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SPRINGER-SCIENCE+BUSINESS MEDIA, B.V
ISBN 978-94-011-8771-8 ISBN 978-94-011-9630-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-94-011-9630-7
Anmerkungen
247
I
Wie dem auch immer sein mag, zunächst sind wir einmal
befremdet, wenn überhaupt eine nachdenkliche Frage sich so
direkt und schlankweg dem Raum, der Zeit und der Bewegung
zuwenden will. Ist ein solches Unterfangen möglich und hat es
einen vernünftigen Sinn? Können wir dergleichen so unmittelbar
angehen? Zwar kennen wir alle immer schon den Raum, wir
sind vertraut mit der Zeit, wir leben in mannigfachen Raum-
und Zeit-Einteilungen, wir bewegen uns geläufig in den Unter-
scheidungen von Gegenden, Himmelsrichtungen, Strecken, Ab-
ständen, Dauern, Epochen und Zeitläuften; und wie wir uns
verstehend in den Gliederungen des Raumes und der Zeit bewe-
gen, so verstehen wir auch die Grundformen der vielfältigen Be-
2 VORVERSTÄNDIGUNG üBER DAS THEMA
derum die Frage, ob denn überhaupt das Wesen von Raum und
Zeit angemessen gefasst wird, wenn Abstände, Strecken, Ent-
fernungen, Dimensionenvielfalt, Dauern und dgl. vor allem zur
Auslegung gebracht werden und nicht das Ganze, worin erst
solche Erstreckungen sich abheben. Haben die Wissenschaften
von Raum, Zeit, Bewegung, selbst wo sie als apriorische Kennt-
nisse zur Entfaltung gelangen, nicht grundsätzlich einen binnen-
weltlichen Ansatz und eine binnenweltliche Blickbahn, sind sie
nicht gleichsam blind gegen die Weltganzheit von Raum und
Zeit?
Gesetzt aber den Fall, Raum und Zeit wären überhaupt keine
Dinge, noch apriorische Dingstrukturen, sie wären Weisen, wie
das Weltganze ist, dann allerdings wäre auch einzusehen, warum
sie keinem einzelnen Weltgebiet zugehören, sei es "Natur" oder
"Geschichte" - warum sie die Bereiche durchgreifen und doch
in keinem heimisch sind. Das ist bislang eine biosse, vag ange-
deutete Hypothese. Aber es ist die Grundabsicht der Abhandlung,
den Weltsinn von Raum und Zeit und Bewegung herauszuarbei-
ten. Eine solche Tendenz weiss sich im Widerspruch mit der herr-
schenden Seinsdeutung der überlieferten Metaphysik. Jener gilt,
in vorläufiger Vereinfachung gesprochen, Raum, Zeit, Bewegung
als das Reich des Werdens, als das Reich des Uneigentlich-Seien-
den, des Erscheinenden und des Scheins; Raum und Zeit seien
die Formen des "mundus sensibilis", der Sinnenwelt; sie habe
keine eigentliche Realität; das sagt nicht, dass sie ein Trugge-
bilde sei, aber sie wird damit ontologisch abgewertet; sie sinkt
zum biossen "Phänomen" herab. Als das eigentlich und wahr-
haft Seiende gelten dann die "Ideen", die dem zehrenden Wandel
der Zeit entrückt sind, gelten die "Monaden" des Leibniz, die
"nournenale Welt" der Freiheit, das intelligible Geisterreich.
Raum, Zeit, Bewegung bilden so für die traditionelle Metaphysik
eine ontologische Problematik zweiten Ranges; sie sind in die
spekulative Physik verwiesen, welche der Metaphysik unter-
geordnet ist.
Denker damit wagte, ist durch die grellen Töne seiner antichrist-
lichen Polemik und durch den herostratischen Tumult seines
Auftretens eher verdeckt und bagatellisiert worden. Radikaler
und tiefer als seine kämpferische Antithese: "Dionysos gegen
den Gekreuzigten" ist seine Gegenstellung gegen Parmenides und
Platon. Aber mit einer Gegen-These ist im Raume der seins be-
grifflichen Grundgeschichte noch nichts entschieden. Es bedarf
einer langen Arbeit, um das Denken heimisch zu machen im Wind
der Zeit, dass es des Ewigen vergisst, und im Labyrinth des Rau-
mes die Erfahrung macht, dass es nirgends anzukommen hat.
Dergleichen kann nicht durch Bekenntnisse und Kampfparolen
auf den Weg gebracht werden, sondern allein durch eine Aus-
einandersetzung mit der überkommenen Geschichte der Seins-
interpretation. Mag es an der Zeit sein, die Metaphysik preiszu-
geben, sie durch eine radikaler gedachte spekulative Physik zu
ersetzen, so ist eine solche Formulierung nur soviel wert, als
eben eine wirkliche Prüfung und prüfende Verwandlung der
geschichtlich vorgegebenen Seinsbegriffe vollzogen wird. Dazu
will diese Schrift zu einem kleinen Teil ein wenig beitragen. Das
besagt, dass wir zur Exposition unseres Problems nur auf einem
mühsamen und umständlichen Wege vordringen können: dass
wir schwierige und subtile Gedanken der grossen Denker nach-
denken und nachbuchstabieren müssen, was sie über die Zeit
und den Raum und die Bewegung erarbeitet haben. Ihre Resul-
tate sind nicht falsch, auch wenn die leitende Perspektive ver-
wandelt werden muss.
ze. Das bedeutet nicht, dass das Denken wahllos vom Hundert-
sten ins Tausendste kommt; gerade wo es der strengen Führung
einer wirklichen Frage untersteht, wo es diszipliniert ist, ver-
läuft es nicht in Kanälen, nicht in voraus abgesteckten Marken.
Alles entschiedene Denken mündet im Ganzen, wie alle Ströme
im Meer.
Wie aber sollen wir nun die Exposition des Problems gewin-
nen? Der Hinweis auf das Thema gibt wenig aus. Was befragt
werden soll, kennen wir - aber nicht die Weise, wie? Wie soll
denn dieses Allbekannte und Vertraute für uns fragwürdig wer-
den? Diese philosophische Fragwürdigkeit liegt ja nicht vor wie
ein Ausstand an einer Sache. Wenn wir vor einem Haus stehen,
sehen wir seine Rückseite nicht; aber wir können herumgehen.
Wir können die weissen Flecke auf der Landkarte tilgen, können
Expeditionen in unerforschte Gegenden senden; oder wir können
auch an den gegebenen Dingen noch ungegebene Seiten freilegen
durch verfeinerte Beobachtungen und Messungen; mit Mikroskop
und Teleskop erweitern wir den Bereich des Zugänglichen und
wesentlicher noch mit indirekten Methoden mathematisch-phy-
sikalischer Auslegung. Ist es denn so, dass hinsichtlich Raum,
Zeit, Bewegung gleichsam ein ungefährer Teil bekannt wäre und
wir das Fehlende nun noch ausforschen müssten? Kann Raum
und Zeit überhaupt in der gleichen Weise uns unbekannt und
entzogen sein wie Dinge? Anders herum gefragt, liegt nicht in
aller Unbekanntheit der Dinge schon eine Bekanntheit von
Raum und Zeit, - hat das Abwesende als solches nicht gerade
den Charakter des Ausstandes in Raum und Zeit? Gibt es Aus-
stehendes nur, weil schon die Dimension vorausgesetzt wird?
Die positiven Wissenschaften können weitgehend durch die An-
gabe ihres Themas charakterisiert werden, die Philosophie nie.
Was kann es schon heissen: sie sei Frage nach dem Sein? Das Sein
ist doch nicht etwas, das erst gesucht und aufgetrieben und her-
beigeschleppt werden müsste, es liegt auch nicht vor wie eine
geologische Schichtung, ein Erbgang, eine Krankheit, ein Rechts-
fall, es kann nicht untersucht werden und diese Untersuchung
kann nicht in einem Befund zusammengefaßt werden. Wir fragen
philosophierend doch nicht nach ihm wie nach einer abhanden
gekommenen Sache, - wir sind ihm auch nie gegenüber, sodass
22 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE
Unsere Absicht ist es nun, so nach Raum und Zeit und Bewe-
gung zu fragen, daß im Verfolg dieser Frage die Ontologie selber
Problem wird. Also nicht um die Anwendung einer ontologischen
Methode auf ein bestimmtes thematisches Gebiet, seien es auch
Grundstrukturen des Seienden, handelt es sich, sondern um eine
Fragwürdigkeit, wo das Fragen nicht in einer bereits gesicherten
Bahn läuft. Nun kann man aber sag~n: das ist bei der Philoso-
phie nie der Fall; sie ist keine Erkenntnisweise, die auf ein vorge-
gebenes Feld bezogen und nur in einer fortschreitenden Um-
und Weiterbildung ihrer Methode begriffen ist. Die Philosophie
ist immer ihr eigenes Problem. Von dieser Selbstbezüglichkeit und
Selbstinfragestellung kann sie gar nicht absehen, solange sie als
das ungesicherte und weglose Denken des Menschen sich ver-
steht; das Philosophieren ist immer das Wagnis der Irrfahrt;
und nicht nur für den Giganten, auch für den kleinen Mann gilt,
daß, wer sich mit ihr einläßt, immer wieder alles verlieren muß, -
daß ihm wie Sand unter den Händen die Wissenserwerbe zerrin-
nen. Die Philosophie ist deswegen im eigentlichen Sinne nicht
lehrbar und nicht lernbar; es gibt in ihr keine Autoritäten und
kein kanonisiertes Lehrgut.
Vielleicht aber ist die Zeit gleichsam nur eine von der ontolo-
gischen Philosophie vergessene und abgewertete Dimension -
vielleicht ist ebenso sehr einmal nach dem ebenso problemati-
schen Bezug von Sein und Raum, Sein und Bewegung zu fra-
gen, - oder alles in eins gefaßt: nach dem Bezug von Sein und
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 43
Was ist damit gemeint? Es ist immer eine Gefahr, die Denk-
geschichte mit jener voreiligen überschau zu überfliegen, die es
erlaubt, darin Epochen abzugrenzen. Das Problem der "Perio-
disierung" ist hier viel schwieriger und verwickelter als in der
allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte. Gewiss ist es auch
dort schon schwierig genug; die Lebensbereiche haben nicht alle
dieselbe Zeitgeschwindigkeit im Hingang; wir können nicht alle
Phänomene auf die Einheit eines Jahrhunderts beziehen, oder
einer politischen Wandlung, eines religiösen Umbruchs. Die
"Renaissance" ist nicht eine Lebensstimmung, die einheitlich
das gesamte Dasein jenes Zeitalters durchtränkte; in ihr ist
viel Mittelalter, ja auch noch viel bäuerliche Urzeit; die Wirt-
schaftsverhältnisse wandeln sich nicht im gleichen Tempo wie
die Kunstgesinnung, wie die Einstellung zur Ehe usf.; Periodi-
sierung ist immer eine Verlegenheit. Die Geschichtsepochen
laufen nie so ab wie in den historischen Lehrbüchern. Und die
Geschichte der Philosophie ist vielleicht am wenigsten einer perio-
disierenden Einteilung zugänglich, - weil es in ihr überhaupt
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 45
noch nichts endgültig Vergangenes gibt. In diesem Felde haben
wir nichts hinter uns gebracht, - und es gibt darin keinen Zeit-
raum, der gleichsam von aussen überblickbar wäre. Deswegen
sind Einteilungen in Epochen hier fragwürdiger als sonst noch.
Das müssen wir festhalten, wenn wir in einem behutsamen und
vorsichtigen Sinne gleichwohl von E pochen der Philosophie reden.
Von diesem Vorbehalt wird natürlich nicht betroffen die massive
und in ihrer Weise auch berechtigte Einteilung nach Altertum,
Mittelalter und Neuzeit samt den zugehörigen Untergliederungen.
Das gehört zur chronologischen Historie. Anders aber ist der
Charakter der Einteilung, wenn man z.B. von der Metaphysik
spricht. Denn diese ist eine bestimmte Grundgestalt der abend-
ländischen Philosophie, ausgezeichnet durch einen bestimmten
Stil der Problembildung. Sie beginnt im Denken Platons und des
Aristoteles und durchzieht die Jahrhunderte bis in unsere Zeit.
Die grosse und tiefgehende Zäsur, die diese klassischen Denker
der Griechen trennt von den voraufgehenden Philosophen, ist
zwar immer irgendwie bekannt gewessen; aber sie wurde meist
dadurch überbrückt, dass man die Denker der ersten Jahrhun-
derte als Vorläufer auffasste, als Vor-Sokratiker, als Vorplatoni-
ker und Voraristoteliker. Platon und Aristoteles galten als die
Gipfelhöhe der Antike, was vor ihnen lag als Aufstieg zu ihnen
hin, - was nach ihnen kam, als Niedergang und Verfall. Mit einer
unerhörten Leidenschaft hat Nietzsehe diesem Bild widersprochen.
Für ihn ist die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
die eigentliche Philosophie. Platon aber ist ihm die weltgeschicht-
liche Peripetie, der Absturz des Denkens in eine moralische Um-
deutung der Welt. Mit dem ihm eigenen unheimlichen Spürsinn
hat Nietzsehe hier einen fundamentalen Wandel geahnt, - aber
die Art, wie er ihn dann auslegte, war absolut unzulänglich, ja
primitiv. Er sah in den Vorsokratikern "grosse Persönlichkeiten",
Figuren individueller Prägung, mit einem Stolz auf eine eigene
und eigentümliche Weltauffassung, herrische Naturen, denen es
weniger auf die objektive Wahrheit, als auf die künstlerische
Einheit ihres Weltbildes angekommen sei. Dass Nietzsehe hier
ganz unangemessene moderne Kategorien anlegt, dass die Denker
der Frühe von dem eitlen Stolz auf eine selbstgemachte Weltan-
schauung weit entfernt waren, - dass es jenem Denken um nichts
anderes als eben um die Wahrheit ging, erfährt wohl jeder, der
46 DIE WELTVERGESSENHEIT
sich nur ein wenig mit ihnen einlässt. Nietzsche stilisiert sich
selbst in das überlebensgrosse der antiken Denkgebärde, wo er in
seiner Schrift "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen" die Vorsokratiker behandelt. Wenn nun Nietzsche gegen
sich selbst recht hat, d.h. recht hat mit der These von der über-
ragenden Bedeutung der frühen Denker, trotzdem sie gewiss keine
"Persönlichkeiten" in dem von ihm gemeinten Sinne waren, so
muss ihr Rang offenbar anders bestimmt werden. Aber hier
erhebt sich die Schwierigkeit, dass dieser Aeon der Philosophie
gar nicht so ein einheitliches Gepräge an sich hat, wie es aussieht,
wenn man ihn nur aus dem Blickwinkel der klassischen griechi-
schen Philosophie zu betrachten gewohnt ist. In Wahrheit birgt
jene angebliche Vorzeit in sich selber einen viel radikaleren
Bruch, eine viel tiefergreifende Zäsur, als es der Unterschied zu
Platon und Aristoteles ist. Der tiefere Einschnitt liegt zwischen
dem Welt-Denken der Jonier und dem Seins-Denken der Eleaten,
in zwei grossen Figuren repräsentiert: zwischen Heraklit und
Parmenides. Von Parmenides ab gibt es eine ontologische Philo-
sophie. Und sie ist eine ununterbrochene Kette bis heute. Par-
menides ist ein ungeheueres Ereignis. Wäre ein Riesenmeteor ,
wäre ein Mond auf die Erde niedergestürzt und hätte den Pla-
neten in seiner Bahn erschüttert, die Verwunderung der Menschen
hätte nicht grösser sein können als bei diesem Blitzschlag des
Gedankens, dass das Seiende ist.
wir denn irgendwo ein Maß des Seins, einen Maßstab, an den wir
die begegnenden Dinge legen könnten, um sie abzuschätzen,
um sie in ihrem Rang richtig und angemessen zu bestimmen?
Und wenn wir jede Strasse zögen, bei allen Dingen anfragten,
bei dem gegründeten, sicher in 'sich ruhenden Erdboden, bei den
Sternen des Firmaments, ja auch bei den Göttern, falls sie imhei-
ligen Bezirk ihre Nähe kundtun, nirgends, bei keinem Seienden
fänden wir das schlechthinige Maß des Seins. Was treibt uns
aber, so über alles Gegebene hinauszufragen und das Gegebene
unter das Gericht eines nur dunkel geahnten Maßes zu stellen?
Niemand treibt uns als das Denken. So recht es auch ist, wenn
wir die Dinge das Seiende nennen, diese von Sein und Nichtsein
durchwirkten Gebilde, weil ihnen Sein zukommt, weil sie in einer
schwer erklärbaren und aussagbaren Art am Sein "teilnehmen"
und eben nach der Massgabe solcher Teilnahme auch wirklich
sind, so meint doch der Satz: das Seiende ist, nicht die tautolo-
gische Selbstverständlichkeit, dass solches, dem Sein zukommt,
auch eben ist; der Satz kann gar nicht verstanden werden, wenn
man sich nur bemüht, aufzuzählen, was es alles gibt; er hat seine
spekulative Strenge in einer ganz anderen Dimension: es gilt aus-
zudenken, nicht wer das Seiende ist, nicht ihm einen Inhaber
zuzuweisen, nicht eine Leerstelle zu besetzen, sondern was das ist,
das Seiende, das Seiendsein. Dann nämlich können wir nicht
gleich damit umgehen und irgendwelche Dinge beim Schopfe
packen und vorführen, sondern wir müssen den Gedanken selbst
entwickeln und entfalten. Solange es eine Sprache gibt, ist schon
vom Sein verstehend Gebrauch gemacht worden. Seit der Mensch
spricht, spricht er den Dingen Sein zu und ab. Das bedeutet nicht,
dass in einer bestimmten faktischen Sprache der Seinsbegriff
ausdrücklich in Vokabular und Grammatik auftreten müsse. Es
mag Sprachen geben, die anscheinend ganz ohne die uns ver-
traute Struktur der ausdrücklichen Seinsnennung auskommen, -
aber auch dort wird implizit immer Sein mitgesagt. Wenn nach
dem Worte Heideggers die Sprache das "Haus des Seins" 2 ist,
nämlich als die dem Menschen zugesellte Offenheit des Seins,
in der er verstehend-sprechend wohnt, worin er seine "Behau-
sung" hat, so bedeutet das, dass das Denken bereits, wenn es be-
ginnt, mit dem Sein vertraut ist.
50 DIE WELTVERGESSENHEIT
Maß des Seins den vorhandenen und gegebenen Dingen, lässt sich
nicht von ihnen vorsagen, was Bestehen ist, - er lässt sich nicht
verwirren von der Zweideutigkeit, dass diese endlichen Dinge
sind und nicht sind, - er macht keine Konzessionen, er ist nicht
hin- und hergerissen wie das schwankende Meinen der Menschen,
die von einem Brotlaib sagen, dass er ist und ihn doch aufessen.
Wie könnte je ein Seiendes vergehen! Das meint nicht, wie ein
endliches Ding je zunichte werden könnte. Das Denken des Sei-
enden als des Unvergänglichen, des von allem Nichtsein Freien,
verbietet es nunmehr gerade, die hinfälligen, schwindenden Dinge
als "seiend" anzusprechen. Aber wenn sie es nicht sind, wo findet
das Denken solches, das dem von ihm aufgestellten Maß genügt?
Kommt das rigorose Denken des nichtigkeitsfreien Seins jemals
ins Ziel? Die Antwort darauf müssen wir einem, wenn auch auf
die Grundschritte zusammengedrängten Gang durch das Denk-
gedicht des Parmenides entnehmen.
Zuvor aber soll noch ein merkwürdiger Zug der mit Parmenides
beginnenden ontologischen Philosophie genannt sein. Die Ontolo-
gie, sofern sie entspringt in der Urscheidung von Sein und Nichts,
das Sein gegen alle Einbrüche des Nichts verteidigen und sichern
will, - aber das Nichts selbst nicht denkend bewältigt, bleibt von
Anfang an, wenngleich es in ihrem Geschichtsgang lange verhüllt
ist, Nihilismus. Dieser ist kein später Gast, der einkehrt in der
Abenddämmerung Europas, in der Stunde, wo der Christengott
unglaubhaft wird für die Massen, wo er liebend den versunkenen
Göttern von Hellas und Rom nachsinkt ins Schattenreich, - wo
die Werte der überkommenen Moral sich auflösen und die Anar-
chie droht; der Nihilismus ist bereits angelegt in der Morgenfrühe
der europäischen Philosophie, in jenem Denke:p, das den Seins-
begriff freihalten will von Nichtigkeit und damit das Sein unauf-
löslich an das Nichts bindet, als an seinen dunklen Schatten. Wo
immer der Seinsrang von Seiendem gemessen wird an einem Maß,
das durch die Idee des nichtlosen Seins bestimmt ist, ist schon
der Nihilismus da. Auch das "ens realissimum" hat, sofern es
gegen das Nichts abgegrenzt und verteidigt wird, - sofern es
operativ aus dem Horizont des Nichts bestimmt wird, schon auf
eine verborgene Weise das Nichts an sich. Wo überhaupt von
Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit von Sein gesprochen wird,
52 DIE WELTVERGESSENHEIT
reinen KRISIS von Sein und Nichts. Das aber kann der Mensch
nicht von sich aus leisten. Dazu bedarf er göttlicher Hilfe.
wie es absolut um das Sein steht. Sie spricht zum Denker hin -
so, dass damit nicht seine eigene Freiheit vernichtet wird, dass
immer noch seinem Denken ein Werk zu tun bleibt. Sie gibt nur
Weg-Weisungen, nur "Winke", die ja nach Hölderlins Wort "von
alters her die Sprache der Götter sind". Wegweiserisch winkend
lenkt die Göttin das menschliche Denken des Denkers in die
rechte Bahn. Menschlich und allzumenschlich aber bleibt dieses
Denken noch, schon weil es Weg, Bahn, Gang ist. Ein Weg braucht
Zeit und braucht Raum, der zu durchmessen ist. Menschliches,
"weg" -haftes Denken ist auch dort noch vielleicht in Raum und
Zeit verfangen, wo das auf solchem Denkweg Angedachte aus
Raum und Zeit entrückt ist.
Das Moment des Weges und des Weghaften muss hier ernst
genommen werden. Keineswegs ist das nur eine ungefähre Aus-
drucksweise, eben ein beliebtes "Bild". Es hat sehr grosse Kon-
sequenzen für das Parmenides-Verständnis, ob man hier dem
Wort des Denkers traut, ob man es nimmt, wie er es sagt, oder
ob man sich davon freizumachen wähnt durch irgendeine kluge
Erklärung der parmenideischen Bildersprache Die zentrale Frage
ist, ob die im Gedicht gegebene Bestimmung des Seins sozusagen
eine direkte und unmittelbare absolute Aussage ist, oder eine, die
immer noch aus der menschlichen Situation der Seinsferne und der
weghaften Abständigkeit gesprochen, oder zumindesten von der
Göttin auf diese menschliche Situation hin gesprochen ist, auch
wenn dabei das "Seiend" über das sonstige Menschenmaß hinaus
bestimmt wird. M.a.W., bringt das Denkgedicht des Parmenides
eine absolute Explikation des Seins oder immer noch eine relative,
menschliche, wenn auch von göttlicher Weisung unterstützte
menschliche Auslegung? Kann für Parmenides in ähnlicher Weise
gelten, was Hegel von seiner "Logik" sagt: "Die Logik ist sonach
als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Ge-
dankens zu fassen. Dieses Reich ist die W ahrhei t, wie sie ohne Hülle
an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken,
dass dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen
Geistes ist". Davon abgesehen, dass man Hegel nicht beikommt,
wenn man einen solchen Satz als eine blasphemische Hybris, als
einen blinden Wahn der Gottähnlichkeit des Menschen ansieht,
58 PARMENIDES: PROOEMIUM - I. TEIL
Welches sind nun die Zeichen, welche die Göttin dem Denker
kundgibt, auf dass er im Durchgang durch diese Zeichen das
an-denke, was sich verhüllt in ihnen kundgibt? Die erste Gruppe
der SEMATA,6 welche das EON anzeigend bestimmen, ist: AGENE-
TON, ANOLETHRON, OULOMELES, ATREMES und ATELESTON, d.i.
das Ungewordene und Unvergängliche, das Heile-Unversehrte,
das Unerschütterliche, das Endlose; das SEIEND ist, es ist nicht
ins Sein gekommen und kann nicht daraus weggehen, es steht
an ihm nichts aus, es ist in keiner Art versehrt, durch keinen
Fehl bestimmt; und es kommt nicht einmal an einem Ziel, an
einem Ende an, wo es fertig und zu Ende ist. Das ist gleichsam
im Abstoss von den Dingen gesprochen; denn jene sind insge-
samt geworden und sind vergänglich, sind erschütterlieh, sind
bewegt, - alles verwittert im Wetter der Zeit; sie haben ein je-
weiliges Ende ihres InderZeitseins. Auch das Ganz- und Heilsein
wird im Kontrast zu den Dingen gedacht: das SEIEND ist nicht
zerstreut und zerrissen wie jene in Vielheit und Vereinzelung, es
hat nicht Gegensätze an sich, wie das Warme, das Kalte usf.;
das in den genannten SEMATA Angezeigte wird alsdann grund-
sätzlicher gefaßt. Das SEIEND ist nicht so in der Zeit wie die an-
geblich seienden Dinge. Es war nie und wird nie sein, es hat keine
Vergangenheit und keine Zukunft. Aber damit ist es noch nicht
aus aller Zeit heraus. Entscheidend wird ihm das NYN, das Jetzt
zugesprochen. Zwar sind auch die endlichen Dinge immer, so-
lange sie sind, in einem Jetzt, aber immer in einem anderen, sie
sind immer ältere in jedem neuen Jetzt; wenn sie Jetzt sind, ste-
hen künftige J etzte aus und vergangene J etzte sind verloren.
Anders das SEIEND, es ist Jetzt und zwar im ganzen, es steht an
ihm nichts aus und ist nichts verloren. Dieser Zeitcharakter ist
offenbar etwas ganz anderes als die sonstige Weise des Inder-
Zeitseins von Dingen.
Zunächst wird dieses Jetzt, das von allen im Fluß der Zeit
dahingehenden J etzten verschieden ist, durch die Ablehnung von
Vergangenheit und Zukunft gewonnen; aber bleibt eben dann
die Gegenwart übrig, wenn man die anderen Zeithorizonte weg-
denkt? Und was für eine verwandelte Gegenwart? Zumindest
können wir sagen, dass sie entgegen der Zeitlichkeit der Dinge
gedacht ist. Weiteres SEMA ist dann das HEN, das Eins. 7 Das ist
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 63
wie sie eigentlich nicht ist, sie kann sich in ein täuschendes Aus-
sehen verstecken, uns eine Erscheinung bieten, die ihrem Wesen
nicht entspricht; sie stellt sich anders dar, als sie ist; ein Verneh-
men, das auf die Erscheinung der Sache hereinfällt, wäre dann
falsch, obgleich es richtig vernimmt; es ist im Wahn befangen,
weil es nicht die Erscheinung einer Sache als blosse Erscheinung
erkennt, sondern für die Sache selbst, für ihr "Wesen" hält; das
wahre Vernehmen dagegen wäre dann jenes, welches durch den
äusseren Anschein hindurchbricht, die Erscheinung durchstösst
bis auf das dahinter sich versteckende Wesen. Wahrheit und
Wahn beziehen sich so auf das Gleiche, auf die gleiche Sache,
aber eben auf zwei verschiedene Dimensionen der gleichen Sache:
auf das Wesen und auf den äusseren Anschein. In einem zweiten,
in einem anderen Sinne gebrauchen wir dann auch den Unter-
schied von Wahrheit und Wahn, wenn wir das wahre und das
wahnhafte Vernehmen gar nicht auf die selbe Sache gehen lassen,
vielmehr jedem Verhalten einen eigenen Bereich von Erkennt-
nisobjekten zuordnen. Z.B. wenn gesagt wird, alles Vernehmen
der sinnlich gegebenen Einzeldinge überhaupt ist wahnhaft ; denn
dieser ganze Bezirk des Seienden ist an ihm selbst nichtig,' "schat-
tenhaft", ist nur in un-eigentlicher Weise; und anders: das
Vernehmen der ständigen Anblicke, welche bleiben, wie immer
auch das durch sie geprägte Einzelseiende kommen und gehen
mag, - das Vernehmen der "Ideen" dagegen ist wahrhaft, weil die
Idee eigentlich ist, weil die Idee des Menschen oder des Baumes
bleibt, während die einzelnen Menschen geboren werden und ster-
ben, die einzelnen Bäume aufwachsen, verdorren und nieder-
stürzen. Wahrheit und Wahn sind jetzt gleichsam aufgeteilt an
zwei heterogene Bereiche von Seiendem, sie konkurrieren jetzt
nicht mehr, sie haben je ihre eigentümliche Dimension. Merk-
würdig dabei ist allerdings, dass der Wahn sich selbst für wahre
Erkenntnis des wahrhaft-Seienden hält, dass er gewöhnlich seiner
Natur nicht inne ist, es erst werden kann, wenn er sich neben die
Ideen-Erkenntnis hält. Aber mit der Einsicht in den Wahn ver-
schwindet er nicht; denn er hat ja seine eigene und eigenständige
Thematik; der Wahn bezieht sich, sagt man, auf das Entstehende
Vergehende, auf das Wandelbare, die Wahrheit dagegen auf das
Ständige und Wandellose. Diese Zweiteilung verhärtet sich noch
in der üblichen Entgegensetzung von zweierlei Erkenntnisver-
NAMEN GEBEN UND INDIVIDUATION 67
sein entspricht sich. Das Eine, Ganze und Heile, das keine Zer-
stückung und Zerreissung an sich hat, ist das schlechthin Na-
menlose und Unsägliche, - und wenn es dennoch angesprochen
werden soll, so doch nur durch Namen hindurch, die sich auf-
lösen, die die Festigkeit und Härte einer stehenden Bestimmt-
heit verlieren, mit einem Worte, die zu Zeichen, zu SEMATA wer-
den. Was aber im Gepräge eines Namens bleibt, in diesem end-
lichen Umriss, ist selbst ein Endliches. Das Seiende ist als Ange-
sprochenes, als Genanntes, als ON LEGOMENON je schon ein Be-
grenztes und Bestimmtes, ein HORISMENON.
Nur solange wir der Meinung sind, dass die Sprache ein Werk-
zeug der zwischenmenschlichen Verständigung sei, ein Werkzeug,
das der Mensch gemacht habe, wie er Hammer und Zange ge-
macht hat, solange nur muss uns auch der parmenideische DOXA-
Begriff subjektivistisch erscheinen. Wir sind dann immer wieder,
wie Karl Reinhardt, befremdet von der anscheinenden Inkonse-
quenz des Denkers, dass er zunächst, wie es den Anschein hat,
die Göttin über den Menschenwahn sprechen und im Fortgang
des Gedichts sie selbst in diesen Wahn mitverfallen lässt. Rein-
hardt formuliert dies so: "... Parmenides beginnt die DOXA
damit, dass er erzählt, die Menschen seien überein gekommen,
zweierlei Gestalt mit Namen zu benennen; aber er entwickelt
nicht, was man erwarten sollte, wie sie aus beiden Gestalten ihr
Weltbild schufen, sondern das Gedachte gewinnt alsbald selb-
ständiges Leben, Dunkel und Licht vereinigen sich und bilden
die Welt, - aus der Erkenntnistheorie erwächst zu unserer Über-
raschung eine Kosmogonie; was nichts als Name (ONOMA) war,
geht physikalische Verbindungen ein und erzeugt zuletzt noch
den Menschen samt seinen Erkenntnissen ... Das ist für unsere
Begriffe allerdings ein starkes Stück ... " Die Frage ist hier, ob
sich nicht die Interpretation ein starkes Stück leistet, wenn sie
das Namesein der aufscheinenden Dinge als biosses Gedachtsein
von seiten des Menschen auslegt. Parmenides sieht hier viel tiefer.
Gewiss ist die Sprache den Menschen zugehörig; Menschsein
heisst: in der Sprache leben, weben und sein. Die BROTOI, die
Sterblichen sind durch das Wohnen in der Sprache wesenhaft
bestimmt. Sie sprechen die Sprache nach, sie sagen die Seinsge-
danken nach, die ihnen schon zugesprochen sind, sofern der
Mensch in der Sprache behaust ist. Wenn Parmenides die DOXA
in der Namengebung gegründet sieht, und wenn er die DOXA-
74 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA
men". Was ist das aber für eine Zeit, worin die Zeit der Dinge und
Ereignisse anfängt und endet? Hat am Ende das EON doch einen
verborgenen Grundbezug zur Zeit? Steht überhaupt die Welt
der DOXA sozusagen freischwebend in der ganzen Gebrechlich-
keit ihrer mangelhaften Seinsweise neben dem EON? Unver-
bunden und ohne Bezug? Die üblichen Vorstellungen, mit denen
man sich dieses Verhältnis nahezubringen sucht, etwa das zwi-
schen Wesen und Erscheinung, sind ja insgeheim alle orientiert
am Ding, an einer ansichseienden Sache, die in einem "Äusse-
ren", in einem Anblick erscheint? Aber erhält sich in der Tat das
EON zu dem entstehend-vergehenden Ding wie das Wesen zur
Erscheinung? Wie ein Inneres zu einem Äusseren und dgl.? Oder
ist hier eine ganz andere Spannung der Dimensionen zu denken?
Man glaubt sich vielleicht schon weit über die Naivität solcher
Fragen hinaus, wenn man antwortet, dass ja das EON überhaupt
gar kein Ding, keine Sache, kein "Ens", weder ein ens finitum,
noch ens infinitum meine, nicht ein Seiendes, nicht solches, dem
mehr oder weniger Sein zukomme, sondern einzig das "Seiend",
das Seiendsein, das "esse". Eine solche Antwort ist zwar nicht
falsch, aber unentfaltet und zu massiv, sie wird der parmenidei-
sehen Problematik nicht gerecht. Parmenides münzt nicht in
einen handlichen Unterschied aus, was die immerwährende Span-
nung seines Denkens ist. "Sein", das der NOUS vernimmt, ist nicht
gleichsam auf der einen Seite, und auf der anderen dann das
werdende Einzelding, das in der DOXA vernommen wird. Wir
stehen nicht über diesem Unterschied und können nicht von
aussen das rechte Verhältnis zwischen zwei Sphären bestimmen.
Der Mensch ist wesentlich in der Doxa, sie ist die eigentlich-
menschliche Situation. Der 2. Teil des Gedichts hat die zentrale
Bedeutung, diese unablegbare Grundsituation des Menschen
sichtbar zu machen - und sie auch als die verdeckte Voraus-
setzung der vorangegangenen Explikation des EON zu enthül-
len. Auch im Geleit der Göttin kommt der Mensch nicht aus
der DOXA heraus, er entrinnt ihr nicht, solange er lebt, - aber
mit der Führung und Weisung der Göttin vermag er es, das
Seiend, von dem er sonst immerzu einen ungeprüften und ge-
dankenlosen Gebrauch macht, anzudenken. Er hat nicht den
Blick der Götter auf das Sein selbst, er kann es nicht unver-
mittelt schauen, er kann es nur durch die Vermittlung der
76 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA
tig wird. Auch die platonische Befreiung ist die Befreiung zur
Einsicht in die Gefangenschaft. Auch wer den Blick in die Sonne
getan hat, muß wieder hinab in die "Höhle", in ihre Düsternis
und Enge, - so wie Platon von den Regenten seiner POLITEIA
fordert, dass sie hinabsteigen ins Menschenland, in die POLIS,
ungern zwar und wider Willen, aber unabwendbar. Dieser Rück-
weg in die Höhle ist nicht motiviert etwa in einem philanthro-
pischen Mitleid, welches die droben im Licht wandelnden Denker
bewegte, ihrer Brüder im Dunkeln nicht zu vergessen; der Denker
kann überhaupt nicht in der Nähe des Seins sich ansiedeln und
Wohnung nehmen; auch der "denkende" Mensch ist an das
allgemeine Menschenlos gekettet, er kann nie sein wie die Götter,
deren selige Augen in stiller ewiger Klarheit blicken, - auch ihm
ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhen und wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen zu fallen jahrlang ins Ungewisse hinab.
Aller Aufstieg des Denkens ist ebenso sehr auch Absturz. Je
mehr der Mensch der Befangenheit entrinnt, desto schärfer und
härter wird die Gefangenschaft. Und wo ein Denken des Seins
sich über den trüben Dunstkreis des alltäglich-gewöhnlichen
Allerweltverstehens hinausbringt, wo es zu einer ontologischen
Explikation gelangt, muss gerade die DOXA entscheidend mit in
den Blick rücken: als die Grundsituation, die auch noch diese
Seinsauslegung mit umfängt. Die Ontologie des EON ist in der
DOXA gefangen, aber nicht mehr befangen; sie ist das Andenken
des Seins, welches Denken sich in der Situation der Erscheinung
vollzieht. Wenn wir diesen fundamentalen Zusammenhang uns
klar machen, gewinnen wir ein Verständnis der inneren Einheit
aller Teile des parmenideischen Denkgedichts. Das Prooemium
verliert den Charakter eines bloss poetischen Vorspruchs und
allegorischen Aufputzes und der zweite Teil den Charakter eines
Anhängsels, das eine überflüssige Hypothese oder eben eine die
Seinslehre nur noch ergänzende Wahnlehre zufügt. Das ganze
Werk wird als ein einheitlicher Guß, als eine Gedankenarchitek-
tur von monumentaler Strenge erkennbar; es ist nirgends ein
Wort zuviel gesagt, jeder Satz hat eine absolute Prägnanz. Das
bedeutet aber nicht die Eindeutigkeit eines wohldefinierten
mathematischen oder logischen Begriffs, sondern die Prägnanz
des spekulativen Ausdrucks. Das Werk des Parmenides ist weder
Poesie, noch Wissenschaft, - es ist reine Spekulation. Das Eigen-
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 81
keine "allgemeine" ist. So, wie das EON eins ist, ist nichts mehr
eins, es gibt keine Ähnlichkeit mit irgendwas, - so wie das EON
unentstanden und unvergänglich ist, können Dinge nie unent-
standen und unvergänglich sein. Dieses Moment der seltsamen
"Einzigkeit" der Grundbegriffe für das EON, das von vornherein
ausschliesst, dass etwas anderes noch daran teilnehmen könnte,
muss man beachten, um überhaupt erst den strengen spekulati-
ven Sinn derselben aufzufassen. Solange man sich im ungefähren
Verstehen von Unvergänglichsein, von Heilsein, von Eins-sein
usw. bewegt, und gleichsam "allgemeine, für viele Dinge gelten-
de" Begriffe auf das EON anwenden will, hat man den Spannungs-
charakter der SEMATA noch gar nicht begriffen. Schon das ist
eine Zweideutigkeit derselben, dass sie wie "allgemeine" Begriffe
aussehen - und doch "einzige" sind. Der Abstoss von dem als
Durchgangsmodell dienenden Begriff macht wesentlich die Be-
wegung des spekulativen Gedankens aus. Der spekulative
Gedanke ist immer die Zerstörung des natürlichen Gedankens,
den er als Modell verbraucht. Aber er springt nicht schlechthin
über den natürlichen Gedanken hinaus, die Spekulation trägt
nur so weit, als die Auflösung des natürlichen Gedankens anhält.
Sie lässt ihn nie souverän hinter sich, sie ist immer in der Lage
des "Herrn", der die "Arbeit" des "Knechts" braucht, um da-
durch Herr zu sein, und in gewisser Weise vom Knecht, dem er
Herr ist, abhängt - gemäss jenem weltberühmten Gleichnis
Hegels für das dialektische Verhältnis überhaupt, wonach der
Herr der Knecht des Knechtes ist. Für unser Problem aber sagt
das: das in "einzigen" Begriffen sich bewegende Denken des EON
bleibt gerade durch den Abstoss von den "allgemeinen" Modell-
Begriffen diesen irgendwie verhaftet, - entkommt ihnen nicht,
sondern verwandelt sie nur. Die ontologische Explikation
bleibt in der DOXA gefangen, auch wenn sie deren Befangenheit
durchbricht. Entscheidender aber noch als die Rückbindung der
SEMATA an die Begriffe, als deren Geltungsbereich das Feld der
vereinzelten Dinge gedacht werden muss, - entscheidender als
diese unsichtbaren Nabelschnüre einer verdeckten, wenn auch
verleugneten Herkunft der Spekulation aus der DOXA, - entschei-
dender ist die Frage, ob nicht vielleicht in dem, was in jenen
"einzigen" Begriffen gedacht wird, eben etwas mitschwingt, was
zwar selbst nicht als ein phänomenal Gegebenes erscheint,
88 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER
führende Gedanke des Seins ein Abbild der Welt? Ist hier von
Anbeginn an eine Verkehrung vollzogen worden? Vielleicht ist es
die gleiche, die auch Raum und Zeit und Bewegung aus dem
Wesen des Seins hinaustreiben will. Das sind häretische Fragen,
auf die man nicht mit Ja oder Nein antworten kann, weil diese
Fragen erst eine lange zureichende Ausarbeitung noch fordern.
Aber von ihrer Entscheidung wird es einmal abhängen, ob der
denkende Mensch seinen Weltaufenthalt als Gefangenschaft
begreifen muss, - oder als unverlierbare Heimat, - ob er heimisch
bleibt im Hiesigen auch im Schatten des Todes, oder ob er auch
dann noch in hintergründiger Ironie bereit ist, dem Asklepios
einen Hahn zu opfern.
8
SEMATA UND DIALEKTIK
ENDLICHKEIT DER DINGE ALS
BINNENWEL TLICHKEIT
EON UND WELT
was ist dasjenige, was in ihnen allen negiert wird? Verneint wird
das Entstehende und Vergehende, das Versehrte und Erschüt-
terliche, ferner solches, woran etwas aussteht, solches, was einmal
war und einmal nicht mehr sein wird, solches, was nicht überall
ist, was nicht Eins ist in der Weise des Zusammenhangs usw.
Aber wissen wir sogleich, was dergleichen ist? Wir nennen sie
mit einem Wort die endlichen Dinge. Wir tun so, als ob die
Endlichkeit dieser endlichen Dinge etwas ganz Selbstverständ-
liches und Fragloses wäre, das wir aufnehmen wie das Hartsein
oder Schwersein oder Farbigsein irgendwelcher Sachen. Aber
finden wir das Endlichsein überhaupt vor? Ist es ein phänome-
naler Befund, der festgestellt und registriert werden kann? Kom-
men wir durch Erfahrungen und daraus gezogene Verallgemeine-
rungen dazu, zu sagen, dass die Dinge endlich seien? Nennen wir
sie endlich, weil wir schon dergleichen erlebt haben wie das Auf-
hören einer Melodie, weil wir schon Grenzen der Dinge, Kanten,
in denen sie sich einschliessen, erfahren haben, weil wir gesehen
haben, wie Lebewesen enden und sterben? Das Seiende, das
uns umgibt, zeigt zwar einen strukturalen Reichtum von Gren-
zen, Scheidelinien, welche trennen, die Dinge in der Bestimmt-
heit eines Anblicks festhalten, aber alle solchen Trennungslinien
sind doch unterlaufen von einem Zusammenhalt aller Dinge;'
sie stehen in einem grossen Gedränge zusammen, das nirgends
eine Lücke lässt; überall ist etwas. Der phänomenale Charakter
der anblickshaften Begrenztheit ist immer zusammen mit dem
ebenso phänomenalen Charakter eines durchgängigen Zusam-
menschlusses aller Dinge in ein grosses dingliches Gesamtfeld,
das sich uns vielleicht am ehesten an der eigentümlichen Kon-
tinuität des "Elements" verdeutlicht. Alles Land hängt mit-
einander zusammen, und alle Luft und alles Wasser; Abstückun-
gen, die aus einem Element entrissen werden, sind nur zeitweilig,
sind nur ephemere Gestalten, die sich bald wieder auflösen; die
Elemente bleiben, während die aus elementaren Bestandteilen
gemischten Dinge nur eine flüchtige Weile haben. Grundsätzlich
aber muss man sagen, die Endlichkeit der Dinge ist kein phäno-
menaler Erfahrungsbefund, ist vielmehr das Gewusste einer Vor
kenntnis, die wir schon mitbringen in aller Erfahrung. Ohne eine
solche apriorische Vertrautheit mit der Endlichkeit des Seienden
wäre überhaupt jedes Erfahrenwollen d.h. jedes Bestimmenwollen
98 SEMATA UND DIALEKTIK
Aber ist damit schon etwas gewonnen, wenn man die Endlich-
keit des Seienden als einen Grundcharakter der Dinge erklärt,
mit dem wir apriori vertraut sind? Kann es überhaupt ein apri-
orisches Wissen um die Endlichkeit des Endlichen geben - ohne
ein Mit-Wissen um die Un-Endlichkeit? Auf eine so gestellte
Frage könnte man vielleicht antworten: gewiss gibt es eine
Zuordnung der beiden Ideen des Endlichen und Unendlichen, -
beide bewohnen unseren Geist. Es handle sich nicht nur um das
formal-Logische einer Entsprechung von Korrelationsbegriffen
(wie etwa Klein-Gross, Herr-Knecht, Teil-Ganzes usf.) sondern
um eine Entsprechung ontologischer Fundamental-Ideen. In der
Tat hat in der Geschichte der Philosophie diese Betrachtung eine
bedeutsame Rolle gespielt. Z.B. in den Meditationen des Des-
cartes, wo Descartes erst im Umweg über die eingeborene Idee
des Unendlichen, das er als Gott auslegt, im Umweg über die
"veracitas dei" zur Begründung der dingbezüglichen Giltigkeit
der Ideen kommt, welche die endlichen Dinge apriori betreffen.
Aber sind diese beiden Ideen des Endlichen und Unendlichen
gleichgewichtig in unseren Geiste, - bestehen sie neben einander
und fordern sich sozusagen nur zur Ergänzung auf, oder hat eine
einen unbedingten Vorrang? Ist das Un-End-liche nur die Nega-
tion des Endlichen - oder verstehen wir die Endlichkeit alles
Endlichen nur aus dem vorgängigen Horizont einer Unendlich-
keit? Solange die Rede von Endlich-Unendlich in jener vagen
Unbestimmtheit bleibt, welche weithin das spekulative Denken
beherrscht, kann keine Entscheidung dieser Frage gesucht wer-
den. Dann ist das Un-Endliche bald das Sein, bald die absolute
Substanz, das Wesen, der Indifferenzpunkt aller endlichen
Gegensätze, der Gott einer Religion usw. Und damit bleibt dann
auch der Charakter der Endlichkeit unterbestimmt. Das wahre
Unendliche aber, in dessen Horizont alle Dinge je schon stehen
und aus dem sie begegnen und zum Vorschein kommen, ist die
Welt, ist der KOSMOS. Der Mensch ist das Seiende, das im Ganzen
ENDLICHKEIT DER DINGE 99
wohnt, das hinaussteht ins Ganze und zum All sich verhält. Im
Denken des Weltalls erfährt er das Allmächtige. Der Gedanke des
Alls ist nicht ein Gedanke, den wir machen oder der irgendwie
nur in unserem Geiste behaust ist; das All hat alle Dinge zuvor
schon in sich versammelt und zusammengefügt, - wir selber als
die Denkenden sind je schon eingefügt, sind vom Ganzen über-
holt, stehen ihm nie gegenüber - und können daher gar nicht
rechtmässig die Frage stellen, ob der Gedanke des Alls nur ein
"subjektiver" Gedanke, eine "eingeborene Idee" unseres Geistes
sei, deren Gültigkeit noch ausstehe oder zu beweisen sei. Der
Weltgedanke ist nicht ein Gedanke unter anderen Gedanken,
sondern der Gedanke, durch den wir überhaupt denken können.
Die Welt offenheit des menschlichen Daseins ist der Grund für
alles menschliche Verstehen von Seiendem und für alles Selbst-
verhältnis des Menschen zu sich. Das Denken des Unendlichen
in der Weise des Offenstehens für das Weltganze ist die ent-
scheidende Voraussetzung für die apriorische Vorbekanntheit
aller Dinge als endlicher. D.h. aber die Endlichkeit des Seien-
den muss von der Welt aus gedacht werden, begriffen werden als
Enthaltensein im Weltganzen, als Umfangensein von ihm -
wobei Enthalten und Umfangen hier nicht den gewöhnlichen
Sinn hat, also nicht die Weise meinen kann, wie ein kleineres
Ding in einem grösseren Ding ist. Damit aber ist nicht der Begriff
der Welt abgeschoben in das Grenzland des Wissens, in die
Sphäre der Paradoxe, oder der "Ahnungen", des Tiefsinns;
gewiss können wir nicht sagen, wie Welt enthält und umfängt,
wir geraten bald in ein heilloses Gewirr von Schwierigkeiten, aber
Welt ist uns vertraut, obgleich diese Vertrautheit sich schwer auf
Begriffe bringen lässt. Dass die Welt das Umfangende ist, dass
sie, obgleich nirgends "gegeben", selber das Gebende aller gegebe-
nen Dinge ist, das wissen wir nie nicht. Immer kennen wir sie,
sie ist das Erst- und Letztgekannte aller unserer Kenntnisse.
Die Endlichkeit des Seienden besagt prinzipiell Binnenwelt-
lichkeit. Wenn wir uns klar machen, was in den parmenidei-
sehen SEMATA des EON jeweils negiert wird, - wenn wir also diese
Negationen einmal wegnehmen oder beiseite lassen, so gewinnen
wir gerade eine ganz grundsätzliche Charakteristik des Binnen-
weltlichen als solchen. Alles, was in der Welt ist, - was vom Welt-
all umfangen ist, ist entstanden und vergänglich, ist versehrt,
100 SEMATA UND DIALEKTIK
nis denkt Platon insgeheim die Weltlichkeit der Welt. Und ein
Ähnliches finden wir schon bei Parmenides, dort nämlich, wo
er sagt, dass die eine nur von den Formen, welche die Menschen
namengebend gesetzt haben, eben das Licht, das Feuer, dem
EON verwandt ist und gleichnishaft gleicht.
Unser Blick auf die Philosophie des Parmenides war nicht von
einem "historischen Interesse" geleitet, sondern von einem Pro-
bleminteresse. Gerade an Parmenides zeigt sich die Verwandlung,
welche Raum, Zeit, Bewegung abdrängt in eine sekundäre Di-
mension, in den Bereich der bIossen Phänomenalität. Raum,
Zeit, Bewegung gibt es für die DOXA. Die DOXA aber ist nicht, wie
man üblicherweise sagt, nur ein haltloses Meinen, ein subjektiver
Wahn, - auch für Parmenides ist die DOXA ein wirkliches und
echtes Vernehmen: das Vernehmen des endlichen Seienden;
aber die DOXA ist bei ihm noch mehr, sie ist auch die Situation
noch für die Explikation des EON. D.h. diese ist nicht eine
unmittelbare Aussage darüber, was das SEIEND ist, sondern eine
mittelbare, vermittelte, ist eine spekulative Aussage, die sich
an einem naiv-natürlichen Wortsinn hält und zugleich davon
abstösst; das Denken des EON geschieht durch SEMATA hindurch-
und ist, von diesem Durchstoss her, "dialektisch". Die eigentüm-
liche Natur des Dialektischen bleibt aber dabei gerade im Dun-
keln. Es ist die offengelassene Frage, ob die Dialektik begriffen
werden muss von der Vergeblichkeit aller Namen, die doch dem
Seienden zugehören und die wir dennoch dem SEIEND beilegen, -
oder von der Unangemessenheit aller binnenweltlichen Begriffe
für die Welt selbst. Der Ertrag unseres kurzen Hinblicks auf
Parmenides aber liegt allein in der Weckung der Frage, ob die
eigentliche Dimension für Raum und Zeit und Bewegung am
Ende nicht gerade dort zu suchen sei, wo Parmenides die Raum-
losigkeit, Zeitlosigkeit und Unbewegtheit betont: nämlich in der
Blickbahn des spekulativen Gedankens vom EON. Die Zeit aus-
treibung am geschichtlichen Beginn der Ontologie bedeutet die
Vertreibung gerade aus der Ortschaft der eigentlichsten Zeit. Das
am meisten Zeithafte gerät in einen merkwürdigen Charakter
des Zeitlosen und Zeitfremden. Diese Verdeckung wirkt sich in
der Folgezeit gerade so aus, dass Raum, Zeit, Bewegung in einer
abgeleiteten Art nur noch thematisch werden, als Dingraum,
ENDLICHKEIT DER DINGE 103
Und doch ist die W el t nicht das ausdrücklich Erst- und Letzt-
Gedachte der überlieferten Weltweisheit. Sie bildet eine gleich-
sam ständig unterdrückte, und doch nie ganz zu unterdrückende
Problematik. Das hat seinen Grund und seinen geschichtlichen
106 DER SCHEIN DES SEINS
Wenn aber die Frage nach Raum und Zeit erneut gestellt wer-
den soll, so kann sie nicht unmittelbar beginnen mit einer unbe-
fangenen Analyse; denn wir sind befangen, ob wir es wollen oder
nicht, in einer denkgeschichtlichen Tradition, die bereits über
den Seinsrang und den Grad der Ursprünglichkeit bzw. Abge-
leitetheit von Raum und Zeit entschieden hat. Und vielleicht
gilt es allem zuvor, diese Vor-Entscheidung der Geschichte zu
überdenken, sie in Frage zu stellen, - nicht in dem anmaßenden
Sinne einer "Kritik", die Fehler und Unterlassungen vorrechnet,
was ein in jedem Sinne eitles Unterfangen wäre, sondern als Ein-
blick in eine historische Notwendigkeit, die ihr Recht und ihre
Zeit gehabt hat. Das war das Motiv für unsere Zuwendung zur
Philosophie des Parmenides. Man könnte der Ansicht sein, diese
Zuwendung wäre überflüssig und unergiebig, weil Raum, Zeit
und Bewegung in der eleatischen Philosophie gleichsam nur ne-
gativ, nur in ausgrenzender Absicht Thema würden und es zu
einer positiven Bestimmung dabei gar nicht komme. Damit aber
verkennt man, daß durch die Eleaten sich die fundamentale
Ortsbestimmung des Raum- und Zeit-Problems für den Gang
der Jahrhunderte vollzieht, - daß wir immer noch im Banne die-
ser Ortsbestimmung stehen, auch wenn wir meinen, vorurteilsfrei
Raum und Zeit als "Phänomene" auszulegen. Der Ort von Raum
und Zeit und Bewegung ist das "Erscheinen", - das Aufscheinen-
de, das in Geltung und Namen und Ansehen stehende endlich-
Seiende, die DOKOU::-..'TA sind das Feld, wo es allein dergleichen
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 107
gibt, während das SEIEND jenes von sich ausschließt; das EON
ist raumlos, zeitlos, unbewegt. Dieser Satz ist ungenau. Das EON
ist raumlos, wenn das bedeutet: es ist nicht so raumhaft wie
endliche Dinge raumhaft sind, es ist nicht hier - im Gegensatz
zum dort, nicht begrenzt durch Grenzen, die anderes Seiendes
von ihm abtrennen, es hat keine Lage, keine Stelle im Raum.
Aber es ist überall gänzlich, ist einshaft zusammenhängend, hat
keinen Unterschied der Teile und Gegenden an sich; - es ist zeit-
los, wenn das Zeithaftsein meint, irgendwann jetzt-sein und
damit gleichzeitig im Hinblick auf das Vorherige nicht-mehr-
sein und im Hinblick auf das Künftige noch-nicht-sein; das EON
aber ist bestimmt durch das NYN, durch das Jetzt einer gleichsam
stehenden Gegenwart (durch ein nunc stans) , worin nichts vorbei
und nichts im Kommen ist; und ferner das EON ist unbewegt,
wenn eben Bewegtheit soviel bedeutet wie Entstehen, Vergehen,
Veränderung, Ortswechsel ; das "Seiend" kann nicht entstehen
und nicht untergehen, kann sich nicht wandeln und keinen Platz
mit jemandem tauschen; - aber es selbst ist doch der Grund dafür
dass im Bereich der DOKOUNTA Wandel und Wechsel herrscht;
es selbst ist gleichsam der unbewegte Beweger jener vielfältigen
Bewegungen; die Sphäre der DOKOUNTA ist ja nicht schlechthin
nichts, sie ist kein Wahngebilde und keine Illusion; diese Sphäre
ist der Schein des Seins, - gehört dem Sein zu, wie das Licht
der Sonne zugehört. Der Bereich der DOXA hängt nicht in der Luft,
er ist nicht in seinem fragilen, von Nichtigkeit durchtränkten
Sein eine bloße menschliche Täuschung; auch der "Schein" kann
nicht aus dem Sein heraus fallen, er muss in jenem gründen, wenn-
gleich er nicht die angemessene Blickbahn bilden kann für das
Verstehen des EON. Parmenides denkt also doch eine eigentüm-
liche Raumhaftigkeit, Zeithaftigkeit und Bewegung des EON,
das nur im Gegensatz zu den inner-räumlichen und inner-zeit-
lichen bewegten Dingen als das Raum- und Zeitlose, Unbewegte
erscheint. Diese verborgene, dem ersten Blick nicht sofort erkenn-
bare Räumlichkeit und Zeitlichkeit und Bewegung des EON bildet
den Angelpunkt unserer Parmenides-Deutung. Hier erhebt sich
die Frage: wie verhält sich das EON zur Welt? Ist es raumlos wie
die Welt, die keinen Ort hat - und doch alle Orte in sich begreift;
zeitlos wie die Welt, die alle Zeiten umspannt; unbewegt wie sie,
die in ihrem lichtenden Aufgang erst das Gewimmel der verschie-
108 DER SCHEIN DES SEINS
Man ist jetzt vielleicht schnell bei der Hand mit der bekannten
Unterscheidung zwischen dem "IST", das ein Wirklichsein meint,
das also Existenz setzt, und dem bloss kopulativ gebrauchten
"Ist", das nur einem Satzsubjekt ein Prädikat zuspricht. Aber
es handelt sich hier gar nicht um den Unterschied des Wirklichen
zu einem gemeinten "Sinn", sondern um einen viel problemati-
scheren und dunkleren Unterschied. Nämlich um die offene Frage,
ob letztlich die Welt, d.h. in unserem Zusammenhang das Ganze
von Raum-Zeit-Bewegung, vom Boden einer vorgängigen Be-
stimmung des Seiendseins aus zu verstehen ist, - oder ob um-
gekehrt, das Seiendsein aus dem Horizont der Welt zu
denken ist. Mit den Eleaten fallen die Würfel eines Geschicks,
welches das Denken der Welt in die Bahn des Seinsproblems
drängt. Raum, Zeit, Bewegung bleiben fortan fragwürdig hin-
sichtlich ihres "Seins". Und das bedeutet wieder: sie werden
gemessen an dem absoluten Maße des EON, - das angesprochen
wird in den SEMATA des Unvergänglichen und Unbewegten. Wir
sagten schon, dass in der Formulierung der SEMATA das Modell des
konträren Gegensatzes vorherrscht. Diese Orientierung über-
steigert die Getrenntheit von EON und DOKOUNTA und läßt den
bei Parmenides selbst noch deutlichen Zusammenhang von
SEIN und SCHEIN nicht aufleuchten. Wo in der Folgezeit die Philo-
sophie auf der absoluten Trennung beider Sphären besteht, wo
sie die Ideen den Sinnendingen, den "mundus intelligibilis" dem
"mundus sensibilis" schroff entgegenstellt, ist solche "Hinter-
weltlerei" in einem naiven Missverständnis des Parmenides be-
gründet. Wesentlicher, so scheint es, ist das Verstehen, wenn nicht
einfach auf dem fixen Unterschied des Vergänglichen und Un-
vergänglichen, des Bewegten und Unbewegten insistiert wird,
sondern wenn das Unvergängliche als das Vergehen-Lassende,
Vergehen-Bewirkende verstanden wird, und ebenso das Unbe-
wegte als das Bewegende; m.a.W. wenn der Unterschied orien-
tiert wird am Modell von Leiden und Tun, von TO PASCHON und
TO POIOUN. Denn dann ist die Gefahr eines starren Dualismus,
der bei der biossen Entgegensetzung stehen bleibt, weniger gross.
Leiden und Tun sind auf einander bezogen, sind ineinander ver-
wirkt; sie sind jeweils nur zwei Momente an einem Einheitlichen.
Es gibt kein Leiden ohne ein Tun und ebensowenig ein Tun ohne
ein Leiden. Leiden und Tun in ihrer gegenseitigen Bezogenheit
110 DER SCHEIN DES SEINS
aber bilden das Gefüge der Bewegung. Wenn also der Unter-
schied von EON und DOKOUNTA am Leitmodell der Gegenbezie-
hung des Passiven zum Aktiven ausgelegt wird, ist die Bewegung
der unausgesprochene operative Horizont der Seinsaussagen.
Je radikaler die Bewegung der endlichen Dinge ontologisch
entwertet, in ihrer Hinfälligkeit und Nichtigkeit entlarvt
wird, desto mehr taucht die Bewegung wieder - in einer ursprüng-
licheren Gestalt - auf im Unendlichen: z.B. in der ZOE, die der
späte Platon der Idee des Guten zuspricht, im unbewegten Be-
weger des Aristoteles, in Hegels Leben des "absoluten Geistes".
Von da aus ist jener Grundzug der antiken Ontologie zu verstehen,
welcher in steigendem Maße, nach den Eleaten, das Seinsproblem
entwickelt im Hinblick auf PSYCHE, NOUS, ZOE. Das bedeutet
keineswegs einen Anthropomorphismus; PSYCHE ist primär Welt-
Seele, nicht Einzelseele des sterblichen Menschen. HE GAR NOU
ENERGEIA ZOE, 15 das AmWerksein der Vernunft ist Leben. Es
ist eine sehr schwere Frage der Interpretation, ob dieses Motiv
bereits schon bei den Eleaten auftritt, eben in der Dialektik des
Zenon.
wechselt, wechselt es auch sein Jetzt. Aber wie soll denn ein
solcher Wechsel von Hier und Jetzt vonstatten gehen? Geht das
Ding, der fliegende Pfeil, einmal aus einem Platz weg und kommt
in einem anderen Platz ein wenig später an? Aber wie soll er aus
dem Platz weggehen? Ist er einmal, wenn auch nur auf ganz kurze,
ja allerkürzeste Zeit, ohne Platz, gleichsam zwischen Orten-
oder muss er nicht immer an einem Hier sein? Und ebenso auch
hinsichtlich des zeitlichen überganges: geht der fliegende Pfeil
aus einem Jetzt weg und gelangt in ein anderes Jetzt, so nämlich,
dass er eine jetztlose Zwischenzeit überspringt - oder muss er
immer und an allen Orten in einem Jetzt sein ? Wenn es aber
keinen Zwischenort, kein Leeres zwischen den Plätzen gibt und
geben kann - und wenn es desgleichen keine unbesetzte Zeit,
keine "jetztlose" Zwischenzeit zwischen den Jetzten gibt und
geben kann, dann ist überhaupt kein übergang denkbar - und
damit auch keine Bewegung: der fliegende Pfeil, weil er immer
und überall in einem Jetzt und an einem Hier ist, ruht. Denn das
ist das Wesen des Ruhenden, immer und allzeit im gleichen Hier
und Jetzt zu sein. - Das 4. Paradox behauptet, dass bei einer
bestimmten Bewegung die halbe Zeit ist gleich der doppelten
und will dies dartun an der Gegenbewegung zweier Dinge, die
sich im umgekehrten Richtungssinne an einander vorbei und
auch an einem stehenden Dritten vorbei bewegen. Was hier von
Zenon in den Blick genommen wird, ist die Relativität der Be-
wegung je in bezug auf ein Ruhendes oder auf ein anderes Be-
wegtes. - Wenn wir also zunächst ganz schematisch zusammen-
fassen, können wir sagen: die erste Paradoxie beruht auf der
unendlichen Teilung des Raumes, die zwischen allen unterschie-
denen Enden immer neue und zwar unendliche viele Zwischen-
Räume aufbrechen lässt; die zweite Paradoxie denkt entschiede-
ner schon die Verbindung von Raum und Zeit, und zwar beide
in der ihnen eigenen und doch ineinander verzahnten Unend-
lichkeit; weil Raum und Zeit in einem festen Verhältnis sich
"entsprechen", muss jedem Raumdifferential sozusagen auch
ein Zeitdifferential zugeordnet werden, so dass Achill nie die
Schildkröte einholen kann; und die dritte Paradoxie beruht auf
dem Gedanken der Undenkbarkeit eines übergangs; das, was die
Kontinuität von Raum und Zeit ausmacht, wird damit in einer
radikalen Weise in Frage gestellt. Die vierte Paradoxie endlich
116 DER SCHEIN DES SEINS
deisehen Gedanken des EON der KOSMOS stecke, ob also der N euan-
satz der Eleaten eine Verwandlung des Weltdenkens der Jonier
sei. Parmenides gibt zwar die grundsätzliche "Ortsbestimmung"
für Raum, Zeit, Bewegung mit seiner Lehre von der DOXA. Er
bestimmt aber das Wesen der DOXA nicht primär von Raum,
Zeit, Bewegung her. Seine Wesensbestimmung der DOXA ist viel-
mehr vom Namengeben, von der Sprache aus gedacht, und d.i.,
wie wir gesehen haben, nicht so sehr ein subjektives Prinzip, als
vielmehr das allgemeine Prinzip der "Individuation", der Ver-
einzelung. Zenon dagegen begreift radikaler jetzt die Vereinze-
lung selbst als gegründet in Raum und Zeit. Seine negative Lehre
von der DOXA wird zu einer dialektischen Entdeckung der inneren
Widersprüchlichkeit von Zeit, Raum, Bewegung. Genauer, er
setzt den Hebel seiner Destruktion an am Phänomen der Bewe-
gung und will von ihr aus, sofern in ihr Raum und Zeit sich
in inniger Weise einen, das ganze Gefüge der DoxA-Welt aus den
Angeln heben. Die DOKOUNTA, das endliche Seiende, welches die
DOXA vernimmt, - die DOKOUNTA sind nich t- und dieses Nicht-
sein, zutreffender: Nichtigsein, trotz alles sinnfälligen Augen-
scheins von Bestehen und Vorhandensein, ist es, was das Denken
im Durchdenken der Bewegung entdeckt. Die Paradoxien des
Zenon bilden den Gang einer bestimmten ontologischen Erfah-
rung, worin die Nichtigkeit des sonst als "seiend" Geltenden ent-
deckt und ineins damit eine ursprünglichere Dimension des
Seins aufleuchtet. Der thetische Gehalt der Paradoxe wurde be-
reits genannt. Es kommt nun darauf an, dass wir uns über die
Tragweite und die eigentliche Absicht der Paradoxien klar wer-
den. Dazu gehört auch, dass wir die Begriffe, mit denen Zenon
operativ umgeht, uns vergegenwärtigen. Die erste Paradoxie
hatte behauptet, dass das Durchlaufen einer Strecke unmöglich
wäre, weil der Laufende zuerst doch bei der Hälfte dieser Strecke,
ja zuvor bei der Hälfte der Hälfte usw. ankommen müsste. Man
könnte sogleich den Einwand erheben, Zen on benütze für die
dialektische Durchführung seines Gedankenexperiments Voraus-
setzungen, die er nachher gerade aufhebe; er spreche doch vom
Durchlaufen einer Strecke; er setze also zunächst einmal die
Möglichkeit der Bewegung voraus, wenigstens hinsichtlich der
halben Strecke; er reduziere das Vorausgesetzte dann schritt-
weise, immer wieder auf die Hälfte der Hälfte und so in infinitum;
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 119
Es ist nun keineswegs so, dass Zenon gleichsam nur die Dis-
kretheit, die Durchgrenztheit des Raumes in den Blick nähme
und blind wäre gegen die ebenso gültige und ebenso gewichtige
124 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN
Aber die grossartige Leistung des Zenon ist es, daß er nicht bei
der einfachen Ablehnung der Bewegung stehen bleibt, sondern
aus ihr selbst heraus ihre Unmöglichkeit nachzuweisen unter-
nimmt. Und dabei verfährt er nicht so billig, irgendwelche Wider-
sprüche in ihr aufzuzeigen und dann aus der Widersprüchlichkeit
den Schluss auf die ontologische Unmöglichkeit der Bewegung zu
ziehen, - als ob er das Dogma voraus hätte, was einen \Vider-
spruch enthält, kann unmöglich sein. Es kommt Zenon gar nicht
so sehr darauf an, die Bewegung als für unseren Verstand und
unser Denken inkommensurabel darzutun, als vielmehr den
Widerspruch in ihr selbst als existent, als darin wirklich aufzu-
zeigen. Die Bewegung ist der Widerspruch - sie ist als das Nichtige,
- als das Uneigentlich-Seiende. Der operative Grundgedanke aber
der zen on ischen Paradoxien ist das binnen wel tlich angesetzte
Verhältnis des Inseins des Endlichen im Unendlichen; für Zen on
muss das Endliche an der in ihm aufgedeckten Tiefe des Unend-
lichen zerbrechen, - und zwar deswegen, weil beides sozusagen
auf der gleichen Ebene konkurriert. Die endliche Raumstrecke
ist deswegen nicht durchlaufbar, weil sich bei der Teilung in
Hälften und Hälften der Hälften usw. ein unendlicher Abgrund
auftut, über den nicht mehr hinwegzukommen ist; der Läufer
läuft nicht mehr durch die endliche Strecke hindurch, sondern in
ihre unendliche Tiefe hinein, wo er niemals ankommen kann, weil
sich unaufhörlich immer neue Zwischenstrecken und zwar in in-
finitum auftun. Und ebenso ist der Wettlauf des Achill gar nicht
mehr ein solcher mit der Schildkröte, sondern mit der infinitesi-
malen Unendlichkeit; und es ist kein Wunder, dass er erliegen
muss. Die Paradoxien des Zenon, sicherlich eines der grossartig-
sten Dokumente der durchdringenden Kraft der antiken Speku-
lation, basieren auf dem unausgelegten und unausgesprochenen
Gedanken, dass das Seiende nicht zugleich endlich und
unendlich sein könne, dass es entweder das eine oder das
andere sein müsse. Wenn der Gedanke entdeckt, dass eine endliche
Strecke ja in sich unendlich ist, unendlich viele Hälften der Hälf-
ten hat, dann muss er zur Aufhebung der zuvor angesetzten End-
lichkeit und damit auch der Durchlaufbarkeit der Strecke kommen.
128 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN
Das mag uns merklicher werden, wenn wir ein wenig darüber
nachdenken. Was bedeutet es denn, zu sagen, alles Seiende,
sofern es beweglich ist, ist im Raume? Was ist das für ein "In-
sein"? Aber wird mit einer solchen Frage nicht etwas Absurdes
gefragt? Man könnte doch antworten, das Insein der bewegten
Dinge im Raume ist nicht ein Fall von· Anwendung eines all-
gemeinen Begriffs von Insein, den wir weißGottwoher haben;
"In-sein" hat vielmehr ursprünglich einen reinen Raumsinn.
Vom Raume her verstehen wir überhaupt erst so etwas wie
In-sein, - der Raum ist das Ur-Beispiel dafür; es ist absurd, eine
Kategorie, die wir vom Raume her verstehen, in ihrer Gültigkeit
für den Raum bezweifeln zu wollen. Mag in dieser Abwehr auch
ein berechtigtes Motiv stecken, so bedarf es doch einer acht-
sameren Genauigkeit. Das Katheder ist im Hörsaal, der Hörsaal
in der Universität, diese in Freiburg, die Stadt in der oberrhei-
nischen Tiefebene, diese in der eurasischen Festlandscholle, diese
in einem Stück der Erdrinde, die Erde im Sonnensystem, dieses
im System der Milchstraße usw.; ist ein solches In-sein aber
gemeint? Ein bestimmt begrenztes, innerräumlich Seiendes ist in
einem größeren Seienden, bildet ein Stück, einen Teil des
umfassenderen größeren Ganzen. Ein größeres Ding (oder ein
Dingzusammenhang) enthält kleinere Dinge und umfängt sie.
Sind nun die räumlichen Dinge im Raum, wie die kleineren Dinge
in den größeren sind? Keineswegs. Die besondere Weise, wie ein
größeres Raumding ein kleineres in sich enthalten kann, gehört
zur allgemeinen Verfassung des ImRaumenseins; diese ist durch
RUHE UND BEWEGUNG 135
Auch der Hinweis auf die Doppelnatur des Raumes als Konti-
nuum und Diskretion macht das. problematische Insein nicht
verständlicher. Der Raum ist ein homogenes Feld möglicher
Inhomogeneität, ein Zusammenhang, der von Grenzen durch-
furchbar ist. Aber wie jeweils die faktische Eingrenzung in dieses
Feld des stetigen Zusammenhangs sich vollzieht, wie die Beset-
zung des Raumes durch das Binnenräumliche sich ereignet, das
kann am Leitfaden eines Modells von Behälter und Inhalt,
d. h. eines grösseren und kleineren Dinges niemals zureichend
hegriffen werden. Die Paradoxie des Zenon aber beruht weit-
gehend auf der Nivellierung des prinzipiellen Unterschiedes
zwischen dem Imraumsein der Dinge und dem raumhaften Insein
eines Dinges in einem grösseren Ding. Weil der Rau m unendlich
teilbar ist, muss - nach ihm - auch das Binnenräumliche, die
bestimmte, endliche Strecke im Raum, als Abstand zwischen
zwei Dingen, unendlich teilbar, ja geteilt sein. Der Raum
selbst und das binnenräumlich Seiende haben für Zenon
eine konforme Natur. Die Unendlichkeit des Raumes (nach
innen) hebt die endliche Bewegung auf. Keine Strecke ist
durchlaufbar. Die Endlichkeit des Rauminhalts wird von der
Unendlichkeit der Raumform aufgezehrt. Dass aber überhaupt
eine solche Nivellierung eintreten konnte, zeigt die Vorherrschaft
eines Denkens, das am Binnenräumlichen fixiert bleibt auch dort
noch, wo es das Raumganze zu denken versucht, - zeigt die Vor-
herrschaft einer unausdrücklichen W elt-Blindhei t. Vielleicht
aber hängt die Weltblindheit des eleatischen Denkens gerade aufs
Engste zusammen mit dem, was seine einmalige Grösse ausmacht:
mit der Entschiedenheit und Strenge des Seinsgedankens.
136 RUHE UND BEWEGUNG
Gilt, was vom Raume gesagt wurde, nun nicht auch mutatis
mutandis von der Zeit? Auch hier ist offenbar zu scheiden zwi-
schen der Art, wie überhaupt die Vorgänge, Ereignisse usw. in der
Zeit sind, und der Weise, wie ein Teilvorgang im ganzen Vorgang
enthalten ist. Auch ist es vielleicht fraglich, ob die unendliche
Teilung der Zeit die unendliche Geteiltheit des "Zeitinhaltes"
zur notwendigen, unvermeidlichen Folge hat, - oder ob eine
solche Folgerung nur dann unausweichlich ist, wenn ni eh t prin-
zipiell zwischen der Zeit selbst und dem Innerzeitlichen unter-
schieden wird.
anders als Hier-Sagen; aber mein Hier ist vom Anderen her
gesehen ein Dort. Das Hier ist die Weise, wie ein Lebewesen
seinen Ort im Ganzen des Raumes "erlebt". Zwar erlebe ich auch
das Jetzt; sofern ich es erlebe, ist es "meines"; aber ich erlebe es
dabei nicht als allein mir gehörig, sondern als allem Seienden
überhaupt gehörig; jetzt bin ich im Jetzt aller Dinge. Das Jetzt
ist eine Bestimmung der weltweiten Zeit als allumfangender
Gegenwart, in welcher ich jeweils mitgegenwärtig bin mit allem,
was gleichzeitig ist. Das Jetzt hat den grundsätzlichen Sinn einer
universalen Gleichzeitigkeit, es ist szs. nur "punktuell"
gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft, es ist die Grenze,
der Riß zwischen beiden und ist doch mehr als nur eine Tren-
nungslinie, es enthält in diesem Moment die ganze Weltweite des
Gleichzeitigen. Mein Jetzt kann niemals das Vergangene oder
Künftige eines anderen sein; alles, was ist, ist in einem und
demselben Jetzt versammelt, sei es ein Regenwurm oder ein Gott;
auch das mächtigste Seiende kann kein eigenes Jetzt haben, so
wie es und auch das geringste der Dinge ein eigenes Hier hat. Die
fälschliche Parallelisierung von Hier und Jetzt, die aufkommt
mit der Betonung des Zusammenhangs von Raum und Zeit und
- Seele, hat ihre großartigste Form vielleicht gefunden in Hegels
Dialektik der "sinnlichen Gewißheit", die er als Dialektik von
Hier und Jetzt entwickelt (Ph.d.G.).19 Die Zei t hat von Hause
aus einen engeren Bezug zur Diskretion als zum Kontinuum,
während der Raum primär dem Kontinuum nahesteht. Raum
und auch Zeit zeigen beide Momente, - aber es wäre zu fragen,
ob eben die Doppelnatur je des Raumes und der Zeit aus ihrer
innigen "Vermischung" zum Zeit-Raum begriffen werden muss,
- oder ob der Raum für sich in gleicher Weise kontinuierlich und
diskret ist wie die Zeit. Das sind Fragen, die wir jetzt noch in
keiner Weise erörtern können, aber die wir streifen wollen, an-
deuten wollen, - weil sie in der von Zenon erstmals vollzogenen
Koordinierung von Raum und Zeit frag-würdig sind.
Kann man denn wirklich sagen: wo Raum ist, da ist auch Zeit-
oder: während Zeit ist, derweilen ist auch Raum? Enthält
nicht jedes Nebeneinander schon Gleichzeitigkeit und jede
Gleichzeitigkeit auch ein Nebeneinander, das nah sein kann wie
das Katheder und die Wandtafel oder auch fern wie wir und der
Sirius? Jedenfalls können wir doch sagen, daß Zenon im Zuge
seiner Dialektik zwar mit dem "Parallelismus" von Raum und
Zeit operiert, aber diesen selbst nicht mehr eigens befragt. -
Bei der Paradoxie vom Ruhen des fliegenden Pfeils aber ist
seine Grundvoraussetzung, daß Binnenräumliches und Binnen-
zeitliches nur so im Raum und in der Zeit sein könne, daß es
jeweils nur einen Ort und ein Jetzt besetze; die stillschweigende
Annahme liegt zugrunde, es könne nicht gleichzeitig an zwei
Orten und nicht im selben Ort in zwei Zeiten sein. In dieser
massiven Formulierung ist das sicher richtig, aber Bewegung ist
die seltsame Weise, wo ein Ding im selben Moment an zwei Orten
ist, d.h. im übergang zwischen zwei Orten sich befindet. Die
Dialektik ist in ihrem negativen Resultat aber nur dann unum-
gänglich, wenn dieses "an zwei Orten sein" gedacht wird als ein
Angelangtsein in zwei Orten. Das ist allerdings unmöglich.
Bewegung ist nicht die gleichzeitige Lage eines Dinges an zwei
Plätzen, ist überhaupt kein Liegen, kein Stillstehen, kein Stand.
Zenon gewinnt seiner Paradoxie die zwingende Schärfe dadurch
ab, daß er die Bewegung auflöst in eine Vielzahl von Lagen.
Aber Bewegung bedeutet gar nie, jetzt und jetzt und jetzt in
einer Lage sein, sondern weder jetzt, noch jetzt in einer Lage
ankommen, - erst mit dem Ende der Bewegung gelangt das
Bewegte in eine Lage. Zenon löst dialektisch die Bewegung in
eine unendliche Anzahl von Ruhelagen auf, um so die Bewegung
in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Und wenn er in der 4.
Paradoxie das Gegenverhältnis von Bewegung und Ruhe dialek-
tisch aufhebt, dann sind ihm Ruhe und Bewegung primär Weisen
des Inder Zeitseins, - nicht Momente der Zeit selbst.
Auch das bedeutet eine wesentliche Grenze der zenonischen
Problematik.
gerade ein einiges Ganzes bilden, stehen szs. nicht auf der glei-
chen Ebene, sie konkurrieren nicht miteinander, ihre Kategorien
und Prädikate können nicht in einen Widerspruch geraten, weil
gar kein Feld gleichartiger Gegenständlichkeit beides umfaßt.
Wenn der Unterschied von Unendlichem und Endlichem aufge-
faßt wird als der Unterschied von Welt und den binnenwelt-
lichen Dingen, kann es gar nicht zur Spannung der zenonischen
Paradoxien kommen, weil hier gar keine Dimension der Unver-
träglichkeit besteht. Die unendliche Welt (als Raum, als Zeit,
als Grundbewegung des Erscheinenlassens) steht nicht in einem
unverträglichen Widerspruch mit den einzelnen zeitweiligen
Dingen. Sie ist vielmehr ja das, was den Dingen Raum läßt und
Zeit läßt, sie in ihrer Weite ansiedelt, - das Unendliche umfängt
und durchwirkt das Endliche, lässt es sein. Die Strecke ist im
Weltraum, aber dieser ist durch keine Zusammensetzung von
Strecken ausmessbar, auch nicht durch eine "unendliche"
Aneinanderreihung von Strecken und zwar deshalb, weil er über-
haupt keine "Größe" hat, vielmehr alle Größen in ihm sind. Aber
dieses Insein der Strecken in ihm ist wesenhaft anders als die
Weise, wie eine Teilstrecke in einer größeren Strecke vorkommt.
Jede endliche Strecke ist als solche schon im Unendlichen, ohne
dass damit ein Bezugssystem unendlicher Koordinaten mitge-
setzt ist, - und jede endliche Strecke enthält auf eine seltsame
Weise das Unendliche in sich, d.h. ist unendlich teilbar, was
aber nicht ein gegebenes Moment an ihr bedeutet, sondern den
Widerschein der Welt in jedem Binnenweltlichen. Was damit
gemeint ist, kann jetzt noch nicht zur vollen Verdeutlichung
kommen. Die zenonische Dialektik, die den Gegensatz des End-
lichen und Unendlichen in einer unerhörten Schroffheit entwik-
kelt, bleibt aber damit gerade auf dem Niveau der Endlich-
k e i t e n stehen, weil der Gegensatz gleichsam als ein 0 n t i s ehe r
Gegensatz, gleichsam als ein Gegensatz zwischen Dingen
aufgefasst wird, sofern eben das Endliche und Unendliche
unverträglich scheinen. M.a.W. die spekulative Höhe ver-
hindert es nicht, daß das Denken eine Kategorie des Unterschieds
gebraucht, die einer Sphäre zugehört, welche durch die Speku-
lation überwunden sein sollte. Der Hinweis darauf bedeutet
nicht eine überhebliche Kritik. Es gehört vielleicht zur Endlich-
keit aller Philosophie, - zum Tribut, den sie der Gebrechlichkeit
BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 149
Sein teilhat, kann einmal nicht mehr und früher noch nicht ge-
wesen sein. Aber das Sein selbst ist, es kann nie vorbei und nie zu
Ende sein, es muß ständig stehen, in reiner Gegenwart und
Anwesenheit ruhen; das ist die seltsame Wendung des
eleatischen Denkens, daß es ausschließlich dem SEIEND nach-
denkt, nicht irgendwelchen Dingen, die zeitweilig sein mögen.
Und das ist das unerhört Schwere, Schwernachzuvollziehbare,
daß die Seinsspekulation vom Sein aussagt, daß es "ist", daß sie
sich sozusagen im Kreise dreht. Aber dieses Drehen ist nicht das
Unfruchtbare einer langweiligen Tautologie, es ist die einzig
mögliche Weise, wie an dem in die größte Selbstverständlichkeit
Eingehüllten eine Fragwürdigkeit aufleuchten kann. Das SEIEND,
dieses Merkwürdige, das in allen seienden Dingen irgendwie
anwest und doch nicht mit ihnen erlischt und untergeht, das
wird gerade von den Eleaten begrifflich ausgearbeitet in jener
scheinbaren Tautologie. Wenn immer wieder gesagt wird, daß das
Seiend ist, daß das Seiend seiend ist, dann wird dabei erfahren,
daß es nicht nichtig ist, daß es in keiner Weise nichtig ist, - daß
es nicht entsteht und vergeht, d.h. nicht wird, daß es nicht bloß
scheint, - und endlich daß es eins und einig ist mit dem Den-
ken, nicht als einem Vorgang im Menschen, nicht als einer Bewe-
gung, sondern als einem ruhigen Verweilen. Die ontologische
Auslegung des SEIEND führt zur Unterscheidung der wesent-
lichen Horizonte des Seinsproblems : die wir benennen können
als Bezug von Sein und Nichts, Sein und Werden, Sein und Schein,
Sein und Denken. 21) Diese Bezüge bilden fortan den Grund-
riß der abendländischen Philosophie, anders zwar noch vor
Plato, anders in der durch Platon begründeten Metaphysik. Weil
das N ich ts, das Werden, der Schein in der Ontologie der
Eleaten dem Sein entgegengestellt werden, - weil nur das Den-
ken ihm zugesellt bleibt, muss notwendig die Bewegung als mit
dem Sein unverträglich aufgefaßt werden. Die zenanisehen Para-
doxa haben ihre eigentlich zwingende Schärfe eben im Raume
dieses Seinsbegriffs. Sein ist Stand. Die Ständigkeit seines Standes
bestimmt sich nur negativ aus der Abgrenzung gegen das Werden,
gegen das Nichts, gegen den Schein. D.h. aber, es wird nicht nur
dreifach abgegrenzt, sondern diese Abgrenzung interpretiert
jeweils das Nichts aus dem Werden und Schein, und den
Schein aus dem vVerden und Nichts und das Werden
BINNENWELTLICRE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 151
tet; Raum und Zeit und Bewegung haben eine heimliche Macht
auch dort, wo sie offen verleugnet werden; in den operativen
Begriffen der Seinsphilosophie spielen sie ihr verborgenes Spiel.
Raum, Zeit, Bewegung gelten zwar als die "Felder" für die end-
lich begrenzten, zeitweiligen Dinge, welche das Sein nicht halten
können, die wie flüchtige Wellen auftauchen und verschwinden,-
aber sie selber sind nicht endlich wie die Dinge in ihnen; der
Zeit-Raum der Nichtigkeiten erweckt das Gefühl des "Erhabe-
nen"; in seiner "Unermeßlichkeit" erliegt der Gedanke. "Der
bestirnte Himmel über mir" und "das moralische Gesetz in mir",
das Erhabene in der Form des Äusseren und des Inneren: diese
Inkonsequenz war es, wie wir sahen, die Hegels bissigen Spott
gegen Kant erregte. Es stehen sich da gleichsam zwei "Absoluta"
gegenüber: die intelligible Welt und das unermeßliche Ganze von
Raum und Zeit; und das Denken wird zwischen beiden hin- und
hergerissen, wie Buridans Esel zwischen zwei Heubündeln. Aber
Hegels Spott ist nur insoweit im Recht, als er die Form der
"schlechten Unendlichkeit" bekämpft, die Form der langweiligen
Wiederholung, welche hinter jeder Fernzone immer eine noch
fernere ansetzt. Die Raum- und Zeit-Unendlichkeit ist dabei
nur als "Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung", als
unaufhörliche Repetition binnen weltlicher Erweiterungen gefaßt
- und eben nicht als wahrhafte Unendlichkeit des Welt-Alls. Die
Welt - U nendlichkei t aber ist gerade das Gedankenmotiv,
das als innere Unruhe in aller Ontologie am Werke ist, das unaus-
drücklich ihre Entwürfe stört, zuweilen als Mene-Tekel auch
offenbar wird in den Mitternachtstunden der seinsbegrifflichen
Geschichte.
Das Insein des Seienden in Raum und Zeit wird aufgefaßt als
Vorkommen an einem Ort und in einem Jetztmoment. Das be-
dingt einen eigentümlichen Vorrang der Lage und des Jetzt in der
gesamten Spekulation; denn der Ort und die Präsenz eines Dinges
sind nun die Weisen, wie es "ist", - es jeweils hier-haft und jetzt-
haft ist. In Jetzt und Hier drängt sich gleichsam das ganze Sein
von Zeit und Raum zusammen, es ballt sich. Diese Ballung be-
herrscht weitgehend das metaphysische Verständnis von Raum
und Zeit, - es ist schon vorbereitet in der parmenideischen Be-
stimmung des EON als Kugel, als SPHAIRE. Das binnenräumliche
Moment des Hier und das binnenzeitliche Moment des Jetzt
spreizen sich gleichsam auf, gebärden sich als das allein Wirk-
liche an Raum und Zeit; die Raumganzheit und Zeitganzheit tritt
in das Dunkel eines kaum beachteten Hintergrunds. Und dazu
gehört ferner, daß die Weise der Durchdringung von Raum und
Zeit als Koppelung aufgefasst wird, als ein Parallelgefüge, als ein
Doppeljoch eines gemeinsamen Gespanns. Dieser Parallelismus
bleibt ein unbewältigtes Problem, das die ganze Geschichte der
metaphysischen Raum- und Zeit-Theorien durchzieht. - Der
Vorrang von Hier und Jetzt einerseits und die parallele Koppe-
lung von Zeit und Raum andererseits bewirken den "erhabenen"
Charakter der Unermeßlichkeit, über den Hegelseinen Spott goß.
Mit dieser Unermeßlichkeit wiederum hängt aufs Engste zusam-
men die grundsätzliche Bewegungsauffassung der Ontologie und
Metaphysik, wonach diese eben eine Durchmessung von Raum
und Zeit sei, d.h. aber prinzipiell irgendeine Strecke des zuvor
schon bestehenden Raumes durchlaufen müsse, und ebenso
hinsichtlich der Zeit. Bewegung wird grundsätzlich, weil sie als
Bewegtheit beweglicher Dinge angesetzt wird, aufgefasst als
Bewegung im Raum durch eine Raumstrecke hindurch, wobei
eine parallele Strecke von Zeit verbraucht wird. Die Bewegung
kommt so von vornherein in einen abgeleiteten Aspekt.
ins Erscheinen und hinab ins Verlöschen; das aber sind nicht
zwei getrennte, in einer parallelen Gegenbezüglichkeit zusammen-
gespannte Bewegungen, sondern ist in Wahrheit eine einzige; das
Aufscheinen des Seienden ist schon sein Vergehen; alles, was
leuchtet im Licht, gehört schon dem dunklen Gott des Todes,
aber deshalb nur, weil Hades derselbe ist mit Dionysos; HODOS
ANO KATO MIA KAI HAUTE, "der Weg hinauf und hinab ist
einer und derselbe" gemäß dem Spruche des Heraklit. (Diels,
Frg.60).
genommen wird als ein Ablauf, als ein Ereignis, als eine Begeben-
heit, die je schon in der zuvor fertigen Gefügeform von Raum
und Zeit abrollt? Ist Bewegung Raum-Durchmessung, Zeit-
Durchmessung - oder ursprünglicher: Raum- und Zeitbildung ?
ist aber nicht das "Unglück der Philosophie", nicht das hoff-
nungslos Traurige jenes melancholischen Geschäfts, das schon zu
Sokrates Zeiten die Jünglinge verdorben hat, die "Bodenlosig-
keit" ist vielmehr gerade die Weise, wie "Sein", "Welt", "Wahr-
heit" uns aufgehen, wie sie als das Umfangende erfahren wer-
den, - als die ungeheuren Dimensionen, in denen denkend das
menschliche Dasein schwingt. Platons Unterscheidung zwischen
der bewegenden und der bewegten Bewegung ist eine Unter-
scheidung des Denkens. Das sagt: dieser Unterschied wird nicht
unmittelbar vorgefunden und einfach aufgelesen. Es ist im eigent-
lichen Sinne gar kein "phänomenaler Unterschied". In dieser
platonischen Unterscheidung verbirgt sich eine Problematik,
welche die ganze antike Spekulation in Unruhe hält; das Denken
müht sich, hinter die Bewegtheit des einzelnen, endlichen Seien-
den, d.h. hinter die Bewegtheit der Dinge, zurückzudenken -
und diese ganze Bewegtheit der Dinge in allen ihren Formen aus
einer Grundbewegung her zu verstehen. Das Mühsame und
schwer Durchschaubare der platonisch-aristotelischen Bewe-
gungslehre liegt darin, daß diese Denker im Ausgang von der
Bewegtheit endlicher Dinge auf die ursprünglichere Bewe-
gung, welche die Dinge bedingt, zurückgehen - und so von diesem
Ausgang her die Kategorien mitbringen, die für die Ur-Bewegung
versagen.
selbst in Bewegung zu geraten. Das Ziel steht still- und übt doch
den stillen Zug auf alles, was ihm zustrebt. Man hat diese
"Endursache" des Aristoteles, die "causa finalis" der schola-
stischen Terminologie, viel verspottet, so vor allem im Zeitalter
der Ausbildung der "Nuova scienza", der neuen Wissenschaft der
neuzeitlichen Naturerklärung; Endursachen, teleologische N a-
turdeutung galten als ein "Aberglauben"; als einzig legitime Art
der "Kausalität" wurde die "Ursache" im engeren Sinne, die
"causa efficiens", anerkannt, und diese zunächst auch nur als
in unmittelbarer Nahwirkung wirkend; zögernd nur entschloß
man sich zur Anerkennung von Fernkräften, - und heute ist man
bereit, erneut das Problem der Endursachen zu diskutieren,
zumindest in der Biologie. Das Missliche dieser Situation ist
nur, dass der gängige Gegensatz von causa efficiens und causa
finalis eine populäre Trivialisierung darstellt und nicht mehr
aus dem genuinen Problemverständnis des Aristoteles erwächst.
Der "unbewegte Beweger" des Aristoteles ist das, was dem
platonischen Gedanken der IDEA TOU AGATHOU entspricht, aber
verwandelt wurde im Zuge eines entschiedenen und umfassenden
Durchdenkens der Bewegung überhaupt. Der eigentliche Sinn
dieser aristotelischen Konzeption liegt nicht klar und eindeutig
zutage, er stellt ein schwieriges und dunkles Problem dar; dieses
Problem ist nicht gelöst, je nachdem es gelingt, wirkende End-
ursachen aufzuweisen, die Zielstrebigkeit des Verhaltens der
Lebewesen dokumentarisch zu belegen.
den und des Bewegten ein reiner Unterschied, der zum allge-
meinen Wesen der Bewegung überhaupt gehört, gleichgültig,
um welche besonderen Bewegungen besonderer Dinge es sich
handelt. Es spielte keine Rolle, welchem Bereich, welcher Region
das bewegende und bewegte Ding angehört, ob es ein Stein, ein
Baum, ein Mensch oder eine Maschine ist. \Venn man aber diese
Bereiche mit in Betracht zieht, ergeben sich neue Gesichtspunkte
der Unterscheidung. Von einem Stein sagen wir etwa, er ist
bewegt, wenn er die Berghalde herunterrollt, oder wenn er ver-
witternd auseinanderfällt; zumeist liegt er ruhig an seinem Platz,
erst unter Einwirkung von Kräften, die seine Ruhe stören, gerät
er in Bewegung; er wird von außen in die Bewegtheit hineinge-
stoßen; er kann die Bewegung nicht selbst einleiten, er kann
nicht von sich aus anfangen, zu rollen. Er ist zwar immer ein
Bewegliches, aber erst dann ein Bewegtes, wenn auf ihn äussere
Einwirkungen statthaben, die ihn anstoßen. Anders, sagt man,
ist es doch offenbar bei Pflanze und Tier und Mensch; sicherlich
sind auch hier die Weisen sehr verschieden, aber das Lebendige
überhaupt hat die Kraft, sich in Bewegung zu setzen, "aufzu-
brechen"; die Pflanze wendet sich zur Sonne, ihre Wurzeln
suchen den feuchten Grund; sie wird nicht nur von außen bewegt,
vom Wind gebeugt, vom Regen benetzt, sie bewegt sich aus
einem inneren Lebensprinzip heraus, sucht die günstigen Bedin-
gungen ihres Wachstums, ihrer Entfaltung; sie bewegt sich; in
einer anderen und gesteigerten Art bewegt sich das Tier, es sucht
die Beute, den Geschlechtspartner, es flieht den Feind; und wieder
anders und doch in gewisser Weise analog wie alle anderen
Lebewesen bewegt sich der Mensch; er hat die Lebensbewegun-
gen der vegetativen Vorgänge, der animalischen Dränge und
Triebe - und darüber noch die willentlichen; er hat die Freude
und Qual der Wahl, er kann jenes lassen, dieses tun, kann sich
in Bewegung setzen, kann stillstehen ; er kann aus eigenen
souveränen Willensimpulsen Bewegungen in Gang setzen, neu
anfangen - oder anhalten. Weil er aber nicht nur seinen Körper
willentlich durchwaltet, sondern mit diesem leiblichen Walten
mit eingreift in die Bewegtheit der Dinge, beeinflußt er die Be-
wegungen, die bereits schon im Lauf sind, oder eröffnet neue
Ketten und Folgen von Ereignissen. Aus dem Bezirk des Leben-
digen also strömen neue Bewegungsimpulse in die schon ablau-
176 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG
Aber was kann denn das heissen? Ist das nicht ein leeres
übertrumpfen der Phänomene, das sich Platon leistet? Keines-
wegs, er versucht in eine POIESIS, in ein TUN, in eine ursprüng-
liche Aktion zurückzudenken, die eben überhaupt kein Phäno-
men ist, sondern vielleicht der Ursprung aller Phänomene.
Die bewegende Bewegung, die er sucht, liegt nirgends vor, sie
kann nicht vor Augen gestellt werden, gleichsam als Urbild
eigentlichen Tuns und eigentlicher POIESIS, an der gemessen die
sonstige, uns bekannte Weise des Hervorbringens auf eine niedere-
re Stufe herabsänke. Platon nennt zwar wohl die bewegende
Bewegung den NOUS. NOUS, die Vernunft aber ist doch zunächst
einmal ein Vermögen des Menschen; das menschliche NOEIN,
von dem Platon wirklich groß denkt, ist ihm aber nur die kleine
Vernunft, der Widerschein des großen Seinslichtes, das die Welt,
das Seiende im Ganzen erhellt und durchmachtet. Aber auch
der NOUS als Herr der Welt ist nicht eine vorhandene Ausstattung
des Kosmos; obgleich er regiert und allen Wandel beherrscht,
geht sein Wesen in diesem Regentenamt und dieser Herrschaft
nicht auf: er ist ursprünglicher der DEMIURG, der Einrichter und
Ordner des Seienden im ganzen und aller dort umlaufenden
Bewegungen. Er bewegt nicht wie ein Bewegendes ein anderes
bewegt innerhalb eines schon im Gang befindlichen Weltlaufes, -
er bewegt als der In-Gang-Setzer des Weltlaufs selbst. Solches
Bewegen aber lässt sich am Leitbild der Bewegungen der end-
lichen Dinge überhaupt nicht angemessen fassen und aussprechen.
178 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG
für Platon die TECHNE. Er nimmt aber dabei die TECHNE nicht
auf in ihrem phänomenalen Sinne, nicht mit dem Sinngehalt,
den sie für das gängige Verständnis hat; er verwandelt den
TEcHNE-Begriff und bildet ihn zu einem spekulativen Begriff um.
In der naiven Vorstellung ist alle TECHNE nur eine geringfügige
Umformung auf dem Boden der schon bestehenden Natur, - ist
angewiesen auf ein bereits vorgegebenes, für die Umformung zur
Verfügung stehendes Material; das technische Herstellen sinkt im
Vergleich zu dem, was von Natur aus ist, in völlige Bedeutungs-
losigkeit zusammen. Platon dreht dieses Verhältnis gänzlich um.
Das aber ist nur möglich dadurch, daß er den Begriff der Techne
radikalisiert, ihn nicht mehr als ein abgeleitetes und fundiertes
Hervorbringen auffaßt, wie wir es gewöhnlich mit gutem Rechte
tun, sondern als ein ursprüngliches Hervorbringen inter-
pretiert.
Mensch zieht einen nicht kleinen Stolz aus dieser seiner Herr-
schaft, er fühlt sich "gottähnlich". Die gigantische Technik unse-
rer Tage baut Wohnmaschinen mit höchstem Komfort, schlägt
Brücken über die breitesten Ströme, organisiert das Gesundheit-
wesen, die Wohlfahrt, das allgemeine Glück, aber erfindet auch
gleichzeitig die Vernichtungsmittel, wie der Hygiene, der allzu
großen Bevölkerungsvermehrung, dem Übermut des technisier-
ten Massendaseins wieder abzuhelfen ist. Unser "Technisches
Jahrhundert", das den Promethiden als den Herrn der Erde pro-
klamiert, atmet im Rhythmus von Zuständen üppiger Wohlfahrt
und nackter Not, - Frieden und Krieg sind jeweils gekonnte
technische Leistungen. Aber wir bauen keine Kathedralen mehr,-
wir sind profan geworden. Die Profanität unseres Daseins aber
ist nicht nur durch die Entgötterung bestimmt, - sie ist nur der
deutlichste Zug; andere Züge sind die Ohnmacht der Eliten, die
Vermassung, die Hypertrophie der Lebensapparatur. All das
aber gründet letztlich in der Seinsverlassenheit des neuzeitlichen
Menschen, der sich auf sich selbst stellte. Zur unbedingt
gewordenen Selbständigkeit solchen Menschentums gehört
wesentlich mit die Um-Interpretation der TECHNE. TECHNE ist
uns TECHNIK, d.h. primär Verfertigung, "Machen"; das techni-
sche Werk ist Mach-Werk des Menschen - nichts weiter.
es gibt nicht Töpfe, weil Töpfer sind, sondern es kann nur Töpfer
geben, weil Töpfe möglich sind, weil die Dimension vorherbesteht,
in die hinein faktisches Werken hervor-bringt. Es ist ein schwieri-
ges, und wohl bis heute nicht ernstlich in Angr,iff genommenes
Problem, welcher Art die Möglichkeit des der Idee nach vorbeste-
henden, aber faktisch noch nicht verwirklichten Seienden aus
TECHNE ist; die Möglichkeits-Spekulation bewegt sich zumeist im
Gegensatz zwischen Vorhandenheit und Freiheit und anders wie-
der zwischen Seinsmöglichkeit und Denkmöglichkeit. In jener
Form der modernen Logik, die durch eine Mathematisierung der
logischen Probleme entstanden ist, in der Logistik spielt der
Modalitäten-Calcul eine große Rolle, - es ist fast die einzige Stelle
noch, wo heute ernsthaft am Problem der Möglichkeit gearbeitet
wird. Aber letztlich ist die Möglichkeit nicht ein logisches, son-
dern ein zentrales ontologisches Problem. In diesen Zusammen-
hang gehört eine philosophische Erörterung der TECHNE. Das ist
nur als Hinweis gesagt, dem wir hier nicht nachgehen können.
wenn Ordnung schon vom Licht her gedacht ist, als die geprägte
Gestalt oder als die geregelte Bewegung (etwa des Umschwungs
der Gestirne). Auch Platon nennt die CHORA den Bereich der
Notwendigkeit, aber das Notwendige ist ihm noch das Weltlose,
das A-Kosmische, das der Gestaltung zur Welt, zum Kosmos,
bedarf; es ist ihm nicht eine ebenbürtige Dimension der Welt,
sondern eher eine Vorstufe; die CHORA hat (nach Platon) kein
Gesicht, kein Aussehen, es ist das Gestaltlose, das - wie das
Wachs die Figuren des Prägestempels - alle Prägungen nur auf-
nimmt, an sich geschehen läßt, allen EIDE den Platz gewährt,
wo und woran sie ihr prägendes Tun vollführen können; diese
Ur-Materie der Welt ist das absolut Leidende, es ist das Welt-
Weib, die Große Mutter, die "ERDE". Platons Begriff der TECHNE
(im spekulativen Sinne) meint nicht Umformung eines je schon na-
turhaft Geformten, sondern ist Formung des an sich Formlosen;
und ferner ist sie nicht nur vereinzelte Formung, sondern grund-
sätzlich Formung des Ganzen, Welt-Ordnung, DIAKOSMESIS. Als
solches Welt-Ordnen, als TECHNE des Demiurgen, ist der ordnende
NOUS bewegende Bewegung. Das bedeutet: die eigentliche Be-
wegung spielt sich gar nicht ab im Felde der schon eingerichteten
Welt; die in ihr ablaufenden Bewegungen sind insgesamt abkünf-
tig, sind alle im ganzen "bewegt", sind bewegt durch jene Ur-Be-
wegung, welche das Weltganze einrichtet bzw. immer schon ein-
gerichtet hat; deswegen kann die bewegende Bewegung auch gar
nie als ein einzelnes, bestimmtes Phänomen erscheienen, weil sie
der Grund alles Erscheinens ist. Das Erscheinen-Lassende kann
nicht selbst als ein einzelnes Phänomen begegnen. Es ist nicht
nur ein Gleichnis, es ist ein SYMBOL, ein echtes Zusammenfallen,
wenn Platon immer wieder das demiurgische AGATHON, das welt-
erhaltende "Gute", diese höchste Idee der Ideen gleichnishaft als
Helios, als Sonne anspricht, als lichtende Macht, die erscheinen
lässt. Wir sehen im Licht der Sonne, aber vermögen die Sonne
selbst nicht dir e k t anzuschauen; sie sticht uns die Augen aus.
Die Sonne aber ist nicht allein jener glühende Ball, sie ist auch
die allumfangende Helle des Tags. In der offenen Weite der
Tageshelle, die von keinem Dunkel umrandet wird, sind die an-
blickshaft geprägten Dinge versammelt und leuchten auf in der
Bestimmtheit ihres abgegrenzten Gesichts. Wenn die Sonne
kommt, wenn der strahlende Gott aufsteigt am Horizont, weicht
TECHNE UND TECHNIK 189
die alles-verhüllende Nacht und die Dinge rücken ein in das Feste
und Verlässliche ihres endlichen Umrisses, - dann schwindet der
Spuk der Nacht, wo die Grenzen aufgehoben scheinen und alles
eins ist; die Helle aber ist nicht bloß ein verharrendes Leuchten
und Scheinen, sondern ein Wandel, eine Bewegung; die Bewegung
der Sonne mißt den Tag und die Stunden, sie misst in größerer
Art die Jahreszeiten, die Jahre der Menschen und Völker. Das
Licht hat einen tiefen Bezug zur Bewegung. Das eigentliche Welt-
Licht ist für Platon der NOUS, und er gerade ist die bewegende
Bewegung. Die CHORA, die chaotische Urmaterie ist das ur-
sprünglichste Unbewegte, Verharrende, Insichbleibende, Auf-
sichberuhende, das Bewegungen an ihm zuläßt und den Schlag
der Prägungen hinnimmt; die CHORA ist das leidend-duldende
Weltprinzip, wie anderseits das Licht, das Ideenhafte, das ur-
sprünglichste Tun ist. Tun und Leiden, die wir zunächst als
strukturelle Momente der bestimmten Bewegung von einzelnen
Seienden aufgefasst haben, zeigen sich, im Zuge der spekulativen
Durchdenkung der endlichen Bewegung und d.i. ihrer Aufhebung
als Ur-Momente der Welt, als die bewegende Bewegung des lich-
tenden NOUS - und als das Unbewegte der CHORA; was man ge-
meinhin eben "Bewegung" nennt, ist die Seinsverfassung der
endlichen Dinge, die Zwischen-Dinge sind zwischen NOUS und
CHORA, Mischungen aus dem fügend-Begrenzenden des EIDOS
und dem ungefügen Formlosen der ungestalten "Materie", - oder
in der bestimmten Terminologie des platonischen "Philebos"
gesprochen: Mischungen aus PERAS und APEIRON. Der Denkblick
Platons aber ruht mehr auf dem aktiven Weltprinzip als auf dem
leidenden, - mehr auf dem Licht als auf der Nacht; das ist keine
individuelle Entscheidung, die als weltanschauliche Option nicht
mehr weiter zu diskutieren und als das Recht des Denkers auf
einen eigenen Standpunkt nur hinzunehmen wäre, - hier handelt
es sich um eine Grundentscheidung der abendländischen
Philosophie, welche die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmt
hat.
Unser Hinblick auf Platon war flüchtig, und dabei doch ge-
leitet von der Absicht, bei Platon die Vorbereitung der Hin-
sichten zu verfolgen, unter die dann bei Aristoteles das Bewe-
192 TECHNE UND TECHNIK
Was aber Aristoteles von Platon trennt, ist der ganz andere
Stil seiner Spekulation, - sie sieht aus wie eine schlichte Befra-
gung der Phänomene.
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM
AUSGANG BEIM INNERWELTLICH SEIENDEN
ONTOLOGISCHE GENEALOGIE DER
ENDLICHEN DINGE
sind nicht das, worauf sie hinauswollen; sie sind bei uns, weil wir
selber wie sie alle von der gleichen Grundbewegung des Aufgangs
mitgerissen sind; sie sind nicht mehr bei uns als wir bei ihnen;
das Erscheinen ist nicht Ankunft der Dinge beim vorstellenden
Menschen, der nun ihrer gewärtig wird, es ist vielmehr die An-
kunft aller Dinge, den vorstellenden Menschen eingeschlossen,
in der gefügten Ordnung des Ganzen, in welchem alles sich ver-
sammelt. Das Erscheinen aber ist nicht etwas, was den Dingen
gleichsam noch von außen zustieße, so als ob sie sein könnten,
ohne zu erscheinen; erscheinen ist vielmehr gerade die Weise,
wie sie ins "Sein" gelangen. Das Sichzeigen gehört als wesent-
liches Moment zum Sein des Seienden. Das Phänomen, bei dem
Aristoteles immer ansetzt, und was allzu oft als eine Art von
Empirismus und Positivismus gedeutet wird, das "Phänomen"
ist selbst schon ein spekulativ gedachter Begriff. Es bedeutet
also gar nicht eine vor-philosophische Dimension. Es handelt
sich auch nicht darum, der Spekulation eine Sphäre vorzuord-
nen, wo der Denkende sich rein aufnehmend zu verhalten habe
und an der Eigenständigkeit der Phänomene zunächst einmal die
Grenze seines eventuell allzu subjektiven Denkens erfahre. Für
Aristoteles kombiniert sich die philosophische Arbeit nicht aus
einer naiven Beschreibung eines schlicht vorhandenen "Befun-
des" und einer denkerischen Ausdeutung desselben. Das Seiende,
das sich erscheinend zeigt und dabei immer schon in einer
sprachlichen Ausgelegtheit vorgegeben ist, bildet für Aristoteles
den Ausgang seiner Spekulation. Er bleibt also bei ihm nicht
stehen, er verweilt nicht in einer endlosen Deskription, welche
langweilig immer wieder weitersagt, was man schon weiß und
kennt. Aber er springt auch nicht einfach nur ab vom Phänomen.
Sondern er sucht das Phänomen zu verstehen im Rückgang auf
die Gründe und Ursachen, aus denen her es ist, was es ist.
das Seiende ist dabei verstanden als solches, das begrenzt d.h.
das endlich ist; alles Endliche gründet im Unendlichen; das aber
nicht in dem leeren Sinne, wie wir gewöhnlich umgehen mit
diesen allgemeinen Begriffen, sondern in der bestimmten, wenn
auch schwer zu denkenden Weise, wie die endlichen Dinge
insgesamt im Weltall gründen. Die jonische Physik versucht
in immer neuen Anläufen, das Ganze zu denken als das Ur-
Element des Wassers, der Luft, des Feuers. Das Ur-Element ist
gleichsam der Mutterschoß aller Dinge; es wird an ihm selbst gar
nicht gesehen, weil es selber nicht erscheint, weil es sich mit den
aus ihm hervorgegangenen Elementen und Dingen verdeckt. So
ist nicht das phänomenale Wasser oder Feuer, das als solches
unterschieden von den übrigen Elementen ist und einen eigenen
Anblick hat, gemeint, sondern eben ein Urelement, das im
Kreislauf der offenbaren, der erscheinenden Elemente sich ver-
birgt.
Aber es wäre zu kurz gefaßt, wollte man darin nur eine Ord-
nung des Erkenntnisweges sehen; Aristoteles faßt das Wesen des
Grundes, des Anfangs, der ARCHE als eine Dreifalt : ARCHE ist das
Erste, von woher etwas ist oder wird, oder erkannt wird. Im
Wesen der ARCHE verklammert sich Sein- W erden-Lich tung
des Seienden. Man sagt oft, daß Aristoteles die innere Einheit
seines zentralen Begriffs der Arche nicht ausdrücklich entwickelt
habe, daß er die Dreiheit von Seinsgrund, Werdensgrund, Er-
kenntnisgrund neben einander stelle und andererseits dort, wo
er die Gründe inhaltlich bestimme, eine Vierteilung gebrauche,
ohne den Zusammenhang dieser beiden Einteilungsprinzipien aus-
drücklich klarzulegen. Das ist nur beschränkt richtig. In Wahr-
heit operiert Aristoteles mit den bei den Schemata so, daß ihre
Einheit aus der Struktur des Seinsproblems deutlich wird, welches
immer sich als eine Verklammerung von Sein und Werden und
Schein und Wahrheit erweist. Die prinzipielle Genealogie
202 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM
ding ist schon geformt, sofern es erscheint und sich zeigt. Und
das bedeutet ferner, dass auch der Zweck, das Worumwillen,
nicht in seiner Vorgängigkeit einfach offenkundig ist, sondern im
Ding selbst liegt: das Ding, so wie es ist, ist schon der realisierte
Zweck; er steht nicht noch aus; und ebenso ist schließlich die
bewirkende Ursache, die das Seiende (als Naturding) hervor-
bringt und seinläßt, gar nicht in ihrem Wirken und Tun zu Ge-
sicht zu bringen: sie muss schon ihr Werk getan haben, wenn das
bewirkte Seiende ist, d.h. angekommen ist in einem Erschei-
nen. Nicht also nur die PROTE HYLE, die "materia prima" ist
nicht gegeben, sondern auch die anderen bedingenden Gründe
des Dings erscheinen nicht selbst, weder das Worumwillen, noch
das EIDOS, noch der Anfang der Bewegung. Es erscheint vielmehr
das Ding selbst, das durch das Zusammenwirken der vier Seins-
gründe als deren Gewirk hervorkommt ins Feld des Sichzeigens.
Das Zurückdenken vom erscheinenden Seienden in die bedingen-
den Gründe ist spekulativ.
Figur, seine Gestalt, etwa ein Blatt; die Figur des Blattes ist
keine bloß geometrische Gestalt, sie ist materiell erfüllte Gestalt;
das Blatt hat seinen Raum, seine Raumgestalt ; diese ihm eigene
Raumgestalt aber müssen wir doch unterscheiden von dem Orte,
wo das Blatt jeweils ist, - wir müssen unterscheiden den Ding-
raum, den figuralen Eigenraum, und den Raum, den es zu Zeiten
einnimmt, den Ortsraum.
Wenn jedes Ding im Ort ist, dann ist anscheinend der Ort das
Ursprünglichste von allem; denn kein Ding scheint bestehen zu
können ohne ihn, wohl aber er ohne Dinge, was wir doch meinen,
wenn wir gewöhnlich etwa vom Leeren sprechen und es, wie
Aristoteles sagt, auffassen als einen von Körpern entblößten Ort.
Aber gegen diesen sich andrängenden Gedanken von der Vor-
gängigkeit des Orts vor allen Dingen, die ja je in einem Ort sein
müssen, macht nun Aristoteles Einwürfe, die zeigen sollen, daß
der Ort nichts Eigenständiges sein kann. Der Denker reisst hier
gleichsam mit größer Anstrengung das Steuer herum und zwingt
die Fahrt in eine andere Richtung, Vielleicht wäre er nahe daran
gewesen, den entscheidenden Übergang vom Ortsraum zum
Weltraum und damit zum ursprünglichsten Wesen des Raumes
zu vollziehen. Die Art der nun entwickelten Aporien zeigt mehr
als deutlich, daß Aristoteles immer wieder den denkerischen
Ansatz beim innerweltlich Seienden aufnimmt, - dass er zurück-
214 ARCHE UND DING
diesem bestimmten Orte bist, welcher nichts weiter als bloss dich
umfaßt."
Der Ort gewinnt seine erste, wenn auch noch nicht vollständige
Bestimmung: TOPOS ist "TO PROTON PERIECHON TON SOMATON
HEKASTON, das erste Umfassende, das jegliches der Körperdinge
umgreift" - und also PERAS, Grenze ist. Als umgrenzende
Grenze aber scheint damit der Ort etwas Ähnliches zu sein wie
das Eidos, das ja auch ein Ding anblickshaft umgrenzt, ihm den
Umriß, die Gestalt gibt. Andererseits aber hat es den Anschein,
weil der Ort ja eine Größe hat, eine Ausdehnung, ein DIASTEMA,
daß er etwas Zugrundeliegendes sei, eine Art von HYLE. Aber er
kann nicht EIDOS und nicht HYLE sein, weil überhaupt Eidos und
HYLE nicht abtrennbar sind von dem Seienden, das sie zusammen
bilden. Der Raum, der Ort, aber ist, wie doch der Platztausch
zeigt, vom Ding abtrennbar. Der Ort umfasst das Ding, wie ein
Gefäß, wie der Krug das Wasser. Der Krug umfaßt das Wasser,
umgrenzt es, grenzt es ein, aber er ist nicht die Gestalt des Was-
sers selbst, - er ist trennbar von seinem Inhalt; er ist nicht die
eigene und eigentümliche Form, nicht das EIDOS des Wassers.
Die Leitvorstellung vom Gefäß, das in seinem Fassen
etwas umfaßt und doch nicht mit dem Umfaßten zusammenfällt,
wird für die Raumauslegung des Aristoteles schlechthin zentral.
Zunächst aber ist sie nur beiläufig herangezogen. Sofern der Ort
abtrennbar ist von dem Ding im Ort, wie der Krug vom Wasser,
ist er nicht EIDOS, - und sofern er umfängt, umfangend eingrenzt,
wieder wie der Krug das Wasser eingrenzt, ist der Ort nicht HYLE.
Der TOPOS kann auch schon deswegen weder HYLE noch EIDOS
sein, weil- wenn er so etwas wäre - er sich ja mitbewegen müßte
mit dem Ding; und das hieße, daß es einen Ort des Ortes geben
müsse, einen Ort also, worin Orte Platztausch machten, und so
fort in infinitum. Mit dem Argument vom Widersinn eines
unendlichen Regresses operiert Aristoteles an vielen entscheiden-
den Stellen seiner Philosophie, z.B. gegen die platonische Ideen-
lehre. Aber es wäre vielleicht einmal aufschlußreich, die innere
Voraussetzung seines Arguments zu prüfen - und darauf hinzu-
weisen, wie sehr dieses Argument durch den prinzipiellen aris-
totelischen Ansatz beim innerweltlichen Ding bestimmt ist
und in seiner Schlagkraft davon letztlich abhängt. Daß Aristo-
216 ARCHE UND DING
Der Ort "ist", aber ist nicht etwas Selbständiges wie ein Ding
und auch nicht wie eine der vier" Ursachen" eines Dinges, - er
ist also auf eine rätselhafte und ganz unglaubliche Weise; die
Dinge sind "in ihm", und zwar so, daß sie als ein anderes in einem
anderen sind, nicht wie ein Ding in einem Ding, sondern in einer
gänzlich anderen Art und Weise. Dieses Rätsel motiviert nun
eine Besinnung auf das Insein überhaupt. Es wird erörtert,
"in wievielen Bedeutungen gesagt werde, daß etwas in einem
anderen sei", "POSACHOS ALLO EN ALLO LEGETAI". Aristoteles
unterscheidet acht Weisen von Insein: die Weise, wie ein Teil in
einem Ganzen ist, wie ein Ganzes in seinen Teilen ist, - wie der
Mensch im Lebewesen d.h. wie eine Art in einer Gattung, wie
eine Gattung in einer Art, - ferner wie Form im Stoffe, dann wie
das erste Bewegende im Bewegten, wie das Seiende im Endzweck,
- und endlich wie etwas in einem Gefäße, ja überhaupt in einem
Orte ist. Die aristotelische Wesensbestimmung von TOPOS voll-
zieht sich unter der Leitung eines binnenräumlichen Verhältnisses
von Umfassen am Leitmodell des Gefäßes. Dabei ist es nicht so,
daß Aristoteles einfach den Ort als ein Gefäß auffaßt, - daß er
das Gefäß-sein nicht weiter diskutiert; im Gegenteil, er exponiert
aus dem Wesen von TOPOS die Natur von "Gefäß" und umgekehrt
aus der Natur des Gefäßes die Natur des Orts. Das scheint ein
circulus vitiosus zu sein, - aber nur für den, welcher die "meta-
phorische" Natur der philosophischen Modellvorstellungen
nicht begreift. Zwischen Ort und Gefäß, zwischen TOPOS und
AGGEION waltet eine eigentümliche Entsprechung. Zwar ist das
Gefäß, der Krug ein Ding, er enthält auf dingliche Weise andere
Dinge, z.B. Wasser oder Wein; er ist ein Hohlraum, worin sich
ein anderes einräumen lässt. Der Krug bietet Raum für irgend-
ARCHE UND DING 217
eines Einzeldinges und Ort als Gesamtort aller Dinge muss jetzt
schärfer in den Blick genommen werden. Der Krug umwandet
das Wasser, er ist gleichsam die einbehaltende äussere Grenze,
die die Eigengrenze des Wassers umgreift; aber der Krug steht
auf dem Tisch, Tisch und Luft umwanden wieder den Krug, und
Erde und Himmel umwanden als Äusserstes alle Dinge, die
zwischen ihnen das Auf und Ab ihrer natürlichen und gelegent-
lich gewaltsamen Bewegungen haben. Obwohl Aristoteles
zunächst vom PROTOS TOPOS, vom Ort des Einzeldinges ausgeht,
vollendet er seine Wesensbestimmung des Orts doch erst im
Hinblick auf den KOINOS TOPOS, auf den Gesamtort. Das Frag-
würdige dabei aber ist, daß das Gesamt, das PAN, grundsätzlich
in den Aspekt eines Dinges einrückt, allerdings eines ungeheu-
ren und einzigen, und so von den Dingen im Ganzen verschieden
ist. Das Wesen des Orts ist dann bestimmt als die "äußerste und
den bewegbaren Körper berührende ruhende Grenze des Himmel-
gebäudes" . TOPOS ist nicht das Himmelsgebäude selbst, er ist
gleichsam die Außenschale der Weltkugel, das Weltgefäß,
welches ruht, während in ihm die Gestirne ziehen, die Jahres-
zeiten kommen und gehen, Ebbe und Flut der Lebensströme
wogen, die Völker eintreten in den Tag der Geschichte, Reiche und
Kulturen verlöschen, jedes Vergängliche seine Weile hat, solange
die Parze ihm den Lebensfaden spinnt. Aristoteles vergisst nicht,
wie man vielleicht meinen könnte, zu fragen, ob denn hin ter
jener Aussensehaie nicht wiederum Raum sei; er weist eine solche
Fragestellung ausführlich ab in der Durchdenkung des Begriffs
des Leeren, des KENON, was sich unmittelbar an seine Raum-
Lehre anschließt. Raum als Ort verstanden aber ist Gefäß für
Bewegtes und Bewegliches, ist unbewegtes Gefäß für bewegte
Dinge. Topos ist also für ihn nur etwas im Bezug auf Dinge.
Er ist zwar nicht etwas an Dingen, aber ist nicht ohne sie. Der
Raum als Weltgefäß für Dinge, genauer als unbewegtes Gefäß,
gleichsam als der große Mischkrug, in welchem der Wein des
Lebens gärt, ist für Aristoteles letztlich die äusserste allumspan-
nende Grenze des Himmels; der Himmel gewinnt einen unbe-
dingten Vorrang. Wie die Bewegungen am Himmelsgewölbe alle
irdischen Bewegungen übertreffen, wie der Gang der himmlischen
Feuer Tag und Nacht bewirkt, den Wandel der Jahreszeiten,
üppigkeit und Kargheit der Fluren, wie sie die Wetter senden,
ARCHE UND DING 219
Und das Gleiche gilt von der Zeit. Zeit ist der Titel eines zen-
tralen Problems der Philosophie. Keineswegs wird nun die Zeit
hier nach dem vollen Umfang ihrer Problematik zum Thema.
Vielmehr führt ebenso wie beim Raum eine ganz bestimmte Hin-
222 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK
sicht des Fragens. Im Blick steht die PHYSIS, die Natur; was Natur
ist, wird primär erfragt im Ausgang von den PHYSEI ONTA; diese
sind solches Seiendes, das durch Bewegtheit und Ruhe bestimmt
ist; Bewegung aber wird letztlich bei Aristoteles verstanden von
HYLE, EIDOS, TOPOS und CHRONOS aus. Ort und Zeit erfahren eine
Interpretation aus dem Horizont des Bewegungsproblems. Und
dieses wird als Rätsel erfahren aus der Spannung von Sein
und Bewegtsein heraus. Wie ist Bewegung und wie kann
Seiendes in Bewegung sein?
Das tritt deutlich auch heraus mit der These, daß das Vorgän-
gige und Nachgängige (TO PROTERON, TO HYSTERON) in der Größe
vorkommt, dort sozusagen heimisch ist. Man übersetzt gewöhn-
lich diese Termini mit: "das Früher und Später": das hat das
Missliche, dass diese Ausdrücke damit gleich schon einen tempo-
ralen Sinn bekommen, den sie bei Aristoteles von Hause aus noch
nicht haben. TO PROTERON ist das, was einem Anfang näher liegt,
TO HYSTERON, was einem Anfang ferner liegt, was weiter ab liegt.
Das Fundament eines Hauses ist anfänglicher als das Dach.
Für Aristoteles kommt das "Früher" und "Später" in die Zeit im
Zuge des genannten Fundierungszusammenhangs. Weil die Größe
das Früher und Später hat, hat es auch die Bewegung, und weil
diese es hat, hat es auch die Zeit. Ausdrücklich sagt Aristoteles,
daß das zeitliche Früher und Später und dasjenige der Bewegung
ein Analogon des raumhaften, größe-haften sei. Das Erkennen
von Zeit aber erfolgt durch ein Abgrenzen des Früher und des
Später, d.h. durch ein Unterscheiden, welches jenes auseinander-
hält. Unsere Seele spricht zwei J etzte aus; in ihrem Zwischenraum,
besser in ihrer Zwischenzeit ist die Weile ausgebreitet. Solange
wir nur ein Jetzt gewahren, ist keine Zeitwahrnehmung; erst
wenn zwei verschiedene Jetzte auseinandergehalten werden, ist
die dazwischenliegende Zeit-Strecke erfahren. Damit gelangt
Aristoteles zu seiner berühmten Definition der Zeit: als ARITH-
MOS KINESEOS KATA TO PROTERON KAI HYSTERON, als Anzahl der
Bewegung nach dem Früher und Später.
Er will eine Formel, die für jegliche Zeit gilt, für die begrenzte
Zeitweile etwa irgend eines Bewegungsvorgangs, als auch für
die Weilen, die durch die großen kyklischen Bewegungen am
Himmel abgegrenzt werden: die Jahre und Monde und Tage.
Formell kann man bislang nur sagen: gezählt werden die ver-
schiedenen Jetzte einer Bewegung. Aber in welchem Sinne ist die
Zeit ARITHMOS TIS, eine Art von Zahl? Aristoteles unterscheidet
ein Doppeltes, Zahl als ARITHMOUMENON, als gezählte Zahl, und
als jene, womit wir zählen, etwa wie beim Maß unterschieden
werden kann das Maß als das Gemessene und als das Messende.
Zeit ist die gemessene Anzahl der Bewegung nach dem Früher
und Später. Die Bewegung, die KINESIS ist, sagt Aristoteles,
immer wieder eine andere, ALLE KAI ALLE, - und damit ist auch
die Zeit, der Bewegung nachfolgend, immer wieder eine andere.
Andererseits gibt es nicht viele Arten von Zeiten, sondern sie ist
eine vielfache und immer wieder eine andere, gerade sofern alle
vielen Zeiten in der einen sind. "Die ganze Zeit ist eine und
dieselbe". An diesem Doppelcharakter der Zeit, einerseits die
eine, andererseits immer wieder eine andere zu sein, nimmt in
ausgezeichneter Weise gerade das NYN, das Jetzt teil. Diese
zweideutige Natur des Jetzt aber ist bedeutsam, weil es doch
"gezählt" werden soll. Aristoteles gebraucht in diesem Zusam-
menhang eine Unterscheidung subtiler Art: die von HOPOTE ON
und OUSIA, die wir, um die Darstellung nicht noch mehr zu ver-
schwierigen, beiseite lassen; andeutungsweise kann gesagt
werden, daß das HOPOTE ON, "das, was jeweils ist", den Charak-
ter des Jeweiligen in einer Art von "Allgemeinheit" hat,
die OUSIA aber das bestimmte Sein eines einmalig Bestimmten
meint. Das Jetzt, das NYN, ist als jeweils immer Gegebenes
"dasselbe"; immer ist jetzt und jetzt und jetzt; als das bestimm-
te Jetzt aber ist es je ein anderes. Im Deutschen wie im Griechi-
schen liegt aber in dem "Jeweiligen", dem HOPOTE ON, schon
ein Zeitmoment im Wort. Hier müsste eine eindringende Inter-
pretationsanalyse einsetzen, die hier nicht durchgeführt werden
kann.
Das in der Zeit Seiende, in ihr Weilende, von ihr als Zahl
Durchherrschte ist aber, sagt Aristoteles, nicht nur in der Zeit
wie in einem gleichgültigen Medium, im Gegenteil: alles wird von
ihr mitgenommen, erleidet von ihr eine Einwirkung, verfällt
ihrem nagenden Zahn; das InderZeitseiende "altert", welkt,
siecht dahin. "Denn mehr Ursache des Vergehens ist die Zeit an
ihr selbst". Sie ist gleichsam das Korrumpierende, die vernich-
tende, auflösende, aufreibende "Macht des Negativen" (um mit
Hegel zu sprechen). Alles, was in der Zeit ist, ist korruptibel. Das
Unbewegte, Bewegungsfreie, das Immer-Seiende, das von der
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 231
Nehmen wir einen einfachen Fall. Ein Blatt verfärbt sich; aus
sattem Grün wird flammendes Rot und schließlich stumpfes Braun.
Aus etwas wird ein anderes, aus Grün wird Rot aus Rot, wird
Braun. Wir haben einen eigentümlichen Umschlag, eine METABO-
LE. Was heisst es aber: aus Grün wird Rot? Das Grün wird ja
gar nicht, es erlischt, verschwindet; und das Rot, wird nicht am
Grün, sondern wird dort, wo das Grün war, es entsteht. Wo eins
verschwindet, entsteht das andere. Aber Grün und Rot lösen
sich doch nicht ab wie zwei Wachtposten, sondern das Grün
vergeht in das Rot. Das, von dem wir sagen, es wird zu etwas
anderem, bleibt nicht im Werden, hier ereignet sich ein Umschlag,
der eben ein Vergehen des einen und ein Entstehen des anderen ist.
Grün und Rot aber sind nichts Eigenständiges, sie sind Farben
an einem Blatt. Wenn wir das Rotwerden vom Blatt aussagen,
dann sehen wir, daß es blei bt im umschlagenden Wechsel seiner
beiden Farben, - ja dass es bleiben muss, um überhaupt den
Umschlag zu ermöglichen. In der Bewegung der Veränderung
also müssen wir unterscheiden das Zugrundebleibende (TO
HYPOMENON), also das, was sich verändert und durchhält im
Wechsel, und dann seine Bestimmungen, die ineinander um-
schlagen. Terminologisch können wir den Unterschied ausdrük-
ken als Veränderung und Änderung. Das Grün ändert sich in
Rot; in der Änderung geht das zugrunde ,von dem wir sie aus-
sagen, in der Veränderung muss das Sichverändernde gerade
bleiben, es muss den Wechsel durchstehen und in solcher Durch-
ständigkeit den Umschlag ermöglichen. Der Wandel der Ände-
rung ist auf das ungewandelte Bleiben des Trägers des Wandels
bezogen. Die Bewegtheit des Wandels ist szs. nicht freischwebend
möglich, sie muss sich an einem Seienden vollziehen; Wandel
240 BEWEGUNG UND DYNAMIS
mit zum Sein des Dinges; was es "sein kann", ist es, aber
eben nur der Möglichkeit nach; was es aber gerade ist, ist
das gegenwärtige AmWerksein seiner Seinskraft, ist seine
ENERGEIA.
Die Weise nun, wie der erste Beweger bewegt, ohne selber be-
wegt zu sein, verdeutlicht Aristoteles wiederum im Hinblick auf
die von ihm erarbeitete ontologische Vierfalt der Gründe. Wenn
wir vom "Bewegen" sprechen, tritt uns eher das Bild des Tuns,
des Handeins, des Bewirkens vor das Auge. Die erste Ursache
des Seienden im ganzen in aller seiner Bewegtheit dünkt uns ein
Hervorbringendes zu sein in der Art der causa efficiens; für
Aristoteles wird aber gerade die causa finalis zum Leitmodell.
So wie ein Erstrebtes und Geliebtes die Bewegung des Hinstre-
bens in einem anderen auslöst, so bewegt der erste Beweger den
Umschwung des Himmels und die dadurch vermittelten Bewe-
gungen der Dinge. Er ist das Geliebte, auf das alles zueilt, zu dem
alles hingerissen ist, - er bewegt als das AGATHON. KINEI DE HOS
EROMENON, "er bewegt wie ein Geliebtes". Das in allem Seienden
Geliebte, von allen Dingen und von den Sternen und Sonnen
des Firmaments Erstrebte, das, weswegen und worumwillen sie
ihre nimmermüden Bahnen ziehen, ist der NOUS, - er ist das
Göttliche, das alles hervorbringt, er ist der Gott des Aristoteles.
Dass dieser Gott des Philosophen aber verwechselt werden konn-
te, durch lange Jahrhunderte hindurch, mit dem Gott Abrahams
und Jakobs ist fast unbegreiflich. Der NOUS ist kein Weltschöpfer,
er ist der Hervorbringer aller Dinge ins Offene des Erscheinens,
in das Gegliederte und Geordnete des festen Umrisses, in das Be-
ständige und Verlässliche geregelten Wandels. Aristoteles spricht
dem NOUS im höchsten Sinne ZOE, "Leben" zu. Das ist zunächst
befremdend. Denn ZOE gibt zuerst das Modell ab für die Eigenart
der Naturbewegung, in sich den Anfang zu haben, - dann wird
die Bewegung (im Sinne der Bewegtheit) als die ZOE begriffen, -
und nun letztlich in offenbar ganz anderer Weise der NOUS.
"Leben", so meinen wir doch gewöhnlich, ist immer eine Weise
des Bewegtseins, der Aktivität. Wie kann der un bewegte erste
Beweger überhaupt "Leben" haben? Um das zu verstehen, müs-
BEWEGUNG UND DYNAMIS 245
sen wir uns vergegenwärtigen, wie Aristoteles die Bewegtheit
bestimmt; Bewegtsein ist "an einem Orte sein", "Bestimmtsein
durch eine Bewegungszahl", d.h. durch Zeit. Was nicht in einem
Orte und nicht in einer gemessenen Weile ist, ist für Aristoteles
eben nicht-bewegt. Der NOUS hat keinen Ort derart, daß ihn ein
umfangender Körper einschließt; er hat keine Weile, die auszu-
messen wäre, er ist AIDIOS. Erst wenn die ihm wesentliche Orts-
und Weile-Iosigkeit recht begriffen ist, kann auch die aristote-
lische Bestimmung des NOUS als ZOE verstanden werden. "Denn
das AmWerksein des NOUS ist Leben". Das göttliche Leben des
NOUS versucht Aristoteles anzuzeigen mit dem Hinweis, daß er
immer und unaufhörlich, in aller Ewigkeit das ist, was dem Men-
schen nur zuweilen, in seltenen und kurzen Augenblicken seines
Daseins möglich ist, das reine Denken, das THEOREIN. Dies ist -
nach antikem Verständnis - Seligkeit. Aber das reine Denken
des NOUS ist abgrundtief von allem menschlichen verschieden;
er denkt nichts Fremdes, er denkt sich selbst, ist NOESIS NOESEOS.
Damit legt Aristoteles für zwei Jahrtausende fest, was das Abso-
lute ist. Aristoteles stellt die Frage, wie die Natur des Ganzen
(HE TOU HOLOU PHYSIS) das AGATHON habe, - ob als ein von ihr
Abgetrenntes oder als eine sie durchwaltende Ordnung (TAXIS), -
oder vielleicht auf beide Weisen "wie das Heer"; das Heer hat
die Ordnung in sich und den Ordner, den Feldherrn. Kaum ein
Gleichnis könnte schlagender und treffender anzeigen, wie bei
Aristoteles der Grund aller Dinge selbst zu einem Seienden,
zu einem Seienden höchsten Ranges, zum Gott zu werden droht,
und wie er immer wieder davor zurückweicht.
Vielleicht aber gilt es, diese Entscheidungen, die auf dem Höhe-
punkt der abendländischen Metaphysik gefällt wurden, zu prüfen,
zu überdenken und in Frage zu stellen, um das verdeckte We-
sen der PHYSIS denkend erneut zu vernehmen.
246 BEWEBUNG UND DYNAMIS