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Semiotik
Stephan Kammer
https://doi.org/10.1515/9783110332681-002
gen seiner ‚orthodoxen‘ Schüler als auch in den zunächst individuellen (Imago),
dann kollektiven und universalen Ontologisierungen (Archetypus) des Symbols,
insbesondere in der ‚analytischen Psychologie‘ Jungscher Manier, eine Entdyna-
misierung nicht nur des Symbolbegriffs, sondern generell der semiologischen
Epistemik der Psychoanalyse abzeichnet.
2.1. Symptom
Das Symptom als Zeichenform hat seinen Ort in der medizinischen Diagnostik.
„Die Bezeichnung ‚Symptom‘ gibt man allen anormalen Erscheinungen, die in
den Organen oder den Funktionen unter dem Einfluss der Krankheit erzeugt
werden“, definiert bündig der Dictionnaire encyclopédique des sciences médi-
cales. Bedeutsam ist dabei im fortgeschrittenen 19. Jahrhundert die semiologi-
sche Pathogenese dieser Zeichenklasse: „Kein Symptom tritt zutage, solange der
physiologische Zustand andauert; dieser gibt ausschließlich zu Phänomenen
Anlass.“ (Hecht 1884, 155; Übers. S. K.) Kein Symptom entsteht also, frei über-
setzt, solange der physiologische Zustand andauert, weil dieser nur Erscheinun-
gen hervorbringt. Symptome sind somit, was ihre Entstehung betrifft, die natürli-
chen, ‚physikalisierten‘ Zeichen eines pathologischen Zustands beziehungsweise
Ablaufs. Sie erhalten ihren spezifischen Zeichenstatus erst und ausschließlich
aufgrund der epistemisch wichtigen Grenzziehung zwischen dem ‚Normalen‘
und dem ‚Pathologischen‘ (vgl. Canguilhem 1977 [1943/1950], 11–156) „durch die
erkennbare Abweichung vom Phänomen der Gesundheit“ (Eckart 1998, 1703).
Aus den Symptomen fügt sich das Syntagma, der ‚Text‘ der Krankheit, seit die
Epistemologie der Medizin „[j]enseits der Symptome […] keine pathologische
Wesenheit“ mehr kennt (Foucault 1973 [1963], 105). Die ärztliche Diagnosekompe-
tenz misst sich dementsprechend an der Fähigkeit, „[n]ach Feststellung der Ein-
zelsymptome […] von dem inneren Zusammenhange derselben, von ihrer gegen-
seitigen Abhängigkeit ein klares Bild“ (Samuel 1889, 302) zu gewinnen. Nicht der
Zeichencharakter des Symptoms ist deshalb – wie noch in der älteren medizini-
schen Semiotik, der ein Verhältnis von wahrnehmbarem Zeichen und verborge-
nem Wesen der Krankheit zugrunde gelegen hat (vgl. Hess 1993), angenommen
wurde – dafür verantwortlich, dass sich dieser Text der Krankheit dem diagnos-
tischen Blick nur im Ausnahmefall zur Gänze offenbart, sondern der dem „Bau
des menschlichen Organismus“ geschuldete Umstand, dass lediglich „Oberhaut
und wenige sichtbare Schleimhäute der unmittelbaren Besichtigung zugänglich
sind“ (Samuel 1889, 299). Dementsprechend hält das enzyklopädisch kodifizierte
medizinische Wissen des ausgehenden 19. Jahrhunderts auch nur wenig von
einer Kategorie „latente[r] Symptome (S. occulta)“. Was als solches erscheinen
mag, ist das Ergebnis mangelhafter diagnostischer Kompetenz, da derartige Sym-
ptome „nur dem verborgen“ bleiben, „der sie nicht richtig zu suchen versteht,
sie sind also nur schwerer auffindbar, können aber constatirt werden“ (Samuel
1889, 300).
2.2. Méthode graphique
3.2. Symptom, psychoanalytisch
Deutlich werden die Folgen dieses Anspruchs vor allem an der Geschichte des
psychoanalytischen Symbolbegriffs. Dem von symboltheoretischer Seite formu-
lierten Stoßseufzer, Freud hätte womöglich gut daran getan, der Kolonisierung
eines großen Teils der psychoanalytischen Semiologik durch den vagen, unkon-
turierten Symbolbegriff einiger seiner Schüler zu widerstehen, darf man wohl aus
zeichentheoretischer Perspektive nicht widersprechen (vgl. Rolf 2006, 201; 208).
Insbesondere der generellen Tendenz, die komplexe Zeichendynamik des Symp
tomverständnisses durch Ontologisierung und Typisierung zu entschärfen, ja
eigentlich zu sabotieren, hat die Spielmarke des Symbols immer wieder beträcht-
lichen Vorschub geleistet; dies zeigt sich nicht zuletzt daran, dass das jeweilige
Symbolverständnis schon früh in der Geschichte der Psychoanalyse und ihrer
Fraktionierungen gleichsam als Prüfstein der rechten Lehre hat dienen können
(vgl. Jones 1987 [1916], 83).
Seinen ersten methodischen Auftritt hat das Symbol in Zur Ätiologie der
Hysterie, die Freud im Entwurf einer Psychologie von 1895 skizziert. Die Logik
dieses Konzepts entspricht dabei der des Symptoms. Die Herleitung akzentuiert
Korporealität und gleichzeitig Zeichenhaftigkeit des hysterischen Symptoms A,
einer „überstarke[n] Vorstellung“ mit somatischen Auswirkungen, die „in einem
bestimmten Verhältnis“ zu einer zweiten, erst in der Analyse zu ergründenden
Vorstellung B steht: „Es hat […] ein Erlebnis gegeben, welches aus B + A bestand.
A war ein Nebenumstand, B war geeignet, jene bleibende Wirkung zu tun. Die
Reproduktion dieses Ereignisses in der Erinnerung hat sich nun so gestaltet, als
ob A an die Stelle von B getreten wäre. A ist das Substitut, das Symbol für B gewor-
den.“ (N, 440)
Sowohl der Substitutionsvorgang der Symbolbildung, die im Entwurf als
phys(iolog)ischer Ablauf verstanden wird, als auch das durch ihn Verdrängte
bleiben dabei im Unterschied zu anderen Symbolsystemen unbewusst bezie-
hungsweise „vom Denkvorgang ausgeschlossen“ (N, 443). Das Hauptproblem, das
dieses Symbolverständnis aufwirft, besteht in der Kombination von Motiviertheit
und Kontingenz, ist doch einerseits der Symbolisierungsanlass durchaus Teil des
abwehrprovozierenden Erlebnisses, aber andererseits eben im Verhältnis zum
‚eigentlichen‘ Anlass der Unlusterzeugung vollkommen unbestimmt. Der the-
rapeutische Eingriff besteht denn auch wie in der Bewusstmachung der Symp-
tombedeutung darin, das Symbolisierungsgeschehen zu rekonstruieren und die
„Erinnerungsspur von B“ gegen den Verdrängungswiderstand „aufzufinden und
ins Bewußtsein zu bringen“ (N, 442).
In einem nächsten Schritt und vor allem mit der Fokussierung von Traum
und Traumarbeit kompliziert vor allem die vielgestaltige semiologische Überfor-
mung des Verhältnisses von Substitut und Substituiertem den Symbolbegriff.
Otto Rank und Hanns Sachs haben diesen semiologischen Synkretismus bereits
1913 zugespitzt, wenn sie das Symbol als „eine besondere Art der indirekten Dar-
stellung“ bezeichnen, „die durch gewisse Eigentümlichkeiten von den ihr nahe-
stehenden des Gleichnisses, der Metapher, der Allegorie, der Anspielung und
anderen Formen der bildlichen Darstellung von Gedankenmaterial (nach Art des
Rebus) ausgezeichnet ist“ und „gewissermaßen eine ideale Vereinigung all dieser
Ausdrucksmittel dar[stellt]“ (Rank und Sachs 1913, 11). Genauer besehen erhält
dabei die in der Symbolisierung bis jetzt kontingente Ersetzung selbst semiolo-
gisches Profil, womit nun die unterschiedlichsten (auch medialen) Figurationen
die Zeichengebungsmechanismen des psychischen Apparats erhellen sollen. Ob
Lettrismus, Klangähnlichkeit oder Rebus, Kofferwörter, Homophonie oder lexika-
lische Zweideutigkeit, ob Ähnlichkeit, Fehlleistung – die Freud auch „Symptom-
handlung“ (IV, 224) nennen wird – oder Witz: Die Semiologik des Unbewussten
scheint in ihren bevorzugten Mitteln nicht eben wählerisch, solange die Arbeits-
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