Zeitstrukturen und wird in allen sozialen Dimensio-
nen (Wirtschaft, Politik, Kultur etc.) sowie auf allen Ebenen (global, regional, na-
tional, lokal) wirksam. „Mit einem Metaprozess wie Globalisierung ist also im-
mer auch eine Vielfalt von davon abhängigen oder damit zusammenhängenden
Einzelentwicklungen benannt“ (Krotz 2007: 27). Die verschiedenen Prozesse
können parallel zueinander verlaufen oder auch entgegengesetzt. Im Diskurs um

1 Ein (tabellarischer) Überblick der Migrantinnenforschung seit den 1980er Jahren ist zu finden bei
Treibel 2009: 145. Zu Migration und (Care-)Arbeit siehe z. B. Lutz (2008) oder Appelt et al.
(2010).
26 Sigrid Kannengießer

kulturelle Globalisierung sind verschiedene Paradigmen zu finden: dominanz-


theoretische Ansätze, welche eine (bisweilen v. a. die US-amerikanische) Kultur
als dominant und sich weltweit durchsetzend beobachten; Kulturkonflikttheorien,
welche ein Ringen um kulturelle Hegemonie konstatieren, und Theorien der kul-
turellen Hybridisierung, welche die Herausbildung von Transkulturalität beob-
achten.2
Die kulturwissenschaftlichen Debatten um Hybridisierung sind nicht leicht zu
überschauen, zum einen aufgrund ihrer Vielfalt, zum anderen, weil die Theorie-
bildung selbst hybrid ist, indem sich viele verschiedene Diskursfelder und Diszi-
plinen vermischen (Ackermann 2004: 140).3 Gemeinsam ist diesen Theorien,
dass sie hinterfragen, wie sich kulturelle Identitäten in Abgrenzung zu einem An-
deren und unter Einbeziehung der jeweiligen Machtkonstellationen konstituieren.
Dabei geht es sowohl um die Konstruktion der eigenen als auch der anderen Kul-
tur. Des Weiteren beobachten die in diesem theoretischen Rahmen entstehenden
Kulturanalysen auch die Entstehung von etwas Neuem, das durch die Hybridisie-
rung von mindestens zwei Kulturen entsteht.
Dieses Neue nennt Wolfgang Welsch Transkulturalität (vgl. Welsch 2005:
49). Welsch charakterisiert Transkulturalität mit den Aspekten der kulturellen
Vernetzung, der Hybridisierung, der Auflösung der Eigen-Fremd-Differenz, der
Transkulturalität der Individuen sowie der Entkoppelung von kultureller und na-
tionaler Identität (vgl. ebd.: 39 ff.). Transkulturalität kann hier als ein Zwischen-
ergebnis kultureller Globalisierungsprozesse gelten, eine Momentaufnahme, die
Veränderungen durch kulturelle Globalisierung aufzeigen kann. Der diesem An-
satz zugrunde liegende Kulturbegriff ist geprägt durch Episteme der Offenheit,
Dynamik und Durchlässigkeit (Saal 2007: 23).
Doch Hybridisierung ist nicht lediglich nur eine kulturelle Vermischung. Dem
Hybriditätskonzept Homi Bhabhas folgend unterstreicht Britta Saal, dass es im
Konzept der Hybridität um mehr gehe als um eine kulturelle Vermischung; viel-
mehr sei Hybridität eine diskursive Kategorie (vgl. ebd.: 29). Das bedeutet, dass
Hybridität der Herstellungsprozess kultureller Differenzen ist: „Mit kultureller
Differenz bezeichnet Bhabha nicht den Unterschied zwischen kulturellen Einhei-
ten – diesen bezeichnet er als kulturelle Diversität –, sondern das, was im Mo-
ment der Äußerung von kultureller Differenz selbst entsteht“ (ebd.: 29). Bhabha
betont damit den „schöpferischen Aspekt von Hybridität“ (ebd.: 31). Kulturelle

2 Diese Ansätze können in ihrer Entstehung historisch gesehen werden, doch existieren die von ih-
nen beschriebenen kulturellen Phänomene parallel und/oder in Mischformen. Detailliertere Aus-
führungen zu diesen Ansätzen sind zu finden bei Kannengießer 2009.
3 Andreas Ackermann gibt einen Überblick über den Gebrauch des Begriffs in der Kulturwissen-
schaft: vgl. Ackermann 2004: 141.
Transkulturelle Intrasektionalität 27

Hybridisierung und damit kulturelle Differenz „passiert“ demnach nicht einfach,


sondern wird hergestellt. Diese Herstellung verläuft in kulturellen Aneignungs-
prozessen, die in einem von Machtstrukturen durchzogenen Raum ablaufen. Indi-
viduen konstruieren Kultur und kulturelle Identität in Abgrenzung von oder An-
eignung des Anderen. Dabei stehen Migrant_innen in der besonderen Position,
aufgrund der Veränderung ihrer (kulturellen) Umgebung mit „anderen“ Kulturen
konfrontiert zu werden. Denn Migration ist zu verstehen als „die alltagsweltlich
relevante großräumige Verlagerung des Lebensmittelpunkts durch lokale Mobili-
tät“ (Hepp et al. 2010: 28). Diese sehr allgemeine Definition versteht damit alle
Menschen als Migranten, die den Ort ihres Lebens verändern. Durch diese lokale
Veränderung ist die_der Migrant_in dem „kulturellen Anderen“ in unterschiedli-
cher Art ausgesetzt, seine_ihre Identität wird hybrid im Sinne der kulturellen Ver-
mischung und Differenzkonstruktion.
In diesen Konfrontationsprozessen erleben Individuen Diskriminierung, z. B. in
Form von Rassismus, Sexismus, Diskriminierung aufgrund von Alter oder Behinde-
rung. Migrant_innen erfahren diese Diskriminierung oftmals aufgrund ihrer Nationa-
lität und/oder Ethnizität. Diese Diskriminierungserfahrungen implizieren ein Erleben
von Machtstrukturen, die u. a. kulturellen Differenzkonstruktionen inhärent sind.
Die Betonung kultureller Differenz wird im Transdifferenz-Ansatz unterstri-
chen. Das Konzept der Transdifferenz versucht zum Ersten „Differenzen in ihrer
Notwendigkeit anzuerkennen, diese Differenzen zum zweiten als konstruierte
Differentsetzungen zu sehen und, zum dritten, diese gleichzeitig nicht auf Binari-
täten zu reduzieren“ (ebd.: 32). Transdifferenz dekonstruiert also die Herstellung
kultureller Differenzen sowie die Dualismen dieser Konstruktionen. Treffen
durch kulturelle Globalisierung differente Kulturen aufeinander, wird das binäre
Inklusions-/Exklusionsschema destabilisiert (vgl. Lösch nach Saal 2007: 32).
Kulturen unterliegen durch Globalisierung dem Druck, das Eigene und das Frem-
de kontinuierlich neu zu entwerfen. Migrationsprozesse sind dabei ein Grund
bzw. Anlass für die Konfrontation verschiedener Kulturen. Dies führt sowohl zu
Hybridisierung als kultureller Vermischung als auch zu Hybridisierung als kultu-
reller Differenzkonstruktion.
„Der Entstehungsort von Transdifferenz ist die ,Zone der Unbestimmtheit‘, in der die klare
Grenzlinie und -markierung der Differenzsetzung durch Zweifel und Infragestellung ver-
schwimmt. Der Zweifel an zugeschriebenen Positionierungen und die Subversion von Machtver-
hältnissen können dann zur ,Gewinnung von Freiheitsmomenten‘, zu neuen ,Gestaltungsmög-
lichkeiten des Subjekts‘ und damit zu Modifikationen und Veränderungen im Sinne von temporä-
rer Suspendierung bestehender Differenzen führen“ (Mae 2007: 46).

In der Konstruktion von Transdifferenz liegt somit die Möglichkeit, Kultur und
kulturelle Identitäten neu zu entwerfen und bestehende Kategorien damit zu de-
28 Sigrid Kannengießer

konstruieren. Der_die Migrant_in eignet sich „fremde“ Kulturen an oder lehnt sie
ab, seine_ihre Identität wird damit transkulturell.
Saal kombiniert die Konzepte der Transkulturalität (nach Welsch), der Hy-
bridität (nach Bhabha) und der Transdifferenz (nach Lösch), um die Schwächen
der jeweiligen Ansätze durch ihre Stärken zu kompensieren:
„Transkulturalität wird in erster Linie verstanden als eine Neufassung des Kulturbegriffs im Sin-
ne von Kultur als Transkultur. Als wesentlicher Bestandteil ist darin Hybridität im Sinne von
Bhabha enthalten und damit ein Werkzeug gegen macht- und hierarchiebezogene Differenzset-
zungen. Die Wahrnehmungsfähigkeit für sich verändernde Differenzkonstruktionen und damit
die Überwindung binärer Differenzkonstruktionen wird außerdem durch die Mitberücksich-
tigung von Transdifferenz geschärft bzw. ermöglicht“ (Saal 2007: 34).

In Hinblick auf die Konstruktion von Geschlechtsidentitäten kann Transkultura-


lität demnach zum einen Hybridisierung im Sinne einer Vermischung von Ge-
schlechteraspekten verschiedener Kulturen sein und zum anderen die Differenz
der eigenen und anderer kultureller Geschlechteridentitäten betonen. Wird
Transkulturalität verstanden als Phänomen kultureller Globalisierung, so finden
sich transkulturelle Aspekte auch in Geschlechtsidentitäten wieder, da Ge-
schlechtsidentitäten durch kulturelle Globalisierungsprozesse verändert werden.
Die Konstruktion von Geschlecht verläuft dabei performativ, d. h. als ständiger
Akt einer Wiederholung vorherrschender Normen (vgl. Butler 1991). Im Sinne
des Transdifferenzansatzes werden diese Normen durch Globalisierungspro-
zesse erschüttert, denn durch kulturelle Entgrenzung unterliegt die Vorstellung
von Geschlecht in der eigenen und anderen Kulturen einem Re-Konstruktions-
druck. Auch durch Migrationsprozesse werden Geschlechterkonstruktionen er-
schüttert. Der_die Migrant_in ist in der neuen Lokalität mit anderen Ge-
schlechternormen konfrontiert, die ihn_sie dazu veranlassen, die eigene Ge-
schlechtsidentität neu zu entwerfen: „Andere“ Geschlechterkonstruktionen wer-
den angeeignet oder abgelehnt. Die Geschlechtsidentität der_des Migranten_in
wird damit transkulturell.
Dabei führt Migration jedoch nicht nur zu kulturellen Aushandlungsprozes-
sen durch Migrant_innen. In der Konfrontation mit Migrant_innen werden auch
nicht-Migrant_innen provoziert, die Vorstellung des Eigenen und des Fremden
neu zu entwerfen.
In der Analyse von Hybridisierung und (Trans)Differenz liegt die Gefahr der
Essentialisierung sozio-kultureller Kategorien, von Homogenisierungen des Ei-
genen und des Fremden. Um dieser Gefahr zu entgehen, schlage ich eine Erweite-
rung der von Saal kombinierten Theorien mit dem Ansatz der Intersektionalität
vor.
Transkulturelle Intrasektionalität 29

2 Die Intrasektionalität der Kategorien

Der Terminus der Intersektionalität wird im wissenschaftlichen Diskurs unter-


schiedlich definiert und verwendet. Auch wenn die inhaltliche Debatte um Inter-
sektionalität nicht neu ist, so ist es sowohl die Wortschöpfung als auch die Dis-
kussion um den Begriff.4 D. h., auch wenn die Idee der Intersektionalität bereits
in den Anfängen des Differenzfeminismus, welcher die Berücksichtigung des Zu-
sammenwirkens von Geschlecht und Klasse oder Geschlecht und Rasse forderte,
zu finden ist, so ist Intersektionalität doch mehr als nur ein Name. Der Begriff er-
möglicht die klare Benennung einer Forschungsperspektive und eines -vorge-
hens. Er betont das Ineinandergreifen verschiedener sozio-kultureller Kategorien
und fragt nach den Machtstrukturen, in denen das Zusammenwirken der verschie-
denen Kategorien zu Formen von Unterdrückung und Ungleichheit führt. Inter-
sektionalität ermöglicht damit einen „Blick auf Überschneidungen zwischen
unterschiedlichen Formen von Ungleichheit und Differenz“ (Knapp 2008: 33).
Ilse Lenz schlägt vor,
„die grundlegenden sozialen Strukturkategorien wie Klasse, Geschlecht, Migration und Formen
des Begehrens als allgemeine und widersprüchliche Kräfte in der Moderne zu begreifen, die in ih-
ren Wechselwirkungen das Spannungsverhältnis sozialer Ungleichheit im sozialen Raum allge-
mein (vor)strukturieren“ (Lenz 2009: 54).

Intersektionalität setzt diese Prozesse der Produktion sozialer Ungleichheiten


durch die Wechselwirkungen verschiedener Kategorien in den Fokus. Dabei wird
Intersektionalität sowohl als Theorieansatz, der das Zusammenwirken der sozia-
len Kategorien thematisiert, als auch als Forschungsmethode, in der die Interde-
pendenz verschiedener Kategorien in Hinblick auf ihre unterdrückende Wirkung
untersucht wird, wahrgenommen (vgl. Degele 2008: 142). Gabriele Winker und
Nina Degele entwickeln eine intersektionale Mehrebenenanalyse (Winker, De-
gele 2010). Dieses Verfahren kann für qualitative Studien herangezogen werden.
Als Datenmaterial können dabei qualitative Interviews verschiedenster Art, wie
Experteninterviews, problemzentrierte Interviews, aber auch ethnografische
Interviews o. ä., untersucht werden sowie auch Gruppendiskussionen oder Me-
dieninhalte.

4 „Interest in intersectionality arose out of a critique of gender-based and race-based research for
failing to account for lived experience at neglected points of intersection – ones that tended to re-
flect multiple subordinate locations as opposed to dominant or mixed locations. It was not pos-
sible, for example, to understand a black women’s experience from previous studies of gender
combined with previous studies of race because the former focused on white women and the latter
on black men“ (McCall 2005: 1790).
30 Sigrid Kannengießer

Degele und Winker unterscheiden in der Mehrebenenanalyse zwischen drei


Ebenen: der Ebene der Identitätskonstruktionen, der Sozialstrukturen und der
symbolischen Repräsentationen, die in einem Wechselverhältnis stehen, d. h. sich
gegenseitig (widersprüchlich und gegenläufig) beeinflussen (ebd. 68 ff.). Diese
Ebenen wollen Winker und Degele in acht methodischen Schritten intersektional
analysieren: Einzelne qualitative Interviews sollen zunächst in Hinblick auf Iden-
titätskonstruktionen sowie die Anrufung symbolischer Repräsentationen und So-
zialstrukturen betrachtet und die herausgearbeiteten Wechselwirkungen dieser
Ebenen quer mit allen Interviews verglichen werden. Daran anschließend sollen
Strukturdaten und Repräsentationsanalysen, auf die in den Interviews Bezug ge-
nommen wurde, herangezogen werden, um im letzten Schritt die Wechselwirkun-
gen auf den verschiedenen Materialisierungsebenen benennen zu können (ebd.:
79 ff.). Die von Winker und Degele entworfene Methode scheint mir für eine
Auswertung qualitativer Interviews sinnvoll, werden die Einzelinterviews durch
die Einbeziehung von Struktur- sowie Repräsentationsebene kontextualisiert be-
trachtet. Eine solche Kontextualisierung ist wichtig und durch die Einbeziehung
von Sekundärquellen möglich, jedoch müssen meiner Meinung nach nicht alle
Ebenen immer berücksichtigt werden, da dies je nach Datenmaterial nicht zwin-
gend notwendig und für so manche Forschungsbedingung sicherlich auch rah-
mensprengend wäre. So sind Medieninhaltsanalysen wie sie in der Medienwis-
senschaft oder Film- und Fernsehwissenschaft durchgeführt werden ohne Einbe-
ziehung von Interviews erkenntnisbringend und auch intersektional möglich. Das
heißt: Während die von Winker und Degele entwickelte Mehrebenenanalyse für
soziologische Interviewauswertungen sinnvoll sein kann, ist sie nicht zwingend
intersektional bzw. auch andere Methoden können ohne die Einbeziehung dieser
drei Ebenen intersektional operieren. Intersektionalität ist dann eine Forschungs-
perspektive und weniger eine Methode.5 Eine solche Perspektive wird auch bei
Winker und Degele deutlich, wenn sie z. B. fordern, in ihrem ersten Schritt der
Mehrebenenanalyse nach Differenzkategorien im Interviewmaterial zu suchen
(Winker, Degele 2008: 81). Eine intersektionale Perspektive sensibilisiert für ein
offenes Suchen nach solchen Kategorien, also ein deduktives Vorgehen (s. u.) und
die Berücksichtigung ihrer Verwobenheit. Auch der Hinweis von Winker und De-
gele, für den Vergleich der Interviews nicht im Vorfeld Vergleichsdimensionen
festzulegen, also nicht innerhalb der Geschlechterkategorie, der Ethnizität etc. zu
vergleichen, sondern eine Typenbildung jenseits vorgefertigter Kategorien zu er-
möglichen (Winker, Degele 2010: 91), weist auf eine intersektionale Perspektive
hin. Formen von Ungleichheit, die durch das Zusammenspiel verschiedener kul-

5 Zur Intersektionalität als Forschungsperspektive siehe Knapp 2008: 44.


Transkulturelle Intrasektionalität 31

tureller Kategorien entstehen, können durch eine solche intersektionale Perspek-


tive sichtbar werden. Intersektionalität als Perspektive betrachtet also die sozialen
Kategorien in ihren Macht- und Herrschaftsgefügen und fragt, wie Ungleichheit
durch eine Verschränkung verschiedener sozialer Kategorien hergestellt wird.
Doch werden die sozialen Kategorien nicht aneinandergereiht, vielmehr treten sie
in „verwobener Weise auf, können sich wechselseitig verstärken, abschwächen
oder auch verändern“ (Degele 2008: 142). D. h., dass innerhalb der Kategorie
Geschlecht weitere Kategorien wirken, wie z. B. Sexualität, Alter oder Nationali-
tät, die die Geschlechterkategorie formen.
Katharina Walgenbach et al. plädieren dafür, Gender als interdependente Ka-
tegorie zu sehen:

„Als Autorinnenkollektiv [. . .] haben wir uns für die Verwendung dieses Begriffes entschieden,
da die Verbindung von inter (zwischen) und Dependenz deutlich macht, dass der Fokus des Be-
griffs auf der Konzeptualisierung wechselseitiger und nicht monodirektionaler Abhängigkeiten
liegt“ (Walgenbach et al. 2007: 9).

Damit werden die sozio-kulturellen Kategorien nicht aneinandergereiht, vielmehr


verlagern sich die komplexen Aufzählungen verschiedener Kategorien in das In-
nere einer Kategorie (vgl. Walgenbach 2007: 64).
Ich schließe mich der Argumentation der Herausgeberinnen und speziell Wal-
genbachs an, dass die Wechselwirkungen verschiedener sozio-kultureller Kate-
gorien innerhalb dieser stattfinden und analysiert werden können. Meiner Mei-
nung nach ist dies jedoch nicht mit dem Begriff der Interdependenz zu fassen, da
das Präfix „inter“ weiterhin ein „zwischen“ suggeriert. Um die Abhängigkeiten
verschiedener Kategorien zu betonen, die innerhalb einer Kategorie wahrnehm-
bar werden, plädiere ich daher dafür, von Intradependenz zu sprechen. Während
das lateinische Präfix „inter“ „dazwischen“ bedeutet, meint „intra“ „innerhalb“.
Intersektionalität betont somit zwar den Zusammenhang verschiedener Katego-
rien, jedoch suggeriert das Präfix immer noch ein Außerhalb der Kategorien, eine
Aneinanderreihung. Intrasektionalität hingegen betont die Verwobenheit, die in-
nerhalb der Kategorien zu beobachten und analysieren ist. Sinngemäß dieser Ar-
gumentation werde ich daher im Folgenden auch von Intrasektionalität und nicht
mehr von Intersektionalität sprechen. Geschlecht als intradependente Kategorie
betont demnach die Verwobenheit und Abhängigkeit der Geschlechterkategorie
mit anderen Kategorien, die innerhalb der Geschlechterkategorie (und jeder ande-
ren sozio-kulturellen Kategorie) wahrnehmbar und analysierbar werden.
Eine zentrale Frage in der Intrasektionalitätsdebatte ist, wie viele und welche
sozialen Kategorien in Analysen einbezogen werden sollten (vgl. Yuval-Davis
2009: 60). Stand zunächst die Verwobenheit von Rasse und Geschlecht bzw.
32 Sigrid Kannengießer

Klasse und Geschlecht und dann eine entsprechende Triade im Vordergrund, wer-
den je nach Forschungsfrage nun verschiedene soziale Kategorien berücksichtigt
(vgl. Degele 2008: 142 f.; Yuval-Davis 2009: 60).6 Die Liste der Kategorien ist
unbegrenzt (vgl. Yuval-Davis 2009: 60), die Auswahl der Kategorien muss so-
wohl aufgrund der Forschungsfrage als auch unter der Einbeziehung des sozio-
kulturellen Kontextes getroffen werden. Es gibt
„in bestimmten sozialen historischen Situationen und in Bezug auf bestimmte Menschen soziale
Kategorien [. . .], die für die Konstruktion spezifischer Positionierungen wichtiger sind als ande-
re. Gleichzeitig gibt es einige soziale Kategorien wie Geschlecht, Lebensabschnitt, ethnische Zu-
gehörigkeit und Klasse, die das Leben der meisten Menschen in den meisten sozialen Lagen ten-
denziell prägen, während andere soziale Kategorien wie die Zugehörigkeit zu besonderen Kasten,
zur indigenen Bevölkerung oder der Flüchtlingsstatus weltweit eher weniger Menschen betref-
fen“ (ebd., 61).

In der Geschlechterforschung bildet den Ausgangspunkt der Kategorienauswahl


die Kategorie Geschlecht und dann je nach Forschungsgegenstand und -frage
weitere Kategorien. In der geschlechtertheoretischen Migrationsforschung wer-
den v. a. die Kategorien der Nationalität und Ethnizität weiterhin relevant. Um
eine intrasektionale Perspektive methodisch umsetzen zu können, ohne sich auf
eine Auswahl bestimmter Kategorien festlegen zu müssen, kann die Methode der
Grounded Theory herangezogen werden. Die Grounded Theory ermöglicht die
Offenheit gegenüber dem zu analysierenden Material und damit auch die Berück-
sichtigung weiterer sozio-kultureller Kategorien, wenn diese in der Analyse rele-
vant werden.7 In der Geschlechterforschung wäre demnach Geschlecht eine rele-
vante Forschungskategorie, doch werden in einer intrasektionalen Perspektive
alle weiteren sozialen Kategorien betrachtet, die innerhalb der zu untersuchenden
Geschlechterkategorie wirken.
Eine intrasektionale Perspektive auf Geschlecht verhindert Essentialismen
und Pauschalierungen, da weitere für die Geschlechterkonstruktion relevante Ka-
tegorien in der Analyse berücksichtigt werden. Die sozio-kulturellen Kategorien
sind dabei abhängig vom sozio-kulturellen Kontext: „Wichtig ist, dass intersek-
tionale Kategorien nicht als Essenz verstanden werden, sondern als kontextab-
hängig, die auch bezüglich Zeit und Ort variieren können“ (Dietze 2008: 29). Ge-

6 Während in den Erziehungswissenschaften v. a. die Kategorie des Alters relevant ist (vgl. Kelle
2008: 57), wird für die SchwulLesbischen Studien die Kategorie der Sexualität (siehe hierzu
Dietze, Haschemi, Michaelis et al. 2007), für politikwissenschaftliche die der Nationalität sowie
für Ethnologie die der Ethnizität besonders relevant. Dabei ist es jedoch aus intrasektionaler Per-
spektive wichtig, die relevanten Kategorien nicht aneinandergereiht, sondern interdependent zu
denken und des Weiteren, sich nicht auf einige wenige Kategorien zu verengen, sondern offen für
die Berücksichtigung weiterer Kategorien zu sein.
7 Siehe ausführlich zur Grounded Theory Strauss, Corbin 1990.
Transkulturelle Intrasektionalität 33

rade durch Globalisierungsprozesse erfahren die Kategorien und ihr Zusammen-


wirken Veränderungen. Durch eine transkulturelle Perspektive können diese Ver-
änderungen erfasst werden.

3 Transkulturelle Intrasektionalität als Perspektive in der


geschlechtertheoretischen Migrationsforschung

Die Kombination der Konzepte Transkulturalität und Intrasektionalität ermög-


licht eine differenzierte, kontextbezogene Perspektive auf die Kategorie Ge-
schlecht. Transkulturalität wird insofern für die Geschlechterforschung relevant,
als Kultur und Geschlecht keine voneinander zu trennenden Entitäten sind. „Die
Kultur definiert die Genderidentität und das Genderverhältnis prägt die Kultur“
(Mae, Saal 2007: 17). Geschlecht kann nicht außerhalb von Kultur gedacht wer-
den und Kultur nicht ohne dezidierte Vorstellungen von Geschlecht. In verschie-
denen Kulturen werden Geschlechteridentitäten und -rollen unterschiedlich kon-
struiert: „Die Geschlechtsidentität lässt sich nicht aus den politischen und kultu-
rellen Vernetzungen herauslösen, in denen sie ständig hervorgebracht und auf-
rechterhalten wird“ (Butler 1991: 18).
Da Kultur nicht als abgeschlossene Einheit konzipiert werden kann und Glo-
balisierung zu einer neuen Intensität und Qualität kulturellen Wandels führt, kann
auch Geschlecht nicht mehr intrakulturell gedacht und analysiert werden. Denn
durch (kulturelle) Globalisierungsprozesse, und Migration ist ein Teil von ihnen,
unterliegen auch Geschlechterkonstruktionen einem Veränderungsdruck. Globa-
lisierung beeinflusst die Konstruktion der Geschlechtsidentitäten, da diese in po-
sitiver oder negativer Identitätsbildung verläuft, die entweder in einer Annahme
der jeweiligen anderen Geschlechtercharakteristika oder in einer Abgrenzung da-
von stattfindet und sich bestehende Geschlechterkonstruktionen manifestieren.
Migrationsprozesse als Teil von Globalisierung provozieren solche Aushand-
lungsprozesse in der Geschlechterkonstruktion (s. o.).
Transkulturelle Geschlechterkonstruktionen resultieren demnach aus einer
Hybridisierung von Kulturen, die sich hier in der Kategorie Geschlecht manifes-
tieren. Mit transkulturellen Geschlechterkonstruktionen sind Differenzen inner-
halb einer Geschlechtergruppe gemeint, die durch die Verwobenheit der Ge-
schlechterkategorie mit weiteren sozio-kulturellen Kategorien wie Nationalität,
Ethnizität, Sexualität, Alter etc. entstehen. So manifestiert sich in transkulturellen
Geschlechterkonstruktionen nach dem oben erläuterten Begriffsverständnis von
Transkulturalität kulturelle Hybridisierung zum einen als kulturelle Vermischung
und zum anderen als kulturelle Differenzkonstruktion.
34 Sigrid Kannengießer

Durch das Paradigma der Transkulturalität kann die Geschlechterforschung


dem durch Globalisierung veränderten Wechselverhältnis von Kultur und Ge-
schlecht gerecht werden (Mae 2007: 40). Für die geschlechtertheoretische Migra-
tionsforschung ist ein transkulturelles Paradigma unumgänglich. Durch eine in-
trasektionale Perspektive wird die Verwobenheit verschiedener sozio-kultureller
Kategorien, die in der Kategorie Geschlecht wirken, wahrnehmbar und analysier-
bar. Da die unterschiedlichen sozio-kulturellen Kategorien in verschiedenen Kul-
turen unterschiedlich inhaltlich gefüllt und konnotiert sind, kann die Einbezie-
hung dieser verschiedenen Kategorien zu aussagekräftigen Erkenntnissen in kul-
turwissenschaftlichen Geschlechteranalysen führen. Machtverhältnisse, die zu
Ungleichheit und Diskriminierung führen, können hierbei aufgedeckt werden.
Andreas Hepp schlägt vor, Transkulturalität als Perspektive anzuwenden (vgl.
Hepp 2009: 8). Er operationalisiert eine transkulturelle Perspektive für die Ana-
lyse von Medienkulturen. Ich möchte aufzeigen, dass ein solcher Ansatz weitrei-
chender auf alle Kulturanalysen übertragbar ist, und möchte Transkulturalität hier
zunächst als Perspektive für die Geschlechterforschung und dann für die ge-
schlechtertheoretische Migrationsforschung diskutieren.
Eine transkulturelle Perspektive sucht nach kulturellen Mustern (Hepp 2009:
11). Diese sind „Muster des Denkens“ (Bedeutungsproduktion durch Klassifika-
tionssysteme), „Muster des Diskurses“ (Bedeutungsproduktion durch Diskurse)
und „Muster der Praxis“ (Bedeutungsproduktion durch Praktiken der Individuen)
(vgl. ebd.). Für die Analyse von Geschlechterkonstruktionen bedeutet dies, dass
mit einer transkulturellen Perspektive kulturelle Geschlechtermuster herausge-
arbeitet werden können: Die Konstruktion von Geschlecht vollzieht sich auf den
Ebenen „des Denkens“ (Analysen zu Geschlecht als Strukturkategorie), des Dis-
kurses (diskursanalytische Ansätze der Geschlechterforschung) sowie der Praxis
(Doing-gender-Analysen). „Kulturen [werden, S. K.] als Verdichtungen von be-
stimmten Mustern des Denkens, des Diskurses und der Praxis analysiert“ (ebd.:
12). Geschlechterpraxen sowie geschlechtsrelevante Diskurse werden somit als
kulturelle Verdichtungen wahrnehmbar. Die von Hepp benannten Muster des
Denkens, des Diskurses und der Praxis erinnern an die von Winker und Degele
benannten Ebenen der Identitätskonstruktion, der Repräsentation sowie der
Strukturebene. Während Winker und Degele die Einbeziehung aller Ebenen for-
dern (s. o.), betont Hepp, dass nicht alle Muster in jeder Analyse herausgearbeitet
werden müssen, was meiner oben angebrachten Argumentation entspricht.
Durch die Einbeziehung einer intrasektionalen Perspektive kann eine Essen-
tialisierung kultureller Muster verhindert werden, denn durch die Berücksichti-
gung weiterer kultureller Kategorien, die in der Geschlechterkategorie wirksam
werden, wird verhindert, Geschlecht kulturhomogenisierend zu betrachten. Viel-
Transkulturelle Intrasektionalität 35

mehr erlaubt eine intrasektionale Perspektive eine genauere Analyse kultureller


Muster, indem die Wirksamkeit kultureller Kategorien in der Geschlechterkate-
gorie herausgearbeitet wird. Für die geschlechtertheoretische Migartionsfor-
schung kann dementsprechend gefragt werden: Welche Differenzkategorien sind
im Datenmaterial vorzufinden, in welchem Verhältnis stehen sie zueinander, und
welche Ungleichheits- und Herrschaftsverhältnisse lassen sich hier erkennen?
Wie wirken die Kategorien Nationalität und Ethnizität innerhalb der Ge-
schlechterkategorie? Erfahren ältere Frauen oder Männer innerhalb einer ethni-
schen Gruppe z. B. eine besondere Rolle? Dabei sollen die Kategorien nach der
Grounded Theory aus dem Material heraus und nicht induktiv angebracht wer-
den. Für die geschlechtertheoretische Migrationsforschung bedeutet dies, dass
die Auswertung theoriegeleitet für Kategorien des Geschlechts, der Ethnizität,
der Rasse sensibilisiert ist.
Während Intrasektionalität die Verwobenheit sozialer Kategorien betont,
weist eine transkulturelle Perspektive auf die kulturelle Hybridisierung innerhalb
verschiedener kultureller Kategorien hin. Intrasektionalität und Transkulturalität
richten dabei beide den Fokus auf das Innere sozio-kultureller Kategorien. Eine
intrasektional-transkulturelle Perspektive in der Geschlechterforschung verlangt
die Einbeziehung verschiedener Kategorien (Geschlecht, Rasse/Ethnie, Alter, Se-
xualität etc.) innerhalb der Analyse der Geschlechterkategorie, die Berücksichti-
gung existenter Ungleichheits- und Machtverhältnisse sowie die Einbettung der
Analyse in den sozio-kulturellen Kontext. In dem Herstellungsprozess von Kul-
tur und kulturellen Identitäten liegt das Potenzial, ungleiche Machtverhältnisse
aufzusprengen. Eine intrasektional-transkulturelle Perspektive auf Geschlechter-
hierarchien kann diese Möglichkeiten aufzeigen und nachzeichnen.
Indem der Fokus auf der Analyse der Machtstrukturen liegt, lassen sich Intra-
sektionalität und Transkulturalität in der Kritische Theorie verorten. Hepp be-
greift die transkulturelle Perspektive als Ansatz der Kritischen Theorie: In der
Analyse sollen unterschiedliche Machtkonstellationen zwischen den kulturellen
Mustern herausgearbeitet werden. Denn die Muster stehen nicht auf einer Ebene,
vielmehr bilden manche kulturelle Muster ein „Zentrum“, das als „machtvolle
Kraft“ angesehen wird (Hepp 2009: 14). Die Machtverhältnisse zwischen den
verschiedenen Mustern gilt es zu analysieren.
Innerhalb der Geschlechterforschung ist eine intrasektional-transkulturelle
Perspektive in der feministischen Tradition zu verorten: Feministische Kritik ist

„eine theoretische Praxis, die den Zusammenhang von Macht, Wissen und (möglichen) Seinswei-
sen fokussiert [. . .], die Regime der Verständlichkeit daraufhin befragt, wessen und welches (ge-
schlechtliche und sexuelle) Sein und Sprechen ermöglicht und wessen und welches Sein und
Sprechen verunmöglicht wird – auch durch feministisches Wissen“ (Hark 2009: 28).
36 Sigrid Kannengießer

Eine intrasektional-transkulturelle Perspektive stellt einen feministischen Ansatz


dar, da sie Macht- und Herrschaftsverhältnisse in dem Zusammenwirken sozio-
kultureller Kategorien hinterfragen will.
In Zeiten der Enträumlichung und Entgrenzung, der Verdichtung und Vernet-
zung verschiedener Geschlechterkonstruktionen kann eine intrasektional-trans-
kulturelle Perspektive zum einen Erkenntnisse über die Prozesse transkultureller
Geschlechterkonstruktionen bringen, zum anderen kann eine solche Perspektive
als „politische Intervention“ (Sauer 2008: 251) genutzt werden, die die Dekon-
struktion bestehender Geschlechterverhältnisse fokussiert.

4 Transkulturelle Intrasektionalität als Ausweg des


postkolonialen Dilemmas

Die geschlechtertheoretische Migrationsforschung analysiert die Vergeschlechtli-


chung von Migrationsprozessen. Die sozialen Effekte der Migrationsprozesse
sind widersprüchlich, Morokvasic weist darauf hin, dass Migration zum Zwecke
der Erwerbsarbeit emanzipieren, aber auch zu neuen Abhängigkeiten führen kann
(Morokvasic 2009: 29). Annette Treibel untersucht den Zusammenhang von Mi-
gration und Emanzipation und konstatiert, dass „ein vereinfachter westlich-sozio-
logischer-feministischer Blick auf Migration als eine Form der Emanzipation, die
als Freisetzung begriffen wird, nicht weit genug [reicht]“ (Treibel 2009).
Die Migrantinnen selbst befinden sich oftmals in subalternen Positionen, die
keinen Zugang zu den Positionen entsprechender Forschungsinstitutionen oder
der Öffentlichkeit finden. In den Subaltern Studies werden all diejenigen, die kei-
nen Zugang zum öffentlichen Raum haben, als Subaltern bezeichnet (vgl. Spivak
nach Dhawan 2008: 38). Der_die Subalterne ist ein zentrales Konzept postkolo-
nialer Theorie (vgl. Dhawan 2008: 37). Ziel der Postkolonialen Theorie ist es,
Normen und hegemoniale Vorstellungen von Identität zu dekonstruieren sowie
die Vormachtstellung letzterer zu relativieren, indem die Identitäten marginali-
sierter Gruppen sichtbar gemacht werden. Es geht dabei v. a. um die Dekonstruk-
tion essentialisierender und eurozentrischer Diskurse (Castro Varela 2008: 20).
Die Kernfrage postkolonialer Diskurse ist die der Repräsentation (Dhawan
2008: 36): Wer repräsentiert wen? Wer wird wie repräsentiert? Und wie ist diese
Repräsentation zu dekonstruieren? Repräsentation meint im Rahmen postkolo-
nialer Ansätze also sowohl Vertretung als auch Darstellung (Spivak 2003: 42 ff.).
„Bei Spivaks Frage ,Can the subaltern speak?‘ handelt es sich lediglich um eine
rhetorische Frage, denn dem Konzept der Subalternen ist die Unmöglichkeit des
Sprechens inhärent“ (Dhawan 2008: 39). Der Versuch der Subalternen, sich
Transkulturelle Intrasektionalität 37

selbst zu repräsentieren, muss immer wieder scheitern, da sie den institutionali-


sierten Strukturen der Repräsentation nicht entsprechen (Dhawan 2008: 37).
Das Konzept der_des Subalternen ist geschlechtertheoretisch zu dekonstruie-
ren, denn die subalterne Frau ist „noch schweigsamer“ als der „subalterne Mann“:
„Wenn Subalterne im Wettbewerb kolonialer Produktion [. . .] nicht sprechen
können, dann steht die weibliche Subalterne noch mehr im Schatten“ (Spivak
2003: 51).
Das Anliegen des postkolonialen Feminismus ist es somit, Subalterne, also
diejenigen sichtbar zu machen, die durch die strukturelle Gewalt des verge-
schlechtlichten Kolonialismus „nicht selbst in der Lage waren bzw. sind, sich
selbst zu repräsentieren“ (Dhawan 2008: 36).
Die subalterne Frau ist auch Gegenstand von Analysen und Theorien, die
durch „westliche“ Feministinnen erstellt werden. Chandra Talpade Mohanty
untersucht die Produktion der „Dritte-Welt-Frau“ als ein singuläres, monolithi-
sches Subjekt in feministischen Texten der 1980er Jahre.8 Die Produktion der
„Dritte-Welt-Frau“ bezeichnet sie als einen Prozess der diskursiven Homogeni-
sierung (Mohanty 1988: 63). Dabei finden die Homogenisierungen auf der analy-
tischen und der methodologischen Ebene sowie durch politische Voraussetzun-
gen statt (Mohanty 1988: 64 f.). Als Analysekategorie wird die „Dritte-Welt-
Frau“ im westlichen Feminismus durch verschiedene Annahmen, die bereits vor
der Analyse konstruiert werden, homogenisiert: Die „Dritte-Welt Frau“ als ein
Opfer männlicher Gewalt, der Kolonialisierung, der patriarchalen Familienstruk-
tur, religiöser Ideologien und als Abhängige nicht nur in traditionellen Struktu-
ren, sondern auch in Entwicklungsprozessen (Mohanty 1988: 65 ff.). In diesen
Diskursen wird die „Dritte-Welt-Frau“ nicht nur homogenisiert, sie verliert auch
ihren Subjektstatus und wird zum Objekt, da sie als passives und machtloses Op-
fer dargestellt wird, das sowohl von den patriarchalen Strukturen als auch der per-
sonellen männlichen Gewalt abhängig ist (Mohanty 1988: 66 ff.). Mohanty kriti-
siert die Homogenisierung durch die Vernachlässigung kultureller und histori-
scher Kontexte, in denen sich die „Dritte-Welt-Frauen“ befinden (vgl. Mohanty
1988).

8 Mohanty betont, dass die Begriffe der Dritten und der westlichen Welt sowie des Südens und des
Nordens nicht als geographische, sondern als politisch analytische Kategorien zu denken sind
(Mohanty 2002: 502, 505): „North/South is used to distinguish between affluent, privileged na-
tions and communities and economically and politically marginalized nations and communities,
as is Western/non-Western. While these terms are meant to loosely distinguish the northern and
southern hemispheres, affluent and marginal nations and communities obviously do not line up
nearly within this geographical frame. And yet, as a political designation that attempts to distin-
guish between the ,haves‘ and ,have-nots‘, it does have a certain political value“ (Mohanty 2002:
505, Hervorhebung im Original).
38 Sigrid Kannengießer

16 Jahre später greift Mohanty ihre in „Under Western Eyes“ entwickelten


Thesen wieder auf und reformuliert sie (Mohanty 2002). Während sie im ersten
Artikel eine Diskursanalyse des westlichen Feminismus vornimmt, der die „Drit-
te-Welt-Frau“ konstruiert, will sie nun kapitalistische Globalisierungsprozesse in
den Fokus setzen und als sexistisch und rassistisch entlarven (Mohanty 2002:
514 f.). Die vergeschlechtlichten Migrationsbewegungen sind ein Teil dieser Pro-
zesse. Auch im Migrationsdiskurs wurde und wird die Migrantin oftmals als Op-
fer wahrgenommen: „Die Dreifachunterdrückung der Migrantin als Frau, Arbei-
terin und Ausländerin sowie ihre Prägung durch (statische) kulturelle Differenzen
wurde [. . .] zur vorherrschenden Wahrnehmung“ (Westphal 2004: 2). Die Mi-
grantin wird zu einer Subalternen, die sich nicht selbst repräsentiert, sondern re-
präsentiert wird, nicht selber spricht, sondern für die gesprochen wird. Dieses Re-
präsentationsverhältnis wurde von Migrantinnen und ihren Selbstorganisationen
kritisiert und die Forschung differenzierter und selbstreflektierter (Westphal
2004: 2). Auch Annette Treibel beobachtet einen Perspektivenwechsel in der Mi-
grantinnenforschung, durch den „die Handlungsmotive und -interessen der Ak-
teurinnen in den Mittelpunkt gerückt [wurden]“ (Treibel 2009: 151). Kulturalisie-
rende (und homogenisierende) Sichtweisen sind aus diesem Diskurs jedoch nicht
ganz verschwunden (Westphal 2004: 2). Daher ist mit Morokvasic zu betonen,
dass die Migrant_in als Akteur wahrgenommen werden muss (Morokvasic 2009:
31). Eine geschlechtertheoretische Migrationsforschung muss aus einer postkolo-
nialen Perspektive die subalterne Position der Migrantin beachten, darf sie aber
nicht als sprachlos konstruieren. Eine oben beschriebene intrasektional-transkul-
turelle Perspektive kann daher die im postkolonialen Feminismus kritisierte
Homogenisierung und Essentialisierung der Migrantin vermeiden; Machtkonstel-
lationen sowie Ungleichheitsstrukturen können aufgedeckt werden. Dabei bleibt
es nicht bei einem bloßen Erkenntnisinteresse, denn als feministisch-kritischer
Ansatz kann eine intrasektional-transkulturelle Perspektive als politische Inter-
vention fungieren.

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Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle
Differenz?
Die Politisierung der Frage von Geschlechtergleichheit,
eine Herausforderung für egalitäres Denken1

Leila Hadj-Abdou

„Manchmal hasst und verachtet man, gerade weil man heftig


begehrt.“ (Maani 2004: 88)
„Work, pay tax, don’t hit your children and show respect for
equal rights between the sexes.“ (Aufruf auf der Webpage des
Dänischen Ministeriums für Integration, zit. n. Fekete 2006: 3)

Einleitung: Die Ausblendung der selbstbestimmten Migrantin

Meine Mutter kam mit 18 Jahren ohne Geld in der Tasche und ohne eine hoff-
nungsvolle Zukunft in ihrer Heimat als Gastarbeiterin nach Wien. Sie ernährte
unseren Vater, einen ausländischen Studenten, den sie vor Ort kennen lernte, und
ihren gemeinsamen Sohn, meinen Bruder. Mein Bruder, der erste „echte Wiener“
unserer Familie, wurde die ersten Jahre fernab von der Mutter von unserer Groß-
mutter mütterlicherseits aufgezogen, da unsere Mutter Tag und Nacht arbeiten
musste, um die Familie zu ernähren und nicht ausgewiesen zu werden. Je mehr im
Betrieb zu arbeiten war, desto glücklicher war sie, betont sie heute oft, wenn ich
mit ihr über damals spreche. Kurze Zeit später half meine Mutter meiner Tante
nach Wien zu kommen. Die Tante ist eigentlich eine Cousine, aber nachdem sie
die einzige Familie war, die wir in Österreich hatten, wurde sie prompt zur Tante
erklärt. Auch sie kam allein und arbeitete viele Jahre als Gastarbeiterin in Öster-
reich, ehe sie in die Schweiz zog und sich nach vielen Mühen zur Bankangestell-

1 Dieser Beitrag basiert ursprünglich auf einem Vortrag, der im Herbst 2010 zur Festveranstaltung
30 Jahre Autonomes Frauenzentrum Linz gehalten wurde. Mein Dank gilt daher den Organisato-
rinnen dieser Veranstaltung, aufgrund deren Einladung eine erste Rohfassung dieses Beitrages
entstanden ist. Zudem erlaubte mir das im 6. RP (Europäische Kommission) geförderte For-
schungsprojekt VEIL (2006–2009), welches von Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer an der
Universität Wien geleitet wurde, mich im Rahmen meiner Tätigkeit als Projektmitarbeiterin mit
den im Text angesprochenen Fragen wissenschaftlich auseinanderzusetzen. Mein besonderer
Dank gilt daher den beiden Projektleiterinnen und den europäischen Steuerzahler/innen.

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_3,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
42 Leila Hadj-Abdou

ten hocharbeitete. „Eine Kugel Eis, drei Schilling bitte“, waren die einzigen deut-
schen Worte, welche die Tante in den ersten Tagen sprach. Darüber lachen wir
drei Frauen, wenn wir über damals sprechen, heute noch viel.
Die Geschichte dieser zwei Frauen steht exemplarisch für viele Frauen, wel-
che in den 1960-er und frühen 1970-er Jahren nach Westeuropa kamen. Starke
Frauen, die in der Hoffnung auf ein Stückchen bessere Zukunft ihr Schicksal in
die Hand nahmen und auswanderten. Schon in den 1960-er Jahren waren 49% der
Migrant/innen in Europas Einwanderungsländern Frauen, gegenwärtig stellen
Frauen mit 53% sogar die Mehrheit der Migrant/innen in Westeuropa (Gosh
2009: 4). Das Faktum, dass Migration auch weiblich und vor allem auch selbstbe-
stimmt ist, wurde jedoch lange Zeit in der öffentlichen Diskussion nicht gesehen.
Diese Ausblendung war eine folgenreiche, wie Korun (2004) für Österreich be-
tont: „Die Haltung, Frauen bloß als ihren Männern ,Nachziehende‘ zu thematisie-
ren, machte sie im öffentlichen Bewusstsein zu Abhängigen, während die öster-
reichischen Gesetze mit diskriminierenden Bestimmungen sie von ihren Ehemän-
nern tatsächlich abhängig machten“ (Korun 2004: 70).
Diese Ausblendung des Faktums weiblicher Zuwanderung ist heute nahezu in
ihr Gegenteil verkehrt. Es gibt gegenwärtig kaum eine Debatte zu Migration, die
sich nicht um Migrantinnen dreht. Doch auch sie werden in der Regel nicht als
selbstbestimmt wahrgenommen. Themen wie sogenannte Zwangsverschleierung,
Zwangsehe bis hin zu Ehrenmorden dominieren die öffentliche Debatte. Frauen-
diskriminierende Praxen werden vor allem bei Migranten aus islamischen Län-
dern verortet, welche, so der Tenor, den Wert der Geschlechtergleichheit in Frage
stellen (Philips/Saharso 2008). Das politische Programm des Multikulturalismus,
der das Recht auf kulturelle Differenz postuliert, sei daher als gescheitert zu be-
trachten, da es Geschlechterungleichheit reproduziere (ebd.). Diese Debatte ist
dabei paradoxerweise nicht auf Staaten begrenzt, die sich einer multikulturellen
Politik verschrieben haben. Im Gegenteil, auch Repräsentant/innen von Staaten,
die selbst in der politischen Praxis2 niemals von einem multikulturellen Prinzip
angeleitet waren, wie etwa Deutschland, betonen, dass Multikulturalismus in ih-
ren Staaten gescheitert sei (Vertovec/Wessendorf 2010). Diese zunehmende Kri-
tik am Multikulturalismus ist jedoch nicht gleichzusetzen mit dem Ende jeglicher
multikultureller Politik, wie Will Kymlicka, einer der führenden Theoretiker zu
Multikulturalismus betont (Kymlicka 2007: 50). Im Gegenteil, vor allem im Hin-

2 Dies war in der politischen Praxis in Europa in den Niederlanden und dem Vereinigten König-
reich der Fall. Eine rechtliche Verankerung von Multikulturalismus als Programm gab und gibt es
lediglich in den klassischen, westlichen Einwanderungsländern außerhalb Europas, wie Austra-
lien und Kanada (Bauböck 2008a).
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 43

blick auf die Rechte nationaler Minderheiten und auch indigener Gruppen ist
nach wie vor ein Trend in Richtung Anerkennung der Rechte3 dieser Gruppen zu
bemerken. Lediglich multikulturelle Politiken im Hinblick auf zugewanderte
Gruppen (Bauböck 2008a) sind vor allem mit Berufung auf den Wert der Ge-
schlechtergleichheit zunehmend unter Kritik geraten.
In diesem Beitrag möchte ich diesem Phänomen der Fokussierung auf den
Wert der Geschlechtergleichheit in Debatten um Zuwanderung nachgehen. Ziel
des Beitrages ist es, die dahinterstehende Funktion dieser Anrufung der Ge-
schlechtergleichheit verständlich zu machen. Ich argumentiere, dass diese Debat-
ten, anstelle Geschlechtergleichheit zu fördern, vor allem dazu genutzt werden,
um restriktive Einwanderungspolitiken zu legitimieren. Ich beziehe mich dabei
vor allem auch auf das 2011 in Frankreich in Kraft getretene Verbot der Vollver-
schleierung, da diese Regelung einerseits einen vorläufigen Höhepunkt der Ent-
wicklung darstellt und andererseits einen für die gesamteuropäische Situation
paradigmatischen Fall repräsentiert. Es geht mir dabei nicht darum, die Praxis der
Vollverschleierung zu bewerten oder zu verteidigen, sondern die politische Regu-
lierung zu analysieren und zu hinterfragen. Ein weiteres Anliegen dieses Beitra-
ges ist es, auf die Frage einzugehen, welche Implikationen diese Entwicklungen
für egalitär feministisches Denken mit sich bringen. Basierend auf der feministi-
schen wissenschaftlichen Literatur zur Frage der Vereinbarkeit bzw. Unverein-
barkeit von Multikulturalismus und Frauenrechten, geht der Beitrag damit auf die
Frage ein, welche Positionierungen in den gegenwärtigen Debatten zu Migration
aus einer feministischen Perspektive sinnvoll erscheinen. Ich verfolge dabei den
Standpunkt, dass eine intersektionale Perspektive vonnöten ist, eine Perspektive,
welche die Verschränkungen von Ungleichheiten aufgrund verschiedener Zuge-
hörigkeiten thematisiert. Aus einem derartigen Blickwinkel sind das Recht auf
kulturelle Differenz und Geschlechtergleichheit keine Gegensätze, sondern be-
dingen einander vielmehr, um das Gleichheitsprinzip für alle Frauen erlebbar zu
machen (Hadj-Abdou 2011). Ausgehend davon geht der Text abschließend der
Frage nach, wie Rechte von kulturellen Gruppen und Rechte von Frauen in der
Praxis am besten zu vereinen sind.

3 Dies gilt im Übrigen auch für andere Formen von Differenz. Die rechtliche Anerkennung diffe-
renter sexueller Identitäten ist hier etwa als Beispiel zu nennen. Wenngleich sich vor allem inner-
halb dieser Gruppen Widerstand gegen eine allzu essentialisierende Zelebrierung von Differenz
formiert (Schlagwort: Queer politics), tendieren die Rechtssysteme zu Anerkennung (Brubaker
2004). Das suggeriert zudem, dass derartige Anerkennungspolitiken weniger in Widerspruch ste-
hen zur binären Verfasstheit von Geschlecht in kontemporären Gesellschaftsstrukturen als viel-
leicht ursprünglich angenommen, d. h., dass die Anerkennung von Homosexualität mit der Re-
produktion von (traditionellen) Vorstellungen über Geschlecht vereinbar ist.
44 Leila Hadj-Abdou

Die Herausforderung illiberaler Liberalismus: Von der „affaire du foulard“


zum Verbot der Vollverschleierung

Mehr als Rechtspopulismus

Soziale Praxen wie arrangierte Ehen oder das Tragen von Kopf- und Körperbede-
ckungen sind innerhalb der letzten zwanzig Jahre, nimmt man die „affaire du fou-
lard“4 in Frankreich im Jahre 1989 – ein Konflikt um das selbst gewählte Kopftuch
(hijab) zweier Schülerinnen (siehe dazu Lévy und Lévy 2004) – als Ausgangspunkt,
von einem Randthema zu einem fixen Bestandteil gegenwärtiger Diskussionen über
Einwanderung geworden, und stellen zunehmend einen Gegenstand politischer Re-
gulierung in Europa dar (Sauer 2008). Zusätzlich zu speziellen Regulierungen, wie
etwa zum Tragen von Kopftüchern (für einen Überblick dazu siehe Rosenberger/
Sauer 2011; Kiliç/Saharso/Sauer 2008), hat eine Reihe von westeuropäischen Staaten
ihre Einwanderungsregelungen und Staatsbügerschaftsregelungen verschärft und so
genannte Integrationstests eingeführt (Fekete 2006, Oers/Ersbøll/Kostakopoulou
2010), welche neben dem Nachweis von Sprachkenntnissen teilweise auch auf ein
direktes Bekenntnis zu liberalen Werten, wie dem der Geschlechtergleichheit, abzie-
len. So haben etwa die Niederlande eine Regelung eingeführt, welche von Antrag-
steller/innen auf Familienzusammenführung die Absolvierung eines Tests vor der
Einreise verlangt. Diese Tests stellen Fragen zur Sprachbeherrschung und Geschichte
des Landes. Antragsteller/innen sind zudem verpflichtet, ein Video zu sehen, welches
Bilder von weiblicher Nacktheit und homosexuellen Paaren zeigt (Schachar 2006).
Ein weiteres illustratives Beispiel sind die Einbürgerungsverfahren in deutschen
Bundesländern (Erdem 2009: 189; Rostock/Berghahn 2008: 354). Das Bundesland
Baden-Württemberg etwa führte 2006 Tests ein, welche Fragen zu Demokratie und
Terrorismus beinhalten als auch Fragen zum Verhältnis der Geschlechter und zu
Homosexualität. Es werden Fragen in der Art gestellt wie: „Was halten Sie von der
Aussage, dass eine Frau ihrem Mann zu folgen hätte, und dass dieser sie schlagen
dürfe, wenn sie nicht folge?“ Im selben Jahr hat auch das Bundesland Hessen Einbür-
gerungstests eingeführt, welche Fragen beinhalten wie: „Einer Frau sollte es nicht er-
laubt sein, ohne männliche Begleitung eines nahen Verwandten in die Öffentlichkeit
zu gehen oder zu reisen. Was halten Sie von dieser Aussage?“ Rostock und Berghahn
(2008: 354) betonen, dass beide Bundesländer üblicherweise als konservativ im Hin-
blick auf Fragen der Geschlechterverhältnisse und Homosexualität zu charakterisie-
ren seien, von daher legen die Einbürgerungstests die Vermutung nahe, dass es dabei

4 „Die Angelegenheit des Tuches“ (Übersetzung die Autorin)


Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 45

in erster Linie darum ging, muslimische Migrant/innen zu stigmatisieren und deren


„Rückständigkeit“ zu beweisen.
Eine Fülle von ähnlichen Beispielen, wenn auch nicht in institutionalisierter
Form, bieten auch Debattenbeiträge der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei
Österreichs (FPÖ), welche seit der Führung der Partei durch H. C. Strache konti-
nuierlich die Geschlechterungleichheit bei zugewanderten Gruppen thematisieren
(Hadj-Abdou/Rosenberger 2009). So lautete etwa einer der wiederholt eingesetz-
ten Wahlkampfslogans der Partei „Freie Frauen statt Kopftuchzwang“ (ebd.). Die
FPÖ agierte dabei erfolgreich als Agenda-Setter für andere österreichischen Par-
teien, welche sich seither, wenn auch in geringerem Maße als die FPÖ selbst,
ebenso dem Thema der Frauenunterdrückung bei Zuwanderern zuwandten.
Gleichzeitig verstärkte die Freiheitliche Partei unter Strache ihre männlich domi-
nierten Organisationsstrukturen und behielt eine nationalistische ideologische
Orientierung an der Familie als zentrale Einheit der Gesellschaft bei5 (ibid.), was
wiederum verdeutlicht, dass der „feministische Rechtspopulismus“ (Hadj-Abdou
2010) nicht auf eine geschlechtergerechte Gesellschaft abzielt. Der Trend des fe-
ministischen Rechtspopulismus ist in ähnlicher Ausprägung auch in den anderen
rechtspopulistischen und rechtsextremen Parteien Europas zu beobachten (Akker-
mann/Hagelund 2007, Betz/Meret 2009), ist jedoch, wie die angesprochenen poli-
tischen Regulierungen verdeutlichen, nicht auf diese beschränkt, sondern als ein
weit darüber hinausgehendes Phänomen zu verstehen (vgl. Fekete 2006).

Illiberaler Liberalismus

In der Analyse dieses Phänomens wurde von Seiten der Migrationswissenschaft


(Adamson/Triadafilopoulos/Zolberg 2011, Joppke 2007) der Begriff des „illibe-
ralen Liberalismus“6 geprägt. „Wir halten jetzt unsere universalistischen Werte

5 So propagierte etwa Barbara Rosenkranz, die Kandidatin der FPÖ zu den Bundespräsident-
schaftswahlen 2010, in ihrem Buch „ MenschInnen“, welche sich gegen eine Politik des Gender
Mainstreaming wendet, dass jede Frau im Durchschnitt zwei Kinder bekommen müsse, um den
Erhalt der eigenen Gesellschaft, d. h. Kultur, zu sichern (zit. n. Hadj-Abdou 2010: 118).
6 Triadafilopoulos (2011) hat diese Entwicklung jüngst „Schmitterian liberalism“, genannt da sie
von einem Freund-Feind-Schema gekennzeichnet ist. Triadafilopoulos (2011: 863) streicht rich-
tigerweise hervor, dass dieser Trend nicht mit vorhergehenden ethno-nationalistischen Konzep-
ten oder Rassismen zu verwechseln sei, sondern eine liberale Antwort auf die Herausforderungen
der kulturellen Pluralisierung sind, welche sich gezielt vom liberalen Multikulturalismus abzu-
grenzen versuchen. Siehe dazu auch Brubaker (2003), welcher verdeutlicht, dass es sich um eine
Form von Politiken handelt, welche nicht mit dem früheren nationalistischen Verständnis von As-
similation gleichzusetzen sind.
46 Leila Hadj-Abdou

hoch, weil wir euch unterstellen, dass ihr sie nicht teilt. Und dadurch definieren
wir neu, wer den Anspruch hat, dazu zugehören“, bringt Rainer Bauböck (2008b)
das Wesen des illiberalen Liberalismus auf den Punkt. Ein zentrales Moment des
illiberalen Liberalismus ist die Verwendung von essentalistischen Kategorien.
Dadurch können Politiken legitimiert werden, die andernfalls die liberalen Prinzi-
pien von Gleichheit und Toleranz konterkarieren würden, wie Triadafilopoulos
argumentiert (2011: 863).
In der gegenwärtigen Welt des illiberalen Liberalismus stellen Integrationspo-
litiken – Politiken, die vormals auf die rechtliche Gleichstellung von Migrant/in-
nen abzielten (Perchinig 2010) – zunehmend Instrumente des Ausschlusses dar,
welche auf die Restriktion internationaler menschlicher Mobilität und die Exklu-
sion von Menschen aus sogenannten Drittstaaten ausgerichtet sind (Guild/Groe-
nendijk/Carrera 2009: 5).
Einen Höhepunkt in diesen Entwicklungen stellt das 2010 verabschiedete und
im Frühjahr 2011 in Kraft getretene Gesetz der französischen Regierung dar (Sil-
vestri 2010), welches die Vollverschleierung (voile integral) an allen öffentlichen
Plätzen verbietet. Diese politische Maßnahme ist keinesfalls als französisches
Spezifikum zu verstehen. Ähnliche Regulierungen wurden auch in einer Reihe
von anderen westeuropäischen Ländern angebahnt: In Belgien hat sich das Unter-
haus des Parlaments bereits vor Frankreich auf ein Verbot geeinigt (2010). Auch
in den Parlamenten Italiens (2010) und der Niederlande (2006) wurden Gesetzes-
vorschläge erarbeitet. Während in den Niederlanden der Vorschlag schließlich je-
doch nicht Gegenstand der Gesetzeswerdung wurde (Schahar 2006), haben in Ita-
lien7 Bürgermeister/innen in von der Lega Nord regierten Städten (unter Zustim-
mung der Mitte-links-Parteien) bereits selbst Burka-Verbote erlassen (siehe z. B.
Corriere della Sera Milano, Online Ausgabe 1. 2. 2011). In Spanien wurde im
Sommer 2010 ein prohibitiver Gesetzesvorschlag in der oberen Kammer des spa-
nischen Parlaments verabschiedet, während ein solcher im katalonischen Parla-
ment wiederum knapp abgelehnt wurde (Nussbaum 2010). Eine Reihe weiterer
Länder diskutiert(e) Verbote. In Österreich fand eine Debatte dazu v. a. im Früh-
jahr 2010, initiiert durch die damalige Staatssekretärin für Familien Christine Ma-
rek (Österreichische Volkspartei) und die Frauenministerin Gabriele Heinisch
Hossek (Sozialdemokratische Partei Österreichs) statt (Nowak/Weiser 2010). All
diesen Ländern ist dabei gemein, dass dort erstens kaum gänzlich verschleierte

7 In Italien forderte die Frauenministerin Mara Carfagna, eine treue Gefährtin Berlusconis, ein der-
artiges Verbot (siehe dazu www.maracarfagna.net/2010/09/14/anche-litalia-dica-no-al-burqa/,
zuletzt abgerufen am 9. 5. 2011), und eine parteiübergreifende Parlamentskommission empfahl
im Jänner 2010 ein Verbot in öffentlichen Einrichtungen.
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 47

Frauen leben, es also gewissermaßen „eine Burka-Debatte ohne Burka“ gibt, wie
es die Journalist/innen Nowak und Weiser (2010) formulierten, und zweitens dass
in diesen Debatten das Argument der Frauenunterdrückung zentral war und ist.
Frankreich ist bis dato das einzige europäische Land, welches eine weit ge-
hende prohibitive Regelung hinsichtlich der Vollverschleierung erließ. Die Kom-
mission, welche im Vorfeld zur Ausarbeitung eines Gesetzesvorschlages einge-
richtet wurde, hatte nur ein partielles Verbot vorgeschlagen. Bereits dieses kom-
mentierte etwa die New York Times mit den Worten „Französische Politiker seien
bewusst blind gegenüber der Verletzung von individuellen Freiheiten“8 und be-
schrieb die Entwicklung als einen verkehrten „Talibanismus“ (zit. nach Jopkke
2011: 1). In der Tat macht das Gesetz in seiner erlassenen Form es Frauen, die
voll verschleiert sind – unabhängig davon, ob dies freiwillig oder unfreiwillig ge-
schieht –, unmöglich, selbst einen Einkauf zu erledigen oder einen öffentlichen
Park zu besuchen. Sowohl die eingerichtete Kommission als auch der Conseil
d’Etat, das Höchstgericht in Verwaltungsbelangen, rieten der französischen Re-
gierung aufgrund rechtlicher Bedenken von einem Totalverbot, welches alle öf-
fentlichen Plätze als Verbotszone für Vollverschleierung definiert, ab (Joppke
2011: 25). Die konservative Regierung deklarierte jedoch, dass sie gezielt juristi-
sche Risiken auf sich nehme, und warb im Zuge der Regionalwahlen im Frühjahr
2010 als Botschaft an die Wählerschaft des rechtsextremen Front National von
Marine Le Pen mit dem baldigen Erlassen eines Verbotes (ebd.: 26).
Die nunmehr in Kraft getretene gesetzliche Reglementierung betrifft gerade
einmal 0,1 Prozent der französischen muslimischen Bevölkerung (ebd.: 2), und
richtet sich somit an einen verschwindend geringen Teil der französischen Ge-
samtbevölkerung. Nach Angaben des französischen Innenministeriums sind zwei
Drittel der voll verschleierten Musliminnen französische Staatsbürgerinnen, wo-
von die Hälfte wiederum der zweiten und dritten Generation ursprünglich einge-
wanderter Menschen angehöre und ein Viertel konvertierte Musliminnen sind
(zit. nach Joppke 2011: 7).

8 Hier ist insbesondere Art. 9 ERMK (Recht auf freie Religionsausübung) zu nennen. Die französi-
sche Regierung betonte jedoch, in Übereinstimmung mit der Mehrzahl an islamischen Repräsen-
tant/innen, dass es sich beim Tragen der Vollverschleierung um keine religiöse Praxis handle,
und das Gesetz wurde im Gegensatz zum (de facto) ,Kopftuch‘-Verbot 2004 gegen religiöse
Symbole nicht mit dem Prinzip der laïcité begründet, sondern v. a. aufgrund des Verstoßes gegen
das Gebot der Geschlechtergleichheit und der öffentlichen Ordnung. Die Ausnahmeregelung des
Gesetzes zum Betreten religiöser Stätten als auch die Begründung der Regierung in Reaktion auf
ein Urteil des Menschengerichtshofes mit Referenz auf Art. 9 zu einem Verbot der Vollver-
schleierung die Türkei betreffend, dass das Gesetz nicht auf Vollverschleierung, sondern auf jeg-
liche Bedeckung, welche das Gesicht unerkenntlich macht, abzielt, verdeutlicht, dass es implizit
auch als religiöse muslimische Praxis verstanden wird. Siehe dazu Joppke 2010.
48 Leila Hadj-Abdou

Zusätzlich zu ihren Überlegungen zu einem Vollverschleierungsgesetz schlug


die Kommission vor, das Recht auf Familienzusammenführung und die Visa für
den Daueraufenthalt von einer Anerkennung der Prinzipien der Gleichheit zwi-
schen Mann und Frau und der laïcité9 durch die Zugewanderten abhängig zu ma-
chen. Des Weiteren solle eine permanente Aufenthaltserlaubnis abgelehnt werden
im Falle einer „radikalen Ausübung von Religion“, welche nicht vereinbar sei mit
den Werten der Republik, speziell dem der Gleichheit zwischen Mann und Frau.
In der Folge kam es zur Verabschiedung dieser einwanderungsrechtlichen Maß-
nahmen, und die Klausel zur Vereinbarkeit wurde schließlich auch ins französi-
sche Staatsbürgerschaftsrecht aufgenommen (Joppke 2011: 23–24). Bereits zuvor
war dieses Vorgehen Praxis, wie der Fall von Faiza Simi vom Jahr 2008 belegt,
welcher auch den Anlassfall für die Regulierung von 2010 darstellt. Faiza Silmi,
eine französischsprachige Muslima und Niqab10-Trägerin, welche mit einem fran-
zösischen Staatsbürger verheiratet ist und drei französische Kinder hat, suchte im
Jahr 2008 um die französische Staatsbürgerschaft an. Diese wurde ihr jedoch auf-
grund des Tragens des Nikabs mit der Begründung verwehrt, dass sie eine radika-
le Praxis ihrer Religion lebe, welche nicht vereinbar wäre mit den grundlegenden
Werten der französischen Gesellschaft, im Besonderen dem Wert der Geschlech-
tergleichheit (Schahar 2010). Demgegenüber betonte Frau Silmi jedoch wieder-
holt, dass sie keineswegs von den Männern ihrer Familie unterdrückt werde: „Je
ne suis pas soumise aux hommes de ma famille, ne mène pas une vie de recluse et
sors quand il me plaît [. . .] C’est ma seule qui ai décidé de le porter . . . Je re-
specte la loi et mon marie respecte mes decisions [. . .]“11 (www.jeuneafri-
que.com, 4. 8. 2008).

9 Laïcité meint das spezifische französische Modell der Trennung von Kirche und Staat. Dieses
Modell ist zwar spezifisch für Frankreich, wurde im Laufe der Zeit jedoch auch dort unterschied-
lich gedeutet und von daher praktiziert (siehe dazu z. B. Koussens 2010). Vor der Regulierung
2004 zu ostentativen religiösen Symbolen etwa wurde das religiöse Kopftuch der Schülerinnen
mit der laïcité als vereinbar betrachtet. Gleichzeitig fördert der französische Staat etwa auch
kirchliche Einrichtungen.
10 Niqab ist eine Form der Vollverschleierung, im Gegensatz zur Burka lässt der Niqab die Augen
frei.
11 „Ich bin nicht unterdrückt von den Männern meiner Familie, ich lebe kein zurückgezogenes Le-
ben, sondern gehe aus dem Haus, wann ich will,.ich allein habe beschlossen, ihn [den Niqab,
Anm. der Autorin] zu tragen. Ich respektiere das Gesetz, und mein Mann respektiert meine Ent-
scheidungen . . .“ (Übersetzung der Autorin)
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 49

Die Angst vor „Überintegration“ und das Symbol Frau

Die Debatte um die Vollverschleierung und die Regelung selbst verdeutlicht in


ihrer Gesamtheit sehr illustrativ, worum es in den gegenwärtigen „illiberalen libe-
ralen“ Entwicklungen geht bzw. worum es nicht geht. Es geht dabei nicht, so legt
das Beispiel um das französische Verbot nahe, um „Integration“, auch wenn dies
zuweilen betont wird. Vielmehr liegt es nahe, dass dahinter eine Angst vor Über-
integration steht, wie dies auch Ghassan Hage (2009) am Beispiel der australi-
schen Cronulla riots, dem Aufstand weißer Australier gegen libanesische Jugend-
liche der zweiten und dritten Generation aufgezeigt hat: „Sie benehmen sich
nicht, wie es ihrer Marginalisierung entspräche [. . .]“ (Hage 2009: 87) Erst als
diese Frauen auf die Zugehörigkeit zur Gesellschaft pochen und die Staatsbürger-
schaft beantragen, wie dies bei Faiza Silmi der Fall war, oder wenn sie bereits ein-
gebürgerte Staatsbürgerinnen sind, werden sie zum Problem. Auch in den vorher-
gegangenen Debatten um die Praxis des Tragens des Hijabs wurde bemerkt
(Rommelspacher 2009), dass Frauen mit Kopftuch, solange sie in Europa Putz-
frauen waren, solange sie am Rande der Gesellschaft standen, mehrheitlich kein
Problem in der öffentlichen Diskussion darstellten, aber sobald sie öffentlich
sichtbar wurden, in gute Positionen wie Lehrerinnen aufstiegen und selbstbe-
wusst Rechte einforderten, wurden sie als Problem wahrgenommen.
Dieser Eindruck wird auch dadurch bekräftigt, dass die Stimmen der betroffe-
nen Frauen selbst nicht gehört werden (siehe auch Amir Moazami 2007: 116 ff.).
Das legt nahe, dass sie nicht als Subjekte wahrgenommen werden, vielmehr die-
nen Frauen dazu, die Grenzen von nationaler Zugehörigkeit zu definieren, oder
wie Butler (2008: 5) es formuliert hat, ein Europa zu schaffen, das „weiß und
rein“ ist. Nationen werden seit jeher über Frauenkörper imaginiert und produziert
(Yuval Davies 1997). In diesem Sinne zeigt auch die Kampagne der französi-
schen Regierung zum Vollverschleierungsverbot das unverschleierte Gesicht der
Marianne (Abbildung 1).
Frauen sind in dieser Debatte also Symbole und die Referenz auf Geschlech-
tergleichheit ist zugleich symbolische Politik. Dies verdeutlicht sich zum einen
daran, dass sich, wie im Vorhergehenden gezeigt wurde, vor allem auch Akteur/
innen dieser Referenz bedienen, die bisher nicht für Geschlechtergleichheit ein-
getreten sind. Zum anderen wird dies auch durch die verschwindend kleine Per-
sonengruppe, welche etwa die Regulierung um Vollverschleierung adressiert,
verdeutlicht.
Symbolische Politik bezeichnet die expressive Dimension von Politik. Im Ge-
gensatz zu instrumenteller Politik, die politikerzeugend wirkt, besteht die Funk-
tion von symbolischer Politik in Politikvermittlung. Geschlechtergleichheit selbst
50 Leila Hadj-Abdou

Abbildung 1:
Die Republik bedeckt sich nicht –
Informationskampagne der französischen
Regierung

Quelle: www.visage.decouvert.gov.fr,
abgerufen am 15. April 2011

ist demnach als ein Symbol zu verstehen. Als Symbol verweist es nicht notwendi-
gerweise auf eine Realität. Symbole, wie Sarcinelli (1989: 307) betont, „konstru-
ieren eine Wirklichkeit, die brennpunktartig auf eine dahinter stehende Realität
verweisen, von ihr ablenken oder aber auch eine eigene, politische, wirklichkeits-
resistente Sphäre schaffen können“. Die Verknüpfung mit dem Einwanderungs-
diskurs wiederum verweist auf die konkrete Funktion dieser symbolischen Po-
litik, nämlich Restriktion von Einwanderungspolitiken zu legitimieren (vgl.
Rostock/Berghahn 2008: 357–358).

Die Instrumentalisierung des Einwanderungsdiskurses, eine Gefahr für


feministische Mobilisierung

Es wäre jedoch verfehlt, jegliche Referenz auf Geschlechtergleichheit, welche


mit dem Thema der Einwanderung verknüpft ist, als symbolische Politik zu quali-
fizieren. Es ist zunächst davon auszugehen, dass jenen Akteur/innen, die sich in
der Vergangenheit für Geschlechtergleichheit eingesetzt haben, wie Repräsentan-
tinnen von Frauenbewegungen, dies auch gegenwärtig ein Anliegen ist. In die-
sem Falle ist prima facie anzunehmen, dass die Referenz auf Einwanderung von
diesen Personen und Gruppen zur Durchsetzung des Politikzieles Geschlechter-
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 51

gleichheit herangezogen wird. Mit anderen Worten: Einwanderung und assoziier-


te Begriffe wie Multikulturalismus funktionieren als Symbole, während Ge-
schlechtergleichheit hier als Bestandteil der instrumentellen Dimension von Poli-
tik zu verstehen ist. Ausschluss ist nicht das primäre politische Ziel. Die Forde-
rung nach Ausschluss wird aber zuweilen bewusst eingesetzt, um feministische
Politiken durchzusetzen. So forderten etwa in Deutschland feministische Aktivis-
tinnen explizit die Abschiebung von eingewanderten Menschen bei Nichteinhal-
tung des verfassungsmäßigen Gleichheitsgebotes der Geschlechter (Bendkowski
u. a. 2003). So manche Feministinnen sind also durchaus keine Unbeteiligten,
sondern haben aktiv zur Entwicklung des illiberalen Liberalismus beigetragen
(siehe dazu auch Erdem 2009).
Eine derartige Strategie bringt meines Erachtens jedoch mindestens drei poten-
tielle Gefahren für feministische Politiken mit sich. Erstens werden dadurch frauen-
diskriminierende Praxen nicht minorisierter Gruppen tendenziell aus dem Blick ge-
nommen (Song 2005: 476). Die nicht zuletzt auch in Teilen der Frauenbewegung
vorherrschende Tendenz, Handeln innerhalb von zugewanderten Gruppen „deren“
Kultur zuzuordnen und Handeln innerhalb der „eigenen“ Gruppe als persönlichen
Willen (oder Fehlverhalten) einzustufen (Philips 2007), spricht nicht nur zugewan-
derten Frauen Handlungsfähigkeit ab, sie schwächt auch das Potential feministischer
Mobilisierung insgesamt, da sie eine Wahrnehmung von Europa als geschlechterge-
recht durchsetzt. Zweitens kann es dadurch zu einer Entsolidarisierung zwischen Fe-
ministinnen minorisierter Gruppen und Feministinnen nicht-minorisierter Gruppen
als auch zwischen (feministischen) Anti-Rassist/innen und (anti-sexistischen) Femi-
nistinnen kommen. Ein derartiges Vorgehen stellt politische Aktivist/innen vor die
Frage, ob sie sich nun eher dem Feminismus oder dem Rassismus, Migrant/innen
oder Frauen verpflichtet fühlen, anstelle aufzuzeigen, dass beides notwendige politi-
sche Ziele sind in einer Welt, die nach wie vor von Sexismus als auch Rassismus
strotzt. Drittens erschwert es mitunter die interne Verhandlungsmacht all derer, die
sich für Geschlechtergleichheit innerhalb minorisierter Gruppen einsetzen (Philips
2008). So werden diese, wenn sie feministische Forderungen stellen, als Verräterin-
nen wahrgenommen, die sich mit denjenigen solidarisieren, welche sich für den Aus-
schluss der „eigenen“ Gruppe aussprechen.
Es braucht meines Erachtens von daher einen Feminismus, der sich gegen den
illiberalen Liberalismus stellt, anstelle ihn zu fördern. Doch was heißt das kon-
kret? Welche Positionen sind nun aus einer feministischen, egalitären Perspektive
sinnvoll? Dazu liefert die feministische Theorie einige viel versprechende Ant-
worten, wenngleich endgültige Antworten weder gefunden wurden noch zu fin-
den sind. Denn gute Antworten sind vermutlich niemals endgültig, sondern vom
jeweiligen Kontext abhängig.
52 Leila Hadj-Abdou

Antworten aus einer egalitären, feministischen Perspektive

Die feministische Kontroverse um Multikulturalismus

Feministische Theoretiker/innen haben sich vermehrt seit den 1990er Jahren mit
der Frage auseinandergesetzt, ob bzw. inwiefern Rechte für kulturelle Minderhei-
ten, wie indigener Bevölkerungsgruppen oder zugewanderter Gruppen, mit dem
Recht auf Gleichberechtigung der Geschlechter vereinbar sind. Ausgelöst wurde
diese Debatte (siehe dazu u. a. Flax 1995, Cohen/Howard/Nussbaum 1999,
Sauer/Strasser 2008) vor allem durch den Beitrag der Feministin Susan Moller
Okin, welche ihre Thesen dazu 1994 unter dem Titel „Is multiculturalism bad for
women?“ in der Zeitung Boston Review veröffentlichte. Sie sprach sich darin ge-
gen eine generelle Befürwortung von Rechten für Minderheiten aus, da diese
auch Praxen von Gruppen ermöglichen würden, welche Frauen diskriminieren
und diese Diskriminierung als Bestandteil ihrer Kultur legitimieren würden. Sie
unterschied dabei zwischen mehr oder weniger patriarchalen Kulturen, wobei
Minderheitskulturen im Vergleich zur Mehrheitskultur als patriarchaler proble-
matisiert wurden, wenngleich auch letztere von Okin immer wieder hinsichtlich
geschlechterungleicher Praxen kritisiert wurde. In der Folge kam es einerseits
teilweise zu einer ungerechtfertigten Überreaktion und Kritik der Thesen Okins,
die wohl mehr ihren provokanten Formulierungen geschuldet sind als dem
eigentlichen Inhalt. So hat etwa Anne Philips (2009: 39) im Hinblick auf die De-
batte nüchtern und richtigerweise festgehalten, „dass Religion Geschlechter-
gleichheit bedrohen kann, ist wohl kaum kontrovers“. Zudem ist es auch Okins
Beiträgen zu verdanken, dass es zur Etablierung einer feministischen Perspektive
in den Theorien zu Multikulturalismus kam (Schahar 2006), welche bis dahin
weitgehend ausgeblendet wurde. Andererseits führte die Kontroverse um Okins
Thesen zu einer notwendigen Thematisierung blinder Flecken feministischer
Theoriebildung: Aus einer liberalen Perspektive wurde unterstrichen, eine derar-
tige Sichtweise unterschätze die Autonomie von Frauen innerhalb minorisierter
Gruppen. Aus einer multikulturellen Perspektive wiederum wurde darauf hinge-
wiesen, dass Geschlechtergleichheit zwar durchaus ein wichtiger Gradmesser für
die Bewertung von Kulturen sei, die Fehlleistung Okins aber darin bestehe, an-
dere relevante, sinnstiftende Funktionen von Kulturen außer Acht zu lassen. Aus
einer postkolonialen Perspektive wiederum wurde die derlei Betrachtungen zu-
grunde liegende „Dominanzkultur“ (Rommelspacher 1995) kritisiert. Damit wur-
de auf die Internalisierung teils unbewusster Strategien innerhalb feministischer
Bewegungen der Mehrheitsgesellschaften aufmerksam gemacht, welche anhand
von Hierarchisierungen entsprechend ihren eigenen kulturellen Normen danach
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 53

trachten, ihre Privilegien und Vormachtstellung zu erhalten und auszubauen (Gu-


tiérrez Rodríguez 2006, Flax 1995).
In der Tat ist ein Grundproblem der Betrachtungen Okins eine Hierarchisie-
rung des Rechts auf Gleichberechtigung der Geschlechter gegenüber den Rechten
von kulturellen Minderheiten. Eine derartige Perspektive lässt die Frage nach
Minderheitenrechten und Frauenrechten bzw. Feminismus und Multikulturalis-
mus als eine Entweder-oder-Frage erscheinen. Versteht man jedoch sowohl Femi-
nismus als auch Multikulturalismus als politische Programme und Philosophien,
welche auf Gleichberechtigung abzielen, sind sie beide Teil von Gleichheitsdis-
kursen, die sich nicht notwendigerweise widersprechen, sondern einander viel-
mehr ergänzen, um Gleichberechtigung für alle Individuen und gesellschaftlichen
Gruppen durchzusetzen (vgl. Siim 2008: 2).

Gleichberechtigung für alle

In diesem Zusammenhang scheint es notwendig, die Frage aufzuwerfen, was die


Begriffe Gleichberechtigung und Gleichheit überhaupt bedeuten, um beurteilen
zu können, inwiefern Feminismus und Multikulturalismus in der Tat als komple-
mentär zu verstehen sind. Im Hinblick auf die Beantwortung dieser Frage ist es
zunächst notwendig, zwischen formaler Gleichheit und substantieller Gleichheit
zu unterscheiden. Formelle Gleichheit entspricht gleicher Behandlung, substan-
tielle Gleichheit entspricht einer Gleichheit im Ergebnis, d. h. als Folge der Be-
handlung. Diese Unterscheidung macht darauf aufmerksam, dass eine neutrale
Gleichbehandlung sich nur bedingt zur Erreichung von Gleichheit eignet. For-
melle Gleichheit basiert auf universellen Rechten, die allen im gleichen Maße zu-
stehen. Feministinnen wie Iris Marion Young (1990) und Theorien zu Multikultu-
ralismus (z. B. Parekh 1998) haben jedoch darauf hingewiesen, dass gleiche
Rechte und Regeln, die universell formuliert sind und blind für Differenzen wie
Gender, Kultur, Alter und Behinderung sind, Unterdrückung eher perpetuieren,
als dieser entgegenzuwirken. Damit wurde aufgezeigt, dass angeblich neutrale
Gleichbehandlung nicht neutral ist, sondern vielmehr die gleiche Behandlung ge-
mäß einer spezifischen Norm, nämlich der Norm der privilegierten, mächtigen
Gruppen wie Männern oder Mehrheitskulturen darstellt. Um in der Tat Gleichheit
zu erreichen, bedarf es demnach teilweise einer ungleichen Behandlung, welche
den einzelnen Angehörigen von Minderheiten bzw. marginalisierter Gruppen
spezielle Rechte einräumt. Genau dies ist das zugrunde liegende Prinzip eines
Multikulturalismus als auch eines egalitären Feminismus. Das Ziel dabei ist je-
doch nicht, wie Young (1989: 273) betont, „to give special compensation to the
54 Leila Hadj-Abdou

deviant until they achieve normality, but rather to denormalize the way institu-
tions formulate their rules by revealing the plural circumstances and needs that
exist, or ought to exist, within them“. Demgegenüber wurde wiederholt festgehal-
ten, dass eine derartige Betrachtungsweise problematische Kategorien wie Kultur
oder Geschlecht reproduziere. Diese Kritik ist sicherlich berechtigt, doch ver-
kennt sie die Wirkungsmächtigkeit dieser Kategorien, oder wie Philips (2007: 15)
es auf den Punkt bringt, „[. . .] simply denying its validity is never enough to
combat the hierarchies of power“. Sinnvoller als diese Kategorien insgesamt „ab-
zuschaffen“ erscheint es demnach, eine statische, essentielle Sichtweise dieser
Kategorien permanent zu hinterfragen.
Die Anerkennung, dass Minderheitenrechte und Frauenrechte nicht notwendi-
gerweise einen Gegensatz darstellen, sondern komplementär zueinander sind, ist
meines Erachtens eine wichtige Grunderkenntnis für die substantielle Verwirkli-
chung von Gleichheit für alle Menschen. Dies ist insbesondere relevant, bedenkt
man, dass niemand nur einer Gruppe bzw. Kategorie angehört, sondern es zu einer
jeweils spezifischen Verschränkung verschiedener Kategorien bei jedem einzel-
nen Menschen kommt. In der feministischen Theorie wird dieses Phänomen zu-
meist mit dem Begriff der Intersektionalität beschrieben (Crenshaw 1991, Yuval
Davies 2006). Viele Frauen etwa sind demnach nicht nur Angehörige der Katego-
rie Frau, welche selbst wieder in sich vielschichtig ist, sondern sind zugleich auch
Angehörige kulturell minorisierter Gruppen, die ebenso nicht als homogen zu fas-
sen sind. Unterdrückungsverhältnisse sind demnach komplexer, als vielfach ange-
nommen wurde. Darauf haben etwa schwarze Feministinnen wie Audrey Lorde
(1979) bereits seit Jahrzehnten hingewiesen, während dies unter Feministinnen,
die Angehörige der majorisierten Gruppe sind, lange Zeit verdrängt wurde.
Versteht man Gleichheit wiederum als substantielle Gleichheit, die zudem ei-
ner intersektionalen Perspektive bedarf, löst man damit jedoch nicht alle Heraus-
forderungen, die sich aus einer egalitären, feministischen Position ergeben. Viel-
mehr stellt sich ausgehend davon erst die Frage, wie Rechte von kulturellen Min-
derheiten und Rechte von Frauen am besten zu vereinen und umzusetzen sind.

Wie Gleichberechtigung für alle verwirklichen?

Einen wichtigen Beitrag zur Beantwortung dieser Frage hat die Rechtsphiloso-
phin Ayelet Schahar geliefert. Schahar (1998: 289; 2001) hat in ihren Aufsätzen
den Begriff des „Paradoxes multikultureller Vulnerabilität“ geprägt. Sie hat damit
die Problematik beschrieben, dass eine Stärkung von ethno-kulturellen Minder-
heiten durch den Staat, wie etwa durch Anerkennung eigener Gerichtsbarkeit,
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 55

gleichzeitig zu einer Schwächung von minorisierten Gruppen innerhalb dieser


Minderheiten führen kann. Denn die Rechtssysteme von Minderheiten können,
wie Schahar zeigt, mitunter Bestimmungen beinhalten, die etwa Frauen schlech-
ter stellen, als dies unter staatlichen Rechtssystemen der Fall wäre. Schahar be-
zieht sich in ihren Ausführungen vor allem auf existierende religiöse Rechtsnor-
men im Familienrecht und autonomer Gerichtsbarkeit von Religionsgemein-
schaften. Zur Lösung dieses Paradoxes, welches Minderheiten innerhalb einer
Minderheit benachteiligt, indem es die Minderheit stärkt, schlägt sie (Schahar
2005: 71 ff.) als Lösung gemeinsame Regierungsformen („joint governance“)
zwischen dem Staat und den Minderheitengruppen vor. Eine gemeinsame Regie-
rungsform würde Frauen ermöglichen, sich nicht mehr zwischen ihrer eigenen
kulturellen Identität, ihrem Geschlecht und ihrer Rolle als Bürgerinnen entschei-
den zu müssen, so Schahar (ebd.). Anstelle dessen eröffnen solche gemeinsamen
Regierungsformen individuelle Möglichkeiten, sich gegen die eigene Unterdrü-
ckung zur Wehr zu setzen, indem sie eine Fülle von Wegen eröffnet, Emanzipa-
tion zu verwirklichen. „Joint governance“ versteht sich dabei als eine institutio-
nell geteilte, überlappende Rechtsprechung zwischen Staat und Minderheiten-
gruppen, wobei keine der zwei Rechtsprechungen ein Monopol besitzt, geteilte
Funktionen in für Minderheiten sensiblen Rechtsmaterien existieren und es die
Möglichkeit gibt, sich jeweils der anderen Rechtsprechung zuzuwenden, falls die
eine Rechtsprechung dem Anliegen der „Minderheit innerhalb der Minderheit“
kein Gehör verschafft (ebd.: 72). Dies wiederum erzeugt nach Schahar einen in-
ternen Druck innerhalb der Rechtsprechungen der Minderheiten (als auch der
Mehrheit) zugunsten der schwächsten Mitglieder, da diese danach streben wer-
den, nicht die Autorität über ihre Mitglieder zu verlieren (ebd.). Schahars Modell
ist überzeugend und vermag, insofern ihre Annahmen halten, sowohl den Bedürf-
nissen von Frauen, die etwa religiöse/kulturelle Praxen, wie Verschleierung, in
der Öffentlichkeit leben wollen, als auch den Bedürfnisse derer, die sich gegen ei-
nen allfälligen Druck – etwa sich verschleiern zu müssen – zur Wehr setzen wol-
len (Schahar 2005: 86), gerecht zu werden. Zwar betont Schahar (2005: 72), dass
ein derartiges Modell der Tatsache Rechnung trage, dass Kulturen nicht statisch
sind und dass verschiedene Aspekte von Identität in verschiedenen sozialen Kon-
texten und zu verschiedenen Zeitpunkten an Bedeutung gewinnen, doch vermag
es dennoch nicht über Gruppen, sei es nun die Gruppe der Mehrheit oder der Min-
derheit, hinweg zu denken. Ghassan Hage (2009: 90) wiederum hält einem derar-
tigen Gruppendenken gegenüber, dass es Politiken brauche, „die Bedürfnisse des
Anderen nicht länger über die Anerkennung einer auf Identität beruhenden kultu-
rellen Differenz“ definieren, sondern „durch die Fähigkeit, die Pluralität der
Wege zu integrieren, auf denen Menschen insgesamt das suchen, was sie als le-
56 Leila Hadj-Abdou

benswertes Leben ansehen“. Dafür aber, betont Hage (ebd.), bedürfe es einer
Überprüfung der Art und Weise, wie der westliche Nationalstaat Souveränität
fasst. Hage spricht damit einen wichtigen Punkt an, nämlich dass es notwendig
ist, das Augenmerk auf Fragen der Gouvernmentalität, wie Menschen regiert und
regierbar gemacht werden, welche Logiken dieser Gouvernmentalität einge-
schrieben sind und welche Problematiken sich daraus für den/die Einzelne/n er-
geben, zu legen. Ein erster Schritt in diese Richtung bestünde vermutlich im Auf-
bau eines wirksamen Gegendiskurses, der sich gegen die gegenwärtige Politik
der Differenz und damit gegen Abgrenzungen wendet.

Politik der Gemeinsamkeiten

In einem „Manifest für ein neues Europa“, in welchen Ash Amin und andere eu-
ropäische Intellektuelle dazu aufrufen, der gegenwärtigen Politik der Angst ein
Ende zu setzen und für mehr Solidarität einzutreten, ist von einer „politics of the
commons“ die Rede (Ash u. a. 2010). Die Verfasser/innen des Manifests betonen,
dass es gilt, die Herausforderung zu meistern, Ähnliches und Unterschiedliches,
Bekanntes und Fremdes zu verbinden. In Anlehnung an diesen Gedanken schlage
ich vor, dass es gilt, eine „Politik der Gemeinsamkeiten“, wie ich es nennen
möchte, zu verfolgen. Eine Politik der Gemeinsamkeiten basiert auf einem grup-
penübergreifenden egalitären Prinzip (vgl. Philips 2008: 242). Dieses Prinzip
strebt Gleichberechtigung insgesamt an, sei es nun etwa die Gleichberechtigung
der Geschlechter oder von Migrant/innen.
Ein zentrales Moment einer solchen Politik der Gemeinsamkeiten könnte in
einer kulturübergreifenden Sichtbarmachung von Geschlechterungleichheit, wie
sie etwa von der feministischen Migrationswissenschafterin Sawitri Saharso pro-
pagiert wird, bestehen. Saharso (2008 und 2003) schlägt vor, vermeintliche oder
reale Geschlechterungleichheiten in verschiedenen kulturellen Gruppen auf ihre
Gemeinsamkeiten hin zu untersuchen, ehe man diese bewertet. Eine kulturüber-
greifende Betrachtung wirkt damit einer (potentiellen) Instrumentalisierung von
Fragen der Geschlechtergleichheit und damit deren Überlagerung durch andere,
wie etwa rassistische, Diskurse entgegen. Saharso (2008) unterstreicht, dass es
zunächst darum geht, Praktiken und nicht Kulturen in ihrer Gesamtheit zu beur-
teilen. Sie plädiert dafür, kulturelle Voreingenommenheit in der Beurteilung „an-
derer Praktiken“ zu vermeiden und „eigenen Praktiken“ kritischer zu begegnen.
Sie schlägt für die Analyse von vermeintlich oder real frauendiskriminierenden
Praxen von Minderheiten in Anlehnung an die Feministin Marilyn Friedmann
vor, anstelle eines substantiellen einen prozessualen Autonomiebegriff anzuwen-
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 57

den. Ein prozessuales Autonomieverständnis zieht in Betracht, unter welchen Be-


dingungen eine Entscheidung getroffen wird, eine Praxis auszuüben, während ein
substantielles Verständnis Autonomie daran misst, ob die Praxis in ihrem Wesen
dem Wert der Autonomie entspricht. Ein prozessuales Autonomieverständnis
dient nach Saharso dazu, kulturelle Voreingenommenheit, die Frauen aus Minder-
heiten Handlungsfähigkeit oft vorschnell abspricht, zu vermeiden. Gleichzeitig
lenkt es den Blick auf die Bedingungen, unter denen Praxen begründet und aus-
geführt werden, und ermöglicht dadurch ein kontextuelles Verstehen. Während
eine derartige Betrachtung, wie Saharso demonstriert, in der Tat kultureller Vor-
eingenommenheit vorzubeugen vermag, verdeckt sie dabei aber nicht jene Pra-
xen, die Geschlechterungleichheit perpetuieren. Kulturübergreifende Vergleiche
zeigen, dass sich Mechanismen und Strukturen, welche frauendiskriminierende
Praxen anleiten, im Grunde viel mehr ähneln, als dass sie sich voneinander unter-
scheiden. Derlei Vergleiche eröffnen Frauen aus Minderheiten und Mehrheiten
damit Wege, sich gemeinsam für Gleichberechtigung einzusetzen.
Saharsos Perspektive verdeutlicht vor allem, dass es keine absoluten Bewer-
tungen geben kann, sondern es stets eine kontextuelle Beurteilung von Praxen
braucht. Um zu einem kontextuellen Verstehen zu gelangen, müssen vor allem
auch die Stimmen von betroffenen Frauen gehört werden, braucht es einen Aus-
tausch zwischen vermeintlich verschiedenen Menschen.
Eine Politik der Gemeinsamkeiten, stellt in erster Linie einen Versuch dar,
einen wirksamen Gegendiskurs aufzubauen, welcher die Perspektive vom poten-
tiell Trennenden auf Gemeinsames lenkt. Es wäre jedoch überzogen davon auszu-
gehen, dass damit eine konfliktlose Gesellschaft konstruiert werden könnte. In
sich immer weiter pluralisierenden Gesellschaften, die immer weniger einen My-
thos von in sich geschlossenen, integrierten Gesellschaften aufrechterhalten kön-
nen, kann man in der Tat davon ausgehen, dass vermehrt divergierende Interessen
zu Tage kommen. Hier sind deliberative Verfahren, wie sie etwa von politischen
Theoretiker/innen wie Benhabib (2002) oder Parekh (1998) beschrieben werden,
sicherlich ein sinnvolles Mittel, um zu Lösungen zu gelangen. Deliberative Ver-
fahren sind Verfahren, welche unter Einbeziehung aller betroffenen Akteure und
Akteurinnen gemeinsame Lösungen aushandeln. Dabei gilt es jedoch sich der
Herausforderung zu stellen, nicht nur einige wenige vermeintliche Repräsentan-
ten zu Wort kommen zu lassen, welche tendenziell danach trachten, die Interes-
sen, Vorstellungen und Normen der Mächtigen gegenüber den weniger Mächti-
gen (auch innerhalb der eigenen Gruppen) durchzusetzen, sondern in der Tat die
Pluralität der betroffenen Menschen zu reflektieren. Deliberative Verfahren sind
in Abwägungen ethischer, moralischer, vernünftiger und realistischer Überlegun-
gen (vgl. Bader 2008) im Interesse aller und nicht in Verteidigung partikulärer In-
58 Leila Hadj-Abdou

teressen durchzuführen. Deliberative Verfahren sind naturgemäß im Sinne von


Gleichberechtigung und nicht entgegen diesem Ziel einzusetzen. Das gruppen-
übergreifende egalitäre Prinzip stünde damit nicht zur Verhandlung, sehr wohl je-
doch, wie es am besten zu verwirklichen ist.
Eine Politik der Gemeinsamkeiten beabsichtigt also keineswegs, die Illusion
einer konfliktlosen Gesellschaft zu erzeugen. Im Gegenteil: Konflikte sind ein
wichtiger und produktiver Bestandteil pluralistischer Demokratien. Unterschied-
liche Interessen sind anzuerkennen, aber damit (angebliche) Differenz nicht vor-
schnell als allgemeine Unvereinbarkeit interpretiert und somit demokratische
Aushandlung verunmöglicht wird, bedarf es meines Erachtens einer Politik der
Gemeinsamkeiten. Dieser Beitrag vertritt schließlich nicht den Anspruch, eine
derartige Politik auszuformulieren, vielmehr soll er als Anstoß dienen, wieder
vermehrt über Gemeinsamkeit anstelle von Differenz nachzudenken, ohne da-
durch jedoch strukturelle Ungleichheit aus dem Blick zu verlieren.

Conclusio

Anstelle eines Schlusswortes würde ich gerne ein Bild, dass ich bei einem Spa-
ziergang in dem Pariser Einwandererviertel Belleville, an einer Hausmauer gefun-
den habe und welches von der unbekannten Zeichnerin mit dem Aufruf „Unsere
Körper sind nicht eure Schlachtfelder“ betitelt wurde, setzen. Ich möchte damit
nicht zuletzt dazu anregen mit offenen Augen und Herzen durch dieses und ähnli-
che Viertel in den Städten Europas zu marschieren. Wo wenn nicht dort finden
sich die Stimmen der sogenannten „Subalternen“ Europas?

Abbildung 2:
„Unsere Körper sind nicht eure
Schlachtfelder“. Bild an einer Pariser
Hausmauer.
[Sie soll einen Schleier tragen!!
Nein einen Minirock!!]

Quelle: Foto aufgenommen von der Autorin,


September 2008
Geschlechtergleichheit oder Recht auf kulturelle Differenz? 59

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Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen
Migrationspolitik und die Konstruktion „fremder“ Männlichkeit

Paul Scheibelhofer

1 Einleitung

Wenn heute über Männer mit Migrationshintergrund gesprochen wird, so zumeist


im Zusammenhang mit den vermeintlichen Problemen, die diese haben oder ma-
chen. Werden diese Bilder in Politik und Feuilleton zumeist skandalisierend ge-
zeichnet, versucht sich die Sozialwissenschaft in abwägender und objektiver
Analyse der Verhältnisse. So wurden türkische Migranten der ersten Generation
daraufhin untersucht, ob sich ihre Männlichkeitsentwürfe in der Migration indivi-
dualisiert haben (Spohn 2002), und bei ihren Söhnen in quantitativen Studien ab-
getestet, wie stark ihre Zustimmung zu Werten wie Toleranz und Geschlechterge-
rechtigkeit war (Weiss/Rassouli 2007) oder inwiefern sie die „Doppelmoral der
Ehre“ (Toprak 2007) und die damit einhergehende Gewalt auch in Deutschland
noch lebten.
Ich will hier nicht im Einzelnen auf diese empirische Forschung eingehen und
ihre Probleme aufzeigen, etwa die Setzung von migrantischen Männern als
„fremde“, zu untersuchende Population oder der kulturalisierende Fokus auf Fra-
gen von Religion und „Tradition“ bei gleichzeitiger Ausblendung von rassismus-
und kapitalismuskritischen Fragestellungen (vgl. dazu Scheibelhofer 2008;
2009). Der Text geht einen anderen Weg der Kritik. Um die Fragen, die aktuell im
deutschsprachigen Raum über migrantische Männlichkeit gestellt werden, zu hin-
terfragen und ihrer scheinbaren „Selbstverständlichkeit“ zu berauben, sollen im
Folgenden die Verstrickungen nachgezeichnet werden, die zwischen Politiken
der Migrationssteuerung und der Problematisierung „fremder“ Männlichkeit aus-
zumachen sind. Wie am Beispiel österreichischer Verhältnisse gezeigt wird, gin-
gen Veränderungen in den Migrationspolitiken mit sich wandelnden Bildern
fremder Männlichkeit einher. Die dominante Art, wie heute über migrantische
Männer gesprochen wird, wie diese imaginiert, beforscht und diszipliniert wer-
den, kann nicht losgelöst von Strategien der politischen Steuerung von Migration
und den darin artikulierten Interessen verstanden werden. Eine kritische, emanzi-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_4,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 63

patorische Perspektive auf Männlichkeitskonstruktionen im Kontext von Migra-


tion sollte sich dieser Verstrickungen bewusst sein, um Alternativen zum herr-
schenden Blick auf „fremde Männlichkeit“ zu entwickeln.

2 Theoretische und methodologische Zugänge

Die hier dargestellten Ausführungen basieren auf einer Analyse von migrations-
politischen Maßnahmen und den sie begleitenden politischen Legitimations-
diskursen in Österreich seit Beginn der sog. „Gastarbeitsmigration“ der 1960er
Jahre.1 Dabei wird vor allem auf vorhandene Forschungsarbeiten zurückgegriffen
und diese vor dem Hintergrund der eigenen Fragestellung „gegengelesen“. Ge-
fragt wird dabei, inwiefern bestimmte Bilder und Imaginationen migrantischer
Männlichkeit herangezogen wurden (und werden), um Migrationspolitiken zu
legitimieren, und was migrationspolitische Maßnahmen mit migrantischen
Männern (und Frauen) „machen“ – wie sie diese markieren, disziplinieren, kon-
trollieren.
Eine Anmerkung vorweg zum hier eingenommenen Fokus auf die Analyse
von Männlichkeit: Männlichkeitskonstruktionen werden als Ausdruck von und
Position in herrschenden Geschlechterverhältnissen verstanden (vgl. Connell
2006: 91). Sie konstituieren sich in vielfältiger Weise in Beziehung, in Abgren-
zung und in Machtverhältnissen zu Konstruktionen von Weiblichkeit. In diesem
Sinne positioniert sich diese Arbeit auch nicht jenseits von – auf Frauen und Kon-
struktionen von Weiblichkeit fokussierenden – feministischen Forschungsarbei-
ten zu Geschlecht und Migration. Vielmehr sind die hier entwickelten Analysen
von diesen feministischen empirischen und theoretischen Arbeiten inspiriert und
werden hoffentlich einen produktiven Beitrag in diesem Forschungsfeld leisten
können. Konkret fließen vor allem theoretische Positionen der Intersektionalitäts-
debatte sowie feministische postkoloniale Zugänge in die Analyse ein.
Der Intersektionalitätsbegriff ist – sowohl aufgrund seiner Produktivität als
auch der Kritiken an ihm – zu einem buzzword in der Geschlechterforschung und

1 Mir ist bewusst, dass mit dieser, in der deutschsprachigen Migrationssoziologie heute gängigen
historischen Perspektivierung die Gefahr einhergeht, dass die vielfältigen (teils freiwilligen, je-
doch oftmals im Kontext von Gewalt und Zwang stattfindenden) Migrationsbewegungen vor
1960 ausgeblendet werden und gleichsam die Annahme eines bis dahin statischen und homoge-
nen Volkes bedient werden kann. Diese Annahme ist freilich empirisch falsch (Perchinig 2005: 3)
und politisch fatal (Steyerl 2003: 47). Auch wenn der empirische Fokus der folgenden Analyse
auf Migrationspolitiken der Nachkriegszeit liegt, sollen Fragen nach historischen Kontinuitäten
und Brüchen reflektiert werden (vgl. dazu auch die anschließenden Überlegungen zur postkolo-
nialen Forschungsperspektive).
64 Paul Scheibelhofer

darüber hinaus geworden (Davis 2008). Und auch für die Analyse von Männlich-
keitskonstruktionen im Kontext von Migration erscheint der grundsätzliche An-
spruch des Intersektionalitätsansatzes, unterschiedliche Herrschaftsverhältnisse
in ihrer Verwobenheit zu analysieren,2 viel versprechend. Zwar besteht überwie-
gend Konsens darüber, dass Machtverhältnisse entlang von Sexualität, Klasse
und Rassialisierung3 eine zentrale Rolle in der Konstitution „hegemonialer
Männlichkeit“ (Connell 2006) spielen, dennoch blieben diese Zusammenhänge –
besonders in Fragen von Rassismus und Migration – innerhalb der kritischen
Männlichkeitsforschung weitgehend unausgearbeitet.4 Für eine solche Weiterent-
wicklung intersektioneller Perspektiven auf Männlichkeit, Migration und Rassis-
mus kann meines Erachtens (vgl. ausführlicher Scheibelhofer 2011a) sinnvoller-
weise auf wichtige Arbeiten von Schwarzen5 Feministinnen wie bell hooks oder
Patricia Hill Collins zurückgegriffen werden, die sich auch explizit mit Fragen
Schwarzer Männlichkeit auseinandergesetzt haben. Statt des im deutschsprachi-
gen Kontext dominanten Fokus auf etwaige kulturelle Differenzen, Traditionen
etc. entwickeln diese Autorinnen ihre Analysen zur Situation Schwarzer Männer
in den USA vor dem Hintergrund (bzw. als Teil von) feministischer, kapitalismus-
kritischer und antirassistischer Gesellschaftskritik. Dementsprechend bezieht
etwa bell hooks (1992; 2004) in ihren Texten zu Black Masculinity Fragen nach
rassialisierter Segregation in Schule und Arbeitsmarkt sowie Kriminalisierung,
Polizeigewalt und Armut in ihre Analysen ein. Patricia Hill Collins (2004)
schlägt das Konzept der „controlling images“ vor, um die dominanten Bilder über
hypermaskuline Schwarze Männer zu fassen. Dabei zeigt sie in ihren Analysen,
dass diese images ihre Wirkung nicht nur auf der symbolischen Ebene entfalten,
sondern eingebettet sind in gesellschaftliche Strukturen und Institutionen und so
dazu beitragen, etwa die Reproduktion rassialisierter Klassenverhältnisse zu legi-
timieren. Der Beitrag folgt dieser Perspektive und analysiert Konstruktionen
„fremder Männlichkeit“ im Zusammenhang mit dem „Funktionieren“ patriarcha-

2 Die Forschungsliteratur zum Intersektionalitätsparadigma ist mittlerweile – besonders im


deutschsprachigen Raum – überaus umfangreich, vgl. etwa Yuval-Davis (2006), Walgenbach et
al. (2007), Klinger/Knapp (2008) und kritisch Lorey (2008).
3 Der Begriff Rassialisierung soll deutlich machen, dass jede Form von Rassismus – ob biologisch,
kulturell oder anderswie argumentierend – auf einem aktiven Prozess der Herstellung und Pro-
duktion von Differenzen aufbaut. Wenn ich des Weiteren von rassialisierten sozialen Verhältnis-
sen spreche, so sollen damit Diskriminierungs- und Exklusionsverhältnisse beschrieben werden,
die sich auf Basis rassistischer sozialer Verwerfungen konstituieren und diese reproduzieren.
4 Vgl. jedoch empirische Forschung, die in diese Richtung wichtige Arbeit leistete, von Spindler
(2006), Bereswill (2007), Ewing (2008) und Huxel (2008).
5 Mit „Schwarz“ wird nicht auf eine etwaige ,natürliche‘ Kategorie verwiesen, sondern vielmehr
die Selbstbezeichnung und Schreibweise der AutorInnen aus dem Englischen übernommen. Die
Großschreibung weist auf den politischen Charakter der Kategorie hin.
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 65

ler, national gefasster, kapitalistischer sozialer Verhältnisse. Die Analyse lotet da-
bei die controlling images „fremder Männlichkeit“ aus, die in migrationspoliti-
schen Maßnahmen verankert sind.
Feministische postkoloniale Zugänge werden für die Analyse herangezogen,
um historische und aktuelle Prozesse des Ineinandergreifens von institutioneller
Gewalt, Ausbeutung sowie darin eingebetteter vergeschlechtlichter Fremd- und
Selbstbilder in den Blick zu bekommen. Das Ineinanderwirken dieser Prozesse
fasst etwa Anne McClintock (1995: 40) in ihrer Forschung zur Geschichte des
Kolonialismus mit dem Konzept des „anachronistic space“. Koloniale Expansion
und gewalttätige ökonomische Ausbeutung, so zeigt McClintock, wurden beglei-
tet und legitimiert von Erzählungen über die „Entdeckung“ und „Zivilisierung“
von fremden, geheimnisvollen Orten (spaces), wobei diesen Orten auch gleich-
zeitig eine Zeitlichkeit zugeschrieben wurde: Sie waren nicht nur fremd, sondern
auch rückständig. Aufbauend auf einem Verständnis von Menschheitsgeschichte
als linear ablaufender Modernisierungsprozess konnte sich Europa als fortge-
schrittenster Ort und gleichzeitig als Zentrum der Welt positionieren (vgl.
Bhambra 2007). Wie McClintock anhand von Reiseberichten und wissenschaftli-
chen Abhandlungen über unstillbare sexuelle Lüste oder monströse Sexualorgane
der Kolonisierten zeigt, waren rassialisierende Kolonialdiskurse vergeschlecht-
licht und sexualisiert. Und so wurden „Africa and the Americas (. . .) what can be
called a porno-tropics for the European imagination – a fantastic magic lantern of
the mind onto which Europe projected its forbidden sexual desires and fears“
(McClintock 1995: 22). Die Analyse wird zeigen, dass sich solche vergeschlecht-
lichten und sexualisierten Imaginationen über „fremde Männlichkeit“ auch in ak-
tuellen migrationspolitischen Diskursen finden und zur Legitimation für Entrech-
tung und Disziplinierung herangezogen werden. Migrationspolitische Maßnah-
men werden dabei zunehmend als emanzipatorische Hilfestellung für unter-
drückte migrantische Frauen propagiert und damit ein Kolonialdiskurs aufgegrif-
fen, den Gayatri Spivak mit dem bekannten Diktum „Weiße Männer retten braune
Frauen vor braunen Männern“ (Spivak 2008 [1988]: 78) versah. Es sind vor al-
lem Bilder über patriarchale muslimische Traditionen, die diesem Diskurs eine
neue Virulenz verliehen haben (vgl. Abu-Lughod 2002; Razack 2004).
In diesem Zusammenhang zeigt sich auch, dass das „post“ in postkolonial
nicht im Sinne eines Markers für eine ferne, vergangene und abgeschlossene
Epoche verstanden werden darf. Vielmehr betonen postkoloniale Autorinnen den
unabgeschlossenen Charakter von widersprüchlichen, brüchigen und global „ver-
wobenen“ (vgl. Conrad/Randeria 2002) Geschichten, die sich in aktuellen Herr-
schaftsverhältnissen und Wissensbeständen niederschlagen (vgl. Castro Varela/
Dhawan 2005: 24; Reuter/Villa 2010: 17).
66 Paul Scheibelhofer

Diese Beobachtung sollte jedoch nicht über die komplizierten „Übersetzungs-


prozesse“ hinwegtäuschen, die stattfinden, wenn postkoloniale Theorie für Ana-
lysen in unterschiedlichen räumlichen und zeitlichen Kontexten herangezogen
wird. Auf die Widersprüche, die sich etwa für den deutschen Kontext ergeben,
verweist Hito Steyerl (2003), wenn sie sich mit der „ebenso postkolonialen, post-
nationalsozialistischen, postsozialistischen wie von mehreren aufeinander fol-
genden Regimes von Migration, Emigration und Genozid gekennzeichneten Si-
tuation in Deutschland“ (ebd.: 39) auseinandersetzt. Diese „Situation“ fasst
Steyerl als ein von Leerstellen und Überschneidungen gekennzeichnetes Kon-
strukt, das „jeweils auf mehrere Schichtungen von Geschichten [verweist], die
zwar in verschiedenen Konstellationen der Macht produziert wurden, aber den-
noch auf jeweils mehr als auf sich selbst verweisen“ (ebd.). Als konstitutives Mo-
ment dieser widersprüchlichen „Situation“ erkennt Steyerl rassistische Biopoliti-
ken und konstatiert, dass die „Verbindungen zwischen etwa kolonialen und natio-
nalsozialistischen Formen der Biopolitik (. . .) oft erstaunlich“ (ebd.: 40) sind.
Während sich Steyerl nun explizit dagegen verwehrt, diese Beobachtung zum
Anlass zu nehmen, etwa eine grundsätzliche Gleichförmigkeit dieser gewaltvol-
len und mörderischen Biopolitiken zu proklamieren und damit „die Skylla der
Relativierung der nationalsozialistischen Vernichtungs- und Vertreibungspolitik“
(ibid.: 47) zu bedienen, warnt sie gleichzeitig vor der „Charybdis der Enthistori-
sierung gegenwärtiger Konsequenzen in Bezug auf Migration und Minderheiten-
management“ (ibid.). Steyerls Ausführungen machen die komplizierten Prozesse
und Fallstricke deutlich, die sich aus einer Übersetzung postkolonialer Zugänge
für das gegenständliche Thema ergeben können. Diese Widersprüche sind durch
ihre Thematisierung wohl nicht „auflösbar“, sondern bleiben als Spannung in der
Analyse erhalten. Um die folgende Analyse jenseits von Skylla und Charybdis
entwickeln zu können, soll ein erweitertes (Steyerl nennt es „universalisiertes“,
ibid.: 50) Verständnis von „postkolonial“ vertreten werden. Dabei geht es weni-
ger um die Suche nach direkten Äquivalenzen zwischen Phänomenen und lineare
Abfolgen zwischen Epochen als um kontextualisierte und historisierte Analysen
von Kontinuitäten, Verschiebungen und Überlagerungen von Regierungstechni-
ken und den darin eingelagerten Wissensformen über „Fremde“ (Neuhold/Schei-
belhofer 2010: 86). In diesem Sinne analysierte etwa Kien Nghi Ha (2010) aktu-
elle deutsche Migrationsdiskurse und Integrationsmaßnahmen als „koloniale
Pädagogik“. Für den österreichischen Kontext verwies Renée Winter (2004) auf
„post/koloniale Verbindungen“ der „Gastarbeitspolitik“. Diese frühe Migrations-
politik ist es auch, wo die Analyse der Konstruktion und Regulierung „fremder
Männlichkeit“ ansetzt.
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 67

3 Die fremden Körper der Arbeiter

So wie anderenorts in Europa sah sich auch die Wirtschaft in Österreich in den
1960er Jahren mit steigender Arbeitskräfteknappheit konfrontiert. Um diese zu
lindern, wurden Maßnahmen ergriffen, die ausländische Arbeitskraft vorüberge-
hend ins Land bringen sollten. Für die österreichische Wirtschaft hörte sich die
Idee der „Gastarbeit“ mit ihrem „Rotationsprinzip“ verlockend an: Migrantische
Arbeitskraft konnte herangezogen werden, um gezielt Lücken am Arbeitsmarkt
zu schließen. Sollten sich die Arbeitsmarktbedingungen ändern, würde es nicht
zu erhöhter Arbeitslosigkeit kommen, da es sich ja, so die Annahme, um „Gäste“
handle, die wieder nachhause zurückkehren würden bzw. zurückgeschickt wer-
den könnten (vgl. Bauböck 1996: 12).
1962 wurde begonnen, im Ausland aktiv Arbeitskraft zu rekrutieren. Nach
weitgehend erfolglosen Versuchen in Italien und Spanien zeigten schließlich die
Anwerbeabkommen, die 1964 mit der Türkei und zwei Jahre später mit dem da-
maligen Jugoslawien unterzeichnet wurden, Wirkung. Es war aber nicht die Poli-
tik, die diese Entwicklungen in die Wege leitete und maßgeblich steuerte, sondern
die sich damals formierende Sozialpartnerschaft. Das aus Interessenvertretern6
aus Wirtschaft und Arbeit bestehende Gremium legte jährliche Rekrutierungs-
„Kontingente“ fest und gestaltete sowohl die rechtlichen Rahmenbedingungen
als auch die Maßnahmen der Anwerbung (vgl. Gächter 2004). Durch rechtliche
Regelungen wie das Erteilen von jährlich zu erneuernden Arbeitsvisa oder die
Festschreibung des „Inländerprimats“, wonach ausländische Arbeitskräfte nicht
statt inländischer eingestellt werden durften und gegebenenfalls vor inländischen
Arbeitskräften entlassen werden sollten, wurde die rechtliche und politische Si-
tuation der „Gäste“ prekär gehalten und sollte die „Rotation“ sichergestellt wer-
den (vgl. Bratiç 2003: 40).
Wer waren nun aber die „Gäste“, die angeworben wurden, um in Österreich
zumeist schlecht bezahlte, prekäre und gefährliche Arbeiten zu verrichten? Be-
sonders in der ersten Zeit der Gastarbeitspolitik war der ideale Gastarbeiter jung,
gesund und männlich (vgl. Bauböck 1996: 13; Mayer 2009: 35). Österreichische
ArbeitgeberInnen konnten sich an die anwerbenden Stellen mit kurzen Notizen
wenden, etwa: „Aufgrund äußersten Arbeitskräftemangels muß ich Sie heute,
entgegen meiner bisherigen Abneigung gegen türkische Fremdarbeiter ersuchen,
mir unbedingt und möglichst sofort drei bis fünf Türken für meine Möbelfabrik
zuzuteilen.“ (Telegramm aus dem Jahr 1966, zitiert in Bakondy 2010: 70)

6 Auf ein Binnen-I wird hier bewusst verzichtet.


68 Paul Scheibelhofer

In Anwerbestellen wie jener, die 1964 in Istanbul eröffnet wurde, wurden an


guten Tagen mehrere hundert Ausreisewillige daraufhin überprüft, ob sie den An-
forderungen entsprachen. Neben ihren Handfertigkeiten wurde im Rahmen des
Selektionsprozesses auch ihre körperliche Gesundheit getestet. Zähne, Blut und
Stuhl wurden überprüft, Röntgenuntersuchungen durchgeführt (vgl. Muradoglu/
Ongan 2004). Schließlich wurde sichergestellt, dass die Bewerber ohne Vorstra-
fen waren (Matuschek 1985: 71). Für jene, die den Selektionsprozess positiv ab-
solvierten, wurde schließlich der Transport nach Österreich organisiert. Wie Ba-
kondy (2010: 77) verdeutlicht, ging mit der verdinglichenden Behandlung eine
ebensolche Sprache einher, die sich auch in den Dokumenten, die den Selektions-
prozess begleiteten, niederschlug. So wurde von getesteten Personen in „Stück“
gesprochen, für die dann „Lieferscheine“ und „Transportbescheinigungen“ aus-
gestellt wurden bzw. von denen es noch nicht transportierte „Restbestände“ gab.
Reale Arbeitsmigration verlief nicht ausschließlich im Rahmen dieser institu-
tionellen Arrangements. So umgingen etwa MigrantInnen ebenso wie österreichi-
sche ArbeitgeberInnen oftmals aus pragmatischen Überlegungen den Rekrutie-
rungsprozess (Matuschek 1985: 72). Es wäre auch falsch, die bereits während des
Gastarbeitsregimes einsetzende weibliche Arbeitsmigration auszublenden (vgl.
etwa Appelt 2003). Die Praxen der Migration sind eben nicht vollends durch mi-
grationspolitische Maßnahmen steuer- und kontrollierbar (vgl. Bojadzijev/Kara-
kayali 2007), dennoch wirken solche politische Maßnahmen natürlich auf das
Feld der Migration ein. Sie lenken und beschränken Bewegungen, und sie etablie-
ren dominante Perspektiven auf „Normalitäten“ und „Probleme“ der Migration.
So prägte auch das offizielle Anwerbesystem die realen Migrationsprozesse, wie
etwa Zahlen des türkischen Arbeitsamtes zeigen, nach denen bis 1978 38.000
vorwiegend männliche (Gächter 2004: 38) ArbeiterInnen nach Österreich vermit-
telt wurden. Was an dieser Stelle aber besonders interessiert, sind der Herr-
schaftsblick, den die Maßnahmen der Gastarbeitswerbung auf Migration etablier-
ten, und die sich darin artikulierenden Rationalitäten.
Das „Wissen“, an dem dieser Blick interessiert ist, ist – wie oben gezeigt – vor
allem ein körperliches. Es war der Körper – oder besser: der männliche, belast-
bare und ausbeutbare Körper –, der im Rekrutierungsprozess nach Fähigkeiten
und (sowohl verwertbaren als auch gefährlichen) Potentialen abgetestet wurde
und der im Rahmen des Selektionsprozess zu einem Arbeitsobjekt verdinglicht
wurde (Ha 2003: 65).
Der dominante Blick endete nicht in den Rekrutierungsbüros, sondern folgte
den Migrierenden über die Grenzen. So wurde in politischen Debatten etwa im-
mer wieder über die (mangelnde) Hygiene der GastarbeiterInnen diskutiert und
die angeblich davon ausgehende gesundheitliche Gefahr problematisiert und be-
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 69

arbeitet. In einem von Winter (2004) zitierten Erlass des Innenministeriums heißt
es dann auch: „Der Überwachung der in Österreich tätigen Gastarbeiter kommt
aus Gründen sicherheitspolizeilicher Natur und solchen der Aufrechterhaltung
der Volksgesundheit ein ganz besonderes Gewicht zu.“ In Anlehnung an NS-
Sprache wurde so mit Bezug auf die zu schützende Volksgesundheit den fremden
Körpern ein Gefahrenpotential zugeschrieben und so Kontroll- sowie Überwa-
chungsmaßnahmen legitimiert.
Fragen der Kultur oder Religion der MigrantInnen – oder gar der Geschlech-
terverhältnisse unter ihnen – spielten hingegen kaum eine Rolle in den migra-
tionspolitischen Diskussionen der Gastarbeiterära (vgl. Mayer 2009: 42), und
wenn doch, dann im folkloristischen Sinne, wenn in den Hygienediskussionen
von eigentümlichen Bräuchen und Praktiken die Rede ist, oder in psychologisie-
render Weise, wenn etwa darüber diskutiert wurde, dass türkische Arbeiter ein
geringeres Problem mit Autoritäten hätten als jugoslawische (ibid.). Diese Dis-
kussionen konzentrierten sich auf Fragen der Arbeits- und Lebensverhältnisse.
Anders als heute erschien „Kultur“ in diesen Debatten noch nicht als die Migran-
tInnen fundamental bestimmende Kraft. Die „Gastarbeiter“ wurden vor allem in
ihrer Funktion als „Arbeiter“ betrachtet.

4 Fluten von Kriminellen

Mitte der 1970er Jahre reagierte die österreichische Politik auf Ölpreisschock und
geringeres Wirtschaftswachstum mit dem „Anwerbestopp“ und restriktiven Maß-
nahmen, die das Ziel verfolgten, die Zahl der ausländischen Bevölkerung in Ös-
terreich zu verringern. Dieses Ziel wurde zwar erreicht,7 die Niederlassung der
„Fremden“ konnte jedoch nicht nachhaltig verhindert werden. 8
Die Notwendigkeit der Begrenzung von Migration etablierte sich zusehends
als zentrales Leitmotiv migrationspolitischer Maßnahmen und Diskurse. Diese
Notwendigkeit wurde einerseits legitimiert über den bereits etablierten – anti-
internationalistischen – Diskurs über den Schutz des österreichischen Arbeits-
marktes vor ausländischer Arbeitskraft (wobei es tatsächlich der männliche öster-
reichische Arbeiter war, dessen Interessen und Privilegien hier geschützt werden
sollten, wie Perchinig 2005: 3, herausstreicht). Daneben etablierte sich zuneh-

7 Bratiç (2003: 44) berichtet von einer Verringerung um 40% in der Zeit von 1974 bis 1984.
8 Wie Bauböck (1997: 14) feststellt, hatten die Maßnahmen sogar den paradoxen Effekt der Be-
schleunigung dieses Prozesses, da die rechtlichen Verschärfungen ein Hin- und Herpendeln zwi-
schen den Staaten erschwerten. Stattdessen zogen vermehrt PartnerInnen und Kinder nach bzw.
wurden Familien in Österreich gegründet.
70 Paul Scheibelhofer

mend ein Gefahrendiskurs im Zusammenhang mit Migration. So kam in den


1970er Jahren der Gefahrentopos des „Ausländerghettos“ auf, in dem sich Ge-
walt und Armut zu gefährlichen politischen und sozialen Spannungen verdichten
würden (vgl. Bratiç 2003: 44). Und es waren diese Bilder gefährlicher städtischer
Orte, die herangezogen wurden, um rechtliche Verschärfungen zu legitimieren.
So wurde im Ausländerbeschäftigungsgesetz von 19759 die Erteilung einer
Arbeitserlaubnis erstmals an das Vorhandensein einer „für Inländer ortsüblichen
Unterkunft“ geknüpft. Diese als Verbesserung der Lebensbedingungen der Mi-
grantInnen argumentierte Zugangshürde wurde fortan fixer gesetzlicher Bestand-
teil der österreichischen Migrationspolitik (Mayer 2009: 42).
Waren Gefahrentopoi migrationspolitischen Diskursen und Maßnahmen
schon seit der Gastarbeitsära inhärent, verstärkte sich deren Relevanz später mas-
siv. Im Zuge politischer Debatten rund um die Umbrüche in Europa Ende der
1980er Jahre erfuhr das Thema Migration eine grundlegende und bis heute fort-
bestehende Verknüpfung mit den Themen (Un-)Sicherheit und Gefahr. Dieser
Gefahrendiskurs artikulierte sich auch in neuen Bildern bedrohlicher fremder
Männlichkeit.
Durch zwei neue Kräfte in der österreichischen Parteienlandschaft wurde das
Thema Migration in den 1980er Jahren politisiert und popularisiert – von rechts
durch Jörg Haiders FPÖ, von linksliberaler Seite durch die „Grüne Alternative“.
Doch erst mit den migrationspolitischen Debatten rund um den Fall des „Eisernen
Vorhangs“ setzte sich der Diskurs über Migration als gesellschaftliches Problem,
für das es politische Lösungen zu finden gilt, durch (vgl. Zuser 1996).
Die kurze medial verbreitete Euphorie über das Ende kommunistischer Re-
gime in Osteuropa und die nunmehr „freien“ NachbarInnen schwenkte schnell
um in aufgeregte Berichte über Massen von Einreisewilligen, die Sicherheit und
Stabilität des Landes bedrohten. So sprach 1990 der damalige Innenminister der
SPÖ von einer „Völkerwanderung“ in Osteuropa, die es in den Griff zu bekom-
men gelte (zit. in Zuser 1996: 20). Von medialer und politischer Seite wurden Ge-
fahrenbilder von „Wellen“ und „Strömen“, die auf das „volle Boot“ Österreich
zusteuerten, gezeichnet (Zuser 1996: 23). Dabei spielte das Thema Kriminalität
eine zentrale Rolle. Neben „Kriminaltouristen“ und „Schwarzarbeitern“ aus dem
Osten (ibid.: 34), die Besitz und Arbeitsmarkt der ÖsterreicherInnen bedrohten,
standen bald Flüchtlinge im Fokus der Aufmerksamkeit. Aufbauend auf einer
verstärkten Differenzierung zwischen politischen Flüchtlingen und Wirtschafts-
flüchtlingen oder „ScheinasylantInnen“ wurde in öffentlichen und politischen
Diskursen eine Trennung vorgenommen in jene mit Anrecht auf Hilfe und jene,

9 BGBl 1975/218.
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 71

die den österreichischen Staat und seine Bevölkerung hintergingen und betrögen
(Matouschek, Wodak et al. 1995: 25). Auf Basis dieser Trennung konnten Politi-
kerInnen von der grundsätzlichen Hilfsbereitschaft des Landes sprechen und
gleichzeitig vor den Gefahren von „Flüchtlingslawinen“ warnen (ibid.).
Obwohl in diesen Phantasien auch weibliche Migrantinnen eine Rolle spiel-
ten, wurde das hauptsächliche Gefahrenpotential für die österreichische Gesell-
schaft und Bevölkerung den Männern zugeschrieben. Während der Diskurs der
„Ausländerkriminalität“ mit seinen „Banden“, „Autodieben“ und „Raubüberfäl-
len“ (vgl. Zuser 1996: 46 f.) die gängigen Bilder männlicher Krimineller bedien-
te, wurde im Reden über gefährliche „Asylanten“ deren Männlichkeit selbst zum
Problem erklärt. „Ostflüchtlinge“ wurden im Allgemeinen mit Attributen wie Ag-
gressivität, geringer Ordnungsliebe, Faulheit oder Lautheit versehen (vgl. Matou-
schek/Wodak et al. 1995: 27), der auf fremde Männlichkeit abzielende Charakter
dieser Konstruktionen trat massiv im Fall der medialen und politischen Protest-
stürme gegen eine im März 1990 geplante Unterbringung von 800 männlichen
Asylwerbern aus Rumänien in dem kleinen burgenländischen Ort Kaiserstein-
bruch zu Tage. Im Zuge dieser Proteste, die Zuser (1996: 1) als Angelpunkt des
damals neu einsetzenden Gefahrendiskurses über Migration beschreibt, wurde in
Medien vor „Alkoholexzessen und Schlägereien“ (vgl. Matouschek/Wodak et al.
1995: 195) und besonders vor Gefahren für österreichische Frauen und Kinder
gewarnt, die von den sexuell ausschweifenden und gewalttätigen rumänischen
Männern ausgingen. Den diesbezüglichen medialen und politischen Diskurs zu-
sammenfassend analysierend schreiben Matouschek und KollegInnen: „Hier
wurden die Rumänen als fremde, gefährliche, linkische Menschen, als potentielle
Räuber, Gewalttäter, Vergewaltiger und Sozialschmarotzer charakterisiert“ (ebd.:
245).
Die Sicherheits- bzw. Gefahrenperspektive auf Migration schlug sich in Maß-
nahmen, Gesetzen und Institutionen der Migrationskontrolle nieder und wurde
dadurch nachhaltig verankert. So installierte Löschnak 1990 den Assistenzeinsatz
des österreichischen Bundesheeres an Österreichs Ostgrenze im Nordburgenland,
um illegale Grenzübertritte zu verhindern (Zuser 1996: 33), die Visapflicht für
mehrere Staaten Osteuropas wurde wieder eingeführt, das neue Asylgesetz10 ent-
hielt nun explizit Maßnahmen, um „Asylmissbrauch“ entgegenzuwirken und um
Asylanträge schneller abweisen zu können (Stern 2010: 219). Mit dem 1993 in
Kraft getretenen „Fremdenrechtspaket“ wurde durch mehrere Verschärfungen die
Möglichkeit, Aufenthalt zu erhalten, maßgeblich erschwert (Perchinig 2010a:
148). Die Durchsetzung der sicherheitspolitischen Perspektive auf Asyl und Mi-

10 Bundesgesetz über die Gewährung von Asyl, BGBl 1992/8.


72 Paul Scheibelhofer

gration schlug sich aber nicht nur in Gesetzen nieder, sondern auch in der Ver-
schiebung politischer Verantwortlichkeiten. So wurde das Innenministerium, das
zuvor nur in der Flüchtlingspolitik aktiv war, zu einer bis heute zentralen politi-
schen Instanz in der Gestaltung der österreichischen Migrationspolitik (ibid.:
147). Was hier in Österreich passierte, sollte aber nicht losgelöst von breiteren
geopolitischen Entwicklungen dieser Zeit betrachtet werden. In einer sich inte-
grierenden EU (Stichwort: Schengen) erlangte die Kontrolle von internationaler
Migration zunehmend den Status sicherheitspolitischer „Kompensation“ für den
Abbau interner Grenzen (vgl. McGauran 2010: 108). Die Gefahrendiskurse über
„Asylwellen“ ermöglichten es der österreichischen Politik, die europaweit statt-
findende „Versicherheitlichung“ der Migrationspolitik (Bigo 2010: 40) mitzutra-
gen und hier zu verankern.
Diese Entwicklungen verschärften massiv fremdenfeindliche Tendenzen in
der Thematisierung von Migration in Österreich.11 Im Zuge dieser „Konjunktur
des Rassismus“ (Bojadzijev 2008: 46) wurde die bereits zuvor vorhandene Be-
drohungsperspektive auf Migration und „das Fremde“ zu einer zentralen Argu-
mentationsebene für die Durchsetzung von neuen restriktiven Gesetzen im Na-
men von Law & Order. Wie etwa Sohler (2000) zeigt, konnte sich diese Perspek-
tive nachhaltig etablieren. Über das Bedrohungsbild der „organisierten Krimina-
lität“ entwickelte sich in den 1990er Jahren eine grundlegende „polizeiliche
Sicht“ (ibid.: 54) auf Asyl, Migration und die Gefahren „eingeschleppter Krimi-
nalität“ (ibid.: 55). Während Migrantinnen dabei zumeist als Prostituierte oder
Opfer von Frauenhandel in den Fokus dieser Sicherheitsperspektive gerieten
(ibid.), traten Männer vor allem als „Schlepper“ (ibid.: 57; vgl. auch Winter 2004)
oder Kriminelle auf. Die Logik des „Kampfes gegen organisierte Kriminalität“
führte auch zur Verschärfung polizeilicher Kontroll- und Disziplinierungsmaß-
nahmen (Sohler 2000: 61). Besonders im Zusammenhang mit dem Konstrukt des
„nigerianischen Drogendealers“, das seit den 1990ern zur Legitimation von
Überwachungsmaßnahmen, Abschiebungen und Polizeigewalt, die mitunter töd-
lich endet,12 herangezogen wird (vgl. Görg 2002; Kravagna 2005; Zara 2009),
zeigt sich die nachhaltig wirkende Kraft des Gefahrenbildes vom kriminellen ille-
galen Migranten.

11 Matouschek und KollegInnen sprechen in diesem Zusammenhang gar vom Entstehen einer „,mo-
dernen‘ österreichischen Fremdenfeindlichkeit“ (1995: 24).
12 Im Mai 1999 erstickte Marcus Omofuma, der von Polizisten gefesselt und geknebelt wurde, wäh-
rend seiner Abschiebung; im Juli 2003 starb Seibane Wague an den Folgen einer polizeilichen
„Amtshandlung“. Bis heute werden in Österreich immer wieder Fälle von polizeilicher Gewalt an
afrikanischen Männern und Frauen publik.
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 73

5 Disziplinierung der Patriarchen

Dass das Migrationsthema bis heute nachhaltig von der Sicherheitsperspektive


geprägt ist, tritt besonders im Zusammenhang mit den Themen „Ausländerkrimi-
nalität“ und „Asylmissbrauch“ zu Tage (vgl. Pilgram 2007). Doch lässt sich er-
kennen, dass sich der dominante Problemfokus von Kriminalität und Illegalität zu
Fragen der Integration verschoben hat (vgl. Perchinig 2010a: 152). Dabei wird
der disziplinierende Charakter von Migrationspolitiken in der Formel des „För-
dern und Fordern“ aufgehoben und nehmen dominante Regierungsformen zuneh-
mend pädagogischen Charakter an (vgl. Castro Varela/Mecheril 2010: 404). In
diesem Kontext vermengen sich Fragen ökonomischer Verwertbarkeit mit der Su-
che nach Integrationshindernissen in fremden Kulturen und Religionen. Und es
ist nun vor allem „der türkisch-muslimische Mann“, der zum großen „Problem-
fall“ der Migrationspolitik avancierte.
Im Sinne eines modernen Migrationsmanagements positionieren sich politi-
sche SprecherInnen heute durchwegs aufgeschlossen gegenüber der Notwendig-
keit von Migration, jedoch gelte es diese rational zu gestalten und dabei weder
rechter Abschottungspolitik noch linker „Multikulti-Träumerei“ anzuhängen
(vgl. Neuhold/Scheibelhofer 2010: 92; Vertovec/Wessendorf 2010). Dieser neue
Diskurs bedient sich dabei spezifischer vergeschlechtlichter Fremdkonstruktio-
nen, wie etwa im Statement des damaligen Vorsitzenden der christlich-konserva-
tiven ÖVP in Wien, Johannes Hahn, als er einmahnte:
„Es ist blanker Zynismus zu behaupten, dass unsere Wirtschaft und unser Gesundheitssystem
ohne Zuwanderer auskommt. Wer soll uns pflegen – und mithelfen, unser Pensionssystem zu er-
halten, wenn nicht integrationswillige Zuwanderer und ihre Kinder? Aber Zuwanderer aus ande-
ren Kulturen müssen akzeptieren, dass Frauen bei uns gleichberechtigt sind – und als Lehrerinnen
und Vorgesetzte die gleiche Autorität haben wie Männer. Null Toleranz für kulturellen Rück-
schritt. Die wahren Probleme verlangen ernsthafte Diskussionen. Und ehrliche Antworten“.13

Ein gesunder und belastbarer Körper ist heute offenbar nicht mehr genug, um ein
akzeptabler Migrant zu sein und in Österreich arbeiten zu dürfen. Archaische mi-
grantische Männlichkeit aus „anderen Kulturen“ wurde als Problem entdeckt und
erscheint sowohl als Gefahr für Frauen als auch für den kulturellen Fortschritt der
Nation. Moderne Migrationspolitiken können vor diesem Hintergrund als proba-
tes Mittel der Aussortierung rückständiger fremder Männlichkeit propagiert wer-
den. Im Zusammenhang mit der 2011 geplanten Einführung der sog. Rot-Weiß-
Rot Card, gemäß der hochqualifizierte MigrantInnen erleichterten Zugang zu
Arbeitsmarkt und Aufenthaltstitel bekommen sollen, argumentierte etwa die am-

13 Erschienen in der Wiener Stadtzeitung Falter Nr. 33/2008, kursiv im Original.


74 Paul Scheibelhofer

tierende Innenministerin Maria Fekter: „Wir brauchen den hochqualifizierten Di-


plom-Ingenieur und nicht einen unqualifizierten Analphabeten aus irgendeinem
Bergdorf“14 und verdeutlichte die Rolle, die dabei der staatlichen Regulierung zu-
kommen soll, als sie meinte, man müsse „die Bürokratie verstrengern für Unqua-
lifizierte, die nicht Deutsch können, und die Bürokratie etwas lockern für jene,
die hochqualifiziert sind und die wir haben wollen“. 15
Vergeschlechtlichung und Klassismus gehen in diesen Fremdkonstruktionen
eine Verbindung ein und lokalisieren den rückständigen Migranten, für den es
heute in Österreich keinen Bedarf mehr gebe, an fernen, archaischen Orten. Der
wiederkehrende Bezug auf Sprache und Deutschkenntnisse ist dabei nicht zufäl-
lig. Debatten um mangelnde Deutschkenntnisse haben sich in Österreich zu ei-
nem zentralen Marker kultureller Differenz und des „boundary making“ entwi-
ckelt (vgl. Herzog-Punzenberger 2009: 56). In diesem Zusammenhang hat sich
ein Gegensatzpaar durchgesetzt, wonach „fremde Sprache = fremde Kul-
tur = archaisch-patriarchal“ dem Komplex „Deutsch = wir = aufgeklärt-gender-
gerecht“ gegenübersteht. Und so können Sprachfördermaßnahmen nicht nur als
Förderung des Humankapitals, sondern auch der Emanzipation von Migrantin-
nen propagiert werden, da diese sich dadurch der patriarchalen Kontrolle durch
„ihre“ Männer entziehen könnten (vgl. dazu kritisch Plutzar 2010: 131).
Solche Annahmen liegen etwa freiwilligen Sprachfördermaßnahmen zugrun-
de, wie der Aktion „Mama lernt Deutsch“, die von der Wiener Stadtregierung be-
trieben wird.16 Sie werden aber auch im Legitimationsdiskurs für neue Verschär-
fungen, die im Zuge der Rot-Weiß-Rot Card eingeführt werden, in Stellung ge-
bracht. So müssen Familienangehörige, die nach Österreich nachziehen wollen,
zukünftig bereits bei ihrem im Ausland zu stellenden Antrag über nachgewiesene
Deutschkenntnisse verfügen. Und es war wiederum die für den Gesetzesentwurf
verantwortliche Ministerin Fekter, die unter Verweis auf „die Frau aus dem anato-
lischen Bergdorf“ zugunsten des positiven Charakters dieser Maßnahme argu-
mentierte, als sie meinte, „dass dies ein enormer emanzipatorischer Fortschritt für

14 Interview in der Tageszeitung Die Presse vom 30. 7. 2010.


15 Interview in der Sendung „Morgenjournal“ auf Radio Ö1 am 30. 7. 2010.
16 So heißt es etwa im Curriculum zum Unterricht über das anvisierte Klientel: „Viele Frauen sind
auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter zurückgeworfen, manche haben außerhalb der Familie
kaum soziale Kontakte und leben isoliert in ihren Wohnungen und Haushalten“ (S. 4). So sollen
im Unterricht neben der Vermittlung von Deutschkenntnissen und Wissen über das Funktionie-
ren von Ämtern, Kindergärten und Schulen auch „Kulturen und Religionen“, „Geschlechterrol-
len“ sowie „Traditionen und Rituale“ (S. 10) behandelt werden. Wissen über „Fremdenrecht“,
„Rassismus“ oder „Diskriminierungsschutz“ wird von den BeamtInnen der Stadt hingegen offen-
sichtlich kein emanzipatorisches Potential zugesprochen. Diese Themen werden im Curriculum
nicht erwähnt.
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 75

die Frauen ist. Mit dieser Pflicht, Deutsch vor der Zuwanderung zu lernen, be-
kommen die Frauen und Mädchen einen Bildungszugang, den sie sonst nie und
nimmer erhalten würden. Auch wir haben ethnische Gruppierungen hier, wo die
Frauen gar nicht Deutsch lernen dürfen“. 17
Auch wenn solche Argumentationen auf „fremde Frauen“ konzentriert sind,
so basieren sie auf Bildern über die „fremden Männer“, deren patriarchale Macht
es im Sinne der Integration zu brechen gilt. Dabei zeigt sich, dass die Idee der „In-
tegration“ in den letzten Jahrzehnten in Österreich eine Wandlung durchlaufen
hat. Wurde Integration in Debatten der 1970er Jahre und danach noch eher im
Sinne von Maßnahmen zur rechtlichen Gleichstellung und sozialen Teilhabe von
MigrantInnen verstanden, so wandelte sich die Bedeutung des Konzeptes in eine
von MigrantInnen individuell zu erbringende Leistung (vgl. Mayer 2010: 58;
Perchinig 2010a: 152). Und diese Leistung, so das neue Verständnis von Integra-
tion, könne und müsse vom Staat eingefordert werden. Institutionell verankert
wurde dieses disziplinierende Verständnis von Integration in der sog. „Integra-
tionsvereinbarung“, die 2002 eingeführt und von der damals mitregierenden FPÖ
als Maßnahme propagiert wurde, die „auch der Feststellung der Integrationsun-
willigkeit“ diene (zit. in Rohsmann 2003: 76). Die „Integrationsvereinbarung“18
verpflichtet zuwandernde MigrantInnen aus Drittstaaten zum Besuch eines Kur-
ses, in dem diese nicht nur Deutsch, sondern auch „europäische und demokrati-
sche Grundwerte“ (§ 16 Abs. 1) lernen müssen.19 Die Einführung der „Integra-
tionsvereinbarung“ war Teil der Fremdenrechtsnovelle 2002,20 mit der das Recht
auf längerfristige Einreise zum Zweck der Erwerbstätigkeit auf „Schlüsselkräfte“
beschränkt wurde. MigrantInnen ohne höhere Ausbildung wurden damit auf den
rechtlich prekären Bereich der Saisonarbeit verwiesen (vgl. Muttonen 2008:
183).
Parallele Entwicklungen fanden auch im Staatsbürgerschaftsrecht statt. Seit
der Novelle 2005 gilt der Zwang zum Erlernen von Deutsch sowie „unserer“
Werte auch im Staatsbürgerschaftsrecht21. Und auch hier war die Einführung sol-
cher Tests Teil eines Pakets von neuen Restriktionen. So wurde etwa das Min-
desteinkommen, das für die Erlangung der Staatsbürgerschaft nachgewiesen wer-

17 Im Interview in der Tageszeitung Der Standard vom 5. 12. 2010.


18 In ihrer 2006 reformierten Version, § 14–16 des Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz.
19 Der Nichtabschluss der „Integrationsvereinbarung“ wird dabei mit Sanktionen, die von Verwal-
tungsstrafen bis hin zur Ausweisung nach fünf Jahren reichen, bestraft (Plutzar 2010: 124).
20 Bundesgesetz, mit dem das Fremdengesetz 1997 (FrG-Novelle 2002) und das Asylgesetz 1997
(AsylG-Novelle 2002) und das Ausländerbeschäftigungsgesetz geändert werden, BGBl I 126/
2002.
21 Staatsbürgerschaftsrechts-Novelle 2005, BGBl I 2006/37.
76 Paul Scheibelhofer

den muss, stark erhöht oder der Kreis der Delikte, die zur Verweigerung der
Staatsbürgerschaft führen, erweitert; so kann etwa bereits der Terrorismusver-
dacht zum Abweisungsgrund werden (vgl. Stern 2010: 293). Das politische Ziel
dieser Restriktionen wurde erreicht: Die Zahl der „Naturalisierungen“ sank dras-
tisch (vgl. Cinar 2010: 14).
Ganz im Sinne des Credos der Innenministerin wird durch bürokratische Hür-
den sichergestellt, dass unqualifizierten Analphabeten aus irgendeinem Bergdorf
der Weg zur Erlangung von Rechten in Österreich erschwert wird. Staatsbürger-
schaft erlangt nur, wer nachweisen kann, sich wirtschaftlich erhalten zu können,
Deutsch zu beherrschen, nicht kriminell (oder gar Terrorist!) und kein rück-
schrittlich-archaischer Patriarch zu sein. Dieser letzte Punkt soll durch den Staats-
bürgerschaftstest sichergestellt werden, der im Abschnitt „Die Frau in der Gesell-
schaft“ darüber aufklärt, dass in Österreich Genitalverstümmelung, Zwangsheirat
und Ehrenmord verboten sind.22 Perchinig (2010b) weist in seiner Analyse des
österreichischen Staatsbürgerschaftstests darauf hin, dass dessen Bestehen wohl
zu den kleinsten rechtlichen Hürden zählt, welche MigrantInnen überwinden
müssen, um die Staatsbürgerschaft und damit mehr Rechte zu erlangen. Dennoch
erfüllt der Test gewisse Funktionen: Nach außen verdeutlicht er der Bevölkerung,
dass Einbürgerung strikter gehandhabt wird, und von zukünftigen Staatsbürge-
rInnen erzwingt er ein Zeichen der Unterwerfung unter die österreichische Staats-
macht (ebd.: 49). Die Unterstellung, MigrantInnen kämen per se aus archaisch-
patriarchalen Kulturen und müssten per Test dazu gezwungen werden, sich öf-
fentlich gegen ihre unterstellte „fremde Herkunftskultur“ auszusprechen, ist im-
manenter Bestandteil dieser Unterwerfungsgeste. Und auch hier folgt Österreich
wiederum breiteren Trends in Europa. So wurde in den Niederlanden etwa ein
„Willkommensvideo“ für MigrantInnen produziert, in dem diese den Anblick
sich küssender Männer und barbusiger Frauen „ertragen“ mussten. In Baden-
Württemberg wiederum wurde ein eigener Test für MigrantInnen aus muslimi-
schen Ländern gestaltet (im Feuilleton bald „Muslimtest“ genannt), in dem sie
unter anderem angeben müssen, dass sie kein Problem damit hätten, für eine
weibliche Chefin zu arbeiten oder zu erfahren, dass der eigene Sohn homosexuell
ist.
Feministische Positionen werden so von staatlicher Seite in einer Weise auf-
gegriffen, dass europäische Gesellschaften als „jenseits“ von Patriarchat und
„Kultur“ dargestellt werden können. Die zivilisatorische Rückschrittlichkeit, die
„fremden Kulturen“ zugeschrieben wird, wird dabei vor allem an vermeintlich
starren, archaischen patriarchalen Traditionen der MigrantInnen festgemacht.

22 Vgl. Skriptum für die Staatsbürgerschaftsprüfung, S. 34.


Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 77

Durch diese staatliche Verwendung büßen feministische Positionen ihren emanzi-


patorischen Charakter ein und können für Maßnahmen herangezogen werden, de-
ren disziplinierende Effekte sowohl migrantische Männer als auch Frauen treffen
(vgl. Erdem 2009; Scheibelhofer 2011b: 197).

6 Fazit

Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen. In dem Maße, wie sich die dominante Perspek-
tive auf Migration von einer „Geschichte der Arbeit“ zu einem „Erzählen von
Kultur- und Identitätsgeschichten“ gewandelt hat (Soysal 2002: 348), haben sich
auch die dominanten Imaginationen über die männlichen Figuren dieser Erzäh-
lung verschoben. Dabei wurden etablierte Wissensbestände über Fremdheit auf-
gegriffen, reartikuliert und verweisen aufeinander. So basierte die Verdinglichung
des Gastarbeiters zum Arbeitsobjekt auf biopolitischen Logiken und Techniken
des Vermessens und Testens des Fremden und der Erhebung seiner potentiellen
Nützlichkeit und Schädlichkeit für die nationale Ökonomie und Bevölkerung.
Die Verschiebung zum gefährlichen fremden Mann, gegen den es Kontroll- und
Strafmaßnahmen durchzusetzen gilt, wurde wiederum von kolonialen Bildern un-
zivilisierter Wildheit informiert. Aktuelle politische Diskurse über „den türkisch-
muslimischen Mann“ greifen sowohl orientalisierende Bilder über archaisch
fremde Kultur und Religion auf als auch das objektivierende Bild einer „Gast-
arbeitermännlichkeit“, die sich ob des zurückgezogenen Lebens nach der Migra-
tion kaum weiterentwickelt habe. Die Geschichte des rechtlichen und sozialen
Ausschlusses und der aktiven politischen Verhinderung von (wie auch immer ver-
standener) Integration kann dadurch ausgeblendet und als Problem von fremder
Kultur und Männlichkeit dargestellt werden. Das kulturalistische Bild von ar-
chaisch fremder Männlichkeit zeichnet im Gegenzug das Selbstbild einer moder-
nen geschlechtergerechten Gesellschaft und legitimiert diese zum politischen
Eingriff im Sinne von kulturellem Fortschritt und Emanzipation.
Diese sich verändernden dominanten Konstruktionen „fremder Männlich-
keit“, so sollte in diesem Beitrag gezeigt werden, dürfen dabei nicht einfach als
frei schwebende „Bilder“ oder „Vorurteile“ verkannt werden. Sie waren und sind
eingebettet in sich wandelnden politischen Strategien der Steuerung von Migra-
tion und den darin eingelassenen Interessen. Frühe Gastarbeitspolitik sollte vor-
übergehend billige, ausbeutbare Arbeitskraft für arbeitsintensive Branchen einer
wachsenden Wirtschaft importieren. Diese Politik wurde vor allem durch eine
Regulierung des Arbeitsmarktzuganges und weit reichende Ausschlüsse von so-
zialen und politischen Rechten bewerkstelligt. Der Logik dieser Politik entspre-
78 Paul Scheibelhofer

chend waren es Fragen der Gesundheit, Kraft und Arbeitstüchtigkeit, die in Be-
zug auf die „Fremden“ interessierten. Entsprechend den Bedürfnissen des
Arbeitsmarktes interessierte die Männlichkeit der Gastarbeiter vor allem als Fak-
tor ihrer Arbeitskraft. Zu einem „politischen Problem“ wurde diese hingegen
nicht stilisiert.
Dies änderte sich im Zuge der Versicherheitlichung und Verpolizeilichung
von Migrationspolitik in den 1990er Jahren. Bilder krimineller Migranten – seien
es Autodiebe, Schlepper oder Drogendealer – wurden genutzt, um das Gefahren-
potential „unkontrollierter“ Migration plausibel zu machen. War Arbeitsmigra-
tion bereits durch ein System von Quoten reguliert, konnte nun auch im Bereich
Asyl die Notwendigkeit der restriktiven Politik argumentiert und verstärkte Über-
wachungs- und Strafmaßnahmen legitimiert werden.
Während die Polizeiperspektive bei Asylthemen weiterhin vorherrscht, hat
sich im Reden über reguläre Migration ein „Integrationsimperativ“ durchgesetzt
(Bojadzijev 2008: 228). Im Zuge der nun allgemein stattfindenden Suche nach
Integrationshindernissen geriet türkisch-muslimische Männlichkeit ins Zentrum
von Problemdiskursen. Sie wird als rückständig, träge und potentiell gefährlich
beschrieben. In staatlich verordneten Kursen und Tests soll die Macht dieser
Männer über „ihre Frauen und Kinder“ untergraben und überprüft werden, ob das
Maß ihrer Rückständigkeit noch tolerierbar ist. In dieser Konstellation kann sich,
das hat Wendy Brown (2006) herausgearbeitet, die liberale Position, die be-
stimmt, was „tolerierbar“ ist, als objektive Instanz imaginieren und das Gewalt-
verhältnis, das im Testen und Disziplinieren eingelagert ist, verschleiern.
Dabei hilft die Kulturalisierung fremder Männlichkeit auch die politische
Ökonomie der Migrationsgesetze zu verschleiern. Der rückständige Patriarch, so
wird erklärt, gehöre nicht zu jenen, „die wir brauchen“ – heute seien es keine
Hände mehr, die wir rufen, sondern „Köpfe“. Verschleiert wird dabei der weiter-
hin bestehende Bedarf an billiger, flexibel einsetzbarer Arbeitskraft, für deren
Nachschub die jährlich beschlossenen Saisonarbeitskontingente sorgen. Der Dis-
kurs über den angeblich unerwünschten Analphabeten aus irgendeinem Bergdorf
legitimiert dabei die Anwendung restriktiver Maßnahmen und das Vorenthalten
von Rechten.
Dies alles geschieht in einer Zeit, in der Migrationspolitik nicht mehr durch
einfaches Erteilen von Arbeitserlaubnissen geschieht, sondern zu einem ausdiffe-
renzierten System der Klassifikation, Selektion und Stratifikation der Migration
geworden ist, das „gewünschte, geduldete und unerwünschte“ (Atac/Kraler
2006) MigrantInnen produziert. Diese ausdifferenzierte Migrationspolitik hat Be-
darf an ausdifferenziertem Wissen über die Migration und die MigrantInnen. Mi-
grationsgründe, Subjektivitäten, Kapazitäten, Normen und Werte werden erfragt
Arbeiter, Kriminelle, Patriarchen 79

und getestet. Musste „der Gastarbeiter“ die körperlichen Selektionstests noch


schweigend ertragen, so muss „der Migrant“ heute beredt Auskunft über sich, sei-
ne Qualifikationen, seine Meinungen zu Geschlecht, Sexualität etc. geben.
Forschung zu Männlichkeitskonstruktionen im Migrationskontext, die nicht
Teil dieses Macht/Wissens-Komplexes werden will, sollte die Verstrickung herr-
schender controlling images „fremder Männlichkeit“ mit restriktiven Migrations-
politiken reflektieren. Wer wird als „Problem“ erkannt und beforscht? Welche
Fragen werden gestellt, was wird abgetestet, und was bleibt unbesprochen? Sol-
che Fragen sollten gestellt werden, um emanzipatorische Alternativen zu den
herrschenden Verhältnissen zu entwickeln.

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Migration, Geschlecht und Familieneinkommen
(18.–20. Jahrhundert)
Sylvia Hahn

Der Mann muß hinaus / Ins feindliche Leben, /


Muß wirken und streben / Und pflanzen und schaffen, /
Erlisten, erraffen, / Muß wetten und wagen /
Das Glück zu erjagen. / [. . .] / /
Und drinnen waltet / Die züchtige Hausfrau, Die Mutter der Kinder, /
Und herrschet weise / Im häuslichen Kreise, /
(Friedrich Schiller, Das Lied von der Glocke)

Wie für viele Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts bestand auch für Friedrich Schil-
ler die Aufgaben- und Arbeitsteilung der Geschlechter darin, dass der Mann für
den Familienerwerb „hinaus ins feindliche Leben“ musste, hingegen der Frau, der
„züchtigen Hausfrau“, der „häusliche Kreis“, die Erziehung der Kinder und die
Führung des Haushalts oblag. Diese Beschreibung der unterschiedlichen sozialen
Bereiche von Männern und Frauen entsprach ganz der sich im Laufe des 18. Jahr-
hunderts herausbildenden bürgerlichen Familienideologie, die eine klar definierte
Rollenaufteilung zwischen Frauen und Männern vorsah. Daraus wiederum resul-
tierte die unterschiedliche Zuschreibung von Eigenschaften für Männer und Frau-
en, wie stark/schwach, rational/gefühlvoll oder öffentlich/privat, um nur einige
Beispiele1 zu nennen, die im Laufe der Jahrhunderte eine tiefe Verankerung im
gesellschaftlichen Bewusstsein erfuhren.
Wenn man sich den, in den 1980er Jahren von der Frauen- und feministischen
Forschung zusammengestellten Kanon der Geschlechterkodierungen ansieht, so
fällt auf, dass es keine dichotome Zuschreibung von mobil/immobil gibt – und
das, obwohl, wie das Beispiel von Friedrich Schiller zeigt, selbst in literarischen
Ausführungen Mobilität thematisiert wurde. Es stellt sich daher die Frage, warum
der Aspekt der geschlechtsspezifischen Mobilität weggelassen worden ist. Ist der
Grund darin zu sehen, dass, in Anlehnung an das bürgerliche Rollenmodell, es als
eine Selbstverständlichkeit angesehen wurde, dass Frauen aufgrund ihrer Zustän-

1 Siehe zum Beispiel: Hausen 1978 und Frevert 1988.

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_5,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
84 Sylvia Hahn

digkeit für Familie und Privatheit sesshaft und nicht mobil waren? Hat die teil-
weise noch heute bestehende lang tradierte Überzeugung vom ausschließlich
männlichen Familienernährer, der „hinaus in die Welt“ musste, zur stereotypen
Vorannahme der Immobilität von Frauen geführt? Und: Hatte die Außerachtlas-
sung der Mobilitätsfrage zur Folge, dass Frauen weder als Familienernährerinnen
noch als Migrantinnen in der historischen Forschung Beachtung fanden? Wäre es
nicht daher angebracht, dem Kanon der häufig zitierten binären Geschlechterko-
dierungen auch das Gegensatzpaar von mobil/immobil hinzuzufügen und sowohl
Migration auf geschlechtsspezifische Aspekte hin wie auch das male breadwin-
ner-System zu hinterfragen?

1 „Der Mann muß hinaus . . .“

Wenn wir einen Blick auf einige Studien werfen, die in den letzten 150 Jahren im
Bereich der historischen Wanderungs- und Migrationsforschung entstandenen
sind, so können wir feststellen, dass diese, abgesehen von einigen Ausnahmen,
durchwegs zu dem Ergebnis kamen, dass Migration in der Hauptsache eine
männliche Angelegenheit war. Obwohl bereits im 19. Jahrhundert Statistiker, De-
mographen und einige der frühen Soziologen zu Beginn des 20. Jahrhunderts
weibliche Wanderungen wahrgenommen und darauf aufmerksam gemacht haben,
wurde deren Umfang und Bedeutung von den Wissenschaftern, bewusst oder un-
bewusst, nicht wirklich erkannt, teilweise heruntergespielt oder gänzlich igno-
riert. Bis weit ins 20. Jahrhundert konzentrierten sich die Analysen in der Haupt-
sache auf die männlichen Akteure im Wanderungsgeschehen (Hahn 2000). Da-
durch blieb die Geschichte der Migration über lange Strecken eine ausschließlich
männliche Geschichte.
In Österreich beispielsweise wurde spätestens seit den Volkszählungserhe-
bungen von 1857 und 1869 herkunftsrelevante Angaben von Frauen und Män-
nern erhoben und statistisch ausgewertet. Die von den zeitgenössischen Statisti-
ker dazu gelieferten Interpretationen und Präsentationen hingegen waren schwer-
punktmäßig auf die männlichen Wanderungen fokussiert. Gustav Schimmer et-
wa, einer der führenden Statistiker Österreichs der zweiten Hälfte des 19. Jahr-
hunderts, hielt in seinen „Erläuterungen zu den Bevölkerungs-Ergebnissen“ der
Volkszählung von 1869 fest, „dass die Beweglichkeit der männlichen einheimi-
schen Bevölkerung schon früher eine stärkere war, während das weibliche Ge-
schlecht mehr in der Heimat verweilte“ (Schimmer 1872: 70). Und: „Nach Ge-
schlechtern ist die Beweglichkeit der einheimischen Bevölkerung nicht gleich,
sondern das männliche seiner Natur nach weit mehr geneigt, die Heimat zu ver-
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 85

lassen und anderwärts Erwerb zu suchen, als das weibliche.“ (Ebd.: 69) Einige
Absätze später muss Schimmer jedoch konstatieren, dass „die Beweglichkeit der
einheimischen Bevölkerung in der Periode 1857 bis 1869 nicht allein allenthal-
ben bei beiden Geschlechtern sehr erheblich gestiegen (ist), sondern es hat jene
des weiblichen Geschlechtes durchwegs stärker als die Mobilität des männlichen
zugenommen.“ (Ebd.) Oder, etwas knapper und präziser zusammengefasst: „In
der Zunahme der Beweglichkeit der Einheimischen überwiegt das weibliche Ge-
schlecht 1869 gegen 1857.“ (Ebd.: 70) Die Hauptursachen für dieses plötzliche
„Übergewicht“ sieht der zeitgenössische Kommentator in der Zunahme der in-
dustriellen weiblichen Beschäftigung sowie den ausgebauten und erleichterten
Verkehrs- und Transportmöglichkeiten, „welche auch dem schwächeren Weibe
das Erreichen ferner Wanderziele erleichtert, während es dem robusten Manne
nicht darauf ankam, demselben auf eigenen Sohlen zuzuwandern“ (ebd.).
Ähnlich wie Schimmer argumentierte einige Jahrzehnte später auch der deut-
sche Soziologe Ferdinand Tönnies. In seinen „Soziologischen Skizzen“ (Tönnies
1926) verortete Tönnies das „Phänomen“ der weiblichen Migration vor allem bei
der Binnenwanderung, und hier insbesondere bei der „großen Masse“ der Kurz-
streckenmigrantInnen vom Land in die Stadt, wofür der „immer erneuter(e) Be-
darf“ an „weiblichen Dienstboten“ ausschlaggebend war. Hingegen handelte es
sich bei den Langstreckenmigranten, wie Tönnies ausführte, in der Hauptsache
um „ältere, höher qualifizierte männliche Arbeitskräfte“ (Tönnies 1926: 2). Die
These der männlich qualifizierten Langstreckenmigranten untermauerte Tönnies
noch mit dem beruflichen Bildungs- und Qualifikationsargument, das, seinen
Ausführungen nach, ausschließlich auf Männer zutraf und wofür als Beispiele die
Gesellenwanderung und die Bedeutung der Großstädte als quasi „Hochschulen
des Handwerkerstandes“ (ebd.) angeführt wurden.
Dieser Aspekt erscheint insofern interessant, da hier eine Festlegung der (wei-
ter)qualifizierenden (Berufs-)Wanderung ausschließlich auf männliche Migran-
ten erfolgte: Beruf/Erwerb, Qualifikation/Fortbildung und Wanderung wurden
einzig der männlichen Bevölkerung zugeschrieben. Diese geschlechtsspezifische
Festlegung der beruflichen „Karriere“-Wanderung auf männliche Migranten hat-
te zur Folge, dass weibliche Bildungskarrieren, „kleine“ berufliche Aufstiege von
Frauen durch Arbeitsmigration etc. in der Forschung ausgespart blieben. Der
„Prototyp“ bei derartigen Untersuchungen blieb der handwerklich ausgebildete
Geselle, der qualifizierte Facharbeiter oder die in modernen technischen Zweigen
tätigen Männer mit hohem (Aus-)Bildungsniveau.
Eine ähnlich einseitige männerzentrierte Sichtweise finden wir im Hinblick
auf die europäische Überseemigration im 19. und 20. Jahrhundert. Frank Thistle-
thwaite beispielsweise, der wichtige Schwachpunkte der europäischen Migra-
86 Sylvia Hahn

tionsforschung aufgriff und kritisierte und dafür plädierte, verstärkt die Berufe
der MigrantInnen und die diesbezügliche Beziehung zum Heimatland in den
Blickpunkt zu rücken, blieb in seinen Analysen ebenfalls in einer männerzentrier-
ten Sichtweise stecken. In seinem Artikel ist ausschließlich die Rede von den süd-
italienischen Arbeitern, die vorzugsweise in den USA im Baugewerbe und in der
Schwerindustrie tätig waren, oder von den Griechen und Italienern, die als
Schuhputzer oder in Eissalons arbeiteten. (Thistlethwaite 1972: 335) In Argenti-
nien konnte man Italiener als Maurer, Schreiner, Steinbrucharbeiter, Gärtner, Zie-
gelarbeiter und Stuckateure finden, oder Genueser wiederum seien oft als Kapitä-
ne, Navigatoren oder als Matrosen in Südamerika, am River Plate etc. aktiv ge-
wesen. Im Großen und Ganzen stehen bei Thistlethwaite vor allem die Migratio-
nen von Facharbeitern, Technikern und Handwerkern im Mittelpunkt seines In-
teresses (ebd.: 336–338). Ähnlich wie die vorher genannten Autoren, bleibt Mi-
gration auch bei Thistlethwaite, trotz seines erweiterten und vielversprechenden
Ansatzes der Einbeziehung der Berufe, ausschließlich auf die männliche Bevöl-
kerung reduziert.
Im Gegensatz und in Abgrenzung zur (älteren) Migrationsforschung des aus-
gehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, die versucht hatte, das Wande-
rungsverhalten der Bevölkerung anhand von bestimmten Gesetzmäßigkeiten zu
erklären, erstellte Rudolf Heberle in den 1950er Jahren erstmals eine „Typologie
der Wanderungen“ (Heberle 1972: 70). Darin hob Heberle vor allem den Aspekt
der „Gemeinschafts-Wanderung“ hervor (ebd.). Trotz der Betonung der „Ge-
meinschaft“ der MigrantInnen blieb jedoch die „Gemeinschaft“ der Wandernden
bei Heberle stets eine (fast ausschließlich) männliche: Bei den diversen Typen
des Nomadismus sind es beispielsweise die saisonwandernden Hirten, die auf
Wanderschaft gehen; bei der überseeischen Wanderung der Angelsachsen und
Wikinger wiederum waren es „meistens junge Männer, Gefolgsleute von Kriegs-
führern“, die sich „von ihrer heimatlichen Gemeinschaft (trennten)“ und die
„alte“ Sozialstruktur zugunsten einer neuen aufgaben, „basierend auf den Mann-
schaften der Schiffe und den Gefolgschaften der Heerführer“ etc. (ebd.). Im
Gegensatz zu den älteren Studien werden Frauen als Wandernde bei Heberle nur
einmal explizit erwähnt, und zwar als Ehefrauen, als „abhängige Personen“, die
„oft durch den Entschluss des Haushaltsvorstandes gezwungen (werden) mitzu-
gehen“ (ebd.: 72).
Knapp zwanzig Jahre später, in den 1970er Jahren, publizierte Wolfgang
Köllmann seine historisch-soziologische Wanderungstheorie (Köllmann 1976).
Köllmann unterscheidet dabei zwischen einer „sozio-ökonomisch motivierten
Massenwanderung“ und der „individuell-ökonomisch motivierten Einzelwande-
rung“ (ebd.: 266). Auch hier dokumentiert sich der männliche Blick auf die Wan-
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 87

derungsbewegungen: Unter „Einzelwanderung“ wird diejenige Migration der


handwerklich ausgebildeten Gesellen, der hoch qualifizierte Facharbeiter oder
die Bildungsmigration der Söhne aus Mittel- und Oberschichtfamilien angesehen.
Negiert und außer Acht gelassen wird die weitverbreitete weibliche Einzelwan-
derung, beispielsweise die massenhafte Migration der Dienstbotinnen. Ähnlich
wie für andere Autoren gibt es auch für Köllmann per se keine Migrantinnen:
Frauen werden einzig als „mitziehende Ehefrauen“ oder „zwecks Heirat nachge-
holte Bräute“ genannt, die einen Teil der „jüngeren und mittleren Altersklassen
des wirtschaftlichen (15- bis unter 65-jährigen) (. . .) Tragkörpers“ bilden (ebd.:
268).
Selbst von den Vertretern der „modernen“ Sozialgeschichte der jüngeren Ge-
neration in den 1970er und 1980er Jahren ist dieses Bild der Wanderung, in deren
Mittelpunkt und als Hauptakteure die Männer fungieren, sowohl im anglo-ameri-
kanischen wie im europäischen Sprachraum ziemlich bruchlos übernommen wor-
den. Trotz der theoretisch und methodisch fortgeschrittenen Untersuchungsan-
sätze in der angelsächsischen und amerikanischen Forscherszene war ein fast
durchgängig gemeinsamer Punkt, dass die Einwanderer hauptsächlich „men in
motion“ (Thernstrom 1971) waren. Abgesehen von einigen kurzen Ausführung
über die weiblichen Erwerbsbereiche werden Immigrantinnen bzw. die weibliche
Bevölkerung stets nur in Abhängigkeit von und in Zusammenhang mit Männern
oder als Angehörige der Familie und der familiären Netzwerke analysiert (Bod-
nar 1985: 53 ff.). Auf die Problematik einer derart auf die Familie konzentrierten
Analyse der weiblichen Immigranten haben in der Folge weibliche Wissenschaf-
terinnen hingewiesen und darauf aufmerksam gemacht, dass dadurch beispiels-
weise Dienstbotinnen ebenso ausgeblendet bleiben wie das Thema der weibli-
chen Prostitution oder auch andere frauenspezifische Erwerbsbereiche (Gabaccia
1992).
Für den deutschsprachigen Raum lassen sich ähnlich männerzentrierte For-
schungsansätze bei historischen Migrationsstudien ausmachen. So dominieren
weitgehend Arbeiten über die Gesellenwanderung des Handwerks, die männliche
Zu- und Abwanderung in Zentren der Schwerindustrie, des Bergbaus etc. (siehe
Bade 1982; Bräuer 1982; Elkar 1984; Ehmer 1994; Reith 1994). Obwohl insbe-
sondere zu Beginn der 1980er Jahre, im Zuge der Etablierung der Frauen- und fe-
ministischen Forschung, vermehrt Publikationen etwa zu den Dienstbotinnen und
deren Herkunft entstanden (Engelsing 1973; Ottmüller 1978; Walser 1986; Wier-
ling 1987; Higgs 1987), wurden diese kaum von der historischen Migrationsfor-
schung rezipiert. Auch die bereits auf das 19. Jahrhundert zurückgehende und
lang tradierte These: Langstreckenwanderung = Qualifikation = männlich wurde
ebenfalls noch weiter fortgeschrieben. Das heißt, der Großteil der historischen
88 Sylvia Hahn

Migrationsstudien im deutschsprachigen Raum in den 1970er und 1980er Jahren


blieb auf die Aspekte (Schwer-)Industrie, Fernwanderung, Qualifikation und
Männer konzentriert.
Diese Studien, ausgehend von den statistisch-demographischen des 19. Jahr-
hunderts bis hin zu jenen jüngeren Datums, zeigen, dass in der historischen Mi-
grationsforschung über lange Zeit nur die Männer als die mobilen breadwinner
angesehen und untersucht wurden. In Anlehnung an das bürgerlich-patriarchali-
sche (Familien-)Modell, das spätestens seit dem 18. Jahrhundert die europäische
Kultur prägte, wurden in den meisten Studien traditionelle geschlechtsspezifische
Dichotomien und rollenspezifische Stereotypen reproduziert. Und das, obwohl
spätestens seit dem 19. Jahrhundert statistische Datenmaterialien vorhanden ge-
wesen wären, welche deutlich andere Schlussfolgerungen und Interpretationen
zugelassen hätten. So zeigen etwa die für die Habsburgermonarchie im 19. Jahr-
hundert vorhandenen Datenmaterialien, dass Frauen ähnlich mobil waren wie
Männer und aus den unterschiedlichsten Gründen entweder Kurz- oder auch
Langstreckenmigrationen unternommen hatten (Hahn 2008). Das heißt, selbst
das Vorhandensein von empirischen Belegen hinderte die lange Zeit männlich do-
minierte Wissenschaftsszene nicht an der Fortschreibung des längst überkomme-
nen und in der Alltagsrealität der Menschen wahrscheinlich nie wirklich existie-
renden und funktionierenden Modells der geschlechtsspezifischen Rollenvertei-
lung.
Wenn Frauen als Migrantinnen und Familienernährerinnen trotz vorhandener
statistischer Daten für das 19. und teilweise selbst für das 20. Jahrhundert – be-
wusst oder unbewusst – übersehen oder einfach nicht zur Kenntnis genommen
wurden, so gilt dies in einem noch stärkeren Ausmaß für die Jahrhunderte davor,
für die es kaum quantitative Materialien gibt. Diese Tatsache kann als ein Grund
dafür angesehen werden, dass die historischen Gesellschaften vor dem 19. Jahr-
hundert von der scientific community lange Zeit als immobil betrachtet wurden.
Obwohl die tradierten Gesellschaftsmuster von Immobilität und Sesshaftigkeit
der vorindustriellen Periode seit den 1980er Jahren in Frage gestellt werden, blieb
eine geschlechtsspezifisch kritische Sichtweise bezüglich der Aspekte von Mi-
gration und Familienernährer und deren Interaktionen weitgehend ausgespart.
Für diese Außerachtlassung von weiblicher Migration gekoppelt mit der Not-
wendigkeit der Familienerwerbsarbeit war meines Erachtens ausschlaggebend,
dass Frauen als Akteurinnen am Arbeitsmarktes über Jahrhunderte hinweg kaum
wahrgenommen wurden. Dafür wiederum waren mehrere Faktoren ausschlagge-
bend: Zunächst und vor allem der tatsächliche Ausschluss von Frauen aus weiten
Bereichen des Erwerbslebens, der in der vorindustriellen Ära vor allem von den
männlich dominierten (Handwerks-)Zünften ebenso betrieben wurde wie von
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 89

den lokalen und staatlichen Behörden. Die Mitglieder dieser gewerblichen, zünf-
tisch-handwerklichen oder kommunal-administrativen Interessengruppen waren
untereinander durch soziale Netzwerke verbunden. Der Ausschluss aus diesen
Netzwerken bedeutete für Frauen, dass sie kaum in Erwerbsbereichen, die mit be-
ruflichen Qualifikation und besseren Lohnverhältnissen verknüpft waren, ein-
dringen konnten. Das hatte wiederum zur Folge, dass Frauen auf Teil- und Schat-
tenbereiche des Arbeitsmarktes und auf Tätigkeiten in und um den Haushalt an-
gewiesen waren.
Dies galt aber keineswegs nur für die vorindustrielle, sondern auch noch für
die industrielle Epoche. Selbst bei den Erhebungen von Massendaten, wie bei den
Volkszählungen, blieb die Art und Weise der Berufserhebungen stark auf die
männliche Bevölkerung ausgerichtet. Ein Beispiel dafür etwa stellen die, von den
Statistikern im 19. Jahrhundert erstellten und, mit einigen Abänderungen und
Ausweitungen, bis heute verwendeten Kategorisierungen der Erwerbsbereiche
dar, die vor allem auf Basis von männlichen Berufs- und Tätigkeitsfeldern erstellt
wurden. Wenn man sich etwa die Statistiken des 19. und des frühen 20. Jahrhun-
derts ansieht, so stellen die quantitativ doch überaus große Gruppe der – vorwie-
gend weiblichen – Dienstboten und Hausgehilfinnen stets nur eine periphere und
keineswegs durchgängig systematisch erhobene und statistisch ausgewiesene Er-
werbsgruppe dar. Im Gegensatz zu anderen Erwerbsbereichen, die stets der glei-
chen Wirtschaftsklasse und -sektor zugeordnet wurden, galt dies keineswegs für
die Gruppe der „Hausdienerschaft“, die je nach Zähljahr unterschiedlichen Kate-
gorisierungen und Einordnungen unterlag, so dass eine zeitlich übergreifende
quantitative Auswertung unmöglich ist. Dazu kommt, dass wir vermuten müssen,
dass gerade in diesem Bereich, aufgrund der hohen Fluktuation des Dienstperso-
nals und der spezifischen Tätigkeit der „Hausarbeit“, die nicht als „wirkliche“
Berufstätigkeit gewertet wurde, die Dunkelziffer relativ hoch war. Neben dem
Bereich der persönlichen und häuslichen Dienstleistungen blieben bei den quanti-
tativen Erfassungen und späteren Kategorisierungen auch noch andere wesentli-
che weibliche Erwerbsbereiche ausgespart. Dazu zählen etwa die Mithilfe in den
Geschäften, im Handwerksbetrieb, der täglich oder wöchentlich auf den Straßen
oder Marktplätzen betriebene Klein- und Hausierhandel, sämtliche tage- oder
stundenweise in fremden Haushalten durchgeführten außerhäuslichen Dienstleis-
tungen, wie das Waschen, Bügeln, Putzen etc., oder die Prostitution. Bei fast allen
der aus den offiziellen Kategorien und Statistiken weggelassenen Erwerbsberei-
che handelt es sich überwiegend um Tätigkeiten, für die es keine offiziellen Qua-
lifikationserfordernisse und daher auch keine festgelegten Ausbildungsstrategien
und -rituale, wie dies etwa im Handwerk der Fall war, gab. Gemeinsam war vie-
len dieser von der offiziellen Statistik nicht erfassten Erwerbstätigkeiten, dass die
90 Sylvia Hahn

Vermittlung der Kenntnisse und Qualifikationen auf der mündlichen Weitergabe


von einer (weiblichen) Generation auf die andere beruhte. Das Fehlen einer ritua-
lisierten Ausbildung mit entsprechenden offiziellen Abschlüssen und Qualifika-
tionserteilung führte dazu, dass diese vorwiegend auf mündliche Qualifikations-
übermittlung beruhenden (Erwerbs-)Tätigkeiten als minder qualifiziert und daher
als niedrig entlohnbar betrachtet wurden. Dies wiederum hatte zur Folge, dass
diese Erwerbsbereiche, angesehen als marginale und periphere Bestandteile des
Arbeitsmarktes, zum einen keinen adäquaten schriftlichen und/oder statistischen
Niederschlag gefunden haben und zum anderen auch keine Verbindung zu den
Wanderungsvorgängen, der geschlechtsspezifischen Arbeitsmigration, herge-
stellt wurde. Diese verdeckten Interaktionen von Geschlecht, Migration, Arbeit
und den (female) breadwinner sollen im Folgenden anhand der Bildungs-, Hei-
rats- und Arbeitsmigrationen von Frauen nachgezeichnet werden.

2 „Ich habe 1000 Nationen gesammelt . . .“ 2

2.1 Bildungsmigration

Die Bildungsmigration galt über lange Zeit ausschließlich als männliches Phänomen.
Dazu zählten die Migrationen der (männlichen) Studenten ebenso wie die der For-
schungs- und Bildungsreisenden, die sogenannten Kavalierstouren, aber auch die
„Walz“ der Handwerksgesellen, die der Vervollkommnung der Ausbildung dienen
sollte. Beispiele von weiblichen Angehörigen besser gestellter gesellschaftlicher
Schichten zeigen jedoch, dass Bildungsmigration keineswegs nur auf das männliche
Geschlecht beschränkt war. Im Gegensatz zu den Männern blieb Bildungsmigration
für Frauen jedoch bis weit ins 19. und beginnende 20. Jahrhundert hinein ein schicht-
spezifisches Phänomen und fast ausschließlich auf die bildungsbürgerlich, gehobe-
nen intellektuellen Kreise und auf Teile des adeligen Milieus beschränkt. Trotz allem
müssen wir uns fragen, wie und wo all die uns mittlerweile durch die Gender-, Frau-
en- und feministische Forschung bekannt gemachten Frauen, wie Christine de Pizan,
Maria Sibylla Merian, Glückel von Hameln, Therese Huber, Karoline Pichler oder
die Töchter von Ignaz von Born, um nur einige Beispiele zu nennen, ihre breite Bil-
dung und Intellektualität erworben hatten. Aus (Auto-)Biographien von Frauen aus
dem ausgehenden 18. und frühen 19. Jahrhundert wissen wir, dass eine mehrjährige
Ausbildung in internatsmäßig geführten Bildungsanstalten durchaus üblich war.
Therese Heyne (1764–1829) beispielsweise, geboren 1764 und später verehelicht mit

2 Brief von Therese Huber an Karl August Böttiger, Günzburg, 10. Januar 1816; zit. in: Hahn 1998:
111.
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 91

Georg Forster und Leopold Huber, stammte aus einem bürgerlichen Professoren-
haushalt in Göttingen und verbrachte als Dreizehnjährige knapp zwölf Monate in ei-
nem französischen Pensionat im nahe gelegenen Hannover (siehe im Detail Hahn
1998). Nach dieser kurzfristigen Bildungsmigration unternahm Therese Heyne zwi-
schen April und September 1783 eine ausgedehnte Bildungsreise in die Schweiz. Auf
dieser Reise, die sie gemeinsam mit Verwandten, dem Ehepaar Blumenbach3, unter-
nahm, kam sie auch nach Weimar, wo sie mit Goethe, Herder und Wieland zusam-
mentraf.
Oder: Malwida von Meysenbug (1816–1903), geboren in Kassel, Tochter des
Kabinettsrats und späteren Ministers für auswärtige Angelegenheit im Dienste
des hessischen Kurfürsten Wilhelm II., verließ 1850 ihre Familie in Detmold und
ging für zwei Jahre an die Hochschule für das weibliche Geschlecht nach Ham-
burg. An dieser Frauenhochschule konnten Frauen über die normale Schulbil-
dung hinaus Kenntnisse in den Fächern Geschichte, Philosophie oder Mathema-
tik erwerben. 1852 wurde die Schule jedoch aus finanziellen und politischen
Gründen geschlossen. In diesen Jahren in Hamburg war Malwida von Meysen-
bug sowohl mit den Ideen wie auch mit AktivistInnen der politischen Freiheitsbe-
wegung und der Frauenemanzipation in Kontakt gekommen und dadurch stark
politisiert worden. Dies führte dazu, dass sie in den Jahren der politischen Reak-
tion zu Beginn der 1850er Jahre aufgrund einer drohenden Verhaftung nach Lon-
don ins Exil flüchtete, wo sie zunächst als Deutschlehrerin für die Kinder engli-
scher Mittel- und Oberschichtfamilien und später als Erzieherin der Kinder des
russischen Exilanten Alexander Herzen tätig war. (Klabunde 1998: 233)
Die Liste der Beispiele von Frauen, die, wie Therese Huber es ausdrückte,
„1000 Nationen gesammelt“ und „Menschen und (die) Welt“ kennen gelernt hat-
ten, ließe sich fortsetzen. Waren es nicht vielleicht gerade die umfangreichen Mi-
grationserfahrungen, die wesentlich zu den weltoffenen und meist gesellschafts-
kritischen Haltungen der Frauen beigetragen hatten? Die Aufarbeitung von weib-
lichen Migrationsbiographien oder, beispielsweise, eine breite Analyse von frü-
hen Bildungsinstitutionen, die für Frauen offen waren, könnte darüber detaillier-
ter Auskunft geben.

2.2 Heiratsmigration

Seit Jahrhunderten gehört(e) die Heiratsmigration für einen Großteil der Bevöl-
kerung zur lebenszyklischen Erfahrung. Sowohl individuelle Beispiele wie auch
vereinzelt durchgeführte quantitative Erhebungen zeigen, dass Heiratsmigration

3 Blumenbach war ein Onkel von Therese Heyne.


92 Sylvia Hahn

in Europa durchwegs üblich war. Heiratsmigration lässt sich, unabhängig von der
sozialen oder religiösen Zugehörigkeit der Eheleute, angefangen von Angehöri-
gen des (Hoch-)Adels, des Militärs, des Handels- oder Bildungsbürgertums bis
hin zu den Unterschichten ausmachen. Es waren zumeist die Frauen, die unab-
hängig von ihrer sozialen Herkunft nach der Heirat ihre Familien verließen und
an den Herkunftsort des Mannes zogen. Teilweise waren sie, wie etwa im mittel-
europäischen Raum, auch rechtlich verpflichtet, den Ehemännern, wo immer die-
se aus beruflichen oder sonstigen Gründen hingingen, zu folgen.
Nicht selten spielten die von Heiratsmigration betroffenen Frauen eine wich-
tige Rolle im Bereich des kulturellen Transfers. Die Beispiele dabei reichen vom
Mittelalter bis zur Gegenwart: So brachten etwa adelige Ehefrauen sowohl das
Hofgesinde wie auch Künstler und Handwerker aus ihren Herkunftsgebieten mit
und förderten dadurch den kulturellen Austausch zwischen den unterschiedlichen
europäischen Regionen und Gesellschaften. Eleonora von Toledo (1522–1562)
etwa, verheiratet mit Cosimo I. de’ Medici, brachte aus Spanien Künstler und
zahlreiche Juden nach Florenz. Die aus Italien stammende Beatrice von Aragon
wiederum, verheiratet mit Matthias Corvinus, König von Ungarn, holte italieni-
sche Bildhauer und Künstler, darunter Veroccio und Filippino Lipp, sowie Hand-
werker für die Herstellung von Juwelen, Kleidung etc. an den Hof nach Ungarn.
Die im toskanischen Stil erbauten Paläste in Buda und Visegrád geben davon
Zeugnis (Burke 1998: 83–85). Auch Frauen von Soldaten, Gelehrten oder protes-
tantischen Priestern waren gemeinsam mit ihren Männern quer durch Europa
unterwegs. So erwies sich etwa für evangelische Pfarrfrauen „das 17. Jahrhundert
nicht zuletzt aufgrund der kriegerischen Zeiten als ein mobiles Jahrhundert“
(Schorn-Schütte 1991: 131). Hier ließ sich ein gewisser Zusammenhang zwi-
schen der regionalen Herkunft der Pfarrfrauen und der beruflichen Stellung des
Ehemannes ausmachen: Ehefrauen von Geistlichen in niederen Rängen stammten
eher aus dem gleichen Herkunftsterritorium wie die Ehemänner, hingegen kamen
Frauen von Geistlichen in höheren Funktionen, wie Superintendenten, viel häufi-
ger von außerhalb des Herkunftsterritoriums des Ehemannes. Im 17. Jahrhundert
kamen rund 45 Prozent der Ehefrauen der höheren Geistlichkeit nicht aus dem
Territorium selbst; im 18. Jahrhundert waren beispielsweise im Fürstentum
Braunschweig-Wolfenbüttel knapp 27 Prozent der Frauen von (General-)Super-
intendenten von außerhalb des Territoriums (ebd.: 132).
In der Habsburgermonarchie begleiteten die Frauen von verheirateten Militärs
ihre Ehemänner auf den zahlreichen militärischen Karrierestationen. Nicht selten
hatte dies zur Folge, dass die Frauen und Kinder mehrere Sprachen beherrschten.
Diese Familien beschäftigten auch oft Dienstboten aus den unterschiedlichsten
Sprach- und Kulturräumen. Die Geburtsorte der Kinder spiegeln – zumindest an-
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 93

satzweise – die umfangreichen Migrationsstrecken wider. So weisen beispiels-


weise die zehn Kinder der Familie des Feldwebels Varesi, der gemeinsam mit sei-
ner Frau, Adelheid Varesi, 1837 in Josefstadt in Böhmen geboren, und den zehn
Kindern im Jahr 1880 in der Militärakademie in Wiener Neustadt wohnte, sechs
unterschiedliche Geburtsorte auf.

Migrationsstationen der Feldwebels-Familie Varesi


Josef geb. 1854 Lodi in der Lombardei
Adelheid geb. 1856 Wien
Rudolf geb. 1856 Teschen in Schlesien
Eleonore geb. 1861 Brünn in Mähren
Julius geb. 1863 Szomba in Ungarn
Otto geb. 1865 Szomba in Ungarn
Anton geb. 1867 Szomba in Ungarn
Elisabeth geb. 1870 Wiener Neustadt in Niederösterreich
Johanna geb. 1874 Wiener Neustadt in Niederösterreich
Maria geb. 1875 Wiener Neustadt in Niederösterreich

Auch Frauen von politischen Aktivisten oder Revolutionären aus Mittel-, Süd- und
Osteuropa gingen meist gemeinsam mit ihren Männern ins Exil in die Schweiz, nach
Frankreich, Belgien, England oder in die USA oder folgten diesen nach kurzer Zeit
nach. Aus überlieferten Autobiographien dieser Frauen lassen sich umfangreiche re-
gionale Mobilitäten innerhalb Europas, über den Atlantik und/oder wieder retour
nach Europa nachzeichnen. Der Großteil der Ehefrauen der politischen Aktivisten
musste meist für die Familien durch eigene Erwerbstätigkeiten selbst sorgen, da die
Männer aufgrund ihrer politischen Engagements und schriftstellerischen Tätigkeiten
meist nur ein geringes Einkommen erzielten. Ein Beispiel dafür war der Lebensweg
von Therese Heyne, verehelichte Forster und Huber. Im Gegensatz zur Idealvorstel-
lung der bürgerlichen „Meisterdenker“ dieser Zeit entsprach das Leben der Aufkläre-
rin Therese Heyne jedoch keineswegs dem eines behüteten bürgerlichen Hausfrauen-
daseins, sondern es war von zahlreichen Migrationen und unterschiedlichen (Er-
werbs-)Tätigkeiten geprägt. Nach der Heirat mit Georg Forster übersiedelte das Ehe-
paar nach Wilna in Polen, wo Forster (siehe Forster 1967) eine Stelle an der Universi-
tät bekommen hatte. Drei Jahre später kam es zu einem neuerlichen Ortswechsel: Zu-
nächst ging es zurück nach Göttingen, dann folgte kurz darauf Mainz, wo Forster eine
Stelle als Bibliothekar annahm. Aber auch der Aufenthalt in Mainz war nicht von lan-
ger Dauer: Aufgrund des politischen Engagements von Georg Forster für die franzö-
sische Revolution musste er 1790, nach der Niederschlagung der revolutionären Be-
wegung in Mainz, nach Paris flüchten. Die politische Emigration von Forster war der
94 Sylvia Hahn

Beginn der endgültigen Trennung der weiteren Lebens- und Migrationswege des
Ehepaares. Während Forster sich in Paris im politischen Exil befand, dort schwer er-
krankte und im Dezember 1793 verstarb, wurde die Ehefrau des Revolutionärs eben-
falls gezwungen, die Stadt Mainz gemeinsam mit ihren Kindern zu verlassen. Zu-
nächst ging Therese Forster 1792 nach Straßburg und 1793 dann nach Neuchâtel.
Nach dem Tod ihres Ehemannes heiratete sie Ludwig Ferdinand Huber. 1794 wurde
die Familie abermals aus politischen Gründen gezwungen, Neuchâtel, das zum preu-
ßischen Besitz gehörte, zu verlassen. Dieser Ausweisung sollten allein in den Jahren
zwischen 1794 bis 1807 insgesamt sechs weitere Umzüge folgen: Für vier Jahre in
das schweizerische Dorf Bôle, danach folgten Aufenthalte in Tübingen und Stuttgart,
1804 Ulm, wo Ludwig Ferdinand Huber unerwartet verstarb, und 1805 Stoffenried
sowie 1807 Günzburg. 1816 zog die Witwe dann nach Stuttgart und 1823 nach Augs-
burg, worüber sie in einem Brief an eine Freundin 1829 festhielt, dass ihr „hier alles
zuwider“ war, da „der große Haufen Bier säuft, ein kleinerer Teil sich dick futtert“,
„die Wohnungen teuer“ seien und „keiner der Geldsäcke und beau monde“ wisse,
„daß ich existiere“ (Huber 1989: 217). Augsburg sollte die letzte Station für Therese
Huber sein: hier verstarb sie 1829.
Während all dieser zahlreichen Übersiedlungen gebar Therese Huber insge-
samt zehn Kinder an den unterschiedlichsten Aufenthaltsorten, von denen vier
überlebten. Neben den ständigen Auflösungen und Neugründungen der Haushal-
te, den Umzugsstrapazen, den Schwangerschaften und Geburten war sie stets am
Erwerb des Haushaltsbudgets beteiligt. Obwohl im Schatten ihrer Männer ste-
hend, trug sie während ihrer beiden Ehen, zunächst durch kleinere, später durch
größere und eigenständige schriftstellerische Aktivitäten, aktiv zum Familienein-
kommen bei. Während des Aufenthaltes in Wilna half Therese Forster ihrem Ehe-
mann, der große Schulden angehäuft hatte, bei Übersetzungen, worüber Forster
in einem Brief an einen Freund festhielt: „Um das Schif nicht auf den Grund sit-
zen zu laßen, hat mir meine gute Therese versprochen, einen Versuch im überset-
zen [sic] zu wagen. Sie soll da anfangen, wo ich aufhöre, und ich werde das Ma-
nuskript durchcorrigiren; so hoffe ich, kommen wir zu Rande mit der Arbeit, ehe
der letzte Termin verfloßen ist“.4 Auch die knappen finanziellen Ressourcen in
der zweiten Ehe mit L. F. Huber konnten durch umfangreiche schriftstellerische
Arbeiten von ihr aufgebessert werden. Laut ihren Angaben „erarbeitete“ sie in
diesen Jahren bereits „die Hälfte des Familieneinkommens“. (Hahn 1998: 113) In
der Öffentlichkeit wurden die Arbeiten von Therese jedoch kaum wahrgenom-
men, da der Großteil ihrer publizistischen Werke weiterhin unter dem Namen ih-
res Mannes oder unter einem Pseudonym erschien. Auch nach dem Tod ihres

4 Georg Forster an Johann Karl Philipp Spener, Wilna, 21. Januar 1787; zit. n. Hahn 1998: 111.
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 95

Mannes publizierte Therese, die nun allein für die Familie sorgen musste, zu-
nächst noch für einige Zeit unter dem Denkmantel „Aus dem Nachlaß von L. F.
Huber“ (ebd.: 113). 1811 veröffentlichte sie dann die Schilderung über ihre Hol-
landreise erstmals unter ihren eigenem Namen, gezeichnet mit „Therese H.“
(ebd.). Erst 1819 bekannte sich Therese in einer ihrer Erzählsammlungen „offen
zur ihrer Tätigkeit“ – und das, obwohl sie zu diesem Zeitpunkt in der Öffentlich-
keit bereits zu einer „bekannten ,femme de lettres‘ geworden“ war, „die sich ihren
Lebensunterhalt und den der unmündigen Kinder Luise und Aimé selbst ver-
diente“ (ebd.).
Ähnlich gestalteten sich die Migrationen und Erwerbssituationen für die Ehe-
frauen von politischen Aktivisten der 1848er Revolution, wobei hier die Emigra-
tion vielfach vom europäischen Kontinent weg nach Großbritannien oder die
USA führte. Ein Beispiel dafür ist Mathilde Franziska Anneke (1817–1884), die
auf ihren weitgedehnten Migrationsstrecken sowohl schriftstellerisch wie auch
als politische Rednerin aktiv war, zwei Schulen gründete und insgesamt sieben
Kinder gebar, wovon vier in Newark an Pocken verstarben.

Migrationsstationen von Mathilde Franziska Anneke (1817–1884)


1817 geboren in Sprockhöven
1820 Übersiedelung mit Familie nach Blankenstein
1834 nach Hattingen
1836 1. Ehe mit Alfred von Tabouillot
1839 Übersiedelung nach Münster
1843 Scheidung
1847 2. Ehe mit Fritz Anneke
1849 Teilnahme auf den Schlachtfeldern der Revolution
1849 Flucht nach Straßburg
1849 Flucht in die Schweiz
1849 Auswanderung über Le Havre nach USA
1849 Ankunft in New York
1849 Übersiedelung nach Cedarburg, Wisconsin
1850 Übersiedelung nach Milwaukee
1852 Übersiedelung nach Newark
1856 Gründung der Green Street School in Newark
1858 Übersiedelung nach Milwaukee
1860 Rückkehr nach Europa/Schweiz
1865 Rückkehr über Le Havre nach New York und Milwaukee
1865 Gründung des Milwaukee Töchterinstituts
1884 Tod in Milwaukee
96 Sylvia Hahn

2.3 Arbeitsmigration – Karrieremigration?

Altersbedingte Migrations- und soziale Aufstiegsmuster sind, wie bereits erwähnt,


über lange Zeit hauptsächlich für die männlichen Erwerbstätigen, wie Handwerksge-
sellen, Facharbeiter, Intellektuelle, Künstler etc., untersucht und als typisch für den
männlichen Lebenszyklus angesehen worden. In Frage steht daher, ob es sich dabei
tatsächlich um ein ausschließlich männliches Phänomen handelte oder ob dies nicht
auch auf Frauen zutraf – bzw. anders formuliert: Lässt sich zum Beispiel bei Dienst-
botinnen ebenfalls ein „System abgestufter Arbeitsrollen“ (Mitterauer 1986: 136)
ausmachen, das beeinflusst war von Alter und Herkunft der Betroffenen?
Ein Beispiel dafür war Regina Lampert. Geboren 1854 als Tochter eines
Kleinhäuslers in einem Dorf in Vorarlberg, war Regina Lampert eine der vielen
Kinder, die bereits mit neun Jahren den Sommer über als „Schwabengängerin“ in
das benachbarte süddeutsche Gebiet „in Dienst“ gehen musste (Lampert 1996;
Hahn 1999). Insgesamt musste Regina zwei Mal als Dienstmagd in den süddeut-
schen Raum ziehen, wo sie beim ersten Mal zum Gänse- und Viehhüten oder in
der Küche, beim zweiten Mal dann schon für schwerere Arbeiten in der Landwirt-
schaft herangezogen wurde. Diesen Arbeitsmigrationen folgten einige Dienst-
jahre bei Bauern in der unmittelbaren Umgebung ihres Wohnortes, schließlich
eine Zeit im Dienst in der nächstliegenden Kleinstadt, dann in der Schweiz, wo sie
heiratete und in Zürich schlussendlich eine eigene kleine Pension eröffnete. Re-
gina Lampert Lebensweg als Dienstbotin führte über viele Stationen: ausgehend
von der Arbeit als Gänse- und Dienstmagd in der Landwirtschaft über das Mäd-
chen für alles in bäuerlichen und kleinbürgerlichen Haushalten bis hin zu Stuben-
mädchen und Köchin in städtischen Bürgerhaushalten. Diese sich im Laufe des
Erwerbslebens verändernden Tätigkeiten waren in gewisser Weise auch stets ein
Schritt nach oben in der Dienstbotenhierarchie. Und: jeder Karriereschritt erfolgte
während eines bestimmten Lebensabschnittes, der wiederum begleitet war von ei-
ner je spezifischen Arbeitsmigration (dörflich-ländlich-bäuerlich, kleinstädtisch-
bürgerlich, usw.). Dieses Beispiel zeigt, dass es auch für Dienstbotinnen ein – in
Zusammenhang mit dem Alter und der jeweiligen Arbeitsmigration stehendes –
System abgestufter Arbeits- und Erwerbsrollen gab.
Ähnlich war die Situation bei Dienstbotinnen in Wiener Neustadt in den Jah-
ren 1869 und 1880. Auch hier lässt sich eine nach Alter abgestufte Hierarchie
ausmachen: Die Tätigkeiten des Großteils der Dienstbotinnen, also derjenigen
zwischen dem 20. und 30. Lebensjahr, umfassten die allgemeinen Haushaltstätig-
keiten als Küchen- oder Hausmagd, Stuben- oder Dienstmädchen oder ganz all-
gemein als „Mädchen für alles“, wie eine zeitgenössische Formulierung lautete.
Die Tätigkeitsbereiche der „gehobenen Dienste“, der Köchinnen, Ammen oder
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 97

Gouvernanten, übten Frauen durchschnittlich erst ab dem dreißigsten Lebensjahr


aus. Zu ähnlichen Ergebnissen ist auch Toni Pierenkemper in seiner Studie über
den Dienstmädchenarbeitsmarkt in Berlin im Jahr 1900 gekommen: So waren al-
tersmäßig drei Viertel von den Frauen, die als „Mädchen für alles“ beschäftigt
waren, unter 30 Jahre alt, von jenen, die als „Hausmädchen“ arbeiteten vier Fünf-
tel. Bei den Köchinnen hingegen war ein knappes Drittel zwischen 30 und 40 Jah-
re alt und zwölf Prozent 40 Jahre und älter; insgesamt waren demnach von den
Köchinnen 43 Prozent 30 Jahre und älter (Pierenkemper 1988: 185).
Wie aus Tabelle 1 hervorgeht, gab es jedoch Unterschiede bezüglich der re-
gionalen Herkunft und der Berufsposition der Dienstbotinnen. Im Gegensatz zu
den „allgemeinen“ Dienstboten bzw. den „Mädchen für alles“ stammte von den in
gehobenen Diensten tätigen Frauen in Wiener Neustadt ein deutlich geringerer
Anteil aus der Stadt selbst; fast ein Fünftel waren Fernwanderinnen. Einige dieser
Langstreckenmigrantinnen, wie aus den Zensuslisten zu erfahren ist, waren mit
ihren Arbeitgebern übersiedelt. Karoline Schirger aus Kaschau in Böhmen etwa,
im Dienst bei einer Familie eines Militäroffiziers, war gemeinsam mit der Arbeit-
geberfamilie in den 1870er Jahren nach Wiener Neustadt übersiedelt. Auch bei
den von Mattersdorf oder Eisenstadt in Ungarn nach Wiener Neustadt zugewan-
derten jüdischen Familien lassen sich zahlreiche Dienstbotinnen ausmachen, die
denselben Geburtsort aufwiesen wie ihre Arbeitgeber(innen).

Tabelle 1: Weibliche Erwerbstätige der persönlichen und häuslichen Dienste


nach Beschäftigung und Alter, Wiener Neustadt 1869 and 1880

1869 1880 durchschn.


Erwerbstätigkeit
% (N) % (N) Alter 1880
Küchenmädchen 2,8 39 2,1 35 24
Stubenmädchen 5,9 83 5,9 98 24
Dienstbote 52,1 730 54,8 903 27
Hausmagd 1,4 19 1,7 28 29
Amme 4,1 58 2,9 47 30
Köchin 18,1 253 14,3 236 30
Gouvernante 1,0 15 1,0 17 31
Prostituierte 0,1 1 0,4 6 31
Näherin/Strickerin 2,4 34 0,8 13 34
Wäscherin/Büglerin 5,4 75 8,6 141 45
Quartiergeberin 0,6 9 0,6 10 52
Sonst.Haus/Taglohn 6,1 86 6,9 114 k. Ang.
Gesamt 100,0 1401 100,0 1.648
Quelle: Hahn/Sprengnagel 1986.
98 Sylvia Hahn

Ein weiteres Beispiel für eine der erwerbsmäßigen (Dienstbotinnen-)Hierarchien


im Zusammenhang mit der Herkunft war der Haushalt des in Wiener Neustadt
1880 wohnhaften Lederfabrikanten Paul Grüner, der verheiratet und Vater von
fünf Kindern war. In diesem Haushalt waren insgesamt vier weibliche Gesinde-
personen unterschiedlichster regionaler Herkunft beschäftigt. Die Fernwanderin
und älteste war die Gouvernante Therese Larisch, 32 Jahre alt und aus Troppau in
Schlesien stammend. Elisabeth Haller, 23 Jahre alt und in Ödenburg, Ungarn, ge-
boren, war die Köchin. Auch Elisabeth Bohar, 20 Jahre alte und als Stubenmäd-
chen bedienstet, kam aus einem kleinen ungarischen Dorf. Die als Kindermäd-
chen arbeitende 23-jährige Johanna Manninger wies als Geburtsort einen Ort in
Niederösterreich auf. Mit Ausnahme der Gouvernante Therese können alle als
Kurzstreckenmigrantinnen bezeichnet werden, obwohl zwei der Dienstbotinnen
aus Ungarn, also offiziell aus dem „Ausland“ stammten und die Staatsgrenze
überschritten hatten, da auch die Ungarinnen aus dem unmittelbaren Nahbereich
der Stadt stammten. Auch an diesem Beispiel sehen wir, dass Staatsgrenzen keine
Rolle für einen regionalspezifischen Arbeitsmarkt spielten.
Eine weitere (zahlenmäßig zwar kleine, aber „prominente“) Gruppe unter den
Langstreckenmigrantinnen waren die vorwiegend aus dem englischen oder

Herkunft und Geschlecht von ausländischen Staatsbürger/inne/n, Habsburgermonarchie 1890

Ungarn

Schweiz

Deutschland

Italien

Frankreich

Großbritannien

Balkan

Russland

Sonstiges Europa

USA

Sonstige Staaten

0% 10% 20% 30% 40% 50% 60% 70% 80% 90% 100%

Frauen Männer
Migration, Geschlecht und Familieneinkommen (18.–20. Jahrhundert) 99

(schweiz-)französischen Sprachraum kommenden Gouvernanten (Hardach-


Pinke 1993: 206–240). Hinsichtlich dieser weiblichen Zuwanderinnen aus den
westeuropäischen Ländern zeigen die Statistiken der Habsburgermonarchie, dass
der Frauenanteil bei den MigrantInnen aus der Schweiz, Frankreich und Großbri-
tannien höher war als derjenige der Männer. Dieses wie auch andere Beispiele
(Hahn 2008) zeigen, dass die lang vertretene These der vorwiegend männlich do-
minierten Fernwanderung einer Revision unterzogen werden muss.
Zusammenfassend kann festhalten werden, dass die vielfältigen Migrationen
und Migrationserfahrungen, zu denen Einzel- und Familienwanderungen über
kürzere und längere Strecken ebenso zählten wie politische Emigration, Bil-
dungs-, Heirats-, Arbeits- und Altersmigration, gegen die traditionellen Beschrei-
bungen der immobilen und nur mitziehenden (Ehe-)Frauen sprechen. Darüber
hinaus zeigen die Beispiele, dass das männliche Einkommen bis weit in die bür-
gerliche Mittelschicht hinein vielfach für den Familienerhalt keineswegs aus-
reichte und die Frauen durch „verdeckte“ und/oder „offene“ Erwerbstätigkeiten
einen wesentlichen Beitrag zum Familieneinkommen beitragen mussten. Selbst
im Alter und/oder als Witwen waren Frauen meist Alleinverdienerinnen, die es
mit unterschiedlichen Tätigkeiten schafften, sich und die Familie zu ernähren.
Diese Aktivitäten entsprachen in keiner Weise dem von den meisten (männli-
chen) Zeitgenossen propagierten Geschlechtermodell und stellen das (bis heute)
postulierte männliche (Allein)Verdienermodell wie auch die Immobilität der
Frauen in vorindustrieller Zeit vehement in Frage.

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Deep Travels, Mixed Voices
Die Erosion narrativer Konventionen in Fiktionen über
(weibliche) Migration

Gesa Mackenthun

Die Beschäftigung mit zeitgenössischen Diskursen und Repräsentationen von


weiblicher Migration lässt manchmal vergessen, dass Migration und die Figur der
Migrantin auch bereits feste Bestandteile der Literatur aus der Zeit vor 1900 sind.
Dieser Aufsatz versucht wenigstens partiell, eine historische Grundlage für das
Thema weiblicher Migration zu legen. Aus amerikanistischer Sicht hat die The-
matik natürlich eine lange Geschichte; die Gesellschaften sowohl der USA als
auch Kanadas sind seit dem 19. Jahrhundert von Masseneinwanderung geprägt.
Ein zweites Ziel dieses Aufsatzes ist, einen Einblick in einen spezifisch literari-
schen Umgang mit dem Thema weiblicher Migration zu geben, wobei die behan-
delte Literatur auf einer subjektiven Auswahl beruht.
Mein Aufsatz ist in drei Teile gegliedert: Nach einer kurzen Einführung in die
Problematik des subalternen weiblichen Sprechens möchte ich in den beiden Haupt-
teilen auf die literarische Repräsentation weiblicher Migrantinnen eingehen, zu-
nächst in Texten zwischen Ende des 18. und Mitte des 19. Jahrhunderts und dann vor-
wiegend in Margaret Atwoods historischem Roman Alias Grace (1996). Mich inter-
essiert dabei insbesondere die Frage nach dem narrativen Umgang mit dem Problem
der Repräsentation subalterner Stimmen. Eine Frage wird sein, welche Funktion lite-
rarische Texte in der allgemeinen Rede über weibliche Migration einnehmen können,
welche spezifisch literarischen Verfahren dabei zum Einsatz kommen können, wel-
ches Potential Literatur besitzt, um anders und vielleicht pointierter und radikaler
über Subalternität und die sozialpsychologischen Folgen von Migration zu reden als
dies andere wissenschaftliche oder journalistische Diskurse können.

Can the Subaltern Speak?

In ihrem Aufsatz „Can The Subaltern Speak?“ (1988) setzt sich Gayatri Spivak
kritisch mit den Implikationen poststrukturalistischer Theorien (Deleuze, Der-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_6,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Deep Travels, Mixed Voices 103

rida, Foucault) für die damals entstehenden postkolonialen Studien auseinander.


Insbesondere in den Arbeiten von Michel Foucault entdeckt sie trotz ihrer
grundlegenden Bedeutung für die Postcolonial Studies ein geradezu symptoma-
tisches Schweigen über den imperialen Kontext der von Foucault beschriebenen
klassischen Episteme. Ihr Aufsatz zeigt die starke Verankerung der Postcolonial
Studies in der French Theory (gleiches kann auch für Said oder Bhabha gesagt
werden), jedoch auch die Grenzen der stark auf Europa konzentrierten empiri-
schen Grundlagen poststrukturalistischen Denkens. Obwohl viele poststruktura-
listische Konzepte durchaus auf die koloniale und postkoloniale Situation über-
tragbar sind, so zeigt Spivak, werden die imperialen Verflechtungen Europas
doch niemals von den Hauptvertretern des Poststrukturalismus direkt in den
Blick genommen. Es ist also Aufgabe postkolonialer Kritiker, z. B. der Vertreter
der Subaltern Studies Group (siehe z. B. Guha 1988), diese höchst brauchbaren
Theorien auf koloniale und postkoloniale Situationen zu übertragen und z. B.
den Konflikt zwischen autorisiertem westlichen Wissen und dem, was Foucault
„subjugated knowledges“ (unterdrücktes, unterjochtes Wissen) nennt (Spivak
1988: 281; vgl. Foucault 1980: 82 f.), aus der Perspektive der kolonialen „Rän-
der“ zu analysieren. Diese,, so argumentieren Spivak und andere postkoloniale
Kritiker, sind ja in Wirklichkeit das „silenced center“ (Spivak 1988: 283), das
zum Schweigen gebrachte Zentrum der klassischen Episteme. Sie bezeichnet
den diskursiv verursachten Ausschluss der Belange kolonisierter Subjekte – also
die Weigerung, sie überhaupt als Subjekte anzuerkennen – als einen Akt der
epistemischen Gewalt („epistemic violence“, Spivak 1988: 280 f.). Während das
kolonisierte Subjekt generell im westlichen Diskurs lediglich ein Randdasein
führt (als Stereotyp, als Witzfigur, als dämonisierter oder idealisierter Wilder),
trifft diese diskursiv erzeugte Exklusion auf kolonisierte Frauen besonders zu:
„the subaltern as female is even more deeply in shadow“ (Spivak 1988: 287).
Zusätzlich zur Überlagerung des männlichen kolonisierten Subjekts durch exoti-
sierende westliche Diskurse ist das weibliche Subjekt dem entstellenden patriar-
chalen Diskurs über weibliche Sexualität ausgesetzt, der auch z. B. in der Psy-
choanalyse Sigmund Freuds vorherrscht. Obwohl es ursprünglich Freuds Ziel
gewesen sei, der hysterischen Frau eine Stimme zu geben und ihr damit Subjek-
tivität zu verleihen, verharrt die Frau bei Freud letztendlich in ihrer Rolle als
Metapher für erotische Triebkraft schlechthin (Freud 1975: 296), deren Bedroh-
lichkeit Freud mit derjenigen eines „dark continent“ verglich (Freud 1975:
303). Die Stimme der hysterischen Frau verschwindet unter einer dicken Schicht
einer jahrtausendealten patriarchalen Mythologisierung. Ähnliches, so Spivak,
geschieht bei Foucault, dessen Evokation subalterner Stimmen mit einer verstö-
renden Ästhetisierung dieser aus dem Diskurs ausgeschlossenen Stimmen ge-
104 Gesa Mackenthun

koppelt ist.1 Die Absicht, der subalternen Frau eine Stimme zu geben, ist für
Spivak angesichts der poststrukturalistischen Dekonstruktion westlicher Kon-
struktionen von Subjektivität also besonders schwierig. Ihr Fazit lautet daher:
„The subaltern as female cannot be heard or read. . . . The subaltern cannot spe-
ak.“ (Spivak 1988: 308). Die Rede der kolonisierten Frau, so Spivaks ernüch-
ternder Schluss, ist innerhalb der vorherrschenden diskursiven Formation un-
hörbar; ihre Artikulation hat keine Basis – weder im westlichen patriarchali-
schen Diskurs noch in dessen Dekonstruktion.
Die Dekonstruktion herkömmlicher Konzepte von Subjektivität ging einher
mit der Dekonstruktion weiterer westlicher Vorstellungen, wie derjenigen von
Homogenität und Autorität. In der Literatur findet sie Ausdruck in den Texten der
klassischen Moderne und Postmoderne und deren Experimentieren mit narrativer
Autorität – primär vermittelt durch die Erzählperspektive. Interessanterweise
fand dieser revisionistische intellektuelle Prozess zeitgleich mit dem Aufkommen
minoritärer und postkolonialer Literaturen statt. Deren Anliegen verhält sich auf
den ersten Blick konträr zum Projekt von Poststrukturalismus und Postmoderne,
denn während diese darum bestrebt sind, diskursive Autoritäten – allen voran das
alles beherrschende Autor-Subjekt – als Konstrukt diskursiver Macht oder kultu-
reller Konstellationen zu entlarven, geht es in der Minderheiten- und postkolonia-
len Literatur gerade darum, die Kolonisierten und Diskriminierten mit einer Sub-
jektivität auszustatten, die ihnen vorher versagt wurde. Dies klingt zunächst wie
ein Widerspruch. Die beiden Projekte können allerdings auch als komplementär
zueinander gesehen werden, denn die Konzepte von Subjektivität und Identität,
die von postkolonialen Intellektuellen eingeklagt werden, unterscheiden sich si-
gnifikant von den homogenisierenden Subjektivitätsentwürfen der westlichen
Tradition, gegen die sich die Kritik der Poststrukturalisten wendet. Stuart Hall be-
tont die historische Dimension und die Veränderbarkeit von (in diesem Fall) post-
kolonialer Identität:

Cultural identities come from somewhere, have histories. But, like everything which is historical,
they undergo constant transformation. Far from being eternally fixed in some essentialised past,
they are subject to the continuous ‘play’ of history, culture, and power. Far from being grounded
in mere ‘recovery’ of the past, which is waiting to be found, and which when found, will secure
our sense of ourselves into eternity, identities are the names we give to the different ways we are
positioned by, and position ourselves within, the narratives of the past. (Hall 1994: 394)

Drei Aspekte dieses Zitats lassen sich für mein Thema verwerten: erstens Halls
Vorstellung von Identität als ein Konglomerat sozialer Positionierungen, die his-

1 . . . wie übrigens auch Carlo Ginsburg in seiner kritischen Auseinandersetzung mit Foucaults frü-
hen Schriften zeigt (Ginsburg 1979: 12–13).
Deep Travels, Mixed Voices 105

torisch und kulturell spezifisch sind und einer permanenten Revision unterliegen,
also nicht-essentiell, sondern immer provisorisch sind; zweitens seine Betonung
der historischen Verankerung von Identität und drittens seine Betonung der narra-
tiven Konstruktion von Geschichte und Identität. Diese Aspekte sind relevant für
ein Verständnis vieler postkolonialer Texte – auch von Margaret Atwoods Roman
Alias Grace, den ich weiter unten näher betrachten möchte.
Während Spivak, Hall und andere darum bemüht sind, die „Stimme“ postko-
lonialer Subjekte theoretisch zu fundieren, kümmern sich postkoloniale Schrift-
stellerInnen um die ästhetische Umsetzung dieser Positionen. Wer Subjektivität
als fragmentarisch, widersprüchlich und provisorisch begreift, muss sich auch
von liebgewonnenen Plotstrukturen verabschieden (z. B. monoperspektivischen
Entwicklungsgeschichten à la Robinson Crusoe). Denn gerade diese bekannten
Plots der Bildungs- und Entwicklungsromane sind es ja, die die koloniale Kon-
struktion einer als homogen verstandenen Subjektivität ästhetisch umsetzen. Die-
se Plotmuster existieren natürlich weiterhin, auch in postkolonialer Literatur,
z. B. der großen Gruppe sogenannter Immigrations- oder „Ankommensliteratur“,
die den Weg der Akkulturation von MigrantInnen im Stil herkömmlicher Ent-
wicklungs- oder Adoleszenzromane oder Familienchroniken beschreiben (z. B.
Jamaica Kincaid, Lucy [1990], oder die meisten hispano-amerikanischen oder
asiatisch-amerikanischen Romane, oder frühere Immigrationsromane wie Anzia
Yezierskas Hungry Hearts [1920]). Mich interessieren aber die ästhetisch kom-
plexeren postkolonialen Romane, die, von der Literatur der Moderne inspiriert,
multiperspektivische und ambivalente Erzählsituationen entwickeln, die die Le-
ser vor teilweise erhebliche Herausforderungen stellen. Toni Morrisons Roman
Beloved (1987) ist ein gutes Beispiel hierfür. Er entfaltet seine ästhetische Wir-
kung gerade dadurch, dass er die LeserInnen durch die permanente Irritation kon-
ventioneller Leseerwartungen zur Reflexion über die Konstruiertheit kolonialer
Wirklichkeit und über die Tilgung der Erfahrungen der Kolonisierten im domi-
nanten amerikanischen Diskurs bewegt.

Die Stimme der Migrantin in klassischen Romanen

Bevor ich mich meinem Haupttext (Atwoods Alias Grace) widme, sind einige
Worte zur Stellung der Migrantin in kolonialen Romanen zu sagen. In ihrem
wichtigen Aufsatz „Unspeakable Things Unspoken“ (1989), erschienen nur ein
Jahr nach Spivaks ebenfalls fundamentalem Aufsatz, weist Toni Morrison auf die
geisterhafte Präsenz afroamerikanischer Figuren und Themen in der klassischen
amerikanischen Literatur des 19. Jahrhunderts hin. Diese Figuren, so Morrison,
106 Gesa Mackenthun

sind als Subjekte unsichtbar, sie haben keine Stimme, aber ihre Abwesenheit sei
von einer symptomatischen Betontheit und Ornamentalität (Morrison 1989: 11).
Sie kehrt einen hochinteressanten Punkt hervor, wenn sie die auffällige Abwesen-
heit afroamerikanischer Figuren in den klassischen Texten der USA mit deren
Genre in Zusammenhang bringt: Es gibt nämlich eine starke Tradition der „ro-
mance“ in den USA – einer Plotform also, die, im Gegensatz zum Roman (novel),
einen gewissen Hang zum Symbolischen, zur Allegorie und zum Übernatürlichen
hat (Morrison 1989: 12; siehe auch Morrison, Playing in the Dark). Wo, fragt sie,
ist „in these romances . . . the shadow of the presence from which the text has
fled? Where does it heighten, where does it dislocate, where does it necessitate
novelistic invention; what does it release, what does it hobble?“ (Morrison 1989:
12). Diese Fragen lassen sich meines Erachtens auf die Präsenz weiblicher Mi-
grantinnen in klassischen amerikanischen und britischen Romanen übertragen.
Man könnte sagen, dass es z. B. in Charles Brockden Browns Roman Edgar
Huntly; or, Memoirs of a Sleepwalker (1799) generell um Migrantentum geht:
Der Protagonist, der ein unzuverlässiger Erzähler ist, weil er handlungsrelevante
Dinge vergisst und gelegentlich zu irrationalen Handlungen neigt, ist fixiert auf
einen irischen Einwanderer, den er des Mordes an seinem Freund verdächtigt. Er
verfolgt ihn durch die Wildnis Pennsylvanias und muss dabei diverse Konflikte
mit wilden Tieren und Indianern überstehen. Wie sich zeigt, ist er selbst ein in
sich zerrissener Mensch auf der Suche nach gesellschaftlicher Anerkennung. Es
kommt zu einem Punkt, an dem Huntlys eigenes Handeln sich kaum noch unter-
scheidet von demjenigen des „wilden Iren“ Clithero. Weiße Frauen spielen in
dem Roman nur Nebenrollen und sind Objekte männlicher Bewunderung und
Gewalt. Es gibt aber eine nicht-weiße weibliche Figur, die zwar diskursiv ihrer
Seriosität beraubt ist, jedoch eindeutige und nachvollziehbare Anliegen artiku-
liert. Es ist eine alte Indianerin, deren Name zunächst mit „Old Deb“ angegeben
wird. Huntly nennt sie „Queen Mab“ in ironischer Anspielung auf die britische
Märchenfee. Die Frau, deren Subjektivität durch diese Namensgebung von vorn-
herein in Frage gestellt ist, ist jedoch gänzlich unfeenhaft; sie wird beschrieben
als eine typische „shrew“, eine meckernde und keckernde Alte. „Queen Mab“ ist
keine Migrantin im heute geläufigen Verständnis, sondern eine Frau, die sich der
erzwungenen Migration widersetzt – sie ist eine Angehörige der Leni Lenape
(Delaware), die zurückblieb, als ihre Stammesmitglieder unter dem Druck der
weißen Siedler ihr Land verließen. Wir erfahren, dass sie eine hohe Stellung im
Stamm hatte und bis zum Schluss versuchte, ihre Leute von der Auswanderung
abzubringen. Am Ende blieb sie allein zurück. Nachdem ihre Stammesmitglieder
ihr Land verlassen hatten, verbrannte sie die Wigwams und suchte Unterschlupf
in der Wildnis von Norwalk (Brown 1984: 193). Auf dem Boden ihres ehemali-
Deep Travels, Mixed Voices 107

gen Dorfes steht nun die Farm der Huntlys. So wird sie zur Fremden, ohne Stam-
meszusammenhalt, die am Rande der neuen Gesellschaft lebt. Sie wird als eine
seltsame, hexenhafte alte Bettlerin beschrieben, die ohne Unterlass mit ihren
Hunden redet und die den weißen Siedlern immer wieder erzählt, dass sie die
eigentliche Eigentümerin ihres Landes sei. Bei den Weißen erzeugt dies vor allem
Gelächter (Brown 1984: 194 f.). Huntly beschreibt ihre Sprache als einen zumeist
indigenen Jargon mit wenigen englischen Brocken, den nur er verstünde (Brown
1984: 195). Diese weibliche Figur, deren Geschichte eigentlich eine tragische ist
(eine alte Frau ohne Heimat, ohne Verwandte, um ihre physische Existenz kämp-
fend) und deren Forderungen moralisch nachvollziehbar sein sollten, wird also
verpackt in einen karnevalesken Diskurs, der sie als eine groteske Figur erschei-
nen lässt. Am Ende zieht „Queen Mab“ doch weiter nach Westen, und ihre Hütte
wird nun vom irischen Migranten Clithero bewohnt, der nach Huntlys Darstel-
lung ein Wahnsinniger und potentieller Mörder ist. Diese doppelte topographi-
sche Besetzung symbolisiert einen Akt der Verschiebung innerhalb eines Plots, in
dem das Thema des Heimatverlusts (und damit Identitätsverlusts) ein Hauptanlie-
gen ist – auch wenn es durch die Diskurse der frontier und der Begegnung mit der
Wildnis romantisch verfremdet wird.
Interessant ist an diesem frühen Roman, dass die Rede der marginalisierten
und sich gegen Migration wehrenden Frau überhaupt wiedergegeben wird (wenn
auch in entstellter Form durch den unzuverlässigen Ich-Erzähler), ihre Aussagen
aber gleichzeitig durch deren Einbettung in das Register des Komischen entwer-
tet werden. Brown war ein politisch sehr bewusster Autor der amerikanischen
Frühen Republik, dessen Texte formal gebrochen und widersprüchlich sind – im
ästhetischen Sinne also „defizitär“ und „unentwickelt“. Gerade diese formale
„Unreife“ mag für den Mangel an narrativer Autorität verantwortlich sein.
Im Gegensatz dazu steht ein formal wesentlich geschlossenerer Text, Char-
lotte Brontës Roman Jane Eyre (1847), der im Vergleich zu Edgar Huntly gera-
dezu perfekt geplottet zu sein scheint (dabei allerdings nicht ohne einige tiefgrei-
fende strukturelle Eingriffe auf Kosten mimetischer Glaubwürdigkeit aus-
kommt). Rochesters wahnsinnige erste Ehefrau Bertha, die er auf dem Dachbo-
den versteckt, von wo aus sie die Handlung mit schauerlichen Einlagen versorgt,
ist auch eine Migrantin, obwohl sie nicht als solche beschrieben wird – wie in
Browns Roman wird der Akt der Migration nicht narrativiert, obwohl gerade im
Fall von Jane Eyre die Figur der Migrantin entscheidend für die Entwicklung der
Handlung ist. Wie Gilbert und Gubar (1979) und seitdem eine ganze Phalanx von
feministischen und postkolonialen Kritikerinnen (u. a. Spivak) gezeigt haben, be-
steht die Funktion der „madwoman in the attic“ darin, die Subjektwerdung der
Protagonistin zu ermöglichen. Sie ist also weniger eine realistische Figur als viel-
108 Gesa Mackenthun

mehr eine narrative Instanz in dem Roman, bei dem es sich nicht um eine „novel“,
sondern um eine „romance“ handelt. Rochester hat die Kreolin Bertha aus der
Karibik mitgebracht, und in seinem Bericht gleicht sie einer von Miltons furcht-
baren Hexen:

One night I had been awakened by her yells – (since the medical men had pronounced her mad,
she had, of course, been shut up) – it was a fiery West Indian night; one of the description that fre-
quently precede the hurricanes of those climates. Being unable to sleep in bed, I got up and ope-
ned the window. The air was like sulphur-streams – I could find no refreshment anywhere. Mos-
quitoes came buzzing in and hummed sullenly round the room; the sea, which I could hear from
thence, rumbled dull like an earthquake – black clouds were casting up over it; the moon was set-
ting in the waves, broad and red, like a hot cannon-ball – she [the moon] threw her last bloody
glance over a world quivering with the ferment of tempest. I was physically influenced by the at-
mosphere and scene, and my ears were filled with the curses the maniac still shrieked out: where-
in she momentarily mingled my name with such a tone of demon-hate, with such language! – no
professed harlot ever had a fouler vocabulary than she: though two rooms off, I heard every word
– the thin partitions of the West Indian house opposing but slight obstruction to her wolfish cries.
(Brontë 1985: 335)

Auf typisch romantische Weise wird hier der Wahnsinn der Frau vom erdrücken-
den tropischen Klima in Antizipation eines Hurricane reflektiert. Wie in Edgar
Huntly wird hier die „schlechte Sprache“ der Frau betont – nur dass Brontës Ro-
man kaum Gelegenheit bietet, die Handlung aus ihrer Perspektive zu imaginie-
ren.2 Anders als in Edgar Huntly gibt es in Jane Eyre in dieser Hinsicht keine
Ambivalenz, keinen Konflikt der Perspektiven. Brontë schöpft das Repertoire des
kolonial-patriarchalen Diskurses aus, um ihrer sympathischen und intelligenten
Heldin Jane zur Sprache, zur vorübergehenden Unabhängigkeit und zum Happy
End zu verhelfen. Dass Bertha eine Migrantin ist, dass sie gegen ihren Willen aus
der Karibik nach England und aus einer kolonialen Plantage in einen dunklen
Dachboden verschleppt wurde, wo ihr menschliche Zuwendung und Konversa-
tion verweigert werden, muss die Leserin aus den Lücken des Textes und gegen
dessen Intention selbst konstruieren.
Mein drittes Beispiel aus der älteren Literatur ist Mary Shelleys Roman
Frankenstein (1818), dessen männliche Hauptfiguren – Victor Frankenstein und
seine namenlose Kreatur – sich gewissermaßen gegenseitig zu einem rastlosen
Leben verdammen. Es wäre zu fragen, ob es sich bei den ziel- und rastlosen
Wanderungen der beiden Protagonisten – wie auch bei denen zahlloser anderer
emotional entwurzelter romantischer Helden – um Migrationserfahrungen han-
delt. Sicherlich artikulieren diese fiktionalen Zivilisationsflüchtlinge die sozialen

2 Jean Rhys hat dies in Wide Sargasso Sea von 1966 nachgeholt, wo sie der Figur der Bertha einen
richtigen Namen, eine Geschichte und eine eigene Perspektive gibt und sie als Opfer kolonialer
und patriarchaler Strukturen darstellt.
Deep Travels, Mixed Voices 109

Umbrüche der Industrialisierung und die damit verbundene Erosion ländlicher


Gemeinschaften, die das 19. Jahrhundert so prägten und letztendlich die Gründe
für die Massenauswanderungen nach Übersee waren. Mich interessiert die
Nebenfigur der arabischen Christin Safie, mit deren indirekter Hilfe die Kreatur
das Sprechen und Lesen lernt und damit den Zugang zur menschlichen Kommu-
nikation und zu menschlichem Wissen erwirbt. Obwohl der Roman sein Haupt-
augenmerk auf die Konkurrenz zwischen Victor und seiner Kreatur legt, spielt
die Migrantin Safie eine entscheidende Rolle als Kultur- und Sprachvermittlerin.
Safie ist gleich in doppelter Hinsicht eine Migrantin: Einerseits ist sie die Tochter
eines türkischen Händlers mit Wohnsitz in Paris, andererseits ist sie auf der
Flucht vor ihrem Vater, als dieser sie entgegen ihrem Wunsch mit zurück in die
Türkei nehmen will. Sie flüchtet zu den DeLacys und wohnt mit ihnen in ihrer
Hütte, wo die Kreatur sie heimlich beim Erlernen der Sprache, Literatur und Ge-
schichte beobachtet. Wie Spivak bemerkt, ist es signifikant, dass die Kreatur sei-
ne Sprache über die Mediation dieser Frau lernt (Spivak 1988: 176). Seine ei-
gene Rede, die derjenigen von Frankenstein in jeder Hinsicht (Logik, Rhetorik)
überlegen ist, ist das Ergebnis einer „weiblichen“ Erziehung, einer education fe-
minine. Dass die Kreatur sich damit brüstet, das Lesen viel schneller und perfek-
ter als Safie gelernt zu haben, ist ein semantischer Widerspruch zu dieser struk-
turellen Tatsache. Während der Roman sich semantisch an den überlieferten
Gender-Konventionen orientiert, wird die rebellische und hochintelligente Figur
des Anderen, des Heimatlosen, der verstoßenen Kreatur, strukturell in die Nähe
der nicht-europäischen Frau gerückt – einer ähnliche Verschiebung, wie es bei
Charles Brockden Brown vorkommt.
Auffällig ist in allen drei Beispielen die Beziehung zwischen weiblicher Alte-
rität und Sprachfähigkeit bzw. -unfähigkeit. Keine der drei Frauenfiguren –
Queen Mab, Bertha Mason, Safie – besitzt das Recht und die Möglichkeit zur
autonomen, selbstbestimmten Artikulation in diesen Texten, keine hat Dialogpas-
sagen, schon gar nicht Erzählerstatus, und ihre Erfahrungen werden durch die
Rede anderer vermittelt. Strukturell scheint ihre Funktion darin zu liegen, den
Protagonisten selbst zur Artikulation und Selbstverwirklichung zu verhelfen – am
auffälligsten ist dies im Fall von Jane Eyre. Die anderen beiden Romane präsen-
tieren Figurenkonstellationen, in denen die disartikulierten Frauen männlichen
Figuren zur Seite gestellt werden, die ihrerseits marginalisiert und diskriminiert
sind und um ihr Rede- und Existenzrecht ringen. Darüber hinaus präsentieren die
Romane von Shelley und Brown Protagonisten, deren Autorität durch die Kon-
trastierung mit den männlichen Antagonisten stark in Frage gestellt wird (obwohl
es sich um Ich-Erzähler handelt). Dies sind Konstellationen, wie sie in Romanen
(novels) vorkommen können, in „romances“ aber nicht.
110 Gesa Mackenthun

Intermezzo
Der Roman: Imperialer Agent oder polyglotte Ausdrucksform?

Die Gleichzeitigkeit der Entstehung des Romans und der Entstehung des kolonia-
len Wirtschaftssystems ist in letzter Zeit häufig betont worden. Firdous Azim
z. B. schreibt in The Colonial Rise of the Novel (1993):
The birth of the novel coincided with the European colonial project; it partook of and was part of
a discursive field concerned with the construction of a universal and homogeneous subject. This
subject was held together by the annihilation of other subject-positions. The novel is an imperial
genre, not in theme merely, not only by virtue of the historical moment of its birth, but in its for-
mal structure – in the construction of that narrative voice which holds the narrative structure to-
gether. (Azim 1993: 30)

Ich möchte diese Aussage mit einer Aussage von Michail Bachtin kontrastieren,
die sich in seinem Kapitel „Epic and Novel“ (geschrieben 1941) in The Dialogic
Imagination findet (1981). Bachtin nennt verschiedene Aspekte, die den Roman
von anderen Genres, insbesondere vom Epos, unterscheiden: seine stilistische
Dreidimensionalität, seine Polyvokalität, seine komplexe und in die Gegenwart
hineinreichende Temporalität. Er historisiert diese Entwicklung in der formalen
Struktur von fiktionalen Texten, indem er sie als Resultat der Überwindung eines
geschlossenen Weltbildes sieht, nämlich als
[the novel’s] emergence from a socially isolated and culturally deaf semipatriarchal society, and
its entrance into international and interlingual contacts and relationships. A multitude of different
languages, cultures and times became available to Europe. (Bakhtin 1981: 11)

Während Azim also den Roman schlechthin als einen Ausdruck des Imperialis-
mus betrachtet, schreibt Bachtin, dass der Roman ganz im Gegenteil eine struktu-
relle Öffnung hin zur Artikulation devianter Stimmen mit sich bringt, die es so
vorher lediglich in den Satiren des späten Roms, in den Menippischen Satiren,
gegeben habe. Wo Azim den kolonialen Roman als Bestandteil einer imperialen
Unterdrückungsmaschinerie betrachtet, sieht Bachtin in ihm ein revolutionäres
Potential – nämlich in der durch das koloniale System erzeugten kosmopoliti-
schen Vermischung verschiedener Kulturen und Sprachen:
The new cultural and creative consciousness lives in an actively polyglot world. The world be-
comes polyglot, once and for all and irreversibly. The period of national languages, coexisting but
closed and deaf to each other, comes to an end. . . . (Bakhtin 1981: 12)

Neben einer sich vom Epos unterscheidenden Zeitstruktur (Bakhtin 1981: 27)
lebt der Roman laut Bachtin auch von einem anderen Umgang mit narrativer Au-
torität, indem er Stimmen zulässt, die bis dahin nur aus der Volksliteratur bekannt
waren (Bakhtin 1981: 20 f.). Durch diese Vielstimmigkeit, ausgedrückt vor allem
Deep Travels, Mixed Voices 111

im Dialog, entsteht eine andere Beziehung zwischen der auktorialen Stimme und
der dargestellten Welt, so dass der Roman zu einer Art Kontaktzone („zone of
contact“, Bakhtin 1981: 28) zwischen verschiedenen Stimmen und verschiedenen
textuellen Materialien wird.3
Wir haben in den Beispielen aus „kolonialen“ Romanen gesehen, wie eine
solche Kontaktzone aussehen kann, indem die Autorität der Erzählerstimme
durch diejenige weiterer Erzähler oder weiterer Figuren relativiert und in Frage
gestellt werden, und wie sich durch die Hineinnahme von Sub-Plots die Perspek-
tive auf die Hauptfiguren und ihre Handlungen ändern kann. Azim ist sicher inso-
fern Recht zu geben als Romane aus der Kolonialzeit diese Widersprüche und
Aporien in der Regel nicht bewusst inszenieren; dass sie dennoch vorhanden
sind, belegt die formale Offenheit des Genres. Edward Said würde sagen, dass sie
dennoch vorhanden sind, macht diese Texte zu Klassikern.4
Während die Tradition der „romance“ insbesondere auch in der postkolonia-
len Literatur fortbesteht und die Plots zahlreicher Romane bestimmt, in denen
Migration eine Rolle spielt, möchte ich auf zwei Romane (novels) verweisen, die
von diesem Schema abweichen. Der erste ist Michael Ondaatjes Anil’s Ghost
(2000). Dieser Roman beginnt wie ein klassischer Rückkehr-Roman (wie eine
„retour au pays natale“). Anil, die Protagonistin, kehrt in ihr Geburtsland Sri Lan-
ka zurück, das sie seit ihrem 18. Lebensjahr nicht betreten hat. Anil hat durch ihre
Zeit in England, Kanada und den USA eine kosmopolitische Identität angenom-
men („She felt completed abroad.“ Ondaatje 2000: 54) und kann sich nur mit
Schwierigkeiten an die Situation im vom Bürgerkrieg zerrütteten Sri Lanka ge-
wöhnen. Aber der Roman, der als Heimkehrer-Roman beginnt, schlägt durch die
Einführung weiterer Handlungselemente und Charaktere eine völlig andere Rich-
tung ein: Der begonnene Remigrations-Plot wird abgelöst von einem Kriminal-
Plot, denn Anil und ihr lokaler Kollege Sarath finden in einer archäologischen
Grabungsstätte den Schädel eines zeitgenössischen politischen Opfers und su-
chen nach der Identität des Getöteten. Auch diese Suche nach der „Wahrheit“ im
westlichen Sinne erweist sich als Sackgasse, und es wird immer deutlicher, dass
das eigentliche Anliegen des Romans nicht die Identitätsproblematik der Migran-
tin oder die Identität des Mordopfers ist, dass es auch nicht um die Lösung der
Frage nach Recht und Unrecht geht, sondern dass es darin besteht, eine Vorstel-
lung von den psychischen Schäden und dem täglichen Kampf um Menschlichkeit
zu vermitteln, die von einem Jahrzehnte währenden Bürgerkrieg ausgelöst wer-

3 Bachtins Begriff nimmt Mary Pratts Begriff der „contact zone“ vorweg, füllt ihn aber mit einer
Theorie des Zusammentreffens verschiedener literarischer Register. Siehe Pratt 1992: 6–7.
4 Siehe seine Analyse von Austens Mansfield Park (Said 1993).
112 Gesa Mackenthun

den. Die Suche der Migrantin nach ihrer kulturellen Identität (die sie am Ende
höchstens provisorisch erreicht) wird gekoppelt mit der Darstellung einer trauma-
tisierten Bevölkerung, die trotz allem versucht, sich in ihrem Heimatland einzu-
richten. Der Roman verweigert sich somit den konventionellen Erwartungen an
postkoloniale Romane; insbesondere verweigert er sich einer Zelebrierung von
Nomadentum und Migration, wie sie oftmals in den Postcolonial Studies und
Cultural Studies anzutreffen ist. Mehrfach werden die Leser auf eine falsche
Fährte gesetzt – in Bachtins Worten würde man sagen, indem er das heteroglossi-
sche Potential des novelistischen Diskurses ausschöpft.
Bachtin findet in den kleinsten Elementen romanhafter Texte Belege für deren
heteroglossische und „hybride“ Komposition. Diese Doppelung der Stimmen
kann bereits in einzelnen Aussagen vorkommen, die zwei einander gegenläufige
Stimmen in sich vereinen können:
an utterance that belongs, by its grammatical [i. e. syntactic] and compositional markers, to a sin-
gle speaker, but actually contains mixed within it two utterances, two speech manners, two styles,
two „languages“, two semantic and axiological belief systems. (Bakhtin 1981: 304 f.)

Bachtin findet Belege für diese doppelte Enunziation in einer ganzen Reihe von
realistischen Romanen (u. a. von Dickens, Balzac und Dostojevskij). Inzwischen
ist der Literaturkanon stark angewachsen (sein Text ist von 1941), und das narra-
tive Mittel, das er beschreibt, wird seit der Moderne häufig eingesetzt, um die Le-
ser durch die Erzeugung von Irritationen zur Reflexion und zur Emanzipation
von eingefahrenen Wirklichkeitsbildern zu bewegen. Wir kennen dieses Verfah-
ren z. B. von William Faulkner oder im postkolonialen Bereich von Toni Morri-
son, die in Beloved den Geist mit einer Kollektivstimme ausstattet. Dies sind Din-
ge, die in fiktionalen Texten möglich sind, in nicht-fiktionalen Texten wohl mit
dem Stigma der Schizophrenie oder Doppelzüngigkeit belegt würden.

Die Stimme der Migrantin in Margaret Atwoods Alias Grace

Um eine solche „doppelte“ Artikulation geht es auch in Margaret Atwoods histo-


rischem Roman Alias Grace (1996). Atwood greift hier einen historischen Krimi-
nalfall aus dem Toronto der 1840er und 1850er Jahre auf. Es geht um eine junge
Dienerin namens Grace Marks, die in einen Doppelmord an ihrem Herren und
dessen Geliebter verwickelt war. Während der Haupttäter verurteilt und gehängt
wurde, wurde Grace Marks aufgrund ihres jungen Alters (sie war bei der Tat im
Jahre 1843 gerade sechzehn) zu lebenslanger Haft verurteilt. Sie verbrachte die
Zeit abwechselnd im Gefängnis und in der Irrenanstalt und wurde 1872 wegen
Deep Travels, Mixed Voices 113

guter Führung entlassen. Grace Marks hat ihre Mittäterschaft während des Pro-
zesses immer geleugnet und angegeben, dass sie sich an den Zeitpunkt des Mor-
des nicht mehr erinnern könne.
Die Spur, die Grace Marks in der Geschichte Kanadas hinterlassen hat, ist
äußerst spärlich und widersprüchlich. Die bekannte Autorin Susanna Moodie,
die sie im Gefängnis und in der Irrenanstalt besucht hat, beschreibt sie – à la
Bertha Mason in Jane Eyre – als eine Wahnsinnige mit blutunterlaufenen Au-
gen. Auch in anderen Berichten wird sie teilweise als geistesgestört oder jeden-
falls als eine sehr verschlossene und emotional undurchschaubare Person be-
schrieben.
Atwood nutzt die Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit der historischen
Überlieferung, um Grace Marks neu zu erfinden. Vor allem betont sie einen As-
pekt ihrer Biographie, der in den zeitgenössischen Quellen nur gestreift wird: Sie
beschreibt Graces Leben als irische Migrantin, deren emotionale Verfassung von
einem Gefühl der Heimatlosigkeit und dem Verlust geliebter Menschen geprägt
ist. Während ihre irische Herkunft in den historischen Quellen zu stereotypen
Vorverurteilungen beiträgt, versucht Atwood aus der Distanz von 150 Jahren, die
emotionale Situation einer jungen Frau einzufangen, deren Eltern in Armut fallen
und wie Tausende andere Menschen ihre Heimat verlassen müssen (kurz vor der
berüchtigten Potato Famine seit 1845).5 Grace verliert ihre Mutter durch deren
Tod während der Überfahrt; sie nimmt zunächst die Mutterrolle gegenüber ihren
jüngeren Geschwistern ein, wird dann jedoch Opfer väterlicher Gewalt und trennt
sich mit vierzehn Jahren von ihrer Familie, um allein in verschiedenen Anstellun-
gen als Dienstmagd ihr Glück zu versuchen. Sie schließt Freundschaft mit Mary
Whitney, einem zwei Jahre älteren Mädchen, verliert jedoch auch diese durch de-
ren frühen Tod nach einer verpatzten Abtreibung. Ihre emotionale Lage muss bei
dieser Vorgeschichte als recht desolat betrachtet werden; allerdings erzählt
Atwood diese Vorgeschichte aus der Retrospektive, ungefähr zehn Jahre nach der
Verurteilung, durch Graces eigene Stimme. Und diese Stimme verzichtet auf jeg-
lichen Hinweis auf Grace Marks’ Gefühlsregungen. Anlass für die Erzählung ist
der Versuch des (nicht auf einer realen Figur basierenden) Arztes Simon Jordan,
Graces Amnesie zu überwinden und ihre verdrängten Erinnerungen freizulegen.
Jordan wird als ein früher Vertreter psychoanalytischer Theorien und Methoden

5 Die durch die fehlerhafte britische koloniale Agrarwirtschaft und eine Kartoffelerkrankung aus-
gelöste Potato Famine (1845–50) raffte innerhalb weniger Jahre ungefähr 20 Prozent der irischen
Bevölkerung hinweg und löste eine massive Auswanderungsbewegung nach Amerika aus. Viele
Menschen verhungerten noch auf den Schiffen nach USA. Die Famine hat noch heute den Rang
eines historischen Kollektivtraumas in Irland.
114 Gesa Mackenthun

dargestellt,6 der sich zunächst aus rein wissenschaftlichen Gründen für Grace in-
teressiert – er ist allerdings auch ein zu sexuellen Phantasien und psychischen
Übertragungen neigender junger Mann.7 Alias Grace ist also in mehrfacher Hin-
sicht ein revisionistischer Text. Er „korrigiert“ das lückenhafte Geschichtsbild,
indem er die Stimme einer Migrantin neu erfindet; er setzt sich kritisch mit den
Denkstrukturen der patriarchalen Kultur Mitte des 19. Jahrhunderts auseinander,
insbesondere mit Theorien über weibliche psychische Devianz. Atwood vermei-
det es dabei, heutige Theorien über Schizophrenie auf die frühere Zeit anzuwen-
den, sondern kontextualisiert die historischen Ereignisse durch zeitgenössische
Konzepte und Theorien über weiblichen Wahnsinn und weibliche Alterität. Dies
geschieht unter anderem in den Mottos – Zitaten aus literarischen Texten von
Hawthorne, Dickinson, Tennyson und anderer AutorInnen der Zeit sowie aus
zahlreichen wissenschaftlichen Texten.
Neben der Frage nach Grace Marks’ Schuld ist es die Frage nach ihrer menta-
len Gesundheit, die die Neugier der Leser anregt. Beide Fragen werden jedoch
am Ende nicht beantwortet: Der Roman stellt lediglich einen Versuch dar, sich
dieser mysteriösen historischen Figur zu nähern und sie als Produkt einer dicken
Schicht entstellender Dokumente und Diskurse zu zeigen. Entsprechend dieser
historischen Uneindeutigkeit ist die Stimme der Grace Marks von vornherein in
sich widersprüchlich und unzuverlässig. Bereits auf der ersten Seite erfahren wir
von ihren Sinnestäuschungen; Mary Whitney erscheint als eine Art alter ego von
Grace, lange bevor sie als Figur eingeführt wird. Im weiteren Verlauf ihrer Erzäh-
lung über ihre Gespräche mit Simon Jordan wird die Leserin zur Vertrauten, in-
dem Grace extradiegetische Kommentare darüber macht, was sie Simon nicht er-
zählt: z. B. versucht Jordan durch die Konfrontation mit bestimmten Früchten
ihre Assoziation und dadurch ihre Erinnerung anzuregen und legt ihr einen Apfel
auf den Tisch (Atwood 1996: 44). Grace erzählt „uns“, woran sie der Apfel erin-
nert (an bestimmte Ereignisse mit Mary Whitney; an die Symbolik des Baums der
Erkenntnis), Jordan gegenüber stellt sie sich jedoch, wie sie sagt, als einfältig und
unwissend dar. Der Grund hierfür sind ihre vorherigen negativen Erfahrungen
mit Männern, insbesondere Ärzten, und ihr generelles Misstrauen gegenüber Be-
fragungen: „I see what he’s after. He is a collector. He thinks all he has to do is
give me an apple, and then he can collect me.“ (Atwood 1996: 46). Jordans Versi-
cherung, dass er ihr helfen wolle, kommentiert sie mit den Worten: „That is how

6 Darunter finden sich freie Assoziation, Interesse an den unbewussten Bedeutungen von Träumen,
Gesprächstherapie.
7 Im Gegensatz zu den Texten von Freud, die sich nur mit Übertragungsphänomen bei den Patien-
tInnen beschäftigen, findet Übertragung hier auch beim Arzt statt – konkret Simons Übertragung
seiner früheren sexuellen Erfahrungen mit den Dienstmägden seiner Eltern auf Grace Marks.
Deep Travels, Mixed Voices 115

they get in through the door. Help is what they offer but gratitude is what they
want, they roll around in it like cats in the catnip . . . I say nothing.“ (Atwood
1996: 46). The subaltern does not speak.
Grace ist nicht nur als mehrstimmige Figur angelegt, sondern auch als eine
Person auf der Suche nach einer irdischen und vor allem spirituellen Heimat. Die-
ser Aspekt ist jedoch nicht durch das „telling“, sondern nur durch das „showing“
der Erzählung ersichtlich – also auf einer zweiten Diskursebene, die sich erst bei
genauerem Hinsehen erschließt. Grace ist Protestantin; sie gehörte somit in Irland
einer religiösen Minderheit an. Ihr Wissen über biblische und religiöse Themen
entspricht nachvollziehbar dem Wissen einer wenig gebildeten Angehörigen der
Arbeiterklasse Mitte des 19. Jahrhunderts. Religiöse Inhalte vermischen sich in
ihrer Fantasie mit Elementen des Volksglaubens. Ein dominantes Thema ist der
Glaube an die Notwendigkeit, den Seelen kürzlich verstorbener Menschen durch
das Öffnen eines Fensters den Weg in das Jenseits zu ermöglichen. Grace war je-
doch nach dem Tod ihrer Mutter auf dem Auswandererschiff nicht in der Lage,
der Toten diesen Dienst zu erweisen, wie sie mehrfach erwähnt. Als später Mary
stirbt, ist sie so schockiert, dass sie vergisst, das Fenster zu öffnen. Erst nachdem
andere Angestellte damit beginnen, die Leiche für das Begräbnis vorzubereiten,
fällt ihr ihre Unterlassung ein. Sie unterhält sich mit einer Frau namens Agnes
über den Grund für Marys Tod und stellt sich vor, wie Marys Verführer vielleicht
im selben Moment sein Frühstück genießt:
Agnes said, It is the curse of Eve which we must all bear, and I knew Mary would have laughed at
that. And then I heard her voice, as clear as anything, right in my ear, saying Let me in. I was quite
startled, and looked hard at Mary, who by that time was lying on the floor, as we were making up
the bed. But she gave no sign of having said anything; and her eyes were still open, and staring up
at the ceiling.
Then I thought with a rush of fear, But I did not open the window. And I ran across the room and
opened it, because I must have heard wrong and she was saying Let me out . . . I was hoping
Mary’s soul would fly out the window now, and not stay inside, whispering things into my ear.
But I wondered whether I was too late. (Atwood 1996: 207)

Erst mit einer gewissen Nachträglichkeit, als andere Personen Empathie mit
Grace und ihrer furchtbaren Entdeckung der toten Mary zeigen, wird ihr die Si-
tuation wirklich bewusst und sie wird bewusstlos. Nach zehn Stunden wacht sie
wieder auf, ist aber offenbar in ihrem Identitätsgefühl gestört:
I did not seem to know where I was, or what had happened; and I kept asking where Grace had
gone. And when they told me that I myself was Grace, I would not believe them, but cried, and
tried to run out of the house, because I said that Grace was lost, and had gone into the lake, and I
needed to search for her. They told me later they’d feared for my reason which must have been un-
settled by the shock of it all; and it was no wonder, considering.
Then I fell again into a deep sleep. When I woke, it was a day later, and I knew again that I was
Grace, and that Mary was dead. (Atwood 1996: 208)
116 Gesa Mackenthun

Was hier beschrieben wird, ist eine vorübergehende psychische Störung des Ich-
Gefühls, wie sie nach traumatisierenden Erlebnissen auftreten kann. Sie wird ge-
koppelt mit dem Brauch des Öffnen des Fensters für die Geister der Toten. Ein
weiteres wiederkehrendes Bild ist das der auf See bestatteten Mutter und Graces
Schuldgefühl darüber, dass sie für die Bestattung aus pragmatischer Notwendig-
keit nur das zweitbeste Betttuch ausgewählt hatte. Dass die Toten für Grace im
Geiste weiterleben, ist eine realistische Vorstellung ihrer Kultur und Zeit; sie hat
nichts mit Schizophrenie oder dem Befund einer multiplen Persönlichkeit zu tun.
Die religiöse Thematik – Graces Angst um ihr Seelenheil bereits vor, aber erst
recht nach dem Mordfall – ist in dem Roman eher subkutan vorhanden; sie drückt
sich durch Träume, Erinnerungsbilder und in einem 500-Seiten-Roman leicht zu
übersehenden Kommentaren zu religiösen Inhalten aus. Und sie steht auch in
scheinbarem Widerspruch zu Graces dominanter, „cooler“ Erzählstimme, die sie
als eine subtile Scheherazade kennzeichnet. Aber gerade die prekäre emotionale
Verfaßtheit der Hauptfigur trägt entscheidend zu ihrer Komplexität und auch ih-
rer historischen Glaubwürdigkeit bei. Bei einer Gelegenheit erwähnt Grace z. B.,
dass sie ihren Namen wohl der berühmten protestantischen Hymne „Amazing
Grace“ zu verdanken habe:
As for what I was named after, it might have been the hymn. My mother never said so, but then
there were many things she never said.
Amazing Grace! How sweet the sound
That saved a wretch like me!
I once was lost, but now I’ m found,
Was blind but now I see.
I hope I was named after it. I would like to be found, I would like to see. Or to be seen. I wonder if,
in the eye of God, it amounts to the same thing. As it says in the Bible, For now we see through a
glass, darkly; but then face to face.
If it is face to face, there must be two looking. (Atwood 1996: 441 f.) 8

Vielleicht gerade aufgrund ihrer Naivität sagt diese Passage sehr viel über die
prekäre seelische Verfaßtheit der Protagonistin aus – ihre existentielle und tran-
szendentale Heimatlosigkeit, ihr Verlangen nach emotionaler und spiritueller Ge-
borgenheit.9
Atwood wählt das Mittel der Intertextualität, um diesen Gesichtspunkt zur
Sprache zu bringen. Die Erzählsituation wird durch diese dritte paratextuelle
Ebene zusätzlich kompliziert. Den Hauptkapiteln sind jeweils Zitate aus den Fall
betreffenden Dokumenten, zeitgenössischen dokumentarischen und wissen-

8 Der biblische Bezug ist auf den 2. Korintherbrief 13:12.


9 An anderer Stelle wird Gott jedoch auch als Rachegott imaginiert (368).
Deep Travels, Mixed Voices 117

schaftlichen Texten sowie literarischen Texten vorangestellt. Diese dienen nicht


nur der Verzierung oder allgemeinen Kontextualisierung; es lassen sich vielmehr
direkte Bezüge zwischen den Paratexten und dem Erzähltext herstellen. Beson-
ders häufig sind Verweise auf psychische Spaltung und auf das Wirken unbe-
wusster Kräfte – Verweise, die literarisch Ausdruck im Modus des Unheimlichen
finden. Beispielsweise findet sich schon früh im Roman ein Gedicht von Emily
Dickinson aus den 1860er Jahren, also unwesentlich jünger als die Handlung:
One need not be a Chamber – to be Haunted –
One need not be a House –
The Brain has Corridors – surpassing –
Material Place –
...
Ourself behind ourself, concealed –
Should startle most –
Assassin hid in our Apartment
Be Horror’s least. . . . (1863; Atwood 1996: 52)

Die Metapher des „haunted chamber“ entstammt dem gothic mode, aber de facto
benutzt Dickinson diesen, um Aussagen über den Zustand der von widerstreben-
den Triebkräften beeinflussten menschlichen (bzw. weiblichen) Psyche zu ma-
chen. Atwood greift dieses metaphorische Register auf, indem sie eine Szene er-
findet – die klimaktische Szene im Roman –, die einerseits den ultimativen Ver-
such darstellt, Aufschluss über die Wahrheit zu erlangen, andererseits aber dazu
geeignet ist, das kulturelle Klima der Zeit zu imaginieren, das den Rahmen des
Verbrechens und seiner Dokumentation abgibt. Es handelt sich um eine Hypnose-
Szene, die große Ähnlichkeit mit einer spiritualistischen Séance hat und von eini-
gen Beteiligten als solche betrachtet wird. Das Kapitel wird eingeführt u. a. von
einem Briefexzerpt von Susanna Moodie, in dem diese ihre eigenen spiritisti-
schen Erfahrungen beschreibt.10 Moodie schreibt hier in einem Brief von 1858,
dass ihre Schwester spirituelle Nachrichten in verschiedenen Sprachen erhielte
und dass die Stimmen gelegentlich „abusive“ (Atwood 1996: 458) (beleidigend)
seien. Dem Kapitel, in dem es zur entscheidenden Hypnose-Szene kommt, sind
ein Gedicht von Alfred Lord Tennyson (aus Maud, 1855) und eines von Emily
Dickinson (von ca. 1860) vorangestellt. Während Tennysons Gedicht vor allem
eine Sehnsucht nach Kenntnis über die Situation der Toten ausdrückt, lesen wir
bei Dickinson:
I felt a Cleaving in my Mind –
As if my Brain had split –

10 Moodie ist andererseits die historische Kronzeugin für die Charakterisierung von Grace als men-
tal deviant.
118 Gesa Mackenthun

I tried to match it – Seam by Seam –


But could not make it fit. (Atwood 1996: 458)

Das Gedicht von Emily Dickinson verweist auf die Problematik des gespaltenen
Bewusstseins, das den ganzen Roman kontrapunktisch gestaltet.11
Derart präpariert wird der Leser nun mit der Szene konfrontiert, in der Grace
von einem „Neuro-hypnotist“ (Atwood 1996: 351) namens Dr. Jerome du Pont in
einen hypnotischen Trance versetzt wird, um dann erneut von Simon Jordan nach
den Ereignissen am Mordtag befragt zu werden. Jordan und Du Pont haben große
Schwierigkeiten, die anderen TeilnehmerInnen davon zu überzeugen, dass es sich
hier nicht um eine spiritualistische Séance handle, sondern um ein wissenschaft-
lich fundiertes Experiment (Atwood 1996: 463, 470). Während der Sitzung, die
von einem scheinbar metaphysischen Klopfen begleitet wird, überrascht Grace
ihre Zuhörer zunächst, indem sie in unverblümter und vulgärer Sprache den Arzt
Simon mit seinen heimlichen sexuellen Motivationen konfrontiert. In einer hohen
und kichernden Stimme scheint Grace dann ihre Beteiligung am Mord zuzuge-
ben, behauptet wenig später jedoch, gar nicht Grace zu sein:
„I am not Grace! Grace knew nothing about it!“
No one in the room says anything. The voice is humming now, a high tiny music, like a bee.
„Rock of ages, cleft for me, Let me hide myself in thee! Let the water, and the blood . . .“
„You are not Grace,“ says Simon. Despite the warmth of the room, he feels cold all over. „If you
are not Grace, who are you?“
„Cleft for me . . . Let me hide myself, in thee . . .“

Während der darauf folgenden Kommunikation behauptet die Stimme, nicht


Grace sondern Mary Whitney zu gehören, die sich nur Graces irdischer Hülle be-
diene, weil diese vergessen habe, das Fenster zu öffnen (Atwood 1996: 468): Sie
behauptet auch, den Mörder zu dem Mord angestiftet zu haben, dass aber Grace
hiervon nichts wüsste. Unter Vorwürfen, dass niemand auf sie höre, verschwindet
die Stimme. Grace wacht auf, kann sich an nichts erinnern, nur daran, dass sie
von ihrer Mutter geträumt habe: „She was floating in the sea. She was at peace“.
(Atwood 1996: 469)
Die Szene lässt offen, ob es sich um einen Fall dämonischer Besessenheit han-
delt (wie einige der Séance-Teilnehmer vermuten), ob es sich um einen neurolo-
gischen Zustand handelt – zu dieser Interpretation neigen die beteiligten Exper-
ten; sie benutzen hierfür die Begriffe „double consciousness“ und „dédouble-
ment“ [Atwood 1996: 471]), oder ob Grace lediglich simuliert hat (Atwood 1996:
472). Die Investigation endet an dieser Stelle. Simon beschließt, nach Europa zu
gehen, endet aber im amerikanischen Bürgerkrieg, wo er verletzt wird und sein

11 Es verweist außerdem auf die Metaphorik des Quilting, auf die ich hier nicht eingehen kann.
Deep Travels, Mixed Voices 119

Gedächtnis verliert. Grace bleibt im Gefängnis und wird erst viele Jahre später
begnadigt.
Die Séance-Szene stellt in der Diegese des Romans die Kulmination einer auf
mehreren Diskursebenen angelegten Entwicklung dar, die zu keiner eindeutigen
Auflösung führt. Die Frage für uns ist anhand dieser verdichteten Erzählsituation:
Wer spricht? Und wie viele Stimmen sprechen hier gleichzeitig? Durch Grace
sprechen in dieser Szene mindestens drei Stimmen, ohne sauber voneinander ge-
trennt zu sein: Graces Stimme, die dem Arzt Simon Jordan seine von ihm unter-
drückte, vom Erzähler aber explizit gemachte sexuelle Besessenheit vorhält, die
Stimme von Mary Whitney, Graces alter ego, als die Grace diejenigen Gefühlsre-
gungen ausdrückt, die sie aus Gründen des Anstands und der Moral nicht direkt
artikulieren kann (vor allem ein Gefühl des Zorns über die patriarchalische Ord-
nung), und schließlich die Stimme der intertextuell vermittelten spirituell-emotio-
nalen Ebene, die sich durch das Zitat aus der bekannten protestantischen Hymne
„Rock of Ages“ Gehör verschafft und durch die Metapher der „Spaltung“ eine
Verbindung zur Stimme der Mary Whitney herstellt (sowie zum Motto von Emily
Dickinson):
Rock of Ages, cleft for me,
Let me hide myself in Thee;
Let the water and the blood.
From Thy wounded side which flowed,
Be of sin the double cure;
Save from wrath and make me pure.

Die Hymne nimmt Bezug auf Psalm 18:2: Gott als Fels und Festung, die der ar-
men Sünderin Schutz bieten und sie vor der Verdammnis retten kann. Während
der religiöse Intertext Graces Gefühl der spirituellen Heimatlosigkeit artikuliert,
ist bezeichnenderweise ihr erstes Erinnerungsbild nach ihrem Erwachen dasje-
nige ihrer auf See bestatteten Mutter, das symbolisch für ihr Migrationstrauma
steht.
Lorna Hutchison (2003) argumentiert, dass Atwood in diesem Roman Ge-
brauch von einer narrativen Strategie macht, die sie als „middle voice“ bezeichnet.
Das Konzept der „middle voice“ wird unter anderem auf narrative Situationen an-
gewandt, in denen Ambivalenz, Potentialität (potentiality, possibility) oder Sub-
versivität eine Rolle spielen (Atwood 1996: 44), und Situationen, in denen etwas
gesagt werden soll, was durch einfache Figurenrede nicht gesagt werden kann –
z. B. das Unbewusste zur Sprache zu bringen. Durch den Einsatz von Traumerzäh-
lungen, Halluzinationen und dédoublement gelingt es Atwood, jede Form von De-
terminiertheit zu vermeiden und einen Status der epistemologischen Ambivalenz –
einen Status der „middleness“ – in ihrem Text aufrecht zu erhalten (Atwood 1996:
120 Gesa Mackenthun

45). Der Roman wehrt sich gegen die Frage „Wer ist der Erzähler?“ und zwingt die
Leserin zu der Frage „Wer spricht?“ (Atwood 1996: 47). Sprechen können in Er-
zähltexten auch Stimmen, die weder als Figuren auftreten noch als Erzähler. Jan
Gondas Beschreibung der ursprünglichen Funktion der grammatikalischen
„middle voice“ als „some power or something powerful [that] was at work in or
through the subject“ (Hutchison 2003: 47) lässt sich auf narrative Situationen wie
die in Alias Grace übertragen. Im Extremfall kann in narrativen Texten das kollek-
tive Unbewusste sprechen (wie in Beloved) oder (scheinbar) Gott selbst durch die
Stimme einer Figur (wie in Flannery O’Connors Kurzgeschichte A Good Man is
Hard to Find [1953]). Diese Privilegierung des „showing“ auf Kosten des „tel-
ling“ (durch intertextuelle Verweise, durch Stimmen, die keinen oder einen zwei-
felhaften Agenten haben) geschieht natürlich auf Kosten der Glaubwürdigkeit ei-
nes Charakters – literarische Texte, die Gebrauch der „middle voice“ machen, ant-
worten daher nur bedingt auf die Fragen, die wir an realistische Texte stellen.
Der Fall der Grace Marks, der Atwoods Roman zugrunde liegt, lädt zu diesem
literarischen Experiment förmlich ein, denn wie ich bereits erläutert habe, ist ihre
Stimme anhand der überlieferten Dokumente nicht mehr rekonstruierbar. At-
woods Anliegen besteht aber nicht nur darin, dieser vergessenen und entmündig-
ten irischen Migrantin eine fiktionale Stimme zu verleihen, sondern auch darin,
den Prozess der Tilgung ihrer Stimme darzustellen und zu problematisieren.
Wie Rosario Arias Doblas argumentiert, bietet sich der Modus des „haunting“
für die Artikulation dieser „unspeakable voices“ geradezu an: „the haunting pre-
sence of the occult . . . [is] a metaphor for the postmodern idea of resurrecting
Victorian deep-seated anxieties and concerns“ (Doblas 2005: 102) – in unserem
Fall, um die Tiefendimension von Migrationserfahrungen zu rekonstruieren und
zur Sprache zu bringen – Erfahrungen, die lange Zeit aufgrund der Dominanz pa-
triarchaler, rassistischer und imperialistischer Diskurse unartikuliert blieben.
Durch ihre postmoderne Pastiche der Geschichte der Grace Marks mit Zitaten aus
literarischen und wissenschaftlichen Texten des 19. Jahrhunderts signalisiert
Margaret Atwood auch die gattungsbedingten Limitierungen des realistischen
Romans, indem sie dessen Abhängigkeit von mimetischen Darstellungsformen
aufzeigt. Trotz seiner Verwendung metafiktionaler Elemente bleibt der Roman
Alias Grace einer realistischen Darstellungsform verpflichtet und ist in dieser
Hinsicht weniger als postmodern, sondern vielmehr, wie auch z. B. die Romane
E. L. Doctorows, als „neorealistisch“ zu bezeichnen. Dies ist, so denke ich, eine
formale Vorbedingung, um die Stimme der „Subalternen“ fiktional zur Sprache
zu bringen, d. h. nicht nur ihre Geschichten zu erzählen sondern auch – gegen den
Strich historischer und literarischer Diskurse – einen Einblick in ihre emotionale
Disposition zu konstruieren.
Deep Travels, Mixed Voices 121

Ich möchte mit einem Bekenntnis Margaret Atwoods enden, die in ihrem
Buch Negotiations with the Dead: A Writer on Writing (2002) schreibt: „all
writing of the narrative kind, and perhaps all writing, is motivated, deep down . . .
by a desire to make the risky trip to the Underworld, and to bring something or
someone back from the dead“ (zitiert nach Doblas 2005, 93 f.). Für ihren eigenen
Roman lässt sich konstatieren: orphische Mission gelungen.

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Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur
zeitgenössischer Autorinnen
Christa Gürtler und Eva Hausbacher

Ich glaube, das Frausein verdoppelt die Position als Ausländerin,


also der Fremden. [. . .] Innerhalb einer Monokultur gibt es nur
Mann und Frau, aber wenn man dann eine Fremdsprache kann,
gibt es Ausweichmöglichkeiten, dann gibt es tatsächlich „mehr
Geschlechter“.
Yoko Tawada (2009)

Schreiben Frauen anders? – So oder ganz ähnlich war eine Reihe von Studien in
den 1980er Jahren aus dem Bereich der feministischen Literaturwissenschaft be-
titelt, die sich mit der in diesen Jahren kontrovers diskutierten Frage nach einer
weiblichen Ästhetik beschäftigten. Die aktuelle Diskussion über eine Poetik der
Migration erinnert in vielem an die damaligen Argumente und Positionen: Beide
Male geht es um eine marginalisierte AutorInnengruppe, es geht um Fragen des
literarischen Kanons und literarischer Normen, um die Differenz zwischen ideo-
logiekritischen Zugriffen und formalistischen Ansätzen der Literaturbeschrei-
bung, damit auch um die Frage der Relevanz von lebensrealer Erfahrung bei der
Betrachtung von Literatur. Letztlich spitzen sich die Debatten zu auf die zentrale
Auseinandersetzung, ob eine weibliche bzw. eine migratorische Schreibweise
jenseits von Inhalten und Themen auf der Ebene der Ästhetik festgemacht werden
kann oder nicht.
Aber auch auf Seiten der Selbsteinschätzung der Schreibenden sind die Paral-
lelen offensichtlich. Genauso wie viele Autorinnen sich gegen eine Etikettierung
ihrer Werke als Frauenliteratur zur Wehr gesetzt haben, gibt es auch viele Stim-
men aus der Literatenszene, die sich von einer Zuordnung zur Migrationsliteratur
lautstark abgrenzen. Eine, die sich vehement gegen eine derartige „Schubladisie-
rung“ wehrt, ist beispielsweise Julya Rabinowich. Rabinowich wurde in Russ-
land geboren, lebt seit ihrem achten Lebensjahr in Wien und ist für ihren Debütro-
man Spaltkopf (2008) mit dem Rauriser Literaturpreis 2009 ausgezeichnet wor-
den. Für Rabinowich ist der Terminus „Migrantenliteratur“ eine begriffliche Stig-
matisierung: „Da könnte es auch eine Würstelstandliteratur geben“, meint sie,
Migrantenliteratur klinge danach, dass „jemand an der Schwelle des Hauses steht
und noch nicht hinein durfte. Ich habe nicht vor im Vorraum rumzustehen. Ab ei-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_7,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 123

nem gewissen Level ist die Qualität ausreichend und benötigt kein Etikett mehr.“
(Rabinowich, zit. nach Hierl 2009: 18)
Ohne hier die Argumente, die die feministischen Debatten der 1980er Jahre
bewegt haben, im Detail nachzuvollziehen, wollen wir drei wichtige Stimmen
dieser Zeit zu Wort kommen lassen, weil deren Zugänge und Thesen zu einer
weiblichen Ästhetik auch hilfreich für die Beschäftigung mit Migrationsliteratur
sein können.
Einer der Schlüsseltexte dieser Debatte stammt von Silvia Bovenschen (Über
die Frage: gibt es eine ,weibliche Ästhetik‘?, 1976), in dem sie das von einem Teil
der damaligen feministischen Szene propagierte Festhalten an einer weiblichen
Gegenkultur ablehnt, gleichzeitig aber meint, dass „die so ganz andere Weise der
Erfahrung, die so ganz anderen Erfahrungen [von Frauen] selbst andere Imagina-
tionen und andere Ausdrucksformen erwarten lassen.“ (vgl. Bovenschen 1976:
91) Sie plädiert für ein Einbeziehen der weiblichen Lebensrealität in die Diskus-
sion, ganz ähnlich wie die reale Erfahrung des displacements und des Unterwegs-
seins bei MigrationsautorInnen von Relevanz für deren Schreiben ist. Weiters
hält Bovenschen eine Fokussierung der Formebene und ein Hintanstellen der
ideologischen und inhaltlichen Dimensionen der Texte für wichtig und ermuntert
zum Versuch, eine weibliche Ästhetik an einzelnen Texten zu belegen:
„Das, was bis dato eine weibliche Sensibilität des Schreibens (des Malens usw.) genannt werden
könnte, ist für mich nur fassbar an einzelnen Beispielen weiblicher Subversion, weiblicher Imagi-
nation, formaler Konstruktion in den jeweiligen Werken. Dort mithin, wo die Spezifika der weib-
lichen Erfahrung und Wahrnehmung selbst formbestimmend sind, und nicht dort, wo ein ,femini-
nes Anliegen‘ einer traditionellen Form aufgesetzt ist. [. . .] Feminine Qualität lässt sich schwer-
lich allein an die Sujets ketten.“ (Bovenschen 1976: 106)

Die Frage „Gibt es eine weibliche Ästhetik?“ beantwortet Bovenschen mit einem
„Jein“: Es gibt sie „ganz gewiß, wenn die Frage das ästhetische Sensorium und
die Formen des sinnlichen Erkennens betrifft; sicher nicht, wenn darunter eine
aparte Variante der Kunstproduktion oder eine ausgeklügelte Kunsttheorie ver-
standen wird.“ (vgl. Bovenschen 1976: 112)
Auch die Konstanzer Slawistin Renate Lachmann hat sich zu Fragen einer
weiblichen Ästhetik geäußert (Thesen zu einer weiblichen Ästhetik, 1983). Ähn-
lich wie Bovenschen spricht sie von der Unmöglichkeit einer diesbezüglichen
Generalisierung und plädiert für ein analytisch-deskriptives Herangehen, das
auf jede Programmatik verzichtet. Sie sieht den mystischen Diskurs und die
diesen Diskurs kennzeichnende metonymische Schreibweise als ein literari-
sches Feld, das in Bezug auf geschlechterspezifische ästhetische Differenzen
interessante Ergebnisse erwarten lässt. Darüber hinaus ist Lachmanns Hinweis
auf die performative Dimension des Schreibens – Schreiben als Handlung, die
124 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

an bestimmte Erfahrungen anschließt – für uns von besonderem Interesse, weil


dieses Kennzeichen auch in Bezug auf Migrationsliteratur relevant ist. Diese
entsteht in einem gesellschaftspolitischen Kontext, in dem Kulturen immer we-
niger als territorial fixierte und nationalstaatlich markierte Entitäten, sondern im
Sinne eines „doing culture“ (vgl. Algazi 2000) als bedeutungsoffene, perfor-
mative und dadurch auch veränderungsorientierte Transferprozesse aufgefasst
werden.
Die letzte Stimme zur weiblichen Ästhetik, die hier noch aufgerufen werden
soll, ist Ilma Rakusa (Frau und Literatur – Fragestellungen zu einer weiblichen
Ästhetik, 1984), die in dieser Debatte eine ähnlich vorsichtig-kritische Haltung
wie Bovenschen und Lachmann einnimmt, sich aber trotzdem nicht scheut, einen
stichwortartigen Merkmalkatalog weiblichen Schreibens zu erstellen.1 Dabei be-
tont sie, dass die von ihr beschriebenen inhärenten Merkmale einer weiblichen
Ästhetik/Schreibweise freilich keineswegs verabsolutiert werden dürfen und vor
allem auf der empirischen Untersuchung ausgewählter Einzelwerke beruhen.
Wenn wir im Folgenden am Beispiel von vier Autorinnen mit migratorischen Le-
benskontexten (Yoko Tawada, Julia Kissina, Ilma Rakusa, Marija Rybakova)
nach den Korrelationen zwischen Migrationssituation und Schreibstrategien fra-
gen, dann wollen wir – ganz ähnlich wie Ilma Rakusa im folgenden Zitat dies für
eine Kennzeichnung weiblichen Schreibens tut – dabei Trends und Orientierun-
gen beim Zusammenwirken von Erzählformen und transnationalen Identitäts-
mustern aufzeigen und keine normative Bestimmung von Schreib- und Werthal-
tungen fixieren:
„Ich möchte meine zwangsläufig rudimentären Ausführungen als ,Balanceakte ästhetischen Be-
greifens‘ verstanden wissen, als ,Balanceakte‘, da weibliche Ästhetik kein solider Boden ist, son-
dern ein Netzwerk, bestehend aus einer Vielzahl von Fäden, deren einzelne auch bei männlichen

1 In der Studie Poetik der Migration: Transnationale Schreibweisen in der zeitgenössischen russi-
schen Literatur (2009) hat Eva Hausbacher einen ähnlich offen gehaltenen Merkmalkatalog mi-
gratorischer Schreibweisen erstellt, der die untersuchten Texte in ihrer Vielfältigkeit und Unter-
schiedlichkeit nicht auf bestimmte Gemeinsamkeiten hin nivelliert, sondern ihre Orientierung an
spezifischen Diskursen fasst. Dabei werden nicht die literarischen Verfahren an sich als Kennzei-
chen der transkulturellen Migrationsliteratur festgemacht, denn viele davon finden sich auch in
anderen, häufig postmodernen Schreibweisen jenseits migratorischer Kontexte. Vielmehr geht es
dabei um die Beschreibung bzw. Erfassung des Wirkungspotentials, das diese Verfahren in Be-
zug auf die für die Poetik der Migration zentralen Schlüsselkategorien der Identität, Alterität und
Hybridität ausstrahlen. Eigentliches „Alleinstellungsmerkmal“ der Migrationsliteratur ist die
Verbindung von bestimmten Erzählformen mit der inter- bzw. transkulturellen Konstellation auf
der thematisch-inhaltlichen Ebene der Texte und der lebensweltlichen Erfahrung der AutorInnen.
Insofern tritt Eva Hausbacher bei ihrer Beschreibung einer Poetik der Migration für eine Verbin-
dung von formal-ästhetischen mit inhaltlich-thematischen Analyseaspekten ein, wohingegen die
Auseinandersetzung mit Migrationsliteratur lange Zeit stark von thematischen Fragestellungen
dominiert wurde.
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 125

Autoren zu finden sind [. . .] Bei aller (gottlob) Vielfalt weiblicher Schreibweisen ließen sich
konstante oder zumindest rekurrente Merkmale nachweisen, deren Dichte und Zusammenspiel
weibliche Texte von männlichen unterscheidet, die der linearen (patriarchalischen) Schriftkultur
verpflichtet sind.“ (Rakusa 1984: 289)

Im Folgenden werden zunächst die methodischen Grundlagen und Zugänge zur


Beschreibung von Migrationsliteratur dargelegt: dazu gehören die begriffliche
Abgrenzung von „Migrationsliteratur“ zu den Termini „Emigrations- und Mi-
grantenliteratur“, die Erläuterung der Zusammenführung von postkolonialen
Theoremen mit solchen der Narratologie sowie die Darlegung einer Migrations-
poetik in ihren Grundzügen. Im Weiteren werden anhand von literarischen Bei-
spielen einige zentrale Paradigmen der zeitgenössischen Migrationsliteratur vor-
gestellt.
Kann Literatur von Migration profitieren? Diese Frage stellt sich der deutsche
Literaturkritiker Jörg Magenau (2009) in einer Rezension neuer US-amerikani-
scher Literatur und beantwortet sie positiv:
„Im Erzählen findet dort [in der Migrationsliteratur] eine andauernde sprachliche und kulturelle
Erneuerung statt; Herkunftsländer und Schicksale rücken in den Blick, die weit über den nationa-
len Horizont hinausreichen und dazu beitragen, die natürliche Selbstbezüglichkeit der Kultur auf-
zusplittern. In Deutschland ist das noch neu und ungewohnt und wird entsprechend bestaunt; die
amerikanische Literatur ist ganz selbstverständlich eine Weltliteratur, die ihre Stoffe aus allen
Erdteilen bezieht.“ (Magenau 2009: 76)

Auch in der neueren literaturwissenschaftlichen Forschung wird Migrationslite-


ratur vielfach als neue Weltliteratur betrachtet, als eine Literatur, die außerhalb
nationalliterarischer Kanones steht, ja diese geradezu infrage stellt. Transkultu-
relle Migrationsliteratur ist eine Literatur in Bewegung, so ein Titel des Romanis-
ten Ottmar Ette (2001), die für das „Dazwischen“ in den Literaturen sensibilisiert
und sich nationalphilologischen Kategorien entzieht. Die Literaturwissenschaft
reagiert auf diese neuen Grenzüberschreitungen und interessiert sich in letzter
Zeit für die GrenzgängerInnen zwischen Nationen, Kulturen und Literaturen und
für Phänomene der Uneinheitlichkeit, Verschiedenheit, Verflochtenheit und Mi-
schung (vgl. Anz 1999: 329). Die Lebensläufe der MigrationsautorInnen bringen
eine kulturelle Kompetenz in zwei Kulturen mit sich, die sie in ihren Texten zur
Sprache bringen; sie nutzen das Potential der kulturellen Differenz, in der sie le-
ben, für ihr Schreiben. Homi Bhabha weist in seinen Schriften darauf hin, dass
solche Texte eine neue Position schaffen, einen hybriden Überlappungsraum,
einen sog. „third space“, der sich aus Elementen zweier oder mehrerer Kulturen
zusammensetzt. Diesen Raum müsse auch die Forschung einnehmen, um so ein
neues Konzept der Weltliteratur zu schaffen, das auf die heimatlose Zwischen-
existenz von Migranten und postkolonialen Subjekten eingeht. Es gehe darum,
126 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

einen Spielraum kultureller Synkretisierung, d. h. ein Medium des Aushandelns


[negotiation] kultureller Widersprüche und Antagonismen, zu schaffen und
fruchtbar zu machen (vgl. Bhabha 1994).
Wie sehen nun aber die ästhetischen Transformationen, die sich aus dieser Le-
benssituation „in-between“ ergeben, tatsächlich aus? Ist transkulturelle Konstel-
lation lediglich Gegenstand der Migrationstexte oder prägt sie auch deren Ästhe-
tik? Eine Differenzierung von Emigration und Migration erweist sich als hilfreich
zur Beantwortung dieser Frage und macht die Merkmale der transnationalen Mi-
grationsliteratur besonders offensichtlich. Migration, so unsere These, bringt eine
andere Qualität mit sich als Emigration. Diese andere Qualität kann in den Er-
zählstrukturen mit Hilfe postkolonialer Erzähltheorie aufgezeigt werden. Die
Postcolonial Studies bieten eine Möglichkeit, die Diskussion um die Migrations-
literatur aus der Ecke der ethnisierenden Zuschreibungen herauszuführen, weil
sie eine essentialistische Konstruktion von Identität und Kultur ablehnen und de-
ren performative Verfasstheit betonen. Mit Theoremen aus den Postcolonial Stu-
dies lässt sich der soziologische und biographiezentrierte literaturwissenschaftli-
che Zugang überwinden und das Wirkungspotential der transnationalen Migra-
tionsliteratur beschreiben. Eine „postkoloniale“ Lektüre- und Analysestrategie
macht die kulturellen Hybridisierungsprozesse als literarische Inszenierungen er-
fassbar.
Eine Präzisierung der Begriffe Emigrations-, Migranten- und Migrationslite-
ratur soll vorab unsere Ausgangsposition klarstellen: Die Germanistin Heidi
Rösch fächert in ihrem Aufsatz Migrationsliteratur als neue Weltliteratur?
(2004) die bestehende Begriffsvielfalt auf. Mit dem Terminus „Migrantenlitera-
tur“, der in Anlehnung an ältere Termini wie „Ausländerliteratur“, „Literatur der
Betroffenheit“, „Selbstverständigungsliteratur“ oder „Gastarbeiterliteratur“ ge-
bildet wird, sind meist solche Texte gemeint, die Migrationserfahrungen realis-
tisch schildern und die im Dienste der Kulturvermittlung stehen (vgl. Rösch
2004: 91). Wichtig ist die Abgrenzung zur „klassischen“ Emigrations- bzw. Exil-
literatur, die in vielen europäischen Literaturen im 20. Jahrhundert eine wesentli-
che Rolle spielt. Die Differenzen beruhen zunächst auf außerliterarischen Fakto-
ren: politische Motiviertheit und Unfreiwilligkeit des Kulturwechsels bei den
Emigrations- bzw. ExilautorInnen im Unterschied zur freiwilligen und nicht pri-
mär politisch motivierten Migration. Gleichzeitig lassen sich Unterschiede in der
ästhetischen Gestaltung dieser Literaturen festmachen. Die klassische Emigra-
tionsliteratur bleibt weitgehend einem nostalgischen Opferdiskurs verhaftet, sie
strebt entweder die Angliederung an die kanonische Nationalliteratur bzw. Her-
kunftsliteratur an oder passt sich – im Gegensatz dazu – stark an die kulturellen
Verhältnisse des Gastlandes, bis hin zum Sprachwechsel, an. Die Migrationslite-
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 127

ratur hingegen entwickelt neue, im Zeichen der Transkulturalität stehende ästheti-


sche Paradigmen. Verglichen mit anderen gängigen Begriffen wie „interkulturelle
Literatur“ oder „Literatur der Fremde“ bringt der Terminus Migrationsliteratur
die größte semantische Neutralität und Offenheit für transkulturelle Hybridität
zum Ausdruck.
Gemeinsam ist allen drei Phänomenen, der historischen Emigrationsliteratur,
der traditionellen Migrantenliteratur sowie der transkulturellen Migrationslitera-
tur, die Erfahrung des displacement. Im Unterschied zu den vom Heimatland ab-
geschnittenen Emigranten und den am Heimatverlust leidenden Migranten gibt es
eine Gruppe – wir bezeichnen sie als transkulturelle MigrantInnen –, die es ver-
stehen, zwischen den Kulturen zu oszillieren. Sowohl Stuart Hall (1999) als auch
Homi Bhabha (1994) bezeichnen sie als „Übersetzer“, die gegen hegemoniale
Darstellungsformen intervenieren, indem sie die subversive Grenzzonenperspek-
tive produktiv umsetzen und so transkulturelle Prozesse vorantreiben. Der Be-
griff der „Migrationsliteratur“ bezeichnet demnach auch eine Praxis kultureller
Übersetzung und ein Phänomen der kulturellen Performanz, die sich in verschie-
denen Schreibweisen umsetzt.
Wenn wir davon ausgehen, dass es sich bei Migrationsliteratur nicht lediglich
um eine thematische Gruppe handelt, dann stellt sich die Frage, wie diese neuen
Schreibweisen konkret aussehen, welche Kennzeichen auf der Ebene der literari-
schen Formen und Verfahren sich hier festmachen lassen. Ganz offensichtlich ist
die Wichtigkeit der räumlichen Konstruktion in den Texten; kaum mehr werden
traditionelle Plot-Strukturen aufgebaut, wie wir sie noch in der „Emigrations-“
und „Ankommensliteratur“ sehen, wo meist ein zentrales Subjekt den Plot be-
stimmt. Die Erzählperspektive wechselt in der neuen Migrationsliteratur häufig;
sie ist tendenziell multiperspektivisch. Die Figuren sind nicht mehr als klassische
Individuen gezeichnet, sondern changieren oft zwischen Typik und Phantastik.
Häufig finden wir Zeitstrukturen vor, die eine lineare Zeitkonzeption brechen
bzw. problematisieren. Ganz typisch sind Doppelungen auf allen Ebenen der
Texte, z. B. temporal, wenn Gegenwart und Erinnerungen überlagert werden,
biographisch oder räumlich, wenn Doppelgängerfiguren bzw. Mischorte entwor-
fen werden. Die Sprache nimmt vielfach fremde Elemente auf, über die Bach-
tin’sche Dialogizität hinausgehend. In vielen Texten findet sich das Verfahren
der Mimikry, damit eng verwandt die Aufnahme und das Spiel mit Stereotypen.
Ein letztes Kennzeichen ist die Verwischung von Genre-Grenzen, die Entwick-
lung von neuen (Misch-)Gattungen und die Favorisierung des essayistischen
Schreibens.
In diesen Text-Merkmalen zeichnen sich die (theoretischen) Positionen des
„third space“ relativ klar ab: die Auflösung der in der realistischen Erzähltradi-
128 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

tion herausgebildeten Kategorien von Raum, Zeit, Figur, Perspektive, Stil. Was
diese Poetik der Migration von einer postmodernen Ästhetik unterscheidet, sind
die Rückbindungen an die lebensgeschichtliche Realität, die sich in den gewähl-
ten Stereotypen und Doppelungen manifestieren: Das Einst und Jetzt, das Hier
und Dort ist prägender als im postmodernen Spiel mit den kulturellen Traditio-
nen; gesucht und konstruiert wird nicht mehr ein Raum des „anything goes“, son-
dern ein dritter Raum der Freiheit, in dem individuelle Existenz möglich ist, in
dem „doing culture“ nicht durch vorgegebene Konzepte und kulturelle und politi-
sche Machtapparate eingeschränkt ist. Dabei geht es nicht darum, die Migrations-
texte über Gemeinsamkeiten zu definieren, sondern sie über ihre Orientierung an
spezifischen Diskursen, die oft unterschiedlich literarisiert werden, zu fassen.
Eine Poetik der Migration kann nur ein offenes Modell sein, das hervorstechende
Strukturen in Variationen aufgreift. Es ist ein Beschreibungsmodell, welches
weitgehend unabhängig von Herkunftsland und Sprache funktioniert und so über
den slawistischen und germanistischen Bereich hinaus auf eine neue transkultu-
relle und „transnationale Weltliteratur“ abzielt.
Gemeinsam ist ihnen aber, dass Migrationstexte geprägt sind von den Erfah-
rungen der Grenze und der Grenzüberschreitungen, die deren VerfasserInnen kul-
turell und räumlich vollzogen haben. „Das Interessante liegt im Zwischen“, sagt
Yoko Tawada im Interview (Tawada 2009, o. S.). Dies lässt sich entweder inhalt-
lich fixieren – viele Texte thematisieren auch räumlich die Grenze und ihre Über-
schreitung – oder aber in der Bildsprache und der Vermischung von ästhetischen
Traditionen.

Yoko Tawada: Verwandlungen

Yoko Tawada ist 1960 in Tokyo geboren, studierte Literaturwissenschaften


(Schwerpunkt russische Literatur) und kam 1979 zum ersten Mal mit der transsi-
birischen Eisenbahn nach Deutschland, von 1982 bis 2006 lebte sie in Hamburg,
wo sie Literaturwissenschaft (Neuere deutsche Literatur) studierte, seit 2006 lebt
sie in Berlin. Yoko Tawadas Texte sind nur teilweise übersetzt, sie schreibt in
deutscher und in japanischer Sprache, für ihre Texte in beiden Sprachen erhielt
sie zahlreiche Anerkennungen und Preise, u. a. 1993 den „Akutagawa-Sho“-
Preis, den wichtigsten japanischen Literaturpreis, und 1996 den Adalbert-von-
Chamisso-Preis in Deutschland, der speziell für AutorInnen vergeben wird, die in
deutscher Sprache schreiben, die aber nicht ihre Muttersprache ist. Ihr Werk lässt
sich gattungsspezifisch nicht einordnen, die Grenzüberschreitung ist auch hier
konstitutives Merkmal ihres Schreibens – Prosa, Lyrik, Essays, Hörspiele, Thea-
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 129

tertexte. Ihre Dissertation Spielzeug und Sprachmagie in der europäischen Lite-


ratur trägt den Untertitel Eine ethnologische Poetologie (2000).
Yoko Tawadas Position des „Zwischen“ den Kulturen und Sprachen ermög-
licht eine sprachliche Sensibilität und eine Distanz zu beiden Sprachen, die sie äs-
thetisch zu nutzen weiß. „Wenn ich auf Deutsch schreibe, vergesse ich Japa-
nisch“, sagt sie, „und daher verliere ich Japanisch, wenn ich Deutsch schreibe,
und dann muss ich das wiedergewinnen. [. . .] Alle, die über den Grenzen leben,
haben ein ganz anderes Gefühl. Das klingt für die sesshaften Menschen, die nur
eine Identität haben, vielleicht etwas defekt, etwas verschoben oder komisch,
aber genau das ist es, was uns, also Menschen, die mit mehreren Sprachen zu tun
haben, interessiert. Und das kann man gewinnen dadurch, dass man kein absolu-
tes Vertrauen zu einer einzigen Sprache hat.“ (Tawada 2009, o. S.).
Christine Ivanovic charakterisiert Yoko Tawadas Poetik mit Bezug auf den Ti-
tel einer ihrer japanischen Publikationen (Ekusofoni 2003) mit dem Begriff „Exo-
phonie“, die durch Sekundarität im Verhältnis von Sprache und Sprecher be-
stimmt ist, was in der Schreibweise durch ein anderes Sprechen artikuliert wird,
„das Heraustreten der Stimme aus der Schrift“. Tawada rekurriert auf eigene exis-
tenzielle Erfahrungen, da sie aufgrund ihres Aussehens außerhalb Japans überall
als Fremde und Vertreterin ihrer Kultur identifiziert wird, „während sie selbst
über die Differenz der je anderen Kultur, in die sie eintritt, ins Staunen gerät.“
(Ivanovich 2010: 173)
Programmatisch für ihr poetisches Konzept ist der Titel Verwandlungen ihrer
Tübinger Poetikvorlesungen (1998). Ihre Obsession für die Verwandlung hat sie
in ihrem Buch Opium für Ovid. Ein Kopfkissenbuch von 22 Frauen (2000a) mit
ihrer Wertschätzung von Ovids Metamorphosen verknüpft, aber auch mit dem
berühmten Kopfkissenbuch der japanischen Hofdame Sei Shonagon aus dem
10. Jahrhundert, einem weiteren Klassiker der Weltliteratur. Die Übertragung an-
tiker Figuren in das Hamburg der Gegenwart gelingt Tawada mit Ironie und Sinn
für Komik, mit karnevalesker Lust (Michail Bachtin) durchquert sie im Buch
Räume und Zeiten. Sie erzählt von den Metamorphosen im Leben von 22 Frauen,
die nicht nur die antiken Namen, sondern auch die Fähigkeit zur Verwandlung
von Ovid übernommen haben und sich den mythischen Zuschreibungen zu ent-
ziehen suchen. Für Tawada ist die Fähigkeit zur sinnlichen Verwandlung positiv
besetzt und bedeutet keineswegs Identitätsverlust, weshalb u. a. sowohl Kafka als
auch Ovid zu ihren ReferenzautorInnen zählen, die Einmaligkeit von wechseln-
den Bedeutungszusammenhängen ist konstitutives Merkmal ihres Schreibens. In
ihren Werken verwandeln sich „Dinge in Schrift, Apparate in Geister, Körper in
Buchstaben“ und „Dinge in Lebewesen und Menschen in Tiere oder umgekehrt.“
(Weigel 1996: 6)
130 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

Besonders spannend in ihren Texten sind die unterschiedlichen Sprach- und


Körpererfahrungen, die sich aus der kulturellen Differenz ergeben, nämlich der
aus der unterschiedlichen akustischen und optischen Struktur einer Kultur und
Sprache. Die Bedeutung des Ohres und der Akustik in der japanischen Kultur
steht im Gegensatz zur abendländischen Fixierung auf das Sehen, deshalb sind
der Rhythmus und der Klang von Worten für Yoko Tawadas Schreiben besonders
wichtig, ihre zahlreichen Performance-Auftritte legendär.
In der Titelgeschichte des Bandes Talisman (1996) rätselt die japanische Ich-
Erzählerin, die in Deutschland lebt, über die seltsamen Metallstücke in den Ohren
deutscher Frauen. Sie vermutet, dass sie vielleicht Glücksbringer sein könnten,
doch der ethnologische Blick auf den fremden Gegenstand wird von einer Träge-
rin in der Erzählung nicht bestätigt: „Wie ich schon vermutet hatte, wollte Gilda
nicht über die Bedeutung des Ohrrings reden. Statt dessen erzählte sie mir, daß
Frauen, die ein relativ hohes Bildungsniveau haben, sich relativ spät ein Loch ins
Ohr machen lassen, während Frauen aus der Arbeiterschicht schon als Mädchen
Ohrringe tragen.“ (Tawada 1996, 54)
Die Irritation bei der Lektüre entsteht durch die Entfremdung des Eigenen, die
durch den fremden Blick entsteht. Denn das Tragen von Ohrringen wird in unse-
rer Kultur als Schmuck nicht hinterfragt und das Ohrstechen weder als Verletzung
noch als symbolische Handlung reflektiert. Dadurch werden Grenzen aufgelöst,
und „es bleibt der Prozess und die ästhetische Methode der Verfremdung“. (Mae
2010: 371)
Die Verwandlung wird ganz körperlich zu einem zentralen Motiv des Schrei-
bens, und dem fremden Blick gelingt es dabei, Geschlechterverhältnisse zu hin-
terfragen. Denn die Verschiebung und Verwandlung betrifft auch die Rollenzu-
schreibungen, die als kulturelle Zuschreibungen sichtbar werden. Wie das Zitat,
das diesem Beitrag als Motto vorangestellt ist, zeigt, sieht Tawada unter dem
Gender-Aspekt die Verdoppelung der Position als „Fremde“ und „Frau“. Sie
möchte in ihrer Literatur nicht die Welt der Zeichen entziffern, sondern Differen-
zen sichtbar machen. Und das bedeutet auch, dass sie ein „Verfahren der Dekon-
struktion von Kulturen in Gang“ setzt und in der Distanz zum Eigenen und Frem-
den „einen neuen ästhetischen Ort und eine Quelle ihrer literarischen Kreativität“
gewinnt (Mae 2010: 371). Sprachspielerisch wirft Yoko Tawada einen japani-
schen Blick auf die deutsche Sprache und Kultur. Ihre Wörter bleiben Fremdwör-
ter, weil sie uns die eigene Sprache fremd erscheinen lässt. Als eine wirksame äs-
thetische Verfahrensweise der Verfremdung erweist sich dabei die Übersetzung,
oder, wie ein Buchtitel Yoko Tawadas signalisiert, die Überseezungen (2002).
Viele deutschsprachige Texte Tawadas umkreisen Differenzen der Körperer-
fahrung, wobei in ihrer Poetologie die Worte „Körpersprache“ und „Sprachkör-
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 131

per“ als korrespondierend verstanden werden. Ihre bildhafte Sprache ist durch
Metonymien, also Verschiebungen, und nicht durch Metaphern, also Vergleiche,
dominiert und entspricht damit ebenfalls wieder der Verwandlung als poetologi-
sches Konzept. „Der menschliche Körper soll zu achtzig Prozent aus Wasser be-
stehen, es ist daher kaum verwunderlich, daß sich jeden Morgen ein anderes Ge-
sicht im Spiegel zeigt.“ So beginnt die Erzählung Das Bad (1996: 7). Auch in der
autobiographischen Passage der neun Fragmente wird dieses Faktum themati-
siert, wenn Tawada von der „Russifizierung“ des Körpers durch das Wassertrin-
ken während der Reise mit der transsibirischen Eisenbahn erzählt: „1982 be-
suchte ich zum ersten Mal Europa mit der Transsibirischen Eisenbahn. Es dauerte
11 Tage von Tokyo bis Moskau. War das dasselbe Ich wie vorher, das dort an-
kam? Der menschliche Körper besteht 80% aus Wasser. Da ich in Russland jeden
Tag russisches Wasser trank, wurde mein Körper 80% russisch.“ (Tawada 2003,
Booklet).
Auf singuläre Weise verknüpft Yoko Tawada japanische und deutschspra-
chige Kulturen und Literaturen, macht sprachliche und kulturelle Differenzen
produktiv und mag somit als exemplarisches Beispiel für jene transkulturelle und
intermediale Literatur gelten, die zwar oft beschworen, aber eher selten in zwei
Sprachen geschrieben wird. Als singulär erweist sich dabei auch die „Intermedia-
lität von Wort-Schrift-Text und Tanz und Musik etc. bzw. von Sprache und Kör-
perlichkeit/Sinnlichkeit (Laut, Klang, Rhythmus etc.).“ (Mae 2010: 382) Tawa-
das kulturkritische Position sucht die Hegemonie der Machtansprüche dadurch zu
umgehen, „dass sie Eigenes und Fremdes, Gegenwärtiges und Vergangenes,
räumlich und zeitlich weit voneinander Entferntes, Lebendes und Totes, die Spra-
che der Dinge und der Menschen gleichzeitig vernehmbar macht – und dabei de-
ren jeweilige Autonomie zu wahren versucht. Exophonie bedeutet demzufolge“,
wie Christine Ivanovic resümiert, dass Tawada Geschichte „in ihrer Mehrstim-
migkeit zur Sprache kommen“ lässt (Ivanovic 2010: 205).

Julia Kissina: Groteske und Mimikry

Die russisch-jüdisch-deutsche Autorin Julia Kissina verfremdet ihre Texte mittels


mimikrierender und grotesker Verfahren.2 Das dekonstruktivistische Spiel mit
kulturellen Stereotypen und die grotesken Transformationen ihrer Erzählungen
machen die Überschneidungen der neueren Migrationsliteratur mit den Techni-
ken der Postmoderne, von denen einleitend die Rede war, besonders augenfällig.

2 Ausführlich zu Julia Kissinas Schreiben siehe Eva Hausbacher (2009).


132 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

Sie selbst bezeichnet Julia Kissina als „russische Nomadin im Ausland“ (2006:
54). Sie ist 1966 in Kiew geboren, dort aufgewachsen und lebt seit 1990 in
Deutschland. In den Erzählungen des 2005 erschienenen Bandes Vergiß Taran-
tino begegnet sie der Problematik des interkulturellen Miss-/Verstehens zwischen
Ost und West auf großteils ironische Weise und unter Einsatz von Mimikry und
Groteske. Zu ihren ProtagonistInnen zählen russische MigrantInnen, denen sie
die Funktion von Katalysatoren gibt, die das Eintönige und „Normale“ unserer
westlichen Alltagskultur verfremden und transformieren. In der mimikrierenden
Nachäffung der stereotypen Unterschiede zwischen Russen und Deutschen zeigt
sie die grotesken Auswüchse einer Entgegensetzung kultureller Systeme. Wie
setzt Kissina die Strategie der Mimikry ein? Die Erzählinstanz von Kissinas Tex-
ten bildet immer die diskursive Position der „Russin“, von der aus deutsche und
russische Kulturstereotype artikuliert werden. Indem sie diese Stereotype und
Klischees hyperbolisch, diminutiv, grotesk-dissoziierend und verrückend wieder-
holt, stellt sie sie ironisierend aus. So zersetzt die Mimikry der Erzählerin die Dis-
kurse, an die sie sich partiell anlehnt. Julia Kissina zerpflückt die gegenseitigen
Kulturklischees nicht analytisch, im Gegenteil, ihre ProtagonistInnen reproduzie-
ren diese. Dadurch wird deren Artikulation verdoppelt, die Verdoppelung wie-
derum eröffnet den Zwischenraum für deren Subversion.
Das zweite wichtige literarische Verfahren, das Kissinas Poetik kennzeichnet,
ist die Groteske.3 Es gehe ihr um die Zerstörung von festgefahrenen Kulturwer-
ten, meint Julia Kissina,4 die sie durch das Eindringen von fremden Kulturen er-
reicht. Als „Schleuse“ dafür dient ihr die groteske Darstellungsweise, im Modus
des Grotesken treibt sie die Destruktion der kulturellen Ordnung voran. Damit fa-
vorisiert Kissina eine ästhetische Kategorie, die Groteske, die als typisches Über-
gangsphänomen in der Kulturgeschichte immer schon als Motor für Kulturwan-
del, als Bewegung des (Anders-)Werdens wirksam war. Diese Einschätzung des
Grotesken, wie sie Peter Fuß in seiner Studie Das Groteske: ein Medium des kul-
turellen Wandels (2001) vorschlägt, lässt sich gut mit jenen durch Globalisierung
und Migration ausgelösten kulturellen Veränderungen, für die Kissina als Russin
in Deutschland in besonderem Maße sensibilisiert ist, zusammenführen.

3 Einen Hinweis auf das Groteske als Schlüsselkategorie für das Verständnis der Texte gibt bereits
die Umschlaggestaltung des Erzählbandes. Es handelt sich dabei um eine Fotoarbeit Julia Kissi-
nas aus der Serie „Toys“ (1998–2000). Das groteske Moment stellt sich durch die Dreibeinigkeit
dieser Figur ein, zwischen den beiden Beinen hat sich ein drittes, auf den ersten Blick identisches,
beim genaueren Hinsehen allerdings nur ausgestopftes Puppenbein eingeschlichen. Dieses dritte
Bein transformiert den eigentlich traditionellen Bildcode (im Sitzen lesendes Mädchen in heime-
liger Natur deutscher Waldeinsamkeit), so dass sich die Irritation (ganz zum Schluss) ins Gro-
teske wendet.
4 Telefongespräch mit der Autorin im März 2007.
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 133

Kissina bietet uns in ihren Texten also keine realistische Wiedergabe ihrer ei-
genen Migrationserfahrungen, sondern zeichnet mittels einer grotesken und mi-
mikrierenden Dekonstruktion von Kulturklischees den aktuellen Wandel von
monolithischen Kulturblöcken hin zu hybriden Kulturmischungen nach. Mimikry
und Groteske sind zwei stilistische Posen, wir könnten sie auch als Darstellungs-
modi bezeichnen, die die migratorische Poetik Kissinas kennzeichnen. So z. B. in
der Erzählung Mystischer Heroismus, in deren Zentrum Madam steht, eine ex-
zentrische russische Künstlerin, die mit ihren spektakulär-blutigen Performances
in der Berliner Kunstszene Aufsehen erregt. Ihre Fangemeinde besteht haupt-
sächlich aus russophilen Deutschen, die Russland bzw. wohl eher ihr klischeehaft
besetztes Bild davon lieben. Auf den Performances wird deren projektives Be-
gehren auch bedient – Madam gibt sich mystisch, radikal und erotisch:

„Die Verehrer von Madam waren echt Besessene, fragile Berliner Intellektuelle, die auf Russen
standen. Diejenigen, die im Westen wohnten, besaßen zu Hause einzigartige Sammlungen Origi-
nal-Matrjoschkas vom Flohmarkt. Bei der Begrüßung und beim Abschied nötigten sie jeden zum
dreimaligen Küssen – ,auf russisch‘. Dabei spielte der ,erotische Mehrwert‘ keine geringe Rolle.“
(Kissina 2005: 82)

Diese Exotik bringt frischen Wind in das Berliner Leben (vgl. Kissina 2005: 86),
wobei beide Seiten davon profitieren: die Russen bekommen, indem sie die von
ihnen erwarteten Klischees (Erotik, Irrationalität, Radikalität) ausspielen, Aner-
kennung und Aufmerksamkeit, die Deutschen jenen „Kick“, der ihren lähmenden
Alltag belebt – sogar von einer drogenähnlichen Wirkung der Russen ist die Rede
(vgl. Kissina 2005: 83). Erzählt wird diese Geschichte aus der Perspektive einer
russischen Migrantin, die gemeinsam mit ihrem Liebhaber Dietz – „[auch er] war
eine Art Russomane“ (Kissina 2005: 83) – an diesen Events teilnimmt. Dietz ist
sehr von Madam fasziniert und bietet sich ihr als Modell für künftige Perfor-
mances an (vgl. Kissina 2005: 85). Die Figur der Erzählerin ist zwar ins Gesche-
hen involviert, sie kennt aber als Russin die hier nur inszenierte russische Welt
„wirklich“/von Innen, so dass sie – das Spiel durchschauend – eine Distanz in ih-
rer Erzählweise herstellt, die in der ästhetischen Wirkung des Textes jenen Zwi-
schenraum eröffnet, in dem Kissinas mimikrierende Strategie greift.
Den Höhepunkt bildet die Schilderung einer Kunstaktion, bei der Madam
Klebstoff schnieft: „Vor unseren Augen vernichtete sie sich, und das war wunder-
schön!“ (Kissina 2005: 87) Inszeniert ist diese Aktion als „heilige Handlung“
(Kissina 2005: 87), die von Dietz, der die tödlichen Konsequenzen für Madam
sieht, vehement abgelehnt wird. Der rationale Deutsche will die irrationale Rus-
sin retten. Als er die Performance stört, kommt es zu tumultartigen Handgreiflich-
keiten, bis er schließlich von zwei „Hütern der Kultur“ (Kissina 2005, 89) zusam-
134 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

mengeschlagen wird. Das Ganze endet im Krankenhaus, wo Dietz’ Platzwunde


am Kopf genäht werden muss.
Schon bei diesen Kunstaktionen treten Merkmale des Grotesken auf, bei-
spielsweise wird deren Inszenierung als heiliges Ritual durch ihre karnevaleske
Beschreibung invertiert. Vor allem aber im abschließenden Teil der Erzählung,
der Szene im Krankenhaus, finden sich viele Elemente des grotesken Darstel-
lungsmodus. Hier wird die dichotomische Reihe deutsch-rational-ordentlich-
blutleer-männlich vs. russisch-irrational-chaotisch-blutig-weiblich in umgekehr-
ter Weise reinszeniert. Durch die groteske Darstellung des verwundeten bzw. ver-
arzteten Dietz dringt die zuvor dem Russischen zugeordnete kulturelle Andersar-
tigkeit ins Eigene, d. h. in die deutsche Kultur ein. Die Beschreibung seiner offe-
nen Wunde ebenso wie deren Aussehen nach der ärztlichen Behandlung erinnern
an die karnevaleske Konzeption der verkehrten Welt (Michail Bachtin) sowie de-
ren grotesker Körperkonzeption: Dietz’ Körperinneres quillt durch die offene
Wunde nach außen, nachdem sie genäht wird, erinnert ihn die Narbe an das weib-
liche Geschlecht. Hier ist diese Szene zitiert:
„Eine schneeweiße Fee erschien und rasierte die Stelle um die Wunde herum. Ein blutiger Ab-
grund. Eine harte dicke Spritze bohrte sich in die Haut des Hinterkopfs, und Medizin floß zusam-
men mit dem Blut aus der schrecklichen Wunde heraus. [. . .] Er [ein Pfleger, E. H.] stach mit ei-
ner glänzenden runden Nadel geschickt in die zerfetzte Haut und vollführte schwindelerregende
Bewegungen, die besagten, dass er nun wissenschaftlich fundiert nähte. Seine Bewegungen hyp-
notisierten mich. Nach dieser faszinierenden Prozedur ragten schwarze Fäden wie Fetzen eines
Dornenkranzes aus der obszön rasierten Kopfhaut. [. . .] Am nächsten Morgen fotografierte ich
mit einer Digitalkamera die Wunde und zeigte Dietz die Aufnahme. ,Ich habe eine Möse auf dem
Kopf‘, sagte er trocken.“ (Kissina 2005: 93 f.)

Ilma Rakusa: Erinnerungspassagen

Geboren als Tochter eines slowenischen Vaters und einer ungarischen Mutter im
heute slowakischen Rimavská Sobota, erlebt Ilma Rakusa in den ersten Nach-
kriegsjahren eine vom Kofferpacken geprägte Kindheit mit den Zwischenstatio-
nen Budapest, Ljubljana, Barcola/Triest und der vorläufigen Endstation Zürich.
Dem Wunsch des Vaters nach einem Aufenthalt in einem demokratischen Land
folgend kam die Familie dort 1951 an.
Ihren Wohnsitz hat die Schriftstellerin, Übersetzerin und Publizistin heute noch
dort, aber pedantische Ordnung und emotionale Kälte markieren die Distanz, die sie
immer wieder aufbrechen lässt. Ilma Rakusas persönliche Migrationserfahrung ist in
ihren ersten Kindheitsjahren und ihrer multikulturellen Familiengeschichte verankert
und dient als produktive Quelle für ihre transkulturelle literarische Ästhetik.
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 135

In ihrem Buch Mehr Meer (2009) zeichnet Ilma Rakusa die Spuren ihres an-
deren Gedächtnisses nach, denn ihre „innere Kompassnadel zeigt nach Osten“
(Rakusa 2009: 23). In rund sechzig Erinnerungspassagen – so der Untertitel des
Buches – spürt sie den Gefühlen, Gerüchen, Klängen, Farben und Landschaften
ihrer Kindheit nach und verknüpft sie mit ihren späteren Lebens- und Leseerfah-
rungen: „Ich war ein Unterwegskind. In der Zugluft des Fahrens entdeckte ich die
Welt, und wie sie verweht. Entdeckte das Jetzt, und wie es sich auflöst. Ich fuhr
weg, um anzukommen, und kam an, um wegzufahren.“ (Rakusa 2009: 76)
In fragmentarischen Passagen entwickelt Ilma Rakusa ihre Poetik der Erinne-
rung und des Unterwegsseins, die den nomadischen Lebensspuren folgt und äs-
thetisch den Bogen weit spannt von der Lyrik bis zu Dialogen, von Reflexionen
bis zu Träumen. Es sind Momentaufnahmen, Begegnungen mit Orten, Land-
schaften, Menschen und Büchern. Ästhetisch und thematisch lässt sie uns teilha-
ben am Schauen und Denken, an der Heterogenität und Vielstimmigkeit ihrer Le-
benserfahrungen. Das Buch Mehr Meer ist keine linear erzählte Autobiographie,
die Bilanz zieht und gewonnene Erkenntnisse präsentiert. So wie ihr autobiogra-
phischer Bildungsroman zeichnet sich ihr gesamtes literarisches Schaffen – wie
bei Yoko Tawada und anderen Autorinnen – durch ästhetische Vielfalt und Über-
schreitung von Gattungsgrenzen aus und reicht von der Lyrik bis zum Essay, von
Übersetzungen bis zur Literaturkritik.
Passagen, das sind Durchfahrten und Durchgänge, aber auch Schiffspassagen,
mit denen man übers Meer fahren kann, „über-setzen“ im mehrfachen Wortsinn,
also räumlich, zeitlich und sprachlich. Das Wort Passagen verknüpft sich nicht
zufällig bei Ilma Rakusa mit dem Namen eines Autors, nämlich mit Walter Benja-
min und seinem ästhetischen Konzept des Zusammenspiels von Sehen und Re-
flektieren. In ihren Passagen entwirft Ilma Rakusa einen Zwischenraum, einen
„third space“ im Sinne Homi Bhabhas: „Denn wer unterwegs ist, ist nirgendwo
und überall. Transit, Transfinit. Transnationality.“ (Rakusa 2006: 11)
Im Abschnitt Grenzen ihrer Erinnerungen beschreibt Ilma Rakusa, dass sie
kein Kinderzimmer besaß, aber „drei Sprachen, drei Sprachen hatte ich. Um über-
zusetzen, von hier nach dort“. (Rakusa 2009: 76) Ehe sie in die Schule kam,
sprach sie Ungarisch, Slowenisch/Serbokroatisch, Italienisch. Deutsch wird
schließlich zu ihrem „Fluchtpunkt und Refugium“, in dem sie sich „ein Haus
baut“, und die Sprache, in der sie schreibt und in die sie aus vielen Sprachen über-
setzt (Rakusa 2009: 107). Zuflucht und Schutz bot schon in Triest nicht nur das
durch Jalousien verdunkelte Siestazimmer, sondern auch die Literatur, und be-
reits mit zwölf Jahren war es Dostojevskis Roman Schuld und Sühne, der zum
prägenden Erlebnis wurde. Immer wieder boten auch Musik, Kirchen und Gottes-
dienste ein Gefühl von Geborgenheit.
136 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

Heimat, das ist für Ilma Rakusa kein topographisch festgelegter Ort, sondern
verbindet sich mit Sprache und Literatur. Identitätsfindung, verstanden als „Ich
ist viele“ (Rakusa 2006: 9), hat für sie aber auch mit Grenzerfahrungen zu tun. In
ihren Dresdner Poetikvorlesungen Zur Sprache gehen schreibt sie im ersten Ka-
pitel Transit. Transfinit. Oder: Who am I?:

„In der Dialektik von Grenze und Grenzenlosigkeit kommt der Grenze eine dynamisch-dramati-
sche Bedeutung zu. Sie ist Ort der Passage, des Transports und Transfers, sie ist Knotenpunkt,
Kreuzweg, Durchgangsschleuse. An ihr wächst das Bewusstsein für Andersheit und der Wunsch
nach Transgression. Die Grenze sensibilisiert für Vielfalt und für die Spannung zwischen Innen
und Außen, zwischen Vertraut und Fremd, zwischen Nah und Fern. Für diese Sensibilisierung bin
ich dankbar. Denn zweifellos hat sie dazu beigetragen, daß ich zur schreibenden Grenzgängerin
und Übersetzerin geworden bin. Der Grenzverkehr zwischen Sprachen und Staaten wurde zu
meiner Lebensschule, die Reibung zwischen dem Eigenem und dem Fremden zum künstlerischen
Stimulus. Ich erlebte die Grenze in ihrer (produktiven) Doppeldeutigkeit: nämlich als Schranke
und Brücke in einem. Und als ich mich schreibend daran machte, imaginäre Welten zu bauen,
orientierte ich mich an den Topoi des Grenzgängertums: an Abgrenzung, Transgression und De-
montage ebenso wie an der Herstellung von Zusammenhängen.“ (Rakusa 2006: 10)

Im kulturellen Prozess der Hybridisierung kommt es zur Verlagerung der Gren-


zen im Sinne von Transgression und zu einem Vorgang des Übersetzens, den Ilma
Rakusa für ihr eigenes Leben und Schreiben als Schriftstellerin, Übersetzerin und
kritische Vermittlerin zwischen mittelosteuropäischer und deutschsprachiger Li-
teratur/Kultur als produktiv und ästhetisch konstitutiv beschreibt. Dabei betont
sie inhaltlich und thematisch die Gender-Problematik nur am Rande, reiht sich
aber ein in die literarische Tradition der „Grenzgängerinnen“. Dabei rekurriert sie
in ihren Texten immer wieder auf eine wichtige Lebensstation ihrer Kindheit. Die
Stadt Triest repräsentiert dieses Dazwischen, sie liegt nicht an der Grenze, son-
dern „in der Grenze“, ist „,Teil von ihr‘ – in der kulturellen Landkarte Mitteleuro-
pas verzeichnet – und ebenso in der Textlandschaft Ilma Rakusas.“ (vgl. Schmitz,
220)
Es ist die Stadt, der sie sich auf vielstimmige Weise nähert, in einem Akro-
nymgedicht, Erzählungen, einer essayistischen Prosa, in ihren Vorlesungen, in
Meer Mehr (2009) und ihrem einzigen Kinderbuch Alma und das Meer (2010).
Triest repräsentiert für Rakusa im „Sinne eines Palimpsests [. . .] persönliche
Geschichte vor dem Hintergrund der ,großen‘ Geschichte: hier das Meer mit den
Strandfelsen von Miramar, wo Mutter mir Märchen vorlas, während alliierte Sol-
daten vorbeipatrouillierten, hier das rostrote Haus in Barcola, wo ich zur Siesta-
zeit hinter heruntergelassenen Jalousien zur Wachträumerin wurde – dort die Ri-
siera di San Sabba, die während des Zweiten Weltkriegs in ein KZ umgewandelte
Reisfabrik, in der Juden und slowenische Partisanen festgehalten bzw. zum Wei-
tertransport in die Todeslager eingesammelt wurden.“ (Rakusa 2006: 75)
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 137

Im Sinne des Palimpsests überschreibt sie die Grenzstadt Triest, kommt an


und bricht auf, denn der Grundtopos ihres Schreibens bleibt die Bewegung und
der Topos der Flaneurin. Sie ist eine Reisende geblieben, eine Schriftstellerin und
Übersetzerin, eine Vermittlerin zwischen dem europäischen Osten und Westen.
Es ist das Nicht-auf-ein-Ziel Gerichtete von Ilma Rakusas Schreib- und Lebens-
fluss, der uns bei der Lektüre zu Mitreisenden und Passagieren macht. In Mehr
Meer (2009) entwirft die schreibende Grenzgängerin ihre Poetik des Unterwegs-
seins, deren Wurzeln in ihrer Kindheit liegen.

Marija Rybakova: Topographien der „unhomeliness (of home)“

Ähnlich wie Tawada und Kissina repräsentiert Marija Rybakova die junge Gene-
ration von Migrantinnen, die sich bereits in einer Topographie des „Dazwischen“
befindet.5 Als Enkelin des Schriftstellers Anatolij Rybakov wurde sie 1973 in
Moskau geboren. Sie studierte Klassische Philologie in Moskau, Berlin und Yale
und lebt seither in der Migration: Deutschland, Schweiz, Thailand, Nordostchina
sind ihre bisherigen Stationen, seit 2005 lehrte sie an verschiedenen amerikani-
schen Universitäten. Bei Rybakova gibt es keine nostalgische Verklärung ihrer
Heimat, der Bindung an einen konkreten Ort zieht sie ihr reisendes Leben vor,
wie sie auch in einem Interview aus dem Jahr 2002 festhält:
„Die Erinnerungen sind geblieben. Aber was hat das mit Nostalgie zu tun? Dieses Gefühl ist mir
gänzlich fremd. Ich kehre nach Russland zurück, um die Verwandten und Freunde zu sehen, aber
nicht, weil ich meine liebsten Wände sehen will. Die gibt es für mich generell nicht, ebenso wie
ich keinen konkreten Ort habe, an dem ich leben will.“ (Rybakova zit. nach Pantelej, o. S.)

Dieser biographische Aspekt, Rybakovas nostalgiefreie Migrationserfahrung,


bleibt nicht ohne Einfluss auf ihre Texte, die alle sehr stark topographisch akzen-
tuiert sind. Auch in der Emigrations- und Exilliteratur ist der affektive Bezug zu
einer Landschaft und damit die Raumkategorie in den Texten sehr bestimmend.
Wir kennen Jan Assmans These von den „Erinnerungslandschaften“: Erinnerung
haftet an Orten und Landschaften, so Jan Assmann, Raum ist der bedeutendste
Faktor für die Erinnerungspraxis, in ihm wird die „erlebte Zeit“ verankert (Ass-
mann 1999: 38). Diese kommemorative Funktion topographisch akzentuierter
Texte finden wir auch bei Marija Rybakova. Sie geht allerdings einen wesentli-
chen Schritt weiter als die Emigrationsliteratur, die Räume territorial bindet und
auf konkrete Orte fixiert, und lässt eine transitorische Identität in der Überlap-

5 Ausführlich zu Marija Rybakovas Schreiben siehe Eva Hausbacher (2009).


138 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

pung und Überlagerung von Kulturräumen entstehen. Beispielsweise in dem es-


sayistischen Erzähltext Das Rauschen des Tyrrhenischen Meeres (2003), der eine
literarische Annäherung an den Kulturraum Europa ist, wobei die Problematik
der kulturellen Identität als Orientierungsproblematik thematisiert wird. Rybako-
vas Europa ist eines ohne innere und äußere Grenzen – selbst Gebirgszüge wie
der Ural werden spielend mit dem Fahrrad überflogen, zumindest im Traum:
„Hör zu, als ich noch in Europa war, habe ich folgendes geträumt: Ich setze mich auf ein Fahrrad
und fliege über eine gewaltige Gebirgskette, den Ural oder den Himalaya. Der Fuß des Gebirges
besteht aus geschnitzten Skulpturen, und plötzlich verwandelt sich die Gebirgskette in endlose
Bücherregale. [. . .] Mitten in der Nacht erwache ich plötzlich, und ich erkenne: Die Landschaft –
meine Landschaft – ist eine ganz andere. Nicht das Meer, nicht die Wellen, nicht die Klippen,
nicht der Wein. Sondern das, was ich gerade geträumt habe.“ (Rybakova 2003: 149–151)

Der Text wird als Traum lesbar, das Wechseln der Orte geht fließend, grenzenlos
vor sich, ohne die Distanz, die zwischen den Destinationen liegt, zu bemerken.
Wie die in der Traumarbeit wirksamen Mechanismen der Verschiebung und Ver-
dichtung sog. „Mischpersonen“ erzeugen, erstehen analog dazu in diesem Text
„Mischorte“ oder „Ortshybride“: Beispielsweise erheben sich aus den Wellen des
italienischen Meeres die Mauern eines taoistischen Klosters.
Ein besonders gelungenes Beispiel für die Generierung von Erinnerungsland-
schaften, bei der sich nationalkulturell-verräumlichte und identitäre Fixierungen
überlagern und auflösen, ist die Gestaltung des Heimatgefühls der Ich-Erzählerin.
Dieses wird evoziert durch die Erinnerung an eine Schulstunde in Moskau, in der
ein Horaz-Gedicht grammatikalisch analysiert wird, das die Ich-Erzählerin aber
in einen Tagtraum vom Mittelmeer versetzt. Weil Heimat untrennbar mit Kind-
heitsgefühlen verbunden ist, mit diesem prägenden Tagtraum vom Mittelmeer
und den Erinnerungen an ihre Reisen mit den Eltern ans Schwarze Meer, wird ihr
das Meer und nicht Moskau heimatlich-vertrauter Ort. In Wechselwirkung mit
diesem Raumkonzept entwirft Rybakova ein multiples Identitätskonzept, das sich
in erster Linie aus der Beschäftigung mit Literatur speist: „Jeder von uns ist nicht
nur er selbst, Kind seiner Eltern, jeder ist noch jemand anderes, von dem er in frü-
her Kindheit gehört hat – ein Seefahrer, ein Räuber, ein König.“ (Rybakova 2003:
147) Die Phantasie der Ich-Erzählerin ist seit ihrer Kindheit bevölkert von jenen
Göttergestalten aus den Sagen, die ihr der Vater vorlas. Bezeichnenderweise ist es
die griechische Göttin Io, die für die Identitätsfindung der Erzählerin Modell
steht. Io, „die Wandelnde“, wird nach einem Liebesabenteuer mit Zeus von der
eifersüchtigen Hera in eine weiße Kuh verwandelt und von Argos bewacht; als
sie schließlich befreit wird, wird Io von Heras Bremse gestochen und läuft ziellos
von Land zu Land umher, bis sie in Ägypten Ruhe findet. Mit dem Verweis auf
diesen Mythos unterläuft Rybakova die Fixierung ihrer Ich-Erzählerin auf eine
Fremde Stimmen. Zur Migrationsliteratur zeitgenössischer Autorinnen 139

russische Identität, die Festschreibung ihres Europas auf bestimmte, durch Gren-
zen gesicherte Räume. Rybakovas „Literatur ohne festen Wohnsitz“ (Ette 2004:
242) führt zur Durchdringung zuvor voneinander abgegrenzter transkultureller
Räume. So verwandelt sich eine Decke, unter der sich die Erzählerin und ihr Ge-
fährte verkriechen, in eine derartige fließende und grenzenlose Landschaft:
„Taubblind verwandeln wir die Wärme der Decken in Landschaften unserer
Phantasie. Zu einem Knäuel zusammengerollt, hält sich jeder da auf, wo er will.“
(Rybakova 2003: 151)
Wir haben hier also ein Beispiel für die textuelle Gestaltung einer transitori-
sche Raumpraxis, die den Wandel von monolithischen Kulturblöcken hin zu hy-
briden Kulturmischungen, den wir aktuell miterleben, spiegelt.
Rybakovas Texte – insbesondere ihr Roman Die Reise der Anna Grom (2001)
– sind auch wunderbare Beispiele für die Übertragung des Freud’schen Unheim-
lichen von der intrasubjektiven auf die interkulturelle Ebene, wie sie Homi
Bhabha in seinem Konzept der „unhomeliness of home“ vornimmt. In seinem
gleichnamigen Aufsatz von 1919 prägte Freud den Begriff des Unheimlichen, um
darauf hinzuweisen, dass ein Erlebnis des Unbehagens, das einen wiederholt an
den Ursprungsort (Familie, Heim, Heimat) zurückführt, gerade nicht auf eine ur-
sprüngliche Intaktheit zurückgreifen kann, sondern vielmehr immer wieder den
Bruch in der vertrauten Lebenswelt zum Ausdruck bringt. Das Unheimliche sei
„jene Art des Schreckhaften, welche auf das Altbekannte, Längstvertraute zu-
rückgeht“ (Freud 1947: 231). Das Andere ist nie außerhalb oder jenseits von uns
verortet, sondern ist eine Stelle inmitten unseres psychischen Apparates. Bhabha
nimmt Freuds metaphorische Dialektik beim Wort, um sie ganz konkret auf die
Erfahrung, die für den interkulturellen Diskurs kennzeichnend ist, zu übertragen.
Seine „unhomeliness of home“ weist auf die Stelle innerhalb jeden kulturellen
Systems, in dem sich kulturell Anderes verortet. Es gäbe eine Übereinstimmung
zwischen den kulturellen Prozessen der Entortung und den psychischen Prozes-
sen des Unbewussten, zwischen wirklicher geographischer Entortung und dem
fremden, anderen Schauplatz in jedem von uns.

Fremdsein ist eine Kunst

In ihrer Rede Löcher in die Mauer bohren definiert Barbara Frischmuth als Auf-
gabe für SchriftstellerInnen ihre Position als GrenzgängerInnen, und das sind für
sie vor allem die „Migranten der Literatur“, die dazu beitragen, die Spannung
zwischen dem Eigenem und dem Fremden zu thematisieren: „So wenig sie ohne
ihre eigene Kultur sein können, so sehr neigen sie dazu, das Eigene mit den Au-
140 Christa Gürtler und Eva Hausbacher

gen von Fremden zu sehen. Und gerade dieses Blickwinkels bedarf es am vor-
dringlichsten. Nur auf diese Weise entsteht so etwas wie Klarsicht.“ (Frischmuth
1999: 72)
Doch diese Klarheit bedeutet nicht, dass Differenzen und Grenzen aufgeho-
ben werden, sondern dass der Blick freigegeben wird auf die anderen und damit
auch auf uns. Die Schriftsteller als Reisende zwischen den Kulturen können hof-
fen, „daß uns dabei möglichst viele von den jeweils ,Unsrigen‘ über die Schulter
schauen, um dasselbe zu sehen wie wir, nämlich einen Spiegel.“ (Frischmuth
1999: 76)
Nicht nur thematisch, sondern auch ästhetisch verschränken die Grenzgänge-
rinnen Yoko Tawada, Julia Kissina, Ilma Rakusa und Marija Rybakova in ihren
Werken transkulturelle und genderbewusste Positionen. Sie plädieren in ihrer
Stimmenvielfalt für Klarsicht und sehen die Position der Fremdheit als Vorausset-
zung für ihr Schreiben, wie Yoko Tawada sie formuliert: „Fremdsein ist eine
Kunst. Man ist ja nicht unbedingt fremd, eigentlich fühle ich mich ganz zu Hause
hier. Aber das Fremdsein braucht der Autor immer, auch im eigenen Land, dass
man nicht ein blinder Teil von einem Ganzen ist, dass man Distanz hat, dass man
nicht einverstanden sein kann oder selbstverständlich empfindet, dass man immer
denken kann, es könnte anders sein, das ist Fremdsein.“ (Tawada 2009, o. S.)

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Abschnitt II:
Aktuelle Migrationsdebatten
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang
von Migration und Gender
Podiumsdiskussion

1 Einleitung: Sprache, Migration und Zugehörigkeit

„Kann die Migrantin Sprechen?“, unter dieser Fragestellung organisierten die


Herausgeberinnen des Bandes am 11. 5. 2010 eine Podiumsdiskussion an der
Universität Salzburg. Eingeladen waren VertreterInnen von verschiedenen Orga-
nisationen, die in Salzburg mit MigrantInnen arbeiten bzw. in denen Migrantin-
nen involviert sind. Zu Gast waren: Die Integrationsbeauftragte und Leiterin des
IKUs Gerlinde Ulucinar Yentürk vom Büro für interkulturelles Zusammenleben
in Hallein, Integrationskoordinator Manfred Oberlechner von der Migrations-
stelle des Landes Salzburg, Angela Lindenthaler vom Verein Viele, Danijela Ris-
tic von der Radiofabrik Salzburg und Ebru Yurtseven von der Muslimischen Ju-
gend Salzburg. Moderiert wurde die Podiumsdiskussion von Eva Schmidhuber,
der Programmkoordinatorin der Radiofabrik Salzburg.
Der Titel „Kann die Migrantin sprechen“ nahm Bezug auf Gayatri Spivaks
Schlüsseltext postkolonialer Theorie: „Can the subaltern speak?“ Spivaks Ant-
wort darauf ist wenig optimistisch: Die „fremde“ Frau bleibe immer lediglich Re-
präsentierte und besitze als diese „Andere“ keine Stimme, da sie entweder nicht
gehört wird oder ihrem Sprechen eine „westliche“ Interpretation eingeschrieben
wird. Die TeilnehmerInnen auf dem Podium diskutierten angeregt, aber durchaus
vom theoretischen Zugang Spivaks abweichend diese Frage, die sie in einem sehr
wörtlichen Sinne interpretierten. Ja, so die überwiegende Meinung, sie könne
sprechen, müsse dies jedoch doppelt so laut tun wie andere BürgerInnen, um ge-
hört zu werden. Nimmt man in diesem Sinne die im Titel formulierte Frage wört-
lich, dann bedarf es zum Sprechen im Ankunftsland einer Sprachkompetenz, um
sich in der Sprache des Landes artikulieren zu können. Eine Gegenfrage zu
„Kann die Migrantin sprechen?“ ergab sich während der Ringvorlesung „Will
man die Migrantin auch hören?“ So formuliert näherte sich die Podiumsdiskus-
sion wiederum postkolonialen Erklärungsansätzen an.

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_8,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 145

2 Sprache: Wer spricht? Wer wird gehört?

Eva Schmidhuber: Der Titel der Ringvorlesung, in die auch diese Podiumsdis-
kussion eingebunden ist, lautet: „Kann die Migrantin sprechen?“ Wie empfindet
ihr diesen?
Danijela Ristic: Ich habe an mich gedacht, als ich das erste Mal in Salzburg, in
Österreich, war. Zu diesem Zeitpunkt war ich Migrantin, Deutsch konnte ich
noch nicht. Man hätte also sagen können: „Die kann nicht sprechen“. Allerdings
beherrsche ich meine Muttersprache gut und empfand meine Kenntnis einer Mut-
tersprache als Voraussetzung, weitere Sprachen zu lernen. Zudem habe ich mir je-
den Tag mehr Gedanken darüber gemacht, dass ich ohne Sprache nicht weiter
kommen werde. So geht es wahrscheinlich vielen Migrantinnen, die kein Wort
Deutsch verstehen. Dementsprechend finde ich, dass dies ein Thema bzw. eine
Frage von großer Bedeutung ist. Denn für jede Frau ist es sehr wichtig, dass sie
selbstständig wird und die Sprache lernt.
Ebru Yurtseven: Ich würde gerne diese Frage etwas umformulieren: „Sind Men-
schen überhaupt bereit, das, was – in meinem Fall – die muslimische Frau zu sa-
gen hat, anzuhören und auch anzunehmen?“ Man spricht sehr gerne über die
muslimische Frau als „die Arme“, „die Hilflose“, „die Unterdrückte“. Dies erregt
ungewollt den Anschein, dass man lieber so tut, als ob sie nicht sprechen kann,
und daher muss man gezwungenermaßen über sie statt mit ihr sprechen. Deswe-
gen die Gegenfrage: „Sind wir bereit, das Gesagte – denn die muslimische Frau
kann sehr wohl sprechen über ihre Lage, über ihre Position – ernst zu nehmen und
anzunehmen?“
Angela Lindenthaler: Als ich den Titel „Kann die Migrantin sprechen?“ las,
dachte ich, dass die Migrantin sehr wohl sprechen kann, allerdings muss sie dies
doppelt so laut tun wie jede Österreicherin, die keine Zuwanderungsgeschichte
hat, um gehört zu werden. Sie ist nämlich in Österreich doppelt benachteiligt: ers-
tens ist sie eine Frau und zweitens ist sie Migrantin. Dadurch wird alles viel
schwieriger, sei es bei der Arbeit oder beim Verdienst, wo sie doppelten Benach-
teiligungen ausgesetzt ist.
Manfred Oberlechner: Für mich ist es so selbstverständlich, direkt mit Migrantin-
nen zu sprechen, dass ich erst überlegen musste, was hinter dem Titel stecken
könnte. Was das Thema Migration anbelangt, haben Frauen eine sehr wichtige
Rolle, nämlich eine sehr wichtige Mittlerfunktion, und ich habe es als Bereiche-
rung empfunden, mit Frauen über Integration, über Spracherwerb zu sprechen.
Ich kenne Frauen mit Migrationshintergrund, die im Landesdienst beschäftigt
146 Podiumsdiskussion

sind, ich selbst unterrichtete Mitarbeiterinnen des Landes mit nichtdeutscher


Muttersprache, und ich habe viel von diesen Migrantinnen gelernt.
Gerlinde Ulucinar Yentürk: Aus meiner beruflichen Praxis im Beratungsbüro kann
ich von Frauen berichten, die viel „sprechen“. Das größte Problem ist allerdings, ob
sie überhaupt „gehört“ werden. Da wir in einer Leistungsgesellschaft leben, werden
Probleme von Frauen mit Kindern, mit arbeitslosen Männern etc. häufig ausgeklam-
mert. Ich merke oft in Beratungssituationen, wenn ich die Probleme der Frauen an
entsprechende Stellen weitertrage, dass es immer wieder zu negativen Reaktionen
wie persönlichen Schuldzuweisungen kommt. Damit wird das Problem individuali-
siert, und es heißt oft, jeder sei für sich selbst verantwortlich.
Eva Schmidhuber: Eine kleine Randbemerkung: Diese Diskussion heute hätte
fast ohne migrantische Beteiligung stattgefunden, also auch bei einer Podiums-
diskussion über Migrantinnen wäre es fast passiert, dass nur über sie gesprochen
wird, aber die Migrantin nicht selbst spricht. Mich erinnert das an Podiumsdis-
kussionen in feministischen Zusammenhängen, auch hier war es fast immer The-
ma, dass zumindest eine Frau auf einem Podium sitzen sollte.
Ebru Yurtseven: Bei den jungen Muslimen in Österreich wollen wir das Bild der
muslimischen Frau innerhalb der Gesellschaft, der österreichischen Gesellschaft
verändern. Wir möchten, dass auch an gebildete muslimische Frauen gedacht
wird, denn die jetzige Generation der österreichischen Musliminnen ist gebildet,
strebt eine akademische Karriere oder Ausbildung an und möchte nicht als un-
mündige Frau gesehen werden. Das ist ein Anliegen aller jungen muslimischen
Frauen, mit denen wir zusammenarbeiten. Die muslimische Frau ist keine hilflose
unmündige Frau, über die gesprochen wird. Sie möchte gehört werden, darum
möchten wir auch für diese jungen Frauen Möglichkeiten schaffen, in dieser Ge-
sellschaft aktiv zu partizipieren und sichtbar zu werden, als gebildet, modern und
aktiv. Die muslimische Frau soll sagen können: „Ich kann selbst mein Leben be-
stimmen und ich entscheide, was ich anziehe, was ich nicht anziehe, wie ich
rede“. Alles Freiheiten, die selbstverständlich sind, und diese Werte wollen wir
vermitteln.

3 Migration als Emanzipationsprozess?

Eva Schmidhuber: Damit sind wir jetzt wieder zum ursprünglichen Thema zu-
rückgekehrt. Eigentlich habe ich es sogar ein bisschen umfassender gemeint,
nicht nur auf die feministische oder auch muslimische Frau bezogen, sondern
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 147

dass Integration generell ein Emanzipationsprozess ist, in dem doch eigentlich ei-
nige Strategien da wären die man nützen könnte oder aber die man bedenken
muss. Das ist ein Beispiel dafür, dass es, wie mir sehr oft auffällt, sehr viele Paral-
lelen zwischen den Problemen, den Lösungsstrategien, den Ansätzen im feminis-
tischen, also im weiblich emanzipatorischen Bereich gibt und auch im Bereich
des Integrations-Migrations-Diskurses. Nun würde mich interessieren, ob ihr da
auch Zusammenhänge seht? Findet ihr, dass man aus den Erfahrungen des Femi-
nismus und der Emanzipation etwas für diesen Prozess lernen könnte, oder ist es
für euch etwas ganz anderes?

Angela Lindenthaler: Die feministische Bewegung ging damals sehr stark von
Frauen aus und war von ganz vielen tollen und mutigen Frauen geprägt, die
schlussendlich Vorreiterinnen für das waren, was für uns heute teilweise selbst-
verständlich ist. Dann möchte ich noch ein Kompliment an die muslimische Ju-
gend in Österreich aussprechen, die sich auch wie Frauen zusammen getan haben
und laut sind und in die Öffentlichkeit gehen, um zu sagen: „Wir sind so, wie wir
sind!“ Da sind durch die Bank selbstbewusste, intelligente, ehrgeizige, energi-
sche Frauen dabei, die auch schon sehr viel geschafft haben. Also wenn ich zu-
rückdenke, was eine Frau mit Kopftuch in der Öffentlichkeit vor zehn Jahren war
und was sie heute ist, ist das ein enormer Unterschied. Es ist auch nicht zuletzt
diesen Frauen zu verdanken, wie sie dasitzen in der Öffentlichkeit und sagen:
„Schau ich unterdrückt aus, schau ich aus, als würde ich das Kopftuch aus Zwang
tragen? Nein ich trag es, weil ich es tragen will, und aus.“ Man nimmt Frauen ein-
fach nicht ernst, und es sollte nicht nur für muslimische Frauen eine Plattform ge-
ben, sondern für all diese Frauen.
Ich werde eine Situation mit Kadar, einer Somalierin, nie vergessen. Kadar ist
aus verschiedenen Gründen nach Österreich geflüchtet. Als ihre Betreuerin bin
ich mit ihr zum Amt gefahren. Wir sind mit dem Bus gefahren, und die Situation
war unerträglich. Somalische Frauen tragen auch Kopftuch und einen langen
Rock. Die Leute haben sie ständig verachtend angeschaut, und es war für uns bei-
de eine sehr ungute Situation. Ich hab mir ständig überlegt, ob ich zu den Leuten
was sagen, sie ansprechen und fragen soll, warum sie das tun. Kadar hat das dann
selbst zum Thema gemacht und gesagt: „Ich habe eine so schwere Reise hinter
mir, ich war über Monate in einem kleinen Boot auf offener See, in dem 50 Men-
schen waren – fast nur Männer – und sehr viele sind gestorben. Dann komm ich
nach Österreich, und die Leute schauen mich an, als wäre ich der letzte Dreck,
aber ich habe keine Angst.“ Und sie hat die Leute einfach angelächelt. Dann frage
ich mich schon, eine Frau, gerade ein Flüchtling, die einen so weiten Weg und so
eine Strapaze auf sich nimmt, die hat es verdient, in Österreich gehört zu werden
148 Podiumsdiskussion

und einen Platz zu finden. Und sie hat es verdient, als Frau ein besseres Leben zu
führen, als es in ihrer Heimat möglich war.
Manfred Oberlechner: Es liegt auf der Hand, dass es hier Überschneidungen gibt,
und man muss daher die Integration breiter auffassen, als gemeinsames Projekt,
das uns alle betrifft, sei es Menschen mit Behinderung, sei es Menschen mit ande-
rer sexueller Orientierung, mit oder ohne Migrationshintergrund. Die Gesell-
schaft besteht ja realiter aus sehr vielen Minderheiten, da findet man entspre-
chend Analogien aus der feministischen Forschung bis hin zur Integrationsfor-
schung. Natürlich geht es um Partizipation, um Emanzipation und um eine gleich-
berechtigte Teilhabe. Es geht eigentlich um die Durchsetzung von Menschen-
rechten, um Werte, die uns alle betreffen.
Und in einen negativen Teufelskreis in der Integrationsdebatte dürfen wir,
meiner Meinung nach, einfach nicht geraten. Es ist schon richtig, dass es Pro-
bleme gibt, aber wir sollten nicht immer nur die negativen Seiten sehen. Es gibt
auch viele positive Seiten, wie es auch beispielsweise viele Jugendliche mit Mi-
grationshintergrund gibt, die bereit sind, einen positiven Beitrag zur Integration
zu leisten. Zum Beispiel klappt es bei den Burschen immer wieder: Ich weiß
nicht, ob sie Zinédine Zidane kennen, den französischen Fußballspieler. Bei dem
wird weniger gefragt: „Woher kommt er denn eigentlich?“ Er ist ein französi-
scher Fußballspieler. Warum ist er französisch, wieso wird er von den Franzosen
als Landsmann anerkannt? Weil er einfach erfolgreich ist. Er vertritt Frankreich,
er spielt extrem gut Fußball und hat super Tore geschossen. Er ist ein Teil von
„uns“, und dieses Beispiel zeigen wir auch den Burschen mit Migrationshinter-
grund, um ihnen zu zeigen, dass sie, wenn sie einen positiven Beitrag leisten,
auch von der Gesellschaft angenommen werden. Solange sie sich verschließen
und sagen: „Sie wollen uns nicht und wir sind eh nicht von hier.“ Solange sie so
denken, versperren sie sich selbst den Weg und werden von der Mehrheitsgesell-
schaft nicht angenommen.
Gerlinde Ulucinar Yentürk: Wir sollten einmal die Perspektive wechseln: „Wo
sind unsere Unzulänglichkeiten?“ Denn man fragt nicht: „Was kann ich nicht?“,
sondern man fragt immer: „Was kann der andere nicht?“ Das wäre auch für uns
wichtig, das Thema der Unterdrückung der Frau nicht der muslimischen Frau zu-
zuschieben, sondern dass wir uns selbst mit dieser Thematik auseinandersetzen.
Was das Thema mit uns zu tun hat? Also ich versuche immer, wenn ich einer
Muslimin gegenübersitze, den Weg zu gehen, mich zu fragen: „Was hat das, die-
ses Thema, mit mir zu tun?“ Wir neigen dazu, über die Schwächen der anderen,
aber nicht über die unsrigen zu sprechen. Man sehe sich nur die Presse an, es
kommt in jedem Diskurs vor, dass man über diese Unzulänglichkeit spricht. Ich
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 149

denke, man sollte darüber sprechen, welche Qualifikationen und Ressourcen die
Migranten oder Migrantinnen mitbringen, die für unsere Gesellschaft wichtig wä-
ren. Unsere Gesellschaft bewegt sich ja in diese Richtung, weil wir immer mehr
Migranten und Migrantinnen haben werden. Und so haben wir davon ein Bild, so
wie es viele Frauen auch in der Integrationsdebatte haben. Aber es fehlt dieser fe-
ministische Ansatz im Tun, im Leben da wird dieser Integrationsprozess vor sich
gehen, aber nicht in der Theorie alleine. Ich merke dann auch, wenn ich mit ganz
einfachen Frauen Workshops mache, wie viel an Wissen und Kompetenz vorhan-
den ist, auch wenn sie vielleicht nicht gut lesen und schreiben können, aber dafür
andere Kompetenzen haben, die wir nicht haben. Und das ist ein Punkt, an dem
wir ansetzen sollten.

4 Deutschkurse, Kinderbetreuung und andere Fördermaßnahmen

Eva Schmidhuber: Wir arbeiten alle in Projekten, in denen es Frauen mit Migra-
tionshintergrund gibt. Nun wollte ich euch fragen, welche Erfahrungen ihr damit
gemacht habt. Vielleicht könnt ihr kurz erklären, wie ihr arbeitet und auch was
das Ziel dieser Projekte/Arbeit ist, denn das Problem liegt nicht nur beim man-
gelnden Zuhören.
Gerlinde Ulucinar Yentürk: Im „Büro für interkulturelles Zusammenleben“ in
Hallein bieten wir im Bereich Frauenarbeit den Deutschkurs „Mama lernt
Deutsch“ an. Wir versuchen dort für Frauen, die 20 oder 30 Jahre lang hier sind,
ein Angebot zu schaffen, bei dem sie die Möglichkeit haben, Deutsch zu lernen,
und gleichzeitig andere Angebote wahrnehmen können. Wir schieben z. B. indi-
viduelle Beratungstermine ein, und die Frauen haben dort die Möglichkeit, über
ein Gesundheitsproblem zu sprechen. Wenn wir eine neue Projektfinanzierung
bekommen, können wir verschiedene Themen aufnehmen und versuchen, Ver-
schiedenes anzuhängen. Weiters kooperieren wir mit Vereinen wie z. B. AVOS,
mit denen wir verschiedene Gesundheitsprojekte entwickeln. Es ist wichtig, die
Gesundheit zu fördern und bei den Frauen Bewusstseinsbildung zu fördern. In
den Workshops haben sie die Möglichkeit, sich selbst neu zu erfahren und sich
selbst kennenzulernen. Ich merke speziell bei Migrantinnen, dass sie sehr fami-
lienorientiert denken, für die anderen da sind und sich selbst dabei vergessen.
Darum brauchen wir einen dementsprechenden Schwerpunkt, um zu lernen, was
heißt das überhaupt, für sich selbst da zu sein, sich zu fühlen, sich zu spüren. Vie-
le haben gar kein Gespür für sich selbst, weil sie immer sehr nach außen orientiert
sind. Die Kinderbetreuung ist bei solchen Projekten sehr wichtig. Ohne Kinder-
150 Podiumsdiskussion

betreuung bekommt man keine einzige Frau in ein Projekt. Darum haben wir es
uns zur Regel gemacht, dass wir bei Projekten auch für eine Kinderbetreuung an-
suchen, das ist die Grundvoraussetzung. Es ist auch teilweise nötig, Bedürfnisse –
wie sich zu äußern, zu sprechen, nach außen zu gehen – erst zu wecken. Wobei
man sehr sensibel vorgehen muss, da man nicht von seiner eigenen Haltung aus-
gehen kann. Man muss die Frau – die spezielle Kultur, aus der sie kommt – be-
rücksichtigen, um dann herauszufinden, was für sie wichtig wäre. Da man aber
mehrere Frauen vor sich hat und alle verschiedene Bedürfnisse haben, muss man
versuchen, den Mittelweg zu gehen.

Angela Lindenthaler: Der Verein VIELE ist ein Frauenzentrum, eine Familienbe-
ratungsstelle und ein Bildungszentrum für Frauen und auch die einzige Stelle in
Salzburg, die sich speziell für Migrantinnen einsetzt und auch nur für Migrantin-
nen und Frauen da ist. Wir bieten diverse Deutschkurse und Integrations-, also
Alphabetisierungskurse an. Bei den Alphabetisierungskursen ist es für mich im-
mer das schönste Erlebnis, wenn man sieht, wie die Frauen mit Mut und Energie
dasitzen und das Alphabet lernen, egal ob es eine 20-Jährige ist, die nicht in die
Schule hat gehen dürfen, oder eine 55-Jährige, die dasitzt und das Alphabet lernt
und zum ersten Mal erlebt, wie es ist, etwas lesen zu können.
Wir haben auch kostenlose Kinderbetreuung, denn das gehört einfach dazu,
da die meisten Frauen Kinder haben, und wenn man ihnen keine Kinderbetreu-
ung anbietet, haben sie nicht die Möglichkeit, außer Haus zu gehen. Möglicher-
weise auch, weil sie nicht das Geld haben, das Kind in Betreuung zu geben. Wir
bieten Erziehungsberatung, Gesundheitsberatung und rechtliche Beratung an.
Denn es ist sehr wichtig, wenn Frauen gerade nach Österreich gekommen sind,
dass wir sie über die Rechte als Frau aufklären. Denn die meisten kommen aus
Ländern, wo es nicht gang und gäbe ist, dass Frauen Rechte haben. Das ist eine
sehr große Umstellung, die auch mit „Aha-Erlebnissen“ verbunden wird – zu
lernen, wie viel Freiheit und Pflichten man hat. Diese Gesetze und Rechte, die
man als Frau in Österreich genießen kann, werden dann auch schnell gut und
gerne angenommen. Es ist nicht selbstverständlich, dass wir Frauen in Öster-
reich dem Mann gleichgestellt sind. Das ist in sehr vielen Ländern der Welt
ganz anders. Für die Frauen, die nach Österreich kommen, ist das zuerst ein
Schockerlebnis und dann ein langsames Vortasten und Aufblühen. Es ist auch
sehr wichtig für uns, die Frau in der Beratung im Sinne des Empowerments da-
hin zu führen, dass sie selbstständig etwas erreichen kann. Dass sie es zu etwas
bringen kann, dass sie, wenn sie an sich arbeitet und eine Ausbildung macht, es
wirklich genauso weit bringen kann wie ein Mann, denn diese Chance ist in Ös-
terreich realistisch.
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 151

Publikum (Elisabeth Klaus): Heute war im Standard ein Bericht über ein Projekt,
das vielleicht viele von Ihnen kennen: Karma heißt es, und es dreht den Spieß um
und sagt weniger, dass wir Angebote an die Migranten und die Asylbewerber und
die Flüchtlinge machen müssen, damit sie sich integrieren, sondern dass wir sie in
ihren Kompetenzen ernst nehmen und Kurse anbieten müssen z. B. in afrikani-
scher Sprache, im indischen Kochen. Der Standard berichtet, dass dieses Projekt
sehr gut angenommen wird und es würde mich interessieren, ob es in irgendeiner
Form solche Projekte bei den hier vertretenen Institutionen gibt oder angedacht
werden.
Als Zweites wollte ich noch sagen, dass wir ja ein Proseminar „Medien und
Migration“ haben, und da haben wir letzte Woche eine Wissenschaftlerin mit mi-
grantischen Hintergrund zu Gast gehabt, die sich ganz stark gegen den Integra-
tionsbegriff selber gewehrt hat. In dem Zusammenhang haben wir unter anderem
auch über diese Veranstaltung „Mama lernt deutsch“ gesprochen, und das würde
ich gerne noch mal aufgreifen, da sie gesagt haben, sie sprechen insbesondere
Mütter an. „Mama lernt deutsch“ hat für mich als feministische Frau erstmals eine
ganz negative Konnotation. Sie haben sich sicher etwas dabei gedacht, aber es
spricht ja nicht gerade die Frau als selbstbewusstes Wesen und Subjekt an, son-
dern es spricht ja die Frau durch den Blick der Kinder oder des Mannes an, die sa-
gen: „Die Mama muss auch Deutsch können, damit sie ihren Erziehungsaufgaben
gerecht werden kann“. Da haben wir darüber diskutiert, und deshalb würde ich da
gerne noch hören, was der Hintergrund war, das Projekt so zu nennen.

Gerlinde Ulucinar Yentürk: Entstanden ist es nicht als „Mama lernt deutsch“,
sondern als „Deutsch für muslimische Frauen“. Darauf sind die Wogen hoch ge-
gangen, wie können wir als Verein Kristall, die erste interkulturelle Anlaufstelle
in Hallein, so einen Kurs anbieten, wo wir doch überhaupt keine Ahnung davon
haben, und das für muslimische Frauen. Die Bezeichnung entstand aus einer Un-
bedarftheit heraus, und wir haben nicht viel überlegt. Wir wollten einfach etwas
für muslimische Frauen anbieten, die nicht die Möglichkeit hatten, den Deutsch-
kurs der Volkshochschule zu besuchen, da sie sich wegen der dort anwesenden
Männer geschämt hatten. Wir wollten nicht mit den Männern gemeinsam, wir
wollten unter uns Frauen sein. Deshalb wurde dieses Projekt entwickelt. Darauf-
hin haben wir den Namen gelassen und es als „Deutsch für Frauen mit Migra-
tionshintergrund“ für die Volkshochschule angeboten, später ist dann der Titel
„Mama lernt deutsch“ über Deutschland und Wien zu uns getragen worden. Weil
das in Deutschland ja sehr erfolgreich gelaufen ist, haben wir ohne viel zu überle-
gen auch den Titel „Mama lernt deutsch“ übernommen. Von den Frauen hat sich
da niemand negativ angesprochen gefühlt, sie fühlten sich ja als Mamas. Für sie
152 Podiumsdiskussion

war es nie ein Problem, dass der Kurs „Mama lernt deutsch“ heißt. Da es in
Deutschland die Bezeichnung „Mama lernt deutsch, Papa auch“ gibt, wurde die
Idee weitergedreht. Ich hab das für die Frauen immer als eher positiv empfunden,
die Frauen fühlen sich auch angesprochen. Sie sagen: „Ja, da hab ich auch Kin-
derbetreuung, da kann ich etwas für mich tun, da kann ich Themen aufgreifen, wo
keine Männer dabei sind, da hab ich meine Ruhe, da wird Kaffee getrunken, da
werden auch Probleme besprochen.“ Man lernt ja nicht nur Deutsch, man hat
viele andere Dinge nebenbei, wie zum Beispiel das Mama/Frauen-Café auch.
Zum ersten Projekt würde ich auch noch gerne etwas sagen: Ich bin gerade
heute über eine ehrenamtliche Mitarbeiterin, eine Lehrerin, die jetzt pensioniert
ist und die sehr engagiert beim IKU mitarbeitet, darauf aufmerksam gemacht
worden. Ich finde die Idee grundsätzlich sehr gut, dass Leute aus der MigrantIn-
nenszene Selbstinitiative ergreifen. Das Problem dabei ist immer, und das kann
ich aus jahrelanger Erfahrung sagen, dass Menschen zum Leben Geld brauchen.
Gerade in dieser Szene sieht man oft, wie Menschen am Existenzminimum hän-
gen und dass sie für andere Migranten und Migrantinnen nicht gratis Dienste an-
bieten können, sondern auch Geld dafür verlangen müssen. Für mich ist es eine
Selbstverständlichkeit, da ich selbst jahrelang ehrenamtlich gearbeitet habe und
immer noch ehrenamtliche Integrationsbeauftragte bin. Da geht es um eine Leis-
tung, die auch gebracht wird, und da soll man auch etwas dafür bezahlen. Da
muss man wieder um Subventionen ansuchen, und dabei wird vieles dann wieder
so wett gemacht: „Ach, das können Migranten und Migrantinnen doch auch gra-
tis machen“. Das kann es nicht sein, und darum bin ich immer vorsichtig mit sol-
chen Projekten. Viele würden gerne etwas machen, aber die sagen „aber ich
möchte etwas Geld dafür haben“, wenigstens eine Aufwandsentschädigung, und
da scheitert es dann daran.

Ebru Yurtseven: Ich bin bei der „Muslimischen Jugend in Österreich“ in Salzburg
seit sechs Jahren tätig. Der Verein „Muslimische Jugend in Österreich“ ist die
erste deutschsprachige muslimische Jugendorganisation in Österreich. Da wir
sehr viele verschiedene Muslime aus unterschiedlichen Ursprungsländern, aus
denen die Eltern kommen, haben, ist es wichtig, dass wir gemeinsam die deutsche
Sprache sprechen, denn sonst könnten wir nicht miteinander kommunizieren. Wir
haben über 50 verschiedene Nationalitäten in der „Muslimischen Jugend“, und
wir haben auch eine Partnerorganisation, da wir sehr viel Aufklärungsarbeit leis-
ten müssen. Für die Förderung der muslimischen Frau haben wir unsere Partner-
organisation „Junge Musliminnen in Österreich“. Die JMÖ und die MJÖ machen
sehr viele Projekte in Österreich mit der Unterstützung des Wirtschaftsministe-
riums und auch mit der Unterstützung der Staatssekretärin Christine Marek. Ich
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 153

möchte zwei Projekte hervorheben. Wir haben zwar sehr viele, aber zwei sehr
große, die ich erwähnen möchte, sind: Zum einen das Projekt FATIMA, bei dem
die Teilnehmerinnen zu Multiplikatorinnen ausgebildet werden. Die Seminarein-
heiten sind zu den Themen Organisation, Planung, Rhetorik, Teamführung, Dis-
kussionstechniken und Persönlichkeitsbildung. Da durften die Teilnehmerinnen
ein Wochenende im Monat, innerhalb eines halben Jahres, die Seminare genie-
ßen, und am Ende gab es ein Abschlussfest. Das Projekt ist bundesweit, und Teil-
nehmerinnen aus verschiedenen Bundesländern sind extra nach Wien angereist,
da dort die Seminare stattgefunden haben. Am Ende des Projekts wurden alle
Teilnehmerinnen mit einem Zertifikat für ihre Teilnahme ausgezeichnet.
Kürzlich war auch der Abschluss des Chai-Projekts, bei dem es darum geht,
jungen Müttern, die die deutsche Sprache nicht so gut beherrschen, die deutsche
Sprache alltagstauglich beizubringen. Das waren Gruppen von fünf bis neun
Müttern, die sich einmal in der Woche bei den Teilnehmerinnen im Rotationsprin-
zip getroffen haben. Bei einer gemütlichen Chai-Runde, also Teerunde, hat man
über Probleme oder Anliegen diskutiert und wie man sich besser in gewissen Si-
tuationen artikulieren kann. Dieses Projekt haben wir auch zum Abschluss ge-
bracht, und es wurde durch ein Abschlussfest gekrönt, bei dem auch die Staatsse-
kretärin Christine Marek anwesend war. Es wird wahrscheinlich noch weitere
Projekte geben, bei denen wir fokussiert junge muslimische Frauen fördern wol-
len. Es gibt ein Sprichwort, das lautet: Wenn man einen Mann erzieht, erzieht
man eine Person, wenn man eine Frau erzieht, erzieht man eine ganze Generation.
Wir legen sehr viel Wert auf die Frauen und auf die Mütter, die eine große Ver-
mittlerrolle haben, auch bei der Vermittlung der deutschen Sprache. Wir hoffen,
dass wir noch mehrere Projekte in diese Richtung initiieren dürfen.

Manfred Oberlechner: Aus meiner eigenen Erfahrung lernen bei den Deutschkursen
die Frauen häufig sehr viel schneller und sind oft sehr viel mehr daran interessiert als
Männer. So ein Deutschkurs findet ja nicht so statt, indem man nur Modalverben und
Grammatik usw. lernt, sondern es handelt sich um einen Weg zur Selbsthilfe, damit
man z. B. beim Arzt oder beim AMS keinen Dolmetscher braucht. Wichtig ist, dass
man sich selbst helfen kann, dass man sich selbst vorstellen kann. Dazu mache ich
ganz viele praktische Übungen. Und ich finde es sehr wichtig, dass man das in der
kleinen Gruppe trainiert. Wenn man sich die Zahlen anschaut, finde ich sehr beein-
druckend, dass in der Stadt Salzburg ca. 32.000 Menschen keine österreichische
Staatsbürgerschaft besitzen. Das sind etwa 21%. Wenn man jedoch die Menschen
dazu zählt, die einen Migrationshintergrund haben, dann sind es sehr viel mehr. Im
Bundesland Salzburg liegt der Prozentwert bei ca. 17%; nach Wien und Vorarlberg
liegt das Bundesland Salzburg hierbei an dritter Stelle. Die Stadt Salzburg liegt in ei-
154 Podiumsdiskussion

nem internationalen Trend. Der Anteil der weiblichen Migrantinnen überwiegt welt-
weit. Meine Sicht aus der Funktion als Integrationskoordinator ist, dass man sich den
Begriff der Integration eben sehr bewusst machen muss. Es waren bisher Männer, die
sich mit dem Thema beschäftigt haben: Integrationstheoretiker, die vielleicht sogar
viel bewirkt haben, aber unbewusst immer den Mann vor Augen gehabt und die Frau
als „Accessoire“ gesehen haben und entsprechend ihre männlichen Vorstellungen
von Integration aufgestellt haben. Es ist aber wichtig, den Blick der Migrantin beim
Themenbereich Integration mit hineinzunehmen, und das spiegelt sich dann auch bei
den Projekt-Förderungen der Migrationsstelle des Landes wider. Nicht zuletzt wird
diese Ringvorlesung von der Migrationsstelle mitfinanziert, aber auch andere Berei-
che wie Gesundheitsförderung, Arbeitsmarktintegration, Spracherwerb werden aus
dieser Perspektive unterstützt. In all diesen Bereichen gibt es sehr viele Projekte, bei
denen der Schwerpunkt bei Migrantinnen liegt, was für die Integration der Migran-
tinnen auch sehr bedeutsam ist.
Danijela Ristic: Beim Projekt „Radiofabrik“ bin ich seit 2009 mit einer Gruppe
Frauen tätig, mit denen ich Sendungen mache. Unsere Sendung heißt: „Willkom-
men in Salzburg“. Wir haben uns mit Themen beschäftigt, die für die Integration
sehr wichtig sind. Da wir selbst Migrantinnen sind, haben wir die Themen selbst
ausgesucht. Wir wissen, welche Schwierigkeiten wir am Anfang gehabt haben,
angefangen mit dem Visum – wo muss man sich melden, was braucht man alles,
und welche Schritte muss man gehen. Das nächste bedeutende Thema war
Deutsch zu lernen, einen Deutschkurs zu besuchen – wo wird was angeboten, wo
muss man sich melden. Denn ohne den Integrationsdeutschkurs gibt es kein Vi-
sum. Ein weiterer wichtiger Punkt war für Mütter, die Schulkinder haben, eine
Schule für die Kinder. Wir haben uns dann entschieden, den Frauen den Weg
übers Radio zu zeigen, weil im Radio nicht nur Musik gespielt, sondern auch
Themen diskutiert werden. Das war uns ein besonderes Anliegen, da viele nicht
zu den Leuten hinauskommen und sich informieren können. Wir sind um die zehn
Frauen, und die Sendungen werden in fünf Sprachen produziert. Die Themen
sind frei wählbar, und wir suchen uns immer die wichtigsten Themen, die die
Schritte ins richtige Leben besser ermöglichen.
Eva Schmidhuber: Zusammenfassend kann man sagen: Das Ziel ist es, mit den Frau-
en zu arbeiten, ihnen Möglichkeiten, ihnen nötiges Wissen zu geben, zum Teil
sprachlicher Natur, um eben aktiver werden zu können. Was aber den Wortmeldun-
gen zufolge auch eine große Rolle spielt, ist nicht nur etwas zu tun, sondern den Mi-
grantinnen auch zuzuhören und ihnen auch die Chance zu geben, gehört zu werden.
Da passiert es nach wie vor viel zu oft und viel zu leicht, dass man in eine Rolle
kommt, in der Dinge passieren, die man so gar nicht haben wollte.
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 155

5 Quote für MigrantInnen?

Eva Schmidhuber: Ein Beispiel für eine Strategie zur Förderung von MigrantIn-
nen ist ja die Quotenregelung. Wir hatten kürzlich in der Radiofabrik die Frauen-
ministerin Heinisch-Hosek und die Landeshauptfrau Gabi Burgstaller zu Gast.
Da wurde das Thema auch angesprochen, und beide haben sich klar dagegen aus-
gesprochen. Wäre das nicht eine Möglichkeit, Positionen mit Menschen mit Mi-
grationshintergrund zu besetzen, die dann mit anderen auch zusammenarbeiten,
eine andere Darstellung ermöglichen würden, oder was spricht dagegen?
Manfred Oberlechner: Da ich die Daten, die Einwohnerzahlen, vor mit liegen ha-
be, möchte ich nur kurz etwas sagen: Wir haben etwa 120 Nationalitäten in der
Stadt Salzburg lebend, und jetzt frage ich mich, welcher Migrationshintergrund
aus dieser Quotensicht förderungswürdig ist und welcher nicht? Die zweitgrößte
Nationalität sind übrigens die Deutschen – um bei der Frage zu präzisieren.
Eva Schmidhuber: In diesem Zusammenhang wird Quote dann immer stehen.
Wenn man eine Quotenregelung einführen würde, da würde diese Darstellung
„Wir“ und „die anderen“ noch einmal verschärft. Das heißt, dass Migrantinnen
damit nie die Chance hätten, aus diesem Stigma Integration herauszukommen.
Ebru Yurtseven: Zuerst wäre da meiner Meinung nach die Problematik, wer defi-
niert, wer ein Migrant/eine Migrantin ist. Denn ich sehe da schon ein kleines Pro-
blem dahinter, und zwar die Identitätsstiftung durch Abgrenzung. Dies ist meiner
Meinung nach eine negativ behaftete Identitätsstiftung, und ob das sehr zielfüh-
rend ist, bezweifle ich. Ich bin auch dafür, dass man für seine Leistung eine Posi-
tion erhalten soll, weil sonst im Endeffekt das Arbeitsklima darunter leiden wür-
de. Wenn eine Migrantin eine Stelle bekommen hat, weil sie einen migrantischen
Hintergrund hat, zerrt das sicherlich an den Nerven der jeweiligen Person, und
die wird dann für immer als Migrantin stigmatisiert. Wollen wir das? Wollen wir
nicht eher, dass es ein Prozess der Identitätsfindung ist. Dass es diese Identitäts-
findung nicht nur bei Muslimen, sondern auch bei anderen Personen, die einen
Migrationshintergrund haben, gibt, damit diese Identität auch gestärkt wird. Na-
türlich soll dies nicht so weit gehen, dass man die Zweisprachigkeit aufgibt, son-
dern dass die Person sich als Teil dieses Landes sieht und dadurch noch mehr mo-
tiviert wird, Leistungen zu erbringen. Ich würde es besser finden, wenn man
durch seine Leistung eine Position erstrebt und dadurch vielleicht auch in den
Köpfen der Personen, die für die Anstellung zuständig sind, etwas bewegt wird,
und man nicht solche Vorschriften erlassen muss. Es gibt zwar das Gleichbehand-
lungsgesetz, wonach man wegen des Tragens eines Kopftuchs oder anderer äuße-
156 Podiumsdiskussion

rer Merkmale am Arbeitsmarkt theoretisch nicht diskriminiert werden darf. Aber


ob man die Diskriminierung beweisen kann und man dann Erfolg hat, sich durch-
zusetzen, ist eine andere Sache.

Angela Lindenthaler: Ein Problem, das ich sehe, ist – und ich sag es jetzt bewusst
provokant –, dass man mit der Quotenregelung eigentlich ein Umdenken errei-
chen möchte, dadurch aber ein Umdenken nicht angeregt wird. Mit der Quotenre-
gelung wird eine Migrantin immer nach dem Motto „na gut nehmen wir halt die
Ausländerin wegen der Quote“ eingestellt werden. Und es wird nicht passieren,
dass man die Ausländerin – die Migrantin – wegen ihrer Kompetenz, z. B. ihrer
sprachlichen Kompetenz, ihrer interkulturellen Kompetenz, ihrer Verhandlungs-
kompetenz, ihren Computerkenntnissen anstellt, sondern man wird sie weiterhin
wegen der Quote nehmen.

Publikum (Elisabeth Klaus): Ich möchte noch etwas zu der Quotendiskussion sa-
gen. Struktureller Diskriminierung, das hat die feministische Bewegung oder
auch die Bewegung von Behinderten sehr deutlich gezeigt, kann man nicht ent-
kommen, indem man auf den guten Willen der jeweils herrschenden mächtigen
Mehrheitsgesellschaft setzt. Da braucht es andere Instrumente. Da reicht es auch
nicht zu sagen: Ich leiste eben doppelt oder dreifach so viel. Wenn es strukturelle
Diskriminierung gibt, dann gibt es trotzdem in dieser Situation keine Chance. Ich
wollte noch ein kleines Beispiel aufzeigen, da Frau Schmidhuber erwähnt hat,
dass es zunächst in der Planung in dieser Podiumsdiskussion keine Frau mit mi-
grantischem Hintergrund gab, und sie dann gesagt hat: „Ich übernehme die Mo-
deration sehr gerne, wenn es mindestens eine, möglichst mehrere Frauen mit mi-
grantischem Hintergrund in der Podiumsdiskussion gibt.“ Ich glaube, das ist ge-
nau der Weg zu zeigen, dass es eine Beobachtungsperspektive gibt und wir alle,
die wir zusammengesessen sind und uns überlegt haben, wer so in der Podiums-
diskussion sein könnte, wir alle hatten vor, niemanden zu diskriminieren. Da sieht
man auch, wie sozusagen hinter dem Rücken der eigenen guten Haltung so etwas
passieren kann, und darum bin ich sehr froh, dass sie die Quotenregelung auch
hier durchgesetzt haben, auch für das Podium. Wie man das gesellschaftlich ma-
chen kann, weiß ich nicht, aber es ist eine wichtige Frage.

Manfred Oberlechner: Ihre Bemerkung zum „Mama lernt Deutsch“-Kurs hat


mich zu einem weiteren Gedanken gebracht: „Das Rollenspiel von Frauen“. Wir
gehen da oft von einer einseitigen Opferrolle von Frauen aus, aber Frauen und
eben auch Migrantinnen können auch Täter sein. Ich sehe Migrantinnen auch in
ihrer Mittlerfunktion zwischen den Generationen, und hier spielt die Frage von
Reproduktionen von bestimmten Rollenstrukturen, auch von patriarchalen Struk-
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 157

turen, durch Frauen eine wichtige Rolle. Ich würde mir da einen differenzierten
Zugang wünschen. Da gibt es ganz unterschiedliche Rollen, die Frauen bzw. Mi-
grantinnen dann einnehmen, z. B. die Migrantin als „Mutter“, die Migrantin als
„Opfer“, die Migrantin, „die nicht spricht“. Es gibt hier (wie bei Frauen ohne Mi-
grationshintergrund) Migrantinnen, die im Alltag in alle möglichen Richtungen
rollenaktiv sind.

6 Integration oder Inklusion?

Publikum (Elisabeth Losbichler): Es ist vorher schon kurz angesprochen worden,


dass wir in unserem Proseminar letzte Woche sehr stark über die Integrationsbe-
griffe diskutiert haben, und ich muss sagen, ich persönlich habe ein Problem mit
dem Begriff „Integration“. Jetzt wollte ich einmal fragen, wie Sie das sehen, wie
Sie selbst mit dem Begriff im Zusammenhang mit der Migrantin umgehen. Denn
für mich – aus der Sicht der Menschen mit Behinderungen – ist dieser Integra-
tionsbegriff erstens schon überstrapaziert, und zweitens wird jemand, wenn man
sagt, dass man ihn integrieren muss, von vornherein ausgeschlossen. Dieser Inte-
grationsbegriff müsste meiner Meinung nach nicht ablaufen, würde man eher in
die Richtung Inklusion gehen. Jetzt würde mich interessieren, wie Sie denn zu
Veränderungen und Neukreationen, die in dem Bereich immer wieder da sind,
wie in diesem Fall – von Integration zu Inklusion – stehen.
Manfred Oberlechner: Ja, da gibt es Polarisierungen: Integration, Assimilation,
Inklusion. Es gibt ja sehr viele Begriffe, und auch die damit zusammenhängende
Begriffsgeschichte zu analysieren macht daher sehr viel Sinn. Es wird auch von
„Migrantinnen“, „Menschen mit Migrationshintergrund“ oder von „Gastarbei-
tern“ gesprochen, und es steckt dabei hinter den Begriffen sehr viel Inhalt. Ich
sehe die Welt der Migrantin nicht homogen, auch gibt es im Alltag für die ein-
zelne Migrantin abwechselnd bzw. gleichzeitig Fragen der Inklusion, Exklusion,
Desintegration, d. h. die reale Welt ist in diesem Bereich viel komplizierter. Was
mir wichtig zu bedenken erscheint, ist, dass historisch betrachtet in der wissen-
schaftlichen Theorie zum Thema Integration von einem Menschenbild ausgegan-
gen wird, das meist der Mann war. In dem Bereich Integration sollte man daher
heute die Bedürfnisse von Frauen sehr ernst nehmen und mit einbeziehen. Das ist
mein Zugang zu dieser Thematik.
Publikum (Elisabeth Losbichler?): Ich glaube, dass diese Begriffe, wie z. B. In-
tegration, sehr stark in den Köpfen der „normalen“ Bevölkerung verankert sind.
Ich bin ja beispielsweise in letzter Zeit immer wieder neben dem Studium im
158 Podiumsdiskussion

Medienbereich aktiv und mir fällt auf, dass wir Menschen mit Behinderungen
nie zu normalen Alltagsthemen befragt werden, sondern speziell zu Themen mit
Behinderung. Wir werden eben nie zu normalen Alltagsthemen befragt, die je-
der Mensch durchlebt, und wir werden noch sehr stark auf das Thema Behinde-
rung reduziert. In diesem Zusammenhang müsste es ein Umdenken weg von
diesem Integrationsbegriff, von „Wir müssen euch reinholen“, in Richtung In-
klusion geben. Es sollte im Vordergrund stehen, dass wir alle zusammen eine
Gemeinschaft sind, nicht dieses Abgrenzen. Es passiert schon in gewisser Weise
eine Abgrenzung, obwohl ich sagen muss, dass ich an der Uni sehr gut integriert
bin und ich nicht das Gefühl habe, dass ich ausgeschlossen wäre. Aber wenn
man sich die Situation anschaut, ist es doch noch stark so, dass es eine „Zwei-
klassengesellschaft“ gibt.

Eva Schmidhuber: Nun drängt sich eine schöne Schlusswortrunde auf. Wie kann
eine positive „Integration“ funktionieren? Ist es die Sprache, ist es die Zeit, müs-
sen die Minderheiten bemerkt werden?

Angela Lindenthaler: Es ist zum großen Teil die Sprache des jeweiligen Landes,
in dem man beschlossen hat zu leben oder in dem man lebt. Wenn ich wo anders
lebe, ist es auch wichtig für mich, die dortige Sprache zu lernen. Ich erwarte mir
aber auch, dass man mich mich integrieren lässt, wenn ich woanders lebe, also
dass die Gesellschaft in dem Land mir die Chance gibt, als Mensch gesehen zu
werden und nicht als Integrierter oder Nichtintegrierter.

Ebru Yurtseven: Da ich mit Jugendlichen zu tun habe, denke ich mir, dass das
Wort Integration im Falle der Jugendlichen etwas veraltet ist, denn meiner Mei-
nung nach gehört das Wort Integration der Vergangenheit an. Wir sollten das
Wort auswechseln mit dem Wort Partizipation, denn nur durch einen positiven
Beitrag fühlt man sich wohler, hat schöne Erlebnisse. Durch Anerkennung von
anderen fühlt man sich an einem Ort beheimatet und wohl, und ich glaub, das ist
der Schlüssel für die Jugendlichen. Also nicht Integration, sondern Partizipation.
Die meisten Jugendlichen sind hier aufgewachsen, können die Sprache zum Teil
tadellos und brauchen einfach nur die Möglichkeit zur Partizipation, für einen po-
sitiven Beitrag.

Danijela Ristic: Ich glaube, die Zeit spielt auch eine sehr große Rolle. Die Kurse,
die angeboten werden, finden meistens am Tag statt, wo viele Leute doch arbeiten
müssen. Aber der größte Faktor ist der Wille. Man muss sich in diese Gesellschaft
integrieren oder integrieren lassen wollen, denn ohne den Willen schafft man
nicht sehr viel.
Kann die Migrantin sprechen? Zum Zusammenhang von Migration und Gender 159

Manfred Oberlechner: Ich denke, es handelt sich um einen Lernprozess, der uns
alle angeht. Es ist auch nicht nur ein kognitiver Prozess. Studierende werden auch
nur mit einem Lehrveranstaltungsleiter viel lernen, wenn sie sich emotional wohl
fühlen. Das trifft auf uns alle zu, und auch der Integrationsprozess ist eben auch
eine Herzensbildung und hat damit sehr stark zu tun, so sehe ich das. Ich sehe ei-
nerseits den individuellen Weg, aber andererseits auch den gesamtgesellschaftli-
chen. Der einzelne und die Gesellschaft, die Beziehung muss zueinander passen.
Wenn eine starke Diskriminierung vorhanden ist, wenn Rassismus in einer Ge-
sellschaft vorherrscht, kann sich der einzelne noch so sehr bemühen, er wird auf
gesellschaftliche Grenzen stoßen. Also auch diese Fragen kann man nicht aus-
klammern, denn der Einzelne kann nicht alles bewegen, das sehe ich ganz sicher.
Zur Toleranz und damit zur Integration gehört auch, dass soziale und individuelle
Veränderungen Zeit und eine gewisse Gelassenheit brauchen.
Eva Schmidhuber: Ich glaube, es geht uns so wie in fast jeder Podiumsdiskus-
sion: Viele Fragen bleiben offen. Ich glaube, es ist uns aber trotzdem gelungen,
ein wenig Einblick in die Arbeit von Migrantinnen, in die Arbeit mit Migrantin-
nen zu geben und eine Einsicht vielleicht dahingehend, dass wir alle eine Rolle
haben und dass wir uns alle damit auseinandersetzen müssen und sollen und dass
wir dann auch alle etwas davon haben. Wenn wir das tun, dann können wir die
Welt auch ein Stück besser machen Ich bedanke mich bei Ihnen, beim Publikum,
bei allen Damen und Herren am Podium für die Zeit, die ihr euch genommen
habt, und für die Teilnahme. Ich danke auch dem Organisationsteam der Ringvor-
lesung und wünsche allen einen schönen Abend.

PodiumsteilnehmerInnen

Moderatorin: Mag.a Eva Schmidhuber, Programmkoordinatorin der Radiofabrik


Salzburg (Freies Radio mit offenem Zugang und Sendungen in 15 Sprachen:
http://radiofabrik.at).
Mag.a Gerlinde Ulucinar Yentürk ist die Leiterin des Büros für interkulturelles
Zusammenleben (IKU) in Hallein. Das IKU versteht Integration als gesellschaft-
lichen Auftrag und dient als Anlauf- und Beratungsstelle für verschiedene Berei-
che des interkulturellen Zusammenlebens (http://www.hallein.gv.at/de_biz.html).
Der gemeinnützige Verein VIELE, vertreten durch deren Geschäftsführerin
Mag.a Angela Lindenthaler, verfolgt einen interkulturellen Ansatz in Erziehung,
Lernen und Entwicklung und führt ein Frauenzentrum und eine Familienbera-
tungsstelle (http://www.verein-viele.at).
160 Podiumsdiskussion

Danijela Ristic ist Redakteurin für die 14-tägige Informationssendung „Willkom-


men in Salzburg“, die seit 2009 in der Radiofabrik Salzburg in Kooperation mit
dem Verein VIELE produziert wird. Die Sendung ist ein „Inforadio von und für
Neo-Salzburgerinnen“ und wurde vom Europäischen Integrationsfonds, dem Ös-
terreichischen Innenministerium und der Stadt Salzburg finanziert. (http://www.
willkommen.radiofabrik.at/)
Von der Migrationsstelle des Landes Salzburg war Integrationskoordinator
MMag. Dr. Manfred Oberlechner zugegen. Um den Anforderungen einer gelun-
genen Integration von und mit Zuwanderinnen und Zuwanderern begegnen zu
können, wurde 2007 ein Referat für Migration im Land Salzburg (Abteilung Kul-
tur, Gesellschaft, Generationen) eingerichtet (http://www.salzburg.gv.at/themen/
gv/migration.htm).
Die Halleinerin Ebru Yurtseven ist Vorstandsmitglied der „Muslimischen Jugend
Österreich“ (MJÖ), einer bundesweiten, deutschsprachigen Jugendorganisation
der Islamischen Glaubensgemeinschaft. Die Organisation ist Mitglied der Öster-
reichischen Bundesjugendvertretung und wird vom Bundesministerium für so-
ziale Sicherheit, Generationen und Konsumentenschutz unterstützt (http://www.
mjoe.at/).
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich
Der lange Weg zur Verbesserung der Lage in Europa und international

Melita H. Sunjic

Seit vielen Jahren ist das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen, United
Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR) bestrebt, die Lage von
weiblichen Flüchtlingen systematisch zu verbessern und auf ihre besonderen
Schutzbedürfnisse einzugehen.
Der Flüchtlingsschutz muss sich mit der besonderen Gefährdung von Frauen
während und nach der Flucht, aber auch mit der Emanzipation der Frauen inner-
halb ihrer sozialen Gefüge befassen. Das 400 Seiten starke „UNHCR-Handbuch
für den Schutz von Frauen und Mädchen“1 bietet den Praktikern der Flüchtlings-
arbeit ausführliche Informationen und Handlungsanleitungen. Es hilft ihnen, Ge-
fährdungen und Diskriminierungen zu erkennen und entsprechende Gegenmaß-
nahmen zu setzen.
Die Emanzipation der Flüchtlingsfrauen liegt nicht nur im persönlichen Inter-
esse der Betroffenen, sondern der gesamten Gemeinschaft. Es ist eine seit langem
bekannte Tatsache, dass Frauen, die Schulbildung haben, später heiraten und we-
niger, aber gesündere und besser ernährte Kinder haben.2 Sie können zum Fami-
lieneinkommen beitragen und spielen nach Beendigung von bewaffneten Ausein-
andersetzungen eine konstruktivere Rolle beim Wiederaufbau und der Aussöh-
nung ehemaliger Konfliktparteien.

Emanzipation ist ein Lernprozess

Dass Flüchtlinge nicht gleich Flüchtlinge sind und das Geschlecht auch das
Schutzbedürfnis determiniert, hat sich als allgemein anerkannte Einsicht erst in
den letzten 25 Jahren durchgesetzt und bei allen Beteiligten eine Sensibilisierung
erfordert.

1 UNHCR Handbook for the Protection of Women and Girls; siehe: http://www.unhcr.org/protect/
PROTECTION/47cfae612.html.
2 Kinder UN Chronicle, Closing the Gender Gap; UN Chronicle, März 1990: 56–57.

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_9,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
162 Melita H. Sunjic

Sadako Ogata, Flüchtlingshochkommissarin zwischen 1991 und 2000, pflegte


eine Anekdote zu erzählen, die das deutlich macht. Ihr Führungsteam präsentierte
ihr Anfang der neunziger Jahre den Inhalt eines Standard-Hilfspaketes, das alle
notwendigen Hilfsgüter für eine afghanische Familie für einen Monat beinhaltete.
Frau Ogata fragte die (damals noch ausschließlich männliche) Runde, warum die
neue Norm keine Monatshygiene für Frauen vorsehe. Die hochrangigen Manager
sahen einander betreten an, dann meinte einer, dass das ja ziemlich peinlich wäre,
wenn man in einem Paket mit dem Logo der Vereinten Nationen „so etwas“ vor-
fände.
Heute ist so eine Einstellung Geschichte. Die Normen für UNHCR-Standard-
pakete sind mittlerweile gründlich überarbeitet worden. Monatshygiene für
Frauen ist längst Teil der Standardhilfe und darf bei keiner Hilfslieferung fehlen.
Nicht nur schreiben das Richtlinien des UN-Flüchtlingshochkommissariats ver-
pflichtend vor, es stellt längst auch für Geberländer und Partnerorganisationen
eine Selbstverständlichkeit dar.
Die Flüchtlingsgemeinschaften selbst mussten und müssen ebenfalls lernen,
dass die Frauen unter ihnen eigene Rechte und Bedürfnisse sowie einen An-
spruch auf Selbstvertretung haben. Die UNHCR-Regeln für die Mitarbeit und
Mitbestimmung von Frauen in Flüchtlingslagern gelten weltweit und damit oft in
Gesellschaften, wo Frauen üblicherweise keine öffentlichen Aufgaben überneh-
men. Daher läuft der Prozess der stärkeren Einbindung von Frauen nicht ohne
Rückschläge ab. In Nepal zum Beispiel bestand UNHCR im Jahre 2002 darauf,
dass es in den Lagerkomitees erstmals einen 50-prozentigen Frauenanteil geben
müsse, obwohl unter den bhutanesischen Flüchtlingen der Widerstand dagegen
groß war. Die Lagerbewohner beugten sich scheinbar dem Druck, stellten eine
gleiche Anzahl von Kandidatinnen wie Kandidaten auf und wählten zur Genugtu-
ung des UNHCR ein paritätisch besetztes Camp-Komitee. Wie die Autorin dieses
Beitrages selbst miterlebte, entpuppte sich diese Wahl tags darauf als Schildbür-
gerstreich, als bei der konstituierenden Sitzung alle Frauen zurücktraten.
UNHCR hatte die Menschen ohne ausreichende Vorbereitung mit der Forde-
rung nach einer Stärkung der Stellung der Frauen konfrontiert. Es bedurfte drei
Jahre intensiver Überzeugungsarbeit unter männlichen wie weiblichen Flüchtlin-
gen sowie einer Neuregelung des Wahlmodus (geheime Wahlen), um den Wider-
stand zu überwinden. Im Jahre 2005 konnte UNHCR vermelden, dass die Flücht-
lingskomitees in allen sieben Flüchtlingslagern in Nepal im Schnitt zu 61 Prozent
aus Frauen bestanden.3

3 UN High Commissioner for Refugees, UNHCR Handbook for the Protection of Women and
Girls, Januar 2008, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/47cfc2962.html, S. 44.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 163

So kommt es, dass die Fluchterfahrung für Frauen nicht nur Leid und Ent-
fremdung mit sich bringt, sondern auch eine Chance darstellt, ihre Rolle im Ge-
füge der Gemeinschaft zu stärken.
1985 hat sich das Exekutivkomitee, das internationale Leitungsgremium des
UNHCR, in seinem Beschluss Nr. 39 „Flüchtlingsfrauen und internationaler
Schutz“ erstmals dem Grundsatzthema weiblicher Flüchtlinge ausführlich gewid-
met und ihren Schutz zu einer Priorität der Arbeit des UNHCR erklärt. An die
Unterzeichnerstaaten ergeht darin der Auftrag, in ihrer Flüchtlingsgesetzgebung
die Geschlechterperspektive zu inkorporieren. 4
In Umsetzung dieses Bekenntnisses veröffentlichte UNHCR 1990 seine
Grundsätze zu Flüchtlingsfrauen5 sowie Richtlinien zu deren praktischer Umset-
zung im Jahr darauf.6 Daraus resultierten zahlreiche organisationsinterne Aktivi-
täten wie Lernprogramme, Seminare für MitarbeiterInnen etc., die jedoch eine
unmittelbare Außenwirkung entfalteten, als in den neunziger Jahren Frauenpro-
jekte in nie da gewesener Zahl und Vielfalt entstanden.
Als Ergebnis eines Diskussionsprozesses mit über 500 Flüchtlingsfrauen wur-
den im Jahre 2001 fünf Verpflichtungen des Hochkommissars gegenüber Flücht-
lingsfrauen formuliert, die einen Meilenstein in der Flüchtlingsarbeit mit Frauen
darstellten.7 Sie besagen, dass UNHCR sich verpflichtet:

• Frauen in alle Gremien der Flüchtlingsselbstverwaltung und Lagerleitung ein-


zubinden;
• sicherzustellen, dass Frauen individuell registriert werden und nicht nur als
Familienmitglied des Ehemannes und dass ihnen eigene Dokumente ausge-
stellt werden, um ihre Sicherheit, ihre Bewegungsfreiheit und ihren Zugang
zu Hilfsleistungen zu verbessern;
• Maßnahmen zu ergreifen, um sexuelle und geschlechtsbedingte Gewalt (Se-
xual and Gender-Based Violence, SGBV) zu verhindern beziehungsweise ad-
äquat darauf zu reagieren;

4 Beschluss Nr. 39 (XXXVI) 1985 Exekutiv-Komitee: Flüchtlingsfrauen und internationaler


Schutz; siehe http://www.unhcr.at/no_cache/recht/i1-internat-fluechtlingsrecht/11-voelkerrecht.
html?cid=49&did=7010&sechash=30dbc733).
5 UNHCR Policy on Refugee Women, 20 August 1990, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/
docid/3bf1338f4.html.
6 UN High Commissioner for Refugees, Guidelines on the Protection of Refugee Women, July
1991, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/3ae6b3310.html.
7 Five Commitments to Refugee Women UN High Commissioner for Refugees, UNHCR’s Com-
mitments to Refugee Women, 12 December 2001, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/
479f3b2a2.html.
164 Melita H. Sunjic

• sicherzustellen, dass Flüchtlingsfrauen aktiv an der Verteilung von Nahrungs-


mitteln und anderen Hilfsgütern mitarbeiten;
• allen Frauen und Mädchen in allen UNHCR-Hilfsprogrammen ausreichend
Monatshygiene zur Verfügung zu stellen.
Diese Verpflichtungen haben die Flüchtlingsarbeit in den von UNHCR geleiteten
Programmen revolutioniert. Den fünf Zielen wurde 2003 in der „UNHCR Agen-
da für den Flüchtlingsschutz“8 ein sechstes hinzugefügt: den Schutz von Frauen
und Kindern zu verbessern, indem Programme für Frauen und Mädchen in alle
UNHCR-Operationen verpflichtend eingebaut werden.
In Umsetzung dieses Ziels proklamierte das Flüchtlingshilfswerk im Jahre 2004
den Grundsatz, dass die Gleichstellung von Flüchtlingen jeden Alters, Geschlechts
und jeder Herkunft inhärentes Ziel aller Hilfsoperationen sein muss (Age, Gender
and Diversity Mainstreaming).9 Zur Umsetzung dieses Prinzips müssen nicht nur alle
Büros nachweislich regelmäßig mit männlichen und weiblichen Flüchtlingen/Asyl-
bewerbern aller Altersgruppen und verschiedener Herkunftsländer in Kontakt treten
und ihre Bedürfnisse direkt erheben. Es sind auch alle UNHCR-Büroleiter verpflich-
tet, jährlich Rechenschaft darüber abzulegen, was sie in ihrem jeweiligen Arbeitsbe-
reich dazu beigetragen haben, um den gleichen Zugang all dieser Gruppen zu Flücht-
lingsschutz und Hilfsleistungen zu gewährleisten.
Im Jahre 2006 fasste das Exekutivkomitee des UNHCR den Beschluss
Nr. 105, über gefährdete Frauen und Mädchen, mit dem Ziel, die geschlechtsspe-
zifische Gefährdung von Mädchen und Frauen besser zu identifizieren und ihr
entgegenzuwirken.10
Da UNHCR nicht nur ein Mandat zum Schutz der Flüchtlinge innehat, sondern
einen – der Öffentlichkeit weniger bekannten – Auftrag zum Schutz von staatenlo-
sen Personen, wurde 2010 ein Strategiepapier zur Verringerung der Staatenlosig-
keit herausgegeben, das im Einklang mit der Konvention zur Beseitigung jeder
Form von Diskriminierung der Frauen (Convention on the Elimination of all
Forms of Discrimination against Women, CEDAW)11 steht. Es besagt, dass Frauen
dasselbe Recht haben müssen wie Männer, ihre Staatszugehörigkeit auf ihre Kin-
der zu übertragen. Mit der Umsetzung dieser Forderung würde in vielen Ländern
einer der häufigsten Gründe für die Entstehung von Staatenlosigkeit entfallen.

8 http://www.unhcr.at/recht/i1-internat-fluechtlingsrecht/12-fluechtlingsbegriff.html?L=0.
9 http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home/opendocPDFViewer.html?docid=4c0526c69&
query=AGDM2004.
10 http://www.unhcr.de/no_cache/recht/i1-internat-fluechtlingsrecht/11-voelkerrecht.html?L=0&
cid=3122&did=7075&sechash=c21c586b.
11 http://www.un.org/womenwatch/daw/cedaw/cedaw.htm.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 165

Um den vorgenannten Rechtsnormen und Grundsatzbeschlüssen Leben einzu-


hauchen, hat UNHCR im selben Zeitraum eine Reihe von Richtlinien und Trai-
ningsmaterialien für die Arbeit im Feld produziert, die nicht nur von UNHCR-Mit-
arbeiterInnen, sondern gleichermaßen von den Partnerorganisationen, Regierun-
gen, ForscherInnen und nicht zuletzt von den Betroffenen selbst genutzt werden.

Besondere Gefährdung vor, während und nach der Flucht

Allein zum gegenwärtigen Zeitpunkt listen diverse Internetseiten, je nach Zähl-


weise, zwischen 38 und 45 bewaffnete Konflikte weltweit auf. Im typischen
Krieg des 21. Jahrhunderts kämpfen nicht Armeen direkt gegeneinander, sondern
bewaffnete Gruppierungen greifen hauptsächlich die Zivilbevölkerung an. Diese
Form der Konfliktaustragung löst zwangsläufig Fluchtbewegungen innerhalb des
Landes oder über Grenzen hinweg aus.
Frauen und Mädchen erweisen sich als besonders schutzlos und laufen daher
Gefahr, in bewaffneten Konflikten zu Opfern von systematischen Vergewaltigun-
gen zu werden, manchmal in der erklärten Absicht einer Konfliktpartei, sie ge-
zielt zu schwängern oder mit HIV/Aids zu infizieren. Sie werden als Sexsklavin-
nen entführt oder zur Prostitution gezwungen. Im besten Fall werden sie „nur“ se-
xuell ausgebeutet und müssen ihren Körper im Austausch gegen Dienstleistungen
anbieten, etwa um Straßensperren zu passieren, Papiere zu erhalten oder sich die
Zuteilung von Hilfsgütern zu „erkaufen“.
In den neunziger Jahren haben Urteile der Internationalen Strafgerichtshöfe
für Ex-Jugoslawien und Ruanda erstmals in der Geschichte Vergewaltigung und
andere Formen sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt als Kriegsverbre-
chen kategorisiert.12
Wenn sie mit dem Leben davonkommen, folgt für die Betroffenen dem Trau-
ma sexueller Gewalt nicht selten ein zweites. Wenn in der persönlichen Umge-
bung des Opfers bekannt wird, was sie durchgemacht haben, kann das zu einer le-
benslangen Stigmatisierung führen. Daher versuchen viele Opfer von sexueller
Gewalt das, was ihnen widerfahren ist, vor ihrer Umwelt zu verheimlichen, was
ihren Leidensdruck noch weiter erhöht.
Alle routinemäßigen Analysen des UNHCR über die Lebensumstände von
Flüchtlingen und Vertriebenen zeigen, dass so gut wie überall die grundlegenden Be-
dürfnisse von Frauen und Mädchen schlechter abgedeckt werden, als die von Män-
nern und Jungen, ob es sich nun um das Recht auf Nahrung, Gesundheitsversorgung,

12 http://www.iccwomen.org/wigjdraft1/Archives/oldWCGJ/resources/excerpts.htm.
166 Melita H. Sunjic

Unterkunft, Staatsbürgerschaft oder einen Identitätsnachweis handelt. Der Schulbe-


such von Mädchen fällt hinter dem der Jungen zurück, weil sie in vielen Regionen
verpflichtet sind, bei der Hausarbeit zu helfen und jüngere Geschwister zu beaufsich-
tigen, oder sie werden sehr früh verheiratet und aus der Schule genommen.
Besonders prekär ist die Lage von Frauen, die allein flüchten mussten, oder
von Flüchtlingsfamilien, denen kein Mann vorsteht. Daher müssen weibliche
(manchmal minderjährige) Haushaltsvorstände oder alleinstehende Frauen nach
den Richtlinien des UNHCR beim Zugang zu Hilfsgütern und zum Flüchtlings-
schutz besonders berücksichtigt werden.

Der schwierige Zugang zum Schutz in Europa

Während weltweit Kriege, Menschenrechtsverletzungen und Zustände allgemei-


ner weit verbreiteter Gewalt immer mehr Menschen in die Flucht treiben, wird es
in der westlichen Welt zunehmend schwieriger, Schutz zu bekommen. Allein zum
Jahreswechsel 2010/11 gab es weltweit 43,7 Millionen Geflüchtete (Asylwerber,
Flüchtlinge und Binnenflüchtlinge), was einen Höchststand in den letzten 15 Jah-
ren darstellt.13
Die Sorge vieler westlicher Politiker, dass Wirtschaftsmigranten das Asylsys-
tem missbrauchen, um sich Zugang zu Europa zu verschaffen, hat zu einer zuneh-
mend restriktiven Asylgesetzgebung geführt. Die Flüchtlingsdebatte in der EU
wird oft weniger im Lichte der Menschenrechte und des Schutzes der Betroffenen
vor Verfolgung geführt als vielmehr unter dem Aspekt des Schutzes des Aufnah-
melandes vor negativen wirtschaftlichen wie kulturellen Auswirkungen.
Ins Exil gezwungene Flüchtlinge nutzen vielfach dieselben Fluchtwege und
dieselben Fluchthelfer wie freiwillige Wirtschaftsmigranten. In ihrem Bestreben,
die illegale Wirtschaftsmigration zu unterbinden, haben die Zielländer Visaerfor-
dernisse und Grenzkontrollen so verschärft, dass es auch für Flüchtlinge immer
schwieriger wird, Zutritt und damit Schutz zu erhalten. Mittlerweile wird selbst
die Rettung von Bootsflüchtlingen aus Seenot nicht mehr als selbstverständliche
humanitäre Verpflichtung gehandhabt, da die Kapitäne Probleme haben, Häfen
zu finden, wo die Geretteten von Bord gelassen werden. Ohne bezahlte Men-
schenschmuggler ist es nahezu unmöglich geworden, Europa zu erreichen. Frau-
en und Mädchen sind Teil dieser gemischten Migrationsströme, sei es dass sie im
Familienverband kommen, sei es dass sie alleine flüchten.

13 UNHCR Global Trends 2010; siehe: http://www.unhcr.org/cgi-bin/texis/vtx/home/opendocPDF


Viewer.html?docid=4dfa11499&query=global%20trends.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 167

Anders als in den meisten Entwicklungsländern müssen Asylsuchende in den


Industriestaaten zunächst ein aufwändiges Asylverfahren durchlaufen, damit
festgestellt werden kann, ob tatsächlich Fluchtgründe im Sinne der Genfer Kon-
vention vorliegen, welche die Antragsteller zum Flüchtlingsstatus oder zu einer
anderen Form des Schutzes berechtigen.
Asylverfahren sind komplexe vielstufige Prozesse, die für juristisch nicht vor-
gebildete Menschen schon dann schwer zu verstehen sind, wenn sie der Landes-
sprache mächtig sind. Der Großteil der Flüchtlinge, ob männlich oder weiblich,
sind weder Juristen noch beherrschen sie fließend die Sprache das Asyllandes. Da
Frauen jedoch tendenziell schlechter gebildet und häufiger Analphabetinnen
sind, potenziert dieser Umstand von Anfang an die Schwierigkeiten, denen sich
Asylwerberinnen gegenüber sehen, wie unter anderem die jährlichen Berichte
„Listening to Refugees 2005“ und „Being a Refugee“ (2006, 2007, 2008, 2009)14
belegen, die von UNHCR Budapest publiziert werden.
2010 veröffentlichte UNHCR eine Studie, in der die Umsetzung von EU-
Richtlinien für Asylverfahren in ausgewählten Mitgliedstaaten der Europäischen
Union verglichen wurde.15 Die Resultate waren ernüchternd. Die mangelhafte
Umsetzung der Richtlinien in vielen Ländern führt zu massiven Qualitätsunter-
schieden in den nationalen Asylverfahren, was sich auf alle Antragsteller negativ
auswirkt, sodass die Chancen auf Asyl in ähnlich gelagerten Fällen von Land zu
Land teils dramatisch differieren.
In einer gleichzeitig veröffentlichten Zusatzanalyse wurde erhoben, wie sich
Asylgesetze und ihre praktische Anwendung speziell auf Frauen auswirken.16
Obgleich dieselben Regeln für Männer und Frauen gelten, so konnte bei einer nä-
heren Untersuchung der Studienergebnisse gezeigt werden, dass manche Rege-
lungen Asylwerberinnen in besonderem Maße diskriminieren.
Gemäß EU-Richtlinien (European Council Directive on minimum standards
on procedures in Member States for granting and withdrawing refugee status)17
müssen Asylwerber die Gelegenheit haben, ihre Fluchtgründe in einem persönli-
chen Interview darzulegen. Wenn Familien Asyl beantragen, kann nach EU-Rege-

14 http://www.unhcr-centraleurope.org/en/what-we-do/age-gender-and-diversity-mainstreaming.
html?searched=AGDM&advsearch=allwords&highlight=ajaxSearch_highlight+ajaxSearch_
highlight1.
15 UNHCR, Improving Asylum Procedures – Comparative Analysis and Recommendations for Law
and Practice: Key Gender Related Findings and Recommendations, März 2010, siehe: http://
www.unhcr.org/refworld/docid/4be01ed82.html.
16 UN High Commissioner for Refugees, Improving Asylum Procedures – Comparative Analysis
and Recommendations for Law and Practice: Key Gender Related Findings and Recommenda-
tions, März 2010, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/4be01ed82.html.
17 http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2005:326:0013:0034:EN:PDF.
168 Melita H. Sunjic

lung nur der Hauptantragsteller, in fast allen Fällen der Mann, interviewt werden,
während UNHCR die getrennte Anhörung aller Erwachsenen empfiehlt. Frauen,
die nicht interviewt werden, erhalten wenig bis keine Informationen darüber, wo-
rum es beim Asylverfahren geht und was einen Fluchtgrund konstituiert. Bei ih-
nen wird nicht überprüft, ob eigene Fluchtgründe vorliegen, die die betroffenen
Frauen (und damit die gesamte Familie) zu Schutzberechtigten machen würden.
Ein weiteres Problem stellen gemeinsame Interviews mit anderen (männli-
chen) Familienmitgliedern dar, wie sie in manchen Asylverfahren üblich sind.
Menschen, die traumatische Erlebnisse hinter sich haben, haben oft Hemmungen,
vor anderen Familienmitgliedern darüber zu sprechen, vor allem dann, wenn sie
zu Opfern sexueller Gewalt wurden und unter Umständen andere Familienmit-
glieder davon gar nichts wissen (dürfen).
Auch die Umstände, unter denen Asylinterviews durchgeführt werden, kön-
nen sich auf den Ausgang eines Verfahrens auswirken. UNHCR vertritt die An-
sicht, dass jeder Antragsteller das Recht haben sollte, das Geschlecht von Inter-
viewer und Dolmetscher zu wählen. Über traumatische Erlebnisse zu sprechen
kostet an sich schon große Überwindung, mit fremden Personen des anderen Ge-
schlechts ist es ungleich schwieriger.
Asylinterviews sind für die AntragstellerInnen von hohem emotionalem Ge-
halt. Nicht nur hängt deren gesamte Zukunft vom Ausgang des Verfahrens ab, es
kommen regelmäßig politisch und persönlich höchst heikle und schmerzhafte
Dinge zur Sprache. Die UNHCR-Studie ergab, dass Asylinterviews in manchen
Ländern in Örtlichkeiten stattfinden, die nicht einmal den Mindestanforderungen
eines vertraulichen Verfahrens gerecht werden. Die ForscherInnen sahen Inter-
views, die in Durchgangszimmern gehalten wurden, in denen sich zeitweise oder
ständig Personen aufhielten, die mit dem Asylverfahren nichts zu tun hatten.
Auch dieser Mangel betrifft Männer wie Frauen, allerdings kommen Asylwerbe-
rinnen meist aus Kulturen, wo die Hemmschwelle für ein offenes Gespräch mit
Unbekannten und in einer Fremdsprache für Frauen schon unter optimalen Um-
ständen weitaus höher ist als bei Männern.
Die Befähigung der InterviewerInnen ist ebenfalls ein entscheidender
Schwachpunkt in den Asylverfahren vieler EU-Mitgliedstaaten. Es bedarf einer
speziellen Ausbildung, um die Opfer von Folter und sexueller Gewalt zu identifi-
zieren und die Symptome eines posttraumatischen Belastungssyndroms zu erken-
nen. Ungeschulte InterviewerInnen können Zögern, Schweigen und Sprechhem-
mungen fälschlich als lügnerisches Verhalten interpretieren und die Glaubhaftig-
keit des Antrages in Frage stellen, obwohl in Wirklichkeit ein unverarbeitetes
Trauma vorliegt und ein echter Asylgrund gegeben ist. Dasselbe gilt für kultur-
spezifische Verhaltensweisen, die es beispielsweise Frauen verbieten, ihrem Ge-
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 169

sprächspartner in die Augen zu sehen, während das nach westlichen Normen als
Beweis für die Unglaubwürdigkeit des Gesagten ausgelegt wird.
Der Zeitfaktor spielt ebenfalls eine Rolle. Um Asylverfahren schneller und weni-
ger kostenintensiv zu machen, greift man in der EU in immer mehr Fällen auf soge-
nannte Schnellverfahren zurück, in welchen Interviewern wie Asylwerbern sehr we-
nig Zeit bleibt, die wahren Fluchtgründe zu erarbeiten beziehungsweise jene Atmo-
sphäre des Vertrauens aufzubauen, in der sich die Asylwerbenden soweit öffnen kön-
nen, um über traumatisierende Erlebnisse zu sprechen. Endet nun ein Schnellverfah-
ren oder ein überhastet abgewickeltes Verfahren in erster Instanz mit einer Ableh-
nung des Antrages, so ist es in vielen Ländern nicht möglich, Umstände, die anfangs
nicht zur Sprache gebracht wurden (z. B. eine Vergewaltigung), in der Beschwerde
nachträglich einzubringen. UNHCR kritisiert in zahlreichen Verhandlungen und öf-
fentlichen Stellungnahmen diese rein formalistische Herangehensweise, weil sie
dazu führen kann, dass Asylanträge von hochgradig schutzbedürftigen Menschen ab-
gelehnt werden. Wenn Verfahrensfragen und Fristen über den Ausgang des Asylver-
fahrens entscheiden und nicht die individuelle Schutzbedürftigkeit, so steht das in
krassem Widerspruch zum Geist der Flüchtlingskonvention.18

Frausein als Fluchtgrund

Artikel 1 A der Genfer Flüchtlingskonvention (eigentlich „Abkommen über die


Rechtsstellung der Flüchtlinge“)19 von 1951 definiert einen Flüchtlingsbegriff,
der bis heute gültig ist. Demnach gilt die Person als Flüchtling, die „aus der be-
gründeten Furcht vor Verfolgung wegen ihrer Rasse, Religion, Nationalität, Zu-
gehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen ihrer politischen
Überzeugung sich außerhalb des Landes befindet, dessen Staatsangehörigkeit sie
besitzt, und den Schutz dieses Landes nicht in Anspruch nehmen kann oder we-
gen dieser Befürchtungen nicht in Anspruch nehmen will“.
Geschlecht als Diskriminierungsgrund kommt in dieser Aufzählung nicht explizit
vor. Das ist nach Meinung vieler Rechtswissenschaftler nicht nur nicht notwendig,
sondern wäre sogar kontraproduktiv, denn er würde weibliche Flüchtlinge marginali-
sieren und ihre Fluchtgründe auf eine Kategorie beschränken.20 Der Tatbestand der

18 Asylum Aid, Unsustainable: the quality of initial decision-making in women’s asylum claims, Ja-
nuar 2011, Siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/4d3435d12.html.
19 http://www.unhcr.at/mandat/genfer-fluechtlingskonvention.html.
20 Vgl. UNHCR, Refugee Protection in International Law; Global Consultations, 1 January 2003,
Edited by Erika Feller, Volker Türk and Frances Nicholson; siehe http://www.unhcr.org/
419cc6ad7pdf.
170 Melita H. Sunjic

„Verfolgung“ ist dann erfüllt, wenn zwei Elemente zusammentreffen, dass nämlich
einer Person ernsthafter Schaden droht und dass der Staat nicht imstande oder willens
ist, die Person vor diesem Schaden zu bewahren. Der Flüchtlingsbegriff greift immer
dann, wenn aufgrund eines Konventionsmerkmales grundlegende Menschenrechte
einer Person bedroht sind, wie zum Beispiel das Recht auf Leben, der Schutz vor Fol-
ter und Versklavung, der Schutz vor unmenschlicher oder erniedrigender Behand-
lung oder Strafe, die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, der Schutz vor
willkürlicher Verhaftung, die Gleichheit vor dem Gesetz u. ä. Diese Rechte stehen je-
dem Individuum zu, ungeachtet persönlicher Merkmale wie des Geschlechts, der
Rasse und Religion, der nationalen Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung, allfäl-
liger Körperbehinderungen, der Klasse, des Alters, Berufs etc. Korrekt interpretiert,
deckt die Flüchtlingsdefinition in der bestehenden Form demnach all jene Verfol-
gungshandlungen ab, die ausschließlich oder hauptsächlich Frauen betreffen, auch
wenn sie aufgrund religiöser oder kultureller Traditionen oder privater Handlungen
auftreten. Wichtig ist im Asylverfahren festzustellen, ob der Heimatstaat seiner Ver-
pflichtung zum Schutz des betroffenen Individuums nachgekommen ist oder nicht.
Daran bemisst sich die Schutzwürdigkeit.
Frauenspezifische Verfolgung beinhaltet physische, sexuelle oder psychologi-
sche Gewalt und erfasst unter anderem:

• in der Familie: Misshandlungen, sexuellen Missbrauch von Erwachsenen


oder Kindern, Vergewaltigung in der Ehe, Genitalverstümmelung und Brust-
bügeln bei Mädchen, Mitgiftmorde, Ehrenmorde, Kinderehen, Zwangsheira-
ten und andere gegen Frauen gerichtete traditionelle Praktiken;
• in der Gesellschaft: allgemein verbreitete Vergewaltigungen und sexuellen
Missbrauch, Menschenhandel, Zwangsprostitution, Zwangseingriffe in die
persönlichen Reproduktionsrechte (erzwungene Abtreibungen, Sterilisierun-
gen oder Schwangerschaften), alle Menschenrechtsverletzungen, die unter
Umständen systematisch als Teil von Kriegshandlungen eingesetzt werden;
• vom Staat begangene oder tolerierte Gewaltakte.

Praktiken, die einzelnen Personen Schaden zufügen, können nach Ansicht der
Vereinten Nationen21 niemals durch Verweis auf Traditionen und gesellschaftli-
che Werthaltungen gerechtfertigt werden (vergleiche das 1981 in Kraft getretene
Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau).
Kultur ist kein unveränderliches Konstrukt, sondern unterliegt ständigem Wan-

21 UN Office of the High Commissioner for Human Rights, Fact Sheet No. 23, Harmful Traditional
Practices Affecting the Health of Women and Children, August 1995, No. 23, siehe: http://www.
unhcr.org/refworld/docid/479477410.html.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 171

del. Es hat in der Geschichte in allen Kulturen und Religionen schädliche, gegen
Frauen gerichtete Praktiken gegeben, die überwunden wurden, wie beispiels-
weise im 20. Jahrhundert das Brechen der Füße von Frauen in China (Lotusfüße),
die Zulässigkeit von Ehrenmorden in Italien, die Straflosigkeit von Vergewalti-
gung in der Ehe in der gesamten westlichen Welt und vieles mehr. Mit anderen
Worten, die Transformation soziokultureller Normen ist ein kontinuierlicher Pro-
zess, der durch gezielte Eingriffe (gesetzliche Maßnahmen, Kampagnen, Bildung
etc.) beschleunigt werden kann.
Ein valider Asylgrund kann auch dann vorliegen, wenn Mädchen und Frauen
erniedrigende oder unmenschliche Bestrafung befürchten müssen, weil sie die ih-
rem Geschlecht auferlegten Kleidungs- und Verhaltensvorschriften übertreten
oder auch nur öffentlich in Frage stellen.

Vertretung der Interessen von Flüchtlingsfrauen

Die UNHCR-Richtlinien sehen vor, dass in jedem vom UN-Flüchtlingswerk ge-


leiteten oder finanzierten Lager die Bewohner aus ihrer Mitte regelmäßig Komi-
tees wählen, welche die Interessen der Flüchtlinge gegenüber den Behörden und
Hilfsorganisationen vertreten. In diesen Gremien wird stets eine hohe Frauenre-
präsentanz angestrebt, vorzugsweise 50 : 50.22 Die Flüchtlingskomitees helfen
bei der Verwaltung der Lager mit, ob es sich nun um die gerechte Verteilung von
Hilfsgütern, die Instandhaltung der Wasserleitungen oder Mechanismen zur Bei-
legung von Konflikten zwischen den Bewohnern handelt.
Zusätzlich gibt es in jedem Camp zahlreiche Frauengruppen, die wichtige
Projekte durchführen. Meistens befassen sie sich mit der Schul- und Berufsbil-
dung von Mädchen und Frauen oder mit Wirtschaftsprojekten, die dazu dienen,
Einkommen für Frauen zu schaffen und so deren Stellung in Familie und Gesell-
schaft zu stärken.
Es ist ein Paradoxon der Flüchtlingsarbeit, dass Flüchtlinge im Allgemeinen
und Flüchtlingsfrauen im Besonderen in den großen Flüchtlingslagern der Ent-
wicklungsländer weitaus mehr Möglichkeiten zur demokratischen Selbstvertre-
tung haben als in Europa. In manchem afrikanischen Camp haben Frauen mehr
mitzureden als in vielen Aufnahmezentren in EU-Staaten. In Europa wird viel
über Flüchtlinge gesprochen, aber weniger mit ihnen.
Während des Asylverfahrens bleiben AsylwerberInnen in den meisten EU-
Ländern in Aufnahmezentren. Das kann viele Monate, manchmal auch Jahre dau-

22 UN High Commissioner for Refugees, Handbook for Emergencies, February 2007,Third edition,
S. 9, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/46a9e29a2.html.
172 Melita H. Sunjic

ern. Falls sie am Ende des Verfahrens einen Schutzstatus erhalten, werden die Be-
troffenen meist in Integrationsheimen untergebracht, wo man sie mit Hilfe von
Sprachkursen, Berufsschulungen und anderen Maßnahmen auf das Leben im
Asylland vorbereitet. Dabei spielen AsylbewerberInnen und Flüchtlinge haupt-
sächlich die Rolle von Empfängern von Dienstleistungen, ohne maßgeblich an
deren Gestaltung mitwirken zu können.
Aufgrund des Bekenntnisses zur differenzierten Bewertung der Bedürfnisse
von Asylwerbern und Flüchtlingen jeden Alters, Geschlechts und jeder Herkunft
(Age, Gender and Diversity Mainstreaming) ist UNHCR seit Jahren bestrebt, die
in den Flüchtlingslagern der Entwicklungsländer erprobte Methodik der soge-
nannten teilnehmenden Bewertung (Participatory Assessment) auch in Europa
verstärkt zur Anwendung zu bringen,23 was teilweise auf den Widerstand von Re-
gierungen und Asylbehörden stößt. Bei der teilnehmenden Bewertung werden in
regelmäßigen Abständen (mindestens einmal jährlich) in Aufnahmezentren und
Flüchtlingslagern die Bewohner nach Geschlecht, Alterskohorte und Herkunft/
Muttersprache gruppiert und von geschulten Interviewteams mittels offener Fra-
gestellungen über ihre Lebensumstände und Probleme befragt. Um ein möglichst
vollständiges Bild zu erhalten, bezieht man bereits Kinder ab einem Alter von
12 Jahren in die Erhebung ein. Die Ergebnisse dieser Befragungen sollen idealer-
weise als Verbesserungen in die Gestaltung der Asylgesetzgebung und der
Flüchtlingsbetreuung einfließen.
Die Interviewteams setzen sich idealiter aus VertreterInnen von UNHCR, Be-
hörden und Nichtregierungsorganisationen zusammen. Der Widerstand von
Asylbehörden gegen diese Form der Erhebung in manchen europäischen Staaten
rührt von einer Mischung aus Unsicherheit, finanziellen Bedenken, aber auch
Zweifeln an der Methodik selbst her. Es wurde vielfach die Befürchtung geäu-
ßert, dass diese Art der Interviews lediglich Momentaufnahmen und subjektive
Eindrücke erbringe, sodass es nicht zulässig wäre, daraus Rückschlüsse auf die
Situation der Betroffenen im Allgemeinen zu ziehen.
Dort wo diese Befragungen systematisch durchgeführt und in periodischen
Abständen wiederholt werden, wie zum Beispiel in den neuen EU-Mitgliedstaa-
ten Zentraleuropas, stellte sich jedoch heraus, dass diese teilnehmende Bewer-
tung sehr wohl valide Ergebnisse liefert und zu wesentlichen Verbesserungen in
der Flüchtlingsbetreuung geführt hat. 24

23 UNHCR legal publications The UNHCR Tool for Participatory Assessment in Operations, Mai
2006, siehe http://www.unhcr.org/450e963f2.html.
24 UNHCR, Being a Refugee How Refugees and Asylum Seekers Experience Life in Central Euro-
pe, Report 2009; siehe http://www.unhcr-centraleurope.org/en/pdf/what-we-do/age-gender-and-
diversity-mainstreaming/being-a-refugee-2009.html.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 173

Wenig überraschend stellte sich bei den Befragungen heraus, dass Asylbewer-
ber und Flüchtlinge je nach Geschlecht und Alter ihren Alltag unterschiedlich er-
leben und unterschiedliche Probleme vorbringen, abgesehen natürlich von der al-
len gemeinsamen Hauptsorge über den Ausgang des Asylverfahrens und die ei-
gene Zukunft. Für Europa ist das eine der wenigen Gelegenheiten, wo Flücht-
linge und AsylwerberInnen als Kollektiv zu Wort kommen und sich einbringen
können. Das ist besonders im Bezug auf Frauen signifikant, da sie oft nur als
„Anhängsel“ im Asylverfahren des Mannes gelten und wenig Gelegenheit be-
kommen, über ihr persönliches Schicksal zu sprechen.
Solche Befragungen fördern große und kleine systemische Mängel des Asyl-
verfahrens und der Betreuung zutage. Nicht immer sind gesetzliche Änderungen
notwendig, um Missstände zu beheben. Manchmal handelt es sich um geradezu
banale Probleme, die ohne großen Aufwand behoben werden können. So werden
Hausordnungen in Flüchtlingszentren von der Verwaltung so konzipiert, dass sie
Abläufe optimieren und den Personalbedarf möglichst niedrig halten. Weil es in
europäischen Asyleinrichtungen in der Regel keine Mitsprache der Asylwerber
und Flüchtlinge gibt, können sich aus solchen Regeln unnötige Schikanen für die
Bewohner ergeben. Ein besonders bildhaftes Beispiel für eine geradezu frauen-
feindliche Regel fand sich in einem slowakischen Aufnahmezentrum. Dort war
die Essenszeit im Speisesaal auf 30 Minuten beschränkt und aus hygienischen
Gründen war es nicht erlaubt, Essen auf die Zimmer mitzunehmen. Für Mütter
mit Kleinkindern hatte das zur Folge, dass sie praktisch nie Zeit hatten, selbst zu
essen, weil sie zunächst ihre Kinder füttern mussten. Der Heimleitung war das nie
aufgefallen, bis UNHCR eben anregte, die Asylbewerber in Gruppen zu intervie-
wen und die Frauen endlich selbst zu Wort kamen.
Selbstverständlich gibt es eine Fülle von Problemen, die Männer und Frauen
gleichermaßen betreffen. Im Folgenden sollen jedoch vor allem solche Miss-
stände aufgelistet werden, die in den letzten fünf Jahren in Zentraleuropa typi-
scherweise von weiblichen Flüchtlingen und Asylwerbern aufgezeigt wurden.
Man kann davon ausgehen, dass vieles auch in anderen Staaten zutrifft.

• Frauen mit kleinen Kindern wird die Teilnahme an Sprach-, Berufsbildungs-


und Landeskundekursen dadurch unmöglich gemacht, dass nicht gleichzeitig
Kinderbetreuung angeboten wird. Vielfach gilt der regelmäßige Kursbesuch
aber als Beweis der Integrationswilligkeit und Wegbleiben wird mit dem Ent-
zug von finanziellen Hilfeleistungen sanktioniert.
• Frauen sind häufiger als Männer Analphabeten. Daher brauchen sie erstens
mündliche Informationen über das Asylverfahren, und zweitens müssen Alpha-
betisierungskurse allen anderen Bildungsmaßnahmen vorangestellt werden.
174 Melita H. Sunjic

• Alleinstehende Frauen fühlen sich in den Aufnahmezentren sicherer, wenn ih-


nen eigene Trakte zur Verfügung stehen, wo sie vor Nachstellungen männli-
cher Bewohner geschützt sind.
• Der Bedarf an Monatshygiene, aber auch an Verhütungsmitteln wird nicht im-
mer im Rahmen der Standardbetreuung abgedeckt.
• Haftbedingungen für Frauen und Familien (mit Kindern) müssen menschli-
cher und familiengerecht gestaltet werden.
• Mütter wissen besser als Väter über die Probleme der Kinder in Bezug auf al-
tersgerechte Ernährung sowie Schule und Lernhilfen Bescheid.
• Kritischer als Männer nehmen Frauen hygienische Mängel in den Unterkünf-
ten, vor allem in den gemeinsam genutzten Räumen wie Bädern, Toiletten,
Küchen und Waschküchen wahr.
• Frauen haben häufig einen anderen Informationsbedarf, dem die Integrations-
und Orientierungskurse alleine nicht gerecht werden. Sie wollen nicht nur in
Landeskunde unterrichtet werden, sondern fordern auch praktische Anleitun-
gen, wie sie Anpöbelungen auf der Straße begegnen sollen oder wo sie Le-
bensmittel und Mittel des täglichen Bedarfs billig besorgen können.
Auch wenn Frauen mit Flüchtlingsstatus oder Subsidiärschutz in Europa wenig Gele-
genheit (manchmal auch wenig Bereitschaft) haben, als Kollektiv aufzutreten und
ihre eigenen Interessen öffentlich zu vertreten, so werden ihre spezifischen Interessen
doch in vielen staatlichen Integrationsprogrammen wahrgenommen.

Steigende Sensibilität in der EU

Viele Industriestaaten haben begonnen, den von UNHCR eingeforderten Schutz


von Frauen, denen geschlechtsspezifische Verfolgung droht, in ihrer Rechtset-
zung und Rechtsprechung umzusetzen. Eine geschlechtssensitive Interpretation
der Genfer Flüchtlingskonvention bedeutet nicht, dass Frauen automatisch Asyl
zusteht, wenn Frauenrechte in ihrem Herkunftsland beschnitten werden, wie
manche Kritiker befürchten. Die Asylbewerberin muss ihre Furcht vor Verfol-
gung im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention glaubhaft machen können.
Den Asylbewerberinnen kommt in Europa eine steigende Sensibilität von Po-
litik und Gesellschaft gegenüber Frauenfragen entgegen.25 Baroness Brenda
Hale, britische Höchstrichterin und Abgeordnete, brachte diese Entwicklung auf

25 Die folgenden Angaben entstammen weitgehend einem Vortrag von Frances Nicholson, Leiterin
der Rechtsabteilung im Regionalbüro Brüssel des UNHCR.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 175

den Punkt: „Die Welt ist aufgewacht und anerkennt die Tatsache, dass Frauen
aufgrund ihres Geschlechts unter Umständen anderen Formen der Verfolgung
ausgesetzt sind als Männer und dass sie auch wegen der untergeordneten gesell-
schaftlichen Stellung verfolgt werden können, die ihrem Geschlecht in ihren Hei-
matländern zugewiesen wird.“ Hales Bemerkung fiel im Zusammenhang mit dem
prominenten Fall von Zainab Fornah, einer Frau aus Sierra Leone, die geflüchtet
war, um einer Genitalverstümmelung zu entgehen. Das britische Höchstgericht
hatte im Jahre 2006 ihrer Berufung gegen einen negativen Asylbescheid stattge-
geben.26 Mittlerweile hat es vergleichbare Asylentscheidungen in Belgien,
Deutschland, Frankreich und Kanada gegeben. In Belgien erhielt ein Mädchen
zusammen mit ihren Eltern Flüchtlingsstatus, um der Genitalverstümmelung zu
entgehen, muss sich aber alljährlich einer medizinischen Untersuchung unterzie-
hen, um nachzuweisen, dass sie nicht trotzdem beschnitten wurde.
Frauen und Mädchen, die aus Ländern wie Algerien, Burkina Faso, Burundi,
Guinea, dem Iran, Mauretanien, Niger, dem Senegal und der Türkei vor Zwangs-
heiraten geflüchtet sind, wurden bereits in Belgien, Deutschland und Frankreich
als Flüchtlinge anerkannt.
Häusliche Gewalt konstituiert dann einen Grund, Schutzstatus zu gewähren,
wenn sie sehr schwerwiegend ist und die Betroffenen weder von den Heimatbe-
hörden Schutz erwarten können noch eine Zufluchtsmöglichkeit im eigenen Land
besteht. Asylanträge misshandelter Frauen wurden schon in Argentinien, Austra-
lien, Deutschland, Ecuador, Großbritannien, Irland, Kanada, Neuseeland, Rumä-
nien, Spanien, Ungarn und den USA positiv entschieden.
Wenn sogenannte Ehrverbrechen vom Staat nicht geahndet werden, kann das
nach Meinung des UNHCR ebenfalls einen Asylgrund darstellen. Ehrverbrechen
sind Morde oder Misshandlungen an Mädchen und Frauen, denen man vorwirft,
den Ehrenkodex ihrer Gesellschaft gebrochen zu haben, weil sie zum Beispiel mit
einem fremden Mann gesehen wurden, des Ehebruchs verdächtigt werden, les-
bisch sind oder sich auch nur der ihnen zugewiesenen Rolle verweigern, indem
sie etwa nicht heiraten wollen, von zuhause ausziehen möchten oder Beklei-
dungs- und Verhaltensvorschriften missachten. Kulturrelativistische Argumente
können nicht herangezogen werden, um die Einschränkung der Grundrechte ei-
ner Person zu rechtfertigen.27
Da weibliche Flüchtlinge in der Regel über weniger Geldmittel verfügen, um
Schmuggler zu bezahlen, werden sie häufiger von Menschenhändlern ausgebeu-

26 http://www.publications.parliament.uk/pa/ld200506/ldjudgmt/jd061018/sshd.pdf.
27 Council of Europe: Parliamentary Assembly, Women and Religion in Europe, 16 September
2005, Doc. 10670, siehe: http://www.unhcr.org/refworld/docid/43a97a9c6.html.
176 Melita H. Sunjic

tet. Menschenhandel wird im sogenannten Palermo-Protokoll von 2002 der Ver-


einten Nationen28 definiert als „Anwerbung, Beförderung, Verbringung, Beher-
bergung oder den Empfang von Personen durch die Androhung oder Anwendung
von Gewalt oder anderer Formen der Nötigung, durch Entführung, Betrug, Täu-
schung, Missbrauch von Macht oder Ausnutzung besonderer Hilflosigkeit oder
durch Gewährung oder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zur Erlan-
gung des Einverständnisses der Person, die Gewalt über eine andere Person hat,
zum Zweck der Ausbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Ausnutzung
der Prostitution anderer oder andere Formen sexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit
oder Zwangsdienstbarkeit, Sklaverei oder sklavenähnliche Praktiken, Leibeigen-
schaft oder die Entnahme von Körperorganen.“
Überlebende von Menschenhandel können neuerlich zu Opfern werden, wenn
sie von den Behörden des Ziellandes einfach zurückgeschickt werden – sei es,
dass sie von der Gesellschaft ausgestoßen werden, sei es, dass sie Racheakten der
Menschenhändler selbst zum Opfer fallen. Sie müssen als schutzbedürftig ange-
sehen werden, wenn ihr Heimatstaat nicht willens oder nicht in der Lage ist, sie
vor dieser neu entstehenden Verfolgung zu schützen. Das trifft in besonderem
Ausmaß auf Frauen zu, weil sie häufiger als Männer zur Prostitution gezwungen
waren und nach ihrer Rückkehr stärker stigmatisiert sind. Nach Ansicht des
UNHCR sollte Opfern des Menschenhandels erlaubt sein, einen Asylantrag zu
stellen, wenn sie die Abschiebung fürchten. Nur in einem ordentlichen Asylver-
fahren kann die tatsächliche Gefährdung abgeschätzt werden, die den Betroffe-
nen nach einer Rückkehr droht.
Trotz einer verstärkt negativen Einstellung vieler EU-Bürger gegenüber
Flüchtlingen nimmt die Sensibilität für den Geschlechteraspekt zu. Federführend
sind hier traditionsgemäß Deutschland und Skandinavien, aber in vielen anderen
Ländern gibt es ebenfalls begrüßenswerte Entwicklungen. Zu den wichtigsten
frauenspezifischen Integrationsmaßnahmen gehören kursbegleitende Kinderbe-
treuung, Alphabetisierungskurse, Aufklärung über die Rechte von Frauen in der
europäischen Gesellschaft, spezielle Berufsausbildungsprojekte, psychosoziale
Projekte für traumatisierte Frauen und Mädchen sowie Schutzprogramme für Op-
fer häuslicher Gewalt.
Die Grundidee dabei ist es normalerweise, Flüchtlingsfrauen bei der Überbrü-
ckung der anfänglichen Probleme zu unterstützen, sie jedoch allmählich in die

28 Zusatzprotokoll zur Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschenhandels, insbeson-


dere des Frauen- und Kinderhandels, zum Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen die
grenzüberschreitende organisierte Kriminalität: siehe: http://www.un.org/Depts/german/uebe-
reinkommen/ar55025anlage2-oebgbl.pdf.
Sensibilität für Flüchtlingsfrauen steigt allmählich 177

gängigen Gleichstellungs- und Schutzprogramme für Frauen (Staatsbürgerinnen


und Migrantinnen) im jeweiligen Land überzuführen (Mainstreaming).
In vielen Ländern Europas haben sich einzelne Flüchtlingsfrauen besonders
gut integriert und bewähren sich als Politikerinnen, Wissenschafterinnen und
Künstlerinnen. Sie nutzen ihren gesellschaftlichen Einfluss, um sich für die Rech-
te von Flüchtlingsfrauen stark zu machen. Ein besonders außergewöhnliches Bei-
spiel stellt Mbela Nzuzi dar. Sie flüchtete 1997 als 26-Jährige aus dem Kongo und
erhielt in Rumänien Asyl. Sie gründete eine Band und stieg bald zu einem Popstar
auf. Mittlerweile moderiert sie eine eigene Fernsehsendung und setzt sich für die
Belange von Flüchtlingsfrauen und AfrikanerInnen ein – und das in einem Land,
wo es kaum Ausländer und noch seltener Menschen aus Afrika gibt.
Von wachsender Sensibilität in der Gesellschaft zeugen auch Einzelschicksa-
le, die ganze Nationen bewegen. In Österreich machte der Fall des kosovarischen
Teenagers Arigona Zogaj gleich vier Jahre lang (2007–2011) Schlagzeilen. Sie
und ihre Familie sollten nach der endgültigen Ablehnung ihres Asylantrags in den
Kosovo abgeschoben werden. Es erfolgte ein Aufschrei der Öffentlichkeit und
ein monatelanges juristisches und mediales Tauziehen. Selbst Medien, die Aus-
ländern und Flüchtlingen üblicherweise nicht geneigt sind, schlugen sich in die-
sem Fall auf Arigonas Seite. Nach vielen Rückschlägen ist Arigona mit ihrer Fa-
milie nunmehr berechtigt, in Österreich zu leben.
In den Niederlanden sorgte der Fall der 14-jährigen Sahar Anfang 2011 für
Aufregung. Das afghanische Mädchen sollte zusammen mit ihrer Familie nach
Afghanistan zurückgeschickt werden, obwohl sie bestens integriert war. Die Fa-
milie bekämpfte die Abschiebung mit dem Argument, dass das im Westen soziali-
sierte Mädchen aufgrund ihrer Kleidung und ihres Auftretens in der afghanischen
Gesellschaft verfolgt werden würde. Der zuständige Minister fasste den Grund-
satzbeschluss, dass in Hinkunft „verwestlichte“ afghanische Mädchen und ihre
Familien in den Niederlanden bleiben dürfen, wenn bestimmte Voraussetzungen
bezüglich Aufenthaltsdauer und Integrationsgrad erfüllt sind. Damit ist in EU-
Europa ein neuer Standard im Schutz von Flüchtlingsmädchen gesetzt worden,
dem andere Staaten sich auf Dauer nicht verschließen können werden – und das
paradoxerweise von einer Regierung, die betont flüchtlingskritisch auftritt.

Zusammenfassung

Das Flüchtlingsschicksal ist wie ein Vergrößerungsglas, unter dem gesellschaftli-


che Schieflagen und individuelle Benachteiligungen besonders scharf hervortre-
ten. Frauen und Mädchen, die in den meisten Gesellschaften schon vor der Flucht
178 Melita H. Sunjic

diskriminiert waren, sind auch während und nach der Flucht besonders verletz-
lich und müssen daher beim Flüchtlingsschutz besonders berücksichtigt werden.
Maßnahmen zur Stärkung der Position von Flüchtlingsfrauen, die UNHCR
seit mehr als zwei Jahrzehnten systematisch implementiert, haben nach und nach
den Modus operandi von Hilfsorganisationen, Geberländern und Flüchtlingsbe-
hörden verändert und nicht zuletzt auch die Flüchtlingsgemeinschaften selbst
transformiert.
Für Frauen stellt das Exil nicht nur eine prekäre Lebenslage dar, sondern er-
weist sich oft auch als Chance, weil sie im Asylland zum ersten Mal neue Rechte
erfahren und neue, verantwortlichere Rollen übernehmen.
Was die Mitspracherechte von Flüchtlingskollektiven betrifft, so hinken die
Aufnahmezentren in Europa in dieser Frage den Flüchtlingslagern der Dritten
Welt manchmal nach. In den von UNHCR betriebenen Lagern gibt es zahlreiche
Komitees, in denen die Flüchtlinge selbst wesentlich an der Gestaltung ihres All-
tags mitarbeiten. In europäischen Flüchtlingsunterkünften hingegen wird männli-
chen wie weiblichen Asylbewerbern und Flüchtlingen hauptsächlich die Rolle
von Dienstleistungsempfängern zugewiesen.
Mängel in der Durchführung von Asylverfahren in EU-Staaten wirken sich
auf Frauen anders und tendenziell negativer aus als auf Männer. Als positiv ist je-
doch zu vermerken, dass Gesetzgeber, Gerichte und Behörden, aber auch die
breite Öffentlichkeit seit einigen Jahren verstärkt Verständnis für die spezifische
Situation von Frauen und Mädchen unter den Flüchtlingen zeigen.
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts1
Der Schutz vor frauenspezifischer Verfolgung

Anna Wildt

Ich möchte auf drei Fragen eingehen, die mich sowohl während meiner Tätigkeit
als Rechtsberaterin für Flüchtlinge in einer Beratungsstelle der Caritas als auch
während der Arbeit an meiner Dissertation über frauenspezifische Aspekte im
Flüchtlingsrecht2 beschäftigt haben: Ich möchte erstens wissen, wie Flüchtlings-
frauen im Ermittlungsverfahren gesehen werden. Zweitens möchte ich beispiel-
haft darstellen, wie die rechtlichen Asylgründe zur Fluchtsituation von Frauen
passen; dazu sehe ich mir die Richtlinien des UNHCR zur Interpretation der
Flüchtlingskonvention und aktuelle österreichische Judikatur an. Drittens stelle
ich die Frage, wie die Anliegen von asylsuchenden Frauen wahrgenommen wer-
den und wie weit die Rechtsberatung und -vertretung partizipatorisch gestaltet
werden kann.
Das asylrechtliche Ermittlungsverfahren stellt Frauen vor andere Herausfor-
derungen als Männer. Beobachtungen der Praxis veranlassen zur Annahme, dass
Geschlecht die Asylgewährung und die Beweiswürdigung beeinflusst (Spijker-
boer 2000: 64; Menkel-Meadow 2009: 202). Das ist in den Rechtswissenschaften
eine unübliche Behauptung. Unter Juristinnen und Juristen ist die Ansicht weit
verbreitet, dass das Recht für alle gleich ist. Konsens herrscht darüber, dass man
sich mit formalen Gleichstellungsfragen beschäftigen muss. Das betrifft etwa
Fragen, ob Frauen ein Wahlrecht haben oder ob z. B. erbrechtliche Regelungen

1 Frau bzw. Mann wird im nachfolgenden Text – ohne weitere Hervorhebung – nicht als biologi-
sche Geschlechtszuweisung verstanden, sondern als gesellschaftlich normierte Kategorie, die
Ausdruck einer Politisierung von vergleichsweise unwichtigen anatomischen Unterschieden ist
(vgl. Reimann 1999; siehe auch Spijkerboer 2000: 6, der die Unterscheidungen im Geschlechts-
begriff selbst als Konstrukt begreift: „the difference between the discursive (gender) and the pre-
discursive (sex) is itself discursive“).
2 Grundlage dieser Arbeit sind über 250 flüchtlingsrechtliche Einzelentscheidungen zu bestimmten
Formen der Verfolgung, die ausschließlich oder überwiegend Frauen treffen, insbesondere zur
sozioökonomischen Gewalt, zur häuslichen Gewalt und zur Genitalverstümmelung; in einer ju-
ristischen Dokumentanalyse wurden die Entscheidungen in Hinblick auf die Gendersensibilität in
der Anknüpfung an die geschlechtsneutralen Fluchtgründe der Genfer Flüchtlingskonvention
untersucht.

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_10,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
180 Anna Wildt

für gleichgeschlechtliche PartnerInnenschaften in demselben Ausmaß bestehen,


wie sie für eheliche PartnerInnenschaften vorgesehen sind, usw. Werden diese
Fragen bejaht, gelten Personen formalrechtlich als gleichgestellt. Darüber hinaus
kümmert man sich in der rechtswissenschaftlichen Disziplin eigentlich selten um
Gleichstellungsfragen. Im Unterschied dazu beschäftigen sich die Legal Gender
Studies mit der Frage, wie Geschlecht im Recht eingesetzt wird. Es handelt sich
dabei um ein juristisches Grundlagenfach, das in der rechtswissenschaftlichen
Ausbildung kaum vorkommt, meistens nicht einmal erwähnt wird. Die Legal
Gender Studies durchleuchten neben der Frage, wie Geschlecht im Recht einge-
setzt wird, auch rechtspolitische Fragen, die frauenrechtliche Zweifelsfragen dar-
stellen: z. B. ob wir ein Nachtarbeitsverbot brauchen oder nicht, ob Prostitution
illegalisiert werden soll und Freier bestraft werden sollen oder nicht (Holzleithner
2002: 54, 103).
Asylwerberinnen müssen vor einer Behörde ihre Fluchterfahrungen schil-
dern, um ihren Asylantrag zu begründen (Vorbringen). Ich möchte zunächst die
Frage stellen, ob das Vorbringen im Verfahren gendersensibel beurteilt wird. Es
gibt zwar statistische Untersuchungen darüber, ob in der Häufigkeit, mit der
Frauen oder Männer Asyl erhalten, ein geschlechtsspezifischer Unterschied be-
steht. Leider liegen für Österreich aber diesbezüglich keine Zahlen vor.
Aufgrund meiner Erfahrungen aus der Rechtsberatung der Caritas in den Jah-
ren 2007 und 2008 kann ich nicht bestätigen, dass weibliche Antragstellerinnen
seltener ein Aufenthaltsrecht erlangen würden als männliche. Es ist für Frauen
zwar schwieriger, in die Industriestaaten zu flüchten, aber für die Flüchtlinge, die
hier sind, zeigen meine Erfahrungen nicht, dass weibliche Asylsuchende vom Er-
gebnis her weniger Chancen auf einen positiven Ausgang des Verfahrens hätten
als männliche. Notwendig sind gesicherte Zahlen, um aussagekräftige Ergebnisse
präsentieren zu können. Aber selbst wenn Frauen seltener ausgewiesen werden
als Männer, was der Fall sein könnte, lässt dies nicht darauf schließen, dass die
Fluchtgründe von Frauen gendersensibel beurteilt werden (Wildt 2010a: 15;
Wildt 2010b: 231).
Es gibt zu diesen Fragen eine Studie aus den Niederlanden: Nach der quantita-
tiven Untersuchung erhalten Frauen häufiger einen Schutzstatus als Männer,
Männer werden häufiger ausgewiesen (Spijkerboer 2000: 22). In der Analyse
wurde das hauptsächlich darauf zurückgeführt, dass Frauen im Vergleich zu Män-
nern disproportional häufiger aus Herkunftsländern flüchten, die allgemein hö-
here Anerkennungsraten aufweisen (Spijkerboer 2000: 25); sie kommen sozusa-
gen aus den „gefährlicheren Staaten“. Da dies jedoch die höheren Anerkennungs-
raten für Frauen nicht gänzlich erklären konnte, wurde im Anschluss an diese Da-
ten folgende Hypothese untersucht: Im Verfahren wird Frauen eher geglaubt, dass
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 181

sie fliehen, weil für sie die Lebensbedingungen unerträglich sind, hingegen ste-
hen Männer häufiger unter dem Verdacht, einzureisen, weil sie ihre ökonomische
Situation verbessern wollen. Diese Hypothese wurde in der Untersuchung nur
zum Teil verworfen (Spijkerboer 2000: 25, 194). Im Vergleich dazu lassen meine
Analysen zu österreichischen Asylfällen nicht den Schluss zu, dass durch eine ge-
häufte Antragstellung von Männern aus „weniger gefährlichen“ Staaten von der
Behörde bei männlichen Antragstellern grundsätzlich eher wirtschaftliche Grün-
de für die Flucht angenommen würden. Abhängig vom jeweiligen Herkunftsland
werden Frauen wie Männern wirtschaftliche Motive für die Flucht zugeschrie-
ben. Es ist anzunehmen, dass der Wirtschaftsflüchtlingsdiskurs eine Dynamik
entwickelt, die sich zunehmend geschlechtsneutral auswirkt (Wildt 2010b: 55).
Die Annahme, dass die Verfahren von Frauen eher positiv abgeschlossen wer-
den, heißt nicht, dass sie im Verfahren besser behandelt oder besser verstanden
würden. Frauen gelten im Asylverfahren als verletzlicher oder gefährdeter, insbe-
sondere dann, wenn sie Kinder auf die Flucht mitgenommen haben oder im Auf-
nahmestaat Kinder geboren haben (Spijkerboer 2000: 64, 194; Freedman 2007:
132). Das stimmt mit Ergebnissen von Genderanalysen überein, wenn man z. B.
bedenkt, dass Mutterschaft eine größere Abhängigkeit von familiären Versor-
gungssystemen bedeutet. Das heißt aber nicht, dass sich im Verfahren von weibli-
chen Asylsuchenden Stereotypen über Frauen, die Mütter sind, vorteilhaft aus-
wirken. Genauso gibt es Fälle, in denen ein stereotypes Geschlechtsverständnis
den Ausschluss von Frauen vom Zugang zum Recht bedeutet. Stereotypen kön-
nen Hürden für Frauen sein, unabhängig davon, ob sie überwiegend allgemeine
Asylgründe oder geschlechtsspezifische Asylgründe geltend machen. Darauf
werde ich im nächsten Abschnitt (siehe 1.) eingehen.
In Österreich besteht folgende Problematik: Es ist zwar Rechtsbestand, dass
Geschlecht als Grund für eine Verfolgung zur Asylgewährung führt (Materialien
zum Asylgesetz 1991, 270 BlgNR 18. GP 11; Fremdenrechtspaket 2005, BGBl I
2005/100, 952 BlgNr 22. GP 32; VwGH 31. 1. 2002, 99/20/0497); die schwierige
Frage ist aber, wie der kausale Zusammenhang zwischen einer Verfolgungshand-
lung und dem Geschlecht zu sehen ist. Wenn Frauen oder Männer vergewaltigt
werden, dann sind diese Handlungen juristisch als Folter und unmenschliche, ent-
würdigende Behandlung einzustufen und gelten als schwere Menschenrechtsver-
letzungen. Doch ist die Auswirkung dieser Handlungen auf eine geschlechtsspe-
zifische Schutzlosigkeit im Herkunftsstaat zurückzuführen? Diese Verbrechen
gelten unter der Genfer Flüchtlingskonvention und damit auch im österreichi-
schen Asylrecht nur dann als Verfolgung, wenn der Verfolgungshintergrund oder
die Umstände einem spezifischen, in der Flüchtlingskonvention erwähnten
Schutzmerkmal zugeschrieben werden können, wie z. B. einer religiösen, ethni-
182 Anna Wildt

schen oder gesellschaftlichen Gruppenzugehörigkeit. Geschlecht gilt häufig nur


dann als ein Fluchtgrund, wenn soziales Geschlecht als gesellschaftliches Struk-
turmerkmal im Herkunftsland bereits unabhängig von einer allfälligen Verfol-
gungsgefahr eine eigene gesellschaftliche Gruppenzugehörigkeit im flüchtlings-
rechtlichen Sinn darstellt. Dies kann nach vorherrschender Ansicht z. B. in Re-
gionen der Fall sein, in denen Frauen und Mädchen im sozialen Nahraum von
Zwangsheirat, Ehrenmord oder Genitalverstümmelung bedroht sind oder in de-
nen Frauen im öffentlichen Leben eklatant diskriminiert werden.
Zudem muss aber bedacht werden, dass nur bei fehlendem staatlichem Schutz
Asyl gewährt werden kann. Handelt es sich bei der Verfolgungshandlung um ein
Verbrechen, das im Staat wirksam angezeigt und verfolgt werden kann, dann ist
keine Asylgewährung zu erwarten. Wird z. B. Vergewaltigung in einem Staat
nicht geahndet – Opfer können also keine wirksame Anzeigeerstattung erwar-
ten –, dann stellt sich die Frage, ob diese Schutzverweigerung für sich allein be-
trachtet asylbegründend sein kann. Wären hingegen z. B. ethnische oder rassisti-
sche Motive für eine Vergewaltigung nicht auszuschließen, würden Verfolgungs-
handlung und Verfolgungsgrund unter die Flüchtlingsdefinition fallen. Fraglich
ist aber, wie Fälle beurteilt werden müssen, die nicht auf klassische Fluchtgründe
wie auf einen ethnischen, religiösen oder politischen Hintergrund schließen las-
sen. Wie sind Fälle zu beurteilen, in denen überwiegend Frauen von Verfolgung
und fehlenden Schutzmöglichkeiten betroffen sind, wie dies zum Beispiel bei
häuslicher Gewalt der Fall sein kann. Auf den ersten Blick kann hier keine von
der Tathandlung unabhängige flüchtlingsrechtliche Gruppenbildung vorgenom-
men werden, wenn die betroffenen Frauen weder aus einer Gruppe kommen, in
der z. B. die Einhaltung eines bestimmten geschlechtsspezifischen Rollenverhal-
tens mit einem familiären Ehrenkodex in Zusammenhang gebracht und gewalt-
sam durchgesetzt wird oder Zwangsverheiratungen üblich sind, noch einer Grup-
pe (der Frauen) zugehören, die im betreffenden Herkunftsstaat eklatanten Diskri-
minierungen im öffentlichen Raum unterliegt. Viele Entscheidungen gewähren in
einem solchen Fall von häuslicher Gewalt kein Asyl, selbst wenn eine effektive
Schutzmöglichkeit im Herkunftsstaat bezweifelt werden muss. Ich möchte auf
dieses Problem später noch näher eingehen (siehe 2. und 3.).
Meine weiteren Ausführungen behandeln die folgenden Themen:

• Probleme und Ausschlüsse im Beweisverfahren (Stereotypen)


• die Definition von Geschlecht (Gender als Verfolgungsgrund)
• die österreichische Judikatur zur frauenspezifischen Verfolgung
• die Möglichkeiten der Mitsprache für Asylwerberinnen
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 183

1 Beweisverfahren

Die Frage nach der Rolle des Geschlechts im Asylrecht stellt sich zunächst in der Pra-
xis der Beweiswürdigung. Häufig unterscheiden sich die Fluchtgründe der Frauen
nicht von jenen der Männer (es sind also keine frauen- oder geschlechtsspezifischen
Gründe). Wenn Frauen Fluchtgründe vortragen, ist zu untersuchen, ob das gesell-
schaftliche Geschlechterverhältnis bzw. das Geschlecht von AsylbewerberInnen bei
der Beweiswürdigung eine Rolle spielt. Wie bereits erwähnt, gelten einer niederländi-
schen Studie zufolge Frauen häufiger als gefährdet als Männer und erlangen öfters ei-
nen Aufenthaltsstatus. In der Studie wird aber auch dargestellt, dass rigide Ge-
schlechtsstereotypen zum Einsatz kommen und Verfahren dann positiv abgeschlos-
sen werden, wenn Frauen diesen Stereotypen entsprechen (Spijkerboer 2000: 193).
Stereotypisierungen sind im Zusammenhang mit dem asylrechtlichen Erfor-
dernis der Glaubhaftmachung zu sehen: Die Menschen kommen meistens ohne
Papiere, sie flüchten ohne Beweise. Wie kann man feststellen, ob ihre Schilderun-
gen der Wahrheit entsprechen? Im Grunde gilt, dass ein in sich schlüssiges Vor-
bringen, das mit objektiven Informationen aus dem Herkunftsland überein-
stimmt, glaubhaft ist. Frauen haben unter Umständen Schwierigkeiten, diese
Glaubwürdigkeitskriterien zu erfüllen, wenn sie nicht einem stereotypen Rollen-
bild entsprechen, zum Teil, weil Herkunftsländerinformationen ein solches Rol-
lenbild untermauern, zum Teil, weil es nicht der allgemeinen Lebenserfahrung
entspricht, dass sich Frauen untypisch verhalten (Wildt 2010b: 38). Im Folgenden
werden zwei Probleme untersucht, die sich aus den Erfordernissen der Glaubhaft-
machung ergeben: Erstens können Rollenstereotypen ein Hindernis darstellen
(siehe unten 1.1). Zweitens kommen, wenn die Glaubhaftigkeit überprüft wird,
im Verfahren spezifische Fragetechniken zur Anwendung, die die Schilderungen
von Gewalterfahrungen erschweren können (siehe unten 2.2).

1.1 Glaubhaftigkeit aufgrund stereotyper Rollenzuweisung

Nach unsicheren Schätzungen flüchtet ca. jede fünfte Frau „alleine“, d. h. ohne
männliche Angehörige. Einige von ihnen haben Kinder, die sie im Herkunftsstaat
zurücklassen. Frauen werden dann über den Verbleib der Kinder sehr detailliert
befragt. Es handelt sich dabei um eine der auffälligsten Fragen an Frauen im erst-
instanzlichen Verfahren (Spijkerboer 2000: 103). Die Beweiswürdigung kann
dann so aussehen: Wenn eine Mutter ohne ihre Kinder weggeht, dann gibt es dort
einen sicheren Ort für die Kinder, an dem sie vielleicht auch selber hätte bleiben
können. Auch Männern wird die Frage gestellt, wie ihre Familienangehörigen im
184 Anna Wildt

Herkunftsstaat leben. Daraus werden aber zumeist keine Schlüsse über ihre
Glaubwürdigkeit gezogen (Wildt 2010b: 36; a. A. Freedman 2007: 17). Frauen
hingegen wird aufgrund der Tatsache, dass sie biologisch Frauen sind, die Auf-
gabe der Kinderbetreuung zugeschrieben. Wenn sie ihre Kinder zurücklassen,
wird ihnen nicht geglaubt, dass sie im Herkunftsland einer Gefahr ausgesetzt
sind. Ich möchte hierzu ein Beispiel aus der Praxis erläutern:
Eine afghanische Lehrerin hat sich für die Schulbildung von Frauen in Afgha-
nistan eingesetzt. Sie hat dazu für eine belgische und eine amerikanische NGO in
Afghanistan gearbeitet. Dort wurde ihr zugetragen, dass ihr Leben in Gefahr ist.
Aus Angst vor politischer Verfolgung durch die Taliban ist sie im Jahr 2000 nach
Österreich geflohen. Im Verfahren wurde sie danach befragt, ob sie Kinder habe.
Hier folgt ein Auszug aus dem Einvernahmeprotokoll. Dieses zeigt auch eine ty-
pische Fragetechnik, mit der anhand des Äußerns von Zweifeln die Glaubhaftig-
keit überprüft wird (siehe Erläuterungen dazu unter 1.2):
„Frage: Warum haben Sie Angst von den Taliban umgebracht zu werden, wenn Sie sogar bei dem
obersten Chef für Unterrichtsangelegenheiten vorgesprochen haben und er ihnen sogar ein Ge-
spräch gewährte?
Antwort: Zu dieser Zeit wusste ich noch nicht, dass mein Leben in Gefahr ist. Jedoch kurz vor
meiner Ausreise teilte mir die Partei mit, dass mein Leben in Gefahr sei.
Konkret befragt gebe ich an, dass ich deswegen meine Kinder nicht mitgenommen habe, weil ich
nicht so viel Geld besaß.“ (BAA 30. 6. 2000, 99 14.210-BAT, zitiert nach UBAS 22. 10. 2001,
218.003/7-II/04/01)

Die Formulierung im Protokoll „konkret befragt gebe ich an, dass ich deswegen
meine Kinder nicht mitgenommen habe . . .“ zeigt, dass die Asylwerberin die
„Familienfrage“ nach dem Verbleib ihrer Kinder nicht in ihre freie Erzählung
über ihre Gefährdung einbaut. Die BeamtInnen fragen aber sofort nach – und
zwar genau an der Stelle, an der es um die Glaubhaftigkeit der Lebensgefahr geht.
Wenn so etwas passiert, kann man die Beweiswürdigung erahnen – man kann
auch, ohne dass das in die Beweiswürdigung im schriftlichen Bescheid einfließen
muss, erkennen, dass für die Behörde ein Zusammenhang besteht zwischen der
Glaubwürdigkeit der Gefährdung und der Sorgepflicht bzw Reproduktionsarbeit
der Frau. Nicht daraus geschlossen wird, dass die Antragstellerin stereotypen ös-
terreichischen Vorstellungen über Mütter nicht entspricht, vielleicht aber doch
gute Asylgründe haben könnte. Stattdessen ist in der anschließenden Beweiswür-
digung der Behörde zu lesen:
„Im Zuge Ihrer Einvernahme führten Sie aus, dass Sie bis zu Ihrer Ausreise keine Probleme mit
Angehörigen der Taliban hatten. Deshalb ist für die erkennende Behörde nicht glaubwürdig, dass
Sie lediglich aufgrund der Nachricht eines Parteimitgliedes, dass Ihr Leben in Gefahr sei, das
Land verlassen haben wollen und Ihre Kinder dort zurückgelassen haben wollen.“ (BAA 30. 6.
2000, 99 14.210-BAT, zitiert nach UBAS 22. 10. 2001, 218.003/7-II/04/01)
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 185

Aufgrund des weiblichen Rollenbildes wird einer Mutter nicht geglaubt, dass sie
ihre Kinder einer Gefahr aussetzen und in einer unsicheren Umgebung zurücklas-
sen könnte. Die dieser Frau zugeschriebene Geschlechtsrolle lässt es nicht zu, ihr
das Fluchtvorbringen zu glauben. Das Bundesasylamt geht in dem Fall davon
aus, dass dieser Frau – genauso wie es für die Kinder dieser Frau angenommen
wird – ein sicherer Aufenthaltsort in Afghanistan zur Verfügung stünde und daher
ihr Vorbringen über die Verfolgungsgefahr nicht der Wahrheit entsprechen kann.
Die stereotype Geschlechtsrolle lässt hier Müttern auf der Flucht nur zwei Alter-
nativen: aufgrund der Gefährdung die Kinder auf die Flucht mitzunehmen oder
sich im Herkunftsland um die Kinder zu kümmern.
Dieses Frauenbild setzt auch voraus, dass alle Frauen in Afghanistan die Aufgabe
haben, die Kinder zu pflegen und zu erziehen. Die Zuschreibung einer traditionellen
Rollenaufteilung kann auch mit der Herkunft in Verbindung stehen. An dem Fallbei-
spiel ist nämlich interessant, dass festgestellt wurde, die betroffene Lehrerin habe frü-
her monatelange Auslandsreisen unternommen, weil sie für westliche NGOs ge-
arbeitet habe. Mit der Frage, wie in dieser Zeit ihre Kinder versorgt wurden, hat sich
die Behörde nicht auseinandergesetzt. Das untermauert die Hypothese, dass es sich
um eine stereotype Rollenzuschreibung handelt. Dass die Frau zur Bildungselite
zählt, in der die Reproduktionsarbeit anders geregelt sein kann, oder dass vielleicht
auch Rollenverschiebungen eingetreten sind, aufgrund von geänderten Lebensbedin-
gungen im Zuge von Konflikten/Kriegen, wird nicht beachtet.
Es besteht daher im Rahmen der Beweiswürdigung die Gefahr, dass bei der
Verwendung von geschlechterstereotypen Maßstäben Frauen vom Zugang zum
Recht ausgeschlossen werden.
Einen Nachtrag möchte ich noch zu männlichen Asylsuchenden machen: Es
kommen in Entscheidungen Stereotypisierungen vor, die nur den alphabetisierten
Mann als glaubwürdig politisch aktiv sehen (UBAS 12. 4. 2007, 236.104-0/14E-
XVIII/60/03; UBAS 6. 9. 2007, 265.251/0/6E-XX/25/05). Kann ein Asylwerber
nicht lesen und schreiben, wird beweiswürdigend angenommen, dass der Her-
kunftsstaat diesen Asylwerber nicht für ausreichend staatsgefährdend halten wür-
de und daher eine Verfolgungsgefahr nicht wahrscheinlich sei (Wildt 2010b: 67).
Der politische Aktivist wird über eine stereotype europäische Vorstellung von
Männlichkeit konstruiert, die männlichen Flüchtlingen vorgehalten wird.

1.2 Techniken der Glaubhaftmachung

Die Plausibilität eines Vorbringens wird mit bestimmten Fragetechniken über-


prüft. Ohne Plausibilitätserwägungen kommt keine Rechtsprechung durch die
186 Anna Wildt

Beweiswürdigung. Wie das oben erläuterte Beispiel zur Befragung der Lehrerin
und politischen Aktivistin aus Afghanistan aufzeigt, wird die Glaubhaftigkeit
häufig so überprüft, dass den Asylsuchenden eine andere Würdigung ihres Vor-
bringens entgegengehalten wird. Das heißt, dass sie im Ermittlungsverfahren von
der Behörde mit Ansichten konfrontiert werden, aufgrund derer das Vorbringen
auch nicht geglaubt werden könnte. Jedenfalls haben die Asylsuchenden das
Recht, auf Einwände zu erwidern. Das ist das Recht auf Parteiengehör, ein Prin-
zip des fairen Verfahrens.
Die Behörde hinterfragt die Schilderungen sehr genau, indem sie den Flücht-
lingen Vorhalte macht. Das ist eine Fragetechnik, die einem Verhör ähnlich ist.
Sie kommt zur Anwendung, wenn die Behauptung einer Person über ihr Verhal-
ten überprüft werden muss, ohne gesicherte Beweise dafür zu haben. Hinzu
kommt, dass es sich bei den einvernehmenden BeamtInnen oft um ausgebildete
PolizistInnen handeln kann, die eine Stelle am Bundesasylamt angenommen ha-
ben. Aber es ist auch verständlich, dass das, was von außen betrachtet so aussieht,
als würde im Verfahren nach einem Abweisungsgrund gesucht, die Plausibilitäts-
prüfung von Behauptungen ist, die in jedem ordnungsgemäß geführten Beschei-
nigungsverfahren durchgeführt werden muss. In solchen Verfahren müssen die
Aussagen nicht bewiesen werden, sondern schlüssig sein.
Wenn Flüchtlinge sexuelle Gewalt erlebt haben, bestehen besondere Vorga-
ben für das Ermittlungsverfahren. Zum Beispiel ist in diesem Fall das Recht des
Asylsuchenden zu berücksichtigen, von einer Person des gleichen Geschlechts
befragt zu werden. Klingen die Schilderungen der Vorfälle abwesend oder me-
chanisch, werden im Zuge eines solchen Ermittlungsverfahrens häufig Gutachten
eingeholt zur Frage, ob eine Traumatisierung vorliegt. Eine mechanische Schil-
derung kann Schwierigkeiten bereiten, einem Vorbringen Glauben zu schenken.
Die Glaubhaftigkeit sollte nicht aus diesem Grund abgesprochen werden, wenn
es sich dabei um die Folgen einer traumatischen Gewalterfahrung handelt.
Werden Opfer sexueller Gewalt einvernommen, ist auch das Erfordernis einer
empathischen Befragung zu beachten. Herauszufinden, ob die Asylsuchenden bei
Zweifelsfragen bei ihrem Vorbringen bleiben, ist aber dennoch eine Methode, mit
der sich die Behörde von der Glaubhaftigkeit der Schilderungen überzeugt, auch
wenn das Augenmerk nicht direkt auf die Gewalterfahrung, sondern auf andere
Umstände gerichtet wird. Empowerment ist daher in der Vorbereitung auf das
Verfahren wichtig. Das ist eine schwierige Aufgabe, sobald es sich um Opfer
sexueller Gewalt handelt. Denn es wird in einem Verfahren, das eigentlich der
Feststellung der Hilflosigkeit einer Person dient, verlangt, dass diese Person die
Opferrolle verlässt. Das heißt, dass sich Opfer im Verfahren „wehren“ müssen,
indem sie Zweifel entkräften, und zwar im Rahmen einer emotional belastenden
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 187

Situation, wie sie zunächst die Erinnerung an das Ausgeliefertsein darstellen


kann. Das kann im Rahmen des Verfahrens ein verstärktes Wiedererleben der
Hilflosigkeit nach sich ziehen. Die Forderung nach einer empathischen Befra-
gung sollte daher die Gefahr der Retraumatisierung durch die Einvernahme hint-
anhalten. Das verfahrenstechnische Erfordernis, die Behauptungen zu überprü-
fen, steht dem unter Umständen entgegen. Werden Asylsuchende mit Zweifeln an
ihren Schilderungen konfrontiert, wird das Verhalten auf diese Personen distan-
ziert, wenn nicht sogar abwehrend wirken. Das Bescheinigungsverfahren kann
sich hier nachteilig auf Opfer sexueller Gewalt auswirken.

2 Gender als Verfolgungsgrund? Das Statusproblem für Opfer


geschlechtsspezifischer Menschenrechtsverletzungen

Im Asylverfahren spielen unterschiedliche Schutz- und Aufenthaltsrechte eine


Rolle. Nach der meist illegal erfolgten Einreise wird aufgrund einer Asylantrag-
stellung der Aufenthalt so lange geduldet, bis das Aufenthaltsrecht geklärt ist. Die
Klärung dieses Aufenthaltsrechtes kann im Fall von geschlechtsspezifischer Ver-
folgung auch so aussehen, dass keine Asylgewährung erfolgt, die Betroffenen
aber dennoch einen zeitlich begrenzten Aufenthalt erlangen, so lange ihre Ge-
fährdung im Herkunftsstaat anhält. Menschen, die bei ihrer Rückkehr einer er-
heblichen Bedrohung ausgesetzt sind, dürfen nicht abgeschoben werden (Re-
foulementverbot). Das entspricht auch dem Erfordernis des so genannten subsi-
diären Schutzes, ein gesondertes Aufenthaltsrecht für die Dauer von einem Jahr.
Ich werde im nächsten Teil auf die Antragsgründe von Frauen eingehen, die für
eine Asylgewährung als nicht ausreichend gesehen wurden. Da diese Frauen aber
im Herkunftsstaat massive Menschenrechtsverletzungen zu befürchten hatten,
haben sie aufgrund dieser humanitären Schutzbedürftigkeit einen zeitlich be-
grenzten Aufenthalt erlangt.
Wer unter den „klassischen“ Flüchtlingsbegriff fällt, wer also politisch, reli-
giös oder aufgrund seiner/ihrer Ethnie oder der Zugehörigkeit zu einer sonstigen
gesellschaftlichen Gruppe verfolgt ist, erhält Asyl (vgl. § 3 AsylG 2005 iVm
Art 1 A Z 2 GFK). Wer im Herkunftsstaat massive Menschenrechtsverletzungen
zu befürchten hat, jedoch kein Asyl erlangen kann (die Situation dieser Person ist
also nicht vom Flüchtlingsbegriff erfasst), erhält subsidiären Schutz. Das ist das
zeitlich begrenzte Aufenthaltsrecht für ein Jahr mit Verlängerungsmöglichkeit für
jene, die bei einer Rückkehr gravierende Menschenrechtsverletzungen zu be-
fürchten haben, ohne Asylgründe vorweisen zu können (aufgrund fehlender poli-
tischer, ethnischer, religiöser oder sozialer Verfolgungsgründe; s. o.).
188 Anna Wildt

Solche Gefährdungen, die für sich allein betrachtet nicht zur Asylgewährung
führen, betreffen z. B. ZivilistInnen in Bürgerkriegsregionen (wie etwa in Teilen
Somalias) oder schwer erkrankte Menschen, die im Herkunftsland nicht behan-
delt werden können. Das trifft z. B. auf HIV-infizierte Menschen oder auf Asylsu-
chende mit einer Hepatitis-C-Erkrankung zu, sofern sich die Krankheit in einem
fortgeschrittenen Stadium befindet und bei einer Rückkehr in den Herkunftsstaat
keine ausreichende Behandlungsmöglichkeit gegeben wäre.
Im europäischen Vergleich pflegte die österreichische Rechtsprechung bisher
einen hohen humanitären Standard, und zwar schon in der ersten Instanz vor dem
Bundesasylamt. Nach den Kriterien des Europäischen Gerichtshofes für Men-
schenrechte wäre, je nach Krankheitsstadium, zum Teil eine Rückführung er-
laubt. Nach meiner Erfahrung wird das aufgrund der humanitären Tradition in der
österreichischen Rechtsprechung noch nicht so gehandhabt. Das ist für mich ein
gutes Beispiel für eine traditionelle nationale Rechtsprechungslinie, die zu einem
Ergebnis führen kann, das den Flüchtlingen nützt. Ein häufiges Kriterium für die
subsidiäre Schutzwürdigkeit ist auch eine Traumatisierung. Das wird vor allem
bei sexueller Gewalt häufig vorgebracht. Gerade im Bereich „Gewalt gegen Frau-
en“ gibt es gehäuft Entscheidungen, wonach die Rückkehr aus medizinisch-psy-
chologischen Erwägungen nicht zumutbar ist. Das ist z. B. der Fall, wenn ein neu-
erliches Zusammentreffen mit dem Gewalttäter nicht ausgeschlossen werden
kann, sofern dieses Zusammentreffen zu einer Retraumatisierung führen würde
(AsylGH 17. 2. 2009, E3 255217-0/2008; AsylGH 8. 5. 2009, B13 232020-0/
2008; AsylGH 23. 6. 2009, B13 319626-1/2008).
Nach einer Studie der österreichischen Asylkoordination kommt es in der ös-
terreichischen Rechtsprechung statistisch seltener zur subsidiären Schutzgewäh-
rung als zur Asylgewährung (Langthaler et al. 2009: 13). Hingegen wird bei einer
Analyse von Fällen geschlechtsspezifischer Verfolgung erkennbar, dass bei be-
stimmten Fällen schwerster frauenspezifischer Rechtsverletzungen, wie z. B. bei
häuslicher Gewalt, häufig subsidiärer Schutz und nur selten Asyl gewährt wird
(Wildt 2010a).
Asyl und subsidiärer Schutz bedeuten unterschiedliche Rechte, subsidiär
Schutzberechtigte sind schlechter gestellt als Asylberechtigte. Beide Gruppen er-
halten zwar sofort Zugang zum Arbeitsmarkt, in Bezug auf ihre Aufenthalts-
rechte bestehen aber große Unterschiede: Während der Aufenthalt für Konven-
tionsflüchtlinge nicht befristet ist, müssen subsidiär Schutzberechtigte jedes Jahr
einen neuen Antrag stellen, und es wird immer wieder überprüft, ob die Gefähr-
dung noch vorliegt.
Der Zusammenhang zwischen prekären Aufenthaltstiteln – nur für ein Jahr –
und einer Traumatisierung oder einem post-traumatischen Belastungssyndrom ist
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 189

von Seiten der damit konfrontierten SozialarbeiterInnen kritisiert worden. Wie


soll sich ein Mensch erholen, wenn seine Aufenthaltssicherheit davon abhängt,
dass er sich nicht erholt? Diese aufenthaltsrechtlichen Rahmenbedingungen er-
schweren das Leben von Flüchtlingen mit Gewalterfahrungen und behindern die
Hilfeleistung (Prasad 2008: 8).
Es gibt darüber hinaus weitere Gründe, warum in diesen Fällen die subsidiäre
Schutzberechtigung nicht optimal ist. Konventionsflüchtlinge sind InländerInnen
in den sozialen Rechten gleichgestellt. Wenn subsidiär Schutzberechtigte beim
Wohnungsamt um eine Wohnung ansuchen oder Sozialhilfe benötigen – wie es
für Menschen mit schwerer Krankheit oder Traumatisierung der Fall sein kann –,
dann finden sie derzeit oft keinen Zugang zu jenen Sozialleistungen, die sie für
eine Stabilisierung benötigen. Subsidiär Schutzberechtigte sind zwar nach wie
vor grundversorgt, wenn sie nicht für sich selbst sorgen können. Die Grundver-
sorgung beträgt aber nur einen Bruchteil der Sozialhilfe, wovon die Betroffenen
kaum leben oder eine Wohnung bezahlen können. Zugang zum Arbeitsmarkt ha-
ben beide Gruppen, aber die Verleihung der Staatsbürgerschaft kann eine Asylbe-
rechtigte nach fünf Jahren und eine subsidiär Schutzberechtigte frühestens nach
15 Jahren zulässig beantragen. Ein Beispiel aus der Praxis lieferte die Unabhän-
gigkeit des Kosovo 2008. Es stellte sich damals die Frage, ob die einjährige Auf-
enthaltsberechtigung für Flüchtlinge aus der Region weiterhin verlängert werden
könne oder ob die Kriegsflüchtlinge, nachdem sie sich jahrelang legal in Öster-
reich aufgehalten hatten, den Aufenthaltsstatus verlieren würden. Anfragen ka-
men auch von Arbeitgebern, weil der Buchstabe des Gesetzes die Interpretation
zugelassen hätte, dass die Aufenthaltsberechtigung aufgrund einer fehlenden
Schutzbedürftigkeit nicht mehr verlängert werden muss. In die Rechtsberatung
kamen damals auch Frauen, deren geschlechtsspezifische Gründe für die Flucht
Jahre zuvor nicht als Asylgründe anerkannt worden waren. Es kann sein, dass bei
frauenspezifischen Menschenrechtsverletzungen unter Umständen nur subsidiä-
rer Schutz erlangt werden kann.
Nach österreichischer Rechtslage ist bei Verfolgung aufgrund des Geschlechts
ein Zusammenhang mit den geschlechtsneutral formulierten Fluchtgründen der
Genfer Flüchtlingskonvention herzustellen. Geschlecht ist eine Analysekatego-
rie, eine Auslegungshilfe für unbestimmte Rechtsbegriffe, wie etwa für den Be-
griff der „Verfolgung“ oder „der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen
Gruppe“ in der Genfer Flüchtlingskonvention. Eine Genderperspektive dient der
Konkretisierung dieser Begriffe in Bezug auf einen Einzelfall und kann Asyl be-
gründen.
190 Anna Wildt

Wie wird der Geschlechtsbegriff im Flüchtlingsrecht definiert?

Nach den UNHCR-Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung bezeich-


net
„(d)er Begriff ,Geschlecht‘ in seiner sozialen Bedeutung die Beziehungen zwischen Frauen und
Männern auf der Grundlage gesellschaftlich oder kulturell üblicher oder definierter Identitäten,
Rechtsstellungen, Rollen und Aufgaben, die dem einen oder anderen Geschlecht zugewiesen
sind“ (Z 3 UNHCR-Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung; Anm.: Hervorhebungen
durch die Autorin)

In der österreichischen juristischen Fachliteratur wird Geschlecht von Feßl/Holz-


schuster definiert (Feßl/Holzschuster 2006: 108). Danach bestimmt sich die gen-
dersensible Beurteilung des Fluchtgrundes „Zugehörigkeit zu einer bestimmten
sozialen Gruppe“ so:
„Der Begriff Geschlecht hat eine biologische und eine soziale Bedeutung, wobei die soziale Be-
deutung mit dem englischen Begriff ,gender’ bezeichnet wird. Wird dieser soziale Begriff ,gen-
der‘ herausgearbeitet, der durch die kulturellen, sozialen und familiären Kriterien geprägt ist,
und dazu führt, dass (allenfalls: bestimmte Gruppen von) Frauen in dem betreffenden Herkunfts-
staat als besondere (unterprivilegierte) Gruppe wahrgenommen werden, so kann sehr wohl eine
Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe vorliegen.“ (Anm.: Hervorhebungen
durch die Autorin)

Diese Definition besagt, dass Gender durch „kulturelle, soziale und familiäre Kri-
terien“ geprägt ist. Es stellt sich hier die Frage, welche diese Kriterien sind, die
für eine Untersuchung des Geschlechterverhältnisses herangezogen werden soll-
ten. Die Definition des UNHCR ist hier präziser. Bei der geschlechtssensiblen
Beurteilung von Fluchtgründen sind die unterschiedlichen Identitäten, die unter-
schiedlichen sozialen Aufgaben und auch die unterschiedlichen Rechtsstellungen
zu berücksichtigen. Damit ist nicht bloß der formale Rechtsstatus gemeint. Die
UNHCR-Richtlinien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung beschäftigen sich
auch mit dem Problem, dass Frauen im Vergleich zu Männern de facto nicht den
gleichen Zugang zum Recht haben (Z 15 UNHCR-Richtlinien zur geschlechts-
spezifischen Verfolgung).
Das zeigt etwa die österreichischen Judikatur: Fälle von häuslicher Gewalt
gegen Frauen lassen erkenne, dass das Kriterium der unterschiedlichen Rechts-
stellungen in der Auslegung des Flüchtlingsbegriffs nicht die Berücksichtigung
findet, die es nach den UNHCR-Richtlinien finden sollte.
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 191

3 Ausgewählte Judikatur zu frauenspezifischen Verfolgungsgründen

Die Judikatur lässt sich unterteilen in Fälle von Flucht vor Diskriminierungen,
Flucht vor Sanktionen aufgrund der Verletzung von Sozialnormen und Flucht vor
Gewalt.
Zu fragen ist, wie gesetzliche und gesellschaftliche Diskriminierungen und
die Gewalt aufgrund von Diskriminierungen sowie der fehlende staatliche
Schutz in die Fluchtgründe der Genfer Konvention einzuordnen sind. Der Deut-
sche Juristinnenbund spricht in diesen Zusammenhängen generell von der „Ent-
rechtung der Frauen“ (djb 2001). In der österreichischen Judikatur wurden im
Jahr 2002 Bildungs-, Berufs- und Ausgangsverbote sowie die fehlende Gesund-
heitsversorgung für Frauen in Afghanistan als frauendiskriminierend gewertet,
die mehrfache Diskriminierung erreichte Verfolgungsintensität (VwGH 16. 4.
2002, 99/20/0483; VwGH 20. 6. 2002, 99/20/0172). Frauen waren unter den
Taliban per Dekret rechtlich schlechter gestellt. In der österreichischen Judika-
tur ist sichtbar, dass zunächst für die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft
eine gesellschaftliche Gruppe, die von Frauen aus Afghanistan, durch die for-
malrechtlich festgelegte unterschiedliche Rechtsstellung gebildet werden konn-
te. Es war daher erkennbar, dass Geschlecht die Bedingung für die Verfolgung
in Form von schweren, kumulativen Diskriminierungen bis hin zur fehlenden
ärztlichen Versorgung darstelle. Nach dem Sturz der Taliban wurde erkannt,
dass zwar Verfassungsänderungen vorgenommen worden sind, sich aber trotz
formalrechtlicher Gleichstellungsversuche die tatsächliche Lage der Frauen
nicht geändert hatte. Frauen wurden weiterhin diskriminiert, der Staat schützte
sie nicht ausreichend. Das führte trotz der geänderten Rechtslage zur Asylge-
währung für afghanische Frauen aufgrund der Verfolgung wegen ihres Ge-
schlechts.
Weiters sind Situationen zu untersuchen, in denen Frauen von Menschen-
rechtsverletzungen bedroht sind, weil ihnen vorgeworfen wird, Sozialnormen zu
übertreten. Ein Beispiel für diese Form der Verfolgung ist drohender Ehrenmord.
Die Rechtsprechung erkennt, dass Geschlechterverhältnisse durch Regeln zum
Schutz der Familienehre bestimmt sein können. Wenn eine Frau gegen diese Re-
geln verstößt, besteht die Gefahr, dass sie durch ihre Familienangehörigen ver-
folgt wird und gleichzeitig vom Staat kein ausreichender Schutz zu erwarten ist.
Das war z. B. der Fall für eine türkische Staatsbürgerin, die in der Türkei gegen
den Willen ihrer Eltern geheiratet hatte (AsylGH 12. 1. 2009, E3 239432-0/
2008). Das Ehepaar flüchtete aufgrund von Morddrohungen der Familie der Frau.
Die Mittel zur Bescheinigung der Bedrohung waren in diesem Fall ausnahms-
weise sehr gut. Das Paar konnte glaubhaft machen, dass die Familie Nachfor-
192 Anna Wildt

schungen über ihren Aufenthaltsort angestellt hatte. Ein anderes Beispiel betrifft
eine ukrainische Staatsangehörige, die Angehörige der tartarischen Minderheit
war und ein uneheliches Kind von einem bereits verheirateten Mann erwartet hat
(AsylGH 2. 10. 2008, D8 304580-1/2008); ihr drohte ebenfalls die Ermordung
aufgrund des herrschenden Ehrenkodex. Der Asylgerichtshof befand, dass der
staatliche Schutz nicht ausreichend gegeben war:
„Aus den Länderfeststellungen zur Ukraine geht hervor, dass die Krim-Tartaren gesellschaftli-
chen Diskriminierungen ausgesetzt sind und unter hoher Arbeitslosigkeit leiden. Häusliche Ge-
walt wird in der Ukraine als Privatsache und nicht als Straftat betrachtet, weshalb es die Exeku-
tive häufig ablehnt, einzuschreiten bzw die Gerichte die Täter mit überaus geringen Strafen bele-
gen.“ (AsylGH 2. 10. 2008, D8 304580-1/2008)

Im Vergleich zu diesem Ehrendelikts-Fall lässt sich aber aus dem mangelhaften


Schutz vor häuslicher Gewalt generell kein Asylgrund ableiten. Im konkreten
Fall ging es um eine erhöhte gesellschaftliche Diskriminierung aufgrund einer be-
stimmten ethnischen Zugehörigkeit und um generelle Schutzmängel bei häusli-
cher Gewalt. Nachdem die Asylwerberin flüchtlingsrechtlich einer gesellschaftli-
chen Gruppe zugerechnet werden konnte, in der Abweichungen von der Rollen-
zuschreibung zur Bedrohung aufgrund des Ehrenkodex führen und Opfer fami-
liärer Gewalt unter Schutzmängeln leiden, begründete die mangelhafte Schutzge-
währung in diesem Fall die Flüchtlingseigenschaft.
Bei „bloßer“ häuslicher Gewalt wird jedoch im Gegensatz zu Ehrendelikten
häufig kein Zusammenhang zwischen Verfolgungshandlung und Geschlechtszu-
gehörigkeit gesehen.3 In Hinblick auf die Genderdefinition der UNHCR-Richtli-
nien zur geschlechtsspezifischen Verfolgung erscheint diese Auslegung zu eng,
wenn in diesen Fällen der staatliche Schutz vor häuslicher Gewalt nicht vorhan-
den ist oder nicht effektiv ist. Die Richtlinien definieren Geschlecht als Beziehun-
gen zwischen Frauen und Männern, die aufgrund unterschiedlicher Rechtsstel-
lungen geprägt sein können. Ob eine Frau flüchtlingsrechtlich einer schutzlosen
oder verfolgten Gruppe zugehört, ist eine Frage der Auslegung der Genfer
Flüchtlingskonvention. Aufgrund der Genderdefinition der UNHCR-Richtlinien
ist es bei dieser Auslegung zu beachten, ob Frauen menschenrechtlich eine an-
dere Rechtsstellung einnehmen als Männer. Wird scheinbar geschlechtsneutral
gegen häusliche Gewalt nicht vorgegangen, werden Frauen durch den fehlenden
staatlichen Schutz geschlechtsspezifisch diskriminiert, solange Frauen überwie-

3 Die Beurteilung von Verfolgung aufgrund des mangelnden Gewaltschutzes ist aber herkunftslän-
derspezifisch unterschiedlich, vgl. etwa Asylgewährung bei häuslicher Gewalt im Iran, Afghanis-
tan: Es ist anzunehmen, dass die gravierende Entrechtung der Frauen in diesen Fällen die Bildung
einer von der häuslichen Gewalt unabhängigen gesellschaftlichen Gruppe, die der Frauen, zulässt
und zur Asylgewährung führt.
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 193

gend von dieser Form der Gewalt betroffen sind. Das heißt, in einem solchen
Staat sind die Menschenrechte von Frauen im Fall von häuslicher Gewalt ausge-
setzt. Aber wenn unter dem Begriff der Rechtsstellung oder des Status nur die for-
malen Rechte verstanden werden und auf unmittelbare Diskriminierungen abge-
stellt wird, fallen solche Menschenrechtsverletzungen nicht ins Gewicht. Dieses
Rechtsverständnis widerspricht der Menschenrechtsdoktrin und der Rechtspre-
chung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte. Demnach sind
Schutzrechte keine theoretische Angelegenheit, sondern müssen praktisch wirk-
sam vor Menschenrechtsverletzungen schützen, sonst existieren sie de facto
nicht. Das bedeutet, dass Frauen menschenrechtlich eine andere Rechtsstellung
zukommt als Männern.
Dass nach der immer wiederkehrenden Auffassung des Asylgerichtshofes Ge-
schlechtergleichstellung im Recht bereits mit formaler Rechtsgleichheit einherge-
hen soll, liegt aber nicht nur an einer liberalen Rechtsauffassung und an der Au-
ßerachtlassung der menschenrechtlichen Schutzpflichtendogmatik, sondern auch
an der eingeschränkten Sicht auf „soziales Geschlecht“, wonach nur untersucht
wird, ob es „traditionelle Sozialnormen“, die durch einen Ehrenkodex bestimmt
sind, gibt oder ob z. B. eine Tradition der Genitalverstümmelung besteht. Bei der
Frage, welche Rechtsstellung Frauen im Vergleich zu Männern einnehmen, wird
oft nicht mehr untersucht, wen schützt das Recht und wen schützt es nicht. Der
mangelhafte staatliche Schutz vor Gewalt gegen Frauen führt dann nicht zur Zu-
erkennung der Flüchtlingseigenschaft. Das kann mitunter ein Grund dafür sein,
dass eine Verfolgung wegen des Geschlechts häufig nur in Ehrenmordszenarien,
bei drohenden Zwangsverheiratungen oder drohender Genitalverstümmelung
festgestellt wird, nicht jedoch bei häuslicher Gewalt.
Häusliche Gewalt ist so gesehen „geschlechtsneutrale“ Kriminalität, wie
Raubüberfälle, selbst wenn die Gewalttaten überwiegend gegen Frauen verübt
werden. Das liegt aber, wie bereits erläutert, auch daran, dass im engen Sinn die
häuslichen Gewaltopfer nicht als eine – vor der Rechtsverletzung bestehende –
gesellschaftliche Gruppe gesehen werden. Im Asylrecht führt das unter Umstän-
den zum subsidiären Schutz, wenn nicht ausreichend Schutzmöglichkeiten im
Herkunftsland bestehen oder die Gefahr der Retraumatisierung bei einer Rück-
kehr vorliegt. Die Frauen erlangen einen zeitlich begrenzten Aufenthalt, aber
nicht Asyl.
Im September 2009 hat der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) eine wichtige
Entscheidung zur Frage der Gewalt gegen Frauen gefällt (VwGH 28. 8. 09, 2008/
19/1027). In Kirgisistan hatte sich eine zwangsverheiratete Frau scheiden lassen.
Nach ihrer Scheidung wurde sie weiterhin von ihrem Ex-Mann vergewaltigt und
geschlagen. Vor dieser Gewalt flüchtete sie nach Österreich. Im Asylverfahren
194 Anna Wildt

wurde festgestellt, dass die Frau in Kirgisistan nicht ausreichend geschützt sei.
Sie erhielt jedoch nur subsidiären Schutz, mit der Begründung, dass „bloße Opfer
familiärer Gewalt“ kein Asyl erhalten können. Wenn die Frau von ihrem Mann
geschlagen und vergewaltigt wird, ist ihr bloßer Opferstatus kein Asylgrund. Im
Wesentlichen wurde das so begründet:
„Diese Frau ist nicht zur ,Gruppe der Opfer von Zwangsverheiratungen‘ zu zählen, weil sie sich
scheiden lassen konnte und im Übrigen sind auch die Übergriffe ,rein im Zuge von häuslicher
bzw familiärer Gewalt‘ geschehen.“ (UBAS zitiert nach VwGH 28. 8. 09, 2008/19/1027)

Der Verwaltungsgerichtshof hat diesen Bescheid aufgehoben. Dass sich eine


zwangsverheiratete Frau scheiden lassen kann, sagt nichts darüber aus, wie sie
danach vom Exmann behandelt und vom Staat geschützt wird. Der VwGH sah
den Asylgrund in der „(früheren) Zugehörigkeit zur Familie des Verfolgers“ und
im Geschlecht verwirklicht. Also wir haben in diesem Sonderfall den kirgi-
sischen Staat, der formalrechtliche Geschlechtergleichstellung vorsieht (glei-
ches Scheidungsrecht), und dennoch kann häusliche Gewalt zur Asylgewährung
führen. Begründet wurde das folgendermaßen: Der Verfolger hat die Beendi-
gung der erzwungenen Ehe nicht hingenommen und deshalb versucht, die Frau
unter dem Einsatz von brutaler Gewalt zu einem ihm genehmen Verhalten zu
zwingen.
„Der frühere Ehemann betrachtet somit die Erstbeschwerdeführerin weiterhin als Teil seiner Fa-
milie, hinsichtlich dessen er sich das Recht anmaßt, durch Anwendung von auch geschlechtsspe-
zifischer Gewalt seinen Willen durchzusetzen.“ (VwGH 28. 8. 09, 2008/19/1027)

4 Mitsprachemöglichkeiten: Kann die Asylwerberin sprechen?

Wenn Sie mich aus meiner eingeschränkten Perspektive der Rechtsberatung fra-
gen, „Kann die Migrantin sprechen?“, dann würde ich antworten: Im Asylbe-
reich gibt es deutliche Grenzen. Asylwerberinnen und Asylwerber sind in hohem
Maß „repräsentierte Personen“ (Langthaler et al. 2009: 9; Spijkerboer 2000: 6).4
Das ist auch ein Ergebnis rechtlicher Verfahren, die so kompliziert sind, dass

4 Spiekerboer erfasste die Situation mit folgenden Worten: „Asylum seekers have little or no power
to influence the manner in which decisions are made about them. They have no institutional po-
wer, they usually have no money, they have little access to the media and other public sectors, and
they have no say in what their representatives (lawyers, lobbyists) may say on their behalf. This
means that people active in the field of refugee law (from local volunteer workers to Supreme
Court judges and academics) can represent asylum seekers however they wish and go virtually
unchecked by those they represent.“ (Spijkerboer 2000: 6)
Frauen im Spiegel des österreichischen Asylrechts 195

Flüchtlinge auf eine Vertretung angewiesen sind. Frauen werden im Verfahren


mit geschlechtsspezifischen und herkunftsspezifischen Stereotypisierungen be-
legt. Die Tatsache, dass Frauen nicht für sich selbst sprechen, ist aber auch ein Er-
gebnis des Geschlechterverhältnisses. In Familienverbänden sind es oft die Män-
ner, die die Behördenkontakte pflegen. 5
In der Asylpolitik haben Flüchtlinge keine Stimme, sie werden nicht nach ihrer
Meinung gefragt (Langthaler et al. 2009: 22). Angesichts einer zunehmend re-
striktiveren Asylpolitik in Österreich ist es für NGOs schwierig, gehört zu wer-
den. In den Flüchtlings-NGOs arbeiten viele Migrantinnen, darunter auch ehema-
lige Flüchtlinge, sie sind aber nicht auf der Leitungsebene zu finden (Langthaler
et al. 2009: 24).
Das Problem der geringen Mitsprachemöglichkeiten für Asylsuchende fängt
zunächst bei den Sprachbarrieren an. Mitarbeitende mit Migrationshintergrund
sind deshalb häufig in NGOs zu finden. Einigkeit herrscht darüber, dass es von
Vorteil ist, wenn AsylwerberInnen in der Beratung mit einer Person sprechen
können, die sie ihrer Community zuordnen. Werden in der Flüchtlingsberatung
Dolmetscherinnen benötigt, so bringen die AsylwerberInnen diese meistens aus
dem eigenen Umfeld mit. Die Fähigkeit der Flüchtlinge zur Selbstorganisation ist
für die Rechtsberatung sehr wichtig. Flüchtlingsberatungen arbeiten mit einge-
schränkten Ressourcen, sie könnten das nicht finanzieren, was die Flüchtlinge
selbst an gegenseitiger Unterstützung leisten (Langthaler et al.: 29). Die Rechts-
beratung der Caritas war in Salzburg im Jahr 2008 für ca 1.100 Asylsuchende zu-
ständig. Mit der damals budgetierten Ganztags- und einer Halbtagsstelle konnten
nicht alle Asylsuchende eingehend beraten und im Verfahren begleitet werden.
Mit solchen Ressourcen können bestenfalls Hilfestellungen beim Schreiben von
Berufungen geleistet werden, aber bei Behördeninterventionen wird sich eine
NGO auf besonders schutzwürdige Personen konzentrieren müssen. Das betrifft
vor allem Menschen, die sich aufgrund von Krankheit oder Ausgrenzung nicht
selbst organisieren können und dringend Hilfe im Verfahren benötigen. Heute ist
die Rechtsberatung in der Caritas Salzburg insgesamt nur mehr mit 12 Stunden
besetzt. Wenn die rechtliche Informationsarbeit aller in Salzburg tätigen NGOs
zusammengezählt wird, dann hat sich das Angebot für Asylsuchende im Ver-
gleich zu 2007 halbiert.
Die Asylwerberinnen informieren sich untereinander innerhalb der jeweili-
gen Community (Langthaler et al. 2009: 29). Der Austausch funktioniert recht
gut, kann aber manchmal auch zu Fehlinformationen führen. Die Caritas Salz-

5 Wobei man in diesem Zusammenhang Kulturalisierungen vermeiden und sich fragen sollte, ob
überhaupt ein spürbarer Unterschied im Vergleich zu inländischen Familien besteht.
196 Anna Wildt

burg hat daher 2007 damit begonnen, diese Selbstorganisation in den Flüchtlings-
quartieren mit Informationstagen zu unterstützen. Die Rechtsberatung hatte so re-
gelmäßigen Kontakt mit HelferInnen, DolmetscherInnen und MultiplikatorInnen
im direkten Umfeld der Asylwerberinnen und kannte die Probleme relativ gut.
Aber diese Selbstorganisationen bestehen trotzdem neben den NGOs und nicht
innerhalb der NGOs.
Ich denke, wenn man in der heutigen (Einsparungs-)Situation für die Asyl-
werberinnen in der Vorbereitung auf das Verfahren etwas verbessern möchte,
dann müssen die losen Selbstorganisationen im Umfeld der Asylwerberinnen
gendersensibel gestärkt und eingebunden werden, wo Rechtsberatungen die
rechtliche Perspektivenabklärung und Unterstützung für Frauenflüchtlinge orga-
nisieren. Perspektivenabklärung und Empowerment im Zuge der Verfahrensvor-
bereitung ist nicht pädagogisch gemeint (Rechtsberatungen wissen darüber nicht
besser Bescheid als die Betroffenen und ihr Umfeld). Man müsste auf die bereits
vorhandenen Kapazitäten aufbauen und Frauenflüchtlinge in der Selbstorganisa-
tion unterstützen, um sie für eine bevorstehende Einvernahme zu stärken. Die
Frage, welche Unterstützung hierfür angeboten werden kann, bleibt ressourcen-
abhängig.

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Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten
und -politiken in Europa. Ein Überblick über das
Forschungsprojekt VEIL
Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger
und Birgit Sauer

1 Einleitung

Eine stille Revolution und laute Antworten

In den fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gingen arabische Intellektuelle,


wie der Gelehrte Albert Hourani, davon aus, dass die Verschleierung von Frauen
bald ein Relikt der Vergangenheit sein werde (zit. n. Ahmed 2011: 19 ff.). In der
Tat, wie Leila Ahmed jüngst beschrieb, ist die Periode von 1900 bis 1920 als das
Zeitalter der „Entschleierung“ des Nahen Ostens zu definieren (Ahmed 2011:
40). Von 1920 bis 1960 war die Nicht-Bedeckung von Frauen, säkularer als auch
frommer Musliminnen, in Ländern des Nahen Ostens wie Ägypten gar die Norm.
Diese Entwicklungen scheinen angesichts der jüngeren Ereignisse in den arabi-
schen Ländern, aber auch in der westlichen Welt zunehmend umgekehrt. Eine
„stille Revolution“ nennt Ahmed (2011) diese erneute Rückkehr der muslimi-
schen Bedeckung. Weniger still wiederum ging die Debatte um die muslimische
Bedeckung in Europa von statten. Kaum ein Thema hat die politischen Arenen in
Europas Einwanderungsländern im letzten Jahrzehnt so anhaltend und lautstark
dominiert wie das muslimische Kopftuch (siehe dazu auch Hadj-Abdou in diesem
Band).
Aus einer US-amerikanischen Perspektive, welche unter anderem von einem
völlig anderen historischen Verständnis der Religionsausübung ausgeht (siehe
dazu etwa Nussbaum 2008), als das auf dem europäischen Kontinent der Fall ist,
scheint die Aufregung der „alten“ Welt um das „Tuch“ zuweilen unverständlich.
In der Tat ist das muslimische Kopftuch in den Vereinigten Staaten verglichen mit
Europa kaum in den Mittelpunkt politischer Regulierung und Kontroversen ge-
rückt (für eine Erklärung dazu siehe Zollberg und Woon 1999). Dies verdeutlicht,
dass der Terroranschlag 9/11, welcher oft als Schlüsselereignis herangezogen
wird, um den politischen Fokus auf muslimische Praxen wie das Kopftuch zu er-

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_11,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 199

klären, definitiv nicht ausreicht, um dieses europäische Phänomen zu verstehen.


Noch komplizierter wird es, wenn wir die recht unterschiedlichen politischen
Antworten betrachten. Hege Skjeie (2007) hat als eine der ersten eine Klassifizie-
rung europäischer Staaten im Hinblick auf Kopftuchpolitiken vorgeschlagen und
diesbezüglich eine Dreiteilung Europas vorgenommen. Sie unterscheidet zwi-
schen „nicht regulativen“ Regimen, also Ländern ohne (einschränkende) Rege-
lungen, „selektiven“ Kopftuchregimen, welche für manche Formen der Bede-
ckung prohibitive Regelungen umsetzten, und „toleranten“ Regimen, welche sich
ausdrücklich für erlaubende Maßnahmen hinsichtlich des muslimischen Kopf-
tuchs entschieden.

Zwei Ausgangsfragen, ein Projekt

Beobachtet man diese Entwicklungen, so ergeben sich zwei grundlegende Fra-


gen: Worum drehen sich die Auseinandersetzungen um das muslimische Kopf-
tuch in den länderspezifischen europäischen Debatten? Warum finden sich derar-
tig unterschiedliche politische Antworten in den europäischen Ländern? Zwar
hatten sich in den 1990-er Jahren und bis zur Mitte der 2000-er Jahre bereits eine
Reihe von Wissenschaftler/innen in einzelnen Länderstudien mit Kontroversen
zum Kopftuch beschäftigt (Amir-Moazami 2005, Altinordou 2004, Berghahn
2004, Göle 1997, Mushaben 2004, Poulter 1997, Saktanber 2002), doch gab es
keine vergleichende Studie, die diese neue politische Realität systematisch analy-
sierte und somit zu ihrem Verstehen beitrug.
Das Forschungsprojekt VEIL1 hat den Anspruch, diese Forschungslücke zu
schließen. So schien ein Verstehen dieser Entwicklungen aus mehreren Gründen
relevant: Zum einem war angesichts der Intensität und Verbreitung der Debatten
anzunehmen, dass es sich um mehr als um einen schlichten Konflikt um ein „Stück
Stoff“ handelt. Vielmehr konnte davon ausgegangen werden, dass es sich um ei-
nen Prozess der Ausverhandlung grundlegender Werte und Normen liberaler De-
mokratien und damit zugleich der Rekonstruktion europäischer Identität(-en) han-
delt. Zudem sind die Debatten als ein Kristallisationspunkt anzusehen, in welchem
sich sowohl gesellschaftliche Auffassungen von als auch der nationalstaatliche
Umgang mit Religion, Geschlecht und Minderheiten manifestieren. Zum anderen
schien eine systematische Analyse der politischen Kontroversen auch aus einer

1 Das Akronym VEIL steht für „Values, Equality and Differences in Liberal Democracies“.
Das Projekt wurde im 6. Rahmenprogramm der Europäischen Kommission gefördert. http://
ec.europa.eu/research/fp6/index_en.cfm.
200 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

gesellschaftspolitischen Perspektive dringend angebracht. Im Zusammenhang mit


dem Kopftuch sind Konfliktlinien entstanden, die mit herkömmlichen Kategorien
wie „links“ und „rechts“, „emanzipatorisch feministisch“ oder „anti-feministisch“
nicht zu fassen sind (vgl. Göle 2011: 391).
Dies war die Ausgangslage, die zur Konzeptualisierung des VEIL-Projekts
führte, welches 2006 bis 2009 unter der Projektleitung von Sieglinde Rosenber-
ger und Birgit Sauer am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien und
in Kooperation mit sieben weiteren Universitäten Europas2 durchgeführt wurde.
Hauptverantwortliche für das Projekt waren neben den Projektleiterinnen die Po-
litikwissenschaftlerin Leila Hadj-Abdou und die Soziologin Nora Gresch. Ge-
meinsam versuchen wir in diesem Beitrag die vier Jahre des Projekts Revue pas-
sieren zu lassen und den LeserInnen Einblick in unsere Arbeitsweise und in ei-
nige Hauptergebnisse des Projektes zu geben. Im Unterschied zu den anderen
Beiträgen dieses Bandes hat dieser Artikel den Charakter eines Werkstattberichts
mit der Präsentation zusammenfassender Ergebnisse.3

2 Projektdesign

Fokus: Debatten und Policies betreffend Hijab in acht europäischen Ländern

Das Forschungsprojekt beschäftigte sich primär mit öffentlichen Debatten und


politischen Regulierungen zum muslimischen Kopftuch, den Hijab. Andere For-
men der muslimischen Bedeckung, wie etwa der Niquab (siehe dazu Hadj-Abdou
in diesem Band), kommen im Projekt nur am Rande vor. Dies ist der Tatsache ge-
schuldet, dass es sich beim Hijab um die gängigste Form muslimischer Ver-
schleierung in Europa handelt. Der Hijab, welcher die Haare einer Muslimin ver-
hüllt, jedoch ihr Gesicht unbedeckt lässt, ist heute Teil des Straßenbildes in den
europäischen Metropolen wie Istanbul, Berlin und Wien bis hin zu den neueren
Einwanderungsstädten wie etwa Dublin oder Rom. Gleichzeitig ist aber nicht da-
von auszugehen, dass eine Mehrzahl der europäischen Musliminnen verschleiert
ist. Der Anteil der muslimischen Bevölkerung in den Einwanderungsländern

2 Die anderen beteiligten Universitäten waren die Universität Aalborg (Birte Siim), die VU Ams-
terdam (Sawitri Saharso), die Universität Lancaster (Linda Woodhead), die METU Ankara (Ayse
Saktanber), die Freie Universität Berlin (Sabine Berghahn), die Universität Paris 8 (Eleni Vari-
kas) und die Pantheo Athen (Athena Athanasiou).
3 Für Ergebnisse vgl. Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer (Hg.), 2012b: Politics, Religion und
Gender. Regulating and Framing the Veil. Routledge.
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 201

Europas liegt bei 4,5 Prozent4 (Pew Research Center 2011), wobei nur Schätzun-
gen bzw. Umfragedaten für einzelne Länder existieren, wie viel Prozent der weib-
lichen muslimischen Bevölkerung den Hijab trägt. In Deutschland etwa tragen
28% der Musliminnen ein Kopftuch5 (Haug, Müssig, Stichs 2009: 195).

Forschungsleitende Fragen

Basierend auf der oben erwähnten Grundannahme, dass es sich bei den Debatten
und den in Folge entstandenen Regulationen um Prozesse handelt, in denen Werte
und Normen europäischer Demokratien verhandelt bzw. (re-)produziert werden,
war die erste Frage: Welche Unterschiede, aber auch Ähnlichkeiten finden wir in
europäischen Staaten in den Debatten um das Kopftuch, und wie lassen sich diese
erklären? Das zweite Anliegen war die unterschiedlichen Regulierungen („Poli-
cies“) zu verstehen und zu erklären.

Theoretische Ansätze

Das Projekt basiert auf einer vergleichenden Methode und auf einem Projektde-
sign, das unterschiedliche theoretisch-analytische Ansätze miteinander verbindet.
Folgende acht Länder wurden in die Untersuchung einbezogen: Österreich, Dä-
nemark, Frankreich, Griechenland, Deutschland, die Niederlande, Türkei und das
Vereinigten Königreich. In der Auswahl der Länder achteten wir darauf, Natio-
nalstaaten in die Studie zu inkludieren, welche a) unterschiedliche politische Re-
gulierung zum Kopftuch aufwiesen und b) relevante Unterschiede in den Erklä-
rungsfaktoren vermuten ließen (Rosenberger, Sauer 2012a: 2).
Die theoretischen Erklärungsansätze des VEIL-Projekts sind so genannte dis-
kursive politische Gelegenheitsstrukturen. Den „Framing“-Ansatz haben wir der
Forschung sozialer Bewegungen entliehen (siehe dazu Della Porta, Diani 2006).
Unter „Frames“ werden symbolisch-interpretative Konstrukte verstanden, die so-
zialer Realität Bedeutung verleihen (Triandafyllidou, Fotiu 1998). Eine Analyse
von Frames dient dazu, Diskurse herauszuarbeiten, aber auch die Rolle von Dis-
kursen in der Formierung von Policies zu verstehen. So können Policy-Prozesse

4 In Westeuropa (Frankreich, Niederlande, Belgien, Österreich, Deutschland) liegt der durch-


schnittliche Anteil bei 6%. (Pew Research Center 2011).
5 Laut dem Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung (2008) stehen 5% der deutschen Muslim/in-
nen dem Kopftuch ablehnend gegenüber.
202 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

als Auseinandersetzungen von Akteur/innen begriffen werden, in denen unter-


schiedliche Definitionen eines Problems konkurrieren. Während in diesen Aus-
einandersetzungen einige Definitionen wirkungsmächtig werden und so diese
spezifischen Deutungen der sozialen Realität im politischen Prozess Berücksichti-
gung finden, werden andere Definitionen in den Hintergrund gedrängt (Rogge-
band, Verloo 2007: 273). Eine Identifikation und Analyse von Frames kann also
darüber Aufschluss geben, inwiefern konkurrierende Interpretation und Perspek-
tiven in unterschiedliche Policies münden (Triandafyllidou, Fotiu 1998). Das
VEIL-Projekt identifizierte in den Debatten um das Kopftuch einerseits soge-
nannte Diagnose-Frames (Was wird als Problem definiert?) und Prognose-Frames
(Welche Lösung wird zum Problem vorgeschlagen?) (siehe dazu auch Snow, Ben-
ford 1992) und andererseits auch Normen und Werte innerhalb der Frames eruiert
sowie Sprecher/innen herausgearbeitet (für einen genauen Überblick über die Ko-
dierung der Frames und das Datenmaterial siehe Rosenberger, Sauer 2012a: 4 ff.).
Um die unterschiedlichen Regulierungen und Debatten in Europa zu verste-
hen, wurde auch nach den politischen Gelegenheitsstrukturen („Political Opportu-
nity Structures“, siehe dazu McAdam et al. 2001) gesucht. Dieser Ansatz themati-
siert die Rolle von institutionellen Rahmenbedingungen für das Entstehen von Po-
licies. Als institutionelle Rahmenbedingungen erachteten wir nationale Staatsbür-
gerschaftsmodelle und Vorstellungen über die Integration von Migrant/innen (sie-
he dazu Koopmans et al. 2005)6, das Verhältnis von Kirche und Staat sowie die
Anerkennung von religiösen Glaubensgemeinschaften (siehe dazu Fetzer, Sopper
2005) und schließlich die politischen Anti-Diskriminierung- und Gleichstellungs-
regime (siehe dazu McGoldrick 2006; für eine genaue Beschreibung dieser insti-
tutionellen Faktoren siehe auch Rosenberger, Sauer 2012a: 6 ff.).
Im Hinblick auf den Erklärungsfaktor Staatsbürgerschaftsregime und natio-
nale Vorstellungen über Integration gingen wir davon aus, dass Länder, die ein
multikulturelles Regime aufweisen, also sowohl kulturelle Differenz als auch re-
lativ ungehinderte Einbürgerung ermöglichen, das Kopftuch im öffentlichen
Raum eher anerkennen als Länder, die „ethno-kulturelle Regime“ besitzen, also
durch restriktive Staatsbürgerschaftspolitiken und weitgehend kulturell homo-
gene Vorstellungen über die Nation gekennzeichnet sind. Diese Erwartung hatten
wir auch im Bezug auf „republikanische Regime“ (Saharso 2007).

6 Bei diesen „Integrations- und Staatsbürgerschaftsmodellen“ handelt es sich (wie häufig auch bei
anderen Regimekategorien) um Idealtypen, welche in der Realität von einer internen Komplexität
und Dynamik gekennzeichnet sind (siehe dazu z. B. Bauböck 2001, Freeman 2004, Joppke
2007), jedoch erschien es uns sinnvoll, diese Modelle als Erklärungsfaktoren heran zu ziehen, da
Integrationspolitiken in Europa neben zunehmender Konvergenz (Joppke 2007) nach wie vor
auch Züge dieser Idealtypen aufweisen.
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 203

Im Bezug auf den zweiten Erklärungsfaktor, die Anti-Diskriminierungsre-


gime, hielten wir es für naheliegend, dass Länder mit einer vergleichsweise
stark institutionalisierten Anti-Diskriminierungspolitik die Sichtbarkeit religiö-
ser Differenzen im öffentlichen Raum eher anerkennen als Länder ohne eine
derartige ausgeprägte Institutionalisierung von Anti-Diskriminierungsgesetzen
(vgl. McGoldrick 2006).
Der dritte Erklärungsfaktor fokussierte auf die verschiedenen Institutionali-
sierungen der „Kirche-Staat-Beziehungen“. So betonen zum Beispiel Joel Fetzer
und Christopher Soper (2005) „the development of public policy on Muslim reli-
gious rights is mediated [. . .] by the different institutional church-state patterns“
(Fetzer, Soper 2005: 7). In Europa lassen sich drei Typen unterscheiden: Länder
mit Staatskirchen (z. B. Dänemark, Griechenland, Vereinigtes Königreich), Län-
der, in denen eine weitgehende Trennung zwischen Staat und Kirche institutio-
nell bzw. ideologisch realisiert ist (z. B. Frankreich, Türkei), und Staaten, die ein
offenes und kooperatives Verhältnis zur Religion aufweisen (z. B. Österreich,
Deutschland, Niederlande) (Minkenberg, Willems 2002: 11).

Projektablauf

Der Projektverlauf gliedert sich grob in drei Abschnitte: a) Länderstudien, b) Frame-


Analysen der öffentlichen Debatten, und c) Erklärung der Regulationsunterschiede.
In einem ersten Schritt wurden deskriptive Länderstudien für alle acht Staaten er-
stellt, in welchen die relevanten politischen Gelegenheitsstrukturen als auch die ver-
schiedenen Regulierungen erörtert wurden, ein Überblick über den Debattenverlauf
gegeben und kontextuelle Faktoren (wie die Struktur der muslimischen Bevölke-
rung) dargelegt wurden. Ein zweiter Schritt widmete sich einer quantitativen Analyse
von Zeitungsartikeln in den acht Ländern. Diese ermöglichte es, die dominierenden
Akteur/innen der Debatte über die Verschleierung in jedem Land zu identifizieren
und einen Überblick über die am häufigsten vorkommenden Argumente für oder ge-
gen das Tolerieren des Kopftuchs zu gewinnen.
Basierend auf dieser quantitativen Analyse kam es schließlich zu einer Aus-
wahl von mindestens 20 bis maximal 40 Schlüsseltexten7 pro Land, welche einer
qualitativen Frame-Analyse unterzogen wurden. Zudem wurden auch 20 für die

7 Schlüsseltexte sind Texte, die von relevanten Akteuren in der Debatte bzw. im Zusammenhang zu
Schlüsselereignissen produziert wurden. Die Anzahl der Schlüsseltexte variierte je nach Land, da
auch die Intensität der Debatten jeweils variierte. Während in Frankreich etwa eine Unzahl von
Dokumenten zur Verfügung stand, war das Thema Kopftuch in Griechenland kaum Gegenstand
öffentlicher Auseinandersetzung.
204 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

EU-Ebene relevante Texte (z. B. Reden im EU-Parlament) in die Analyse mit auf-
genommen. Aufbauend auf diese Frame-Analysen kam es schließlich zu einem
Vergleich der Debatten zwischen den acht Ländern plus der EU-Ebene.
Hinsichtlich der Erklärung der Regulationen in den verschiedenen Ländern
gingen wir, im Unterschied zu anderen Typologien der Kopftuch-Politiken (z. B.
Skjeie 2007), von einer Kategorisierung entlang von Nationalstaaten ab. Wir ver-
suchten der internen Komplexität der Regulationen gerecht zu werden, indem wir
diese Länder übergreifend im Hinblick auf die unterschiedlichen Arenen (z. B.
Gericht, Schule) verglichen. Ehe wir unsere Ergebnisse dazu publizierten (z. B.
Berghahn, Rostock 2009; Buyahia, Sanna 2009; Gresch, Hadj-Abdou 2008; Ro-
senberger, Sauer 2012b; Kilic, Saharso, Sauer 2008), diskutierten wir diese inner-
halb wissenschaftlicher Foren sowie mit Expert/innen aus der Praxis, wie bei-
spielsweise muslimische Frauen in den einzelnen Ländern.
Ein Schlusspunkt des Projekts stellte eine Anhörung („Hearing“) im Europäi-
schen Parlament in Brüssel dar, in welchem wir neben Forschungsergebnissen
auch Empfehlungen abgaben, welche darauf abzielten, politische Eliten für das
Thema zu sensibilisieren und auf Prozesse des Ausschlusses in Folge der europäi-
schen Kopftuchkontroversen hin zu weisen.

3 Ausgewählte Forschungsergebnisse

Im Folgenden sollen einige ausgewählte Forschungsergebnisse dargestellt werden.

Die Komplexität der Kopftuchregime in Europa

Eine wichtige Erkenntnis ist, dass die bisherigen Typologien der Kopftuchrege-
lungen in Europa, welche Nationalstaaten als einheitliche Arenen betrachten,
nicht ausreichen, um die Komplexität der Regulierungen zu fassen. Es ist viel-
mehr wesentlich eine mehrdimensionale Typologie einzuführen, die einerseits
zwischen den unterschiedlichen Arenen (z. B. Schule, Gericht, Polizei), den In-
strumenten der Regulation (z. B. Gesetz, Erlass, Gerichtsurteil), den betroffenen
Personen (z. B. Schülerinnen, Lehrerinnen) als auch dem Typ der Bekleidung
(z. B. Hijab, Jilbab, Niquab) unterscheidet (Rosenberger, Sauer 2012a: 3). Diesen
Dimensionen zufolge haben wir schließlich zwischen erlaubenden (z. B. Öster-
reich), prohibitiven (z. B. Frankreich) und nicht-regulativen Kopftuchregimen
(z. B. Vereinigtes Königreich) unterschieden. Freilich sind manche Länder auf-
grund unterschiedlicher Regelungen mehreren Kategorien zuzuordnen.
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 205

Während des letzten Jahrzehnts hat sich in allen acht untersuchten Ländern
die Debatte über Kopftücher intensiviert und Forderungen nach restriktiveren
Regelungen haben zugenommen. Folglich haben mehr Länder Regulierungen
für das Tragen islamischer Kleidung eingeführt, die sowohl in Bezug auf die Art
der Körperbedeckung als auch auf die öffentlichen Räume, die von der Regulie-
rung betroffen sind, sehr unterschiedlich sind. Während das Tragen des Kopf-
tuchs von Schülerinnen nur in Staaten eingeschränkt ist, die eine strikte Version
von Neutralität oder Laizismus praktizieren – Frankreich und die Türkei –, wur-
de das Tragen des Hijabs für Frauen in öffentlich-staatlichen Dienstleistungsbe-
reichen auch in anderen Ländern beschränkt. So ist das Tragen des Hijabs für
Lehrerinnen in der Hälfte der deutschen Bundesländer und für öffentliche Ange-
stellte in manchen deutschen Bundesländern verboten. Dänemark hat einen Ge-
setzesvorschlag gemacht, der darauf abzielt, Richter/innen das Tragen von reli-
giösen und politischen Symbolen zu verbieten, und in den Niederlanden kann
das Tragen von Kopftüchern für den öffentlichen Dienst eingeschränkt werden.
Großbritannien wiederum ist das einzige Land, in dem der Verband der Richter/
innen (Association of Judges) eine Richtlinie ausarbeitete, die das Tragen der
kompletten Körperbedeckung für Richterinnen erlaubt. Im Bereich der Bildung
ist das Tragen des Ganzkörperschleiers in den Niederlanden sowie auch in Dä-
nemark eingeschränkt. In Österreich gibt es generell keine einschränkenden Re-
gelungen, explizit erlaubende Regelungen gibt es wiederum lediglich für den
Schulbereich (für eine ausführliche Beschreibung der Regulierungen siehe
Berghahn 2012).
Des Weiteren hat das Projekt gezeigt, dass die Intensität der Debatten zu-
meist nicht mit den Regulierungen korreliert. So haben die Mehrzahl der Län-
der nach wie vor für die meisten Arenen keine einschränkenden Regulierungen
erlassen. Es zeigt sich, dass hier vor allem institutionelle Faktoren, wie ein of-
fenes Neutralitätsverständnis des Verhältnisses von Kirche und Staat, Forderun-
gen nach Restriktion beschränken (Hadj-Abdou, Saharso, Siim, Rosenberger
2012).
Im Rahmen des Projekts hat sich schließlich gezeigt, dass auch die de facto
Teilhabe von Kopftuch tragenden Frauen in den Blick zu nehmen ist. So ist etwa
das österreichische Kopftuchregime als „rechtlich tolerant bei weit gehendem
Ausschluss“ zu bezeichnen (Gresch, Hadj-Abdou 2009): In Österreich sind
Kopftuchträgerinnen trotz starker religiöser Rechte nach wie vor tendenziell auf
Grund ihres Status als Migrantinnen als auch dem relativ schwachen Anti-Diskri-
minierungsregime von wesentlichen und gleichberechtigten Partizipationsmög-
lichkeiten ausgeschlossen (Gresch, Hadj-Abdou 2009).
206 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

Keine diskursive Europäisierung

Eine der Grundannahmen des Projekts, dass es sich bei den Kopftuchdebatten um
Prozesse der (Re-)Produktion europäischer Identität handelt, musste in dieser
Form revidiert werden. Dies ist nicht zuletzt deshalb erstaunlich, weil die EU-
Ebene für die Kopftuchfrage in zweierlei Hinsicht relevant ist: Einerseits bilden
der Grundrechtekodex und die Anti-Diskriminierungsbestimmungen, welche Ge-
schlechtergleichheit oder Religionsfreiheit betonen, einen strukturellen Rahmen
für wesentliche Werte, die in Kopftuchdebatten verhandelt wurden. Andererseits
ist die EU-Ebene relevant bei Entscheidungen zu Streitfällen in der Kopftuchde-
batte in Bezug auf nationale Gesetzgebung. Die Urteile des Europäischen Ge-
richtshofs für Menschenrechte (EGMR) etwa im Fall Dahlab gegen Schweiz
(15. Februar 2001), Sahin gegen Türkei (10. November 2005), Dogru gegen
Frankreich und Kervanci gegen Frankreich (4. Dezember 2008) sind hier wich-
tige Eckpfeiler. Jedoch findet sich, mit Ausnahme Griechenlands, in keinem der
untersuchten Länder ein Beleg dafür, dass die europäische Ebene ein wesentli-
cher Referenzpunkt für die AkteurInnen der nationalen Kopftuchdebatten ist
(Ataç, Rosenberger, Sauer 2012a: 84 ff.).
Nationale Gesichtspunkte, institutionelle Eigenheiten und Errungenschaften
der nationalen Geschichte und imaginierte nationale Kultur dominieren die De-
batten. Es findet weniger eine diskursive Europäisierung statt, die Kopftuchkon-
troversen dienen vielmehr nationaler Identitätskonstruktionen, indem national
definierte Werte und Prinzipien reproduziert werden. Zudem zeigt sich, dass der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nationale Entscheidungen tenden-
ziell nicht in Frage stellte und somit bisher kaum ein regulatives liberales Mo-
ment darstellt. Ob der Europäische Gerichtshof hier künftig eine abweichende
Rolle einnehmen wird, gilt abzuwarten. So würden etwa prohibitive Regelungen
in Deutschland durchaus einen Raum eröffnen, um Diskriminierung auf dem
Arbeitsmarkt zu thematisieren.

Der entscheidende Faktor Religion

Staatsbürgerschafts- und Integrationsregime als auch die Anti-Diskriminierungs-


und Gleichstellungsregime spielen im Vergleich mit dem institutionalisierten Ver-
hältnis von Kirche und Staat kaum eine erklärende Rolle. So zeigt etwa das Bei-
spiel Österreich, das eines der restriktivsten Staatsbürgerschaftsregime in Europa
aufweist, aber dennoch eines der liberalsten Regelungen gegenüber dem musli-
mischen Kopftuch implementierte, dass der Faktor Staatsbürgerschaftsregime
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 207

kaum Erklärungswert besitzt (Gresch, Hadj-Abdou, Rosenberger, Sauer 2008).


Im Hinblick auf den Faktor Anti-Diskriminierungsregime zeigte sich zwar, dass
die Länder mit den restriktivsten Regelungen zum Tragen des Kopftuches auch
nur wenig entwickelte Anti-Diskriminierungsmechanismen besitzen, jedoch
spielte dieser Faktor auch in anderen Ländern (mit einer teilweisen starken Tradi-
tion der Anti-Diskriminierung) generell keine bedeutende Rolle. In den Debatten
war Anti-Diskriminierung europaweit kaum ein Referenzpunkt.
Demgegenüber ist die historisch etablierte Beziehung zwischen Religion und
Staat ein Hauptfaktor für die Ausrichtung der Regelungen zum Kopftuch (Berg-
hahn 2012: 104 ff.). Während die laizistischen Länder (Frankreich, Türkei) dazu
tendieren, alle religiösen Symbole im staatlichen Raum zu verbieten, reagieren
Länder mit einer Staatskirche (Dänemark, Griechenland, Großbritannien) oder
kooperativer Tradition (Österreich, Deutschland, Holland) in einer weitaus inklu-
dierenden Weise. Allerdings erweist sich Deutschland diesbezüglich als ein Son-
derfall. Diese Sonderstellung verweist darauf, dass neben institutionellen Fakto-
ren, diskursive Faktoren eine bedeutende Rolle bei der Formierung bzw. der Le-
gitimierung von Policies spielen. Dies verdeutlicht der Vergleich Österreichs mit
Deutschland, die beide relativ ähnliche politische Gelegenheitsstrukturen aufwei-
sen und beide eine kooperative Tradition des Staats-Kirche-Verhältnisses besit-
zen. So ist eine diskursive Interpretation des Kopftuchtragens als religiöse Praxis
in Österreich ein zentrales Moment für eine liberale Regelung, während die Inter-
pretation des Kopftuches als kulturelle Praxis in Deutschland prohibitive Rege-
lungen begünstigt (Hadj-Abdou 2008).

Die Relevanz einer diskursiv-institutionellen theoretischen Perspektive

Die Bedeutung von Frames verdeutlicht, dass Kopftuchregelungen erst im Zu-


sammenspiel von diskursiven und institutionellen Faktoren ausreichend zu ver-
stehen sind. Gleichzeitig zeigte sich, dass für die Ausformung der Debatten insti-
tutionelle Faktoren wesentlich sind. So bildet „religiöse Freiheit oder das Recht,
seine Religion auszudrücken“ eines der Hauptargumente. Die Frame-Analyse de-
monstrierte jedoch, dass das Verständnis des Rechts auf freie Religionsausübung
damit verknüpft ist, wie dieses Recht im jeweiligen Land institutionalisiert ist.
Während etwa die AkteurInnen der österreichischen Kopftuchdebatte das Recht
auf Religionsausübung mit dem institutionalisierten Modell des pluralistischen
Einschlusses von Religion im öffentlichen Bereich, das als „österreichische Form
von Neutralität und Liberalismus“ gerahmt wird, verbinden, verwenden die Ak-
teure in Großbritannien Argumente, die das Recht auf Religionsausübung als pri-
208 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

mär individuelles Recht definieren und dieses als Ausdruck von Toleranz und
Fairness, die wiederum als Hauptkomponenten „britischer Werte“ konzipiert
werden, präsentieren. Die „Staatskirche“ stellt hier den Standard dar, dem gegen-
über Gleichbehandlung auf der Basis von Fairness gefordert werden kann.
Das VEIL-Projekt hat verdeutlicht, dass es wichtig ist, institutionelle Ansätze
mit diskursiven Ansätzen zu bündeln, um Policy-Prozesse zu verstehen. Die Er-
gebnisse der Studie unterstreichen die Notwendigkeit der Anwendung von dyna-
mischen theoretischen Ansätzen, wie des „Discursive Institutionalism“ (Schmidt
2008) in der politikwissenschaftlichen Forschung.

Kopftuchkontroversen als ein Prisma für „boundary making“ 8

Um Kopftuchkontroversen zu verstehen, bedarf es einer kontextuellen Analyse.


So stehen die Auseinandersetzungen und Regulierungen in einem Zusammen-
hang mit dem (diskursiven) Niedergang des Multikulturalismus in Europa und
der Bedeutung von Integration von Migrant/innen (siehe dazu Hadj-Abdou in
diesem Band; Lentin und Titley 2012: 194 ff.). Ein Integrationsbegriff, ursprüng-
lich von einem Verständnis von Rechten für Migrant/innen genährt, wurde im
Zuge der Kopftuchkontroversen vermehrt durch ein Verständnis der Assimilation
substituiert. Das muslimische Kopftuch dient als sichtbares Symbol für die „Inte-
grationsbereitschaft“ und die Anpassung an Normen der Mehrheitsgesellschaft.
Im Sog intensivierter Kopftuchkontroversen kam es zu verschärften Integrations-
politiken, die zunehmend die Aufgabe übernehmen „emblematische Verhaltens-
muster vorzugeben, welche Migrant/innen als ,die Anderen‘ zu internalisieren
haben“ (Pajnik 2007).

Ausschluss in Berufung auf Geschlechtergleichheit

Eine zentrale Rolle bei Prozessen der Grenzziehung zwischen „Wir“ und den
„Anderen“ nimmt das Argument der Geschlechtergleichheit ein. Kopftuchkon-
troversen haben zu einer „Nationalisierung“ des universellen Werts der Ge-
schlechtergleichheit beigetragen. Indem Geschlechtergleichheit als ein integraler
Bestandteil hegemonialer nationaler Kultur konstruiert wird, kam es zu einem ex-
kludierenden und rassialisierten Verständnis von Geschlechtergleichheit, welches
ein Bild von muslimischen Gruppen als die „Anderen“ zeichnet (Andreassen,
Lettinga 2012: 18). Interessanterweise wurde eine Referenz auf Geschlechter-

8 Der Begriff boundary making verweist auf die Konstruktion von Kategorien und Grenzziehungen
zwischen „Wir“ und den „Anderen“. Siehe dazu Wimmer 2009.
Hijabophobia revisited: Kopftuchdebatten und -politiken in Europa 209

gleichheit bzw. das Argument, diese sei ein Prinzip der europäischen Demokra-
tien, sowohl für als auch gegen restriktive Regelungen zum Kopftuch verwendet.
Allerdings war Geschlechtergleichheit in keinem Land maßgeblich für die Rege-
lungen zum Tragen des Kopftuchs. Stattdessen kam dem Argument Geschlechter-
gleichheit lediglich eine symbolische bzw. legitimierende Funktion zu.

Ausschluss durch Säkularität

Die Forschungsergebnisse tragen schließlich zur Hinterfragung des lange für


selbstverständlich gehaltenen Säkularisierungsnarrativs bei. Dieses Narrativ be-
stimmt Säkularität unter der Prämisse, einen öffentlichen Raum zu garantieren,
der nicht mit Ideologie identifiziert werden kann und zu dem alle Mitglieder des
Staates unabhängig von Geschlecht, kulturellem Ursprung oder religiöser Über-
zeugung Zugang haben, als ein wichtiges Prinzip moderner liberaler Demokra-
tien. Besonders wenn man die restriktiven Regelungen und die zugehörigen dis-
kursiven Strategien betrachtet, identifizierte das Projekt das darin verhandelte
Verständnis von Säkularität als einen Mechanismus der Ausgrenzung. Die Ergeb-
nisse des Projekts sind deshalb als Beitrag zu einer kritischen Debatte zu veror-
ten, welche sich mit den jüngst von Jakobsen und Pellegrini aufgeworfenen Fra-
gen zu Säkularität auseinandersetzt: „Wenn die säkulare öffentliche Sphäre nicht
gleichermaßen offen für die Teilnahme aller Personen ist, ohne Rücksicht auf
Unterschiede zum Mainstream, können wir dann den Anspruch aufrecht erhalten,
dass Säkularität zwangsläufig ein Zeichen für Fortschritt ist? Vor allem, ist es die
Säkularität welche Fortschritt in Richtung Demokratie und Gleichbehandlung er-
zeugt?“9 (Jakobsen, Pellegrini 2008: 20)

4 Hijabophobia revisited

Das Projekt VEIL ist mittlerweile abgeschlossen, Debatten um muslimische Be-


deckung werden jedoch nach wie vor leidenschaftlich in ganz Europa geführt.
Wir hoffen mit dem Projekt einige wichtige Perspektiven in diese Debatte einge-
bracht zu haben. Die Arbeit im Projekt und deren Ergebnisse, so sollte der Titel

9 „If the secular public sphere is not equally open to participation by all persons regardless of their
difference from the mainstream, can we sustain the claim that secularization is necessarily a sign
of progress? In particular, does secularism produce progress toward democracy and equal treat-
ment?“
210 Leila Hadj-Abdou, Nora Gresch, Sieglinde Rosenberger und Birgit Sauer

„hijabophobia revisited“ dieses Beitrages andeuten, legen schließlich nahe, dass


es bei der Analyse und der Beurteilung von Maßnahmen und Konflikten auch im-
mer darum gehen muss, Fragen der Verteilung von Machtpositionen zwischen
majorisierten und minorisierten Gruppen als auch der Verteilung von Macht in-
nerhalb dieser Gruppen zu stellen, und die im Rahmen von Debatten und Policies
erfolgte Konstruktionen von Fremdheit, von „Wir“ und „den Anderen“ zu be-
leuchten, anstelle Fremdheit und Ungleichheit als gegeben anzunehmen.

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Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten
Frauen in der österreichischen Presse
Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

1 Einleitung

Die Schaffung von nationalen und transnationalen Identitäten geht mit der Fest-
legung von äußeren und inneren Grenzen und damit mit der Inklusion des „Eige-
nen“ und der Exklusion des „Fremden“ einher. Ziel dieses Beitrages ist es, an-
hand von medialen Bildern verschleierter Frauen aufzuzeigen, wie Medien an
Grenzsetzungen und an der Konstruktion von „Fremdheit“ beteiligt sind. Medien
können Identitätsräume entwerfen, die das „Eigene“, das kulturell Inkludierte,
und das „Fremde“, das Ausgeschlossene, markieren. Bilder sind in diesem Kon-
text bedeutend, da sie einen wichtigen Platz in Printmedien einnehmen und eine
große Suggestivkraft entfalten können. Im Fokus der hier vorgestellten Untersu-
chung stand dementsprechend die Bildberichterstattung über verschleierte Frau-
en in einer Auswahl österreichischer Zeitungen – dem Standard, den Salzburger
Nachrichten und der Kronen Zeitung.
Schleier und Kopftuch tauchen häufig in Migrationsdiskursen und politischen
Debatten europäischer Länder auf und dienen dabei der Markierung kultureller
Differenz sowie der Definition nationaler Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit
(vgl. Dietze 2009, Scott 2007). Zumeist wird dabei nicht zwischen Kopftuch und
Schleier unterschieden; der Begriff des Schleiers wird häufig synonym für alle Ar-
ten der Verschleierung (also auch des Kopftuches) verwendet. Die Person „hinter
dem Schleier“ bleibt auf diese Weise unsichtbar (Scott 2007: 16).1 Die Kopftuch-
debatten in verschiedenen Ländern haben verdeutlicht, wie stark um die Bedeu-
tung von Schleier und Kopftuch gerungen wird (vgl. Berghahn/Rostock 2009; Ro-
senberger/Sauer 2008). In manchen europäischen Ländern wurden sie zum Syn-
onym für Fremdheit und Marginalität. Verschiedene Studien haben gezeigt, dass

1 Wir verwenden in diesem Artikel zumeist den Begriff des „Schleiers“, wobei wir uns der domi-
nanten Bedeutung und der damit verbundenen Problematik, die insbesondere Scott (2007) auf-
zeigt, bewusst sind. Darüber hinaus beinhaltet der Begriff des Schleiers unterschiedliche Formen
der Verschleierung, u. a. das Kopftuch, den Gesichtsschleier (Niqab), den Tschador (iranischer
Körper- und Gesichtsschleier) sowie die Burka (afghanischer Körper- und Gesichtsschleier).

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_12,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
214 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

diese Diskurse eng an Orientalismus und Islamdebatte geknüpft sind (vgl. Hafez
2002; Said 1978). In Bezug auf Afghanistan wurde die Ganzkörperverschleierung
von Frauen zum Universalsymbol für die Verbrechen der Taliban. Die Verschleie-
rung von Frauen und ihre vermeintliche Entschleierung nach dem Sturz der Tali-
ban hatte eine zentrale Funktion bei der Legitimierung des Krieges in den ameri-
kanischen und europäischen Öffentlichkeiten (vgl. Klaus/Kassel 2008).
Unsere Erhebung fragt danach, welche kulturellen Identitäten und Bedeutun-
gen anhand der Bilder von verschleierten Frauen in den österreichischen Medien
produziert, reproduziert, modifiziert oder verworfen werden und wie das ge-
schieht. Dabei hilft uns das Konzept medialer Identitätsräume, das „Wuchern der
Diskurse“ (Bublitz et al. 1999) über Kopftuch und Schleier einzudämmen und
diese genauer zu analysieren.
Unser Beitrag ist dementsprechend gegliedert: Zunächst machen wir einige
theoretische Anmerkungen zum „spatial turn“ in der Kommunikationswissen-
schaft und der Konzeption von Kommunikations- und Medienräumen. Anschlie-
ßend stellen wir die Stichprobe und ausgewählte Daten unserer Erhebung der
Bildberichterstattung über verschleierte Frauen in den genannten österreichischen
Tageszeitungen vor. Weitergehend fragen wir nach den dadurch entworfenen
Identitätsräumen; dies geschieht auf der Basis einer Unterscheidung von drei Ty-
pen medialer Identitätsräume. Ein kurzes Fazit schließt den Beitrag ab.

2 Kommunikations- und Medienräume: Eine Einführung

Konzeptionen von Raum haben eine lange philosophische Tradition und wurden
in den unterschiedlichsten Disziplinen entworfen. Lange Zeit war die Vorab-
Existenz eines physischen Raums eine zentrale Prämisse sozialwissenschaftlicher
Theoriebildung: Soziale Strukturen und gesellschaftliche Prozesse wurden in sol-
chen als gegeben angenommenen Räumen untersucht. Mit der Postmoderne und
dem Poststrukturalismus hat sich das geändert. Raum wird nun nicht mehr als
vorab festgelegter physisch erfahrbarer Raum mit eindeutiger Gestalt begriffen,
sondern als Produkt sozialer und kultureller Praktiken. Konstruktivistische Per-
spektiven fragen danach, durch welche Mittel welche Räume wie konstruiert
werden und in der Folge als „natürlich“ erscheinen (vgl. Döring/Thielmann
2008).
Anknüpfend an die Entwicklung einer „social geography“ in der Geographie
kann inzwischen von einem „spatial turn“ in den Sozialwissenschaften gespro-
chen werden. Dieser hat seit Mitte der 1990er Jahre auch die Kommunikations-
wissenschaft erreicht.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 215

Räume haben eine Funktion für die Ermöglichung von Kommunikation und
sind für die Kommunikationswissenschaft kein völlig neuer Topos. Schon 1951
forderte der Medienwissenschaftler Harold Innis (1986) dazu auf, sich mit den
Machtstrukturen in jenen historisch-spezifischen Räumen zu beschäftigen, in de-
nen Medien produziert und konsumiert werden. Sein Ziel war es, daraus Mög-
lichkeiten abzuleiten, damit neben bzw. aus den dominanten Medien- und Kom-
munikationsformen und -räumen heraus neue und andere Räume entstehen kön-
nen. Innis thematisiert Prozesse der Bildung von Medienräumen und löst sich so-
wohl von Vorstellungen von physischen Räumen als auch rein sozialen Räumen,
stattdessen betont er das Vorhandensein von vielfältigen Räumen.
Das Buch „Spaces of Identity“ von David Morley und Kevin Robins (1995)
gilt als ein Schlüsselwerk des „spatial turns“ in der Medien- und Kommunika-
tionswissenschaft: Morley und Robins gehen davon aus, dass es heute weniger
physische, sondern vor allem symbolische Begrenzungen sind, die als Rahmen
für kulturelle Gemeinschaften fungieren. Eines ihrer Untersuchungsobjekte ist
der europäische Raum. Darin werde durch die Medien vor allem eine ethnisch
weiße Identität angeboten, so dass andere soziale Gruppen (MigrantInnen, dia-
sporische Gemeinschaften) keinen Platz erhielten.
An diese Arbeiten und die der Sozialgeographin Doreen Massey (1994) hat
die Medienwissenschaftlerin Brigitte Hipfl (2004) angeknüpft und Medien als so-
ziale Räume definiert, durch die Identitätsbildung ermöglicht wird. Daran lehnt
sich unsere Unterscheidung von drei Typen medialer Identitätsräume an:

• Medien konstruieren politisch-geographische Räume. Sie begrenzen Territo-


rien, verorten Nationen und identifizieren Landschaften, in denen spezifische
Identitäten ihren Platz finden.
• Die Medieninhalte stellen identitätspolitische Räume bereit, in denen sich
Menschen als Europäer, Frau, Österreicher, Katholikin etc. verorten können
und verortet werden.
• Schließlich entstehen im Kreislauf medialer Bedeutungsproduktion, insbe-
sondere in der Aneignung von Medien durch ihre Rezipienten und Rezipien-
tinnen, Zwischenräume, die hegemonialen Identitätsdiskursen zuwider laufen
können.
Im Folgenden nutzen wir diese Raumkonzeption, um die Medienbilder verschlei-
erter oder Kopftuch tragender Frauen dahingehend zu untersuchen, wo diese
Frauen verortet werden und welcher Platz ihnen damit in welchen Gemeinschaf-
ten eingeräumt wird.
216 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

3 Die Bildberichterstattung über verschleierte Frauen in österreichischen


Tageszeitungen

Für die Untersuchung wurden alle Fotos verschleierter Frauen aus dem Standard,
den Salzburger Nachrichten und der Kronen Zeitung im Zeitraum Oktober 2008
bis März 2009 ausgewertet. Von den insgesamt 122 Fotos entfielen dabei 43 auf
den Standard, 46 auf die Salzburger Nachrichten und 33 auf die Kronen Zeitung.
Zunächst wurden zentrale Merkmale wie Ressort und Bildgröße, Hauptthema des
begleitenden Textbeitrags, die abgebildeten Personen, der Fokus des Bildes, der
Zusammenhang zwischen Bild und Text sowie die Art der Verschleierung inhalts-
analytisch erfasst. Anschließend wurden die Inszenierungsstrategien der Bilder
qualitativ ausgewertet und zu den vorgestellten Raumkonzepten in Verbindung
gesetzt.
Für die nachfolgende Argumentation sind dabei vor allem Ergebnisse zur
Zahl bzw. Gruppierung der dargestellten Personen und zur Art der Verschleierung
sowie zu den thematischen Kontexten der Bilder relevant. Dabei fällt auf, dass
verschleierte Frauen durch die Art, in der die Personen im Bild gruppiert werden,
oft im Mittelpunkt des Interesses stehen (vgl. Tabelle 1): Sie werden besonders
häufig allein dargestellt (n = 44). Zusammen mit den Bildern, auf denen Gruppen
entweder nur verschleierter Frauen (n = 18) oder verschleierter und unver-
schleierter Personen, in denen verschleierte Frauen aber hervorgehoben sind
(n = 17), dargestellt sind, machen diese Bilder 65% unserer Stichprobe aus. Im
Verhältnis dazu erscheinen verschleierte Frauen nur in 25% der Fotos als Teil ei-
ner Gruppe, in der der visuelle Fokus nicht auf ihnen liegt. TAB1
Hinsichtlich der Art der Verschleierung überwiegt das Kopftuch, das auf ins-
gesamt 55 Porträt- und Ganzkörperbildern zu sehen ist.2 Das macht insofern Sinn,
als Kopftücher die in Europa gebräuchlichste Form der Bedeckung sind. Zählt
man jedoch die anderen abgebildeten Formen der Verschleierung – Niqabs,
Tschadors und Burkas – zusammen, so überwiegen diese knapp mit insgesamt
57 Bildern. Das erklärt sich teilweise, aber nicht nur aus der Berichterstattung
über den Terrorismus-Prozess gegen Mona S. und ihren Mann (n = 19) (vgl. Ta-
belle 3 und Kapitel 4.2.1).
Die Rahmung und damit Deutung von in der Presse veröffentlichten Bildern
wird stark durch das Thema des jeweiligen Artikels bestimmt, den sie begleiten
oder illustrieren sollen. Gemessen an ihrer Häufigkeit sind in unserer Stich-

2 Auf den in dieser Kategorie codierten Ganzkörperbildern tragen die Frauen ein Kopftuch, die
Körperformen sind aber – anders als bei Tschador und Burka – unter der Kleidung deutlich zu er-
kennen.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 217

Tabelle 1: Anzahl der Personen und Fokus des Bildes

Personen und Fokus Der Salzburger Kronen-


Gesamt
des Bildes Standard Nachrichten zeitung
einzelne verschleierte Frau 44 (36,1%) 12 22 10
verschleierte Frau(en) in
gemischter Gruppe –
nicht hervorgehoben 30 (24,6%) 10 11 9
Gruppe verschleierter Frauen 18 (14, 8%) 11 3 4
verschleierte Frau(en)
in gemischter Gruppe –
hervorgehoben 17 (13,9%) 5 8 4
Frau(en) und Kind(er) 12 (9,8%) 5 2 5
sonstige 1 (0,8%) 0 0 1
Total 122 (100%) 43 46 33

Tabelle 2: Art der Verschleierung

Foto: Art der Der Salzburger Kronen-


gesamt
Verschleierung Standard Nachrichten zeitung
Porträtbild 67 (52,7%)
Kopftuch 41 (32,3%) 13 21 7
Niqab 20 (15,7%) 5 9 6
Kopf von hinten 4 (3,1%) 3 0 1
sonstige 2 (1,6%) 0 1 1
Ganzkörperbild 60 (47,3%)
Tschador 17 (13,4%) 7 8 2
Tschador mit Niqab 15 (11,8%) 7 3 5
Kopftuch 14 (11%) 5 2 7
Rückenansicht 9 (7,2%) 4 2 3
Burka 5 (3,9%) 1 3 1
Total 1273 (100%) 45 49 33

3 Bei drei Fotos von Gruppen, auf denen unterschiedlich verschleierte Frauen abgebildet waren,
haben wir die jeweils vorkommenden Arten der Verschleierung kodiert, also hier eine Mehrfach-
kodierung vorgenommen. Daraus ergibt sich ein N (total) = 127.
218 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

Tabelle 3: Thema des begleitenden Artikels

Hauptthema des Der Salzburger Kronen-


Gesamt
begleitenden Textbeitrags Standard Nachrichten zeitung
Themen – Inland 57 (46,7%)
Mona S. 19 (15,6%) 4 6 9
Migration/Integration 15 (12,3%) 7 4 4
Islamunterricht 8 (6,6%) 3 5 0
Kunst/Kultur 7 (5,7%) 3 1 3
Frauenrechte 2 (1,6) 1 1 0
Sonstige 6 (4,9%) 1 5 0
Themen – Ausland 65 (53,3)
Israel/Palästina 19 (15,6%) 4 10 5
Iran 9 (7,4%) 4 1 4
Frauenrechte 9 (7,4%) 5 0 4
Irak 7 (5,7% 4 2 1
Afghanistan 3 (2,5%) 1 2 0
Türkei 3 (2,5% 2 1 0
Migration/Integration 2 (1,6%) 2 0 0
sonstige 13 (10,6%) 2 8 3
Total 122 43 46 33

probe thematisch drei Schwerpunkte zu erkennen (vgl. Tabelle 3): Am zahl-


reichsten waren Illustrationen zum Konflikt zwischen Israel und Palästina
(n = 19) sowie dem Prozess gegen Mona S. (n = 19), gefolgt vom Themenfeld
Migration und Integration (n = 17). Die beiden erst genannten Themen beruhen
auf aktuellen Ereignissen, die wir im Kontext der durch die Bilder markierten
medialen Räume noch genauer analysieren. Die Themen Migration und Integra-
tion tauchen über den ganzen Untersuchungszeitraum in unregelmäßigen Ab-
ständen auf. Verschleierung wird damit am häufigsten im Zusammenhang mit
einer ereignisbezogenen Berichterstattung über Krieg und Terrorismus visuali-
siert sowie im Zusammenhang mit Artikeln über verschiedene Aspekte von Mi-
gration und Integration.
Im Folgenden stellen wir einzelne Ergebnisse unserer qualitativen Analyse zu
Inszenierungsstrategien der Bilder vor, wobei das Konzept medialer Räume dabei
als Analyse- und Interpretationsrahmen dient. Insbesondere jenen Bildern, die
auffällige Inszenierungsstrategien aufweisen und bei denen der Zusammenhang
zum begleitenden Artikel gering ist, kommt ein hoher Symbolwert zu.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 219

4 Orte verschleierter Frauen

4.1 Die verschleierte Frau als fremdes Land: Politisch-geographische Räume

Medien stellen durch die Art und Weise, wie sie über Vorgänge in der Welt be-
richten, politisch-geographische Räume bereit (vgl. Hipfl 2004). Dies beinhaltet,
Menschen in Verbindung mit kulturellen Praktiken und im Vergleich zu anderen
Territorien bzw. Orten oder Räumen zu setzen. Es entsteht eine imaginäre Geo-
graphie mit Bildern von Landschaften und Menschen, die diese bevölkern. In die-
sen Konstruktionen findet eine Verortung der Menschen in bestimmten Regionen
statt. Weitergehend erlaubt dies die Bewertung der eigenen sozio-kulturellen
Identität und stützt nationale Identitätskonstruktionen.
Anderson (1996) betrachtet in seinem Buch über die „Erfindung der Nation“
kulturelle Systeme wie Nationalstaaten als Identitätsräume, in denen auch Identi-
tätspositionen definiert werden. Die Nation ist dabei eine „imaginierte Gemein-
schaft“, die sich von anderen Gemeinschaften abgrenzt und deren Mitglieder von
sie verbindenden Normen, Werten und Merkmalen ausgehen. Imaginierte Ge-
meinschaften wie Österreich, die Europäische Union, der Westen oder der Okzi-
dent beruhen unter anderem auf ihrer Beschreibung als Territorien, in denen De-
mokratie, Menschenrechte und Freiheit als oberste Güter verwirklicht wurden
und Aufklärung wie Christentum eine gemeinsame Wertebasis liefern. Imagi-
nierte Gemeinschaften werden häufig an eine durch politisch-geographische Re-
präsentationen gebildete physische Landkarte gebunden.
Dafür finden wir in unserer Stichprobe zwei Beispiele: Das erste ist die durch-
gängige Symbolisierung Afghanistans durch die Burka tragende Frau. Das zweite
betrifft die Verortung von Antiamerikanismus in islamischen Ländern mittels der
Darstellung von Schleier oder Kopftuch tragenden Frauen.

4.1.1 Afghanistan – eine Burka tragende Frau

Die Konstruktionen politisch-geographischer Räume durch Medien lassen sich in


unserem Datenmaterial anhand von Berichten und Fotos zu Afghanistan illustrie-
ren. Deutlich zu sehen ist in dem abgebildeten Foto aus dem Standard (vgl. Ab-
bildung 1) eine politisch-geographische Konstruktion: eine Landkarte von Af-
ghanistan, daneben eine Burka tragende Frau, ihr zur Seite ein Soldat, der sie ent-
weder – das bleibt unklar – beschützt oder bewacht.
Die Burka tragende Frau unterstützt den Aufbau einer imaginären Geografie,
da sie in einer bestimmten Region verortet wird. Auffällig ist, dass in der Bericht-
220 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

Abbildung 1

Der Standard, 8. 10. 2008: 5

erstattung über Afghanistan häufig die Bilder Burka tragender Frauen in keinem
inhaltlichen Zusammenhang mit den diese begleitenden Artikeln stehen, sondern
allein dazu dienen, das Land Afghanistan zu symbolisieren. Implizit wird damit
ein Vergleich zu einem „westlichen“ Europa hergestellt, wo Schleier und Kopf-
tuch heute überwiegend kulturelle Fremdheit, religiösen Fanatismus und die fun-
damentale Verletzung von Frauenrechten signalisieren (vgl. Braun/Mathes 2007).
Nicht nur in der Berichterstattung über Afghanistan werden imaginierte Ge-
meinschaften hervorgebracht, sondern auch am Beispiel des Iran wie das fol-
gende Beispiel veranschaulicht.

4.1.2 Die Verortung von Antiamerikanismus und Islam durch die Schleier
tragende Frau

Unsere Stichprobe enthält eine Reihe von symbolisch aufgeladenen Bildern, die
eine Spannung zwischen den dargestellten verschleierten Frauen und dem Hinter-
grund inszenieren, der eine politische Botschaft in Form von Plakaten oder Graf-
fiti enthält. Solche Bilder finden sich in der Berichterstattung über die Türkei, den
Irak, den Iran und ganz allgemein „den Islam“. Bei dem ausgewählten Beispiel
aus dem Standard (vgl. Abbildung 2) wird auf der unmittelbaren Bildebene
„Antiamerikanismus“ durch das Graffiti im Hintergrund symbolisiert. Auf einer
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 221

zweiten Ebene gehen vor diesem Bild zwei Schleier tragende Frauen entlang. Sie
werden damit als zum Antiamerikanismus gehörend, ihn stützend verortet und in
einem konkreten Raum, dem Iran, lokalisiert. Sie verstärken die Wirkung des
Wandbildes. Indem das antiamerikanische Plakat und die Frauen auf dem Bild
durch die Perspektive der Kamera miteinander verbunden werden, konstruiert das
Bild eine gemeinsame, durch den Schleier symbolisierte Identität. Dass die Ver-
schleierung ganz allgemein als ein Symbol der arabischen Länder und des Islam
gilt, haben auch andere Studien gezeigt (z. B. Hafez 2002).

Abbildung 2

Der Standard, 30. 1. 2009: 4

Eine weitere Bedeutungsebene wird durch den Untertitel des Fotos manifes-
tiert – „Szenen eines Konflikts: Obamas Angebot, Antiamerikanismus in Tehe-
ran, George Bushs ,Axis of evil‘-Rede und der Sturm auf die US-Botschaft in Te-
heran 1979“. Die Bildunterzeile gibt eine Orientierungshilfe, wie diese Abbil-
dung von den LeserInnen verstanden werden soll: Die Schleier tragenden Frauen
werden gegen das Bild Barack Obamas, Symbolträger der „freien“ und demokra-
tischen USA, gesetzt. Sie werden so zum sichtbaren Zeichen von Terror und Fun-
damentalismus, die der US-Politik im Besonderen und westlichen Werten im All-
gemeinen zuwiderlaufen.
In dieser Art Inszenierungen markiert der Schleier eine bestimmte politische
Geographie und dient zugleich identitätspolitischen Setzungen. Abbildungen von
Schleier tragenden Frauen vermitteln raumbezogene Identitäten. Der damit kon-
struierte politisch-geographische Raum wird zugleich als kulturell-religiöses Ge-
bilde vom Westen abgegrenzt. Diese Abgrenzung und Normierung von „Eige-
nem“ und „Fremden“ ist ein entscheidendes Moment der politisch-geographi-
222 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

schen Repräsentation. Politisch-geographische Räume sind deshalb immer mit


identitätspolitischen Setzungen verbunden und lassen sich nur analytisch, nicht
aber auf der Deutungsebene der Bilder unterscheiden.

4.2 Nationale Imaginationen und Geschlechterpositionierungen:


identitätspolitische Räume

Medieninhalte lassen sich als identitätspolitische Räume begreifen, in denen


Identitäten etabliert und verhandelt werden (vgl. Hipfl 2004). Die Fokussierung
auf identitätspolitische Räume führt zu einer Beschäftigung mit den in den Me-
dien vorkommenden sozialen Identitäten und Körpern. Welche Identitäten sind
an welchen Orten, in welchen Kontexten überhaupt denkbar und vorstellbar?
Weitergehend erlaubt diese Konzeption danach zu fragen, wie die Zugehörigkeit
zu imaginären Gemeinschaften bestimmt wird und welche Differenzierungen,
Grenzziehungen und Formen des Ausschlusses dabei vorgenommen werden.
Symbolische Gemeinschaften wie jene der Nation, Europas, des „Westens“
oder des Okzidents entstehen durch soziale Beziehungen und Verbindungen wie
auch durch Grenzsetzungen (vgl. Massey 1994). Dabei geht es um die Frage, wo
die Grenzen der jeweiligen Gemeinschaft gezogen werden, welche nationalen
bzw. transnationalen Identitäten dazugehören und welche nicht. Das bedingt ihre
Positionierung in Beziehung zu anderen Akteuren. So positioniert sich „Europa“
etwa im Verhältnis zu Menschen der „islamischen Welt“. Dabei wird der „Wes-
ten“ wie der „Islam“ gleichermaßen symbolisch aufgeladen (vgl. Said 1978;
Hafez 2002). Der Schleier erfüllt als visuelles Zeichen des „Anderen“ bzw.
„Fremden“ für diese Konstruktionen eine wichtige Funktion (vgl. Dietze 2009).
Die Verhandlung von Identitätsräumen bezieht sich also einerseits auf territoriale
oder symbolische Grenzsetzungen, die ein „außerhalb“ der Gesellschaft definie-
ren. Zugleich berührt sie aber auch die Frage, wer als legitime Bewohner oder Be-
wohnerinnen des so konstituierten Innenraums der imaginierten Gemeinschaft
wahrgenommen wird und wer darin fremd und marginal bleibt.
Die Bildberichterstattung über den Prozess gegen Mona S., eine österreichi-
sche Staatsbürgerin, liefert ein Beispiel für Inszenierungsstrategien von Fremd-
heit und Ausschluss in den österreichischen Medien, die Darstellung von Frauen
im Konflikt zwischen Israel und Palästina ein anderes. Die Beispiele zeigen, dass
die mittels Schleierdarstellungen vorgenommenen Geschlechterpositionierungen
je nach Thema und territorialem Bezugspunkt variieren können.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 223

4.2.1 „Die Schleierfrau“: der „Selbstausschluss“ der Mona S.

Wie erwähnt, gehörte der Prozess gegen das Ehepaar Mohammed M. und
Mona S. mit insgesamt 19 Bildern zu einem der beiden am stärksten beachteten
Themen in unserer Stichprobe. Mohammed M. wurde vorgeworfen, für die El
Kaida Propaganda gemacht und u. a. ein Drohvideo ins Internet gestellt zu haben.
Mona S. soll seine Texte übersetzt haben. Die Aufmerksamkeit für den Prozess,
die durch den Zusammenhang mit dem Terrorismus bereits relativ groß war, wur-
de durch Mona S.’ Weigerung, im Gerichtssaal ihren Ganzkörperschleier abzule-
gen, weiter erhöht. Dieser Prozess ist damit im Untersuchungszeitraum das Ereig-
nis, an dem die Bedeutung des Schleiers explizit verhandelt wird.
Zunächst fällt auf, dass die drei Zeitungen unterschiedlich häufig und auch
über einen unterschiedlich langen Zeitraum hinweg den Prozess mit einem Foto
Mona S’. bebildern. Der Standard veröffentlichte vier, die Salzburger Nachrich-
ten sechs, die Kronen Zeitung neun Fotos und damit fast die Hälfte der Bilder.
Die Berichterstattung begann in allen drei Zeitungen am 9. Oktober 2008. Es war
der Tag, an dem Mona S. aus einer über ein Jahr dauernden Untersuchungshaft ent-
lassen wurde. Im November begann dann der eigentliche Prozess, von dem Mona S.
aber wegen ihrer Weigerung, den Schleier abzulegen, direkt wieder ausgeschlossen
wurde. Das letzte Foto von Mona S. fand sich folgerichtig im Standard am 17. No-
vember 2008. Kronen Zeitung und Salzburger Nachrichten dagegen illustrierten
auch im Dezember 2008 und Februar 2009 unterschiedliche Vorkommnisse mit dem
Bild von Mona S. In beiden Tageszeitungen endete die Bildberichterstattung erst mit
dem Ende des Strafverfahrens und der Verlesung des Strafmaßes im Februar 2009.
Mona S. wurde zu 22 Monaten Haft verurteilt, da das Gericht die Übersetzungstätig-
keit als Beleg für ihre Betätigung im Rahmen einer terroristischen Vereinigung werte-
te. In den Zeitungsfotos bleibt die Frau schemenhaft präsent, auch wenn sie physisch
im Prozess nicht anwesend ist und hier auch keine Stimme hat.
Die Berichterstattung über Mona S. erhält von Anfang an einen stark symboli-
schen Charakter. Mona S. wird zum Sinnbild der verhüllten und verschleierten
und deshalb fremden Frau. Die Kronen Zeitung (9. 10. 2008: 28) tituliert sie
schon in der Vorberichterstattung als „die Schleierfrau“, in den Salzburger Nach-
richten (9. 10. 2008: 19) ist sie „die verhüllte Frau“. Der Ganzkörperschleier wird
zum Wesensmerkmal der Person, die ansonsten fast vollständig ohne weitere Per-
sönlichkeitsmerkmale bleibt. Nur en passant enthält mal die eine, mal die andere
Zeitung Informationsbrocken zu Alter, Herkunftsfamilie oder Staatsangehörig-
keit. Mona S. wird zur universellen verschleierten Frau, deren Status als Fremde
sich im Ausschluss vom Prozess materialisiert, denn die Öffentlichkeit des Pro-
zesses und die Anwesenheit der Angeklagten während der Verhandlung gehört zu
224 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

den fundamentalen Rechten von StaatsbürgerInnen in den europäischen Demo-


kratien. Die Entscheidung des Gerichts, Mona S. auszuschließen, bleibt deshalb
juristisch umstritten. Die Salzburger Nachrichten (21. 10. 2008: 19) und der Stan-
dard (17. 11. 2008: 23) tragen dem Rechnung, indem darin juristische ExpertIn-
nen zu Wort kommen, die den Ausschluss ausführlich und fachlich fundiert dis-
kutieren bzw. kritisieren.
In der Kronen Zeitung lassen sich dem gegenüber keinerlei Zweifel am Pro-
zessverlauf erkennen. Der Schleier markiert Mona S. als unbelehrbare Islamistin
und Terroristin, die sich selber aus der österreichischen Nation ausgeschlossen
hat. Als verschleierte Frau, so die Logik, nimmt sie ihre staatsbürgerlichen Pflich-
ten und Aufgaben nicht wahr und hat deshalb auch ihre staatsbürgerlichen Rechte
verwirkt. Besonders drastisch drücken das die beiden Leserbriefe aus, die die
Kronen Zeitung (16. 10. 2008: 31; 18. 11. 2008: 26) zum Prozess veröffentlicht
und mit einem Foto von Mona S. bebildert sowie durch einen zusätzlichen Kasten
als besonders bedeutend bzw. interessant hervorhebt. Darin heißt es u. a.:
„Es ist wohl anzunehmen, dass sie mit ihrem Outfit keiner geregelten Arbeit nachgeht und somit
von ihrem Mann abhängig ist. Ist dieser arbeitslos, lebt sie von unseren Steuergeldern. Auch un-
sere sozialen Institutionen und die Krankenkasse wird mit einer Selbstverständlichkeit in An-
spruch genommen. Solche Leute wollen sich nicht integrieren! Denen gehört die österreichische
Staatsbürgerschaft aberkannt und sie in das Land ihrer Großväter geschickt.“
(Kronen Zeitung, „Das freie Wort“, vom 18. 11. 2009).

Die im Prozess gegen Mona S. sichtbaren Unterschiede in der Bilderpolitik zwi-


schen dem Standard und der Kronen Zeitung zeigen sich besonders deutlich beim
Themenbereich Migration und Integration.
Neun Bilder des Standard konnten diesem Themenbereich zugeordnet werden.
Die begleitenden Artikel stellen die Integrationsthematik auch aus der Perspektive
der MigrantInnen dar, und diese kommen auch selber zu Wort. Migration und Mul-
tikulturalität werden dabei als alltägliche gesellschaftliche Phänomene sichtbar,
die auf der Basis unterschiedlicher kultureller Wahrnehmungen, aber auch auf-
grund von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit Fragen zu Wohnen, Schule und
sozialem Leben aufwerfen. MigrantInnen und Eingebürgerte werden damit als
Teil der österreichischen Gesellschaft begriffen. In der Wochenendbeilage der
Kronen Zeitung, „Krone bunt“, wird dagegen zwar an einer Stelle über einen Kin-
dergarten als gelungenes Integrationsprojekt berichtet, die übrigen Krone-Bei-
träge stellen den Zuzug von AusländerInnen aber durchgängig als Problem dar. So
wird bspw. in alarmistischer Sprache vor dem „Krisenherd Migration“ (Kronen
Zeitung 8. 10. 2008: 12) gewarnt. Im Vergleich von Standard und Kronen Zeitung
zeigt sich, dass der mediale Identitätsraum „Österreich“ nicht verbindlich fixiert
ist, sondern unterschiedlich gedeutet und immer wieder auch neu verhandelt wird.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 225

4.2.2 Der Konflikt zwischen Israel und Palästina: Unterschiedliche Orte für
protestierende und leidende Frauen

Hinsichtlich der Berichterstattung über den Einmarsch Israels in den Gazastreifen


an der Jahreswende 2008/2009 fällt die unterschiedliche Verortung von passiv
leidenden und aktiv protestierenden Frauen auf. Kein einziges Foto von Demons-
trantinnen in unserem Sample stammt aus der Region Israel oder Palästina selber.
Wann immer Frauen auf den Bildern politische Ansichten öffentlich vertreten,
geschieht dies woanders, vor allem in Österreich, aber auch in anderen arabischen
Ländern. Frauen in Palästina dagegen erscheinen ausschließlich auf Bildern, die
Flucht, Elend und Leid zeigen. Die Darstellung von Frauen – und insbesondere
Frauen mit Kindern – gehört zum Standardrepertoire der Kriegsberichterstattung
und symbolisiert die hilflosen Opfer des Krieges, die es zu beschützen gilt (vgl.
Enloe 1994). Die Fotos beinhalten damit auch immer eine Aufforderung, ihr Lei-
den zu beenden (vgl. Klaus/Kassel 2008). Das Beispiel verdeutlicht, dass für ver-
schleierte Frauen nicht nur ein einziger „fremder“ Ort eindeutig festgelegt ist.
Thematisiert die Berichterstattung die legitime Wahrnehmung von Bürgerrechten
durch Frauen, wie es für die Demonstrationen in Wien gegen den israelischen
Einmarsch galt, dann sind selbst auf Fotos in der Kronen Zeitung Schleier tra-
gende Frauen wie selbstverständlich neben unverschleierten zu sehen (z. B. Kro-
nen Zeitung, 6. 1. 2009: 10). Das verweist auf die Vielfältigkeit der historischen
und kulturellen Konnotationen des Schleiers, die in den Pressefotografien zu ak-
tuellen Ereignissen zum Ausdruck kommt.
Im Rahmen der Gender Studies wurde gezeigt, dass sich in der medialen Bil-
derpolitik zu Schleier und Kopftuch Orientalismusdiskurse widerspiegeln und
postkoloniale Blicke auf verschleierte Frauen deutlich erkennbar sind (vgl. Gra-
ham-Brown 1988; Lewis 1996; Yegenoglu 1998). Zur orientalistischen Wahrneh-
mung gehört etwa die Vorstellung von im Harem hinter Mauern und Schleiern
verborgenen Frauen, deren einzige Aufgabe darin besteht, unterwürfig und ihrem
„Herrn“ sexuell zu Diensten zu sein. In unserer Stichprobe findet sich der Nach-
klang solcher Bilder beispielsweise in der Form von Augen, die verführerisch
hinter dem Gesichtsschleier hervorblicken, oder auch in Form von Harems-Kari-
katuren. Abbildung 3 ist der Kronen Zeitung entnommen und zeigt die prototypi-
sche Imagination eines der Lächerlichkeit preisgegebenen und zugleich beneide-
ten sexuell potenten Herrschers über zahlreiche identisch gezeichnete Harems-
damen.
Der Orientalismusdiskurs findet sich in den medialen Bilderpolitiken in Be-
zug auf verschleierte Frauen wider, hat aber in unserer Stichprobe keine univer-
selle Erklärungskraft. Die Medienbilder zeigen vielmehr die vielfältigen Bedeu-
226 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

Abbildung 3

Kronen Zeitung, 14. 1. 2009: 47

tungen des Schleiers sowie der Ver- und Entschleierung von Frauen und ihre stän-
dige Überarbeitung und Neuverhandlung. Es ist dieser Prozess der fortlaufenden
(Neu-)Verhandlung und (Neu-)Produktion von Bedeutungen, der Zwischen-
räume eröffnet.

4.3 Zwischenräume

Politisch-geographische wie identitätspolitische Setzungen sind nicht eindeutig


und weisen deshalb Ambivalenzen und Widersprüche auf. Die Konstruktion neu-
er Räume und Identitätspositionen wird möglich, da mediale Identitätsräume
nicht statisch und ein für alle Mal fixiert sind, sondern vieldeutig bleiben. Da-
durch können neue Räume entstehen, die andere Verortungen erlauben und neue
Identitätspositionen eröffnen, die in den Medien selbst gar nicht vorhanden oder
vorgesehen waren. Solche medialen Zwischenräume bilden sich im Kreislauf
kultureller Bedeutungsproduktion und insbesondere in Prozessen der Medienre-
zeption und -interaktion heraus. Das „Zwischen“ der Räume verdeutlicht, dass in
der Interaktion mit Medien mehr passiert als bloß ein Einstieg der RezipientInnen
in die von Massenmedien zur Verfügung gestellten hegemonialen Orte (vgl. Hipfl
2004; zur kulturwissenschaftlichen Verwendung: Wuttke 1996).
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 227

In unserer Studie verweist die Bebilderung einer Ausstellung in der Albertina


mit einem Bild der persisch-amerikanischen Künstlerin Shirin Neshat auf die
Entstehung von Zwischenräumen. Dasselbe Bild dazu findet sich sowohl in der
Kronen Zeitung als auch in den Salzburger Nachrichten (vgl. Abbildung 4). Zu
sehen ist eine sitzende Frau im schwarzen Ganzkörperschleier, deren Arme mit
persischen Schriftzeichen bemalt sind und die die Hände vor das Gesicht geschla-
gen hat.

Abbildung 4

Salzburger Nachrichten, 20. 1. 2009: 11;


Kronen Zeitung, 22. 1. 2009: 45

Das Bild ist Teil der Fotoserie „Women of Allah“, in dem die Künstlerin sich mit
dem Fundamentalismus im Iran auseinandergesetzt hat. Die Serie enthält auch
Bilder ganz anderer Art: Auf manchen Werken sind die entblößten Körperteile
der muslimischen Frauen mit Gedichtzeilen feministischer persischer Autorinnen
beschrieben, auf anderen ragen unter dem Schleier Waffen hervor. Die Bilder ver-
stören, weil sie Fragen danach aufwerfen, wer sich da eigentlich hinter dem
Schleier verbirgt. In der Spannung zwischen Schleier und entblößten Körpertei-
len wird dieser seiner hegemonialen Eindeutigkeit beraubt und erscheint weder
als universelles Symbol einer schwachen, geknechteten und leidenden Frau noch
als Portfolio für ein islamisches Land. Neshat positioniert die verschleierten
Frauen stattdessen in spezifischen historischen und politischen Kontexten mit
vielfältigen Handlungsoptionen (vgl. Rosen 2005 für eine andere Interpretation).
Die Künstlerin hat in einem Interview erklärt, dass die Fotoserie als Antwort auf
228 Elisabeth Klaus, Ricarda Drüeke und Susanne Kirchhoff

eine persönliche Krise entstanden ist, die durch ihre Migration aus dem Iran in die
USA ausgelöst wurde:
„Leaving has offered me incredible personal development, a sense of independence that I don’t
think I would have had. But there’s also a great sense of isolation. And I’ve permanently lost a
complete sense of center. I can never call any place home. I will forever be in a state of in-bet-
ween.“ (Neshat 2004)

Dadurch, dass die beiden Zeitungen nur ein einzelnes Bild der Serie drucken,
wird dieses allerdings seiner vielfältigen, spezifischen Kontexte wieder beraubt
und lässt sich so in den hegemonialen Bedeutungsraum des Schleiers wieder ein-
binden. Massenmedien liefern zwar das Material für die Entstehung von Zwi-
schenräumen, sind aber selber nicht Orte ihrer Entfaltung.
Die Umdeutung des Schleiers wird vor allem von jenen forciert, für die die
hegemonialen Diskurse keinen Platz für Zugehörigkeit vorsehen. Die Positionie-
rung von Migrantinnen im „state of in-between“ behindert eine Identifikation mit
den zur Verfügung stehenden dominanten Bedeutungen des Schleiers und führt
zur Suche nach anderen, neuen Ausdrucksformen. Feministische Künstlerinnen
versuchen vor allem eine symbolische Kodierung des Schleiers zu überwinden,
die zur Legitimierung von Kriegen führt, die hinter dem Schleier verborgenen
Frauen zu Objekten degradiert und die schwerwiegende Verletzung von Frauen-
rechten zum alleinigen Problem vermeintlich fremder Gesellschaften erklärt. Be-
sonders interessant sind dabei jene Darstellungen, die den scheinbar unüber-
brückbaren Gegensatz zwischen Ost und West, Orient und Okzident, Europa und
den islamischen Ländern nicht akzeptieren und etwa durch die Neuverortung der
Burka in europäischen Traditionen Zwischenräume eröffnen, so z. B. in den Graf-
fitis von Princess Hijab, die Werbeplakate in der Pariser Metro besprüht.
Zwischenräume ermöglichen es, mediale Stereotype aufzubrechen und neue
Deutungen in den Kreislauf kultureller Bedeutungsproduktionen einzuspeisen.
Politisch-geographische Räume sind wandelbar, weil die Festlegung ihrer Gren-
zen ein ständig umkämpftes Terrain ist. Die identitätspolitischen Räume, die Me-
dieninhalte konstituieren, bleiben leer, wenn diese nicht von Menschen genutzt
und angeeignet werden. Dies geschieht nicht zuletzt aufgrund der Polysemie von
Medieninhalten, aber nie in einer eindeutigen, uniformen Weise. Interpretations-
weisen als Positionierungen in identitätspolitischen Räumen sind vielmehr ab-
hängig von den sozialen Kontexten der Rezeption. Damit eröffnet der Medien-
prozess auch systematisch Zwischenräume, auch wenn damit keineswegs ent-
schieden ist, ob die Bereitstellung neuer Deutungshorizonte gesellschaftliche
Folgen hat oder aber folgenlos bleibt.
Mediale Identitätsräume: Bilder von verschleierten Frauen in der österreichischen Presse 229

5 Fazit

Die Ergebnisse unserer Studie zeigen, wie durch Medien spezifische Identitäts-
räume entstehen. Das Raumkonzept erscheint dabei als tragfähiger Analyserah-
men, um die unterschiedlichen medialen Setzungen, Positionierungen und Reprä-
sentationen von verschleierten Frauen in Bezug auf imaginäre und imaginierte
Gemeinschaften zu beschreiben. Die in den österreichischen Medien zu finden-
den Bilder der Kopftuch oder Schleier tragenden Frauen werden genutzt, um
Konstrukte wie Westen und Osten, Okzident und Orient, Christentum und Islam,
nationale oder europäische Zugehörigkeit und Nichtzugehörigkeit immer wieder
neu zu bestimmen und darin auch Männer und Frauen in je spezifischer Weise zu
positionieren.

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„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“
Geschlechterarrangements – von Leitbildern und
Realitäten im interkulturellen und intergenerativen
Vergleich
Schahrzad Farrokhzad

Einleitung

Wenn man die Alltagsdiskurse zu Migration und Geschlechterverhältnissen ver-


folgt, begegnet man immer wieder (und immer noch) stereotypen Bildern über
Geschlechterrollenverständnissen von Frauen und Männern mit Migrationshin-
tergrund1. Besonders im Fokus stehen hierbei Migrationsfamilien aus muslimisch
geprägten Herkunftsgesellschaften. Vor allem diejenigen, die „auffallen“ (z. B.
durch ein Kopftuch), sind Ziel von einseitig und pauschal stereotypisierenden Zu-
schreibungen wie Unterdrückt-Sein und Rückständigkeit. Die Herausgeberinnen
Munch, Gemende und Weber-Unger Rotino (2007) haben mit Blick auf Ge-
schlechterrollenverständnisse die Konstruktion der Dichotomie zwischen „wir“
(westlich, modern, gleichberechtigt) und „die“ (islamisch und/oder „traditionell“,
nicht gleichberechtigt) im Titel ihres Buches „Eva ist emanzipiert, Mehmet ist ein
Macho“ auf den Punkt gebracht.
Aber: Was sind Zuschreibungen und wie sieht die Realität aus? Dieser Beitrag
stellt ausgewählte Ergebnisse einer qualitativen Studie zum Thema „Geschlech-
terarrangements im intergenerativen und interkulturellen Vergleich“ vor, die ich
mit Kolleginnen und Kollegen von der Firma Univation GmbH Köln, dem Insti-
tut für interkulturelle Bildung und Entwicklung in Köln und dem Verein „women
on top“ in Bielefeld durchgeführt habe (Farrokhzad/Ottersbach/Tunc/Meuer-Wil-
luweit 2010).2 Es ging dabei u. a. darum, Folgendes herauszufinden.

1 Die Begriffe „Migrationshintergrund“ und „Zuwanderungsgeschichte“ werden im Folgenden


synonym verwendet.
2 Dieses Forschungsprojekt wurde vom damaligen MGFFI in NRW und dem BMFSFJ 2008 unter
dem Titel „Rollenverständnis von Frauen und Männern mit Zuwanderungsgeschichte unter Be-
rücksichtigung intergenerativer und interkultureller Einflüsse“ in Auftrag gegeben. Zeitnah zu
der in diesem Beitrag ausführlich vorgestellten wissenschaftlichen Publikation haben die Auf-
traggebenden eine Broschüre mit dem Titel „Die Rolle annehmen? In der Rolle bleiben? Neue

E. Hausbacher et al. (Hrsg.), Migration und Geschlechterverhältnisse,


DOI 10.1007/978-3-531-93189-0_13,
© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
232 Schahrzad Farrokhzad

• Welche Geschlechterrollenverständnisse haben Frauen und Männer mit und


ohne Migrationshintergrund, und wie regeln sie in Beziehungen und Familien
Aufgaben- und Arbeitsteilungen im gelebten Alltag?
• Inwieweit und wodurch werden Geschlechterrollenverständnisse beeinflusst
(z. B. durch die Eltern, die Schule etc.) und welche Rolle spielen dabei Werte
und Normen sowohl der Herkunftsländer als auch der Bundesrepublik
Deutschland?
Die qualitative exemplarische Studie wurde von 2008 bis 2009 durchgeführt. Um
zwei verschiedene und zahlenmäßig große Herkunftsgruppen zu vergleichen und
zudem „Herkunftsdeutsche“ einzubeziehen, wurden neben einer Literaturanalyse
zum Forschungsstand insgesamt 70 Frauen und Männer ohne Migrationshinter-
grund, mit Migrationshintergrund Türkei und mit Migrationshintergrund ehema-
lige Sowjetunion befragt. Sowohl die Beteiligung aller drei Herkunftsgruppen als
auch die Beteiligung von älteren und jüngeren Befragten war hierbei ausgewo-
gen. Die Jüngeren waren zwischen 18 und 28 Jahre, die Älteren zwischen 40 und
61 Jahre alt. Von den Jüngeren lebten einige noch zu Hause, andere im eigenen
Haushalt, manche mit, manche ohne Partnerin bzw. Partner. Die Jüngeren hatten
alle noch keine Kinder. Somit berichten einige Jüngere bezüglich Geschlechterar-
rangements je nach Bereich mangels Praxiserfahrung nur von Geschlechterleit-
bildern, andere bereits von Geschlechterpraxen (z. B. Arbeitsteilung im Haus-
halt). Diese Unterscheidung ist wichtig, da im Gegensatz dazu alle befragten El-
tern bezüglich Arbeits- und Aufgabenteilung in Haushalt, Erwerbstätigkeit und
Kinderbetreuung sowohl von Leitbildern als auch von Praxen berichten können.
Darüber hinaus wurden bei der Analyse weitere relevante Differenzlinien
(wie z. B. Bildungshintergrund) berücksichtigt.3 Da dies eine intergenerative Stu-
die war und auch generationenübergreifende Einflüsse auf Geschlechterarrange-
ments untersucht werden sollten, wurden jeweils Mutter-Tochter- bzw. Vater-
Sohn-Tandems ausführlich interviewt. Hierzu wurde mit einem Kurzfragebogen
und mit einem umfangreichen Interviewleitfaden gearbeitet. Mit dem Kurzfrage-

Rollen leben?“ (2010) herausgegeben, der als Quelle die Forschungsergebnisse zugrunde liegen
und die einige der Kernergebnisse zusammenstellt.
3 Methodisch wurde hierbei mit der Intersektionalitätsanalyse (vgl. hierzu Leiprecht/Lutz 2009)
gearbeitet – ein Vorgehen, bei dem Daten multiperspektivisch, beispielsweise in diesem For-
schungsprojekt vor allem im Hinblick auf Geschlecht, Ethnizität, Generationenzugehörigkeit und
Bildungshintergrund betrachtet werden; es werden Überschneidungen zwischen diesen Katego-
rien herausgearbeitet, und es wird nicht von vornherein einer Kategorie die Hauptbedeutung bei
der Erklärung von Phänomenen zugemessen. Wechselwirkungen von Differenzkategorien sollen
nicht hierarchisch theoretisiert werden, auch wenn Differenzlinien sich in ihren Wechselwirkun-
gen überlagern, verstärken oder abschwächen (können).
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 233

bogen wurden statistische Merkmale wie Alter, Migrationshintergrund, Familien-


stand, Ausbildung etc. abgefragt. Diese Informationen wurden dann in den Inter-
views mit verwendet. Der Interviewleitfaden beinhaltete sowohl Fragen an beide
Generationen als auch spezielle Fragen an jeweils die ältere und jüngere Genera-
tion. Zu den abgefragten Themen gehörten u. a. Tagesabläufe und Arbeitsteilung,
Erziehungsvorstellungen, Bildung, Beruf und Arbeiten, Vorbilder, Einflüsse der
Eltern auf die jüngere Generation, elterliche Erwartungen und Idealtypen von
Mann und Frau. Die Interviews fanden bei Bedarf in den Herkunftssprachen oder
mehrsprachig, teilweise gemeinsam, teilweise getrennt statt – Letzteres, um auch
Raum für Gespräche über Dinge zu schaffen, die z. B. Kinder nicht unbedingt im
Beisein ihrer Eltern diskutieren wollen.4
Ein für die Studie grundlegendes Konzept waren die „Geschlechterarrange-
ments“ in Anlehnung an Pfau-Effinger (1996, 2000, 2001).5 Aufgrund der spezi-
fischen und im Schwerpunkt die mikrosoziologische Ebene betreffenden Frage-
stellungen wurde das Konzept „Geschlechterarrangements“ dem Forschungszu-
sammenhang dieser Studie angepasst. Nach unserem Verständnis umfassen Ge-
schlechterarrangements:

• individuelle Geschlechterleitbilder: subjektive Geschlechterrollenorientie-


rungen, wie sie die Befragten in den Interviews verdeutlichen (z. B. individu-
elle Vorstellungen von Arbeits- und Aufgabenteilungen zwischen den Ge-
schlechtern, Bildungs- und Berufsorientierungen etc.)
• kollektive/gesellschaftliche Geschlechterleitbilder: gesellschaftlich diskursiv
hergestellte Leitbilder zu Geschlechterrollenorientierungen (z. B. Hauptver-
antwortung der Kleinkinderziehung bei den Müttern, Normativität der bürger-

4 Die Interviews wurden bei Bedarf von mehrsprachigen Interviewerinnen und Interviewern in der
Regel bei den Interviewten zu Hause durchgeführt. Die Auswertung erfolgte teils in Form von
Typenbildung (v. a. bezüglich der Geschlechterarrangements), teils in Form des thematischen
Kodierens nach Uwe Flick (2007). Weitere Informationen zu Methoden, Transkriptionsregeln
und Auswertung vgl. Farrokhzad/Ottersbach/Tunc/Meuer-Willuweit 2010: 59 ff.
5 Nach Pfau-Effinger (1996, 2000, 2001) umfasst der Begriff der Geschlechterarrangements so-
wohl Geschlechterordnungen als auch Geschlechterkulturen. Mit Geschlechterordnungen sind
„die real vorfindlichen Strukturen des Geschlechterverhältnisses und die Beziehungen zwischen
gesellschaftlichen Institutionen im Hinblick auf die geschlechtliche Arbeitsteilung“ (Pfau-Effin-
ger 1996, S. 467) gemeint. Damit ist vor allem die gesellschaftliche Makroebene angesprochen,
also z. B. inwieweit Öffnungszeiten von Kitas, Schulen und anderen Bildungs- und Betreuungs-
einrichtungen die beruflichen Arbeitszeiten von Eltern und in der Folge auch ihre Arbeits- und
Aufgabenteilung bezüglich Haushalt und Kindern beeinflussen. Geschlechterkulturen bezeich-
nen „Werte und Leitbilder in Bezug auf die Geschlechterbeziehungen und die Formen der ge-
schlechtsspezifischen Arbeitsteilung“ (Pfau-Effinger 1996: 467). Der Begriff der Geschlechter-
kulturen beinhaltet damit stärker das individuelle Moment der Geschlechterarrangements in Hin-
blick auf Leitbilder und gelebte Praxis.
234 Schahrzad Farrokhzad

lichen Kleinfamilie, geschlechtsspezifische Aufgabenzuschreibungen wie


etwa handwerkliche Arbeiten, Kochen etc.)
• Geschlechterkulturen und Geschlechterverhältnisse: Geschlechterkulturen
als Ergebnis der Auseinandersetzung der Individuen und ihrer individuellen
Geschlechterleitbilder mit den diskursiv hergestellten und institutionalisierten
Geschlechterleitbildern; Geschlechterverhältnisse als (institutionalisierte)
Geschlechterordnungen, die durch Geschlechterkulturen geformt werden
• Geschlechterpraxen: alltägliches Handeln von Männern und Frauen in Ge-
schlechterarrangements
Darüber hinaus knüpft diese Forschungsarbeit an die mittlerweile sehr bekannt
gewordenen Sinus-Studien zu Migrantenmilieus (Sinus Sociovision 2007a,
2007b, 2008) und andere Forschungsergebnisse zu Migration und Geschlechter-
arrangements an.

1 Der Einfluss ethnisch-kultureller Herkunft wird oft überschätzt –


die Sinus-Migrantenmilieus und andere Erkenntnisse

Viele einschlägige Studien aus der pädagogischen und soziologischen Migra-


tions- und Genderforschung belegen seit Jahren, dass der Einfluss ethnisch-kul-
tureller Herkunft im Vergleich zu anderen biographisch relevanten Dimensionen
überschätzt wird und daher sich zu Recht mit ethnisch-kulturellen Zuschreibun-
gen, aber auch Selbstdefinitionen kritisch auseinandergesetzt wird und andere
bedeutsame Dimensionen wie z. B. die soziale Lage, gesellschaftliche Diskurse
um Einwanderung und/oder der Bildungshintergrund ins Spiel gebracht wer-
den.6 Dies gilt auch für Geschlechterarrangements. Dies wurde jedoch im Main-
stream-Diskurs um Migration und Integration kaum zur Kenntnis genommen.
Erst die Sinus-Studien zu den Migrantenmilieus, über die u. a. im SPIEGEL be-
richtet wurde, machten eine größere Öffentlichkeit auf diesen Umstand auf-
merksam.7
Zentrale Ergebnisse der repräsentativ angelegten Sinus-Studie zu Migranten-
milieus (Sinus Sociovision 2008) sind u. a.:

6 Vgl. hierzu exemplarisch Badawia (2002), Farrokhzad (2007), Ottersbach (2006), Lutz (1991),
Herwartz-Emden (2000), Agha (1997), Gutiérrez Rodríguez (1999), Erel (2003), Mecheril
(2003), Munsch u. a. (2007).
7 Im Zuge der Debatten um Sarrazins Buch „Deutschland schafft sich ab“ (2010) werden allerdings
gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen wieder zunehmend ethnisiert bzw. kul-
turalisiert.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 235

• Die Heterogenität der Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund wird


schon dadurch deutlich, dass sich insgesamt acht Migrantenmilieus identifi-
zieren lassen – das religiös verwurzelte Milieu, das statusorientierte Milieu,
das traditionelle Gastarbeitermilieu, das entwurzelte Milieu, das adaptive bür-
gerliche Milieu, das intellektuell-kosmopolitische Milieu, das multikulturelle
Performermilieu und das hedonistisch-subkulturelle Milieu.
• Soziale Herkunft und Lebensstilbildung von Migrantenmilieus weisen keine
anders gelagerte Korrelation auf als bei Menschen ohne Zuwanderungsge-
schichte. Konkret bedeutet dies, dass man weder von der Herkunftskultur auf
das Milieu schließen noch ein Milieu auf eine spezifische Herkunftskultur re-
duzieren kann. Damit verbindet Zuwanderinnen und Zuwanderer mehr mit
Menschen des gleichen Milieus als mit Landsleuten aus anderen Milieus.
• Der Einfluss religiöser Traditionen wird bei Menschen mit Zuwanderungsge-
schichte oft überschätzt. So betrachten 84% der Befragten Religion als Privat-
sache, und drei Viertel wenden sich entschieden gegen fundamentalistische
Einstellungen. Nur in dem kleinsten aller Milieus, dem religiös verwurzelten
Milieu (welches nicht nur Muslime umfasst), spielt Religion eine durchge-
hend alltagsbestimmende Rolle. Diesem Milieu gehören jedoch nur 7% aller
Menschen mit Zuwanderungsgeschichte an.
• Die meisten Befragten der Sinus-Studie verstehen sich als Angehörige der
(multiethnischen) deutschen Gesellschaft, wollen sich aktiv einbringen, je-
doch ohne ihre kulturellen „Wurzeln“ zu vergessen. So genannte „Integra-
tionsdefizite“ (z. B. mangelnder Bildungserfolg, schwierige Integration in den
Arbeitsmarkt) sind eher in den unterschichtigen Milieus zu finden, ähnlich
wie bei der Bevölkerung ohne Zuwanderungsgeschichte.
• Rund ein Viertel der Menschen mit Migrationshintergrund fühlt sich diskrimi-
niert und ausgegrenzt – auch dies gilt insbesondere für die unterschichtigen
Milieus, und auch hier betrifft diese Ausgrenzungserfahrung unterschichtige
Milieus mit und ohne Zuwanderungsgeschichte.
• Erfolgreiche Etablierung in der Mehrheitsgesellschaft ist stark abhängig vom
Bildungsniveau und der Herkunftsregion. Je höher das Bildungsniveau und je
urbaner die Herkunftsregion, desto leichter fällt es, sich zu etablieren.

Diese Ergebnisse weisen eine hohe Übereinstimmung mit denen der Migrations-
und Genderforschung und mit dem ersten Familienbericht der Bundesregierung
zu Migrationsfamilien (BMFSFJ 2000) auf, insbesondere bezüglich der Hetero-
genität, der hohen Bedeutung von sozialem Status, Bildungshintergrund und
urbaner oder ländlicher Herkunft für Lebensentwürfe gegenüber der ethnisch-
kulturellen Herkunft, der Leistungs- und Integrationsbereitschaft der Mehrheit,
236 Schahrzad Farrokhzad

Diskriminierungserfahrungen und der insgesamt zahlenmäßig geringen Bedeu-


tung von Religiosität. Herkunft hingegen kann dann eine Rolle spielen, wenn sich
die Personen mit Migrationshintergrund z. B. kritisch sowohl mit Diskursen über
Geschlechterverhältnisse im Herkunftsland bzw. im Herkunftsland ihrer Eltern
als auch mit denen im Aufnahmeland auseinandersetzen. Herkunft kann auch mit
Blick auf die dortigen strukturellen Rahmenbedingungen (z. B. Sozialsystem,
ausgebaute öffentliche Kinderbetreuung etc.) und damit verknüpfte Gewohnhei-
ten bzw. Selbstverständlichkeiten bedeutsam sein. Aber auch dann ist Herkunft
nicht eins zu eins mit Kultur gleichzusetzen, sondern lebensweltliche Orientie-
rungen, die auf Sozialisations- und Lebensbedingungen etwa im Herkunftsland
zurückzuführen sind, tauchen oft in individuell transformierter Form auf. Dar-
über hinaus kann die Migrationsgeschichte einer Migrationsgruppe für das Indi-
viduum biographisch bedeutsam sein,8 z. B. ist die türkische Migrationsgruppe
stark durch Arbeitsmigration und Familiennachzug geprägt und die Gruppe der
Iranerinnen und Iraner mehr durch Studienmigration und Fluchtmigration. Allein
dieser Unterschied kann Lebensentwürfe und Orientierungen nachhaltig mit be-
einflussen, etwa durch aufenthaltsrechtliche Bedingungen und damit verbundene
Chancen und Barrieren (Farrokhzad 2007).
Auch bezüglich der Geschlechterarrangements lässt sich nach der einschlägi-
gen Fachliteratur eine große Ausdifferenziertheit innerhalb der Gruppe der Men-
schen mit Migrationshintergrund nachweisen. So ist es ebenfalls eher milieu- und
bildungs- und weniger herkunftsabhängig, welche Geschlechterleitbilder Männer
und Frauen verfolgen und welche Geschlechterpraxen sie leben. Die Ge-
schlechterleitbilder reichen von wertkonservativen Vorstellungen (z. B. Frauen
sind allein/vornehmlich zuständig für Haushalt und Kinder, Frauen sollen bereit
sein, sich unterzuordnen, sie sollen nicht oder nur Teilzeit arbeiten etc.) und Er-
ziehungsstilen (z. B. eher autoritäre Erziehungspraktiken) bis hin zu egalitären
Geschlechterleitbildern (egalitäre Geschlechterrollenorientierungen, hohe Be-
rufsorientierung bei Frauen und Männern, Unabhängigkeit und Selbstverwirkli-
chung für beide Geschlechter bedeutsam etc.) und Erziehungsvorstellungen (z. B.
tendenziell liberale Erziehungspraktiken) mit vielen Facetten zwischen diesen
beiden Polen.
Speziell zu Frauen mit Migrationshintergrund lassen sich folgende Erkennt-
nisse festhalten (Westphal 2004, Farrokhzad 2007, Herwartz-Emden 2000) 9:

8 Vgl. hierzu exemplarisch Abadan-Unat 1993.


9 Weitere Erkenntnisse zu Frauen mit Migrationshintergrund vgl. u. a. Karakasoglu (1999, 2003),
Riegel (2003), Lutz (1999), Gutiérrez Rodríguez (1999), Ofner (2007), Hummrich (2002), Agha
(1997), Lakizyuk (2007)
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 237

• Frauen mit Migrationshintergrund gestalten öfter als angenommen familiäre


Migrationsprojekte10 aktiv mit und sind bzw. waren selbst sowohl im Her-
kunftsland als auch in der Bundesrepublik erwerbstätig.
• Soziale, rechtliche und ökonomischen Herkunfts- und Aufnahmebedingun-
gen bestimmen maßgeblich ihre Lebenssituation und ihre Einstellungen und
Handlungsoptionen mit; so ist häufig von hoher Relevanz, welchen Bildungs-
hintergrund und welchen sozialen und beruflichen Status die Frauen bereits
im Herkunftsland hatten, ob sie aus einer dörflichen oder städtischen Region
kommen und ob sie bereits im Herkunftsland vom Land in die Stadt gezogen
sind, welche unterstützenden Netzwerke sie sowohl im Herkunfts- als auch im
Aufnahmeland haben.11
• Gerade Frauen sind häufig „Agentinnen“ von Wandlungsprozessen in ihren
Familien und in den ethnischen Communities, sie leisten dadurch nicht selten
einen wichtigen Beitrag zur Verbesserung der Lebensverhältnisse der gesam-
ten Familie im Aufnahmeland.
• Bezüglich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie leben Frauen mit Zuwan-
derungsgeschichte eher ein Weiblichkeitskonzept des „Sowohl-als-auch“, die
Frauen ohne Zuwanderungsgeschichte eher ein „Entweder-oder“. Sie sehen
am stärksten eine Verbindung zwischen Mutterschaft und Selbstaufgabe bzw.
Verzicht auf Selbstverwirklichung und befürworten am häufigsten die Not-
wendigkeit eigener beruflicher Einschränkungen durch Kinder.
Eine Befragung von Mädchen und jungen Frauen mit Migrationshintergrund
(Boos-Nünning/Karakasoglu 2004) ergab, dass diese a) nahezu ausschließlich ih-
ren Partner selbstbestimmt und ohne Einfluss der Eltern auswählen wollen,
b) „wertkonservative“ Geschlechterarrangements (der Mann geht arbeiten, die
Frau bleibt zu Hause, betreut die Kinder und ist allein für den Haushalt zuständig)
zu drei Viertel ablehnen und c) vielfach eine hohe Bildungs- und Arbeitsmotiva-
tion aufweisen und darin häufig von ihren Eltern bestärkt werden.
Erkenntnisse aus der Männerforschung zu Männern mit Migrationshinter-
grund (Spohn 2002, Goldberg/Sauer 2004, Westphal 2000), hier am Beispiel der

10 Als familiäre Migrationsprojekte werden Migrationen bezeichnet, die unmittelbar die ganze Fa-
milie betreffen, z. B. die Verbesserung der Chancen von Migrantinnen und Migranten auf Arbeit
und gleichzeitig die Verbesserung der Zukunftschancen ihrer Kinder. Nicht selten sind auch wei-
tere Verwandte (Großeltern, Tanten und Onkel) mit weiteren Motiven involviert.
11 Darüber hinaus bestimmen neben innerfamiliären Aspekten auch die Bedingungen und die Auf-
nahmebereitschaft der Aufnahmegesellschaft die Lebens- und Sozialisationsbedingungen der
Frauen erheblich mit. So ist z. B. mitentscheidend für die Integrationschancen der Frauen, ob sie
einen sicheren Aufenthaltsstatus (auch unabhängig vom Ehemann) haben.
238 Schahrzad Farrokhzad

für unsere Studie relevanten Gruppen der Männer mit türkischem Migrationshin-
tergrund und Aussiedlern, zeichnen ebenfalls ein vielfältiges Bild: 12

• Das „wertkonservative“ Geschlechtermodell ist bei einem erheblichen Teil


türkischer Männer umstritten. Es gibt aber eine Kluft zwischen den Einstel-
lungen und der umgesetzten Praxis, derzufolge Frauen dann doch mehrheit-
lich für die Familienarbeit zuständig sind und auf eine eigene berufliche Kar-
riere tendenziell verzichten. Auch in der deutschen Gruppe lässt sich diese
Kluft zwischen egalitär ausgerichteten oder zumindest dem „wertkonservati-
ven“ Geschlechtermodell gegenüber kritischen Einstellungen und deren prak-
tischer Umsetzung erkennen – mit dem Ergebnis, dass Frauen weniger er-
werbstätig sind und mehr Familienarbeit leisten (zu Letzterem vgl. Corneli-
ßen 2002 und Sinus Sociovision 2007c).
• Männer mit türkischem Migrationshintergrund nehmen wahr, dass viele
Eigenschaften, die ihnen von Deutschen zugeschrieben werden, nicht mit ih-
rem Selbstbild übereinstimmen.
• Viele Väter mit türkischem und Aussiedlerhintergrund wollen den sozialen
Aufstieg ihrer Kinder unterstützen.
• Respekt ist bei Vätern mit türkischem und mit Aussiedlerhintergrund weiter-
hin ein bedeutsamer Erziehungswert – sie haben sich aber von traditionellen
Formen der sichtbaren Respektbekundung gelöst und setzen eher auf ein inne-
res Verständnis von Respekt bei ihren Kindern.

Gestring, Jansen und Polat (2006) weisen darüber hinaus nach, dass bei der zwei-
ten Generation türkischer Zugewanderter, deren Lebenssituation im Vergleich zu
„Einheimischen“ überproportional häufig durch niedrige Bildungsabschlüsse und
höhere Arbeitslosigkeit gekennzeichnet ist, diese sozialstrukturelle Desintegra-
tion einen bedeutsamen Einfluss auf Geschlechterbilder hat: Diese Gruppe stellt
„wertkonservative“ Rollenaufteilungen seltener in Frage – dies entspricht den Er-
gebnissen zu milieuspezifischen Grundorientierungen der Sinus-Studien.
Um Pauschalisierungen und Ethnisierungen zu vermeiden, ist es wichtig, die
Lebenswelten und Orientierungen von Personen mit Migrationshintergrund mit
denen ohne Migrationshintergrund zu vergleichen. Beim Vergleich der Sinus-Mi-
grantenmilieus mit den „einheimischen“ Milieus in Deutschland lässt sich etwa
feststellen, dass die Unterschiede in den Geschlechterleitbildern zwischen den
Milieus und die diesbezüglichen Einstellungen und Wertvorstellungen z. B. von
Frauen und Männern erheblich größer sind als zwischen Menschen mit und ohne

12 Weitere Erkenntnisse zu Männern mit Migrationshintergrund vgl. exemplarisch Tunc 2008a und
2008b, Spindler 2006, Huxel 2008, Toprak 2005.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 239

Migrationshintergrund (z. B. Wippermann 2008: 70 ff.). Außerdem lässt sich auch


bei denjenigen ohne Migrationshintergrund der Facettenreichtum zwischen „tra-
ditionellem“ Wertkonservatismus und Egalitarismus feststellen13 – mit anderen
Worten: Auch bei den „Einheimischen“ gibt es weiterhin eine Gruppe mit „wert-
konservativen“ Einstellungen – eine Orientierung, die heute im Medien- und Poli-
tikdiskurs vornehmlich denjenigen mit Migrationshintergrund zugeschrieben
wird. Zeitstudien (z. B. Cornelißen u. a. 2002) zeigen zudem, dass selbst bei zu-
nehmend egalitären Geschlechterleitbildern und Befürwortung von Gleichberech-
tigung Hausarbeit und Kinderbetreuung faktisch zu Lasten der Frauen gehen (ins-
besondere mit zunehmendem Alter und mit dem Vorhandensein von Kindern), de-
ren diesbezügliche Arbeitsbelastung pro Tag (im Alter zwischen 15 und 30 Jah-
ren) bei durchschnittlich drei Stunden und fünf Minuten liegt (Männer: 1 Stunde
und 10 Minuten) und mit zunehmendem Alter kontinuierlich steigt (Cornelißen
u. a. 2002: 127). Dieser Befund wird implizit sowohl für Jugendliche als auch für
spätere Lebensphasen von der Sinus-Studie zu Gleichstellung (2007c) bestätigt, in
der deutlich wird, dass der überwiegende Teil der „klassischen“ Haushaltsarbeiten
(wie Bügeln, Wäsche, Kochen, Putzen, Einkaufen) von den Frauen erledigt wird
(und dieser Prozentsatz beim Vorhandensein von Kindern noch ansteigt), während
Männer weiterhin eher die als „männlich“ konnotierten Aufgaben übernehmen
(z. B. Autowäsche, Reparaturen, Computerinstallation) und ihr Anteil an der
Übernahme von „klassischen“ Haushaltsarbeiten mit dem Vorhandensein von
Kindern noch sinkt. Insgesamt macht der Blick auf diese Ergebnisse deutlich, dass
herkunftsübergreifend Frauen bei gleichzeitig steigender „Modernisierung“ der
Geschlechterbilder auf rhetorischer Ebene weiterhin faktisch erheblich mehr Zeit
für Hausarbeit und Kinderbetreuung aufwenden als Männer.
Mit den nun folgenden empirischen Ergebnissen unserer Studie wird an die
oben erläuterten Erkenntnisse angeknüpft. Mit dieser Forschungsarbeit wurde
versucht, die Geschlechterleitbilder und Geschlechterpraxen von zwei Befragten-
gruppen mit und einer ohne Migrationshintergrund möglichst differenziert zu er-
fassen und damit der Komplexität von biographischen Sozialisationsbedingun-
gen und damit verbundenem Denken und Handeln im Kontext gesellschaftlicher
Rahmenbedingungen (im Aufnahmeland, aber, wenn biographisch relevant, auch
im Herkunftsland) Rechnung zu tragen.

13 Die Studien von Volz und Zulehner (2009) sowie Wippermann, Calmbach und Wippermann
(2009) beispielsweise haben verschiedene „Männertypen“ in unterschiedlichen Varianten identi-
fiziert. Bei Volz und Zulehner sind es beispielsweise der „teiltraditionelle“, der „moderne“, der
„balancierende“ und der „suchende“ Männertyp. Wippermann, Calmbach und Wippermann iden-
tifizieren den „Starken Haupternährer“, den „Lifestyle-Macho“, den „modernen neuen Mann“
und den „postmodernen flexiblen Mann“.
240 Schahrzad Farrokhzad

2 Geschlechterarrangements und ihre Hintergründe –


Ergebnisse der Interviews

Die im Anschluss präsentierten Ergebnisse sind eine Auswahl aus den vielfälti-
gen Erkenntnissen, welche die Studie liefert. Dieser Beitrag konzentriert sich auf
die vorzufindenden Geschlechterarrangements sowie zentrale Einflüsse auf die
Geschlechterarrangements. Die Studie gibt darüber hinaus u. a. Antworten auf
die Frage nach der Bildungs- und Berufsorientierung und Bildungs- und Berufs-
chancen der befragten Väter, Mütter, Töchter und Söhne, deren Erziehungsstilen
und -vorstellungen, ihren sozialen Kontakten und Gefühlen von Zugehörigkeit
oder Nicht-Zugehörigkeit und ihren Vorstellungen von Integration (Farrokhzad/
Ottersbach/Tunc/Meuer-Willuweit 2010: 77 ff.).

2.1 Von pragmatischen Lösungen und Vorstellungen von Gerechtigkeit –


Geschlechterarrangements bei Paaren und in Familien

Zur Erläuterung der vorherrschenden Geschlechterarrangements bei den 70 be-


fragten Müttern und Vätern, Töchtern und Söhnen sind folgende Fragen erkennt-
nisleitend:

• Wie ist die Aufgaben- und Arbeitsteilung in den Haushalten bei beiden Gene-
rationen (wer übernimmt welche Tätigkeiten in welchem Umfang), wer ist in-
wiefern erwerbstätig, und was hat dies miteinander zu tun?
• Wie stellt sich die jüngere Generation diese Arbeitsteilung für ihre Zukunft
vor? Wenn die Jüngeren einen eigenen Haushalt haben/in einer Partnerschaft
leben: Entsprechen die Geschlechterleitbilder den Geschlechterpraxen?
Da es sich um eine intergenerative Studie handelt, werden hierbei die Kernergebnisse
nach Generationen in ihren Unterschieden und Gemeinsamkeiten betrachtet.
Die Studie gibt Auskunft über Fragen wie: Wer putzt und kauft ein? Wer ist
inwiefern erwerbstätig? Wer betreut die Kinder? Wo gibt es Hauptzuständigkei-
ten, was wird gemeinsam gemacht? Auf der Basis dieser differenzierten Informa-
tionen lassen sich die vorzufindenden Geschlechterarrangements tendenziell in
drei Typen unterteilen, deren Kennzeichen induktiv aus dem empirischen Mate-
rial erschlossen wurden, und zwar konservative, bedingt egalitäre und egalitäre
Geschlechterarrangements.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 241

2.1.1 Typen der Geschlechterarrangements und ihre Kennzeichen

Die Typen der Geschlechterarrangements wurden vornehmlich entlang der (als


Idealzustand vorgestellten oder faktisch praktizierten) Aufgaben- und Arbeitstei-
lung definiert, wobei Erwerbstätigkeit, Kinderbetreuung und überwiegend „klas-
sische“ Haushaltsaufgaben (Putzen, Kochen, Waschen, Staubsaugen etc.) die
Grundlagen dieser Definition bilden. Darüber hinaus wurden weitere Aufgaben
abgefragt (Pflege von Angehörigen, soziale Kontakte, Einkaufen, Streit schlich-
ten, Reparaturen, Bankgeschäfte, Entscheidungen über größere Anschaffungen),
die nicht in den Typen von Geschlechterarrangements erfasst sind, da sie – bis auf
die Reparaturen, die weiterhin generationen-, geschlechts- und herkunftsüber-
greifend zur Männersache deklariert werden – insgesamt sehr individuell gehand-
habt werden und so nicht zuzuordnen sind. 14

Das konservative Geschlechterarrangement


Kennzeichnend für das konservative Geschlechterarrangement ist das in der Tendenz
„traditionelle“ Arbeitsteilungsmodell (männlicher Alleinverdiener plus Hausfrau
oder geringfügig erwerbstätige Frau). Die Frau ist (fast) allein für die klassischen
Haushaltsbereiche (Putzen, Kochen etc.) und die Kinderbetreuung zuständig. Diese
für das traditionelle Ernährermodell geschlechtstypische Verteilung, bei der für den
Innenbereich hauptsächlich die Mutter und für den Außenbereich ganz überwiegend
der Vater verantwortlich ist, bildet das Grundmuster auch dann, wenn es nicht für alle
Arbeitsbereiche gilt und nie völlig strikt getrennt praktiziert wird.
Hierzu ein Beispiel: Richard Schneider, Azubi im Groß- und Einzelhandel,
lebt bei den Eltern und hat derzeit keine Paarbeziehung. Er begrüßt die „klassi-
sche“ Aufgabenteilung von Mann und Frau:
„(Nachdenklich) Wie ich das vorstelle [. . .] ja, also die Frau mehr im Haushalt (lächelnd) und ich
mehr auf der Arbeit. Ich finde, Männer sollen mehr [dafür] sorgen, dass wir das Geld reinkriegen.
Natürlich, wenn [man] nach Hause kommt, [ein] bisschen mithelfen, aber sonst so, die Frau zu
Hause und ich auf der Arbeit.“ (2Richard Schneider, SU-M, 19 Jahre, mittleres Bildungsniveau)15

14 Vgl. dazu ausführlicher Farrokhzad/Ottersbach/Tunc/Meuer-Willuweit 2010: 88 f. und 104 f.


15 Die Angaben im Anschluss an die Zitate sind folgendermaßen aufzuschlüsseln: 2 vor dem Namen
bedeutet 2. Generation, SU-M bedeutet ehemalige Sowjetunion und männlich, SU-W ehemalige
Sowjetunion und weiblich. (TR bedeutet türkischer Migrationshintergrund und D ohne Migra-
tionshintergrund). Die Bildungsniveaus sind in hoch (Abitur/Fachabitur, Hochschulabschluss),
mittel (Realschulabschluss, Berufsausbildung) und niedrig (Hauptschulabschluss, Grundschul-
abschluss, ohne Abschluss) unterteilt. Eckige Klammern mit Punkten in den Zitaten kennzeich-
nen Auslassungen, eckige Klammern mit Text kennzeichnen sprachliche Glättungen. Insgesamt
wurden die Zitate sprachlich nur geringfügig geglättet. Runde Klammern mit kursiver Schrift im
Zitat stehen für die Umschreibung nonverbaler Kommunikation.
242 Schahrzad Farrokhzad

Dieser Orientierung entspricht auch das im Titel verwendete Zitat einer weibli-
chen Befragten, die berichtet, dass es „schon mal vorkommt“, dass ihr Mann
staubsaugt. Mithilfe des Mannes ist also in diesem Typus des Geschlechterarran-
gements stark eingeschränkt oder eher die Ausnahme.

Das bedingt egalitäre Geschlechterarrangement


Als bedingt egalitär gelten familiale Geschlechterarrangements, in denen der
Mann umfangreicher im Bereich der Haus- und Familienarbeit mithilft und die
Frau in der Regel (zumindest in Teilzeit, halbtags oder mehr) auch erwerbstätig
ist. Diese Gruppe ist in sich besonders heterogen: Bei der Erwerbsarbeit reicht es
vom Modell männlicher Haupternährer plus Zuverdienst der Frau bis dahin, dass
die Erwerbsarbeit mit (annähernd) gleichen Zeitbudgets auf die Elternteile ver-
teilt ist. In diesem Modell gestaltet sich die Verteilung zwar schon weniger stark
geschlechtstypisch, sie ist aber hier und da noch vorhanden. Das heißt, manche
Aufgaben im inneren Bereich der Familie erledigen regelmäßig und umfangreich
Frau und Mann, andere werden auch flexibler mal von ihm und mal von ihr erle-
digt oder die eingebrachten Zeitbudgets nähern sich an.
Hierzu ein Beispiel: Gabriele Neumann ist trotz doppelter Berufstätigkeit bei-
der Eheleute in der Tendenz für mehr Haushaltsarbeit zuständig. Sie arbeitet als
Rechtsanwaltsfachangestellte und ihr Mann als Hausmeister, beide in Vollzeit.
Sie erzählt von den Veränderungen der familialen Arbeitsteilung im Zeitverlauf,
erwähnt dann den Wechsel zu ihrer aktuellen Stelle und fährt fort:
„[. . .] weil ich jetzt einen weiteren Arbeitsweg habe und dadurch, dass die Kinder halt selbststän-
dig wurden und außer Haus wollen, ja, ist das halt dann so, dann hat mein Mann halt schon mehr
Aufgaben im Haushalt übernommen, weil ich einfach auch die Zeit nicht mehr dazu hatte. [. . .]
Und jetzt sowieso noch mehr. Seit wir halt umgezogen sind und hier im Haus wohnen, weil er ist
schon um halb vier zu Hause und ich erst um zehn nach sechs. Von daher gesehen macht er schon
so Kochen und so was. Ich mein’, gut, Putzen und Bügeln und so was, das macht er nicht. Das
bleibt bei mir.“ (1Gabriele Neumann, DT-W, 50 Jahre, mittleres Bildungsniveau)

Im Übrigen macht dieses Zitat auch die zeitliche Wandelbarkeit von Ge-
schlechterarrangements z. B. durch erwachsen gewordene Kinder deutlich – da-
her sind die Typen von Geschlechterarrangements als eine Momentaufnahme zu
betrachten.

Das egalitäre Geschlechterarrangement


Ein Arbeitsteilungsmodell wird dann als egalitär bezeichnet, wenn Frauen und
Männer gleichermaßen Erwerbs- wie Haus-/Familienarbeit leisten. In dieser
Gruppe sind durchgängig beide Elternteile berufstätig und die Haus- und Fami-
lienarbeit wird, zum Teil abhängig vom Umfang der Erwerbstätigkeit, gleichmä-
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 243

ßig auf beide verteilt. Hier wird die geschlechtstypische Festlegung von Arbeits-
bereichen durchbrochen und seltener sind Mann oder Frau für einen bestimmten
Bereich allein verantwortlich – auch wenn beide Elternteile bevorzugte Tätigkei-
ten verantworten, in die sie mehr Zeit investieren. In diesem Sinne weisen egali-
täre Arbeitsteilungsmodelle die größte Flexibilität und Durchlässigkeit auf.
Hierzu ein Beispiel: Susanne Riesner ist Jurastudentin, wohnt mit ihrem Part-
ner in einem eigenen Haushalt und favorisiert ein Modell der Arbeitsteilung, bei
dem Frau und Mann gemeinsam für Haushaltsarbeit und Kinderbetreuung verant-
wortlich sind:
„Im Haushalt machen wir viele Sachen zusammen, es gibt aber auch die Aufgabenverteilung, die
nicht obligatorisch ist. Ich mache in der Regel Bad und Küche sauber und spüle ab. Er wischt
Staub, wäscht, kocht mehr als ich und beschäftigt sich mit den Reparaturen. Einkaufen tun wir
immer zusammen.“ (2Susanne Riesner, SU-W, 20 Jahre, hohes Bildungsniveau)

2.1.2 Geschlechterarrangements bei der älteren Generation

Zahlenmäßig16 sind bei den befragten Müttern und Vätern die konservativen Ge-
schlechterarrangements dominant, gefolgt von einer ebenfalls recht großen Grup-
pe mit bedingt egalitären Geschlechterarrangements, in der die Frauen in der Re-
gel eine umfangreichere Erwerbstätigkeit ausüben und der Mann mehr im Haus-
halt hilft, oft die Frau aber zum Teil trotz Vollzeiterwerbstätigkeit die Hauptver-
antwortung für Haushalt und Kinder trägt. Egalitäre Geschlechterarrangements
hingegen sind eher die Ausnahme. In der Gruppe der Älteren mit konservativem
Geschlechterarrangement befinden sich etwas mehr Männer als Frauen, bezüg-
lich der anderen beiden Typen finden sich keine geschlechtsspezifischen Auffäl-
ligkeiten. Der Migrationshintergrund spielt zahlenmäßig überhaupt keine Rolle,
alle Gruppen sind diesbezüglich in allen Typen gleichermaßen vertreten. Erwäh-
nenswert ist zudem, dass einige wenige Befragte keinem der Typen zuzuordnen
waren, da sie alleinerziehend waren bzw. sind.
Auffällig ist die Zugehörigkeit der Älteren zu den Typen nach Bildungsni-
veau: So gehören dem konservativen Typus weitaus mehr Befragte mit mittlerem

16 Im Folgenden werden bzgl. der Typen von Geschlechterarrangements vorsichtig Verhältnismä-


ßigkeiten formuliert, was die Zugehörigkeit der Befragten zu den einzelnen Gruppen angeht. Da
diese Studie qualitativ exemplarisch ist und damit nicht repräsentativ, soll der Eindruck einer Re-
präsentativität und einer hohen Aussagekraft von Zahlen nicht z. B. durch die Nennung konkreter
Zahlen erweckt werden. Das Ziel der Studie war, die Bandbreite der Varianten von Einstellungen,
Meinungen und Praxen aufzudecken, daher spielen konkrete Zahlen eine eher untergeordnete
Rolle. Vielmehr sind die Angaben als Trends und Tendenzen zu verstehen.
244 Schahrzad Farrokhzad

und niedrigem als mit hohem Bildungsniveau an, während in den anderen beiden
Typen diejenigen mit hohem Bildungsniveau dominieren. Es lässt sich also fest-
halten: Je höher das Bildungsniveau, desto „egalitärer“ das Geschlechterarrange-
ment. Innerhalb der älteren Generation ist also das Bildungsniveau im Vergleich
zu Geschlecht und Migrationshintergrund das ausschlaggebendste Kriterium –
womit die bereits in der weiter oben erläuterten Forschung betonte hohe Bedeut-
samkeit des Bildungshintergrundes auch hier bestätigt wird.
In der Gesamtschau stellt man fest, dass sich bei der Gruppe der Mütter und
Väter nicht selten im Laufe der Zeit die Geschlechterarrangements verändert ha-
ben, insbesondere beeinflusst durch Lebensereignisse wie Geburt von Kindern,
Migration, Arbeitslosigkeit, Stellenwechsel, Trennungen und neue Partnerschaf-
ten. Dabei hat die Geburt von Kindern insgesamt den größten Einfluss auf Ge-
schlechterarrangements – häufig dahingehend, dass die Frauen ihre Erwerbstätig-
keit aufgaben oder einschränkten und die Hauptverantwortung für Kinder und
Haushalt übernahmen.17 Bei genauerem Hinsehen treten bezüglich des Themas
Kinder aber viele individuelle Varianten des Alltagshandelns und Wandlungspro-
zesse zutage. So gibt es in einigen Familien den Trend, dass mit zunehmendem
Alter der Kinder der Anteil der Zuarbeit der Väter im Haushalt etwas ansteigt und
einige der befragten Frauen gehen wieder einer Erwerbstätigkeit nach. Interessant
ist – unter Berücksichtigung des Umstands, dass von kleinen Fallzahlen die Rede
ist –, dass es vor allem Befragte mit Migrationshintergrund sind, die einen gegen-
teiligen Trend berichten: Ihr Arbeitsteilungsmodell ist heute zum Teil konservati-
ver als in der Zeit, in der die Kinder klein waren und die Befragten dann häufig
noch im Herkunftsland waren. Entgegen landläufiger Annahmen haben diese
Männer mit Migrationshintergrund offensichtlich vor allem bei der Kinderpflege
und -erziehung im Kleinkindalter mehr geholfen. Keiner der befragten Väter
ohne Migrationshintergrund berichtet von einer solchen verstärkten Mithilfe bei
der Kinderpflege und -betreuung im Kleinkindalter. Hinzu kam bei einigen Paa-
ren mit Migrationshintergrund, dass die Frauen im Herkunftsland erwerbstätig
waren, zum Teil in qualifizierter Position, und in der Bundesrepublik aufgrund
der Nicht-Anerkennung ihrer Bildungs- und Berufserfahrung nur niedrigqualifi-
zierte Tätigkeiten angeboten bekamen. Diese Konstellation konnte ebenfalls z. B.
ein bedingt egalitäres Geschlechterarrangement in ein konservatives verwandeln.
Ein Beispiel dafür, wie solche Benachteiligungen hinsichtlich der Integration auf

17 Die Familiengründung als einschneidendes Ereignis und als eine zentrale Ursache für die Ent-
wicklung von Geschlechterarrangements in Richtung Konservatismus wurde auch in einer Studie
von Schulz und Blossfeld (2006) zur Veränderung der häuslichen Arbeitsteilung im Lebensver-
lauf herausgearbeitet.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 245

dem Arbeitsmarkt zur Traditionalisierung des Geschlechterarrangements führen,


ist Familie Ahrens. Anne Ahrens (1SU-W, 58 Jahre, mittleres Bildungsniveau)
war in Kasachstan als Chemietechnikerin tätig. Da ihr Abschluss nicht anerkannt
wurde, arbeitet Frau Ahrens in Deutschland als geringfügig beschäftigte Reini-
gungskraft im Rahmen eines Minijobs. In Kasachstan war sie berufstätig (dort
hatte sie ein höheres Gehalt als ihr Mann), und die Arbeitsteilung mit ihrem Mann
war dort egalitärer. Heute lebt das Paar eine eher konservative Geschlechterpra-
xis, die Mutter übernimmt die „klassischen“ Haushaltsarbeiten, und der Vater
geht einer regulären Vollzeit-Erwerbstätigkeit (allerdings ebenfalls unter seinem
Qualifikationsniveau) nach.

2.1.3 Geschlechterarrangements bei der jüngeren Generation

Im Gegensatz zu den Müttern und Vätern sind bei den Töchtern und Söhnen zah-
lenmäßig bedingt egalitäre Geschlechterarrangements vorherrschend, gefolgt von
einer nicht unerheblichen Zahl von egalitären Geschlechterarrangements. Kon-
servative Geschlechterarrangements hingegen sind die Ausnahme. Auch hier fin-
den sich bei den wenigen Befragten innerhalb der konservativen Gruppe mehr
Männer als Frauen. Bei der egalitär orientierten Gruppe hingegen ist es umge-
kehrt. Ausschlaggebender als die Geschlechtszugehörigkeit ist aber auch hier
wieder der Bildungshintergrund. Wie bei den Älteren gilt: Je höher das Bildungs-
niveau, desto egalitärer das Geschlechterarrangement. Nennenswerte Unter-
schiede zwischen den Herkunftsgruppen fallen hier genau wie bei den Älteren
hingegen nicht auf.
An dieser Stelle muss noch einmal darauf hingewiesen werden, dass nur ein
Teil der jüngeren Befragten im eigenen Haushalt lebt und/oder in einer Partner-
schaft, zudem noch niemand Kinder hat. Der tendenzielle Wunsch der „Moderni-
sierung“ der elterlichen Geschlechterarrangements bei einer erheblichen Zahl der
Jüngeren (noch deutlicher bei jungen Frauen) ist jedoch erkennbar, bei einigen,
die in Partnerschaften leben, auch bereits umgesetzt.
In der Gesamtschau auf die Geschlechterarrangements der Söhne und Töchter
findet man wie bei den Älteren auch innerhalb der drei Typen verschiedene indi-
viduelle Varianten der favorisierten Aufgaben- und Arbeitsteilung und zum Teil
übergreifende Trends.18

18 Zur großen Bandbreite der Varianten, die vielfach anhand von Beispielen verdeutlicht wurden,
vgl. Farrokhzad/Ottersbach/Tunc/Meuer-Willuweit (2010).
246 Schahrzad Farrokhzad

„Gerechte“ Aufgaben- und Arbeitsteilung


Ein großes Thema, vor allem bei bedingt egalitär und egalitär eingestellten Jünge-
ren, ist die Gerechtigkeit in Bezug auf partnerschaftliche Arbeitsteilungsmodelle.
Die Lehramtsreferendarin Cansu Akdeniz beispielsweise, die aktuell zwar keinen
Partner, aber bereits Erfahrungen aus einer gescheiterten langjährigen Beziehung
hat, fordert eine gerechte Arbeitsteilung ein:
„Die Aufgabenverteilung sollte gerecht sein. Es sollte natürlich auch auf den Tagesablauf rhyth-
misch passen: Wenn mein Partner auch Lehrer ist, könnte es vielleicht sein, dass wir den restli-
chen Tag dann die Arbeitsaufteilung gemeinsam aufteilen, indem wir gemeinsam kochen, oder
derjenige, der kommt, kocht zuerst und dann räumt man gemeinsam ab und erledigt alle Aufga-
ben gemeinsam, wobei bestimmte Dinge natürlich Prioritäten haben. Wenn mein Partner auch
Lehrer ist [. . .] und Korrekturen hat, hat er natürlich Vorrang und darf sich dann ins Arbeitszim-
mer setzen. Und wenn ich die dann nicht habe, würde ich natürlich den Haushalt vorziehen. Aber
dasselbe erwarte ich auch von ihm.“ (2Cansu Akdeniz, TR-W, 27 Jahre, hohes Bildungsniveau)

Hier wird eine Verteilung von Zeitbudgets bei Haushaltsarbeiten auf Frau und
Mann als gerecht angesehen, wenn diese im Verhältnis zur zeitlichen Belastung
beider durch ihre Erwerbsarbeit stehen. Dieses Verständnis von gerechter
Arbeitsteilung wird von einer nicht unerheblich großen Gruppe von Jüngeren ge-
teilt.

Pragmatische und flexible Arbeitsteilung – Ablösung


von geschlechtsspezifischen Zuschreibungen
Viele jüngere Befragte möchten die Aufgabenteilung pragmatisch gestalten oder
tun dies bereits. Sie machen dies von der beruflichen Entwicklung, dem Einkom-
men beider, der von der arbeitsbedingt verbleibenden Zeit für den Haushalt sowie
von Neigungen der Beteiligten abhängig (wenn z. B. eine/r es unangenehm fin-
det, das Badezimmer zu putzen, dem/der anderen es aber nichts ausmacht, wird
dies entsprechend umgesetzt und dafür eine andere Aufgabe vergeben). Eine da-
mit tendenziell einhergehende (erwünschte) Ablösung von geschlechtsspezifi-
schen Zuschreibungen bei der Aufgaben- und Arbeitsteilung wird damit deutlich,
was auch durch eine zusätzliche Abfrage der geschlechtsspezifischen Zuschrei-
bungen untermauert wird – wiederum mit Ausnahme von Reparaturen und ande-
ren technischen Kompetenzen, die von der ganz überwiegenden Mehrheit als
Männerdomäne gesehen werden.

„Gap“ zwischen Wunsch und Wirklichkeit


Neben den tendenziell angestrebten oder bereits umgesetzten „Modernisierun-
gen“ der Geschlechterarrangements bei den Söhnen und Töchtern zeichnen sich
diesbezüglich aber auch widersprüchliche Entwicklungen ab. Der vielfach bereits
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 247

in der Literatur belegte sogenannte „Gap“, also eine Kluft zwischen Wunsch und
Wirklichkeit (vgl. exemplarisch Cornelißen 2002, Sinus 2007c) wird auch bei ei-
nigen der Befragten in dieser Studie sichtbar. So erleben einige der befragten jun-
gen Frauen, die bereits ein Arbeitsteilungsmodell in Partnerschaft in eigenem
Haushalt leben, schon im jungen Alter diese Kluft. Sie übernehmen beispiels-
weise trotz Erwerbstätigkeit im Vergleich zum Partner mehr Haushaltsarbeit als
geplant. Umgekehrt entpuppen sich die Bekenntnisse mancher junger Männer zur
Gleichberechtigung zumindest stellenweise als Rhetorik, wenn z. B. ein Befrag-
ter bekundet, dass ihm Kochen Spaß macht, dass dies aber doch meistens seine
Freundin übernimmt (2Denis Perov, SU-M, 21 Jahre, hohes Bildungsniveau),
oder ein anderer Befragter verdeutlicht, dass er tendenziell eine gerechte und fle-
xible Arbeitsteilung befürwortet, aber z. B. auf Nachfrage erklärt, dass er das Wä-
schewaschen doch der Frau überlassen möchte, da er keine Waschmaschine be-
dienen könne und nicht wisse, wie man Weiß- und Buntwäsche trenne (2Bulut
Salman, TR-M, 22 Jahre, hohes Bildungsniveau). Diese Gleichstellungsrhetorik
wird von der Sinus-Studie (2007c) zur Gleichstellung bei „einheimischen“ jun-
gen Frauen und Männern ebenfalls bestätigt – insgesamt scheint es sich um ein
transkulturelles Phänomen insbesondere der jüngeren Generation zu handeln.
Es gibt sogar weibliche Befragte, die diese Kluft zwischen Wunsch bzw. Rhe-
torik und Wirklichkeit noch gar nicht erfahren haben, aber sie befürchten bzw. ge-
danklich vorwegnehmen:

„[. . .] denn wenn ich acht Stunden am Tag arbeite, muss das so oder so irgendwie aufgeteilt wer-
den. Das kann ich nicht alleine machen und er dann auch nicht. Also muss es gerecht aufgeteilt
werden, natürlich werd ich dann wahrscheinlich, weil’s (seufzt) ja so ist, als Frau die meiste Ar-
beit haben [. . .].“ (2Sabine Ahrens, SU-W, 24 Jahre, mittleres Bildungsniveau)

Vorübergehende Traditionalisierung und Konzept der männlichen Mithilfe


Ein interessanter Befund ist, dass bei den Söhnen und Töchtern nicht die Orien-
tierung an egalitären, sondern an bedingt egalitären Geschlechterarrangements
dominiert. Vollständig egalitär orientierte Modelle werden also gar nicht von der
Mehrheit der jungen Männer und Frauen favorisiert – vielmehr wird von Frauen
wie Männern etwa eine vorübergehende Traditionalisierung der Geschlechterar-
rangements z. B. in der Erziehungsphase von Kindern bevorzugt. Wie lange diese
traditionelle Rollenaufteilung anhalten soll, ist unterschiedlich. Die Varianten rei-
chen von mehreren Monaten bis mehreren Jahren. Zudem vertreten nicht wenige
junge Männer und Frauen die Einstellung, dass der Mann im Haushalt zwar (in
einem erheblichen Maße, nicht nur „mal den Staubsauger halten“) mithelfen sol-
le, die Frauen aber die „Haushaltsmanagerinnen“ bleiben.
248 Schahrzad Farrokhzad

Die Ausführungen und Beispiele zeigen, dass ein genauer Blick auf die Er-
zählungen der Befragten notwendig ist, um die Geschlechterarrangements in ih-
ren Grundorientierungen und Trends, aber auch in ihren individuellen oder auch
gruppenspezifischen Variationen angemessen zu erfassen. Bei beiden Generatio-
nen zeigten sich sowohl die drei Typen von Geschlechterarrangements als Grund-
orientierungen (generationenspezifisch mit den erläuterten Verschiebungen) als
auch gruppenspezifische und darüber hinausgehende Besonderheiten. Auffällig
ist jedoch, dass besonders die Generationenzugehörigkeit und das Bildungsni-
veau einen erheblichen Einfluss auf Geschlechterleitbilder und -praxen nehmen
und dass es insbesondere Frauen mit hohem Bildungsniveau (aus beiden Genera-
tionen) sind, die zu eher egalitären Geschlechterleitbildern neigen. Gleichzeitig
wird im Zusammenhang der Typen von Geschlechterarrangements an keiner Stel-
le die ethnisch-kulturelle Differenzlinie gruppenspezifisch relevant.

2.2 Einflüsse auf und Rahmenbedingungen für Geschlechterarrangements

Es lassen sich mehrere parallele Einflüsse auf die Geschlechterleitbilder und Ge-
schlechterpraxen identifizieren (Farrokhzad/Ottersbach/Tunc/Meuer-Willuweit
2010: 109 ff. und 231 ff.). Bereits in der Beschreibung der Typen von Ge-
schlechterarrangements wurde als zentrale Erkenntnis deutlich, dass der Bil-
dungshintergrund und die Generationenzugehörigkeit einen weitaus erhebliche-
ren Einfluss darauf haben als z. B. die ethnisch-kulturelle Herkunft, die dem-
gegenüber eine untergeordnete Bedeutung besitzt, wenngleich nicht vollständig
bedeutungslos ist. Da (inter-)kulturelle Einflüsse auf Geschlechterarrangements
nicht ohne den jeweiligen soziostrukturellen und gesellschaftlichen Kontext zu
betrachten sind, werden diese beiden Dimensionen im Folgenden gemeinsam be-
trachtet.

Soziostrukturelle, gesellschaftliche und (inter-)kulturelle Einflüsse


Grundsätzlich fiel es vielen der Befragten mit Migrationshintergrund schwer,
eine Verbindung zwischen ihren Geschlechterleitbildern und Geschlechterpraxen
und (inter-)kulturellen Einflüssen aus dem Herkunftsland bzw. Deutschland zu
identifizieren. (Inter-)kulturelle Einflüsse auf Geschlechterarrangements ließen
sich oft eher indirekt erschließen, z. B. aus den Erzählungen zu Erziehungsvor-
stellungen, zu Geschlechterarrangements im Zeitvergleich und zu den Lebensbe-
dingungen im Herkunftsland und in Deutschland. Vorweg sei gesagt, dass sich
diesbezüglich keine nennenswerten an Geschlecht, Bildungsniveau und Herkunft
orientierten Trends erkennen ließen.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 249

Bei den befragten Müttern und Vätern (hier: nur mit Migrationshintergrund)
zeigten sich folgende zentrale Ergebnisse:
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen in Deutschland wurden von einigen als
tendenziell entlastend empfunden und damit eher positiv, vor allem im Vergleich
zu ländlichen Herkunftsregionen. Dies gaben insbesondere Befragte an, die ent-
weder in den 1990er Jahren aus ländlichen Regionen der ehemaligen Sowjetunion
kamen oder in den 1970er oder 1980er Jahren aus der Türkei. Hierzu ein Beispiel:
„Die Menschen hier, Kinder, sie haben die Armut nicht erlebt wie wir. Wir hatten eine Scheibe
Brot, morgens bis abends, wenn wir etwas Butter darauf streichen konnten, waren wir glücklich.“
(1Irene Riesner, SU-W, 44 Jahre, hohes Bildungsniveau)

Diese Gruppen hatten zum Teil keine elektrischen Haushaltsgeräte und/oder wa-
ren unter schwierigen Rahmenbedingungen erwerbstätig. Die Chancen in Bil-
dung und Beruf in der Bundesrepublik wiederum werden unterschiedlich bewer-
tet – nach der Migration gab es sowohl soziale Auf- wie auch Abstiege, die sich
z. B. auf Aufgaben- und Arbeitsteilungen in Haushalt und Familie auswirken
konnten.
Es fällt auf, dass die befragten Frauen die Folgen der Migration etwas positi-
ver bewerten als die Männer, zum Beispiel bezüglich der Entfaltungsmöglichkei-
ten als Frau und der höheren gesellschaftlichen Akzeptanz von Zurückweisung
männlicher Dominanz. Andere wiederum berichten, dass sie bereits in den Her-
kunftsländern ein gleichberechtigtes Geschlechtermodell gelebt haben. Einige
Männer hingegen erzählen von seelischen Belastungen infolge der Migration und
ihrer Konsequenzen und der damit verbundenen Anstrengungen (z. B. sich neu
einleben, neue Sprache lernen, Fuß fassen müssen etc.).
Darüber hinaus lässt sich von allen älteren Befragten (mit und ohne Migra-
tionshintergrund) sagen, dass der bereits beschriebene Wandel der Geschlechter-
arrangements im Zeitvergleich Aufschluss über wichtige Einflussgrößen gab, die
vornehmlich unabhängig vom Aufenthaltsort bedeutsam waren: Das entschei-
dendste Ereignis war die Geburt von Kindern:
„Ja eigentlich am Anfang, sind wir halt ja beide zusammen arbeiten gegangen und dann, bis dann
halt, ja, die erste Schwangerschaft kam. Wie ich dann zu Hause geblieben bin, dann habe ich mich
um’s Kind gekümmert bzw. dann um beide Kinder, habe dann den Haushalt vollständig übernom-
men, weil wir haben dann ja quasi von einem Gehalt gelebt, und dann hat mein Mann halt eben
noch ein bisschen so einen Nebenjob gehabt [. . .], so dass wir uns dann ja auch über Wasser hal-
ten konnten. Ja und dann war ich noch sieben Jahre zu Hause und dann habe ich wieder stunden-
weise halt angefangen zu arbeiten.“ (1Gabriele Neumann, DT-W, 50 Jahre, mittleres Bildungs-
niveau)

Auch Arbeitslosigkeit, Stellenwechsel, Trennungen und neue Partnerschaften


spielten eine Rolle. Bei den Befragten mit Migrationshintergrund war es zudem
250 Schahrzad Farrokhzad

die Migration selbst und als Folge z. B. eine „Retraditionalisierung“ von Ge-
schlechterarrangements beispielsweise infolge der Nicht-Anerkennung von Bil-
dungs- und Berufserfahrung, wie an einem Beispiel bereits gezeigt.
Zum Thema (inter-)kulturelle Einflüsse lässt sich festhalten, dass die Wert-
vorstellungen der älteren Befragten mit und ohne Migrationshintergrund (die vor
allem bei den Erziehungsvorstellungen und elterlichen Erwartungen an die Kin-
der sichtbar wurden) viele Gemeinsamkeiten aufweisen. Es wird deutlich, dass
ein aktiver Auseinandersetzungsprozess mit Geschlechterverhältnissen in
Deutschland stattfindet. Gleichzeitig möchten die Befragten mit Migrationshin-
tergrund einige kulturelle Wertvorstellungen, die sie für bedeutsam erachten, an
ihre Kinder weitergeben, z. B. die Herkunftssprache und manche Werte wie Re-
spekt vor den Älteren, Fleiß und Disziplin – unabhängig vom Geschlecht. Fleiß
und Disziplin wird vor allem vor dem Hintergrund als wichtig erachtet, dass viele
Befragte die Erfahrung gemacht haben, das Migrantinnen und Migranten mehr
leisten müssen als „Einheimische“, um einen qualifizierten Arbeitsplatz erhalten
zu können. Religiöse Wertvorstellungen hingegen spielten kaum eine Rolle. Die-
se Erkenntnisse stehen in Übereinstimmung mit den Sinus-Ergebnissen zu Mi-
grantenmilieus (Sinus Sociovision 2007b). Darüber hinaus wird eine insbeson-
dere den Migrantenfamilien häufig pauschal unterstellte geschlechtsspezifische
Erziehung von den Befragten ganz überwiegend abgelehnt – wobei hier wie-
derum eine Kluft zwischen Wunschvorstellungen und Realität nicht auszuschlie-
ßen ist. Das gilt aber für Befragte mit und ohne Migrationshintergrund gleicher-
maßen.
Bei den befragten Söhnen und Töchtern wird bezüglich der eigenen Erfahrun-
gen im Herkunftsland sichtbar, dass die Jüngeren mit Migrationshintergrund dazu
weitaus weniger zu berichten haben und sich mehr auf ihre Sozialisation in
Deutschland beziehen. Hierzu muss erwähnt werden, dass zwei Drittel der be-
fragten Jüngeren in Deutschland geboren sind und auch die anderen Jüngeren be-
reits mindestens fünf Jahre in Deutschland zur Schule gegangen sind. Einige der
Befragten weisen sogar strikt jeden Einfluss der Herkunftskultur von sich und be-
schreiben sich selbst als Europäer/Europäerin oder geben an, durch ihre Geburt
und ihr Aufwachsen in Deutschland und dort vor allem in der Schule und/oder
dem beruflichen oder auch universitären Umfeld geprägt worden zu sein – dies
gilt z. B. für die Emanzipation und Karriereorientierungen junger Frauen wie
auch für Ideen für eigene Erziehungsvorstellungen und Wünsche an zukünftige
Geschlechterarrangements. Zudem individualisieren sie die Frage nach der Her-
kunftskultur häufig und erzählen stattdessen von solchen Einflüssen der Eltern,
die sie positiv bewerten. Dazu gehören manchmal auch elterliche Erwartungen,
die im Nachhinein positiv konnotiert werden. Hierzu ein Beispiel:
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 251

„[Meine Eltern] erwarten viel von mir. [. . .] Sie möchten, dass ich eine vernünftige Arbeit be-
komme, dass ich in meinem Leben zufrieden werde und dass ich möglichst viel dafür mache, um
das zu erreichen, was ich möchte. Unter dem liegenden Stein fließt kein Wasser, deswegen, wenn
man sich nicht bemüht, wird auch nichts.“ (2Denis Perov, SU-M, 21 Jahre, hohes Bildungsni-
veau)

Der Einfluss der Herkunftskultur auf die Geschlechterarrangements der Jüngeren


im Vergleich zu anderen Einflüssen ist also gering, noch geringer als bei den El-
tern. Die Herkunftssprache wird als Ressource weiterhin aufgegriffen, darüber
hinaus gilt, dass nur vereinzelte Wertvorstellungen wie Respekt vor Älteren, die
als kulturspezifisch von den Befragten identifiziert werden, übernommen wer-
den. Gleichzeitig wird bikulturelles Wissen und damit die Chance, zwischen kul-
turellen Orientierungen „switchen“ zu können, als Ressource bewertet. Ansons-
ten setzen sich die Jüngeren mit wie auch ohne Migrationshintergrund mit dem
Gleichstellungsdiskurs in Deutschland auseinander, haben ein Bild davon, wel-
che Geschlechterleitbilder, Erziehungsvorstellungen und sonstigen Werte (z. B.
Leistungsbereitschaft) einen hohen Stellenwert in Deutschland haben, und versu-
chen sich in diesem Kontext zu positionieren.
Generationenübergreifend werden ethnisch-kulturelle Einflüsse bei denjeni-
gen mit Migrationshintergrund dadurch relativiert, dass Gemeinsamkeiten mit Be-
fragten ohne Migrationshintergrund die Unterschiede in ihrer lebensweltlichen
Bedeutung überwiegen, z. B. bei den Erziehungsvorstellungen, dem Umgang mit
elterlichen Erwartungen und der hohen Bedeutung von Bildungseinrichtungen
und beruflichem Umfeld in der Meinungsbildung. Interessant ist, dass den Befrag-
ten, wie den Erzählungen zu entnehmen ist, die Diskussionen um die Gleichstel-
lung der Geschlechter offensichtlich in ihrem Alltag begegnen – viele setzen sich
mit dieser Frage auch bezüglich ihrer eigenen Vorstellungen zu Geschlechterar-
rangements auseinander. So wird z. B. die Berufstätigkeit von Frauen grundsätz-
lich weitestgehend als Selbstverständlichkeit angesehen. Die Aussagen vieler
männlicher Befragter zeigen, dass sie wissen, dass von ihnen heute mehr Unter-
stützung bei Haushaltsaufgaben und Kinderbetreuung erwartet wird – inwieweit
dies dann umgesetzt wird, ist eine andere Frage. Den Erzählungen der Frauen ist
zu entnehmen, dass sie sich intensiver mit der Frage der Vereinbarkeit von Beruf
und Familie auseinanderzusetzen scheinen als die Männer, möglicherweise in der
Annahme, dass dies nach wie vor in ihren Aufgabenbereich fallen wird.

Weitere Einflüsse auf die Geschlechterarrangements – elterliche und andere


Vorbilder
Zum Auftrag der Studie gehörte es, die Jüngeren nach den elterlichen Einflüssen
ihrer Mütter und Väter auf ihre Geschlechterarrangements zu fragen. Insgesamt
252 Schahrzad Farrokhzad

wurde deutlich, dass die elterlichen Einflüsse auf die Geschlechterleitbilder der
Jüngeren zwar graduell unterschiedlich, insgesamt jedoch beträchtlich sind.19
Dies wird zusätzlich durch den Umstand untermauert, dass am häufigsten elterli-
che Vorbilder genannt wurden. Dazu passt auch, dass die Mehrheit der Jüngeren
mit der Erziehung durch ihre Eltern zufrieden ist. Von elterlichen Wertvorstellun-
gen und Erwartungen werden die Bildungs- und Berufsorientierung von den Jün-
geren vielfach übernommen, ebenso eine Leistungsorientierung (die aber nicht
übermäßig sein darf), die Werte Selbstständigkeit und Selbstverwirklichung so-
wie Tugenden wie Freundlichkeit, soziales Verhalten und (vor allem bei den Be-
fragten mit Migrationshintergrund) Fleiß, Respekt vor Älteren und zum Teil eine
höhere Familienorientierung. Gegenüber strenger Erziehung und einem übermä-
ßigem Leistungsdruck hingegen grenzen sich die Jüngeren quer durch die Her-
kunftsgruppen ab.
In der Mehrheit der Fälle wollen die Jüngeren entweder ein graduell egalitäre-
res Geschlechterarrangement als die Eltern leben oder sie wollen den Status quo
der Eltern erhalten, wenn diese mindestens ein bedingt egalitäres Geschlechterar-
rangement vorgelebt haben. Nur in Ausnahmefällen wollen Jüngere ein konser-
vativeres Geschlechterarrangement leben – dies sind ausschließlich junge Män-
ner. Gleichzeitig sind in der Gruppe, die sich klar vom Geschlechtermodell der
Eltern abgrenzen, vor allem Frauen – sie wollen alle ein egalitäreres Ge-
schlechtermodell leben.
Die Frage nach Vorbildern, die sowohl den älteren als auch den jüngeren Be-
fragten gestellt wurde, ist bezüglich der elterlichen Vorbilder ebenfalls auf-
schlussreich. So sind die elterlichen Vorbildeigenschaften stark „gegendert“ – an
den Müttern wird z. B. soziales Verhalten und Fürsorglichkeit bewundert, an den
Vätern Sportlichkeit, technisches Know-how und beruflicher Erfolg. Dieser Be-
fund ist nicht weiter verwunderlich, da nicht so viele der befragten Mütter beruf-
lich erfolgreich sind wie Väter oder auch andere (männliche und weibliche) Vor-
bilder. Es gibt aber auch vorbildhafte Eigenschaften, die an beiden Elternteilen
bewundert werden bzw. an denen sich orientiert wird, so z. B. Selbstständigkeit
und Durchsetzungsvermögen. Diese beiden Eigenschaften wurden für Mütter
beispielsweise dann genannt, wenn diese berufstätig waren und/oder z. B. alleine
eingewandert sind. Das folgende Beispiel illustriert in dieser Hinsicht die Vor-
bildfunktion einer Mutter für ihre Tochter.

19 Gut ein Drittel der Befragten orientiert sich diesbezüglich an Eltern(teilen), knapp gefolgt von
solchen, die sich bedingt von ihnen abgrenzen. Nur eine kleinere Gruppe grenzt sich klar von ih-
ren Eltern ab und möchte eine gänzlich andere Geschlechterpraxis leben.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 253

„Also, was mich sehr beeinflusst hat an dem Leben meiner Mutter ist, dass sie so früh nach
Deutschland gekommen ist und alleine. Man muss sich das vorstellen. Ich bin jetzt 22, mit 17 Jah-
ren habe ich gerade mal das Abitur damals gemacht. Wenn ich mir jetzt vorstelle, mit 17 Jahren,
allein in ein fremdes Land, ohne die Sprachkenntnisse, zu arbeiten und für sich selbst zu sorgen,
es ist, das ist unglaublich. Das ist, das ist ein solches Können, das ist etwas, was sie da geschafft
hat, unglaublich. Also das würde ich mir jetzt nicht zutrauen. Diese Selbstständigkeit habe ich
nicht mit meinen 17 Jahren gehabt. Ich finde es erstaunlich, dass meine Mutter, obwohl sie so früh
und so jung nach Deutschland gekommen ist, sich so etwas aufgebaut hat, was sie jetzt hat. Also,
ich hoffe, ich spiegele mich in meiner Mutter insofern wieder, dass ich ebenfalls selbständig bin,
weil sie ist sehr, war stark, selbständig, sehr unabhängig. Sie ist in allen Dingen unabhängig. Sie
hat ihr eigenes Geld. Sie verfolgt ihre eigenen Interessen und sie gibt mir immer zu verstehen,
dass ich das auch so machen soll. Also, es ist, in unseren Gesprächen ist es so, dass meine Mutter
mir immer wieder gesagt hat, Zuhal, du musst immer auf Deinen eigenen Bein stehen. Du musst
das selbst hinbekommen. Du musst unabhängig sein. Ich hoffe, das genau so wie sie hinbekom-
men zu können.“ (2Zuhal Kara, TR-W, 22 Jahre, hohes Bildungsniveau)

Darüber hinaus nennen bei der Vorbildfrage im Hinblick auf Eltern befragte Frau-
en fast nur Mütter, befragte Männer fast nur Väter. Mit diesem Befund wird die
hohe Bedeutung gleichgeschlechtlicher Vorbilder für lebensweltliche Orientie-
rungen überaus deutlich. Dies setzt sich bei den anderen genannten Vorbildern
fort.
Neben den elterlichen Vorbildern werden von den Befragten andere Fami-
lienmitglieder (wie Tanten, Onkel, Cousins und Cousinen), Lehrerinnen und
Lehrer, Freundinnen und Freunde und Prominente benannt. Die Zuschreibungen
sind ebenfalls geschlechterstereotyp, wenn auch nicht so ausgeprägt wie bei den
elterlichen Vorbildern. Schwestern wurden z. B. für ihre Intelligenz, ihren Fleiß,
ihren beruflichen Erfolg und ihr gutes Aussehen bewundert, Brüder und Cousins
für berufliche Aktivitäten, ihre Zielstrebigkeit, Sportlichkeit und ihre techni-
schen Fähigkeiten. Lehrerinnen und Lehrer waren Vorbilder aufgrund ihres brei-
ten Allgemeinwissens, ihrer pädagogischen Fähigkeiten, speziell von Befragten
mit Zuwanderungsgeschichte auch wegen ihrer interkulturellen Kompetenz und
ihrer Durchsetzungsfähigkeit. Freundinnen und Freunde werden für Tugenden
(Höflichkeit, Fleiß), moralische Einstellungen, Erfolg in Bildung und Beruf und
ihre Selbstständigkeit bewundert. Prominente gelten als vorbildhaft z. B. wegen
ihres beruflichen Erfolges in Politik und Sport – Letztere waren vor allem für
männliche Befragte relevant. Bezüglich der Geschlechterarrangements ist auf-
schlussreich, dass für beide Geschlechter Bildung und Beruf bei der Nennung
von (nichtelterlichen) Vorbildern immer wieder Thema sind, was die ganz über-
wiegend hohe Berufsorientierung beider Geschlechter unterstreicht. Darüber
hinaus werden einige (bedingt) geschlechtsstereotype Eigenschaften genannt,
z. B. soziale Eigenschaften und gutes Aussehen bei weiblichen Vorbildern, tech-
nische und sportliche Fähigkeiten bei männlichen Vorbildern. Geschlechtsüber-
greifend werden wiederum z. B. Selbstständigkeit und Durchsetzungsvermögen
254 Schahrzad Farrokhzad

angesprochen – diesmal aber auch beruflicher Erfolg bei weiblichen Vorbildern.


Dieser Befund zeigt, dass berufsorientierte Frauen auf nichtelterliche weibliche
Vorbilder ausweichen, wenn ihre Mütter nicht oder nur geringfügig berufstätig
sind.

3 Fazit

Die Studie hat, ähnlich wie die Sinus-Studien zu Migrantenmilieus (2007b,


2008), gezeigt, dass der lebensweltliche Einfluss der ethnisch-kulturellen Her-
kunft bei Personen mit Migrationshintergrund gegenüber anderen Einflüssen eine
untergeordnete Rolle spielt. Die vorgestellte Forschungsarbeit untermauert die-
sen Befund am Beispiel der Geschlechterarrangements. Während die Sinus-Stu-
dien die hohe Bedeutung der Milieuzugehörigkeit identifizierten, zeigten sich in
der vorliegenden Arbeit der Bildungshintergrund und die Generationenzugehö-
rigkeit als besonders bedeutsam. Auch die Geschlechtszugehörigkeit spielte im
Vergleich zur Herkunftskultur eine größere Rolle. Aufschlussreich war zudem
der nicht unerhebliche Einfluss der Diskurse und soziostrukturellen Rahmenbe-
dingungen sowohl der Herkunftsländer wie auch der Bundesrepublik Deutsch-
land und vor allem solche sehr bedeutsamen Einflussgrößen auf Geschlechterar-
rangements, die als individuelle Lebensereignisse zu bezeichnen sind, wie die
Geburt von Kindern, Arbeitslosigkeit und Trennungen. Darüber hinaus wurde
deutlich, wie wichtig es ist, bei der Untersuchung gerade von Fragestellungen,
die das Thema Geschlechterverhältnisse berühren, systematisch Personen mit
und ohne Migrationshintergrund einzubeziehen, um der Stereotypenbildung vor-
zubeugen. Es ist ein Hauptergebnis dieser Studie, dass im Vergleich der Rollen-
verständnisse bzw. Geschlechterarrangements mehr Gemeinsamkeiten als Unter-
schiede zwischen den befragten Frauen und Männern mit Migrationshintergrund
auf der einen und ohne Migrationshintergrund auf der anderen Seite zutage tre-
ten, dafür aber z. B. der Bildungshintergrund, die Geburt von Kindern, die Gene-
rationenzugehörigkeit und zum Teil die Geschlechterzugehörigkeit erhebliche
Auswirkungen auf die Geschlechterleitbilder und -praxen haben. Daher schließt
dieser Beitrag mit dem Plädoyer, Geschlechterverhältnisse zukünftig stärker aus
einer gesamtgesellschaftlichen Perspektive unter systematischer Einbeziehung
von Gesellschaftsmitgliedern mit und ohne Migrationshintergrund zu unter-
suchen.
„Es kommt schon mal vor, dass er staubsaugt.“ 255

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GmbH, Institut für Evaluation, Köln

Gresch, Nora, Dipl.-Soz.in, Studium der Soziologie an der Universität Bielefeld,


promoviert am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien zu citizen-
ship practices

Gürtler, Christa, Dr.in, freie Literaturwissenschaftlerin, Leiterin des Salzburger


Literaturforums Leselampe, Lehrbeauftragte am FB Germanistik der Universität
Salzburg

Hahn, Sylvia, Dr.in, Professorin für Neuere Geschichte an der Universität Salz-
burg

Hadj-Abdou, Leila, Mag.a, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte und Tou-


rismusmanagement in Wien und Budapest, promoviert zu politischen Auseinan-
dersetzungen um muslimische Migration am Europäischen Hochschulinstitut in
Florenz

Hausbacher, Eva, Dr.in, Professorin für Slawistische Literatur- und Kulturwissen-


schaft an der Universität Salzburg

Kannengießer, Sigrid, Mag.a, promoviert am Zentrum für Medien-, Kommunika-


tions- und Informationsforschung der Universität Bremen

Kirchhoff, Susanne, Dr.in, Wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Kom-


munikationswissenschaft der Universität Salzburg

Klaus, Elisabeth, Dr.in, Professorin für Kommunikationswissenschaft an der Uni-


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© VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden 2012
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Mackenthun, Gesa, Dr.in, Professorin für Nordamerikanische Literatur- und Kul-


turwissenschaft an der Universität Rostock

Rosenberger, Sieglinde, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität


Wien

Sauer, Birgit, Professorin für Politikwissenschaft an der Universität Wien

Scheibelhofer, Paul, Mag., promoviert an der Central European University (De-


partment für Gender Studies) in Budapest, Lehrbeauftragter an den Universitäten
Wien, Innsbruck und Graz

Sunjic, Melita, Dr.in, Pressesprecherin des UNHCR in Brüssel

Wildt Anna, Dr.in , Rechtsberaterin für Flüchtlinge, Opferschutzexpertin, jahre-


lange Tätigkeit in der Beratung und Prozessbegleitung für AsylwerberInnen und
MigrantInnen (Gewaltschutzzentrum und Caritas Salzburg)

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