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NACHDENKLICHES

zur Ontologischen Frühgeschichte


von
Raum - Zeit - Bewegung
EUGEN FINK

Zur Ontologiscben Frübgeschicbte


von

Raum - Zeit - Bewegung

..
~
SPRINGER-SCIENCE+BUSINESS MEDIA, B.V
ISBN 978-94-011-8771-8 ISBN 978-94-011-9630-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-94-011-9630-7

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Origina11y published by Martinus Nijboff, Tbe Hague, Netberlands in I957
AII right reserved, including the right to translate ar to
reproduce this book OI' parts thereol in any larm
Softcover reprint oftbe hardcover lSt edition 1957
Die philosophische Frühgeschichte von Raum, Zeit und Bewegung
wird im Folgenden nach-gedacht in ihrem ontologischen Ansatz bei
Parmenides, in ihrer dialektischen Ausbildung bei Zenon und in
ihrer metaphysischen Entfaltung bei Platon und Aristoteles - und
zwar in einer Weise, dass damit die Ontologie überhaupt zu einem
Problem wird.

Der Gedankengang wurde im Sommer I95I an der Universität


Freiburg i. Br. als Vorlesung vorgetragen.
INHALT

Vorverständigung über das Thema


I

Ausgangssituation der Frage


I4

Die Aufgabe einer geschichtlichen


Auseinandersetzung
27
Die Welt vergessenheit des
abendländischen Denkens

Parmenides: Prooemium - 1. Teil
Die Semata als ontologische Analogien
53
Frage nach der Natur der Doxa
Namengeben und Individuation
65
Gefangenschaft in der Doxa
bei der Auslegung des E on
Der spekulative Satz
78
Semata und Dialektik
Endlichkeit der Dinge als Binnenweltlichkeit
Eon und Welt
9I
x INHALT

Der Schein des Seins


Zenon: Die Paradoxien der Bewegung
I04

Weitere Erörterung der Paradoxien


II7

Ruhe und Bewegung


Parallelisierung von Raum und Zeit
Weltganzheit des Raumes und der Zeit
I30

Ontologische Fassung des Un-endlichen


Binnenweltliche Bewegung und Weltbewegung
I43

Das In-sein von Seiendem in Raum und Zeit


als unbewältigtes Problem
Platon: Metaphysik des Nous
ISS
Bewegte und bewegende Bewegung
Die Nomoi: Physis und Nous
I68

T echne und Technik


Platons Begriff der Chora
Hintergründe seiner Metaphysik
I8I

Aristoteles: Physis und Weltproblem


Ausgang beim innerweltlich Seienden
Ontologische Genealogie der endlichen Dinge
I94

Arche und Ding: Raum-Analytik


am Platztausch orientiert
Analogie von Gefäss und Raum
2°7
INHALT XI

Ortsraum und Weltraum. Zeit-Analytik


Diastema- Begriff leitend
Das In-der-Zeit-Sein
220

Bewegung und Dynamis und Energeia


des Endlich-Seienden.
Kinesis und Kategorien.
Phänomenale und ontogonische Bewegung.
Die ungeklärte Zweideutigkeit des
Proton Kinoun: Gott oder Welt?
233

Anmerkungen
247
I

VORVERSTÄNDIGUNG üBER DAS THEMA

Die folgende Abhandlung erörtert ontologische Grundpro-


bleme und sie benennt dabei Raum, Zeit, Bewegung. Damit
wird offenbar ein Umkreis von Fragen abgesteckt, die alle eng
zusammenhängen und eine einheitliche Thematik bilden. Jede
Bewegung durchmißt Raum und braucht Zeit. Im Bewegungs-
phänomen durchdringen sich gleichsam Zeit und Raum; das
starre Nebeneinander ihrer biossen Koppelung erscheint im Be-
wegungsvorgang aufgelöst. Der Raum wird zum Feld eines zeit-
lichen Durchlaufs und die Zeit gewinnt in ihrer Dimension der
Gleichzeitigkeit den Sinn räumlicher Koexistenz. Das Rätsel der
Bewegung zwingt zu einer gleichzeitigen und gleichräumlichen
Betrachtung von Zeit und Raum. Aber es ist eine offene Frage,
ob der Ansatz notwendig bei der Bewegung, als der merkwürdi-
gen Koincidenz von Zeit und Raum, gemacht werden muß -
oder ob nicht eher jedes Bewegungsverständnis schon wesent-
liche Einblicke in die Strukturverfassung von Raum und Zeit
voraussetzt.

Wie dem auch immer sein mag, zunächst sind wir einmal
befremdet, wenn überhaupt eine nachdenkliche Frage sich so
direkt und schlankweg dem Raum, der Zeit und der Bewegung
zuwenden will. Ist ein solches Unterfangen möglich und hat es
einen vernünftigen Sinn? Können wir dergleichen so unmittelbar
angehen? Zwar kennen wir alle immer schon den Raum, wir
sind vertraut mit der Zeit, wir leben in mannigfachen Raum-
und Zeit-Einteilungen, wir bewegen uns geläufig in den Unter-
scheidungen von Gegenden, Himmelsrichtungen, Strecken, Ab-
ständen, Dauern, Epochen und Zeitläuften; und wie wir uns
verstehend in den Gliederungen des Raumes und der Zeit bewe-
gen, so verstehen wir auch die Grundformen der vielfältigen Be-
2 VORVERSTÄNDIGUNG üBER DAS THEMA

wegungen, in denen die Dinge kommen und gehen, zunehmen


und abnehmen, sich wandeln, wie sie herumwirbeln im grossen
Tanz der Welt. Raum, Zeit, Bewegung braucht uns nicht vor-
geführt und gezeigt zu werden, damit eine Untersuchung und
Ausforschung daran möglich wird. Dergleichen muss nicht zur
"Gegebenheit" gebracht werden. Die programmatische For-
derung der Phänomenologie, jede philosophische Rede auszu-
weisen im Rückgang auf die originäre Selbstgebung des beredeten
Gegenstandes, läßt sich hier gar nicht verwirklichen. Man hat
schon immer erkannt, daß sich nicht alles beweisen läßt. Be-
weisbar ist im Grunde nur solches, das seiner Natur nach abge-
leitet, gegründet ist. Der Beweis operiert mit dieser Seinsverfas-
sung der Gegründetheit von Seiendem in anderem Seienden, er
operiert mit der Bedingtheit, aber durchleuchtet sie gerade nicht.
Nicht nur hat jeder Beweis unbewiesene und unbeweisbare
Voraussetzungen, seien es nun "Axiome" oder sonstige ursprüng-
liche Voraussetzungen, er bewegt sich überdies in einem unerhell-
ten Zusammenhang des Bedingenden und Bedingten, den er in
seiner Seinsart gar nicht aufklären kann. Wo der Beweis zum
ausschliesslichen Vehikel des Denkens proklamiert wird, hat die
Philosophie aufgehört. Was übrig bleibt, ist nur eine logische
Technik. Beweisbar ist weder Gott, noch die Freiheit, noch die
Unsterblichkeit der menschlichen Seele. Und beweisbar ist auch
nicht das Wesen des Raumes, der Zeit, der Bewegung. Zwar hat
die Mathematik, die als Geometrie doch auf den Raum geht und
als Arithmetik einen engen Bezug zur Zeit hat, gerade eine for-
male Strenge und einen axiomatisch-deduktiven Aufbau und
hält ihre Erkenntnisse erst für gesichert, wenn sie die methodi-
sche Form von Beweisen gewonnen haben. Aber ist es denn so
sicher, daß die Mathematik den Raum ursprünglich erfasst -
oder ist am Ende der mathematische Raum eine bestimmte me-
trische Interpretation, die in ihren Grundlagen und in der Reich-
weite ihrer Gültigkeit undurchsichtig bleibt? Ist das, was sich
an Raum und Zeit beweisen lässt, das Wesentliche? Gewiß bilden
die Fragen der Metrik und der dazugehörigen Idealisierung
einen bedeutsamen Teil des Raum- und Zeitproblems, aber eben
nicht den entscheidenden. Raum und Zeit liegen aller mathema-
tischen Ausdeutung schon voraus. Raum und Zeit lassen sich
ursprünglich nicht beweisen - aber auch;"nicht aufweisen. Sie
-'"'
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 3

sind keine Dinge, die zu "Phänomenen" für uns werden; sie


kommen nicht zu einer originären phänomenalen Gegebenheit;
wir können sie nicht ansehen wie einen unmittelbar gegebenen,
gegenwärtigen Gegenstand. Das methodische Prinzip der Phä-
nomenologie versagt hier. Aber einzig deswegen, weil es selber
seinerseits schon den Raum und die Zeit voraussetzt. Denn
originäre Selbtgebung eines Seienden kann als unmittelbare,
gegenwärtige Anwesenheit sich nur im Raum und in der Zeit
ereignen. Selbstgebung hat den Sinn temporaler und spatialer
Kompräsenz von Gegenstand und Erkennendem. Raum und
Zeit bilden vorgängig den Spielraum für die Begegnung von
Mensch und Ding. Dinge als Gegenstände können uns nur entge-
genstehen aus den Gegenden von Zeit und Raum her. Für jeg-
liches phänomenologische Aufweisen, das an der Idee der originä-
ren Selbstgegebenheit eines Seienden orientiert bleibt, sind Raum,
Zeit und Bewegung unerreichbar. Und das nicht etwa deshalb,
weil sie jenseits der Phänomene lägen, sondern weil sie in allen
"Phänomenen" schon vorausgesetzt sind, - weil die Phänomena-
lität der Phänomene wesentlich durch Raum, Zeit und Bewegung
bestimmt ist. Und so kann man offenbar mit gutem Rechte sagen,
dass es sich hier um "Grundprobleme" handelt, - um Fragen, die
allen Fragen nach dem vereinzelten Seienden, das zur Auswei-
sung kommen kann, voraufgehen. Und wenn wir noch ein Den-
ken, das nicht bloss Gegebenes auseinanderlegt, sondern das
nach den "Bedingungen der Möglichkeit" des Gegebenen frägt,-
das nicht das Seiende einfach abschildert, sondern das vorgängige
Sein des Seienden begrifflich fasst, "ontologisch" nennen, dann
haben wir offensichtlich alle Elemente des Abhandlungstitels
beisammen und können eine zusammenfassende Erläuterung
geben: es handelt sich um eine Gruppe eng zusammenhängender
Probleme, die in ihrer gegenseitigen Verflechtung die Auszeich-
nung haben, eine Grundstruktur aller erscheinenden Dinge, das
raum-zeitliche Bewegungsgefüge, darzustellen; und diese ein-
heitliche Problematik soll in der Weise der seinsbegrifflichen
Auslegung in Angriff genommen werden.

Eine solche Kennzeichnung ist zwar nicht falsch, aber nichts-


sagend. Danach sieht es aus, als ob eine schon fertige philo-
sophische Methode, eben die ontologische Betrachtung, auf einen
4 VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA

umgrenzten Bereich angewandt, gleichsam an einem Schulbei-


spiel vorexerziert werden soll. Die Ontologie selbst wäre in einem
solchen Verfahren nicht mehr Problem. Gesucht wäre lediglich
eine Ontologie thematisch eingegrenzter Art, eine Ontologie von
Raum und Zeit und Bewegung. Das aber ist unsere Absicht nicht.
Wir wollen in dieser Schrift nicht irgendwelche Themata in onto-
logischer Manier abhandeln, sondern vielmehr die Ontologie selbst
zum Problem stellen - und dies dadurch, dass wir versuchen,
ursprünglich dem Wesen von Raum, Zeit und Bewegung nachzu-
denken. Es kommt deswegen alles darauf an, uns von den gängi-
gen, umlaufenden Vorstellungen über Thema und Methode zu
befreien, um Raum für einen anderen Ansatz des Problems zu
gewinnen. Das Fatale unserer Situation ist nicht, dass wir zu
wenig Gesichtspunkte für das Raum-, Zeit- und Bewegungspro-
blem haben, sondern zu viele. Eine lange Geschichte des denken-
den Geistes liegt hinter uns. Aber auch diese Tradition ist wie
jede andere nicht gänzlich im Modus lebendiger Aktualität. Die
ungeheure negative Macht der Zeit zeigt sich nicht nur in der
Verwitterung der Gebirge, nicht nur in dem rieselnden Sand,
der Karnak und Babyion verschüttet, nicht nur in der Entleerung
und Erstarrung von Religionen, Kulturen, Seelentümern, nicht
nur in dem hingeschleppten Ballast überkommener Lebens-
deutungen und Sitten, sondern auch in dem ungeheuren Scher-
benberg von Denkformen, welchen die Spur der Denker im
Alltag hinterlässt; wir leben inmitten von Gedanken-Ruinen und
merken es nicht. Wir hantieren mit seinsbegrifflichen Unter-
scheidungen, die einstmals der Verborgenheit des Seienden ab-
gerungen und abgerissen wurden in einer höchsten Wachheit
und Kraft des menschlichen Geistes; für uns sind es längst
trivial gewordene Gedanken - überkommene Gedanken, die wir
selber nicht mehr mit- und nachdenken, sondern einfachhin
gebrauchen. Das bedeutet nicht, dass wir etwa nur gelehrte
Kenntnisse von den vergangenen Denkern hätten, wir nur im
Verhältnis epigonaler Ohnmacht zu ihnen stünden. Keineswegs;
wir kümmern uns gewöhnlich gar nicht um die Geschichte der
Gedanken, - und doch ist sie es, die auch unseren alltäglichsten
Alltag prägt, wenngleich im Modus der Leere und Ruinanz. Mit
unseren vulgären Auffassungen und Kategorien leben wir immer
noch, wenn auch un-echt und un-eigentlich, aus der geschicht-
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 5

lichen Mitgift der zweieinhalb tausend Jahre abendländischer


Seinsauslegung. Aus dieser Herkunft können wir nicht heraus, -
wir können nie mehr ganz von vorn anfangen.

Es ist ein verhängnisvoller Irrtum der Phänomenologie, an


einen absoluten Neuanfang zu glauben, der zu gewinnen sei
dadurch, dass man vorurteilslos die Sachen selbst ansieht. Aber
wir haben nie mehr reine, biosse, begriffsfreie Sachen, die nur
aufzunehmen und getreu zu beschreiben wären. Sachen begegnen
uns nur im Lichte einer seinsbegrifflichen Interpretation der
Sachheit der Sache selbst. Das Seiende, das uns begegnet, steht
je schon in der vorgängigen Helle der Seiendheit überhaupt.
Bevor überhaupt Ontologie als eine explizite Aufgabe begriffen,
gewählt und durchgeführt wird, tragen alle Dinge schon Seins-
charaktere an sich; wir gehen ständig damit um, wir machen
Gebrauch, wir sprechen sie an. Die "Gedankenlosigkeit" unseres
Alltags, die in ihrer schrecklichen Banalität jeden bestürzt, der
einmal dahinter kommt, ist nicht dies, dass wir keine Gedanken
haben. Das Tier ist ohne Seinsgedanken auf eine gültige Weise
in der Welt. Wir aber gehen gedankenlos mit Gedanken um, -
wir verraten damit unsere eigenste Möglichkeit. Als Menschen
sind wir in die Sprache eingestellt, wohnen wir in ihr. Sprache
aber ist nicht primär ein Mittel unseres Verkehrs, ein Signalsy-
stem gegenseitigen Zurufs, Sprache ist wesentlich die Eröffnet-
heit des Seins, ist die Weise, wie dieses sich uns zustellt, sich uns
gesellt. Die Sprache, in der wir wohnen, ist die ursprünglichste
"Ontologie". Der LOGOS ist immer LOGOS des ON. Wir sind aber
in der Sprache nicht bloss auf eine passive Weise. Die Seins-
auslegung der sprachlichen Begriffe umfängt uns nicht bloss wie
ein Medium, in dem wir uns unentrinnbar bewegen. Wir sprechen
nicht nur gemäss der Sprache. Das alltägliche Reden ist "Sprach-
gebrauch", Ausführung, die sich in den schon bestehenden Sprach-
und Denkformen abspielt. Eigentliches Sagen aber hat den An-
schein, weil es der vorausbestehenden Sprachform widerstreitet,
ein Sagen gegen die Sprache zu sein.

In Wahrheit aber ist das Sagen der Dichter und Denker in


einem tieferen Sinne dem geschichtlichen Wesen der Sprache
gemäß. Die Sprache ist trotz des gegebenen lexikalischen und
6 VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA

syntaktischen Inventars so wenig jemals "fertig", wie die seins-


begriffliche Interpretation an ein definitives Ende kommt. Der
Alltag aber sieht immer aus wie das absolute Ende der Geschichte.
Er ist die konkrete Situation, in der wir stehen. Jedes Philoso-
phieren kann nur aus dem Alltag und gegen seine nivellierenden
Tendenzen sich errichten. Das sagt aber auch, jede philosophi-
sche Zielstellung ist zunächst einmal verwirrt durch den Andr::j.ng
der gängigen und umlaufenden Vulgärvorstellungen, die für
jegliches Vorhaben schon die Bezeichnung bereit haben. Die
möglichen Wege des Denkens sind wie in einer übersichtskarte
schon festgelegt. Man kennt die Philosophie. Man lächelt viel-
leicht sogar mitleidig über die immer wiederholten vergeblichen
Versuche, ins Herz aller Dinge vorzustossen. Man verfügt über
eine reichhaltige Typologie solcher Denkversuche, man katalo-
gisiert sie; das Museum der abgelebten Philosopheme, als welche
die Denkgeschichte vom gemeinen Verstand genommen wird,
liefert die historischen Belege. Die Philosophie ist in ihren typi-
schen Formen und auch ihren typischen Themata bekannt.
Man kann das aufzählen und kommt mit den zehn Fingern aus;
man braucht nur von Hylozoismus, von Ontologie, von Idealis-
mus, Realismus, von Rationalismus und Empirismus zu reden, -
oder anders herum von Erkenntnistheorie, Metaphysik, Philo-
sophie der Natur, des Geistes, von Logik, von Sprach-, von
Kultur-, Geschichts-, von Rechts-Philosophie usf. Für das alltäg-
liche gebildete Bewußtsein ist die Philosophie ein Faktum der
menschlichen Kulturgeschichte, das sich thematisch auffächert
in eine Reihe von Disziplinen und im Gang des historischen Wan-
dels sein Schwergewicht jeweils verlagert. DieseAlltagsauffassung
von Philosophie ist die einzige, die wir jetzt voraussetzen dürfen.
Wir alle unterstehen der Herrschaft des Banalen - und müssen,
wenn wir uns auf die Philosophie einlasssen, unablässig mit
dieser hundertköpfigen Hydra kämpfen. Die Macht der banal
gewordenen Tradition hat immer schon über den Ansatz jeder
philosophierenden' Frage vorweg entschieden.

In diesem Zusammenhang wollen wir einmal zusehen, wo denn


die Stelle vorgezeichnet sei für unsere Frage nach Raum, Zeit
und Bewegung. Als nach der schöpferischen Epoche der antiken
Philosophie die schulmässige Aufarbeitung des ungeheueren Ent-
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 7

wurfs einsetzte, wurde die Philosophie eingeteilt in Logik, Physik


und Ethik. Logik braucht aber in diesem Zusammenhang nicht
so eng genommen zu werden, wie wir das heute gewöhnlich ver-
stehen, - nicht als formale Lehre vom Denken. Logik im antiken
Wortverstand umfasst ebenso die platonische Dialektik und die
aristotelische Metaphysik, als auch die sogenannte "formale
Logik". Die Logik hat es mit dem Seinsgedanken des ON zu tun,
sie denkt, was das Seiende als solches ausmacht; sie denkt das
Seiende als Seiendes, gleichgültig ob dieses ein materielles N atur-
ding oder eine immaterielle Seele ist. Das Grundthema der Physik
aber ist nun das Naturding. Als Naturding aber nehmen wir
nicht nur Steine, sondern auch Lebewesen wie Pflanzen, Tiere,
Menschen. Sofern und soweit der Mensch als organisches Lebe-
wesen vorhanden ist, gehört er zur Natur als dem Inbegriff des
Vorhandenen. Aber der Mensch ist nicht nur ein Lebewesen,
das sein Leben ablebt, er ist der freie Schöpfer seiner selbst, er
lebt im Entwurf von Plänen und Aktionen und macht sich durch
seine Entscheidungen erst zu dem, was er ist. Auf dem Grunde der
naturhaften Vorhandenheit existiert der Mensch als der sich
selbst Wählende, d.h. als Freiheit. Die menschliche Freiheit ist
kein mögliches Thema der Physik; der freie Mensch ist der Grund-
begriff der Ethik; die antike Ethik ist keine Individualethik,
sondern eine politische. Die freie Selbstgestaltung des Menschen,
in der er sein eigenes Werk ist, vollendet sich in der Polis, im
Staate. über dem Reich des Notwendigen, der Natur, erhebt
sich das Reich der Freiheit und der Sittlichkeit. Diese dem stoi-
schen Schulbegriff von Philosophie entstammende Gliederung
beherrscht weithin den Geschichtsgang des abendländischen
Denkens. Wir finden sie in vielen verkappten Formen, so z.B. in
der kantischen Gliederung von Transcendentalphilosophie, Me-
taphysik der Natur und Metaphysik der Sitten, - oder bei Hegel
im encyclopädischen Aufriss seines Systems in Logik, Philo-
sophie der Natur und Philosophie des Geistes. Diese Dreiteilung
ist zwar das dürftigste, aber deshalb doch machtvollste Gliede-
rungsprinzip der europäischen Philosophie. Wo ist nun in diesem
dürren Schema der Ort für unsere Fragen nach Raum, Zeit,
Bewegung? Offenbar nicht in der Logik. Auch wenn wir diese
nicht im eingeschränkten Sinne der üblichen formalen Logik
nehmen. Die platonische Idee und das "Seiende als Seiendes"
8 VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA

des Aristoteles sind nicht von vornherein im Raume und in der


Zeit; und doch spricht Platon von einer wesenhaften Verflech-
tung (SYMPLOKE) des Ständigseienden d.h. der Ideen mit der
Bewegung. 1 Aber diese Ideen-Bewegung ist streng geschieden
von den Bewegungen der entstehend-vergehenden Dinge, die
jeweils im Raum einen Ort und in der Zeit eine Weile haben.
Die Physik scheint demnach der legitime Bereich zu sein, wo
Raum, Zeit, Bewegung zu Hause sind. Wir hätten es also, in
vager Traditionalität gesprochen, mit einem Grundproblem der
Naturphilosophie zu tun. Aristoteles definiert den Bereich der
Physik geradezu durch die Bewegung. Aber es wäre ein fatales
Missverständnis, wenn man das, was er unter Physik versteht,
als einen eingeschränkten, thematisch begrenzten Bereich des
Seienden interpretieren wollte - am Leitfaden der aufgegriffenen
Vulgär-Einteilung der Philosophie in die drei Grunddisziplinen.
Aber davon vorläufig abgesehen, - ist es denn wahr, dass Raum
und Zeit und Bewegung primär im Felde der Naturphilosophie
vorkommen? Ist denn die geschichtliche Welt des Menschen
nicht ganz und gar zeithaft ? Vielleicht sogar noch zeithafter als
die Welt der bIossen Naturvorgänge ? Man versucht bisweilen
die grobe und gröbliche Vereinfachung, die Natur primär dem
Raum und die Geschichte primär der Zeit zu vindizieren; in der
Natur, sagt man dann, gibt es zweifellos zeitliche Vorgänge, alle
Naturgeschehnisse sind in Raum und Zeit, - aber die Naturzeit
ist eine gleichsam verräumlichte Zeit, sie untersteht dem Vorrang
des Raumes, während umgekehrt die Geschichte zwar auch den
Raum kennt, aber doch vor allem als den geschichtlichen Lebens-
raum eines Volkes, als die Stätte seiner Schlachten und Erobe-
rungen, seiner Tempelbauten und Wohnsitze. In der Sphäre der
Geschichte untersteht der Raum der Zeit, sagt man. Und auch
die Bewegung hat einen verschiedenen Sinn, ob sie als Bewegung
eines fallenden Steins oder als Heinrichs Gang nach Canossa ge-
nommen wird.

Gewiss überdeckt der Titel "Bewegung" manches und vie-


lerlei. Aber es ist erst noch zu prüfen, ob jeder Grundbereich des
Seienden seine eigene und eigentümliche Bewegung hat, die
aus der Seinsart dieses Bereichs heraus verstanden werden muss,
oder ob ein entschiedenes Bedenken der Bewegung die Auffäche-
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 9

rung des Seienden in Grundgebiete wie "Natur" und "Geist",


oder "Natur und Geschichte", Reich der Notwendigkeit und
Reich der Freiheit zunichtemacht. Und weiterhin wäre zu prü-
fen, wie denn das Verhältnis zwischen der philosophischen Be-
stimmung von Raum, Zeit, Bewegung und der wissenschaft-
liChen Auslegung derselben gefasst werden muss. Denn zunächst
haben wir ja bewährte Wissenschaften vom Raum, von der Zeit
und von der Bewegung. Diese Wissenschaften sind einstmals
der Philosophie entsprungen, zumindest in der europäischen
Form. Die Rezeption der aegyptisch-phönikischen und chal-
däischen Mathematik durch das Griechentum vollzieht sich im
Geiste seiner Ontologie. Gleichwohl kommt es zu einer selbstän-
digen Entfaltung und Entwicklung der antiken Mathematik.
Diese bleibt vorwiegend durch die Geometrie bestimmt. Wie
aber geht die Geometrie überhaupt auf den Raum? Die land-
läufige Scheidung zwischen Idealraum und Realraum reicht
keineswegs zu, um diese Frage angemessen zu stellen, geschweige
denn zu beantworten. Gewiss ist leicht einzusehen, dass die Geo-
metrie mit bestimmten Idealisierungen arbeitet, dass der geo-
metrische Kreis eine Gedankenkonstruktion ist, die in den runden
Dingen nur ein unvollkommenes Abbild hat, aber diese Geo-
metrie der Gedankendinge ermöglicht eine sehr reale Technik,
mit der wir Brücken bauen und Wolkenkratzer. Es mag ferner
sein, dass die Euklidische Geometrie nur eine metrische Inter-
pretation unter vielen anderen, ebenfalls möglichen Geometrien
ist, aber das entbindet uns nicht von der grundsätzlichen Frage
nach dem wahrhaften Verhältnis des mathematischen Wissens
vom Raum zum philosophisch-spekulativen Raumverständnis.
Raum, Zeit, Bewegung sind keine "Phänomene", die wir im
Gange der Erfahrung einmal kennen lernen; sofern wir überhaupt
irgendetwas erfahren, bewegen wir uns schon in einem, wenn
auch dunklen und trüben Vorverständnis derselben; d.h. sie
sind, in gängiger Terminologie gesagt, apriori. Aber bedeutet
diese Apriorität, dass Raum und Zeit nichts anderes sind als die
dem menschlichen Erkenntnisvermögen eingeborenen Formen,
unter denen es anschaut, oder muss umgekehrt der Mensch durch
die Offenheit für den Raum und die Zeit wesentlich verstanden
werden? Ist er das raum- und zeit-offene Wesen, das in die gren-
zenlose Weite des Weltalls hinaussteht ? Und das bedeutet wie-
10 VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA

derum die Frage, ob denn überhaupt das Wesen von Raum und
Zeit angemessen gefasst wird, wenn Abstände, Strecken, Ent-
fernungen, Dimensionenvielfalt, Dauern und dgl. vor allem zur
Auslegung gebracht werden und nicht das Ganze, worin erst
solche Erstreckungen sich abheben. Haben die Wissenschaften
von Raum, Zeit, Bewegung, selbst wo sie als apriorische Kennt-
nisse zur Entfaltung gelangen, nicht grundsätzlich einen binnen-
weltlichen Ansatz und eine binnenweltliche Blickbahn, sind sie
nicht gleichsam blind gegen die Weltganzheit von Raum und
Zeit?

Gesetzt aber den Fall, Raum und Zeit wären überhaupt keine
Dinge, noch apriorische Dingstrukturen, sie wären Weisen, wie
das Weltganze ist, dann allerdings wäre auch einzusehen, warum
sie keinem einzelnen Weltgebiet zugehören, sei es "Natur" oder
"Geschichte" - warum sie die Bereiche durchgreifen und doch
in keinem heimisch sind. Das ist bislang eine biosse, vag ange-
deutete Hypothese. Aber es ist die Grundabsicht der Abhandlung,
den Weltsinn von Raum und Zeit und Bewegung herauszuarbei-
ten. Eine solche Tendenz weiss sich im Widerspruch mit der herr-
schenden Seinsdeutung der überlieferten Metaphysik. Jener gilt,
in vorläufiger Vereinfachung gesprochen, Raum, Zeit, Bewegung
als das Reich des Werdens, als das Reich des Uneigentlich-Seien-
den, des Erscheinenden und des Scheins; Raum und Zeit seien
die Formen des "mundus sensibilis", der Sinnenwelt; sie habe
keine eigentliche Realität; das sagt nicht, dass sie ein Trugge-
bilde sei, aber sie wird damit ontologisch abgewertet; sie sinkt
zum biossen "Phänomen" herab. Als das eigentlich und wahr-
haft Seiende gelten dann die "Ideen", die dem zehrenden Wandel
der Zeit entrückt sind, gelten die "Monaden" des Leibniz, die
"nournenale Welt" der Freiheit, das intelligible Geisterreich.
Raum, Zeit, Bewegung bilden so für die traditionelle Metaphysik
eine ontologische Problematik zweiten Ranges; sie sind in die
spekulative Physik verwiesen, welche der Metaphysik unter-
geordnet ist.

Diese Entscheidungen sind aber zu überprüfen. Nicht von uns,


und nicht in einem Buch. Die Prüfung ist im Gang seit Nietzsches
weltgeschichtlichem Aufstand gegen den Platonismus. Was jener
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 11

Denker damit wagte, ist durch die grellen Töne seiner antichrist-
lichen Polemik und durch den herostratischen Tumult seines
Auftretens eher verdeckt und bagatellisiert worden. Radikaler
und tiefer als seine kämpferische Antithese: "Dionysos gegen
den Gekreuzigten" ist seine Gegenstellung gegen Parmenides und
Platon. Aber mit einer Gegen-These ist im Raume der seins be-
grifflichen Grundgeschichte noch nichts entschieden. Es bedarf
einer langen Arbeit, um das Denken heimisch zu machen im Wind
der Zeit, dass es des Ewigen vergisst, und im Labyrinth des Rau-
mes die Erfahrung macht, dass es nirgends anzukommen hat.
Dergleichen kann nicht durch Bekenntnisse und Kampfparolen
auf den Weg gebracht werden, sondern allein durch eine Aus-
einandersetzung mit der überkommenen Geschichte der Seins-
interpretation. Mag es an der Zeit sein, die Metaphysik preiszu-
geben, sie durch eine radikaler gedachte spekulative Physik zu
ersetzen, so ist eine solche Formulierung nur soviel wert, als
eben eine wirkliche Prüfung und prüfende Verwandlung der
geschichtlich vorgegebenen Seinsbegriffe vollzogen wird. Dazu
will diese Schrift zu einem kleinen Teil ein wenig beitragen. Das
besagt, dass wir zur Exposition unseres Problems nur auf einem
mühsamen und umständlichen Wege vordringen können: dass
wir schwierige und subtile Gedanken der grossen Denker nach-
denken und nachbuchstabieren müssen, was sie über die Zeit
und den Raum und die Bewegung erarbeitet haben. Ihre Resul-
tate sind nicht falsch, auch wenn die leitende Perspektive ver-
wandelt werden muss.

Von der Philosophie geht heutigen Tages häufig die Vorstellung


um, sie sei ein unmittelbarer Ausdruck unseres konkreten Exis-
tenzverständnisses - oder müsse sich wenigstens darum bemühen,
es zu sein. Die Philosophie, sagt man, spreche unsere Lebensangst,
unseren Kulturekel, unsere religiösen Sehnsüchte und Hoffnun-
gen aus; sie sei Selbstaussage der Existenz. Von all dem wird hier
keine Rede sein. Hier geht es nur um die Fragen, was Raum und
Zeit und Bewegung eigentlich sind. Aber ist dies denn eine gleich-
gültige Thematik? Wir sind. Nicht schlechthin irgendwo, son-
dern hier, in diesem Raum, der von grösseren Räumen umfangen
ist, - hier in dieser Stadt, am Fuss des Gebirges, hier weitet sich
alle Nähe in das Grenzenlos-Offene des Weltraumes, der alle
12 VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA

Dinge umfängt; und wir sind, nicht irgendwann, sondern jetzt,


zu dieser Stunde, jeder in einer Phase seiner Lebensgeschichte
und jeder, wer weiss, wie weit, noch fern von seinem Tod. Wir
spüren vielleicht auch dann und wann das unaufhaltsame Rie-
seln der Zeit, die uns weggleitet, die unser Leben mitnimmt;
an der Zeit selber vernehmen wir die schrecklichste und schönste
aller Bewegungen: den "Fluss" der Zeit; wir stehen nicht am
festen Ufer dieses dunklen Stromes, wir gleiten wie im Nachen auf
ihm dahin und dieser Weg von der Kindheit bis zur letzten Stun-
de ist das erregende Abenteuer unseres Daseins. Raum, Zeit und
Bewegung ist vielleicht in einem unauffälligeren Sinn von höch-
ster existenzieller Wichtigkeit, auch wenn uns das Nachdenken
über dergleichen mühsam und langweilig vorkommen mag. -

Die platonische Paideia, deren Gang im "Staate" entworfen


wird, zeichnet einen eigentümlichen Erziehungsweg vor. Die künf-
tigen Regenten und Philosophenherrscher sollen hingeleitet wer-
den zur Schau des höchsten Seienden, zur Schau des AGATHON. Im
Wissen von ihm vollendet sich alle .~rziehung. Aber Platon setzt
den Menschen nicht in die Unmittelbarkeit einer Begegnung mit
dem Höchsten, mit dem Seinsgrund aller Dinge aus; er wählt
einen langen und gründlichen Weg der Vermittlung. Die künf-
tigen Archonten müssen eine Stufung von Wissenschaften durch-
laufen: Arithmetik, Geometrie, Astronomie, Harmonik - und
dann die Dialektik, die schliesslich in der Erkenntnis des AGA-
THON ausläuft. Das wird zumeist missverstanden als eine Art
"propädeutischer" Vorbereitung. In Wahrheit aber beginnt die
Erkenntnis des AGATHON schon mit der Arithmetik. Denn Plato
nimmt diese gar nicht in dem üblichen Sinne einer eigenständigen
Wissenschaft, sondern als Erkenntnis des Seienden in seinem
Sein. Alles Seiende ist, sofern es ist, zuerst bestimmtes, abge-
grenztes, vereinzeltes: d.h. bestimmt durch die Zahl. Ferner ist
jedes Seiende ein räumliches, hat Figur, Gestalt, Lage, Abstände:
d.h. es ist geometrisch bestimmt. Und ferner jedes Seiende ist in
Bewegung; das Wesen der Bewegtheit des Seienden aber wird
zum Thema in der Astronomie im Bereich des Sichtbaren und
in der Harmonik im Bereich des Hörbaren. Die Stufung: Arith-
metik, Geometrie, Astronomie und Harmonik, bedeutet dem-
nach einen ontologischen Strukturaufbau des Seienden, und nicht
VORVERSTÄNDIGUNG ÜBER DAS THEMA 13

eine einzelwissenschaftliche Thematik. Die Dialektik der Seins-


gedanken und die Schau des AGATHON sind dem Zögling nur zu-
gänglich im Durchgang durch die vorgeordneten Stufen.

Was wahrhaft Philosophie ist, lernt man nie zu wissen, wenn


man glaubt, ihre Resultate unmittelbar aufnehmen zu können;
ihr Feld ist kein Garten, wo die Früchte nur zu pflücken sind,
sie ist ein steiniger Acker. Und wenn je darauf auch die Früchte
der Weisheit reifen, so muss doch, wer sie holen will, wie Herku-
les die Last des Himmelsgewölbes tragen, wenn die goldenen
Äpfel der Hesperiden sein werden sollen. Es ist eine tiefe Weis-
heit, dass über der Schule Platons, über dem Eingang in den Hain
des Akademos zu Athen die Worte eingemeiselt waren: OUDEIS
AGEOMETRETOS EISITO, kein in der Geometrie Unerfahrener darf
hineingehen.
2

AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

Jedes Nachdenken beginnt je schon in einer Situation. Das


Fragwürdigwerden der Welt setzt eine vorgängige Vertrautheit
mit ihr voraus. Wir kennen uns schon im Seienden aus, wenn
wir anfangen, uns darüber zu verwundern, wenn das Rätsel des
Seins uns bedrängt. Primum vivere, deinde philosophari - gilt
in einem wesentlicheren Sinne, als es der philiströse Rat meint,
der in der Philosophie nur eine Art von entbehrlichem Luxus
sieht und verkennt, dass sie wie Religion und Kunst zu den Not-
wendigkeiten des menschlichen Daseins gehört. Wir leben vor der
Philosophie in einem Verstehen, das in seiner Weite, seinem
Reichtum und seiner Selbstverständlichkeit uns zumeist gar
nicht bewusst ist. Wir leben in ihm. Unser Daseinsvollzug ist
durch dieses Verstehen erhellt und geprägt. Wir verstehen uns
auf unser Mensch-sein. Das sagt zunächst einmal: wir leben
nicht nur einfach geradehin, wir verhalten uns zu uns selbst;
wir existieren als ein Selbstverhältnis. Der Mensch lebt nicht nur
sein Leben ab, er verhält sich in seinem Leben zu seinem Leben, -
er hat nicht bloss eine individuelle Selbsteinschätzung, die ihm
seine mehr oder weniger kritische Eigenliebe diktiert, er hat vor
allem ein Verhältnis zum Menschenleben überhaupt; das Dasein
steht im Licht eines "Sinnes"; alle Planung, alle Zukunftsent-
würfe, aber auch alle geschichtliche Bewahrung, sei es die bio-
graphische des Einzellebens oder die Tradition der Generationen,
all dergleichen gründet im Selbst-verhältnis und Selbst umgang
des Menschen. Das Dasein ist mit sich selbst vertraut. Das be-
deutet aber keineswegs, dass es sich durchsichtig sei, dass es eine
restlose Klarheit über sich gewonnen hätte. Im Gegenteil. Diese
Vertrautheit ist weitgehend ein Vertrautsein mit der Undurch-
sichtigkeit des menschlichen Lebens, ein Wissen um die Undurch-
dringlichkeit der Leidenschaften, um die Fatalität der Triebe
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 15

und Bedürfnisse, um die Unzulänglichkeit unseres Herzens,


um die unbegreifliche Gefährdung durch Leid und Tod. Die
Selbstvertrautheit des Daseins bedeutet aber nicht eine reflexive
Grundhaltung des Verstehens, so, als wäre es vor allem auf sich
selbst zurück-gebeugt, gleichsam narzißtisch an sich selbst in-
teressiert; wir leben in die Welt hinein, sind mit allen Sinnen den
Dingen hingegeben, von ihrem Glanz berückt, in ihrem Zudrang
von mannigfachen Interessen hin- und hergerissen, arbeitend,
geniessend von ihnen benommen. Weil aber der Mensch ein
existierendes Selbstverhältnis ist, ist er nicht nur einfach beim
Seienden, er ist so beim Seienden, dass er es als Seiendes sich
begegnen lässt. Ein Steinbrocken liegt neben einem anderen
Brocken; sie gehen sich gegenseitig nichts an, sie sind zwar bei-
einander, aber verhalten sich nicht zu ihrer N achbarschaft. Weil
der Mensch sich zu sich verhält, kann und muss er sich auch zu
dem anderen Seienden, wobei er vorkommt, verhalten. Die Selbst-
vertrautheit des Daseins mit sich selbst schliesst so gerade das
Vertraut sein mit den Dingen ein; zwar kennen wir nicht alle
Dinge, aber wir kennen die Grundbereiche von Dingen, wir ken-
nen die regionalen Bezirke, kennen die Elemente, das Land, das
Meer, den Tag und die Nacht, Pflanzen und Getier, - wir kennen
die Werke des Menschen, den Pflug und das Schwert, kennen das
Haus und den Tempel der Götter; alle Dinge sind in ihrer Be-
kanntheit für uns festgemacht, sie sind gebannt in Namen; sie
sind ausgelegt in der öffentlichen Sprache, aus der wir alle Sinn-
fügungen unserer Rede entnehmen und in die hinein wir auch
wieder zurücksprechen. Auch das einsamste Denken muss seinen
Ausgang in der öffentlichen Sprache nehmen. Gewiss lässt sich
das Wesen der Sprache nicht aus der menschlichen Intersubjek-
tivität ableiten, die Intersubjektivität gründet selber in der
Sprache, sofern diese die uns zugeschickte Helle des Seins ist, -
aber Intersubjektivität ist ein wesentliches Moment an der
Sprache. Die Selbst vertrautheit des Daseins ist immer auch eine
öffentliche und d.h. auch zugleich eine sprachlich bereits voraus-
gelegte. Wo ein Nachdenken beginnen will, hat es eine Situation
voraus als ein bereits bestehendes und in Gang befindliches Le-
bens- und Weltverständnis. Es ist eine Binsenwahrheit, was
wir damit feststellen. Gewiss, aber eine, die meist zuwenig be-
achtet wird. Kein philosophierendes Nachdenken trifft das
16 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

menschliche Sichverstehen-auf-das-Seiende gleichsam "in statu


nascendi", im Ursprungsmodus seiner Bildung; immer leben wir
schon und leben wir bereits verstehend, wenn wir zur Philosophie
kommen. Die Philosophie erscheint so im Aspekt der N ach-
träglichkeit. Sie kann offenbar das je schon gegebene Verstehen
nur noch modifizieren, es verwandeln, umbilden, vertiefen oder
auch durch ein neugebildetes ersetzen. Sie ist dann vor allem
Kritik, Prüfung des bereits Geltenden an einem Maßstab, den
sie selber erst aufstellt und mitbringt. Das Verhältnis der Philo-
sophie zum vor-philosophischen Verstehen wird mannigfach
bestimmt. Etwa in der Art, dass sie die ausdrückliche Explika-
tion desselben sei, seine Durchklärung und Erhellung nach den
im Modus des Selbstverständlichen verhüllten Momenten; so
angesehen hat die Philosophie ein durchaus positives Verhältnis
zum vorphilosophischen Leben; sie liegt nicht grundsätzlich
mit jenem im Streit, sie enthüllt nur die Wahrheit, die in jenem
schlummert, sie bringt das vorontologische Verstehen, in dem
wir uns umgängig bewegen, auf explizite ontologische Begriffe.
Die Philosophie stiftet lediglich einen höheren Grad der Wach-
heit' aber sie verwandelt das Seinsverständnis nicht, welches das
Dasein von Hause aus schon hat, sie artikuliert es nur. Als einen
geeigneten Weg zu solchem Ziel mag man dann die Klärung der
Wortbedeutungen ansehen, die sorgfältige und subtile Unter-
suchung aller Phänomene der Signifikation ; man ist vielleicht
überzeugt, alle Wirrnis und Dunkelheit des geläufigen, aber doch
ungefähren Verstehens lasse sich lichten, wenn es gelinge, eine
genügende Strenge der Begriffsbildung und eine ausreichend
exakte Sprache dafür zu finden. Als ein grosses Beispiel für eine
solche Auffassung kann der Begründer der Phänomenologie,
Edmund Husserl, genannt werden. Sein erstes grosses Werk, die
"Logischen Untersuchungen", dienten nicht nur der begrenzten
Problematik einer Neubegründung der formalen Logik in der
Frage nach der Seinsweise ihrer Gegenstände, sondern weit dar-
über hinaus der prinzipiellen Klärung des Verhältnisses von
Sache und Wort, Gegenstand und Begriff, von Seiendem und
sprachlicher Ausgelegtheit desselben. Die mit. minutiöser Akribie
geführten Untersuchungen tendierten zunächst auf eine von
jeder Aequivokation freie Sprache. Aber Husserl erkannte bald,
dass eine so gereinigte Sprache überhaupt keine wirkliche Sprache,
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 17

sondern nur noch eine Terminologie ist. Wo Philosophie zur Ter-


minologie wird, ist sie steril. Husserls Absehen verwandelte sich
in der Folgezeit so, dass er nicht mehr Exaktheit als Eindeutig-
keit des sprachlichen Ausdrucks, sondern Phänomengerecht-
heit der philosophischen Rede forderte. D.h. an die Stelle der
prägnanten Eindeutigkeit tritt jetzt, durch die Erkenntnis mo-
tiviert, dass die Phänomene in sich selbst vielseitig und über-
gängig sind, eine deskriptive Sprache. Was sich exakter Defini-
tion und eng fixierter Begrifflichkeit entzieht, kann aber noch
durch eine sorgsame Beschreibung, die das Phänomen sozusagen
von allen Seiten einkreist, eingeholt werden. Für Husserl ist die
Deskription strenger, weil phänomen-entsprechender, als die
starre Terminologie, welche zwar mit eindeutigen, rein präpa-
rierten Begriffen arbeitet, aber eben die komplexe Vielschichtig-
keit der Dinge nicht mehr fassen kann. Interessant ist diese Wand-
lung Husserls vor allem dadurch, dass ihm das Seiende selbst
vieldeutig und rätselhaft wird, - dass die Ungefährheit des ge-
wöhnlichen menschlichen Umgangs ihm schliesslich nicht nur
eine blosse Nachlässigkeit bedeutet, die durch die Anstrengung
einer sauberen Begriffsbildung behoben werden kann. Vielleicht
wäre dieser Gedanke noch weiterzutreiben. Vielleicht wäre zu
fragen, ob am Ende nicht nur das Seiende vielschichtig und viel-
dimensional, sondern ob nicht die Sprache wesenhaft vieldeutig
ist. Die Sprache des Denkens spricht nicht nach dem Kanon der
formalen Logik, weil sie das Geheimnis des Seins nicht vernichtet,
indem sie es aussagt. Aber deswegen ist noch lange nicht jede
trunkene Rede auch Philosophie. Es gab zu allen Zeiten mehr
Bacchanten als Denker und Dichter. -

Wenn es also zunächst einmal so aussieht, dass die Philosophie


im Verhältnis der Nachträglichkeit steht zu dem je schon vor-
handenen Verstehen, so kann doch ihre Aufgabe auch radikaler
gesehen werden. Nämlich nicht nur als die begriffliche Durchar-
beitung des vordem ungefähren Wissens, sondern als die Ver-
nichtung desselben, als die Destruktion der Sicherheit und Ge-
läufigkeit des natürlichen Bewusstseins. Die Philosophie gewinnt
den Aspekt der Katastrophe. Sie erscheint als der Untergang der
naiven Seinsgewissheit, als die negative Macht, welche das frü-
here Dasein verurteilt; ihre Aufgabe ist dann nicht zu klären, was
18 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

schon dunkel verstanden ist, sondern zu entwerfen, zu stiften,


neu zu setzen, was fortan als das Seiende gedacht werden soll.
Aber auch die äusserste Radikalität seinsbegrifflicher Revolutio-
nen hält' sich doch immer noch innerhalb eines Verstehens von
Sein überhaupt. Mag die Philosophie anders und neu festsetzen,
was ein Ding ist, welches seine Struktur, sein innerer Aufbau, -
mag sie das Verhältnis von Wesen und Wirklichkeit, von Was-
sein und Daß-sein entscheidend umdenken, - mag sie den Bezug
des endlich Seienden zu dem unendlichen Seinsgrund entgegen
der bisherigen Denktradition fixieren, auch die äusserste Kata-
strophe des Denkens hält sich noch im Raum von Sein, Welt,
Wahrheit. Die Weise, wie das menschliche Dasein aber um Sein,
Welt und Wahrheit weiss, ist gänzlich verschieden von jeglichem
sonstigen Wissen überhaupt. Es ist nicht viel damit gesagt, wenn
man diese Begriffe als das Ur-Apriori unseres Geistes bezeichnet.
Apriorische Begriffe haben wir viele. Alle ontologischen Begriffe
überhaupt sind apriori, d.h. sind Weisen eines vorgängigen Ver-
stehens, in dessen Lichte erst die bestimmte Erfahrung von Ein-
zelwirklichem möglich ist. Aber nicht alle Begriffe, die nicht aus
der Erfahrung stammen, nicht aus ihr durch Verallgemeinerung
gewonnen sind, sind uns wirklich angeboren; zumeist sind sie
Erbschaften seinsbegrifflicher Arbeit früherer Denker, die das
Haus des menschlichen Wohnens inmitten des Seienden errichtet
haben; wir sind die Erben der Griechen, auch wenn wir uns darum
gar nicht kümmern. Z.B. der Grundriss des Dinges, den wir als
Substanz mit Eigenschaften begreifen, - und dem gemäss wir uns
zu den Dingen und zu uns selbst verhalten, dieser apriorische
Gedanke, der Erfahrungen von bestimmten Dingen erst möglich
macht, sofern wir das Mannigfaltige gegebener Daten auf einen
substantialen Träger von Bestimmungen beziehen können, -
dieser ontologische Gedanke ist eine Erbschaft. Es ist nicht si-
cher, dass immer und ewig das Seiende so gedacht werden muss,
dass nicht Umbildungen des Substanzbegriffes eintreten können,
die viel einschneidender sind als die vielberedete Modifikation
des aristotelischen Substanzbegriffs durch den Funktionsbegriff
der neuzeitlichen Naturwissenschaft, oder auch als der im Felde
der Metaphysik selbst sich vollziehende Wandel, welcher die
Substanz als das Subjekt interpretiert, so vor allem bei Hegel.
\V esen tlich an solchen menschlich gestifteten Seinsgedanken ist
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 19

ihre Durchlaufbarkeit; solche Gedanken können ausgedacht, zu


Ende gedacht werden.

Sein, Welt, Wahrheit aber sind keine apriorischen Stiftungen


des denkenden Menschen, die ausschöpfbar und damit auch
überwindbar wären, sie bilden vielmehr den Raum, worin alles
menschliche Denken sich abspielt. Sie sind das UnausdenkZt:chc.
Nie sind wir ohne ein Wissen darum - und nie gelangen wir in
ein endgültiges Wissen darum. Sie sind das am meisten Offenbare
und zugleich auch am meisten Verhüllte und Verborgene. Um ein
Missverständnis auszuschliessen: selbstverständlich sind unsere
Namen und Begriffe von Sein, Welt und Wahrheit Menschen-
werk und als dergleichen vergänglich und ein Raub der Zeit.
Aber das Verhältnis von Begriff zum Unausdenklichen ist nie
das einer Entsprechung, einer Übereinstimmung. Die eigentüm-
liche Natur dieser drei Begriffe bildet ein heute immer noch
offenes Problem. In unserem Zusammenhang geht es nur um eine
andeutende Charakteristik der Weise des philosophischen An-
fanges. Denn durch die Art, wie grundsätzlich das Verhältnis
von Philosophie und vorphilosophischer Daseinshaltung be-
stimmt wird, regelt sich auch die besondere Weise des Vorgehens.
Im Thema stehen hier Raum, Zeit, Bewegung. Alltäglich verfü-
gen wir über ein ungefähres Verstehen davon. Wir alle kennen so
etwas, wie Raum, Zeit und auch Bewegung; wir gebrauchen diese
Worte bald in einem laxen Sinn, bald in einem bestimmteren,
z.B. in der Physik. Ist nun eine philosophische Frage schon damit
gewonnen, dass wir versuchen, den Sinn dieser Namen und Be-
griffe genauer festzulegen, exakter zu bestimmen, alle möglichen
Aequivokationen auszuschalten? Gilt es nur das ungefähre All-
tagsvorstellen zu verfeinern und zu entwickeln, mit der Sonde
der Unterscheidungen verwirrende Vieldeutigkeiten zu beseiti-
gen und einen terminologisch sauberen Sprachgebrauch herzu-
stellen? Natürlich wäre ein solches Unterfangen niemals möglich,
wenn man nicht auch selbst näher auf Raum und Zeit und Be-
wegung einginge und die genaueren Begriffe einem genaueren
Zusehen entnehmen wollte. Aber wie weit reicht überhaupt eine
solche Problematik? Geht sie denn über eine bloss ausdrückliche
Aneignung dessen hinaus, was man schon implizit hat? Wird
damit das Verstehen wirklich weitergetrieben - oder am Ende
20 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

nur erläutert? Oder soll das natürlich-gegebene Verständnis von


Raum, Zeit, Bewegung überschritten werden, nicht nur aufge-
klärt, sondern weiter entwickelt werden? Eine solche Zielstellung
ist um vieles anspruchsvoller. Sie verlangt nicht nur den Abstoss
vom vagen Verstehen, das zunächst unsere faktische Situation
ist, sondern auch die Aufweckung und Wiederverlebendigung
der in unserem Alltag niedergeschlagenen ontologischen Erb-
schaft, die dort im Verdecktheitsmodus der Ruinanz bereitliegt.
Erst im ausdrücklichen Gegenzug gegen die verschüttete Tradi-
tion, in der Auseinandersetzung mit ihr liesse sich die Frage so
radikalisieren, dass ein neuer denkerischer Entwurf gewagt wer-
den könnte. Alles Nachdenken der Philosophie beginnt schon in
einer Situation; diese ist aber nicht nur das ungefähre Meinen,
dem durch Zucht und Strenge des Denkens aufzuhelfen ist,
nicht bloss die Nachlässigkeit und Gedankenfaulheit der gemei-
nen menschlichen Natur; die Situation ist immer auch das Anste-
hen einer unbewältigten, schwer aufweckbaren Gedankenge-
schichte, die hinter uns liegt, - aus der wir leben, ohne es zu wis-
sen; und sie ist endlich auch die von keiner vergangenen, noch
künftigen Geschichte des Denkens ausschöpfbare Nähe des Un-
ausdenklichen, das als Sein, Wahrheit und Welt uns umfängt,
dem wir immer die vergeblichen Namen zurufen und es doch nie
in den menschengemachten Begriff zwingen können. Die Situa-
tion ist so ein vielfaches und vieldeutiges Faktum, das jeden
Ansatz einer philosophierenden Frage bestimmt und in einer
unaufhebbaren Weise einschränkt und bedingt. Es besteht immer
die Gefahr, dass wir sie zu kurz nehmen - und dann der Illusion
einer naiven Methode verfallen. Im Faktum der Situation gründet
die Notwendigkeit, jedes philosophische Problem zu exponieren.
N ach der gängigen Alltagsansicht liegt die Stelle des Raum-,
Zeit-, Bewegungsproblems schon fest. Man redet etwa von der
Natur-philosophie, sofern es sich um Grundstrukturen des natur-
haft Seienden handelt, von spekulativer Physik und spekulativer
Biologie, welche beide die apriorischen Momente von Raum,
Zeit, Bewegung entfalten sollen; von Geschichtsphilosophie dort,
wo die Zeit als Geschichtszeit im Blick steht, usf. Aber das We-
sen der Philosophie ist bodenlos für Einteilungen, - es gibt keine
Disziplinen, keine Fächer, nur in den Lehrbüchern der Philoso-
phieprofessoren ; jede wirkliche Frage des Denkens treibt ins Gan-
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 21

ze. Das bedeutet nicht, dass das Denken wahllos vom Hundert-
sten ins Tausendste kommt; gerade wo es der strengen Führung
einer wirklichen Frage untersteht, wo es diszipliniert ist, ver-
läuft es nicht in Kanälen, nicht in voraus abgesteckten Marken.
Alles entschiedene Denken mündet im Ganzen, wie alle Ströme
im Meer.

Wie aber sollen wir nun die Exposition des Problems gewin-
nen? Der Hinweis auf das Thema gibt wenig aus. Was befragt
werden soll, kennen wir - aber nicht die Weise, wie? Wie soll
denn dieses Allbekannte und Vertraute für uns fragwürdig wer-
den? Diese philosophische Fragwürdigkeit liegt ja nicht vor wie
ein Ausstand an einer Sache. Wenn wir vor einem Haus stehen,
sehen wir seine Rückseite nicht; aber wir können herumgehen.
Wir können die weissen Flecke auf der Landkarte tilgen, können
Expeditionen in unerforschte Gegenden senden; oder wir können
auch an den gegebenen Dingen noch ungegebene Seiten freilegen
durch verfeinerte Beobachtungen und Messungen; mit Mikroskop
und Teleskop erweitern wir den Bereich des Zugänglichen und
wesentlicher noch mit indirekten Methoden mathematisch-phy-
sikalischer Auslegung. Ist es denn so, dass hinsichtlich Raum,
Zeit, Bewegung gleichsam ein ungefährer Teil bekannt wäre und
wir das Fehlende nun noch ausforschen müssten? Kann Raum
und Zeit überhaupt in der gleichen Weise uns unbekannt und
entzogen sein wie Dinge? Anders herum gefragt, liegt nicht in
aller Unbekanntheit der Dinge schon eine Bekanntheit von
Raum und Zeit, - hat das Abwesende als solches nicht gerade
den Charakter des Ausstandes in Raum und Zeit? Gibt es Aus-
stehendes nur, weil schon die Dimension vorausgesetzt wird?
Die positiven Wissenschaften können weitgehend durch die An-
gabe ihres Themas charakterisiert werden, die Philosophie nie.
Was kann es schon heissen: sie sei Frage nach dem Sein? Das Sein
ist doch nicht etwas, das erst gesucht und aufgetrieben und her-
beigeschleppt werden müsste, es liegt auch nicht vor wie eine
geologische Schichtung, ein Erbgang, eine Krankheit, ein Rechts-
fall, es kann nicht untersucht werden und diese Untersuchung
kann nicht in einem Befund zusammengefaßt werden. Wir fragen
philosophierend doch nicht nach ihm wie nach einer abhanden
gekommenen Sache, - wir sind ihm auch nie gegenüber, sodass
22 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

wir daran bestimmte Erkenntnismethoden anbringen könnten.


Und doch ist die Bestimmung der Philosophie als Frage nach dem
Sein eine echte Aussage ihres Wesens. Nur muss der Fragecharak-
ter dieser sonderbaren Frage recht begriffen werden. Das gilt
auch für die Frage nach Raum, Zeit und Bewegung. Am meisten
fragwürdig daran ist die Art, wie sie problematisch werden sollen.
In unserem Falle stellt sich noch das Missliche ein, dass Raum,
Zeit, Bewegung in bestimmter Weise legitime Forschungs-
gegenstände bestimmter Wissenschaften sind. Ein Versuch, phi-
losophisch danach zu fragen, gerät also immer in die recht schwie-
rige Lage, sich dagegen abzugrenzen; dabei kann geschehen,
dass nur eine Art von Methodologie der Wissenschaften heraus-
springt. Sicherlich bieten diese Wissenschaften auch bedeutsame
philosophische Fragen. Die Geometrie z.B., mag sie als euklidi-
sche oder nicht-euklidische entwickelt werden, bezieht sich auf
ein System von Mannigfaltigem, das sie in axiomatischen Set-
zungen festlegt. Punkte, Strecken, Parallelen u.dgl. sind, wie man
gewöhnlich sagt, "ideale Gebilde", sind abstrakte Schöpfungen
des menschlichen Geistes und doch nicht nur blosse Einbildungen;
sie stehen in einem schwierig zu erhellenden Sinnbezug zu den
Raumverhältnissen im wirklichen Raum der Dinge. Aber für
gewöhnlich kümmert sich der Geometer nicht um den Seinssinn
dieser "idealen Gebilde"; er fragt nicht, was das überhaupt ist,
eine Figur, - er bestimmt Figuren, aber nicht das Figur-sein der
Figuren. Dergleichen müßige Fragen überlässt er den spintisie-
renden Philosophen. Der Geometer operiert im Zuge seiner Wis-
senschaft mit der apriorischen Erkenntnis. Verhältnisse der Fi-
guren werden nicht in der Erfahrung vorgefunden und festge-
stellt, sondern apriori konstruiert. Aber der Geometer stellt im
Gang seiner Forschung nicht die Frage nach der Möglichkeit der
apriorischen Erkenntnis des Figuralen; er betätigt sie, aber macht
sie selber nicht zum Problem. Und ebenso ist zumeist für den posi-
tiven Wissenschaftler das Verhältnis von Physik als Tatsachen-
wissenschaft zu ihren mathematischen Hilfswissenschaften nicht
im grundsätzlichen Sinne fragwürdig. Es ist doch nicht so, dass
die Mathematik einfach nur ein "Instrument" der physikalischen
Empirie wäre; die Anwendbarkeit der Mathematik im physika-
lischen Experiment setzt schon einen Vorentwurf der durchgän-
gigen mathematischen Bestimmtheit der Natur voraus. M.a.vV.
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 23
die apriorischen Erkenntnisse der Mathematik sind in der Phy-
sik nur anwendbar, wenn diese selbst geleitet ist von einem
Apriori der Natur, sofern diese Gegenstand eines in Gesetzen
fassbaren Wissens sein soll.

Kant unterscheidet die apriorische Mathematik, die nach


seiner These auf der Vorgängigkeit der reinen Anschauungs-
formen Raum und Zeit vor allem Gegebenen beruhen soll, von
einer apriorischen Naturwissenschaft, in welcher nicht ein be-
stimmtes Naturgesetz, wohl aber der Stil der Natur als Gesetz-
lichkeit vorgedacht wird. Darin wird z.B. die Bewegung aller
Dinge qua Erscheinungen als "Kausalität" im vorhinein be-
stimmt. Auf dieser gesetzhaften Bestimmtheit alles N aturge-
schehens apriori beruht die Mathematisierbarkeit der Natur
und damit die instrumentale Anwendung von Geometrie und
Arithmetik in der physikalischen Forschung. Man hat bisweilen
behauptet, die kantische Lehre von der Kausalität sei durch die
moderne Abkehr von der sog. klassischen Physik erschüttert
worden; in Gastheorie, Kernphysik usf. träten Bewegungsfor-
men auf, die nur durch statistische Gesetze ansprechbar seien.
Aber der beschrieene Irrtum Kants ist ein Irrtum der Inter-
preten. Kants ontologische These von der Regelhaftigkeit des
phänomenalen Geschehens (nämlich dass das Nacheinander ein
Infolge sein muss) bedeutet nicht, dass die bestimmte Formu-
lierung des Kausalgesetzes in der klassischen Physik eine aprio-
rische Weisheit wäre. Kants Naturbegriff, "das Dasein der Dinge,
sofern es nach allgemeinen Gesetzen bestimmt ist", enthält noch
keine ontischen Gesetze, wie etwa Gravitation, Magnetismus,
Elektrizität und dgl., sondern die Stilstruktur der ontologischen
Gesetzlichkeit, die sich ausdrückt in der kategorialen Prägung des
erscheinenden Seienden als Substanz und Akzidenz, als Kausalität
und Wechselwirkung. Ein angemessenes Verständnis wird hier erst
möglich, wenn der kantische Kausalitätsbegriff auch geschichtlich
verstanden wird; geschichtlich: das heisst hier, in seiner Abkunft
aus dem aristotelischen Schema der vier Gründe. Bei Kant ist
die "causa efficiens" zum vorherrschenden Sinnmoment ge-
worden, das die anderen Weisen gewissermassen in sich aufzehrte.
Die ganze Bewegungsauffassung Kants muss von da aus entfaltet
und aufgerollt werden. Aber das sind vorläufig nur Andeutungen.
24 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

Wir kehren zu unserer Frage zurück, wie denn überhaupt eine


Exposition der Problematik von Raum, Zeit, Bewegung in Gang
gebracht werden kann. Soviel mag vorerst klar geworden sein,
dass wir nicht wie die Wissenschaften unmittelbar beginnen kön-
nen in einem einfachen Hinblick auf das "Thema". Wir können
nicht direkt den Raum untersuchen, weil das, was wir zunächst
als Raum gewissermassen vorliegen haben und kennen, bereits
das Resultat einer in ihren Voraussetzungen nicht aufgeklärten
wissenschaftlichen Raumthematik ist, und weil- was nochschwe-
rer wiegt - wir in der faktischen Situation unseres Alltags gleich-
sam blind Gebrauch machen von einer Erbschaft, die aus Jahr-
hunderten herkommt. Nun legt sich der Gedanke nahe, über-
haupt nicht vom Raum selbst auszugehen, sondern von unserem
Raumverstehen, unserem Wissen von Raum, Zeit, Bewegung.
Das hiesse, zunächst einmal eine Art innerer Inventur zu machen
über die vielfältigen Weisen, wie wir dergleichen auffassen, wel-
che Begriffe wir dabei verwenden, welche Unterscheidungen uns
geläufig sind, - etwa zu unterscheiden den erlebten Raum unserer
Umwelt, die der praktische Schauplatz unseres Lebens ist; die
erlebte Zeit, wo es einem bald langweilig, bald kurzweilig ist,
und andererseits die objektive Zeit und den objektiven Raum,
und ähnlich vielfach auch hinsichtlich der Bewegung, etwa die
Bewegung, die wir von innen in unserem Leibe machen, die Weise
wie wir in ihm walten und schalten und uns doch mit ihm eins
fühlen, ihn dabei nie als einen Gegenstand ansehen können, in
welchem wir drin sitzen wie der Wurm im Apfel, - und anderer-
seits wie die erlebte Bewegung gleichsam von aussen aussieht,
als ein biologischer Vorgang aufgefasst werden kann oder gar als
eine mechanische Bewegung usf., und wie diese wechselnden
Aspekte ihr jeweiliges Recht haben, wie sie sich unterlaufen und
ergänzen; in der reflexiven Rückwendung auf unser Raum-,
Zeit- und Bewegungswissen wäre doch unleugbar eine reichhaltige
Fülle von ersten griffigen Unterscheidungen zu finden. Und
ferner könnte man bei diesem Rückgang in die Innerlichkeit
des raum- und zeiterlebenden Subjekts die intersessanten Dif-
ferenzen aufweisen zwischen dem orientierten Raum, der gleich-
sam in näheren oder weiteren Zonen um den Erlebenden herum-
gruppiert ist, - wo er der absolute Nullpunkt dieser Orientierung
bedeutet, und dem objektiven Raum, wo der Erlebende keine
AUSGANGSSITUATION DER FRAGE 25
ausgezeichnete Stelle hat, wo die Gleichförmigkeit herrscht, wo
überall "Hier" ist oder genauer: wo nirgends ein wirkliches Hier
ist, - wo an jedem beliebigen Ort ein Koordinatensystem er-
richtet werden kann. Und Ähnliches gilt offenbar auch von der
Zeit. Ist denn, könnte man fragen, die erlebte Zeit nicht dadurch
ausgezeichnet, dass sie ein echtes und wahrhaftiges jetzt hat,
mein jetzt, unser jetzt, diese Minute unseres Daseins, die wir
fühlen? Lässt sich denn wirklich die Zeit ablösen von den erleben-
den Subjekten, ablösen von der Seele, die in ihr mitgeht, mit strömt
und den eigenen Hingang, das eigene Schwinden spürt, zitternd
vielleicht im kalten Lufthauch der Vergänglichkeit, selig viel-
leicht über jeden geschenkten Augenblick des Daseins? Was ist
denn die objektive Zeit, die wir messen und festellen, die wir nach
gleichgültigen Strecken zusammensetzen? Ist dieses graue Einer-
lei denn wirklich die Zeit, in der wir geschehen und mit uns die
Dinge? Oder ist es eine Erfindung der Wissenschaften? Gibt es
eine Zeit, die niemandem gehört, - in der die lebenden Menschen
nur vorkommen wie Heringe in einer Tonne? Vor allem seit
Bergson ist es üblich geworden, das Zeitproblem vorwiegend am
Gegensatz von objektiver, metrisch messbarer Zeit und der er-
lebten Zeit, gleichsam der Zeit von innen, anzusetzen. Auch
Husserl in seinen bahnbrechenden Untersuchungen über die Phä-
nomenologie des inneren Zeitbewusstseins geht vom Unterschied
von Erlebniszeit und objektiver Zeit aus und gibt der Erlebnis-
zeit den methodischen Vorrang.

Dieser Ansatz der Problematik erscheint uns verkehrt. Er


führt zwar auf den ersten Blick eine plausible Verständigkeit
mit sich. Wenn wir über die Zeit, den Raum, die Bewegung sollen
philosophische Aussagen machen, so bieten die Weisen, wie wir
dergleichen erleben, gewiss eine reiche Ausbeute an nuancierten
Unterscheidungen, mit denen sich eine ganze Weile hin- und her-
reden lässt. Aber es ist die prinzipielle Frage, ob damit nicht
das ganze Problem von vornherein falsch gestellt wird, wenn Raum
und Zeit szs. am Schema der Subjekt-Objekt-Relation fixiert
werden. In Wahrheit gibt es weder einen objektiven Raum, noch
eine objektive Zeit, denen subjektive Erlebnisse gleichsam gegen-
überlägen. Raum und Zeit lassen sich nie zu biossen Gegenstän-
den herabwürdigen, so wenig ihnen andererseits damit ein höherer
26 AUSGANGSSITUATION DER FRAGE

Charakter verliehen wird, dass sie als Erlebnisraum und Erleb-


niszeit in den Menschen hineinprojiziert werden.

Die Frage, ob es gelingt, das übliche subjektiv-objektive


Schema bei der Raum- und Zeitproblematik zu vermeiden, ent-
scheidet darüber, ob überhaupt die philosophische Dimension
berührt wird.
3

DIE AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN


AUSEINANDERSETZUNG

Die philosophierende Frage nach Raum, Zeit, Bewegung ver-


langt eine Exposition. Sie kann nicht unmittelbar angesetzt
werden. Wir wissen nicht zuwenig. wir wissen zumeist zuviel,
sodass wir das Einfache gar nicht mehr der Frage würdigen. Wir
treiben in einem unübersehbaren Geschiebe von Meinungen, von
vagen und ungenauen Vorstellungen, angelernten Kenntnissen,
angelesenen Vorurteilen. Unser Dasein ist ständig begleitet von
einer Auslegung, die nicht nur die öffentliche des gängigen Aller-
weltsmeinens ist, sondern auch die private unseres Selbst um-
gangs. Das Dasein führt so eine Verständlichkeit mit sich, eine
vielfach artikulierte und immer auch beredete und beredsame
Verständlichkeit, in welche es gleichsam eingehüllt ist wie in eine
Wolke. Selten sind die Augenblicke, wo wir ihm nackt begegnen,
seiner nackten Herrlichkeit und seiner nackten Schrecknis, -
wo wir angerührt werden von der Unbegreiflichkeit unseres
einfachen Hierseins und wo wie der Blitz die Frage in uns ein-
schlägt, warum wir sind, und was das überhaupt ist, das Hier-
sein, das Sein, das alle Dinge umschlingt und einigt, jeden Streit
noch unterläuft und jede Entzweiung und so offenbar vor allem
liegt, was wir noch unterscheiden können. Die Exposition eines
philosophischen Problems muss sich immer gegen die im Schwan-
ge befindliche Verständlichkeit d.h. gegen die Macht des Selbst-
verständlichen durchsetzen. Das besagt aber, sie kann nicht ein-
fach darüber hinwegspringen und abseits davon ungestört be-
ginnen; der Herrschaft des Selpstverständlichen entkommt man
nicht dadurch, dass man es sich vornimmt; man hat sich noch
nicht losgerissen, wenn man Vorurteile beim Namen nennt; was
man als Selbstverständlichkeit aufzählen kann, ist gar nicht so
bedeutsam; die tiefsten und fast unausrottbaren Selbstverständ-
lichkeiten sind jene, die uns lautlos beherrschen, für die wir keine
28 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

Namen haben; sie schlagen unser Denken in einen Bann, der


nicht durch einen biossen Entschluß zu radikaler Selbstkritik
gelöst werden kann. Wir sagten schon, die Notwendigkeit, ein
philosophisches Problem zu exponieren, gründet im Faktum
der Situation, im Faktum einer vorgegebenen Verständlichkeit, in
der wir uns bereits schon bewegen, ehe wir anfangen, nachzu-
denken. Sofern aber die Situation nicht nur ein Inbegriff gängiger
Vorurteile, gedankenloser Meinungen, sondern die Erbschaft der
Denkgeschichte ist, wenn auch in der ruinanten Form des All-
tagsgebrauchs, muss die Aufrichtung des Problems immer auch
zur Auseinandersetzung mit dieser Geschichte werden. Das ist
der Grund dafür, dass jede wahrhafte systematische Frage der
Philosophie zugleich eine geschichtliche ist. Die in manchen Hand-
büchern beliebte Trennung von "systematischer Philosophie"
und von "Philosophiegeschichte" ist absurd. Hier wirkt offenbar
das Vorbild der positiven Wissenschaft irreleitend. Dort haben
wir ein Sachgebiet, das der Forschung zugrundeliegt ; gemessen
am gegenwärtigen Stand der Forschung sinken die früheren
Theorien über dieses Sachgebiet zu vorläufigen Stufen herab;
zwar wird eine solche sachlich gebundene Wissenschaft, wie z.B.
die Botanik, immer auch die Kontinuität des Forschungsganges
bewahren, ihre eigene Tradition pflegen, sie wird nicht mit Ver-
achtung auf frühere Stadien zurückblicken; die Wissenschafts-
geschichte ist schon oft für eine Wissenschaft zum Antrieb neuer
Methoden geworden, die in der Wiederaufnahme früherer Motive
unter veränderten Blickpunkten bestehen. Hier lässt sich in ge-
wisser Weise und mit gewissem Recht die Trennung zwischen
systematischer Forschung und der Geschichte der Wissenschaft
durchführen. Aber hat die Philosophie auch ein immer vorhan-
denes Sachgebiet, wie die Botanik die Pflanzen hat? Keineswegs,
sie hat kein Feld, das immer wieder von jeder Generation neu
zu durchforschen wäre und worüber sich im Laufe der Geschichte
sich immer mehr vervollkommnende Theoreme ansammeln wür-
den. Die Philosophie hat keinen Bezirk des Seienden zum Thema,
sie denkt vielmehr gerade das aus, was die Gegliedertheit der Dinge
in Bereiche, was ein Ding überhaupt ist, sie bildet die Seinsge-
danken, denen gemäß die Wissenschaften je ihr Thema an-
sprechen können. Aber sie beginnt nicht mit der Bildung der
Seinsgedanken, der Seinsbegriffe. Ihr Bilden hat, wenn es hoch
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 29

kommt, den Charakter der Umbildung und produktiven Ver-


wandlung; sie steht nicht nur auf dem Boden einer Tradition, sie
kann ihr Denken nur mit oder gegen diese Tradition vollziehen;
wo sie systematisch ist, ist sie wesenhaft zugleich geschichtlich.
Wo aber versucht wird, "System" und "Geschichte" zu trennen,
verfällt die Philosophie in den naiven Wahn einer zeitlosen Ge-
genwärtigkeit derart, dass die geschichtliche Herkunft der von
ihr gebrauchten Begriffe gar nicht mehr erkannt wird, und
andererseits wird die Geschichte zur blosse Meinungen aufsam-
melnden Historie, zur Doxographie. Dass das systematische
Denken von Hause aus geschichtlich und das philosophiege-
schichtliche wesenhaft systematisch ist, hat der grösste Systema-
tiker der Philosophie, Hegel, klar erkannt und wiederholt aus-
gesprochen. Die Vergangenheit des Denkens ist nicht das, was
für immer vorbei ist und nie wiederkehrt, die grossen Gedanken
sinken nicht unwiederholbar ins Schattenreich des abgelebten
Lebens; sie sind nicht tot, wenn sie vergangen sind; aber sie
müssen unser Blut trinken, um wiederzukehren. Entscheidender
also als die Gegenstellung gegen die alltäglich gebrauchten, um-
laufenden Begriffe ist die geschichtliche Auseinandersetzung.

Auch diese kann keine "vollständige" sein. Kein Menschen-


leben reicht aus, um auch nur die Werke aller vergangenen Philo-
sophen zu lesen, geschweige denn sie zu studieren und auszu-
legen - als Vorarbeit für eine Auseinandersetzung. Aber selbst
ein Methusalem, der alle Werke gelesen hätte, hätte damit nicht
die ganze Tradition wirklich erfahren. Er hätte vielleicht den
ganzen Buchstaben, nicht aber den ganzen Geist der Denkge-
schichte erinnert. Denn wir verstehen vom Vergangenen nur, was
uns irgendwie "verwandt" ist; wir hören und vernehmen nur,
wofür wir die Bereitschaft des Horchens schon mitbringen.
Probleme sind keine Kenntnisse, die sich jedermann aneignen
kann; nur wo das menschliche Dasein selbst schon betroffen ist
von der Fragwürdigkeit des Seienden als solchen und im ganzen,
vermag es die Sprache des vergangenen Denkens zu hören, die
immer mehr ist als der überlieferte Wortlaut. Den tiefen Gegen-
satz zwischen dem echten geschichtlichen Verhältnis zur ver-
gangenen Philosophie und der nur gelehrsamen Doxographie
formuliert Hegel in seiner frühen Schrift über die ",Differenz des
30 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

Fichteschen und Schellingschen Systems der Philosophie" (1801)


also: "Der lebendige Geist, der in einer Philosophie wohnt, ver-
langt, um sich zu enthüllen, durch einen verwandten Geist gebo-
ren zu werden. Er streift vor dem geschichtlichen Benehmen,
das aus irgendeinem Interesse auf Kenntnisse von Meinungen
auszieht, als ein fremdes Phänomen vorüber, und offenbart sein
Inneres nicht. Es kann ihm gleichgültig sein, dass er dazu dienen
muss, die übrige Kollektion von Mumien und den allgemeinen
Haufen der Zufälligkeiten zu vergrössern; denn er selbst ist dem
neugierigen Sammeln von Kenntnissen unter den Händen ent-
flohen. Dieses hält sich auf seinem gegen Wahrheit gleichgültigen
Standpunkte fest und behält seine Selbständigkeit, es mag Mei-
nungen annehmen, verwerfen, oder sich nicht entscheiden. Es
kann philosophischen Systemen kein anderes Verhältnis zu sich
geben, als dass sie Meinungen sind; und solche Akzidenzien, wie
Meinungen, können ihm nichts anhaben. Es hat nicht erkannt,
dass es Wahrheit gibt." Aus diesen Worten Hegels ergibt sich,
dass die Doxographie auf einer Grundstellung des menschlichen
Daseins beruht: auf der Gleichgültigkeit gegen die Wahrheit,
und dass sie dadurch bei allem ihrem vorgeblichen Interesse für
Philosophie sich davon gerade abriegelt; und ferner, dass das
echte geschichtliche Verhältnis aus einem Grundbezug zur Wahr-
heit hervorgehen muß. Ein solcher Bezug aber ist wesenhaft
immer einseitig und beschränkt. Mehr noch als die subjektive
Begrenztheit der Kenntnisse von der vergangenen Philosophie
ist es die Begrenztheit unserer Betroffenheit, die alle Ausein-
andersetzung mit der Geschichte bedingt und einschränkt.
Philosophie bleibt immer ein endliches, allzu-endliches Geschäft.
Und endlich ist sie schon in der Problemstellung, nicht erst
im Resultate ihres Wissens. Das soll im Vorhinein zugestan-
den und eingestanden werden. Das besagt, dass unsere Frage
nach Raum, Zeit und Bewegung in gewissem Sinne zufällig ist,
bedingt durch die von uns selbst nicht mehr einschätzbare Pro-
blemoffenheit. Es wäre aber verkehrt, wollte man aus dieser sub-
jektiven Bedingtheit des philosophischen Fragens den Schluß
ziehen, dass es, weil es nie die intersubjektive Sicherheit der
Wissenschaften gewinnen kann, eben bestenfalls den Charakter
einer individuellen Konfession haben könne. Die Fragwürdigkeit
und Gefährdetheit des philosophischen Wissens widerspricht
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 31

nicht seiner möglichen Wahrheit. Wahrheit und Gewissheit fallen


nicht zusammen; die höchste Form der Wahrheit muss am Ende
nicht in der Weise der höchsten Sicherheit und Gewissheit fixier-
bar sein. Vielleicht beruhen insgesamt die Wissenschaften mit
ihrer intersubjektiven Kontrollmöglichkeit auf einem von ihnen
nie bedachten Wesensbau des Seienden, der seinerseits gar nicht
so intersubjektiv gesichert gewusst werden kann.

Unser bisheriger Versuch, das Problem zu exponieren, war im


Wesentlichen negativ, war in der Abwehr gesprochen gegen
Vorstellungen, Begriffe und Unterscheidungen, die im alltäg-
lichsten Alltag umlaufen und die wir immerzu gebrauchen. Die
gängigste, leerste und abgebrauchteste solcher Formeln war die
vom Subjekt-Objekt-Bezug. Mit ihr hantieren wir schon in der
dumpfesten Reflexion; man kommt sich gebildet und kritisch
vor, wenn man nicht einfach das Seiende hinnimmt und aus-
legend bestimmt, sondern nach seinen objektiven und subjekti-
ven Seiten und Momenten aufteilt und das Auseinandergenom-
mene ins rechte Verhältnis setzt usf. Das Modell für all die allge-
meinen Redensarten von Subjekt und Objekt ist gemeinhin die
Wahrnehmung. Ich nehme z.B. einen Baum wahr Subjektiv ist
dann das Wahrnehmungserlebnis, der Wahrnehmungsakt; objek-
tiv der wahrgenommene Baum selbst. Aber das Wahrnehmungs-
erlebnis lässt sich ja gar nicht isolieren, lässt sich nicht auf das
Wahrnehmen beschränken; denn zu ihm selbst gehört ja das
Wahrgenommene als solches; es ist, wenn es überhaupt Wahr-
nehmen ist, immer auch Wahrnehmen von ... ; der intentionale
Sinn "Baum" ist ein unwegdenkbares Strukturmoment des
subjektiven Wahrnehmungserlebnisses, ganz unabhängig davon,
ob diesem Sinn ein wirklicher Baum entspricht. Auch die Hallu-
zination einer Baum-Wahrnehmung enthält den intentionalen
Gegenstand als Sinnmoment in sich. Wenn wir dann weiterhin
unterscheiden den Sinn "Baum" und den wirklichen Baum draus-
sen, so haben wir schon zweierlei "Objekte", eines, das als inten-
tionales Sinnkorrelat selber zur subjektiven Wahrnehmung ge-
hört, und das andere, das als subjektunabhängige Wirklichkeit
genommen wird. Der Baum aber, der grünt und blüht, der Farbe
und Aussehen, Härte und Schwere hat, ist - wie eine neuerliche
Reflexion uns belehren mag - nicht ein an sich Wirkliches, er ist
32 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

Erscheinung, sofern er nur für unsere Sinne farbig, schwer, hart


ist; die sogenannten sekundären Qualitäten, sagt man, gehören
nicht dem Ding selbst zu, sondern der subjektiven Gegebenheit;
das Objekt selbst spaltet sich nochmals in das subjektive Phä-
nomen der sekundären Qualitäten und in das Ding selbst als Inbe-
griff der primären Qualitäten; Kant hat auch diesen Begriff des
Objekts dadurch aufgelöst, dass er die quantitativen Bestim-
mungen nicht dem Ding selbst, sondern nur seiner Erscheinung
zuspricht; auch sie sind noch "subjektiv", allerdings nicht im
empirischen Sinne, sondern insofern sie Formen der reinen An-
schauung sind, die das Subjekt von Hause aus mitbringt. Der
Unterschied von Subjekt und Objekt wird so weitgehend relati-
viert. Aber auch in einer anderen Hinsicht hebt sich die beliebte
Dichotomie auf. Das Subjektive, sagt man, ist das Ichliehe ; die
Wahrnehmung ist "subjektiv", weil ich sie erlebe und durchlebe;
der Baum dagegen ist "ichfremd" . Aber in solchen erkenntnis-
theoretischen Untersuchungen reden wir streng genommen nicht
über mein wirkliches Ich, das ein einziges und unverwechselbares
ist, wir reden über das Ich, das je-meinige Ich, über die je-mei-
nigen "subjektiven Erlebnisse" usf.; d.h. das Ich, von dem die
Rede ist, ist nicht mein faktisches Ich, sondern die Ichlichkeit
aller Iche, die Subjektivität aller Subjekte; anders gewendet, es
handelt sich in der theoretischen Aussage über Subjekt, Ich und
dgl. gleichsam um ein objektives Ich, ein objektives Subjekt.
Wenn man sich bemüht, die Sphäre des Subjektiven rein zu prä-
parieren und allem Objektiven entgegenzustellen, schleicht sich
unversehens ein methodologischer Objektivismus ein, weil man
über das Subjekt objektiv-giltige Aussagen macht. Und endlich
bringt es die Natur der Korrelatbegriffe, denn solche sind eben
Subjekt-Objekt, mit sich, daß sie überhaupt nie von einander
ablösbar sind; das Objekt ist, was es ist, nur für ein Subjekt und
umgekehrt. Aus diesem magischen Zirkel kommt man nie heraus,
außer eben dann, wenn man die ganze Korrelation in Frage
stellt. Und das wäre nur möglich, wenn die metaphysische Wand-
lung, welche in der Neuzeit das Seinsproblem in die Dimension
des Subjekt-Objekt-Bezuges verlagerte, wiederholend nachge-
dacht und geprüft würde. Denn ursprünglich bedeutet Subjekt
nicht das Ich; subjectum ist die lateinische Übersetzung für das
griechische HYPOKEIMEKON, das Zugrundeliegende. Das Zugrun-
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 33

deliegende war aber ein Wesenszug der Seiendheit alles Seienden.


Das Ding ist die Unterlage für alle seine Eigenschaften, ist die
Unterlage, die bleibt, im Wechsel der jeweiligen Zustände des
Dinges. Mit dem Begriff des HYPOKEIMENON wurde in einer
wesentlichen Perspektive die Substanz gedacht. Und ebenso be-
deutet "Objekt" anfänglich nicht das Korrelat zu Subjekt, nicht
den vorgestellten Gegenstand eines vorstellenden ichlichen Ver-
haltens. Objectum, griechisch ANTIKEIMENON ,ist die Grundweise,
wie jeglich Seiendes sich einem anderen Seienden darbieten,
darstellen kann. Wo Dinge in Beziehungen stehen, wo sie an-
grenzen, wo sie kommen und gehen, aufgehen und sich verbergen,
streiten und in einander übergehen, ereignet sich das Sichdarstel-
Len. Das braucht gar nicht einen erkenntnismäßigen Sinn zu
haben. Objekt ist ein Ding, sofern es gestoßen wird. Zwei Dinge
sind wechselweise für sich jeweils ANTIKEIMENA. M.a.W. Subjekt
und Objekt haben ursprünglich einen allgemeinen ontologischen
Sinn. Jedes Seiende überhaupt ist Subjekt und Objekt, ist ein
Zugrundeliegendes (für seine Eigenschaften und Zustände) und
ist ein Sichäußerndes, Sichdarbietendes für die benachbarten
Dinge. In der Neuzeit, vor allem in der Metaphysik Descartes'
und Leibnizens vollzieht sich der merkwürdige Wandel, daß
die Substanzialität der Substanz eine neue Interpretation erfährt,
welche zwar die antike nicht beseitigt, aber doch eigenartig
überhöht. Das Zugrundeliegen wird am ausgezeichneten Modell
der Ständigkeit des vorstellenden Ich in allen mannigfachen
Vorstellungen orientiert - und andererseits das Entgegenliegen
des Seienden am besonderen Entgegenliegen des Vorgestellten
gegenüber dem Vorstellen. Es wäre unzureichend charakterisiert,
wenn man darin nur den Vorgang einer Bedeutungsverengung
sehen wollte, etwa so, daß der bislang allgemeine ontologische
Sinn von Subjekt und Objekt nunmehr auf die Korrelate des
Erkenntnisvorgangs sich einschränke; entscheidend ist vielmehr,
daß gerade in einer solchen angeblichen Einschränkung der bis-
herige universale Sinn verwandelt wird. Jegliches Seiende ist
Subjekt, ist Ich oder ichhaft, - dies ist die Grundthese der
"Monadologie" von Leibniz, jegliches ist "vis", ist Kraft, ist
einheitlich-einiges Ganzes von "appetitus" und "perceptio"; so
ist das Seiende gleichsam von Innen gesehen; es macht dabei
nichts aus, daß nicht alle vorfindbaren Dinge vorfindlich an ihnen
34 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

die Struktur der Beseeltheit und gar der ichlichen Bewußtheit


zeigen; grundsätzlich ist jedes Seiende beseelt, aber vielfach haben
die Monaden nur verworrene Vorstellungen, sind nicht zur Klä-
rung durchgedrungen, sie befinden sich im Schlafe. Der Schlaf
als die Weise, wie ein mit Bewußtsein ausgestattetes Lebewesen
gleichsam zeitweilig in die unbewußte Ruhe des vegetativen
Daseins zurückfallen kann und doch wesensmäßig bewußt ist,
auch wenn es vom Bewußtsein keinen Gebrauch macht, - der
Schlaf wird für Leibniz zum Gleichnis für die allgemeine ontolo-
gische Struktur der Subjektivität als Ichlichkeit auch dort, wo
sie zunächst gar nicht gegeben scheint, eben bei dem sog. Leb-
losen, den toten Dingen. Und ebenso sind für ihn alle Dinge,
von außen gesehen, Objekte, d.h. Vorgestelltheiten, deren Sein
nur im Phänomen-sein besteht. Leibniz bedeutet in der Ge-
schichte der Seinsgedanken eine Peripetie größten Ausmaßes,
eine Katastrophe, in deren Auswirkungen wir noch stehen,
obgleich seine Gedanken längst bei uns in einer trivialisierten
und verharmlosten Art angekommen sind; Leibniz radikalisiert
die antike Grundfrage nach der Einsheit des Seienden, eben die
Frage, inwiefern jedes Seiende als solches notwendig je ein eines
ist, findet aber ein neues Prinzip der Einsheit in der Identität
des Ich gegenüber allen seinen mannigfaltigen Vorstellungsin-
halten ; er gewinnt eine Innenansicht des Seienden, der er konse-
quent eine Außen ansicht gegenüberstellen muß, er verwandelt
den kartesianischen Dualismus von res cogitans und res extensa
in einen gespannteren Dualismus von innerer und äußerer Welt
und begründet die neuzeitliche Form des Unterschieds von sinn-
licher und intelligibler Welt, welcher Unterschied das Denken
des Idealismus beherrscht bis zu Hegel, - ja bis zu Nietzsches
Kriegserklärung an den Platonismus. Im Alltag freilich ist von
den Peripetien und Katastrophen der Denkgeschichte nicht viel
zu spüren. Das Begriffspaar "Subjekt-Objekt" ist uns dort so ge-
läufig wie das ebenso banale von "Form und Inhalt". Ja man
könnte sagen, der gängige Gebrauch von Subjekt-Objekt ist die
Banalisierung der entscheidenden neuzeitlichen metaphysischen
Interpretation des Seienden, wie der Vulgärgebrauch von "Form
und Inhalt" der entleerte Nachklang der antik-aristotelischen
Seinsauslegung nach HYLE und MORPHE ist. Die wahllose Brauch-
barkeit dieser Begriffsschemata bedeutet nicht, daß sie ursprüng-
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 3S

lich nichtssagende Gemeinplätze gewesen wären, - im Gegenteil,


ihre banale Allerweltsgültigkeit, bei der wir uns schon nichts
mehr denken, ist nur eine späte Verdämmerung ursprünglicher
Seinshelle. Wenn wir es nun vermeiden wollen, den Ansatz un-
serer Frage nach Raum, Zeit und Bewegung in der üblichen Ma-
nier am Schema von Subjekt und Objekt zu orientieren, und
eben nicht beginnen mit den gängigen Abgrenzungen von sub-
jektiver Zeit und objektiver Zeit usw,. - wenn wir statt dessen
nach dem Raum und nach der Zeit fragen, ja wenn wir sagen,
daß von der Vermeidung des Subjekt-Objekt-Schema es abhänge,
ob man in die eigentliche Dimension des Problems gelangt, so
sind wir dabei dem Vorwurf ausgesetzt, daß unsere Rede von
dem Raum, der Zeit eine prätentiöse Harmlosigkeit sei; - daß
man die Zerrissenheit des Seienden in die beiden Sphären des
Objektiven und Subjektiven zwar ignorieren, aber niemals auf-
heben könne. Man entgegnet uns etwa: ist denn der Raum, der
sog. Raum selbst, nicht ein von uns erlebter, von uns gedachter,
gefühlter, erfahrener, vorentworfener Raum? Gibt es denn diesen
Raum an sich, ohne unser Wissen von ihm? Oder ist nicht
der Raum an sich, gerade dadurch, daß dieses Ansich betont,
seine Unabhängigkeit von uns noch unterstrichen wird, ein uns
gegebener Raum, ob wir auf unsere Raum-Habe achten oder
nicht? Ist das sog. Unabhängige immer noch im Bezug zu dem,
wovon es unabhängig ist? Sind wir als die Raumerfahrenden,
Raumhabenden nicht doch stillschweigend mitgedacht, wo laut
von der Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Raumes geredet
wird? Man könnte argumentieren: analog wie das Ding selbst,
etwa der Baum, nicht von unserem aktuellen Wahrnehmen ab-
hängt, sondern auch ist, bevor wir auf ihn schauen, und immer
noch ist, wenn wir nicht mehr hinsehen, so ist auch der Raum von
unseren aktuellen Raumerlebnissen ablösbar ; aber der Baum
mitsamt seiner Unabhängigkeit vom aktuellen Wahrnehmen ist
im ganzen doch ein Baum für uns, ebenso wie seine Unabhängig-
keit eine Unabhängigkeit von und für uns ist; und gleichfalls ist der
Raum selbst, im ganzen genommen, der Raum für den Menschen.
Dieses argumentative Räsonnement ist ebenso richtig, als es
nichtssagend und leer ist. Wenn wir vom Raum reden, ist er als
der beredete unseres Redens unweigerlich in einem Bezug zu uns.
Ihn daraus herauslösen wollen, wäre ebenso unmöglich, wie über
36 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

den eigenen Schatten zu springen. Aber es ist ein grundsätz-


licher Unterschied, ob wir über den Raum selbst Aussagen eines
denkenden Bestimmens machen - oder ob wir von vornherein in
der Subjektsrelativität einsetzen und diese so zur Basis der Aus-
legung machen. Das gilt ganz grundsätzlich für das Vorgehen der
Philosophie. Wenn sie primär Ontologie ist, so ist sie Auslegung,
Weiterbildung und Neustiftung des Seinsverständnisses. Sie be-
wegt sich denkend im Seinsverstehen, aber sie macht es nicht
eigens und ausdrücklich zum gegenständlichen Thema. Die onto-
logische Seinsauslegung lässt sich nicht begründen durch eine
vorgeordnete Theorie des die Auslegung führenden Seinsver-
ständnisses selbst. Das aber war noch Heideggers Ansatz in
SEIN UND ZEIT. Dort war die existenziale Analytik, d.h. die Ex-
plikation des menschlichen Daseins, der universalen Seins frage
vorgeordnet und wurde als Fundamentalontologie bezeichnet,
da der seinsverstehende Mensch der Ort und das Fundament der
Seinsproblematik sei. Aus diesem Ansatz herauszukommen, ist
die Grundbemühung der späten Schriften Heideggers. Was er die
"Kehre" nennt, ist u.a. auch die Abkehr von der Vorherrschaft
des Methode-Gedankens und die Einkehr in das Problem des
Seins selbst, wobei der denkende Mensch umsomehr zurücktritt,
je wesenhafter er denkt. Vielleicht ist es ein Vorurteil des neu-
zeitlichen Subjektivismus, daß die Radikalität des Denkens ab-
hängig sei von der reflexiven Selbstgewißheit und Selbstver-
gewisserung des Denkenden; die Wurzel des denkenden Menschen
ist nicht der Mensch; er ist nicht der archimedische Punkt, von wo
aus die Erde bewegt werden kann; er ist nicht das "fundament um
inconcussum". Gesetzt, er sei das Wesen der Transcendenz, das
Seiende, das sich notwendig übersteigt, das hinaussteht ins Welt-
ganze und im Zuruf steht aller Dinge, dann wäre das reflektieren-
de Hinstarren des Menschen auf sich selbst gerade die sicherste
Art, wie er sein exzentrisches Wesen verlieren und verderben
würde. Und vielleicht steht es analog bei der philosophierenden
Frage nach dem Raum, der Zeit, der Bewegung.

Was wir fordern, mag zunächst als eine methodische Naivität


erscheinen, zumindest für eine Denkgewohnheit, die bei dem
geläufigen Verrechnen des Seienden in subjektive und objektive
Komponenten gar nicht mehr die denkgeschichtliche Herkunft
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 37

dieses Unterschiedes zu prüfen vermag, - die seine "Selbstver-


ständlichkeit" nicht als die entleerte Trivialisierung eines einst-
mals großen ontologischen Entwurfs verstehen kann. Und des
weiteren wäre noch zu sagen, daß eben Raum und Zeit und Be-
wegung keine Dinge sind, obgleich alle Dinge im Raum, in der
Zeit, in Bewegung sind. Das Worin der Dinge ist selbst kein Ding.
Zumeist sehen wir das Einfache dieses Grundverhältnisses gar
nicht. Wir blicken hin auf räumliche Eigenschaften der Dinge,
auf die Abstände, die Strecken, die figuralen Momente, be-
trachten statt der Zeit die verschiedenen, mannigfaltigen Zeit-
ablaufsformen, die Zeitstrecken, die Dauern und Veränderungen
am Seienden; wir unterscheiden vielerlei Bewegungsarten, indem
wir wieder auf die Dinge sehen, wie sie sich bewegen, d.h. wie
sie in Bewegung sind. Aber den Raum, worin die räumlichen
Dinge Gestalt und Lage und Abstand haben, - die Zeit, worin
Ereignisse und Begebenheiten, Wechsel und Bleiben der Dinge
geschehen - qie Bewegung, worin alle bewegten Dinge schwingen,
das sehen wir zumeist gar nicht; es hat den Anschein, als entzöge
sich uns dieses Umfangende und Einbegreifende ins Unaus-
sprechbare. Und doch haben wir dafür immer schon einen Namen.
Es ist einfach die Welt. Der Raum ist der Weltraum, die Zeit ist
die Weltzeit, die Bewegung ist das Weltspiel des Seins. Wie die
Welt alle Unterschiede der Dinge überholt und in ihrem reinen
Umfangen birgt, so ist auch die Weltoffenheit des menschlichen
Daseins je schon über den Unterschied der immanenten Subjekts-
sphäre und der transcendenten Objektssphäre hinaus - und kann
gar nie vom Phänomen des intentionalen Bezugs aus angemessen
verstanden und ausgelegt werden. Das sind zunächst nur Thesen.
Aber auch der übliche Ansatz der Raum- und Zeitauslegung
enthält versteckte Thesen, enthält Voraussetzungen, die einer Prü-
fung bedürfen. Dass gemeinhin der Ausgang für die Bestimmung
des Raumes in den Strukturen von Punkt, Linie, Fläche genom-
men wird, bedeutet die Herrschaft der versteckten These, Raum
sei etwas am Seienden. Diese Voraussetzung bleibt ungebrochen
in Geltung, auch wo subtile Raum-Analysen durchgeführt wer-
den. Die Analysen sind nur noch "Veranschaulichungen", durch-
exerzierte Beispiele, an denen die leitende Grundauffassung sich
bestätigen will. Und in der Tat kann man eine ganze Geometrie
vom binnenräumlichen Ansatz aus aufbauen, und ebenso eine
38 AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG

(sogar apriorische) Zeit- und Bewegungslehre. Die Begrenzt-


heit dieses Vorgehens kann umso schwerer aufleuchten, weil die
Seinsautfassung der Metaphysik gerade vorwiegend am Seienden
d.i. am Binnen-Weltlichen orientiert ist.

Unsere Absicht ist es nun, so nach Raum und Zeit und Bewe-
gung zu fragen, daß im Verfolg dieser Frage die Ontologie selber
Problem wird. Also nicht um die Anwendung einer ontologischen
Methode auf ein bestimmtes thematisches Gebiet, seien es auch
Grundstrukturen des Seienden, handelt es sich, sondern um eine
Fragwürdigkeit, wo das Fragen nicht in einer bereits gesicherten
Bahn läuft. Nun kann man aber sag~n: das ist bei der Philoso-
phie nie der Fall; sie ist keine Erkenntnisweise, die auf ein vorge-
gebenes Feld bezogen und nur in einer fortschreitenden Um-
und Weiterbildung ihrer Methode begriffen ist. Die Philosophie
ist immer ihr eigenes Problem. Von dieser Selbstbezüglichkeit und
Selbstinfragestellung kann sie gar nicht absehen, solange sie als
das ungesicherte und weglose Denken des Menschen sich ver-
steht; das Philosophieren ist immer das Wagnis der Irrfahrt;
und nicht nur für den Giganten, auch für den kleinen Mann gilt,
daß, wer sich mit ihr einläßt, immer wieder alles verlieren muß, -
daß ihm wie Sand unter den Händen die Wissenserwerbe zerrin-
nen. Die Philosophie ist deswegen im eigentlichen Sinne nicht
lehrbar und nicht lernbar; es gibt in ihr keine Autoritäten und
kein kanonisiertes Lehrgut.

Aber nicht diese Fragwürdigkeit war gemeint, als wir vorhin


sagten, daß so nach Raum, Zeit und Bewegung zu fragen sei, daß
in eins damit die Ontologie selber Problem werden soll. Der ge-
schichtliche Anfang der Ontologie fällt zusammen mit dem Versuch,
Raum und Zeit und Bewegung aus dem Wesen des Seins auszu-
treiben. Die Seinslehre der Eleaten, die Philosophie von Parmeni-
des, Melissos und Zenon war der gigantische Kampf, den Seins-
gedanken von der Bewegung freizuhalten. Dieser Ansatz bestimm-
te das geistige Geschick des Abendlandes. Nicht dass es gelungen
wäre oder hätte gelingen können, die Bewegung schlechthin zu
verneinen, sie bleibt ein ständiges Thema aller großen und wesent-
lichen Denker. Aber die Dimension, in welche sie gleich zu Beginn
der ausdrücklichen Seinsfrage abgedrängt wurde, war als das
AUFGABE EINER GESCHICHTLICHEN AUSEINANDERSETZUNG 39

Reich des Uneigentliehen abgewertet worden. Mögen alle sinn-


fälligen Dinge uns die Bewegung lehren, mögen die Winde wehen,
die Wogen rauschen, die Wolken ziehen, die Lichter am Himmel
wandern, mögen die Menschen blühen und welken wie Gras, - vor
dem unerbittlichen Denken des Denkers, der nur das Eine denkt,
das IST, scheint es keine Bewegung zu geben. Der Gedanke sagt,
daß sie unmöglich ist. Ein solcher Gedanke muß uns aufs tiefste
befremden. Wir sind dem Augenschein vertraut und vertrauens-
voll hingegeben; die Weltstunde des Denkens aber beginnt ge-
schichtlich mit dem ungeheuerlichsten Ausspruch, daß das Sei-
ende ist - und daß die Bewegung nicht ist.
4

DIE WELTVERGESSENHEIT DES


ABENDLÄNDISCHEN DENKENS

Unsere bisherige überlegung hat vor allem ein negatives Ziel


verfolgt, nämlich zu verhindern, dass die Frage nach Raum,
Zeit, Bewegung von vornherein in eine Bahn abgedrängt wird,
die bestimmt ist durch gängige Vorurteile, eine undurchsichtige
Tradition und im Schwange befindliche Patentmethoden. Ein
Vorurteil ist es, wenn eine bestimmte philosophische Disziplin,
etwa die Naturphilosophie, als der legitime Bereich für das Pro-
blem von Raum, Zeit und Bewegung behauptet wird, - oder
wenn, weil die Mathematik und Physik in ihrer Weise mit der-
gleichen zu tun haben, eine Theorie dieser Wissenschaften als
allein zuständig proklamiert wird. Und eine Naivität wäre es,
wollte man verkennen, dass die Begriffe, in denen wir Raum und
Zeit und Bewegung ansprechen, bereits eine lange Geschichte in
sich haben, eine Geschichte niedergeschlagener Denkarbeit von
vielen Jahrhunderten; und endlich kommt viel darauf an, sich
hier von jenen "Methoden" freizuhalten, welche in einem selbst-
verständlichen "Ansehen" stehen, und dabei doch auf ganz be-
stimmten ungeprüften Vorentscheidungen beruhen. Wir sprachen
in diesem Zusammenhang einen mißtrauischen Verdacht aus
gegen die "phänomenologische Methode", welche das Prinzip der
durchgängigen "originären Ausweisung" allein gelten lässt und
so sich, wider Willen, auf solches einschränkt, was "Phänomen"
werden kann. Von Raum, Zeit, Bewegung aber ist es keineswegs
sicher, dass sie ihrem eigentlichen Wesen nach in einem Erschei-
nen fassbar und analysierbar sind. Und auch die sich so kritisch
dünkende Methode der Scheidung subjektiver und objektiver
Momente ist, obgleich sie weitgehend die Zeit-Theorien z.B. der
modernen Philosophie beherrscht, inadäquat, weil eben Raum
und Zeit sich nie aufteilen lassen; wohl ist Räumliches und Zeit-
liches je subjektiv und objektiv, nie aber Raum und Zeit selbst;
DIE WELTVERGESSENHEIT 41

die Scheidung in Subjekt und Objekt setzt vielmehr schon Zeit


und Raum voraus.

Die Abwehr der genannten Blickbahnen macht nun die Frage


um so dringlicher, wie denn nun positiv das Problem exponiert
werden soll. Wir fragen nach Grundproblemen der Ontologie.
sagten schon, dass dies nicht so gemeint sei, dass Raum, Zeit und
Bewegung eine zentrale Thematik der Ontologie bedeuten, son-
dern so: dass die Frage nach diesen drei Titeln gerade die Ontolo-
gie mit in Frage stellen müsse. Grundprobleme sind es, weil sie
den verdeckten "Grund" der Seinsauslegung betreffen, das Unge-
dachte im Wurzelboden der Ontologie. Raum und Zeit und Bewe-
gung bilden die verborgenen Horizonte des abendländischen
Seinsdenkens, das sich gegen seine Wurzeln ausspricht. Die "Ver-
borgenheit" besagt hier nicht Unkenntnis. Das Ungedachte ist
nicht das vom Denken Vergessene. Nicht etwas, was man durch
eine einfache Erinnerung wieder holen könnte. Raum, Zeit und
Bewegung bilden ein unablässiges Thema der ontologischen
Tradition. Aber die Art, wie sie thematisch werden, wie sie
in ihrem Zusammenhang mit dem Sein gesehen werden, vor
allem wie sie aus dem Wesen des Seins eliminiert werden, -
diese Art ist gerade eine Verborgenheit: sie werden in den dunk-
len Untergrund der Ontologie verdrängt. Wo immer die Onto-
logie die Sprache des Seins spricht, spricht sie auch, wenn auch
uneingestanden die Sprache des Raumes, der Zeit, der Bewegung,
d.h. die Sprache der WeU. Aber sie spricht diese nicht offen, eher
heimlich und verhüllt. Und wo noch dem Reich des Vergängli-
chen das Reich des unvergänglichen Seins gegenübergestellt
wird, operiert man mit den räumlichen Kategorien von "dies-
seits" und "jenseits". Es wäre eine arge Harmlosigkeit, wollte
man in diesem Vergessen nur eine missliche Unterlassung sehen.
Diese Vergessenheit ist kein Irrtum, der reparabel ist, ist über-
haupt kein Irrtum, auch keine Halbwahrheit, die nur zu ergänzen
wäre. Die Welt vergessenheit der Ontologie ist ein geschichtliches
Schicksal, das selber seine Zeit hat. Das Weltalter der Ontologie
ist beherrscht durch den Gedanken des "SEINS". Vielleicht geht
es zu Ende, wenn radikal begriffen wird, dass "sein" ein Zeitwort,
ein Raumwort, ein Bewegungswort ist, - wenn SEIN UND ZEIT in
ihrem wesentlichen Bezug denkwürdig werden. Heideggers säku-
42 DIE WELTVERGESSENHEIT

lare Bedeutung beruht nicht auf der sog. "Existenzphilosophie",


nicht auf dem Wichtignehmen des Menschen in seiner Daseinsnot,
seiner Todesangst, seinem Gewissen, seiner Freiheit, nicht auf
dem Pathos "existentieller Bekümmerung", nicht auf all dem,
was man als ein säkularisiertes Christentum ansehen kann,
sondern auf der elementaren Wucht der verwandelten Seinsfrage,
verwandelt durch das Zusammendenken von Sein und Zeit.
Mit einem tiefen Recht konnte Heidegger sagen, dass das wich-
tigste Wort im Titel seines Hauptwerkes das UND sei. Dieses
"Und" ist darin das eigentliche Problemwort. Sein und Zeit be-
deutet keine Zusammenstellung etwa wie Natur und Geist, oder
wie Substanz und Eigenschaft, oder wie Natur und übernatur;
es handelt sich nicht um eine Zuordnung von verschiedenen Din-
gen, noch Seinsbereichen, noch irgendwie bezüglicher Seinsbe-
griffe. Sondern um die Zusammenstellung des Unvereinbaren.
Der Titel ist ein spekulatives Paradoxon. Er ist gleichsam for-
muliert auf dem Hintergrunde der abendländischen Denkge-
schichte, welche, seit sie Ontologie ist, die Zeit aus dem Sein
vertreiben will. Hier wird aber nicht nur die Zeit dem Sein gleich-
geordnet, sondern radikaler nach der ursprünglichen Zeithaftig-
keit alles Seins und Seinshaftigkeit aller Zeit gefragt - oder zu-
mindesten wird eine solche Frage vorbereitet. Der Titel schlägt
so der philosophischen überlieferung ins Gesicht; er ist ein Fanal
des Angriffs. Wenn ich auch damit nur eine subjektive Meinung
ausspreche, weil die Begründungen noch ausstehen, so zögere
ich doch nicht, zu sagen, dass Heideggers Titelwort "Sein und
Zeit" das Losungswort des Jahrhunderts geworden ist, in dem alle,
die heute als Denkende ihre Sache in der Hand haben, sich er-
kennen können. Die Problemformel von Sein und Zeit hat ihre
Schärfe darin, dass der Widerspruch dieser beiden Grundbegriffe
mitgehört werden muß in der programmatischen Forderung,
diesen uralten Widerspruch aufzuheben im Andenken der ver-
borgenen und bislang unterdrückten Zeitlichkeit des Seins.

Vielleicht aber ist die Zeit gleichsam nur eine von der ontolo-
gischen Philosophie vergessene und abgewertete Dimension -
vielleicht ist ebenso sehr einmal nach dem ebenso problemati-
schen Bezug von Sein und Raum, Sein und Bewegung zu fra-
gen, - oder alles in eins gefaßt: nach dem Bezug von Sein und
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 43

Welt. Nochmals aber möchte ich mit Nachdruck darauf hinwei-


sen, dass es sich hier nicht um eine von der überlieferung nur
übersehene, ausser acht gelassene Thematik handelt, also nicht
um eine Korrektur eines Versäumnisses, sondern um die viel ent-
scheidendere Aufgabe, die Idee des Seins umzudenken, - umzu-
denken aber nicht gemäss irgendwelchen Machtsprüchen der
menschlichen Vernunft, sondern gemäss einer "Erfahrung" von
Welt.

Die Geschichte der Philosophie kennt viele und hochbedeut-


same Versuche, Raum, Zeit und Bewegung wesentlich auszulegen
und aus dem Widerspruch derselben gegen den herrschenden
Seinsbegriff herauszukommen. Man könnte z.B. hinweisen auf
Hegels Philosophie, wo das Eigentlich-Wirkliche als das sich
selbst wissende Sein d.h. als der "Geist" begriffen und so das
Sein in die Bewegung gesetzt wird, - oder wie er es formuliert:
"das Wirkliche [ist das] Sichselbstsetzende und Insichlebende,
das Dasein in seinem Begriffe; es ist der Prozess, der seine Mo-
mente erzeugt und durchläuft, und diese ganze Bewegung macht
das Positive und seine Wahrheit aus" (Vorrede zur Ph. d. G.).
Wird hier nicht, so könnte man doch offenbar mit Recht ver-
wundert fragen, auch der Widerspruch von Sein und Bewegung
versöhnt und geschlichtet? Hat Hegel das Sein gänzlich in die
Bewegung hineingenommen? Darauf wäre, soweit man hier in
Kürze antworten kann, zu sagen, dass die Selbstbewegung des
sich wissenden Seins gerade der ihm notwendige Prozess seiner
Entäusserung und seiner Erscheinung ist, - dass die Zeit und die
Bewegung dem Absoluten zugehören, sofern sie in die Geschichte
seiner Selbst entfremdung und Heimkehr zu sich fallen; gewiss
ist Hegel über die massiven Trennungen von Wesen und Erschei-
nung, von Ewigkeit und Zeit hinaus, er hält sie nicht fixiert fest:
das Wesen muss scheinen, und die Ewigkeit muß sich verzeit-
lichen, das Leblose und Unbewegte muss leben und sich be-
wegen; weil aber Hegel diese überlieferten Trennungen zwar
aufhebt, aber sie als aufgehobene behält, bedeutet seine Philosophie,
die auf den ersten Blick als die Versöhnung von Sein und Bewe-
gung erscheinen will, in Wahrheit die äusserste Form des unauf-
gelösten Widerspruchs; die Auflösung ist bei ihm nur eine schein-
bare, - Zeit, Bewegung, Geschichte gehören dem Reiche der Er-
44 DIE WELTVERGESSENHEIT

scheinung an, wenngleich auch diese Erscheinung verstanden


wird als eine innere Notwendigkeit des Absoluten selbst. Hegel
begreift die Geschichte des wissend zu sich kommenden Seins als
den notwendigen Umweg des absoluten Wesens zu sich über die
Erscheinung und kann daher im Schlußsatz der "Phänomenologie
des Geistes" sagen: "beide (d.h. Geschichte und die Wissenschaft
des erscheinenden Wissens), beide zusammen, die begriffene
Geschichte, bilden die Erinnerung und die Schädelstätte des ab-
soluten Geistes, die Wirklichkeit, Wahrheit und Gewissheit
seines Thrones, ohne den er das Leblose-Einsame wäre ... ".
Gerade hier steht Hegel in der Nachkommenschaft der antiken
Ontologie. Das Sein selbst, ohne sein Erscheinen, ohne die Ge-
schichte seiner Entfremdung und Heimkehr, ist als das Leblose,
als das Unbewegte gedacht, - mag Hegel auch niemals zulassen,
das Wesen ohne das Erscheinen, das Unbewegte ohne seinen
Sturz ins Reich der Geschichte zu nehmen und zu fixieren. Dass
er aber überhaupt und grundsätzlich die Bewegtheit des Seins
in die Erscheinung verlegt, zeigt seine Abhängigkeit von der
Tradition, die es heute zu prüfen und vielleicht zu erschüttern
gilt. Diese Tradition ist die ontologische Philosophie.

Was ist damit gemeint? Es ist immer eine Gefahr, die Denk-
geschichte mit jener voreiligen überschau zu überfliegen, die es
erlaubt, darin Epochen abzugrenzen. Das Problem der "Perio-
disierung" ist hier viel schwieriger und verwickelter als in der
allgemeinen Kultur- und Geistesgeschichte. Gewiss ist es auch
dort schon schwierig genug; die Lebensbereiche haben nicht alle
dieselbe Zeitgeschwindigkeit im Hingang; wir können nicht alle
Phänomene auf die Einheit eines Jahrhunderts beziehen, oder
einer politischen Wandlung, eines religiösen Umbruchs. Die
"Renaissance" ist nicht eine Lebensstimmung, die einheitlich
das gesamte Dasein jenes Zeitalters durchtränkte; in ihr ist
viel Mittelalter, ja auch noch viel bäuerliche Urzeit; die Wirt-
schaftsverhältnisse wandeln sich nicht im gleichen Tempo wie
die Kunstgesinnung, wie die Einstellung zur Ehe usf.; Periodi-
sierung ist immer eine Verlegenheit. Die Geschichtsepochen
laufen nie so ab wie in den historischen Lehrbüchern. Und die
Geschichte der Philosophie ist vielleicht am wenigsten einer perio-
disierenden Einteilung zugänglich, - weil es in ihr überhaupt
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 45
noch nichts endgültig Vergangenes gibt. In diesem Felde haben
wir nichts hinter uns gebracht, - und es gibt darin keinen Zeit-
raum, der gleichsam von aussen überblickbar wäre. Deswegen
sind Einteilungen in Epochen hier fragwürdiger als sonst noch.
Das müssen wir festhalten, wenn wir in einem behutsamen und
vorsichtigen Sinne gleichwohl von E pochen der Philosophie reden.
Von diesem Vorbehalt wird natürlich nicht betroffen die massive
und in ihrer Weise auch berechtigte Einteilung nach Altertum,
Mittelalter und Neuzeit samt den zugehörigen Untergliederungen.
Das gehört zur chronologischen Historie. Anders aber ist der
Charakter der Einteilung, wenn man z.B. von der Metaphysik
spricht. Denn diese ist eine bestimmte Grundgestalt der abend-
ländischen Philosophie, ausgezeichnet durch einen bestimmten
Stil der Problembildung. Sie beginnt im Denken Platons und des
Aristoteles und durchzieht die Jahrhunderte bis in unsere Zeit.
Die grosse und tiefgehende Zäsur, die diese klassischen Denker
der Griechen trennt von den voraufgehenden Philosophen, ist
zwar immer irgendwie bekannt gewessen; aber sie wurde meist
dadurch überbrückt, dass man die Denker der ersten Jahrhun-
derte als Vorläufer auffasste, als Vor-Sokratiker, als Vorplatoni-
ker und Voraristoteliker. Platon und Aristoteles galten als die
Gipfelhöhe der Antike, was vor ihnen lag als Aufstieg zu ihnen
hin, - was nach ihnen kam, als Niedergang und Verfall. Mit einer
unerhörten Leidenschaft hat Nietzsehe diesem Bild widersprochen.
Für ihn ist die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen
die eigentliche Philosophie. Platon aber ist ihm die weltgeschicht-
liche Peripetie, der Absturz des Denkens in eine moralische Um-
deutung der Welt. Mit dem ihm eigenen unheimlichen Spürsinn
hat Nietzsehe hier einen fundamentalen Wandel geahnt, - aber
die Art, wie er ihn dann auslegte, war absolut unzulänglich, ja
primitiv. Er sah in den Vorsokratikern "grosse Persönlichkeiten",
Figuren individueller Prägung, mit einem Stolz auf eine eigene
und eigentümliche Weltauffassung, herrische Naturen, denen es
weniger auf die objektive Wahrheit, als auf die künstlerische
Einheit ihres Weltbildes angekommen sei. Dass Nietzsehe hier
ganz unangemessene moderne Kategorien anlegt, dass die Denker
der Frühe von dem eitlen Stolz auf eine selbstgemachte Weltan-
schauung weit entfernt waren, - dass es jenem Denken um nichts
anderes als eben um die Wahrheit ging, erfährt wohl jeder, der
46 DIE WELTVERGESSENHEIT

sich nur ein wenig mit ihnen einlässt. Nietzsche stilisiert sich
selbst in das überlebensgrosse der antiken Denkgebärde, wo er in
seiner Schrift "Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Grie-
chen" die Vorsokratiker behandelt. Wenn nun Nietzsche gegen
sich selbst recht hat, d.h. recht hat mit der These von der über-
ragenden Bedeutung der frühen Denker, trotzdem sie gewiss keine
"Persönlichkeiten" in dem von ihm gemeinten Sinne waren, so
muss ihr Rang offenbar anders bestimmt werden. Aber hier
erhebt sich die Schwierigkeit, dass dieser Aeon der Philosophie
gar nicht so ein einheitliches Gepräge an sich hat, wie es aussieht,
wenn man ihn nur aus dem Blickwinkel der klassischen griechi-
schen Philosophie zu betrachten gewohnt ist. In Wahrheit birgt
jene angebliche Vorzeit in sich selber einen viel radikaleren
Bruch, eine viel tiefergreifende Zäsur, als es der Unterschied zu
Platon und Aristoteles ist. Der tiefere Einschnitt liegt zwischen
dem Welt-Denken der Jonier und dem Seins-Denken der Eleaten,
in zwei grossen Figuren repräsentiert: zwischen Heraklit und
Parmenides. Von Parmenides ab gibt es eine ontologische Philo-
sophie. Und sie ist eine ununterbrochene Kette bis heute. Par-
menides ist ein ungeheueres Ereignis. Wäre ein Riesenmeteor ,
wäre ein Mond auf die Erde niedergestürzt und hätte den Pla-
neten in seiner Bahn erschüttert, die Verwunderung der Menschen
hätte nicht grösser sein können als bei diesem Blitzschlag des
Gedankens, dass das Seiende ist.

Uns Spätlingen, die so viele Formen von Weltanschauungen


kennen, so viele Denkstile, die so genau über soziologische Be-
dingnisse des Denkens Bescheid wissen, - die die "Weltbilder"
der Normalen und Anomalen, der Europäer, Inder und Chinesen
typengerecht fixiert haben, uns kann eine solche platte Selbst-
verständlichkeit nicht sonderlich imponieren. Gewiss, das Seiende
ist. Ist das nicht ein ganz leerer Satz, eine blosse Tautologie? Es
ist nur die Frage, ob bei dieser angeblichen Plattheit die Platt-
heit in diesem Satz oder in unserem Auffassen liegt. Haben wir
diese "Selbstverständlichkeit" überhaupt einmal wirklich ausge-
dacht? Was meinen wir überhaupt, wenn wir sagen: das Seien-
de? Nun, wird man antworten, eben die Dinge (im weitesten
Sinne) ; und da vermögen wir manches und vielerlei aufzuzählen.
Aber wir können nicht alle Dinge aufzählen, wir können die An-
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 47
zahl des Seienden nicht abzählen, es erscheint uns unabzählbar,
zum mindesten unübersehbar, eine ins Grenzenlose sich ausweiten-
de unbestimmte Menge. Aber ist an sich diese Menge bestimmt,
ist ihre Unabzählbarkeit nur ein Charakter, wie sie für uns er-
scheint? Hat es einen echten und guten Sinn, zu denken, dass die
Anzahl des Seienden an sich bestimmt sei? Oder widerstreitet die
Vorstellung von einem abgeschlossenen Ganzen im Sinne einer
durchzählbaren Summe der eigentümlichen Feldhaftigkeit, ge-
mäss welcher jedes Einzelne aus einem Gesamtzusammenhang
her sich zeigt. Weil wir die Dinge nicht abzählen und so
aufzählen können, begnügen wir uns mit dem überschla-
ge, wir überblicken die Gattungen und Arten der Dinge, sie sind
ja nicht alle gleich, sondern eben z.T. ähnlich und unähnlich;
alles Lebendige ist irgendwie verwandt; wir unterscheiden darin
Pflanze und Tier und Mensch, und von allem Lebendigen halten
wir unterschieden das Leblose, das z.T. einfach vorhanden sein
kann wie die Steine auf dem Boden, oder aber ein menschliches
Werkgebilde sein kann, wie ein Haus, ein Gerät usf.; die Dinge,
sofern sie ein ganz verschiedenes Gepräge und Aussehen haben,
je nach dem Bereich, dem sie zugehören, sind doch alle "Seien-
des". Sie kommen alle darin überein, seiend zu sein. Was ist das
aber für ein seltsamer Grundcharakter aller Dinge, dieses Seiend-
sein ? Unterläuft er nicht alle Unterschiede des Aussehens und
hat also kein Aussehen? Und weiter: die mannigfaltigen Dinge,
welche wir eben als das Seiende bezeichneten, sind jeweils ver-
einzelte Dinge; wo eines ist, ist ein anderes nicht; es können
nicht zwei Dinge denselben Platz einnehmen, aber sie können
wechseln, den Platz tauschen; sie begrenzen einander; wo eines,
aufhört, fängt das andere an; sie berühren sich mit ihren Grenzen
und bleiben in solcher Berührung doch getrennt und verschieden;
das Sein des einen Dinges ist mitbestimmt durch den Charakter,
dass es alle anderen Dinge nicht ist. In seiner einmaligen Raum-
stelle, in seinem Hier liegt, dass es sonst überall nicht ist. Da ha-
ben wir schon die Schwierigkeit, dass wir das Sein der vereinzel-
ten Dinge charakterisieren müssen durch eine merkwürdige
Nichtigkeit. Aber ist denn etwas in echtem Sinne ein "Seiendes",
wenn es gerade mitbestimmt ist durch eine Nichtigkeit? Man
könnte diese Frage verharmlosen, wenn man sagt, solches Nicht-
sein kommt dem einzelnen Ding gar nicht selbst zu, sondern nur
48 DIE WELTVERGESSENHEIT

in unserer Betrachtung; an ihm selbst ist es und wird durch


keinen Mangel gestört; dem Stein macht es nichts aus, dass er
nicht überall sein kann. Aber ist denn das richtig? Liegt der
Mangel nur in unserer Blickbahn - oder ist das Seiende, das Ding,
nicht in einer begrenzten und auf das Hier lokalisierten Weise?
Hat das Sein des einzelnen Dinges nicht grundsätzlich und unab-
legbar den Sinn des begrenzten Hierseins? Aber ist dann das Sein
nicht schon in einer Weise interpretiert, die die Vereinzelung des
Seienden als ganz selbstverständlich hinnimmt? Und ferner:
die Dinge, die wir unterschieden haben, Menschen, Tiere, Pflan-
zen, Steine, Werkgebilde usw. - sie sind, aber sind in unzähligen
Bewegungen; sie verändern sich, nehmen zu und ab, entstehen
und vergehen; d.h. sie sind jeweilig. Wenn sie sind, jetzt sind,
so waren sie früher einmal nicht und werden später einmal nicht
mehr sein; wir sagen, sie sind ins Dasein getreten und werden
wieder einmal wegschwinden. Aber auch solange dergleichen
dauert, hat es doch sein Sein nie beisammen, nie ganz ungeteilt,
es ist nach einer bestimmten Phase seiner Dauer "jetzt" und
nach den anderen "noch nicht" und "nicht mehr" ; es ist ständig
"unterwegs" und kann sich bei allem Durchgang durch die Zeit
nie aufsammeln, - was es gewinnt, verliert es andererseits wieder;
für jede neue Phase der Ankunft, des zukommenden Seins, ver-
liert es ein eben noch gehaltenes Jetzt. Das Sein der genannten
Dinge ist ständig auf der schmalen Schneide zwischen dem Ver-
gangenen und dem Künftigen. Aber ist ein in solcher Weise "Seien-
des" überhaupt in rechter Weise "seiend". Oder bringt es ein in der
Zeit Treibendes, mögen es die Schwarzwaldberge oder Eintags-
fliegen sein, jemals wirklich und wahrhaft zu einem "Sein"?

Diese kurze und flüchtige Besinnung zeigt ein Doppeltes: ein-


mal dass wir mit dem Namen "das Seiende" gemeinhin die Dinge
ansprechen, die begrenzten, vereinzelten, zeitweilig währenden
Dinge, - dann aber auch kann daraus klar werden, dass wir damit
in eine Verlegenheit kommen, weil diese Dinge gleichsam über
und über erfüllt sind mit Nichtigkeit, von Nichtigkeit durch-
tränkt sind. Aber woher kommt denn diese Verlegenheit, wer
sagt uns denn, dass das Seiende die Nichtigkeit von sich abhalten
müsse und dass es, falls ihm solches nicht gelänge, dann eben in
einer unrechten Weise nur sei, nicht in der eigentlichen? Haben
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 49

wir denn irgendwo ein Maß des Seins, einen Maßstab, an den wir
die begegnenden Dinge legen könnten, um sie abzuschätzen,
um sie in ihrem Rang richtig und angemessen zu bestimmen?
Und wenn wir jede Strasse zögen, bei allen Dingen anfragten,
bei dem gegründeten, sicher in 'sich ruhenden Erdboden, bei den
Sternen des Firmaments, ja auch bei den Göttern, falls sie imhei-
ligen Bezirk ihre Nähe kundtun, nirgends, bei keinem Seienden
fänden wir das schlechthinige Maß des Seins. Was treibt uns
aber, so über alles Gegebene hinauszufragen und das Gegebene
unter das Gericht eines nur dunkel geahnten Maßes zu stellen?
Niemand treibt uns als das Denken. So recht es auch ist, wenn
wir die Dinge das Seiende nennen, diese von Sein und Nichtsein
durchwirkten Gebilde, weil ihnen Sein zukommt, weil sie in einer
schwer erklärbaren und aussagbaren Art am Sein "teilnehmen"
und eben nach der Massgabe solcher Teilnahme auch wirklich
sind, so meint doch der Satz: das Seiende ist, nicht die tautolo-
gische Selbstverständlichkeit, dass solches, dem Sein zukommt,
auch eben ist; der Satz kann gar nicht verstanden werden, wenn
man sich nur bemüht, aufzuzählen, was es alles gibt; er hat seine
spekulative Strenge in einer ganz anderen Dimension: es gilt aus-
zudenken, nicht wer das Seiende ist, nicht ihm einen Inhaber
zuzuweisen, nicht eine Leerstelle zu besetzen, sondern was das ist,
das Seiende, das Seiendsein. Dann nämlich können wir nicht
gleich damit umgehen und irgendwelche Dinge beim Schopfe
packen und vorführen, sondern wir müssen den Gedanken selbst
entwickeln und entfalten. Solange es eine Sprache gibt, ist schon
vom Sein verstehend Gebrauch gemacht worden. Seit der Mensch
spricht, spricht er den Dingen Sein zu und ab. Das bedeutet nicht,
dass in einer bestimmten faktischen Sprache der Seinsbegriff
ausdrücklich in Vokabular und Grammatik auftreten müsse. Es
mag Sprachen geben, die anscheinend ganz ohne die uns ver-
traute Struktur der ausdrücklichen Seinsnennung auskommen, -
aber auch dort wird implizit immer Sein mitgesagt. Wenn nach
dem Worte Heideggers die Sprache das "Haus des Seins" 2 ist,
nämlich als die dem Menschen zugesellte Offenheit des Seins,
in der er verstehend-sprechend wohnt, worin er seine "Behau-
sung" hat, so bedeutet das, dass das Denken bereits, wenn es be-
ginnt, mit dem Sein vertraut ist.
50 DIE WELTVERGESSENHEIT

Parmenides aber war der Erste, der nicht nur im verstehenden


Umgang das Sein nennt, sondern eigens zu denken versucht, -
der darin ein Problem sah und einen Abgrund aufriss, der sich
nie mehr schloss. Das Seiende ist - das heisst: nur das Seiende ist,
- was aussieht für den ersten Blick wie eine leere Tautologie er-
weist sich als eine unabsehbare Frage; die Unabsehbarkeit liegt
aber nicht in der schieren Unmöglichkeit, alle Dinge aufzuzählen
und vorzuführen, sie liegt in der grundsätzlichen A usschliessung
des Nichts aus dem Sein. Wenn wir den Gedanken des Seienden
ernsthaft und streng denken, stösst er das Nichts von sich ab.
Das Seinsproblem als Grundproblem der Philosophie erwacht,
als das Seiende auf ein nichtloses Sein festgelegt und dem
Nichts gegenübergestellt wird. So im Ungefähren, in der trüben
Dämmerung des gewöhnlichen Umgangs, halten wir Sein und
Nichts nie so recht auseinander; wir lassen es zu, dass in gewisser
Weise ein solches, von dem wir doch sagen, es "ist", durch Mo-
mente der Nichtigkeit bestimmt ist; wir nehmen es nicht so ge-
nau. Gegen die Lässigkeit und Nachlässigkeit des menschlichen
Seinsumgangs erhebt sich in der Philosophie der Eleaten die
unerbittliche Strenge des Denkens, welche die Scheidung macht,
die zugleich die folgenschwerste Entscheidung unserer Denkge-
schichte wurde: die Scheidung zwischen Sein und Nichts. Das
Seiende ist - heisst: das Seiende ist nicht und in gar keiner Weise
nichtig. Es ist nur seiend, sonst nichts. Dem Sein darf kein Nich-
tiges einhausen, es muss ganz und gar und überall und zu aller
Zeit seiend sein. Ein solcher Gedanke ist Dynamit. Mit ihm lässt
sich die ganze vertraute Welt, in der wir sonst sicrer geborgen in
einem unergründlichen Seinsvertrauen leben, in die Luft spren-
gen. Wird der Gedanke des "seiend" radikalisiert bis zur schlecht-
hinigen Austreibung jeder Nichtigkeit, jeder Negativität, -
wird das Sein im ganzen dem Nichts im ganzen entgegengesetzt
und wird auf der unversöhnlichen Trennung bestanden, dann ist
offenbar ein Maß aufgestellt, an dem alle endlichen Dinge zu-
schanden werden müssen. Was kann denn da noch bestehen vor
dem Gericht, das alle Dinge wägt und zu leicht befindet? Die
einmalige Grösse des eleatischen Denkens ist der Mut, womit hier
widersprochen wird, widersprochen dem Augenschein, wider-
sprochen der ganzen vertrauten Gewohnheit, die unser Leben
umfängt. Der Gedanke ist seiner sicher; er entnimmt nicht das
DES ABENDLÄNDISCHEN DENKENS 51

Maß des Seins den vorhandenen und gegebenen Dingen, lässt sich
nicht von ihnen vorsagen, was Bestehen ist, - er lässt sich nicht
verwirren von der Zweideutigkeit, dass diese endlichen Dinge
sind und nicht sind, - er macht keine Konzessionen, er ist nicht
hin- und hergerissen wie das schwankende Meinen der Menschen,
die von einem Brotlaib sagen, dass er ist und ihn doch aufessen.
Wie könnte je ein Seiendes vergehen! Das meint nicht, wie ein
endliches Ding je zunichte werden könnte. Das Denken des Sei-
enden als des Unvergänglichen, des von allem Nichtsein Freien,
verbietet es nunmehr gerade, die hinfälligen, schwindenden Dinge
als "seiend" anzusprechen. Aber wenn sie es nicht sind, wo findet
das Denken solches, das dem von ihm aufgestellten Maß genügt?
Kommt das rigorose Denken des nichtigkeitsfreien Seins jemals
ins Ziel? Die Antwort darauf müssen wir einem, wenn auch auf
die Grundschritte zusammengedrängten Gang durch das Denk-
gedicht des Parmenides entnehmen.

Zuvor aber soll noch ein merkwürdiger Zug der mit Parmenides
beginnenden ontologischen Philosophie genannt sein. Die Ontolo-
gie, sofern sie entspringt in der Urscheidung von Sein und Nichts,
das Sein gegen alle Einbrüche des Nichts verteidigen und sichern
will, - aber das Nichts selbst nicht denkend bewältigt, bleibt von
Anfang an, wenngleich es in ihrem Geschichtsgang lange verhüllt
ist, Nihilismus. Dieser ist kein später Gast, der einkehrt in der
Abenddämmerung Europas, in der Stunde, wo der Christengott
unglaubhaft wird für die Massen, wo er liebend den versunkenen
Göttern von Hellas und Rom nachsinkt ins Schattenreich, - wo
die Werte der überkommenen Moral sich auflösen und die Anar-
chie droht; der Nihilismus ist bereits angelegt in der Morgenfrühe
der europäischen Philosophie, in jenem Denke:p, das den Seins-
begriff freihalten will von Nichtigkeit und damit das Sein unauf-
löslich an das Nichts bindet, als an seinen dunklen Schatten. Wo
immer der Seinsrang von Seiendem gemessen wird an einem Maß,
das durch die Idee des nichtlosen Seins bestimmt ist, ist schon
der Nihilismus da. Auch das "ens realissimum" hat, sofern es
gegen das Nichts abgegrenzt und verteidigt wird, - sofern es
operativ aus dem Horizont des Nichts bestimmt wird, schon auf
eine verborgene Weise das Nichts an sich. Wo überhaupt von
Eigentlichkeit oder Uneigentlichkeit von Sein gesprochen wird,
52 DIE WELTVERGESSENHEIT

sei es auch im strahlenden Glanz der platonischen Dialoge, oder in


Leibnizens Monadologie oder in Hegels Versuch, Sein und Nichts
in der Einheit des Werdens zu versöhnen, ist der ontologische
Nihilismus am Werk, der nichts anderes ist als die Welt vergessen-
heit des Denkens.
5

PARMENIDES: PROOEMIUM-I. TEIL


DIE SEM A TA ALS ONTOLOGISCHE AN ALOGIEN

Parmenides eröffnet den Aeon der Ontologie, eine mehr als


zweitausendjährige Epoche, mit der elementaren Unterscheidung
von Sein und Nichts, und er legt zugleich damit den Grund des
"Nihilismus", sofern von nun an das "Sein" immer dem "Nichts"
entgegengesetzt, gegen es verteidigt und behauptet und so ge-
rade ständig daran gekettet wird. Ontologie und Nihilismus
entspringen gleichzeitig, ja sie gehören zusammen wie Licht und
Schatten. Die Ontologie ist immer nihilistisch und der Nihilismus
immer ontologisch. Der "unheimlichste aller Gäste", wie Nietz-
sche den Nihilismus nennt, hat sich nicht erst in unseren späten
Zeiten an die Tafel des Lebens gesetzt und alle Freuden schaal
werden lassen, dieser steinerne Gast war seit langem da, er hat
nur spät die Maske abgenommen; er ist auch nicht durch das
Christentum gekommen, nicht durch seine asketisch-weltflüch-
tige Grundstimmung, und ist erst recht nicht durch das Ende
des Christentums gekommen; man beschreibt zumeist nur Sym-
ptome, nicht das Wesen des Nihilismus, wenn man von der Ent-
götterung und Profanierung, von der Öde und Langweile, von
der "Sinnlosigkeit" des Daseins klagend oder zynisch spricht.
Und es ist die selbe Ahnungslosigkeit bezüglich seiner wahren
Natur, ihn "heroisch bestehen", wie ihn "überwinden" zu wollen.
Er ist ein Schicksal, und die Würfel dieses Schicksals sind ge-
fallen in Elea 500 Jahre vor Christus, damals als Parmenides die
strenge KRISIS vollzog, die Scheidung von Sein und Nichts. Seit-
dem ist ein "Maß" aufgestellt, das sich vernichtend auswirkt für
jegliches, das angibt, zu sein, - seitdem ist die Welt zerrissen in das
"Sein" und in das "Nichtige",-seitdemist Raum und Zeit und Be-
wegung abgewertet, - seitdem ist die abendländische Philosophie
dualistisch. Parmenides ist der Stifter des Ur-Dualismus von Sein
und Nichts, der Stifter der Ontologie und zugleich des Nihilismus.
54 PARMENIDES: PROOEMIUM - 1. TEIL

Das klingt vielleicht überspitzt und gesucht. Man wird sagen,


diese Unterscheidung von Sein und Nichts ist doch eine, die wir
immer machen, die man nicht erstmals zu erfinden oder zu ent-
decken brauchte; in unzähligen Formen machen wir davon Ge-
brauch, schon in der alltäglichsten Rede; aber bei Parmenides
handelt es sich nicht um die gleichsam sprachliche Stiftung dieses
Unterschiedes, sondern um das strenge und reine Denken des-
selben. Parmenides denkt das "Seiend", das EON, - und er denkt
es aus gegen das Nichts. Er bleibt nicht nur, wie wir sonst alle
und ständig, im Verstehen des Seins und Nichts, in dem vagen,
ungenauen und trüben Umgangsverstehen, dem gemäß wir die
Dinge ansprechen als seiend, ja sogar als das "Seiende" bezeich-
nen, ohne auszudenken, was das eigentlich meint, - Parmenides
ist der Erste, der sich lossagt von der Gedankenlosigkeit im Ge-
brauch des "Seiend" und eigens und ausschließlich nur dieses
denkt, was das ist: das IST, das Seiendsein. Er hat nicht etwas
voraus und vorliegen, woran er nun abnimmt, was er sucht; die
Dinge können ihn es nicht lehren, nicht Spange und Krug, nicht
Mensch und nicht Tier, ja nicht einmal das Meer und das Land,
nicht die Sterne, auch nicht das Gewölbe des Himmels; nirgends
kann er anfragen, um die Antwort zu bekommen, was denn
eigentlich das "Seiend" ist. Gerade weil wir gewöhnlich der-
gleichen schon das "Seiende" nennen, weil wir damit schon vor-
entschieden und zwar gedankenlos vorentschieden haben, ohne
zu prüfen, ob solches überhaupt "ist", kann der Denker daran
nicht die Natur des Seins ablesen. Er muss alles loslassen, was
sich als ein "Seiendes" ausgibt und was als ein solches in Ansehen
und Geltung steht. Denn er muss es zuvor in seinem Anspruch prü-
fen und dies kann er nur, wenn er zuvor ausgedacht und durch-
dacht hat die merkwürdige und geheimnisvolle Natur des "IST".
Das Denken sieht sich so zurückgeworfen von allen sich als
"seiend" ausgebenden Dingen auf sich selbst, auf seine Aufgabe,
Sein zu denken. Die kann ihm nie von aussen abgenommen oder
erleichtert werden, es kann das Sein nicht an oder in den Dingen
finden wie einen glücklichen Fund. Es kann es nur - denken.
Denken ist von Hause aus immer Denken des Seins. Es ist
keineswegs so, daß Parmenides das Denken erstmals auf einen
neuen und bislang ungekannten Gegenstand, eben das Sein, ge-
richtet hätte. Immer ist es schon das eigentliche 'Werk des Den-
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 55

kens, das Sein zu vernehmen und gliedernd, fügend auszulegen.


Pannenides hat nur dieses Wesen des Denkens klar und rein be-
griffen, er hat den unlösbaren Zusammenhang von Sein und
Denken, EINAI und NOEIN selbst noch denkend bestimmt. Den-
ken ist IST-SAGEN. Wir sehen die leuchtende Farbe, riechen den
süssen Duft der Rose; aber das Gesehene und Gerochene "ist";
wir sehen weder das IST noch riechen wir es; es ist die Zutat des
Gedankens; allerdings nicht so, dass er es von sich aus, von sich
her hervorbringt; Denken ist trotz der ihm eigenen Spontaneität
wesenhaft vernehmend; Denken ist Offenheit für das Sein. In dem,
was wir gewöhnlich schon das "Denken" nennen, eben im Be-
denken der gegebenen Dinge, haust eine, wenn auch dumpfe und
trübe, zwielichtige Seinshelle ; ihr gemäß sprechen wir die Dinge
an als seiend; aber das darin umgehende Seinsverständnis bleibt
unentfaltet, träg und verworren. Seine Wirrnis und Irrnis be-
steht darin, dass es bald Sein und Nichts unterscheidet, bald
wieder zusammenlaufen lässt, dass es "doppelköpfig" (wie Par-
menides sagt) den Unterschied macht und auch wieder verwäs-
sert, dass es solches "seiend" nennt, was nur hier und nicht über-
all ist, was nur jetzt und nicht allezeit, was einmal nicht war und
einst nicht mehr sein wird, und damit doch es als möglich erach-
tet, dass etwas, was ist, jemals auch nicht-sein könnte, dass
damit ein übergang aus dem Nichts ins Sein und aus dem Sein
ins Nichts möglich wäre. Diese "Unentschiedenheit" und dieses
Schwanken im üblichen menschlichen Seinsverstehen, diese Un-
sicherheit hinsichtlich des fundamentalen Grundunterschieds
von Sein und Nichts, betrachtet Pannenides nicht als einen
biossen Mangel und Fehler, nicht als eine blosse Nachlässigkeit,
nicht als den "faulen Fleck in der menschlichen Natur", sondern
als Wesenszug des Seinsverständnisses der Sterblichen. Der sterb-
liche Mensch ist in seinem endlichen Denken der monumentalen
Einfachheit des Seins nicht gewachsen, - er hält den Gegensatz
von Sein und Nichts nicht aus, kann ihn nicht durchstehen und
ertragend austragen; immer verfällt das endliche Denken des
Seins, das die Sterblichen von sich aus aufbringen, in die Wirrnis
der Vermischung, in das heillose Labyrinth von nichtigem Seien-
den und seiendem Nichts. Erst wenn das Denken denkender
wird, wenn es über das Menschenmaß, das Maß der doppelköp-
figen Sterblichen, hinauskommt, gelangt es in den Raum der
56 PARMENIDES: PROOEMIUM - I. TEIL

reinen KRISIS von Sein und Nichts. Das aber kann der Mensch
nicht von sich aus leisten. Dazu bedarf er göttlicher Hilfe.

Es bedeutet keine "poetische Einkleidung", wenn Parmenides


im Prooemium 3 seines Denkgedichtes den Denker ins Geleit der
lichtenden Macht stellt, wenn er ihn in einem Wagen dahinfahren
lässt auf einem Weg über allen Wohnstätten der Menschen, in
einem Wagen, der deutlich genug als der Sonnenwagen selbst
charakterisiert wird, geleitet von den Heliaden, den Sonnenjung-
frauen, die den Denker ans Tor des Hauses der Nacht bringen, wo
DIKE, die Göttin des zumessenden Maßes, die Grenze hütet zwi-
schen dem Offenen, worin alle vielen vereinzelten Dinge ver-
sammelt sind, und wo Tag und Nacht abwechselnd ihre Bahn
ziehen, und der verschlossenen, versiegelten und verriegelten
Tiefe, aus der alles heraufkommt und herauswächst. Und es ist
auch keine rhetorische Ausschmückung, dass erst auf das schmei-
chelnde Zureden der Heliaden DIKE das verpflöckte Tor entrie-
gelt und den Weg freigibt in das, was der Eigenmacht des Men-
schen das "Unbetretene, Niezubetretende" bleibt. Hier handelt
es sich nicht um Poesie und um metaphernfreudige Gleichnisreden
in einem äusserlichen Sinne, nicht um Allegorien, die in die nüch-
terne Sprache übersetzbar wären. Das Denken ist hier noch in
einer wesentlichen Nachbarschaft zum Dichten. Und beides steht
in der Nähe des Heiligen, in der Gunst der Götter. Das wahrhafte
Denken des Seins ist etwas übermenschliches. Aber das über-
menschliche ist nicht, was dem Menschen schlechthin verwehrt
wäre, sondern was er zu vollbringen vermag im Segen des Heili-
gen und nach göttlicher Weisung. Die antike Freiheit hatte noch
nicht den luziferischen Charakter der unbedingten menschlichen
Empörung, der Mensch gewinnt dort vielmehr seine höchsten
Möglichkeiten, wenn er im Bund mit den Göttern über sich hin-
ausgeht. Antikes Freiheitsverständnis ist vornehmlich am Enthu-
siasmus orientiert. Das gilt für Parmenides, wie für Sokrates und
Platon und Aristoteles. Das eigentliche Denken des Seins, das
Parmenides in seinem Denkgedicht aussagen will, ist eine über-
menschliche, den Göttern nahe Denkweise, und sie ist doch dabei
noch eine menschliche. Der Denker vernimmt die Weisungen der
DIKE. Die Göttin spricht. Aber sie "offenbart" nicht. Sie gibt
keine Kundschaft, die nur den Göttern bekannt ist. Sie sagt nicht,
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 57

wie es absolut um das Sein steht. Sie spricht zum Denker hin -
so, dass damit nicht seine eigene Freiheit vernichtet wird, dass
immer noch seinem Denken ein Werk zu tun bleibt. Sie gibt nur
Weg-Weisungen, nur "Winke", die ja nach Hölderlins Wort "von
alters her die Sprache der Götter sind". Wegweiserisch winkend
lenkt die Göttin das menschliche Denken des Denkers in die
rechte Bahn. Menschlich und allzumenschlich aber bleibt dieses
Denken noch, schon weil es Weg, Bahn, Gang ist. Ein Weg braucht
Zeit und braucht Raum, der zu durchmessen ist. Menschliches,
"weg" -haftes Denken ist auch dort noch vielleicht in Raum und
Zeit verfangen, wo das auf solchem Denkweg Angedachte aus
Raum und Zeit entrückt ist.

Das Moment des Weges und des Weghaften muss hier ernst
genommen werden. Keineswegs ist das nur eine ungefähre Aus-
drucksweise, eben ein beliebtes "Bild". Es hat sehr grosse Kon-
sequenzen für das Parmenides-Verständnis, ob man hier dem
Wort des Denkers traut, ob man es nimmt, wie er es sagt, oder
ob man sich davon freizumachen wähnt durch irgendeine kluge
Erklärung der parmenideischen Bildersprache Die zentrale Frage
ist, ob die im Gedicht gegebene Bestimmung des Seins sozusagen
eine direkte und unmittelbare absolute Aussage ist, oder eine, die
immer noch aus der menschlichen Situation der Seinsferne und der
weghaften Abständigkeit gesprochen, oder zumindesten von der
Göttin auf diese menschliche Situation hin gesprochen ist, auch
wenn dabei das "Seiend" über das sonstige Menschenmaß hinaus
bestimmt wird. M.a.W., bringt das Denkgedicht des Parmenides
eine absolute Explikation des Seins oder immer noch eine relative,
menschliche, wenn auch von göttlicher Weisung unterstützte
menschliche Auslegung? Kann für Parmenides in ähnlicher Weise
gelten, was Hegel von seiner "Logik" sagt: "Die Logik ist sonach
als das System der reinen Vernunft, als das Reich des reinen Ge-
dankens zu fassen. Dieses Reich ist die W ahrhei t, wie sie ohne Hülle
an und für sich selbst ist. Man kann sich deswegen ausdrücken,
dass dieser Inhalt die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem
ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen
Geistes ist". Davon abgesehen, dass man Hegel nicht beikommt,
wenn man einen solchen Satz als eine blasphemische Hybris, als
einen blinden Wahn der Gottähnlichkeit des Menschen ansieht,
58 PARMENIDES: PROOEMIUM - I. TEIL

bei dem einem bange werden mag, - das Blasphemische erscheint


nur, weil er einen ganz unchristlichen Gedanken in einer christ-
lichen Terminologie formuliert - davon aber abgesehen, für Par-
menides gilt das Selbe nicht. Dort ist die Selbst explikation des
Seins - durch den Mund der Göttin - nur als Zuschickung einer
Weisung, einer Weg-Weisung genommen, nicht als eine Darstel-
lung des Seins selbst, nicht als eine absolute Lehre und Wissen-
schaft, sondern nur als "Anleitung" des endlichen Wissens im Ge-
leit der göttlichen Lichtrnacht. Der tiefere Sinn dieses parmeni-
deisehen Ansatzes könnte nur durch eine eindringliche Inter-
pretation des Textes aufgeschlossen werden. In unserem Zusam-.
menhang hier ist das unmöglich; aber der Hinweis darauf war
notwendig, um nachher die seltsame Form der Bestimmung des
Seins, wie sie hier auftritt, begreifen und als ein unbewältigtes
Problem verstehen zu können.

Das Gedicht zerfällt nach dem Prooemium in zwei deutlich


unterschiedene Teile: in die Auslegung des Seins und in die Aus-
legung des Entstehend-Vergehenden. Das Verhältnis dieser bei-
den Teile hat den Auslegern viel Kopfzerbrechen gemacht. Man
glaubte einen unversöhnlichen Widerspruch zwischen beiden zu
finden, eine krasse Inkonsequenz des Denkers, der mit der einen
Hand wieder zurücknimmt, was er mit der anderen weggestossen
hatte. Im Versuch, ihn vor dieser unlogischen Handlung rein-
zuwaschen, gelangte man zu teils grotesken Deutungsversuchen,
z.B. dazu zu sagen, der ganze 2. Teil wäre nur eine ausgespon-
nene "Hypothese", wie es wäre, wenn der 1. Teil mit seinen Auf-
stellungen nicht zutreffen würde. Er wäre sozusagen ein zweiter
Pfeil im Köcher des Denkers; trifft der erste daneben, gut so hat
man immer noch eine Theorie bei der Hand. Karl Reinhardt 4
wies darauf hin, dass der 2. Teil des Gedichts, welcher von den
Meinungen der Sterblichen handelt, immer noch von der Göttin
selbst gesprochen sei, dass er also durchaus ernsthaft aufzuneh-
men und zu deuten sei. Aber auch Reinhardt pflichtet der allge-
meinen Auffassung bei, es handle sich darin um die Wahnge-
danken der Menschen, also um blosse Meinungen, um ein Reich
des Trugs und der Täuschung, nur dass eben die Göttin über
diesen Menschenwahn wahre Aufschlüsse gäbe. Aber da erhebt
sich die Schwierigkeit, dass alsbald die Göttin selbst in diese
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 59

Wahnvorstellungen der Menschen zu verfallen scheint, - dass


sie von Entstehen und Vergehen spricht und nicht nur über sie.

Das schwierigste Problem der Parmenides-Interpretation


scheint uns die rechte Charakteristik des Verhältnisses des 1.
und des 2. Teiles zu sein, des eigentümlichen Zusammenhangs
der Explikation des Seins und des Entstehens-Vergehens. Man
ist zumeist bemüht die Differenz der jeweiligen Thematik zu
unterstreichen und übersieht, dass entscheidender als der Unter-
schied der beiden Teile ihre innere Verschränkung und ihr Zu-
sammenhalt ist. Man ist zumeist geleitet, oder besser: mißleitet,
durch die gängigen Vorstellungen über DOXA und NOESIS, über
das HORATON GENOS und das NOETON GENOS, über Sinnenwelt
und Ideenwelt, die als ein trüber, zäher Bildungsschlamm eines
Vulgärplatonismus auch gelehrte Diskussionen noch belasten.
Aber die üblichen Reden vom platonischen Dualismus, von seiner
Zweiweltenlehre haben mit Platon so wenig zu tun wie die
"platonische Liebe". Es soll damit nicht geleugnet werden, dass
Platon grundsätzlich zwischen Idee und Sinnending unterschei-
det, - eine solche Leugnung wäre absurd, - aber bestritten wird,
dass er den Unterschied gleichsam als einen fixen feststellt und
festhält ; die eigentlichen Probleme der platonischen Philosophie
liegen vielmehr gerade in der Frage nach der Natur eines solchen
Unterschieds, der nicht nur Trennung, sondern immer auch Ver-
bindung bedeutet; die Idee ist nicht nur an einem überhimmlischen
Ort und das Sinnending hier, die Idee ist auf eine merkwürdige
und dem Denken schwer sich erschließende Weise gerade im
Sinnending anwesend und fällt doch nicht mit ihm zusammen.
Ebenso ist der platonische Gegensatz von DOXA und NOESIS
nicht ein schlechthin fixer Gegensatz; die DOXA ist nicht schlecht
und recht Trug, Täuschung, Irrtum, so wenig wie die NOESIS
schon lautere Wahrheit ist. Das Wesen der DOXA bei Platon ist
verwickelter und sinntiefer, als es die gängige Auffassung im
Blick hat, wenn sie darin nur das bloss-subjektive Meinen sieht.
Aber ganz und gar fragwürdig ist es, einen solchen DoxA-Begriff
Parmenides unterschieben zu wollen. Die DOXA ist dort über-
haupt und im ganzen anders gedacht und bestimmt als bei Pla-
ton. Die Erhellung des parmenideischen DoxA-Begriffs hat eine
ausgesprochene Schlüssel-funktion für die Aufschliessung des
60 PARMENIDES: PROOEMIUM - I. TEIL

ganzen Gedichtes, für den Zusammenhang aller Teile. Auf den


ersten Blick sieht alles so aus, wie eben in den üblichen Vorstel-
lungen vom Platonismus. Auch bei Parmenides haben wir eine
feste Zuordnung, wie es scheint, von EON und NOUS, d.h. von
Seiendem und Vernunft, und von DOKOUNTA und DOXA, d.h. von
Erscheinendem und Meinen. Aber gerade wo die Stelle der zen-
tralen Explikation des EON ist, in Fragment 8 (Diels),5 entbirgt
das Denken nicht das "Seiend" hüllenlos in seiner ursprünglichen
Nacktheit, sondern legt es in einer seltsamen Verhüllung aus.
Die weisende Göttin, die zuvor die fundamentale KRISIS zwischen
Sein und Nichts gezeigt und damit den abgründigen Unterschied
der beiden Wege, des Weges, daß das Seiende ist, und des Weges
des Nichts, der überhaupt gänzlich ungangbar und unerkundbar
ist, gezeigt und gewiesen hat, beginnt den einzig dem Denken
verbleibenden Weg zu charakterisieren. Es ist der Weg des "IST",
des EON, des Seiend. Die unbeirrbare Strenge des parmenideischen
Denkens liegt in dem Ausdenken des einen Gedankens, der aller-
dings der Gedanke aller Gedanken, das eigentlich Gedachte in
allem jeweils Gedachten ist, des Gedankens des Seins. Zwar legt
er sich nicht terminologisch fest; das zeigt aber gerade, dass er
nicht irgend ein Seiendes, nicht Etwas, dem Sein zukommt, und
sei es in allerhöchsten Maße, zugrundelegt und darüber Aussagen
macht. Seine Ontologie ist nicht eine solche eines absoluten Seien-
den, sondern des Seiendseins. Er denkt das "Seiend" als solches.
Dafür hat er nicht nur den Ausdruck EON, sondern auch ESTIN,
EINAI, TO PELEIN, wie ebenso mannigfaltig für das Nichts OUK
ESTI, ME EINAI, OUK EINAI, TO MEDEN, OUDEN. D.h. die ontologi-
sche Explikation des Seins ist nicht thematisch auf einen einzigen
Titel hin zentriert, sondern expliziert das Sein in einer umgängigen
Art: auslegend, was "Sein" ist, macht sie selbst wieder Gebrauch
von bestimmten Seinsbegriffen, verständigt über das Sein im
Rückgriff auf Sein, - ja auch noch im Rückgriff auf das Nichts,
eben in der Verneinung des Nichts. Das Sein wird so nur im Ho-
rizont seiner selbst und auch seines Gegenteils explikabel. Der
Pfad der überzeugung, welcher der Wahrheit folgt, ist: dass
ES IST und dass nicht ist sein Nichtsein.

Solange man in solchen Aussagen blosse Tautologien erblickt,


hat man das Problem, um das es hier geht, noch gar nicht be-
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 61

griffen. Es kommt Parmenides nicht darauf an, nur zu erläutern,


was wir meinen, wenn wir "Ist" sagen, sondern auszudenken,
denkend dem Sein und seiner unbeugsamen Natur nachzuspüren
und nahezukommen. Der Höhepunkt des Gedichtes ist das Frag-
ment 8. Hier aber ist das Seltsame und Merkwürdige, dass das
EON gleichsam vermittelt und indirekt angesprochen wird. An der
entscheidendsten Stelle wird deutlich der Weg-Charakter des
menschlichen Seinsverstehens, das nur weisende Winken der Göt-
tin und die damit zusammenhängende Mittelbarkeit der ontolo-
gischen Begriffe, in denen das Seiendsein angerührt, aber eben
nicht ent-hüllt wird, nicht gänzlich enthüllt wird, vielmehr eine
gewisse Verhüllung behält. Das darf aber nicht so verstanden
werden, dass der Denker dabei mit etwas hinter dem Berge hält,
dass er seine ganze Wahrheit nicht preisgeben und damit pro-
fanieren wolle, - die Verhülltheit der Seinsaussage muss als
ein Wesenszug verstanden und gewürdigt werden. Der Weg, der
einzig dem Denken verbleibt, ist ein solcher, der viele Zeichen an
sich hat, viele Wegmarken, die deutend hinweisen auf das Eine
und Einzige, das hier an-zu-denken ist. Schon das mag als ein
befremdlicher Widerspruch empfunden werden, dass das EINE
SEIN in einer Vielheit von Zeichen und Wegmarken erscheint und
sich bekundet. Die Explikation hat hier einen verweisenden,
formal-anzeigenden Charakter. Die Zeichen auf dem Denkweg
zum Sein sind ontologische Analogien. Jedes einzelne dieser
SEMATA, dieser Zeichen, verweist auf das "SEIEND", aber nicht
jedes auf je einen Zug daran, so daß der Zahl der Zeichen eine
Zahl von Wesenszügen entspräche; jedes SEMA sagt zuviel und
zuwenig: zuviel, weil es zunächst seine Verständlichkeit hat im
Hinblick auf die Dinge, wenn auch in einer Verneinung der Dinge,
und zuwenig, weil es nur eine endliche Bestimmung des Unend-
lichen ist. Erst im Durchlauf durch die Vielfalt der SEMATA wird
der Verweisungscharakter jedes einzelnen tragend; sie müssen
also alle in eins gedacht werden. Alle sagen Dasselbe, aber nicht
das Gleiche. Im Durchgang durch sie hebt sich aber der grund-
sätzliche Analogiecharakter nie auf. Beim letzten SEMA ange-
kommen, ist das SEIEND nicht in einem fortgeschritteneren
Maße enthüllt als im ersten; alle umkreisen dasselbe.
62 PARMENIDES: PROOEMIUM - 1. TEIL

Welches sind nun die Zeichen, welche die Göttin dem Denker
kundgibt, auf dass er im Durchgang durch diese Zeichen das
an-denke, was sich verhüllt in ihnen kundgibt? Die erste Gruppe
der SEMATA,6 welche das EON anzeigend bestimmen, ist: AGENE-
TON, ANOLETHRON, OULOMELES, ATREMES und ATELESTON, d.i.
das Ungewordene und Unvergängliche, das Heile-Unversehrte,
das Unerschütterliche, das Endlose; das SEIEND ist, es ist nicht
ins Sein gekommen und kann nicht daraus weggehen, es steht
an ihm nichts aus, es ist in keiner Art versehrt, durch keinen
Fehl bestimmt; und es kommt nicht einmal an einem Ziel, an
einem Ende an, wo es fertig und zu Ende ist. Das ist gleichsam
im Abstoss von den Dingen gesprochen; denn jene sind insge-
samt geworden und sind vergänglich, sind erschütterlieh, sind
bewegt, - alles verwittert im Wetter der Zeit; sie haben ein je-
weiliges Ende ihres InderZeitseins. Auch das Ganz- und Heilsein
wird im Kontrast zu den Dingen gedacht: das SEIEND ist nicht
zerstreut und zerrissen wie jene in Vielheit und Vereinzelung, es
hat nicht Gegensätze an sich, wie das Warme, das Kalte usf.;
das in den genannten SEMATA Angezeigte wird alsdann grund-
sätzlicher gefaßt. Das SEIEND ist nicht so in der Zeit wie die an-
geblich seienden Dinge. Es war nie und wird nie sein, es hat keine
Vergangenheit und keine Zukunft. Aber damit ist es noch nicht
aus aller Zeit heraus. Entscheidend wird ihm das NYN, das Jetzt
zugesprochen. Zwar sind auch die endlichen Dinge immer, so-
lange sie sind, in einem Jetzt, aber immer in einem anderen, sie
sind immer ältere in jedem neuen Jetzt; wenn sie Jetzt sind, ste-
hen künftige J etzte aus und vergangene J etzte sind verloren.
Anders das SEIEND, es ist Jetzt und zwar im ganzen, es steht an
ihm nichts aus und ist nichts verloren. Dieser Zeitcharakter ist
offenbar etwas ganz anderes als die sonstige Weise des Inder-
Zeitseins von Dingen.

Zunächst wird dieses Jetzt, das von allen im Fluß der Zeit
dahingehenden J etzten verschieden ist, durch die Ablehnung von
Vergangenheit und Zukunft gewonnen; aber bleibt eben dann
die Gegenwart übrig, wenn man die anderen Zeithorizonte weg-
denkt? Und was für eine verwandelte Gegenwart? Zumindest
können wir sagen, dass sie entgegen der Zeitlichkeit der Dinge
gedacht ist. Weiteres SEMA ist dann das HEN, das Eins. 7 Das ist
DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN 63

vielleicht das zentrale schlechthin, welches die ganze eleatische


Seinslehre beherrscht. Mit ihm zusammen geht das SYNECRES,
das Zusammenhaltende. Wieder können wir im Blick auf die
Dinge sagen, sie sind nicht REN, nicht das Eins, sondern je ein
Eins, d.h. sind Viele, ihre Einsheit ist Einssein unter Vielen; und
sie sind auch nicht das Zusammenhaltende, obgleich sie alle an-
einandergrenzen, sie hängen so aneinander, dass sie sich abgren-
zen gegen einander. Wenn aber das SEIEND wesenhaft das REN,
das Eine ist, kann es nichts ausser sich haben, kann es nicht
neben ihm noch ein anderes geben; und weil ausser ihm nichts ist,
kann es nicht aus einem anderen entstehen und nicht in ein an-
deres vergehen, - es kann nicht wie ein Baum aufwachsen aus
einem Samenkorn und aus den nährenden Säften der Erde und
kann nicht fallen und stürzen wie er und in das Erdreich ver-
modernd zurückkehren; es kann auch nicht zunehmen und ab-
nehmen, denn es gibt kein Woher und Wohin dafür. Bei all die-
sen Thesen ist Parmenides geleitet von der griechischen Grund-
auffassung, dass Entstehen von Seiendem und Zunahme von
Seiendem nur aus Seiendem, niemals aber aus dem Nichts möglich
sei, und gleiches gilt für Vergehen und Abnehmen. Im Nichts
kann keine Kraft und keine Notwendigkeit sein, dafür dass etwas
ins Sein geht oder aus ihm weggeht. Das SEIEND muss notwendig
auf eine gänzliche, ganzhafte Weise sein - oder gar nicht, also
wieder in schroffem Gegensatz zu den Dingen, denen dieses
PAMPAN PELENAI nie zugesprochen werden kann. Die DIKE selbst,
die allem das rechte Maß zumißt, - sie selbst hält vom Seiend das
Vergehen und Entstehen ab, hält dergleichen in Banden und
lässt es nicht darauf hin frei, das SEIEND anzunagen und zu zer-
stören; DIKE, welche die endlichen Dinge dem Hingang und dem
Schwinden überantwortet, jeglichem seine Weile und Eile zumisst,
sie hält vom Sein selbst jeden Zahn der Zeit ab, - das, was Ent-
stehung hat und Vergang, ist nicht wahrhaft, und was wahrhaft
ist, kennt kein Entstehen-Vergehen. Wo das Denken das ständige
und unzerstörbare Wesen des Seins vernimmt, ist der Brand ge-
löscht des fressenden Feuers, das die Einzeldinge tilgt, und weit
weg, wie verschollen, ist alle Vergänglichkeit. Weitere SEMATA8
sind dann das ou DIAIRETON, das Nicht-teilbarsein, das PAN
ROMOION, das "im ganzen gleichartig sein", d.h. nirgends ein
mehr oder weniger haben, was zu einem Ausgleich und damit
64 DIE SEMATA ALS ONTOLOGISCHE ANALOGIEN

zu einer Bewegung führen könnte, das AKINETON, das Unbewegt-


sein, das Ohne-Anfang- und ohne-Aufhören-sein, ANARCHON,
APAUSTON; das TAUTON EN TAUTO ME NON, das Selbig-im-Selben-
Bleiben. Dann folgt noch ein SEMA, welches einem schon genann-
ten zu widersprechen scheint: OUK ATELEUTETON, nicht-ohne-
Abschluss-sein. Aber der Widerspruch zu dem ATELESTON ist nur
ein scheinbarer; das EON ist zwar nie abgeschlossen wie ein Ding,
aber auch nicht ohne Vollendung, wie etwas, das noch unterwegs
ist. Es hat keine schlechte Endlichkeit, aber auch keine schlechte
Unendlichkeit. Und es gibt nichts ausserhalb des EON; das ist das
Gesetz der MO/RA. Wo Parmenides die stärksten Aussagen über
das EON macht, legt er sie nicht nur der DIKE in den Mund,
sondern beruft sich auf die DIKE, auf die ANANKE und auf die
MOIRA. Was das bedeutet, wird noch ausdrücklich zu fragen sein.
Die insichruhende Vollendetheit des einen, unbewegten und
ganzen Seins versinnbildlicht er dann durch das Bild der Kugel.
Wie diese in sich geschlossen, endlich und unendlich zugleich ist,
so ist das SEIN das von aller Nichtigkeit Freie, Ständige, Sich-
selbstgenügende, ist PAN ASYLON das unverletzliche Ganze. Der
innere Reichtum und die Tiefe der Seinsexplikation durch die
SEMATA TOU EONTOS ist nicht leicht auszuschöpfen. Parmenides
stiftet damit die Denkbahn, auf der die abendländische Philo-
sophie dem Sein nachdenkt - und dabei auch zu dem fragwürdi-
gen Begriff des "Absoluten" gelangt. Je mehr sie blind wird
gegen den analogischen Charakter der ontologischen SEMATA,
desto mehr wird für sie das angedachte SEIN zu einem SEIENDEN,
zu einem phantastischen Unding und überding. Im Zusammen-
hang unserer Problemstellung, unserer Frage nach Raum, Zeit
und Bewegung, wird es aber einmal notwendig sein, zu prüfen
und zu bedenken, wie in den Zeichen des "Seiend" die Verleug-
nung sich anmeldet, welche die nihilistische Ontologie wesenhaft
bestimmt. Denn diese Verleugnung vollzieht sich nicht mit einem
Schlage. Sie ist kein Attentat gegen das Leben, wie Nietzsche
meinte, der eine Philosophenverschwörung, eine negative Lebens-
tendenz hier zu wittern glaubte. Vielmehr geschieht die Austrei-
bung von Raum und Zeit und Bewegung gerade in einem ernsten
und schweren Denkgang, der selbst von einem bestimmten Raum-,
Zeit- und Bewegungsverständnis Gebrauch macht. Das zeigt sich
deutlich gerade bei Parmenides, im 2. Teil seines Denkgedichtes.
6

FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA


NAMEN GEBEN UND INDIVIDUATION

Die Bedeutung des 2. Teiles des parmenideischen Denkge-


dichtes wird zumeist verkannt; er wird unterschätzt, wird ge-
nommen als ein Anhängsel und Nachtrag, in welchem der Den-
ker, seiner unerbittlichen Strenge müde, dem· menschlich-all-
zumenschlichen Meinen Konzessionen macht, Geschichten er-
zählt. Selbst wenn man nicht so weit geht wie Diels, also nicht
den 2. Teil als eine unnötig angehängte Hypothese betrachtet,
von deren Falschheit der Denker sowieso überzeugt sei, - auch
wenn man, wie Reinhardt, darin eine notwendige Ergänzung des
ersten Teiles sieht, eben eine Lehre vom Wahn als Gegenstück
der Lehre von der Wahrheit, bewegt man sich in einer Verken-
nung. Und das bedeutet nicht nur, dass eben der 2. Teil missver-
standen ist, sondern das Ganze des Denkgedichtes überhaupt. Denn
erst von diesem 2. Teil aus wird der Charakter der ontologischen
Explikation des EON erhellt. Der 2. Teil überholt in gewisser
Weise den 1.

Dass dieses Grundverhältnis nicht gesehen wurde, ist bedingt


durch die allzu selbstverständlichen Vorstellungen, die über
Wahrheit und Wahn, über ALETHEIA und DOXA umlaufen. Wir
sind allzu sehr in glatten Zweiteilungen festgefahren. Der hüllen-
losen Wahrheit stellen wir die in Trug und nichtigem Anschein
befangene Meinung gegenüber. Wir operieren mit dem massiven
Unterschied von Wahrheit und Wahn in einem doppelten Sinne.
Einmal beziehen wir bei des auf dasselbe; Wahrheit ist dann die
richtige Erkenntnis, Wahn die falsche Erkenntnis der gleichen
Sache; der Grund für Richtigkeit und Falschheit des Erkennens
kann dann entweder in unserem Verhalten liegen, in der Acht-
samkeit oder Nachlässigkeit unseres Gewahrens, oder aber er
kann im Seienden selbst liegen; die Sache kann sich uns so zeigen,
66 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

wie sie eigentlich nicht ist, sie kann sich in ein täuschendes Aus-
sehen verstecken, uns eine Erscheinung bieten, die ihrem Wesen
nicht entspricht; sie stellt sich anders dar, als sie ist; ein Verneh-
men, das auf die Erscheinung der Sache hereinfällt, wäre dann
falsch, obgleich es richtig vernimmt; es ist im Wahn befangen,
weil es nicht die Erscheinung einer Sache als blosse Erscheinung
erkennt, sondern für die Sache selbst, für ihr "Wesen" hält; das
wahre Vernehmen dagegen wäre dann jenes, welches durch den
äusseren Anschein hindurchbricht, die Erscheinung durchstösst
bis auf das dahinter sich versteckende Wesen. Wahrheit und
Wahn beziehen sich so auf das Gleiche, auf die gleiche Sache,
aber eben auf zwei verschiedene Dimensionen der gleichen Sache:
auf das Wesen und auf den äusseren Anschein. In einem zweiten,
in einem anderen Sinne gebrauchen wir dann auch den Unter-
schied von Wahrheit und Wahn, wenn wir das wahre und das
wahnhafte Vernehmen gar nicht auf die selbe Sache gehen lassen,
vielmehr jedem Verhalten einen eigenen Bereich von Erkennt-
nisobjekten zuordnen. Z.B. wenn gesagt wird, alles Vernehmen
der sinnlich gegebenen Einzeldinge überhaupt ist wahnhaft ; denn
dieser ganze Bezirk des Seienden ist an ihm selbst nichtig,' "schat-
tenhaft", ist nur in un-eigentlicher Weise; und anders: das
Vernehmen der ständigen Anblicke, welche bleiben, wie immer
auch das durch sie geprägte Einzelseiende kommen und gehen
mag, - das Vernehmen der "Ideen" dagegen ist wahrhaft, weil die
Idee eigentlich ist, weil die Idee des Menschen oder des Baumes
bleibt, während die einzelnen Menschen geboren werden und ster-
ben, die einzelnen Bäume aufwachsen, verdorren und nieder-
stürzen. Wahrheit und Wahn sind jetzt gleichsam aufgeteilt an
zwei heterogene Bereiche von Seiendem, sie konkurrieren jetzt
nicht mehr, sie haben je ihre eigentümliche Dimension. Merk-
würdig dabei ist allerdings, dass der Wahn sich selbst für wahre
Erkenntnis des wahrhaft-Seienden hält, dass er gewöhnlich seiner
Natur nicht inne ist, es erst werden kann, wenn er sich neben die
Ideen-Erkenntnis hält. Aber mit der Einsicht in den Wahn ver-
schwindet er nicht; denn er hat ja seine eigene und eigenständige
Thematik; der Wahn bezieht sich, sagt man, auf das Entstehende
Vergehende, auf das Wandelbare, die Wahrheit dagegen auf das
Ständige und Wandellose. Diese Zweiteilung verhärtet sich noch
in der üblichen Entgegensetzung von zweierlei Erkenntnisver-
NAMEN GEBEN UND INDIVIDUATION 67

mögen: von unsinnlichem Denken der Ideen und von sinnlichem


Gewahren der Einzeldinge, von NOESIS und AISTHESIS.

Diese gängigen Vorstellungen über ALETHEIA und DOXA, über


Wahrheit und Wahn, Ideen und Sinnendinge und die zugehörigen
Erkenntnisweisen, welche insgesamt einem populären Missver-
ständnis der platonischen Philosophie entspringen, belasten in
verhängnisvoller Weise die üblichen Interpretationen des parme-
nideischen Denkgedichts. Man ist sich, über alle Kontroversen
hinweg, darin zumeist einig, dass der 1. Teil eben die Sicht des
reinen Denkens, der 2. Teil die Sicht des sinnlichen Meinens be-
handle. Die fatale Rolle dieses pseudoplatonischen Schemas liegt
darin, dass dadurch die interpretative Frage nach der Natur der
DOXA - und auch nach der ALETHEIA bei Parmenides unterbunden
wird, - dass nicht aus dem Text erst herausgearbeitet wird, was
dergleichen eigentlich meint, sondern dass man mit einer allzu
sicheren Vormeinung schon auslegend operiert. Die Folge ist
dann, dass der 2. Teil unterschätzt und verkannt wird. Er ist
aber in Wahrheit keine zweitrangige Angelegenheit, von der man
eventuell auch absehen könnte, weil man im 1. ja schon die ent-
scheidenden Grundaussagen des Parmenides beisammen hätte, -
er ist von entscheidender philosophischer Bedeutsamkeit. Um
das zu verstehen, muss man zunächst einmal sich freimachen von
dem Vorurteil, Parmenides habe ein starres und unbewegtes Sein
gelehrt und die Sinnenwelt, in der unser Augenschein Entstehen,
Vergehen, Veränderung, Wachstum und Schwinden und Orts-
veränderung wahrnimmt, als einen trügerischen Schein abgetan.
Parmenides war kein Narr, er konnte wie wir alle sehen, dass das
Wasser rinnt, der Regen fällt, die Wolken ziehen, die Lebewesen
entstehen und vergehen, und es ist ihm nie beigefallen, dergleichen
für einen biossen Trug, eine blosse Täuschung zu halten, in der
wir wahnhaft befangen sind. Etwas anderes, etwas ganz anderes
ist es, wie weit er solchem Geschehen überhaupt den Charakter
des "seiend" zusprechen kann. Was aber nicht "seiend" im stren-
gen Sinne ist, das braucht noch lange keine subjektive Illusion
zu sein. Parmenides ist von der typisch modernen Denkweise
weit entfernt, derzufolge alles, was nicht "objektiv" ist, eben
"subjektiv" sein muss. Parmenides aber hat nicht nur den Regen
fallen und die Wolken ziehen sehen, - er hat die Bewegtheit der
68 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

Dinge eigens und ausdrücklich bedacht und durchdacht. Und


auch hier ist das Denken des Denkers nicht autonom und selbst-
herrlich, auch hier geht es im Geleit der Weg-weisenden Göttin.
Offenbar hat der Mensch auch hier nicht die Kraft, seine eigene
menschliche Situation, in die er gebannt ist, zu durchschauen.
Aber auch hier offenbart wiederum die Göttin nicht eine über-
menschliche, göttliche Wissenschaft über das Entstehende-Ver-
gehende und über die DOXA, welche der Aufenthalt des Menschen
ist; es kommt nicht zu einer direkten Lehre, die einfach aufzu-
nehmen wäre. Vielmehr weist die kündende Göttin auch hier
Wege der Forschung. Auf den ersten Blick sieht der zweite Teil
des Gedichts, der nur trümmerhaft überliefert ist und nur wenige
zusammenhängende Fragmente enthält, aus wie eine Kosmogonie.
Es ist die Rede von zwei Urprinzipien, von Licht und Nacht, aus
deren Mischung alle vereinzelten Dinge hervorgingen. Aber die
uns geläufige Vorstellung von Weltentstehung ist zumeist mit-
bestimmt durch den jüdisch-christlichen Gedanken der Welt-
schöpfung, - ein Gedanke, der ungriechisch ist, (ja der vielleicht
überhaupt un-philosophisch ist). Bei Parmenides handelt es
sich in keiner Weise um irgend einen kreativen Hervorgang des
bewegten Seienden aus der Hand Gottes und aus dem Nichts,
sondern einzig um die "Ordnung" der Dinge, um ihre Einrichtung
im ganzen, um die DIAKOSMESIS. Der 2. Teil des Gedichts handelt
vom DIAKOSMOS EOIKOS, von der aufscheinenden Durchgliederung
des Ganzen. Die ordnende Durchgliederung vollzieht sich dabei
weder nur im Geiste des Menschen, noch nur im Seienden selbst,
sondern in einer Dimension, die sowohl den Menschen, als auch
das Seiende beherrscht und durchmachtet. Es ist die Dimension
der Sprache. Und hier liegt das gänzlich Unerwartete und Eigen-
tümliche des parmenideischen Begriffs der DOXA; sie ist aus dem
Horizont der Sprache gedacht. Das Wesen der Doxa ist für Par-
menides die Namengebung. Der Mensch ist in der DOXA, sofern
er das Seiende benennt, sofern er dafür Namen hat. Der Akzent
liegt bei diesem Gedanken nicht darauf, dass der Mensch sich
das Chaos ordne, dadurch dass er wie Adam alle Dinge mit Namen
belege und so sich verfügbar halte, sondern dass er überhaupt
namentlich anspreche. Was einen Namen hat, ist schon besondert,
ist vereinzelt, ist abgestückt aus dem Ganzen, tritt in einer ab-
gegrenzten Besonderheit hervor. Namenhaft-sein und Vereinzelt-
NAMENGEBEN UND INDIVIDUATION 69

sein entspricht sich. Das Eine, Ganze und Heile, das keine Zer-
stückung und Zerreissung an sich hat, ist das schlechthin Na-
menlose und Unsägliche, - und wenn es dennoch angesprochen
werden soll, so doch nur durch Namen hindurch, die sich auf-
lösen, die die Festigkeit und Härte einer stehenden Bestimmt-
heit verlieren, mit einem Worte, die zu Zeichen, zu SEMATA wer-
den. Was aber im Gepräge eines Namens bleibt, in diesem end-
lichen Umriss, ist selbst ein Endliches. Das Seiende ist als Ange-
sprochenes, als Genanntes, als ON LEGOMENON je schon ein Be-
grenztes und Bestimmtes, ein HORISMENON.

Dieser Zusammenhang erfährt bei Aristoteles, wo er die PROTE


ARCHE, den ersten Anfang seines metaphysischen Denkens ent-
faltet, im Satz vom Widerspruch, seine explizite Durchklärung.
Wesentlich aber ist, dass für Aristoteles das vom LOGOS über-
haupt gilt, was Parmenides nur vom Nennen, vom namenhaften
Ansprechen des endlichen Seienden, nur von der DOXA aussagt.
Und das bedeutet wieder, dass die aristotelische Ontologie, die
Ontologie des endlichen Dinges, wesenhaft verschieden ist von
der parmenideischen Ontologie des un-endlichen Seins. Sprechen
der Sprache ist mehr als biosses Nennen, sprechend sagen wir
mittelbar immer auch das Sein aus; Sprechen ist ein unaufhör-
liches "IST" -Sagen. In der Sprache verhalten wir uns in einer
seltsamen Weise zum "Sein" und nicht nur zu den Dingen, eben
wenn wir von den Dingen sagen, dass sie wirklich oder möglich,
dass sie eigentlich oder bloss scheinhaft, dass sie "wahr" sind usf.
In vielen mannigfaltigen Weisen sprechen wir das Sein zu oder
ab. Aber wie verstehen wir dabei das "IST", von dem wir Ge-
brauch machen? Bewegen wir uns dabei in einem durchgedach-
ten und ausgearbeiteten Seinsverstehen - oder hat dieses trotz
aller sprachlichen Differenzierung eine trübe Ungefährheit. Im
Sprechen haust die Ahnung vom "Sein", und zumeist bleibt es
dabei; was das Sein in sich selbst ist, wird nicht ausgedacht;
sprechend gehen wir um mit dem Wort "Sein", behandeln es,
als ob es ein fixer Namen wäre, und lassen es unbegriffen stehen.
Und diese Gedankenlosigkeit waltet umso mächtiger in der
menschlichen Rede, je mehr der Mensch angegangen wird vom
Zudrang der Dinge. Aus dem trüben Dunst seiner verschwom-
menen Seins-Ahnung sagt er schon dem Vereinzelten, Sichzei-
70 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

genden, in der Abgehobenheit eines Namens Begegnenden das


Seiendsein zu; es wird gleichsam heimisch im festen Bezirk der
Nennung. Der Name ist die Burg des endlichen Dinges. Was
einen Namen hat, ist für sich, ist abgeteilt und abgesondert,
steht in einem geprägten Umriss, hat eine besondere Gestalt und
ein Aussehen; was einen Namen hat, ist gebannt, es kann nicht
mehr alles sein, es kann nicht wahllos in anderes übergehen,
sondern nur nach festen Regeln und Ordnungen.

Das Namen sagende Sprechen der menschlichen Rede ist eigen-


artig "verkehrt". Seiend ist in Wahrheit nur das unerschütterlich
in sich ruhende, heile Ur-Eine; die Sprache aber sagt vom Vielen,
vom Abgestückten und Besonderten, von dem in der Zeit Wir-
belnden auch, es "sei"; sie ist verkehrt, sie sagt Sein und
widerspricht sich damit; auf diesem Widerspruch der Rede
beruht die Namengebung. Durch diese sieht es so aus, als
wäre das Angesprochene, mit Namen Angerufene "seiend". Das
Wesen der DOXA wird von Parmenides im tiefen Selbstwiderspruch
der Sprache gesehen, als welcher sie die Namengebung ist. Vor einem
Missverständnis müssen wir uns dabei aber hüten. Die N amenge-
bung ist nicht ein fälschliches Tun, welches der Mensch unterlassen
könnte. Die Sprache hat über ihn je schon so verfügt, dass er spre-
chend die Dinge beim Namen nennt; es ist dieselbe Macht, welche
das einzelne Seiende abstückt, als auch es "namenhaft" macht, es
dem namentlichen Aufruf gefügig macht. Namengebung ist keine
bloss menschliche Konvention. In der Namengebung wie in der
Besonderung des einzelnen Seienden waltet die Macht des Unter-
schieds. Der Unterschied ist die weltgliedernde, weltordnende
Macht. Und der erste aller Unterschiede ist der Unterschied von
Tag und Nacht, von Helle und Dunkel, von Lichtung und Verber-
gung. Diesen Grund-Unterschied, der alle weiteren begründet,
lässt Parmenides entstehen in einem Namengeben von seiten der
Sterblichen. Und er verlegt die Setzung des Unterschiedes in die
Vergangenheit. Die Sterblichen setzten zwei Formen an, nennend
ihre Stimme abgebend. Und diese Formen bilden einen Unter-
schied des ursprünglichen Gegensatzes und Widerstreites: das
Helle und Leichte auf der einen, das Dunkle und Schwere auf
der anderen Seite. Dieser Ur-Unterschied aber ist nicht schon
eine Differenz endlicher Dinge, vielmehr sind alle einzelnen Dinge
NAMENGEBEN UND INDIVIDUATION 71

Mischlinge von Licht und Nacht, Zwischendinge zwischen ihrer


Offenheit und ihrer Verbergung, zwischen ihrer Leichtheit und
ihrer Schwere. Diese beiden Formen, DYO MORPHAI, werden
nicht einfach mit einem Namen so genannt, dass sie damit be-
grenzt und umrisshaft festgehalten wären; ihr Nennen hat selbst
den eigentümlichen Charakter, dass es auch in SEM ATA erfol-
gen muss; das ist eine hochbedeutsame Sache. In der Sphäre der
Doxa wiederholt sich eine Verlegenheit, die wir bei der ontologi-
schen Explikation des EON kennen gelernt haben. Hat das Feuer
und die Nacht eine Verwandtschaft zum EON? Oder nur das
Eine, das andere nicht? In der Tat interpretiert Parmenides den
Ur-Unterschied von Tag und Nacht, von Lichtung und Ver-
bergung so, dass nur die Lichtung einen echten Bezug zum EON
habe, nicht aber die Nacht. Das Feuer hat eine positive, das
Ungelichtet-Verschlossene aber eine negative Natur. Damit
denkt Parmenides schon jene Verwandtschaft von Licht und
Sein, die bei Platon in der Entsprechung von Sonne und AGA-
THON ihre grossartigste Ausprägung erfährt - und, wie ich glaube,
das Schicksal der Metaphysik in einer verhängnisvollen Einsei-
tigkeit fortan bestimmt. Feuer und Dunkel, das Leichte und
Schwere sind aber hier nicht primär als Elemente unterschieden,
der Unterschied, gerade weil er sich nur in SEMATA aussprechen
kann, meint kein umgrenztes Seiendes, sondern das grenzenlose
Offene der weltweiten Lichtung und das grenzenlose Verschlos-
sene einer weltweiten Verbergung. Die Menschen schieden na-
mengebend zwei Ur-Formen und "sie schieden aber deren
Gestalt gegensätzlich und sonderten ihre Merkzeichen von
einander: hier das aetherische Flammenfeuer, das milde, gar
leichte, sich selber überall gleiche, dem anderen aber ungleiche.
Dagegen gerade entgegengesetzt die lichtlose Finsternis, ein
dichtes und schweres Gebilde". 9 Mit dieser Scheidung entsteht
die Ordnung des Weltganzen, das Gegenspiel von Tag und Nacht
und ihre Vermischung in allen einzelnen Dingen, welche sowohl
dem Tag, dem Licht, dem Feuer und Leichten angehören, als
auch der Nacht, dem Dunkel, dem Schweren. Licht und Dunkel
halten sich, durch das Ganze hin gleichmässig verteilt, die Waage,
- keines hat ein Übergewicht, - und beide sind gleichgewichtig
an der Mischung der Zwischendinge beteiligt. Es ist eine Welt-
sicht von ausserordentlicher Kühnheit und Höhe des Gedankens,
72 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

welche Parmenides in diesem 2. Teil des Gedichts entwirft. Aus


dem Ur-Unterschied von Feuer und Nacht, aus diesem Urgegen-
satz entwickeln sich alle besonderen Gegensätze, welche die Dinge
in ihrem Streit und Widerstreit beherrschen. Parmenides führt
dies in monumentalen Strichen durch (soweit wenigstens die
fragmentarische Textüberlieferung uns dies erkennen lässt); er
geht dabei einen bestimmten Gang, nämlich vom Weltweiten
zum Binnenweltlichen, er beginnt bei Feuer und Nacht, die in
ihrem Widerstreit und Gegensatz erst den Bereich und das Feld
aller besonderen Gegensätze eröffnen; im Offenen dieses Bereichs
wiederholt sich in verwandelter Weise der Gegensatz von Feuer
und Nacht als derjenige eines einzelnen Feuers in der Nacht zu
eben der Nacht, die es umgibt: die Göttin weist den Denker auf
den Weg, auf welchem er erfahren wird die Natur des Aethers
und aller Sternbilder im Aether, der "Sonnenfackel sengendes
Wirken" und das Irren des rundäugigen Mondes. Und weiterhin
werden diese himmlischen Gegensätze als Grund genommen für
die irdischen Gegensätze, die er als das Spiel des EROS begreift,
als Gegensatz des Männlichen und Weiblichen usf. Der Weg eines
solchen Verstehens, auf den ja auch die Göttin verweist, ist kein
trügerischer Irrweg, kein wahnhafter Taumel des Menschen,
aus dem er sich am besten befreien und heraushalten solle. Es
gibt Entstehen und Vergehen, gibt den Wandel von Tag und
N acht und den Wechsel der Jahreszeiten, es gibt den gegensatz-
beherrschten Streit der Dinge, - aber all dergleichen ist nicht im
strengen Sinne seiend. Und doch ist es nicht nichts, nicht bloss
eine Einbildung. Es ist und ist nicht, es ist auf eine widersprüch-
liche, widerspruchdurchsetzte Art. Es ist das Scheinen des Seins.
Parmenides nimmt den Schein ernst, er "subjektiviert" ihn
nicht vorschnell. Er begreift, dass mit einer solchen Subjektivie-
rung, wie sie dann in der Sophistik oder auch in der neuzeit-
lichen Erkenntnistheorie üblich wird, garnichts gewonnen wäre.
Denn was hiesse es schon, die aufscheinende Welt der entstehen-
den-vergehenden Dinge als einen biossen menschlichen Wahn
zu erklären? Menschen, solche vereinzelte Wesen, die geboren
werden und sterben, die also selber in Bewegung sind, - die selber
gerade der erscheinenden Welt angehören, kann man doch nicht
einerseits festhalten wollen, und dort den Wahn lokalisieren; denn
das hiesse ja, noch selber am Wahne festhalten, festhalten an
NAMENGEBEN UND INDIVIDUATION 73

der isolierten, vereinzelten Existenz der wähnenden Menschen.


Wenn es sich schon um einen Wahn handelte, dann wäre der ein-
zelne Mensch selber ein Gewähntes, er könnte gar nicht wahrhaft
das Wähnende sein. Parmenides verfällt nicht in diesen Fehler; er
denkt radikaler. Das macht seinen Begriff der DOXA so schwer
verständlich. Es sieht nur so aus, als ob auch er die DOXA auf die
menschliche Subjektivität gründe, in Wahrheit gründet er sie
auf die Sprache.

Nur solange wir der Meinung sind, dass die Sprache ein Werk-
zeug der zwischenmenschlichen Verständigung sei, ein Werkzeug,
das der Mensch gemacht habe, wie er Hammer und Zange ge-
macht hat, solange nur muss uns auch der parmenideische DOXA-
Begriff subjektivistisch erscheinen. Wir sind dann immer wieder,
wie Karl Reinhardt, befremdet von der anscheinenden Inkonse-
quenz des Denkers, dass er zunächst, wie es den Anschein hat,
die Göttin über den Menschenwahn sprechen und im Fortgang
des Gedichts sie selbst in diesen Wahn mitverfallen lässt. Rein-
hardt formuliert dies so: "... Parmenides beginnt die DOXA
damit, dass er erzählt, die Menschen seien überein gekommen,
zweierlei Gestalt mit Namen zu benennen; aber er entwickelt
nicht, was man erwarten sollte, wie sie aus beiden Gestalten ihr
Weltbild schufen, sondern das Gedachte gewinnt alsbald selb-
ständiges Leben, Dunkel und Licht vereinigen sich und bilden
die Welt, - aus der Erkenntnistheorie erwächst zu unserer Über-
raschung eine Kosmogonie; was nichts als Name (ONOMA) war,
geht physikalische Verbindungen ein und erzeugt zuletzt noch
den Menschen samt seinen Erkenntnissen ... Das ist für unsere
Begriffe allerdings ein starkes Stück ... " Die Frage ist hier, ob
sich nicht die Interpretation ein starkes Stück leistet, wenn sie
das Namesein der aufscheinenden Dinge als biosses Gedachtsein
von seiten des Menschen auslegt. Parmenides sieht hier viel tiefer.
Gewiss ist die Sprache den Menschen zugehörig; Menschsein
heisst: in der Sprache leben, weben und sein. Die BROTOI, die
Sterblichen sind durch das Wohnen in der Sprache wesenhaft
bestimmt. Sie sprechen die Sprache nach, sie sagen die Seinsge-
danken nach, die ihnen schon zugesprochen sind, sofern der
Mensch in der Sprache behaust ist. Wenn Parmenides die DOXA
in der Namengebung gegründet sieht, und wenn er die DOXA-
74 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

Welt durch einen setzenden Spruch der Sterblichen entstehen


lässt, so muss dieser schwierige Gedanke in einer Weise gedeutet
werden, wie uns dünkt, dass damit der Mensch gerade nicht als
der Urheber der Doxa-Welt erscheint, sondern als der Mitsprech-
ende mit jenen Urspruch, der in der Sprache selbst als Namen-
gebung, als waltende Macht des sondernden "Unterschieds",
haust. Die Doxa-Welt entsteht durch die Namengebung, das
N amen-Gebende aber ist nicht ursprünglich der Mensch, son-
dern die Sprache selbst. Weil aber die Sprache nicht zu einer
mythischen Gottheit personifiziert werden kann, weil sie immer
die Seinsoffenheit ist, worin der Mensch seinen Weltaufenthalt
hat, konnte Parrnenides gleichsam vom Menschen her das Prinzip
der DOXA formulieren. Die ganze Schwierigkeit der Stelle und
ihre interpretative Bewältigung vorzulegen, übersteigt unsere
Absicht, Parmenides unter dem Blickwinkel des Bewegungs-
problems zu betrachten. Aber ein kurzer Hinweis mag noch ge-
geben sein. Wenn Parmenides zuerst die Göttin sagen lässt, dass
die Sterblichen zwei Formen (eben Feuer und Nacht) namenhaft
nennend festgesetzt haben, so steht dieser Stelle wenig später
eine andere gegenüber, wo die Göttin, nach dem Nennen des
Urunterschieds, zum Denker sagt, dass sie ihm diese Welt ein-
richtung mitteile und dass keine menschliche GNOME, keine
menschliche Nennung und Setzung, der göttlichen GNOME den
Rang ablaufen könne. Die GNOME BROTON ist also zweideutig
gesehen. Hier beginnt erst das eigentliche Problem der Auslegung
des DoxA-Begriffes des Parmenides. Wir müssen es beiseite
lassen.

Unser kurzer Durchblick durch den 2. Teil des Denkgedichtes


ließ erkennen, dass Parmenides in ernsthafter Weise von Ent-
stehen und Vergehen spricht, - dass er dergleichen nicht bloss
als einen Trug ansieht, der ignoriert werden kann, als einen Wahn,
in den wir zwar verfallen, der aber überwunden werden muss.
Parmenides spricht nicht nur vom Entstehen der Dinge und
ihrem Vergang, sondern - und das ist bedeutungsvoll: vom Ent-
stehen des ganzen Bereichs des Entstehens und auch vom Ver-
gehen des Bereichs des Vergehens. So heisst es im Frg. 19: 10
"Also entstand dies gemäß der DOXA und besteht noch jetzt und
wird von nun an in Zukunft so wachsen und dann sein Ende neh-
NAMENGEBEN UND INDIVIDUATION 75

men". Was ist das aber für eine Zeit, worin die Zeit der Dinge und
Ereignisse anfängt und endet? Hat am Ende das EON doch einen
verborgenen Grundbezug zur Zeit? Steht überhaupt die Welt
der DOXA sozusagen freischwebend in der ganzen Gebrechlich-
keit ihrer mangelhaften Seinsweise neben dem EON? Unver-
bunden und ohne Bezug? Die üblichen Vorstellungen, mit denen
man sich dieses Verhältnis nahezubringen sucht, etwa das zwi-
schen Wesen und Erscheinung, sind ja insgeheim alle orientiert
am Ding, an einer ansichseienden Sache, die in einem "Äusse-
ren", in einem Anblick erscheint? Aber erhält sich in der Tat das
EON zu dem entstehend-vergehenden Ding wie das Wesen zur
Erscheinung? Wie ein Inneres zu einem Äusseren und dgl.? Oder
ist hier eine ganz andere Spannung der Dimensionen zu denken?
Man glaubt sich vielleicht schon weit über die Naivität solcher
Fragen hinaus, wenn man antwortet, dass ja das EON überhaupt
gar kein Ding, keine Sache, kein "Ens", weder ein ens finitum,
noch ens infinitum meine, nicht ein Seiendes, nicht solches, dem
mehr oder weniger Sein zukomme, sondern einzig das "Seiend",
das Seiendsein, das "esse". Eine solche Antwort ist zwar nicht
falsch, aber unentfaltet und zu massiv, sie wird der parmenidei-
sehen Problematik nicht gerecht. Parmenides münzt nicht in
einen handlichen Unterschied aus, was die immerwährende Span-
nung seines Denkens ist. "Sein", das der NOUS vernimmt, ist nicht
gleichsam auf der einen Seite, und auf der anderen dann das
werdende Einzelding, das in der DOXA vernommen wird. Wir
stehen nicht über diesem Unterschied und können nicht von
aussen das rechte Verhältnis zwischen zwei Sphären bestimmen.
Der Mensch ist wesentlich in der Doxa, sie ist die eigentlich-
menschliche Situation. Der 2. Teil des Gedichts hat die zentrale
Bedeutung, diese unablegbare Grundsituation des Menschen
sichtbar zu machen - und sie auch als die verdeckte Voraus-
setzung der vorangegangenen Explikation des EON zu enthül-
len. Auch im Geleit der Göttin kommt der Mensch nicht aus
der DOXA heraus, er entrinnt ihr nicht, solange er lebt, - aber
mit der Führung und Weisung der Göttin vermag er es, das
Seiend, von dem er sonst immerzu einen ungeprüften und ge-
dankenlosen Gebrauch macht, anzudenken. Er hat nicht den
Blick der Götter auf das Sein selbst, er kann es nicht unver-
mittelt schauen, er kann es nur durch die Vermittlung der
76 FRAGE NACH DER NATUR DER DOXA

SEMATA an-denken. Er ist das Wesen der Seinsahnung und


Seinsferne - und damit der Seinssucher, der Jäger des scheuesten
Wilds. Es ist also gar nicht so, dass wir nach dem 1. Teil das EON
kennen - und sich nur die Frage erhebt, wie von daher die Sphäre
der Erscheinung, das Reich der DOXA noch zu bestimmen sei.
Umgekehrt, gerade im Durchdenken des 2. Teils machen wir die
Erfahrung, dass wir im Grunde vom EON, vom SEIEND, Weniges
und Unzureichendes wissen, - weil wir es nur in SEMATA, nur in
Zeichen, die selber der erscheinenden Welt·angehören, vernom-
men haben; wir lernen verstehen, dass auch die Explikation des
1. Teils sich in keiner anderen Dimension vollzieht, als in der,
die unaufhebbar die Heimat des Menschen ist; der Denker wird
von der Göttin nicht ans Herz genommen, nicht hineingerissen
in die geheimnisvolle Mitte, wo die Götter wohnen; sie weist d.h.
sie zeigt Wege der Forschung. Nichts verrät mehr den endlichen
Charakter der parmenideischen Seinsauslegung, als dass sie
weghatt sich vollziehen muss. Das menschliche Denken des Seins
braucht, weil es notwendig ein Weg ist, Zeit - und ist selber eine
Bewegung. Das Andenken des Seins als des Ungewordenen und
Unvergänglichen, Heilen und Ganzen - und wie die anderen
SEMATA noch lauten mögen - ist nicht nur dadurch, dass es als
Denken Zeit braucht und eine Bewegung ist, in die Situation der
DOXA verschlagen, sondern entscheidender noch gerade durch
das, was in den SEMATA gedacht wird. D.h. das Ungewordensein
ist überhaupt nicht ein Charakter, der dem Sein selbst direkt zu-
kommt, sondern ist ein SEMA. Durch den Gedanken des Unge-
wordenen hindurch denken wir mittelbar ein Moment des Seins.
M.a.W. wenn wir das Sein das Ungewordene, Unbewegte, Heile,
Ganze, Eine usf. nennen, so rufen wir ihm im Grunde vergebli-
che Namen zu. Es bleibt das Unsagbare im Sagen des endlichen
menschlichen Denkens. Das bedeutet kein Mysterium, das zum
Verzicht auf das Wort des Denkens auffordert. Gerade der Den-
kende weiss, dass das eigentlich Gesprochene der Sprache das
Unsägliche ist. Aber er mag dabei die Behutsamkeit lernen und
das Gefühl gewinnen für die Schwere der Seinsworte, für ihre
ungeheuere Spannung. Das kann uns Parmenides lehren, wenn
wir ihn wirklich lesen. Wir verstehen dann vielleicht, dass die
übliche Rede vom Unterschied des 1. und 2. Teiles eine Leicht-
fertigkeit ist, dass Parmenides nicht über das Sein Aussagen
NAMENGEBEN UND INDIVIDUATION 77

macht, wie man über einen vorhandenen Tisch oder Stuhl


sprechen kann, - verstehen vielleicht auch, dass selbst die SEMATA
nicht nur Begriffe sind, die im Kontrast zu allem Erscheinenden
gebildet sind, dass sie insgeheim noch etwas mitklingen lassen,
was Parmenides zu unterdrücken sucht: die Welthaftigkeit
der Welt.
7
GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA
BEI DER AUSLEGUNG DES EON
DER SPEKULATIVE SATZ

Der 2. Teil des parmenideischen Gedichtes bedeutet keinen


mindergewichtigen Anhang zu der im ersten Teile entfalteten
Seinslehre, er klärt vielmehr die eigentümliche Natur der Grund-
worte, in denen die ontologische Explikation des EON vollzogen
wurde. Das menschliche An-Denken des Seins übersteigt nicht
die Grundsituation, in die der Mensch gebannt ist; er kommt
nicht reell aus ihr heraus, er wird nicht selbst in das schlaglose
Herz der wohlgerundeten Wahrheit versetzt, - er bleibt das We-
sen der Peripherie und kann nur durch die Ferne hindurch auf das
Herz der ALETHEIA hindenken. Und auch das ist ihm nur möglich
im Bündnis mit dem Göttlichen, im Geleit der Heliaden und
gemäss den Weisungen der DIKE. Gerade vom 2. Teil aus kann
man die grundsätzliche Funktion des Prooemiums auch erken-
nen, nämlich dass es dort nicht um eine poetisch-allegorische
Einkleidung des Philosophierens geht, sondern um eine absolut
ernst gemeinte Charakteristik der "Endlichkeit" des mensch-
lichen Seinsdenkens. Alle Partien des Gedichts: Prooemium,
Lehre vom EON und Lehre von der DOXA haben die gleiche
Situation. Und diese Situation enthüllt sich eben gerade als die
Gefangenschaft des Menschen in der DOXA.

Es mag gut sein, sich hier den Unterschied zu verdeutlichen


zwischen Befangenheit und Gefangenschaft. Der "wissende
Mann", wie Parmenides den Denker nennt, ist, sofern er geleitet
von der Lichtrnacht und unterwiesen von der DIKE ist, entrückt
aus der gewöhnlichen Verfassung des Menschen, er hat einen
Standort hoch über den Wohnstätten der Sterblichen. Das hat
mit dem falschen Pathos eines "vornehmen Distanzgefühls"
nichts zu tun; je echter ein Dasein sich dem Denken aussetzt,
desto wesenloser werden die vermeintlichen und eitlen Rangun-
GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA 79

terschiede zwischen den Menschen; die Ungewöhnlichkeit des


Denkers besteht in nichts anderem als in dem bitteren Wissen
um die Gewöhnlichkeit des Menschen überhaupt. Der Denker
weiß um die unaufhebbare Gefangenschaft des Menschentums,
gerade weil er nicht mehr darin völlig befangen ist, weil er "ein
Auge zuviel vielleicht" hat, wie Hölderlin von Laios' Sohn sagt;
Befangensein : d.i. so in einer Situation stehen, daß diese als
solche gerade nicht erfahren ist. Wenn jemand von Kindheit an
in einem Kerker leben und aufwachsen würde, würde er dies als
die normale Situation auffassen und hinnehmen; er wäre befan-
gen, aber nicht eigentlich gefangen. Einblick in seine Gefangen-
schaft könnte ihm zuteil werden, wenn er irgendeinmal einen
Blick tun könnte über die Mauern hinaus, wenn er ins Freie
sehen und die Freiheit ahnen könnte. Mit diesem Blick aber ins
Freie wäre er noch nicht frei, sondern jetzt erst eigentlich gefan-
gen, er würde das Entsetzliche seiner Situation einsehen, er
würde sich als "unglückliches Bewusstsein" in Leid und Sehn-
sucht verzehren, er könnte jenen Blick ins Freie, der ihm den
Einblick auch in sein Unglück gab, nie vergessen. Der Blick ins
Freie ist das Denken des Seins. Seitdem weiss der Mensch um
seine Gefangenschaft in der "Höhle". Und seitdem versucht er,
im Denken dieser Gefangenschaft zu entrinnen und den Weg ins
Freie zu gewinnen; seitdem versteht er Denken als Befreiung.
Das platonische "Höhlengleichnis" enthält für all diese Züge die
großartigste Symbolik. Die Gefesselten haben dort, solange sie
unbeweglich zur Wand starren und die Schatten von Dingen, die
hinter ihnen vor einem Feuer vorübergetragen werden, für das
Wirklich-Seiende halten, überhaupt keine Einsicht in ihre Lage;
erst wenn sie der Fesseln entledigt werden und herumgedreht und
durch einen langen Stufengang hinaufgeführt werden ins Offene
und Freie und schliesslich den Blick tun, nach langer mittelbarer
Vorbereitung, in das, was das Offene eröffnet, was das Weite und
Freie lichtet und lichtend aufbricht, eben den Blick in die Sonne
selbst, - erst dann wissen sie um die frühere Gefangenschaft und
die Lichtferne und trübe Dämmerung, die sie umhüllte, - und
auch um die un-endliche Distanz, die sie immer noch vom Licht
selbst trennt. Auch für das platonische Höhlengleichnis gilt, was
wir vom Gedicht des Parmenides sagen, daß die menschliche
Gefangenschaft im Grunde gar nicht gelöst, sondern nur einsich-
80 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER

tig wird. Auch die platonische Befreiung ist die Befreiung zur
Einsicht in die Gefangenschaft. Auch wer den Blick in die Sonne
getan hat, muß wieder hinab in die "Höhle", in ihre Düsternis
und Enge, - so wie Platon von den Regenten seiner POLITEIA
fordert, dass sie hinabsteigen ins Menschenland, in die POLIS,
ungern zwar und wider Willen, aber unabwendbar. Dieser Rück-
weg in die Höhle ist nicht motiviert etwa in einem philanthro-
pischen Mitleid, welches die droben im Licht wandelnden Denker
bewegte, ihrer Brüder im Dunkeln nicht zu vergessen; der Denker
kann überhaupt nicht in der Nähe des Seins sich ansiedeln und
Wohnung nehmen; auch der "denkende" Mensch ist an das
allgemeine Menschenlos gekettet, er kann nie sein wie die Götter,
deren selige Augen in stiller ewiger Klarheit blicken, - auch ihm
ist gegeben, an keiner Stätte zu ruhen und wie Wasser von Klippe
zu Klippe geworfen zu fallen jahrlang ins Ungewisse hinab.
Aller Aufstieg des Denkens ist ebenso sehr auch Absturz. Je
mehr der Mensch der Befangenheit entrinnt, desto schärfer und
härter wird die Gefangenschaft. Und wo ein Denken des Seins
sich über den trüben Dunstkreis des alltäglich-gewöhnlichen
Allerweltverstehens hinausbringt, wo es zu einer ontologischen
Explikation gelangt, muss gerade die DOXA entscheidend mit in
den Blick rücken: als die Grundsituation, die auch noch diese
Seinsauslegung mit umfängt. Die Ontologie des EON ist in der
DOXA gefangen, aber nicht mehr befangen; sie ist das Andenken
des Seins, welches Denken sich in der Situation der Erscheinung
vollzieht. Wenn wir diesen fundamentalen Zusammenhang uns
klar machen, gewinnen wir ein Verständnis der inneren Einheit
aller Teile des parmenideischen Denkgedichts. Das Prooemium
verliert den Charakter eines bloss poetischen Vorspruchs und
allegorischen Aufputzes und der zweite Teil den Charakter eines
Anhängsels, das eine überflüssige Hypothese oder eben eine die
Seinslehre nur noch ergänzende Wahnlehre zufügt. Das ganze
Werk wird als ein einheitlicher Guß, als eine Gedankenarchitek-
tur von monumentaler Strenge erkennbar; es ist nirgends ein
Wort zuviel gesagt, jeder Satz hat eine absolute Prägnanz. Das
bedeutet aber nicht die Eindeutigkeit eines wohldefinierten
mathematischen oder logischen Begriffs, sondern die Prägnanz
des spekulativen Ausdrucks. Das Werk des Parmenides ist weder
Poesie, noch Wissenschaft, - es ist reine Spekulation. Das Eigen-
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 81

tümliche des "Spekulativen" ist der "Ausblick", das Hinaus-


spähen aus einer befangenen-verschlossenen Situation ins Offene,
- über alles Endliche hinweg und hinaus ins Un-Endliche, über
alles Seiende hinweg ins "Sein", - über alles Gegebene hinweg
ins Ungegebene, - ins Ganze. Aber dieser Ausblick darf nicht
nur von dem her charakterisiert werdern, worauf er zielt, sondern
auch von dem her, wovon er ausgeht, - wovon er sich ständig
vergeblich abzustossen sucht. Auch der kühnste Flug des Gedan-
kens wird die Kette nicht los, die ihn an die unablegbare Grund-
situation des Menschen, selbst ein endlich-Seiendes zu sein in-
mitten der endlichen Dinge, bindet. In dem Doppelbezug des
Menschen: im Hinausdenken über .... und im denkenden Ver-
bleiben in der Sphäre, die er zu übersteigen sucht, - gründet die
Mittlerschaft des menschlichen Denkens, welche die Doppelnatur
des spekulativen Satzes prägt, endlich und unendlich zugleich zu
sein. Es ist dabei gleichgültig, ob man am spekulativen Satz den
"Gegenstoss des Verhältnisses" von unendlichem Sinn und
endlichem Wort unterstreicht, oder ob man das "Scheitern" aller
absoluten Seins aussagen betont. In der ganzen Geschichte der
Philosophie wird um die merkwürdige innere Spannung, um die bis
zum Zerreißen gespannte ontologische Formel gewusst. Bei
Parmenides findet dies eben seinen erstmals grossen systemati-
schen Ausdruck im Verhältnis der Sätze über das EON, über das
SEIEND, zur DOXA. Die DOXA bei Parmenides ist weder das Feld
einer Kosmogonie, noch einer Theorie des menschlichen Wahns,
sie wird primär begriffen aus dem Horizont der Sprache und zwar
begriffen als das im Sagen mit-geschehende Geschehnis der
"Verendlichung"; der Name, ONOMA, ist der sprachliche Wider-
schein einer Umrissenheit, eines Umzeichnetseins des endlich
Seienden. "N amenhaft haben die Menschen alle Dinge abge-
zeichnet" 11, sagt Parmenides; das ONOMA ist das EPISEMON, das
Abzeichen, Wahrzeichen der Dinge. Und weil das Andenken des
EON durch solches hindurch sich vollzieht, was von Hause aus
ein EPISEMON ist, eben durch Namen, die Namen sind, auch
wenn wir die Namen des SEIEND vergeblich im Munde führen,
ist die Ontologie auf ihrem Wege der Forschung an SEMATA
gebunden. In solcher Gebundenheit verrät sich, wie wir schon
sagten, die Gefangenschaft in der DOXA.
82 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER

Das mag vielleicht als eine übertriebene Deutungsperspektive


erscheinen. Wir möchten daher unsere These abgrenzen gegen ein
mögliches Mißverständnis. Vor allem geht es uns nicht um einen
etwaigen Gegensatz von LEGElN, Sagen, gegenüber SEMAINEIN,
in der eingeschränkteren Bedeutung von "ein Zeichen geben",
einen Wink geben, ein Orakel, das enthüllend-verhüllend in eins
ist. SEMAINEIN und SEMA kann zuweilen einen solchen engeren
Sinn haben, der gegen das LEGElN kontrastiert, etwa im Heraklit-
fragment 93: "Der Herr, dessen die Weissagungsstätte in Delphi
ist, sagt nichts und birgt nichts, sondern er deutet an"; OUTE
LEGEl, OUTE KRYPTEI, ALLA SEMAINEI 12! Aber das menschliche
Denken des Seins ist kein Orakel, die spekulativen Sätze keine
Sprüche delphischer Weisheit; der Gott mag verhüllt zu den
Menschen sprechen, - nicht aber die Menschen zu einander ihren
Dialog über das Sein. SEMA bedeutet zunächst schlicht einfach
Wegmarke. Die Göttin nennt dem Denker eine Vielzahl von
solchen Wegmarken, auf dass dieser nicht vom Wege abkommt,
nicht in die Irre geht, - dass er sich nicht verliert im Unwegsa-
men. Nicht weil diese Wegmarken noch über ihre Weisung des
Weges hinaus einen geheimnisvollen, orakelhaften Hintersinn
hätten, - nicht weil sie irgendwelche "Chiffren" wären, die
schwer zu enträtseln und auszuschöpfen seien, verrät sich in den
SEMATA die DoxA-Gefangenschaft der ontologischen Explikation
des EON. Sondern einzig, weil sie Marken eines Weges sind, einer
"HODOS DIZESIOS", - eines Weges, den der denkende Mensch nie
zu Ende läuft und laufen kann, - eines Weges, auf welchem er nie
endgültig ankommt, weil er nie wirklich endgültig fortgeht, der
ihm nur die Bahn eines "Ausblicks" ins Freie, Offene, nicht aber
Bahn eines Entweichens aus seiner Gefangenschaft ist. Wenn er
das SEIEND denkt, ist er auf einem labyrinthischen Weg. Die ent-
scheidende Grundcharakteristik des SEIEND bei Parmenides
haben wir bislang absichtlich zurückgestellt. Von ihr aus muss,
wie es uns scheint, das rechte Verhältnis von EON und DOXA
begriffen werden. Dieses Verhältnis kann nicht ohnehin mit uns
geläufigen Vorstellungen verdeutlicht werden. Wir unterscheiden
etwa massiv zwischen dem Wesen und der Erscheinung, stellen
das Wesen der Erscheinung gegenüber, das Wesen hier - die
Erscheinung dort. Die DOXA vernimmt, sagt man dann etwa, das
viele Erscheinende, die TA DOKOUNTA, das Denken dagegen das
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 83

eine Wesen; zwar hängt die Erscheinung irgendwie am Wesen,


ist in ihm gegründet, aber ist in ihrer Gegründetheit nicht ohne
weiteres einsichtig. Das SEIEND selbst einerseits und die seienden
Dinge andererseits sind auseinandergerissen. Um einem solchen
Hiatus zu entgehen, in welchem die Einheit des Verstehens und
damit die menschliche Vernunft sich aufzulösen droht, springt
man dann auf die Gegenmöglichkeit um und sagt: das SEIEND ist
nirgendwo anders als eben an den seienden Dingen, nicht an
einem "überhimmlischen Ort", sondern hier bei uns, an allen
Dingen, die eben dadurch seiende Dinge sind. Die gewöhnliche
Beschränktheit der menschlichen DOXA ist es, dass sie das "An-
wesende" einfach hinnimmt, aber nicht eigens auf das Anwesen
dieses Anwesenden achtet; der NOUS, das Denken, denkt das,
was die DOXA vergisst, was für sie eben in der allzu grossen
Selbstverständlichkeit des Trivialen eingehüllt ist. Das Wesen
ist dann nicht etwas jenseits oder hinter den vielfältigen, er-
scheinenden Dingen, es ist das Erscheinen der Erscheinungen
selbst. In diesen beiden Blickrichtungen, die immer wieder im
Laufe der Philosophiegeschichte aufkommen, ist gleichsam in
isolierte Denkmotive zerbrochen, was Parmcnides noch ganz
einheitlich denkt. Das SEIEND ist ebenso sehr anwesend in den
DOKOUNTA, in den erscheinenden Dingen, als es auch abwesend
ist. Parmenides begreift das wesende Wesen des Seins als An-
und A bwesen. Nicht nur die Dinge, die dahintreiben im Strom
der Zeit und darin ihre Bewegtheit haben, wesen an und ab,
kommen und gehen, sinken und steigen, treten ins Offene und
verschwinden; das "Seiend" ist anwesender als alle anwesenden
Dinge, und ist zugleich abwesender als alle abwesenden Dinge, es
bildet in seinem Doppelgefüge von An- und Abwesen erst die
Bereiche des Hierseins und Wegseins von Seiendem. Vom NOUS,
der das SEIEND vernimmt, sagt Parmenides, dass ihm das Ab-
wesende auf eine feste und ständige Weise zum Anwesenden wird,
"denn er wird nicht abtrennen das SEIEND vom Zusammenhang
des SEIEND, weder sofern es zerstreut auf eine gänzliche Weise
überallhin nach einer Ordnung, noch sofern es in sich zusammen-
gegangen ist" 13. SKIDNAMENON, zerstreut aber ist das SEIEND,
sofern es in allem Seienden anwest, SYNHISTAMENON, in eins ge-
gangen aber ist es, sofern es, abgesondert von allem Seienden,
von diesem "unterschieden" ist. Was später in der platonisch-
84 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER

aristotelischen Philosophie das grosse Problem der PAROUSIA, des


Anwesens der IDEEN, und des CHORISMOS, d.h. der Abgetrenntheit
der Ideen von den Einzeldingen, ist und die antike Metaphysik in
Atem hält, hat seine Wurzel in der parmenideischen Grundbe-
stimmung des EON als an- und abwesend zugleich. Auf unser
Problem aber hin gesprochen, können wir sagen: die DOXA ist im
ganzen die Dimension des reinen Anwesens des SEIEND, und
deswegen nur die eine Seite sozusagen; in dieser Dimension ver-
mag es zwar der NOUS, das Abwesen selbst anwesen zu lassen, -
aber nicht so, daß damit das Abwesen vernichtet und aufgehoben,
sondern so, dass es gerade als Abwesen erfahren wird. Die SEMA-
TA TOU EONTOS, die Wegmarken am Wege des Denkens, welches
aus dem Anwesen im ganzen heraus auf das reine Abwesen
selbst zu-denkt, - diese SEMATA sind keine Zeichen mit einer
Geheimbedeutung, mit einem orakelhaften Tiefsinn, aber sie
sind feste verlässliche Wegmarken; aber sie stehen hier, auf
unserem Wege, sie sind selbst im Bereich des Anwesens. Im
Durchdenken dieser SEMATA erfassen wir nicht das EON schlecht-
hin und unbedingt an ihm selbst, aber wir erfassen auch nicht
blosse "Chiffren seiner Transcendenz", sondern denken es aus
der Situation heraus, die es als Anwesen in allem Seienden, und
auch in uns selbst, uns schon bereitet hat. Die DOXA bedeutet die
Gefangenschaft im Umkreis des Anwesens des Seins. In der
Dimension der DOXA aber lässt Parmenides die Bewegung gelten.
Er lehrt also nicht die ausschließliche Wirklichkeit eines "starren,
unbewegten Seins", wie der Gemeinplatz lautet. Im Bereich der
DOXA, die nicht ein Feld trügerischen Anscheins ist, sondern
das Reich der endlichen, im Umriss der Namen eingegrenzten
Dinge, gibt es Entstehen, Vergehen, Veränderung, gibt es den
wirbelnden Tanz und Taumel.

Warum aber, könnte man fragen, gewinnt bei Parmenides die


Dimension des Abwesens die zentrale Bedeutung, dass von dort
her die Grundbestimmungen des Eon formuliert werden? Die
Antwort auf dies Frage ist nicht leicht zu finden und nicht leicht
zu geben. Es hat den Anschein als, überwiege in den SEMATA
der "Kontrastsinn" gegenüber der Erscheinungssphäre, als sei-
en hier lauter Begriffe aufgehäuft und zusammengetragen, die in
ihrem Sinngehalt das Feld der Erscheinung überschreiten.
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 85

Gewiss sind es insgesamt Begriffe, welche die Möglichkeit einer


Anschauung überfliegen; das in ihnen gedachte kann man nicht
als einen Gegenstand einer unmittelbaren Erfahrung vorführen
und zeigen; die Begriffe "überfliegen" das Feld einer möglichen
Ausweisung. Aber sie sind damit noch lange nicht "leer". In
ihnen vollzieht sich ein Vernehmen eigener Art. Die SEMATA
haben fast alle einen negierenden Sinn. Auch dann, wenn ihre
sprachliche Form nicht durch ein ALPHA PRIVATIVUM bestimmt
ist. Aber was negieren sie denn? Z.B. das AGENETON und ANOLE-
THRON, - das "Unentstandene" und "Unvergängliche"? Sind
das Verneinungen, deren Stil und Typik uns ohne weiteres klar
ist? Etwa so wie das Unpraktische oder Unsinnige? Dort sind,
wie sich aus dem Zusammenhang der jeweiligen Rede leicht
entnehmen lässt, etwa bestimmte Handlungen oder Werkzeuge
anderen Handlungen, Werkzeugen oder Sätzen gegenüber-
gestellt. Das Ungeeignete und das Geeignete steht zusammen im
Bereich der Werkzeuge, das Sinnvolle und das Unsinnige etwa im
Bereich der Sätze. Aber können wir das auch von AGENETON und
ANOLETHRON sagen? In einem ersten und unausgedachten Sinne
scheint es auch hier zuzutreffen. Wir unterscheiden etwa Dinge,
die als menschliches Gemächte einmal entstanden, wie ein Haus,
und Dinge, die von selber sind, die einfach da sind, etwa der
Findlingsblock ; wir wissen zwar mittelbar durch die Wissen-
schaft, dass auch er einmal entstanden ist in der geologischen
Geschichte unserer Erdrinde, in den Prozessen der Erkaltung,
Gebirgsbildung, Vergletscherung usw.; aber wir sehen ihm seine
Entstandenheit nicht unmittelbar an, und gleiches gilt auch hin-
sichtlich seiner Vergänglichkeit. Aber meint denn der parmeni-
deische Begriff des Unentstandenen und Unzerstörbaren so
etwas wie eine unabsehbare Dauer, die über das von uns Über-
blickbare hinausreicht? Oder etwas gänzlich anderes? Auch der
Felsblock, der unbeweglich dauert, dauert durch die Zeit hin-
durch, - er ist nach seinem ganzen Bestand jeweils nur in einem
jetzt, er dauert von jetzt zu jetzt; aber in der Ankunft eines
neuen jetzt verliert er das frühere, er altert, auch wenn er
nichts verliert, wenn er nicht rissig wird oder verwittert. Er hat
immer, in jedem jetzt, eine Gewesenheit hinter sich, die nicht
mehr ist, und eine Zukunft vor sich, die noch nicht ist. Ist das
EON, könnte man fragen, unentstanden und unzerstörbar wie
86 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER

ein Felsen, - oder anders? Und weiterhin das OULOMELES und


ATREMES, das Heile und Unterschütterliche? Ein Leib ist heil
wenn er alle Glieder hat, alle Funktionen und Vermögen und
Fähigkeiten intakt sind, wenn ihm nichts fehlt, nichts aussteht,
nichts beschädigt ist. Ist das SEIEND heil wie ein Leib? Unter-
schütterlich wie die ragende Eiche im Sturm? Und auch das HEN,
SYNECHES, das "Eine" und "Zusammenhängende" - ist es je, als
Bestimmung des EON gedacht, Eins wie ein Ding eines ist unter
vielen und ist es zusammenhängend wie ein Element, wie das
Wasser, wie Luft? Die Begriffe, mit denen Parmenides operiert,
kennen wir schon vorher, - es sind keine neugebildeten Begriffe.
Aber die Weise, wie wir sie im voraus schon kennen, ist gerade
nicht die parmenideische. In allen SEMATA des EON steckt die
prinzipielle Negation aller Dinghaftigkei t; das "Seiend" ist
niemals in einer Art unentstanden und unvergänglich, heil, uner-
schütterlich, eines, zusammenhängend, wie es ein Ding eventuell
sein könnte. Der Abstoss vom gängig-geläufigen Sinn der ge-
brauchten Begriffe ist hier unerlässlich. Aber wovon erfolgt der
Abstoss und woraufhin führt er? Die spekulativen sEMA-Begriffe
negieren Charaktere des vereinzelten Seienden. Sie sind "un-
endliche" Begriffe. Haben sie vielfach denselben Wortlaut wie
endliche Begriffe, etwa HEN, OULOMELES, ATREMES, so sind sie
dadurch von jenen fundamental geschieden, dass sie in einem
prinzipiellen Singular gedacht sind. Auch das ist noch ein
falscher Ausdruck. Das Eins, das HEN z.B. ist eine Bestimmtheit
jedes Dinges; jedes ist ein Eins, d.h. je ein Eins; es teilt dieses
Einssein mit vielen anderen, ja mit allen Dingen, - jedes ist eines;
eins-sein ist ein allgemeiner Charakter der Dinge überhaupt, die
ja als solche durch Vereinzelung bestimmt sind. Ihr Eins ist eines im
Raume der Vereinzelung, ist Einzelheit. Das EON aber ist
nicht ein Einzelnes-Eins, sondern ein EINZIGES. Aber auch der
Ausdruck "Einzigkeit" ist missverständlich. Sokrates war ein
Einziger, nicht nur weil er ein Mensch war wie Hinz und Kunz,
sondern weil er auf eine einmalige Art Mensch war, einzig in der
grossen Stunde der Weltgeschichte. Sokrates ist unwiederholbar,
ist nicht eine Eins, die weitergezählt und in eine Summe verrech-
net werden könnte. Aber trotzdem bleibt seine "Einzigkeit" die
Einmaligkeit eines Einzelnen. Das SEMA "HEN" meint eine ganz
eigentümliche Einzigkeit, eine völlig andere, die überhaupt
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 87

keine "allgemeine" ist. So, wie das EON eins ist, ist nichts mehr
eins, es gibt keine Ähnlichkeit mit irgendwas, - so wie das EON
unentstanden und unvergänglich ist, können Dinge nie unent-
standen und unvergänglich sein. Dieses Moment der seltsamen
"Einzigkeit" der Grundbegriffe für das EON, das von vornherein
ausschliesst, dass etwas anderes noch daran teilnehmen könnte,
muss man beachten, um überhaupt erst den strengen spekulati-
ven Sinn derselben aufzufassen. Solange man sich im ungefähren
Verstehen von Unvergänglichsein, von Heilsein, von Eins-sein
usw. bewegt, und gleichsam "allgemeine, für viele Dinge gelten-
de" Begriffe auf das EON anwenden will, hat man den Spannungs-
charakter der SEMATA noch gar nicht begriffen. Schon das ist
eine Zweideutigkeit derselben, dass sie wie "allgemeine" Begriffe
aussehen - und doch "einzige" sind. Der Abstoss von dem als
Durchgangsmodell dienenden Begriff macht wesentlich die Be-
wegung des spekulativen Gedankens aus. Der spekulative
Gedanke ist immer die Zerstörung des natürlichen Gedankens,
den er als Modell verbraucht. Aber er springt nicht schlechthin
über den natürlichen Gedanken hinaus, die Spekulation trägt
nur so weit, als die Auflösung des natürlichen Gedankens anhält.
Sie lässt ihn nie souverän hinter sich, sie ist immer in der Lage
des "Herrn", der die "Arbeit" des "Knechts" braucht, um da-
durch Herr zu sein, und in gewisser Weise vom Knecht, dem er
Herr ist, abhängt - gemäss jenem weltberühmten Gleichnis
Hegels für das dialektische Verhältnis überhaupt, wonach der
Herr der Knecht des Knechtes ist. Für unser Problem aber sagt
das: das in "einzigen" Begriffen sich bewegende Denken des EON
bleibt gerade durch den Abstoss von den "allgemeinen" Modell-
Begriffen diesen irgendwie verhaftet, - entkommt ihnen nicht,
sondern verwandelt sie nur. Die ontologische Explikation
bleibt in der DOXA gefangen, auch wenn sie deren Befangenheit
durchbricht. Entscheidender aber noch als die Rückbindung der
SEMATA an die Begriffe, als deren Geltungsbereich das Feld der
vereinzelten Dinge gedacht werden muss, - entscheidender als
diese unsichtbaren Nabelschnüre einer verdeckten, wenn auch
verleugneten Herkunft der Spekulation aus der DOXA, - entschei-
dender ist die Frage, ob nicht vielleicht in dem, was in jenen
"einzigen" Begriffen gedacht wird, eben etwas mitschwingt, was
zwar selbst nicht als ein phänomenal Gegebenes erscheint,
88 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA BEI DER

nicht als ein Endliches vorkommt, - das aber alle endlichen


Dinge umfängt, zusammenhält, sie entlässt in die Weile ihres
Erscheinens, - alles bringt und nimmt. Wir fragen: verstecken
sich in den spekulativen Begriffen des parmenideischen EON
nicht Züge der W el t? Ist sie nicht das Einzig-Eine, welches alles
Viele in sich birgt, - nicht das einzige Unentstandene und Unver-
gängliche, weil Entstehen und Vergehen sich nur in ihr ereignen
kann, das Einzig-Heile, dem nichts fehlen kanp, - das Einzige,
das nicht in der Zeit ist, sondern die Zeit ist, das Einzige SYN-
ECHES, - das Einzige, dessen selbstgenügsame Vollendung einer
Kugel, einer in sich geschlossenen, mangellosen gleicht? Denkt
Parmenides in eigenartig verhüllter Weise in den SEMATA TOU
EONTOS Züge der Welt? Ist das Weltganze am Ende selbst noch
ein Modell, vielleicht das prinzipielle Leitmodell, nach dessen
Bild der Gedanke das SEIEND denkt?

Dass diese Frage keine willkürliche, keine herbeigeholte ist,


zeigt deutlich die Geschichte des Weltproblems im Gang der
europäischen Philosophie. Wir verweisen nur auf Platon. Der
platonische "Timaios" ist ohne den Bezug zum Gedicht des
Parmenides überhaupt nicht zu verstehen. Die Frage nach der
Welt wird dort gestellt als Problem der DIAKOSMESIS, als Problem
der Einrichtung des Ganzen in eine "Ordnung". Das einrichtende
Prinzip ist der NOUS, der als Demiurg wirkt, d.h. wirkt nach dem
Modell der TECHNE. Er blickt, sagt nun Platon, bei seinem Ein-
richten der Weltordnung, welche das Ganze der ONTA GIGNOMENA
umfassen soll, das Ganze der werdend-entstehenden Dinge, hin
auf das IMMERSEIENDE, auf das AEI ON. In diesem Hinblick
gestaltet er die Ordnung. Das Werdende soll eingerichtet werden
nach dem Maßstab des Immerseienden. Das kann aber nicht
bedeuten, die ONTA GIGNOMENA in Immerseiendes zu verwandeln.
Das vermag kein Gott - bei den Griechen. Aber es gilt, zwischen
den vergänglichen Dingen und den unvergänglichen Ideen eine
"Vermittlung" zu schaffen, eine Ordnung, die ständiger ist als
die Einzeldinge, die ihr gemäss kommen und gehen, Aufgang
und Untergang haben, - die seiender ist, als das, was innerhalb
ihrer aufscheint und welche Ordnung, welche Gesamtverfassung
des Ganzen, doch auch wieder nicht "immer ist" wie die Ideen.
So stellt Platon zwischen die Ideen und die Sinnendinge den
AUSLEGUNG DES EON. DER SPEKULATIVE SATZ 89

KOSMOS. Er ist bleibender, ständiger, unerschütterlicher als die


Dinge, - er ist selbst kein Ding, kein Einzelding, aber er ist auch
keine Idee. Die Ideen in ihrer gegliederten Vielheit sind aber für
Platon nicht letzte Wesenheiten, die einfach neben einander
vorkommen, sie sind alle miteinander verflochten, hängen zusam-
men, sind alle verbunden, wie die mannigfachen Lichtstrahlen
in der einen Sonne; was sie einigt, verbindet, zusammenhält, ist
die Idee des Guten, die IDEA TOU AGATHOU, und diese ist die Idee
der Ideen; sie umfängt alle besonderen Ideen, aber nicht wie
ein Behälter, sondern wie ein Lebendiges, wie ein ZOON. Und
nun setzt Platon die Bezüge so an: gemessen an den Einzeldingen
ist die eingerichtete Ordnung, welche diese Einzeldinge umspannt
und durchherrscht, ist der Kosmos, fast ein Ewiges, er ist ein
Abbild der Ewigkeit der Idee, er ist gemischt aus Zügen der
Vergänglichkeit und Unvergänglichkeit; ferner: wie der Kosmos
die Dinge umfängt, so die Idee des Guten alle besonderen IDEEN.
Der Kosmos ist so, streng genommen, nicht nur ein Abbild der
Idee überhaupt, sondern ein Abbild des AGATHON. Und endlich:
das in den früheren Dialogen vereinfacht angesetzte Verhältnis
zwischen Idee und Einzelding, wonach das Ding ein Abbild der
Idee ist, an ihr teilnimmt, wird jetzt genommen als wesentlich
vermittelt durch den Kosmos. Im platonischen "Timaios"
aber werden dem Kosmos fast alle die Prädikate zugesprochen,
die wir als die SEMATA des EON bei Parmenides kennen gelernt
haben, er wird genannt MOUNOGENES und ANOLETHRON, wird als
Kugel charakterisiert, der nichts fehle, die durch keinen Ausstand
bestimmt sei usf. Was liegt aber in diesem Bezug von EON und
KOSMOS, - was ermöglicht es, nahezu alle Grundbestimmungen
auf Beides anzuwenden? Ist am Ende weder der KOSMOS wahr-
haft einzig, noch das EON? Aber gelten beide Male die Begriffe
im selben Sinne - oder sind sie verschieden, je nachdem, ob sie
onto-Iogisch oder kosmo-Iogisch gedacht werden? Sind die kos-
mologischen Begriffe immer noch Modelle für die seinsbegriff-
liche Spekulation? Gleichsam noch eine höhere Stufe, als es der
gewöhnliche natürliche Wortsinn ist? Ist denn in der Tat die
Welt das Abbild des SEIEND, wie Platon meint, ein Abbild der
Idee aller Ideen, gleichsam ein Spiegelbild des ewigen und unver-
gänglichen und unbewegten Seins, - oder ist, so fragen wir,
umgekehrt der das abendländische Denken seit Parmenides
90 GEFANGENSCHAFT IN DER DOXA

führende Gedanke des Seins ein Abbild der Welt? Ist hier von
Anbeginn an eine Verkehrung vollzogen worden? Vielleicht ist es
die gleiche, die auch Raum und Zeit und Bewegung aus dem
Wesen des Seins hinaustreiben will. Das sind häretische Fragen,
auf die man nicht mit Ja oder Nein antworten kann, weil diese
Fragen erst eine lange zureichende Ausarbeitung noch fordern.
Aber von ihrer Entscheidung wird es einmal abhängen, ob der
denkende Mensch seinen Weltaufenthalt als Gefangenschaft
begreifen muss, - oder als unverlierbare Heimat, - ob er heimisch
bleibt im Hiesigen auch im Schatten des Todes, oder ob er auch
dann noch in hintergründiger Ironie bereit ist, dem Asklepios
einen Hahn zu opfern.
8
SEMATA UND DIALEKTIK
ENDLICHKEIT DER DINGE ALS
BINNENWEL TLICHKEIT
EON UND WELT

Die Philosophie des Parmenides vollendet sich in der Lehre


von der DOXA, sofern diese als die unaufhebbare menschliche
Grundsituation begriffen wird, aus welcher heraus das An-Den-
ken des SEIEND sich vollzieht. Die DOXA ist das Vernehmen zu-
nächst der DOKOUNTA, d.h. ist das Vernehmen der Vielfalt des-
jenigen, was DOKIMOS ist, was "in Ansehen steht", was "in
Geltung ist". Das hat nicht einen abschätzigen Sinn, meint
nicht von vornherein: was nur in Geltung und Ansehen ist, ob-
gleich Geltung und Ansehen trügerisch sind. Dieses Reflexions-
moment müssen wir vielmehr zunächst beiseite lassen, - müssen
"naiver" auffassen; "in Ansehen steht" z.B. in der antiken Polis
der Heros, der in der Ratsversammlung Erfahrene, der Sieger
bei den Wettspielen; "in Geltung ist", wer hinaufgerissen ist
in den Ruhm, wer die TIME, die öffentliche Ehre hat; DOKIMOS
ist die Weise, wie eben solches ist, das "Rang und Namen" hat,
solches, das aufscheint im Glanz allgemeiner Anerkennung und
Würdigung. Von da her ist der philosophische DoxA-Begriff zu
denken; er ist gewiss allgemeiner und auch formeller zu nehmen;
es sind nicht nur einige wenige Dinge, die im Ansehen stehen,
sondern alle Dinge, - aber eben als solche, die "allgemein aner-
kannt und gewürdigt" sind, als solche, die "Rang und Namen
haben", - die ausgelegt sind als "das Seiende", das wir kennen
und nennen. In seinem Namen steht jedes Ding im öffentlichen
Ansehen, wie immer es auch sonst begehrt oder verachtet sein
mag. Das N amenhaft-sein der Dinge ist nicht ein biosses Zuord-
nungsverhältnis von Zeichen und Bezeichneten; die Dinge sind
gar nicht zuerst einmal unbezeichnet da und bekommen dann
nachträglich ihren Stempel, sondern im Nennen, Namengeben
vollzieht sich die Sonderung des Seienden zum je besonderten
Gepräge. Die Vereinzelung und Nennung ist ein und dasselbe
92 SEMATA UND DIALEKTIK

Grundgeschehen. Wir sagten schon, dass Parmenides das Wesen


der DOXA von der Sprache aus denkt. Aber das ist recht zu
verstehen. Die Sprache ist dabei nicht einfach ein Vermögen des
Menschen, dessen er Herr ist, - dessen er sich souverän bedient,
um die Wirrnis des Chaos zu ordnen. Wenn wir es so nehmen woll-
ten, wäre die DOXA wiederum primär als ein nur-subjektives
Verhalten gedeutet, zwar nicht als das Bloss-Subjektive des
Vorstellens, aber als das Bloss-Subjektive des Benennens. Die
Frage ist aber, ob Parmenides überhaupt die DOXA "subjekti-
vistisch" ansetzt, ob es am Ende nicht nur unser modernes Miss-
verständnis ist, welches in den DOKOUNTA, in dem namhaft-
Seienden, das in Geltung und Ansehen steht, einen trügerischen
Anschein erblicken zu müssen glaubt. Parmenides weiss wesent-
licher noch, was Sprache ist. Sie ist das Licht des Seins, in dessen
Helle der Mensch steht, wenn er das Seiende mit Namen anruft.
Die menschliche GNOME, der nennend-setzende Spruch, ist keine
Erfindung und keine Willkür der Sterblichen, die eben nennen
könnten, was sie wollten, sie ist das Mitgehen mit der gliedernden,
fügenden und sondernden Macht des LOGOS, der alles durchwaltet.
Indem Parmenides die DOXA am Namenhaftsein des Seienden
orientiert, hat er damit ein Prinzip gefunden, das weder subjek-
tiv, noch objektiv ist; er hat damit das reine Erscheinen ge-
dacht, das Einrücken in das Gepräge eines festen Umrisses. TA
DOKOUNTA: das ist das Seiende in seinem Aufschein und Vor-
schein, worin es als das Vielfältige, namenhaft Abgeteilte und
Gesonderte, als das Gegensätzliche und Widerstreitende und
vom Widerstreit von Licht und Nacht Beherrschte sich zeigt.
Die DOKOUNTA sind keine Wahngebilde des Menschen, keine
Illusionen seines Intellekts, - sie sind die Dinge, die wir kennen
und immer schon nennen und ansprechen, - in denen wir uns
auskennen, - die uns vertraut sind im Stil ihres Kommens und
Gehens, ihres Auf- und Untergangs, ihrer Wandlungen und Ver-
änderungen. Die DOXA des Parmenides bezeichnet - streng ge-
nommen - nicht ein Menschliches, nicht etwas, was vom Men-
schen aus verstanden werden muss, sondern umgekehrt: der
Mensch gehört der DOXA, er wohnt im namenhaften Nennen
der Sprache, er ist behaust in der Grundsituation der aufgegan-
genen Vereinzelung, wo jegliches von jeglichem getrennt und un-
terschieden ist und wo doch alle vereinzelten Dinge versammelt
ENDLICHKEIT DER DINGE 93

sind in einem umfassenden und umfangenden Anwesen. Die


tiefe und entscheidende Einsicht des Parmenides aber ist, dass
nicht nur die im Aufschein sich zeigenden endlichen Dinge das
Feld der DOXA sind, sondern dass sie auch die Blickbahn bleibt
für den spekulativen Gedanken, der über das viele Endliche hin-
ausblickt und das Eine, das EON, das SEIEND, an-denkt. Die
SEMATA, die Wegmarken, sind die vielen vergeblichen Namen
des EON; die "Vergeblichkeit" bedeutet aber hier keinen Fehler,
der vermeidbar wäre, aber ebensowenig ein hoffnungsloses
"Scheitern", sondern die unvermeidliche Mittelbarkeit und In-
direktheit der ontologischen Aussage. Weil das Denken des
EINEN durch das VIELE der SEMATA hindurch geschieht, ist solches
Denken immer noch in der Grundsituation der DOXA. Die DOXA
steht also gar nicht als das nur uneigentliehe Meinen dem NOUS
als dem eigentlichen und wahrhaften Vernehmen gegenüber, ver-
hält sich zu jenem nicht wie blosser Wahn zur Wahrheit, sie ist
vielmehr auch das Feld des menschlichen NOEIN, des mensch-
lichen Denkens. Das Denken des Menschen auf das SEIEND hin
ist nicht der LOGOS selbst, ist der DIA-LOGOS. Das DIA meint dabei
nicht allein das Zwischen einer Partnerschaft der denkenden
Seele mit sich selber oder mit Mit-Denkenden und Mit-Sprechen-
den eines "Gesprächs", - es meint auch das Hindurch eines Durch-
stosses durch einen "natürlichen Wortsinn" , der nur als Modell
dient und der eben im spekulativen Satz zerstört und verbraucht
wird. Weil alles Sagen des SEIEND, des EON, in der DOXA als der
Grundsituation des endlichen Menschen inmitten des endlich-
Seienden verbleibt, darin ge-fangen, wenn auch nicht mehr be-
fangen ist, deswegen ist die Philosophie "dialektisch". Erst vom
2. Teil des Denkgedichtes des Parmenides aus kann der wesent-
lich dialektische Charakter der Ontologie begriffen werden. Die
Lehre von der DOXA vollendet die Lehre vom EON. Das ist noch
aus dem parmenideischen Gedicht selbst her gesagt, gewisser-
massen aus einer immanenten Interpretation.

Wir haben schon damit begonnen, bedenkliche Fragen zu


erörtern, welche den Ansatz des Parmenides im ganzen in Frage
stellen. Das hat aber mit einer "Kritik" oder gar einer überheb-
lichen Zensur gegenüber dem Denker nichts zu tun. Es geht hier
nur um die Erinnerung an eine schicksalhafte Entscheidung der
94 SEMATA UND DIALEKTIK

abendländischen Denkgeschichte. Mit Pannenides steht das euro-


päische Denken am Kreuzweg, - und entscheidet sich für die
"Ontologie", entscheidet sich gegen die Welt. Was das heisst,
mag in seiner vollen Tragweite noch nicht deutlich sein, - ja
vielleicht auch noch lange im Zwielicht bleiben. Wir haben bis-
lang nur einige Winke und Hinweise auf diese dunkle Problema-
tik geben können. Wir frugen: was wird denn in den SEMATA, in
den Wegmarken des Denkweges zum EON, gedacht? Die SEMATA
sind insgesamt negative Begriffe, nicht der Sprachfonn nach,
aber ihrem Sinn nach. Sie negieren insgesamt solche Bestimmun-
gen, die für vieles und vielfältig Seiendes gelten; ihr Gemeintes
hat den Charakter der unbedingten "EINZIGKEIT". Im Begriff des
ANOLETHRON, des Unvergänglichen etwa ist nicht nur das Ver-
gängliche negiert, - der spekulative Begriff ist nicht nur im
Absprung von einem natürlichen Begriff gebildet; das Vergäng-
lichsein ist etwas, was vielen Dingen zukommt; diese Vielheit
ist implizit ebenfalls negiert; das Unvergänglichsein kann nicht
seinerseits auch wieder Vielem zukommen, sondern - so wie es
jetzt spekulativ gedacht ist - nur einem Einzigen (das auch
nicht ein Einziges ist, nicht die numerische Einsheit eines Ein-
zeInen). Dieses Einzige ist auf eine nicht-allgemeine Art und
Weise "einzig". Es ist nicht irgendein Unvergängliches, es ist
das einzige Unvergängliche. Aber da erhob sich für uns die
Frage, ob nicht diese seltsame Einzigkeit einen Hinweis enthält
auf das Welt ganze , auf den KOSMOS, - ob nicht das Denken auf
das EON hin still-schweigend und heimlich Gebrauch macht von
Charakteren, die ursprünglich der Welt eigentümlich sind. Nun
kann man darauf antworten, die Welt sei das zwar nie gegebene,
aber doch gewusste Ganze der erscheinenden Dinge, der Phä-
nomen-Bereich, und gehöre damit selbst noch zu den Erschei-
nungen, zu den DOKOUNTA. Sie sei selbst noch "Modell" für den
spekulativen Gedanken, ja das eigentliche Leitmodell. In sol-
chem Zusammenhang verwiesen wir auf die platonische Auf-
fassung (wie sie der Timaios 14 darlegt), dass der KOSMOS das AB-
BILD des AGATHON sei, der Idee des Guten, die zugleich die Idee
aller Ideen ist. Die platonische Welt-Auffassung ist in grundsätz-
licher \Veise "ontologisch" d.h. beherrscht durch den Gedanken
vom Vorrang des EON vor dem KOSMOS. KOSMOS ist Abbild, wenn-
gleich ein bevorzugtes Abbild, in welchem sich die unterschiede-
ENDLICHKEIT DER DINGE 95

nen Seinsbereiche des Immerseienden und des Werdenden berüh-


ren und so ihre Vermittlung gewinnen. An dieser parmenideisch-
platonischen Grundstellung zu zweifeln, bedeutet eine Inter-
pretation, die eine "immanente Auslegung" überschreitet und
zu einer Auseinandersetzung führen müsste. Wir können sie hier
nicht durchführen, ja nicht einmal zureichend ihren Ansatz
entfalten.

Aber um ihretwillen allein haben wir uns Parmenides zuge-


wandt; wir müssen einige Vorbesinnungen zu einer solchen "Aus-
einandersetzung" durchexerzieren. Parmenides, der Stifter der
Ontologie, der erste Denker, der in unerbittlicher Strenge dem
Seiendsein selbst nachdenkt, - der das Nichts radikal aus dem
Sein heraustreibt und ihm gegenüberstellt, ist die grosse Figur,
an die heute alle fragwürdigen Fragen nach der Dimension von
Raum und Zeit und Bewegung zu stellen sind; von Parmenides
ab sind alle Fragen danach in eine bestimmte Richtung gedrängt,
- ja vielleicht abgedrängt. Die DOXA ist das Feld von Raum und
Zeit und Bewegung; die erscheinenden Dinge, die DOKOUNTA sind
räumlich, zeitlich, bewegt; Raum, Zeit, Bewegung sind behei-
matet im Schein. Zwar heisst das nicht, wie wir wissen: im trü-
gerischen Anschein, im bloss-subjektiven Meinen. Die Umdeutung
des Schein- oder besser des Erscheinungscharakters von Raum,
Zeit und Bewegung in "subjektive Phänomene", sei es in Vor-
stellungsgebilde oder auch in reine, apriorische Formen der
Anschauung, - diese Um deutung vollzieht sich erst im Gang der
Wandlung des antiken Erscheinungsbegriffs in den neuzeitlichen.
Aber von Parmenides ab ist der Schein überhaupt, das Erscheinen
die grundsätzliche Dimension für Raum und Zeit und Bewegung.
Und sofern die europäische Wissenschaft aus der ontologischen
Philosophie hervorgegangen ist und sich von ihr emanzipiert hat,
teilt sie die gleiche grundsätzliche Auffassung über Raum, Zeit,
Bewegung. Bestimmter sagt das: die Wissenschaft orientiert
sich am Räumlichsein, Zeitlichsein, Bewegtsein der endlichen
Dinge, um auszusagen, was Raum, Zeit, Bewegung ist. Das Im-
Raum-sein, das In-der-Zeit-sein, das In-der-Bewegung-sein bildet
den führenden Aspekt. Das ist parmenideische Erbschaft.
96 SEMATA UND DIALEKTIK

Aber ist der Raum nur das Im-Raum-sein endlicher Dinge,


nur das System der Strecken, Abstände, Lagen, Entfernungen,
das Oben und Unten, Rechts und Links, Hinten und Vorn, -
ist die Zeit das endlose Band, das sich aus den zahllosen end-
lichen Dauern der zeitweiligen Dinge zusammensetzt, - ist die
Bewegung das Bewegtsein von Seiendem, das Fallen, Stossen,
Kriechen, Blühen und Verdorren? Niemand wird bestreiten kön-
nen, dass das Im-Raum-, In-der-Zeit- und das In-Bewegung-sein
bedeutsame Momente sind, aber es ist eine offene und zu prüfende
Frage, ob überhaupt das In-sein des endlich-Seienden in Raum,
Zeit, Bewegung zureichend begriffen werden kann, ohne dass
zuvor das Ganze, worin die Dinge auf raumhafte, zeitliche und
bewegte Art sind, gedacht ist. Ist dieses Denken des Ganzen
nicht das Vergessene der ontologischen Philosophie und mittel-
bar damit auch der daraus hervorgegangenen Wjssenschaften?
Mit Parmenides beginnt die Welt vergessenheit der Philosophie.
Das bedeutet nicht, dass sie nun etwa nicht mehr nach dem
KOSMOS fragen würde; im Gegenteil, der KOSMOS bleibt in seiner
seltsamen Natur immer im Thema des Denkens, - aber er wird
vom Erscheinen her bestimmt, ist der Ort des erscheinenden
Aufgangs, ist die Zeit der Vielfältigung, ist die Bewegung der
auf- und untergehenden Dinge. Die Welt wird vom Erscheinen
aus - und nicht das Erscheinen von der Welt aus bestimmt. Das
ontologisch zu denkende Grundverhältnis von Wesen und Er-
scheinen beherrscht die Interpretation der Welt; sie gilt als das
Ganze des Erscheinens, gilt als seinsminder und seinsschwächer
als das Wesen, das an sich ist und allem Erscheinen zugrunde-
liegt. Aus all dem ergibt sich, dass es für eine Auseinandersetzung
mit Parmenides nicht allein darum geht, anders und "positiver"
die Strukturen der Bewegung am räumlich-zeitlich Seienden
auszulegen, sondern zuvor an der parmenideischen Ortsbe-
stimmung für Raum, Zeit, Bewegung zu zweifeln, - zu zweifeln
nämlich, ob dergleichen von den aufscheinenden Dingen aus,
von ihrem Räumlich-, Zeitlich-, Bewegtsein aus in den Griff des
Denkens genommen werden muss.

Um eine Ahnung von dem zu geben, was wir meinen, erörtern


wir nochmals die SEMATA des E01\'. Diese, sagten wir, sind speku-
lative Begriffe. Als solche negieren sie natürliche Begriffe. Aber
ENDLICHKEIT DER DINGE 97

was ist dasjenige, was in ihnen allen negiert wird? Verneint wird
das Entstehende und Vergehende, das Versehrte und Erschüt-
terliche, ferner solches, woran etwas aussteht, solches, was einmal
war und einmal nicht mehr sein wird, solches, was nicht überall
ist, was nicht Eins ist in der Weise des Zusammenhangs usw.
Aber wissen wir sogleich, was dergleichen ist? Wir nennen sie
mit einem Wort die endlichen Dinge. Wir tun so, als ob die
Endlichkeit dieser endlichen Dinge etwas ganz Selbstverständ-
liches und Fragloses wäre, das wir aufnehmen wie das Hartsein
oder Schwersein oder Farbigsein irgendwelcher Sachen. Aber
finden wir das Endlichsein überhaupt vor? Ist es ein phänome-
naler Befund, der festgestellt und registriert werden kann? Kom-
men wir durch Erfahrungen und daraus gezogene Verallgemeine-
rungen dazu, zu sagen, dass die Dinge endlich seien? Nennen wir
sie endlich, weil wir schon dergleichen erlebt haben wie das Auf-
hören einer Melodie, weil wir schon Grenzen der Dinge, Kanten,
in denen sie sich einschliessen, erfahren haben, weil wir gesehen
haben, wie Lebewesen enden und sterben? Das Seiende, das
uns umgibt, zeigt zwar einen strukturalen Reichtum von Gren-
zen, Scheidelinien, welche trennen, die Dinge in der Bestimmt-
heit eines Anblicks festhalten, aber alle solchen Trennungslinien
sind doch unterlaufen von einem Zusammenhalt aller Dinge;'
sie stehen in einem grossen Gedränge zusammen, das nirgends
eine Lücke lässt; überall ist etwas. Der phänomenale Charakter
der anblickshaften Begrenztheit ist immer zusammen mit dem
ebenso phänomenalen Charakter eines durchgängigen Zusam-
menschlusses aller Dinge in ein grosses dingliches Gesamtfeld,
das sich uns vielleicht am ehesten an der eigentümlichen Kon-
tinuität des "Elements" verdeutlicht. Alles Land hängt mit-
einander zusammen, und alle Luft und alles Wasser; Abstückun-
gen, die aus einem Element entrissen werden, sind nur zeitweilig,
sind nur ephemere Gestalten, die sich bald wieder auflösen; die
Elemente bleiben, während die aus elementaren Bestandteilen
gemischten Dinge nur eine flüchtige Weile haben. Grundsätzlich
aber muss man sagen, die Endlichkeit der Dinge ist kein phäno-
menaler Erfahrungsbefund, ist vielmehr das Gewusste einer Vor
kenntnis, die wir schon mitbringen in aller Erfahrung. Ohne eine
solche apriorische Vertrautheit mit der Endlichkeit des Seienden
wäre überhaupt jedes Erfahrenwollen d.h. jedes Bestimmenwollen
98 SEMATA UND DIALEKTIK

sinnlos; wenn wir nicht schon die Voraussetzung mitbringen,


dass das Seiende ein HORISMENON, ein in einen festen Horizont
der Begrenzung Eingeschlossenes ist, das, im Überschlag wenig-
stens, durchlaufbar ist, ist Erfahren unmöglich; denn ein Er-
fahren, das prinzipiell ins Endlose liefe, höbe sich selbst auf.

Aber ist damit schon etwas gewonnen, wenn man die Endlich-
keit des Seienden als einen Grundcharakter der Dinge erklärt,
mit dem wir apriori vertraut sind? Kann es überhaupt ein apri-
orisches Wissen um die Endlichkeit des Endlichen geben - ohne
ein Mit-Wissen um die Un-Endlichkeit? Auf eine so gestellte
Frage könnte man vielleicht antworten: gewiss gibt es eine
Zuordnung der beiden Ideen des Endlichen und Unendlichen, -
beide bewohnen unseren Geist. Es handle sich nicht nur um das
formal-Logische einer Entsprechung von Korrelationsbegriffen
(wie etwa Klein-Gross, Herr-Knecht, Teil-Ganzes usf.) sondern
um eine Entsprechung ontologischer Fundamental-Ideen. In der
Tat hat in der Geschichte der Philosophie diese Betrachtung eine
bedeutsame Rolle gespielt. Z.B. in den Meditationen des Des-
cartes, wo Descartes erst im Umweg über die eingeborene Idee
des Unendlichen, das er als Gott auslegt, im Umweg über die
"veracitas dei" zur Begründung der dingbezüglichen Giltigkeit
der Ideen kommt, welche die endlichen Dinge apriori betreffen.
Aber sind diese beiden Ideen des Endlichen und Unendlichen
gleichgewichtig in unseren Geiste, - bestehen sie neben einander
und fordern sich sozusagen nur zur Ergänzung auf, oder hat eine
einen unbedingten Vorrang? Ist das Un-End-liche nur die Nega-
tion des Endlichen - oder verstehen wir die Endlichkeit alles
Endlichen nur aus dem vorgängigen Horizont einer Unendlich-
keit? Solange die Rede von Endlich-Unendlich in jener vagen
Unbestimmtheit bleibt, welche weithin das spekulative Denken
beherrscht, kann keine Entscheidung dieser Frage gesucht wer-
den. Dann ist das Un-Endliche bald das Sein, bald die absolute
Substanz, das Wesen, der Indifferenzpunkt aller endlichen
Gegensätze, der Gott einer Religion usw. Und damit bleibt dann
auch der Charakter der Endlichkeit unterbestimmt. Das wahre
Unendliche aber, in dessen Horizont alle Dinge je schon stehen
und aus dem sie begegnen und zum Vorschein kommen, ist die
Welt, ist der KOSMOS. Der Mensch ist das Seiende, das im Ganzen
ENDLICHKEIT DER DINGE 99

wohnt, das hinaussteht ins Ganze und zum All sich verhält. Im
Denken des Weltalls erfährt er das Allmächtige. Der Gedanke des
Alls ist nicht ein Gedanke, den wir machen oder der irgendwie
nur in unserem Geiste behaust ist; das All hat alle Dinge zuvor
schon in sich versammelt und zusammengefügt, - wir selber als
die Denkenden sind je schon eingefügt, sind vom Ganzen über-
holt, stehen ihm nie gegenüber - und können daher gar nicht
rechtmässig die Frage stellen, ob der Gedanke des Alls nur ein
"subjektiver" Gedanke, eine "eingeborene Idee" unseres Geistes
sei, deren Gültigkeit noch ausstehe oder zu beweisen sei. Der
Weltgedanke ist nicht ein Gedanke unter anderen Gedanken,
sondern der Gedanke, durch den wir überhaupt denken können.
Die Welt offenheit des menschlichen Daseins ist der Grund für
alles menschliche Verstehen von Seiendem und für alles Selbst-
verhältnis des Menschen zu sich. Das Denken des Unendlichen
in der Weise des Offenstehens für das Weltganze ist die ent-
scheidende Voraussetzung für die apriorische Vorbekanntheit
aller Dinge als endlicher. D.h. aber die Endlichkeit des Seien-
den muss von der Welt aus gedacht werden, begriffen werden als
Enthaltensein im Weltganzen, als Umfangensein von ihm -
wobei Enthalten und Umfangen hier nicht den gewöhnlichen
Sinn hat, also nicht die Weise meinen kann, wie ein kleineres
Ding in einem grösseren Ding ist. Damit aber ist nicht der Begriff
der Welt abgeschoben in das Grenzland des Wissens, in die
Sphäre der Paradoxe, oder der "Ahnungen", des Tiefsinns;
gewiss können wir nicht sagen, wie Welt enthält und umfängt,
wir geraten bald in ein heilloses Gewirr von Schwierigkeiten, aber
Welt ist uns vertraut, obgleich diese Vertrautheit sich schwer auf
Begriffe bringen lässt. Dass die Welt das Umfangende ist, dass
sie, obgleich nirgends "gegeben", selber das Gebende aller gegebe-
nen Dinge ist, das wissen wir nie nicht. Immer kennen wir sie,
sie ist das Erst- und Letztgekannte aller unserer Kenntnisse.
Die Endlichkeit des Seienden besagt prinzipiell Binnenwelt-
lichkeit. Wenn wir uns klar machen, was in den parmenidei-
sehen SEMATA des EON jeweils negiert wird, - wenn wir also diese
Negationen einmal wegnehmen oder beiseite lassen, so gewinnen
wir gerade eine ganz grundsätzliche Charakteristik des Binnen-
weltlichen als solchen. Alles, was in der Welt ist, - was vom Welt-
all umfangen ist, ist entstanden und vergänglich, ist versehrt,
100 SEMATA UND DIALEKTIK

immer steht an ihm etwas aus, es ist immer unterwegs, solange


es ist, ist nie fertig, sondern sammelt sich nach seinen Momenten
der Dauer auf im Durchlauf durch die Zeit. Alles Binnenwelt-
liche ist nur je eins, aber nie das Eins, nie der eine Zusammenhang,
sondern kommt in ihm vor; ist nie das Unbewegte, sondern immer
"bewegt", mag es auch faktisch sich in einer Ruhelage befinden.
Die Frage ist nun, ob die SEMATA, die Parmenides dem EON zu-
spricht, in anderer Art gerade vom Weltall gelten. Die Natur der
Negation müsste dann allerdings anders gedacht werden; im
kosmologischen Verstande genommen, negieren die SEMATA
nicht nach dem Schema konträrer Begriffe, also nicht wie ein-
fache Entgegensetzungen. Das Warme ist der Gegensatz des
Kalten, das Helle der des Dunkeln. Verhält sich nun ähnlich der
Gegensatz des Bewegten und Unbewegten? Man wird gleich
erwidern, eine solche Parallele sei unzulässig; denn der spekula-
tive Gegensatz zwischen dem EON und den DOKOUNTA sei doch
nicht der gleiche Gegensatz wie ein solcher unter den DOKOUNTA.
Das ist vollkommen richtig, - aber wir fragen nur, ob der kon-
träre Gegensatz hier nicht doch das Modell abgibt für den speku-
lativ zu denkenden Unterschied? Das EON ist im SEMA des AKI-
NETON, des "Unbewegten" gedacht. Aber ist das Unbewegte
schlechthin der Gegensatz des Bewegten? Muss, was nicht be-
wegt sein kann, "unbewegt" sein? Wo so entschieden wird,
bleibt der konträre Gegensatz das leitende Modell, wenn er auch
spekulativ vertieft wird. Dann hat das Nicht-Endliche, das "un-
endliche EON", das SEIEND eben die Charaktere des Unbewegten,
des Unversehrten, des Unvergänglichen - was nicht in der Zeit
ist, muss ausser ihr sein, - was nicht im Raum ist, muss un-
räumlich sein, was nicht in Bewegung, bewegungslos. D.h. hier
wird ein Gegensatz, der zwischen den Dingen waltet, eben der
konträre, zum analogischen Modell genommen und verbraucht.
Ganz anders aber ist es, wenn der Gegensatz des Bewegten nicht
im Unbewegten, sondern im Bewegenden, - der Gegensatz des
In-der-Zeit-seins in der Zeit selbst gesehen wird, des räumlich
Begrenzten im raumhaft Begrenzenden, des Versehrten und
Erschütterlichen im Versehrenden und Erschütternden, also im
Walten der Welt. Gesetzt den Fall, ein solches Denken der Welt
wäre möglich, dann zeigte sich ja damit eine Dimension, wo Raum
und Zeit und Bewegung, eben als das Einräumende, Zeitlassende
ENDLICHKEIT DER DINGE 101

und Treibende, ursprünglicher beheimatet wären als in der


Sphäre der endlichen Dinge. Diese wären erst von dort her zu
begreifen. Wo ein Andenken der Welt versucht wird, muss nicht
nur Raum und Zeit und Bewegung ursprünglicher genommen
werden denn als das binnenräumliche, binnenzeitliche Bewegt-
sein von Dingen, das ganze dualistische Grundschema überhaupt
muss fragwürdig werden, welches die Geschichte der Ontologie
beherrscht. Wenn das Verhältnis von Wesen und Erscheinung
das Denkmodell abgibt, steht gleichsam das EON auf der einen,
die DOKOUNTA auf der anderen Seite, das Unbewegte hier, das
Bewegte dort. Dieser Dualismus enthält, über alle weiteren Aus-
legungen hinaus, von vornherein schon eine grundsätzliche
Ortsangabe der Problemdimension von Raum, Zeit, Bewe-
gung: es ist das Reich der Erscheinung. Und das heisst, prinzi-
piell genommen, das Feld des Binnenweltlichen.

Ein radikales \Veltdenken dagegen muss die wahre Dimension


der Fragen nach Raum und Zeit und Bewegung gerade dort
suchen und aufdecken, wo die ontologische Philosophie das
eigentliche Sein, als jenseits von Raum, Zeit, Bewegung ange-
setzt hat. Es gilt den verborgenen räumlich-zeitlichen Bewegungs-
sinn des parmenideischen EON ans Licht zu ziehen, das SEIN in
die ZEIT zurückzunehmen. Die Durchführung eines solchen Pro-
gramms müsste gerade in der denkgeschichtlichen Destruktion
der Ontologie seit Parmenides den Nachweis erbringen, dass in
der Tat der KOSMOS nicht das Abbild des EON, sondern umgekehrt
das EON das noch verkürzt gedachte Wesen der \Velt ist. Die
geschichtliche Herrschaft der Ontologie aber, die ein abendlän-
disches Schicksal ist, bringt es mit sich, dass die Fragen nach
Raum, Zeit, Bewegung zu kurz greifen, - dass sie beim binnen-
wel tlich Seienden ansetzen und so nicht "ursprünglich" genug
sind. Wenn PI at on das Verhältnis der werdend-vergehenden
Dinge, d.h. des Seienden im Fluss der Zeit, zu den dem Zeitfluss
entrückten Ideen bestimmt als ein Abbild verhäl tnis, so macht
er auf eine verborgene Weise noch Gebrauch von einem Welt-
verständnis; Urbild und Abbild: dieser Bezug der Entsprechung
spielt im Licht. Das Licht wird für Platon zum bevorzugten
Gleichnis eben der Dimension, worin das Immerseiende und das
Zeitweilige (die Sinnendinge) beisammen sind; im Sonnengleich-
102 SEMATA UND DIALEKTIK

nis denkt Platon insgeheim die Weltlichkeit der Welt. Und ein
Ähnliches finden wir schon bei Parmenides, dort nämlich, wo
er sagt, dass die eine nur von den Formen, welche die Menschen
namengebend gesetzt haben, eben das Licht, das Feuer, dem
EON verwandt ist und gleichnishaft gleicht.

Unser Blick auf die Philosophie des Parmenides war nicht von
einem "historischen Interesse" geleitet, sondern von einem Pro-
bleminteresse. Gerade an Parmenides zeigt sich die Verwandlung,
welche Raum, Zeit, Bewegung abdrängt in eine sekundäre Di-
mension, in den Bereich der bIossen Phänomenalität. Raum,
Zeit, Bewegung gibt es für die DOXA. Die DOXA aber ist nicht, wie
man üblicherweise sagt, nur ein haltloses Meinen, ein subjektiver
Wahn, - auch für Parmenides ist die DOXA ein wirkliches und
echtes Vernehmen: das Vernehmen des endlichen Seienden;
aber die DOXA ist bei ihm noch mehr, sie ist auch die Situation
noch für die Explikation des EON. D.h. diese ist nicht eine
unmittelbare Aussage darüber, was das SEIEND ist, sondern eine
mittelbare, vermittelte, ist eine spekulative Aussage, die sich
an einem naiv-natürlichen Wortsinn hält und zugleich davon
abstösst; das Denken des EON geschieht durch SEMATA hindurch-
und ist, von diesem Durchstoss her, "dialektisch". Die eigentüm-
liche Natur des Dialektischen bleibt aber dabei gerade im Dun-
keln. Es ist die offengelassene Frage, ob die Dialektik begriffen
werden muss von der Vergeblichkeit aller Namen, die doch dem
Seienden zugehören und die wir dennoch dem SEIEND beilegen, -
oder von der Unangemessenheit aller binnenweltlichen Begriffe
für die Welt selbst. Der Ertrag unseres kurzen Hinblicks auf
Parmenides aber liegt allein in der Weckung der Frage, ob die
eigentliche Dimension für Raum und Zeit und Bewegung am
Ende nicht gerade dort zu suchen sei, wo Parmenides die Raum-
losigkeit, Zeitlosigkeit und Unbewegtheit betont: nämlich in der
Blickbahn des spekulativen Gedankens vom EON. Die Zeit aus-
treibung am geschichtlichen Beginn der Ontologie bedeutet die
Vertreibung gerade aus der Ortschaft der eigentlichsten Zeit. Das
am meisten Zeithafte gerät in einen merkwürdigen Charakter
des Zeitlosen und Zeitfremden. Diese Verdeckung wirkt sich in
der Folgezeit gerade so aus, dass Raum, Zeit, Bewegung in einer
abgeleiteten Art nur noch thematisch werden, als Dingraum,
ENDLICHKEIT DER DINGE 103

Dingzeit, Dingbewegung. Und weil das Sein selbst raum-


frei, zeitlos und unbewegt primär gedacht wird, wird selbst die
Frage nach der phänomenalen Struktur dieser drei Grundweisen
der Erscheinung noch in eine Dialektik verwickelt, die solange
unauflösbare Schwierigkeiten bietet, solange man dem Raum,
der Zeit und der Bewegung auch noch ein Mindestmaß von
"Sein" zugesteht. Diese Konsequenz aus dem eleatischen Ansatz
zieht in einer grossartigen Form Zenon, dessen Paradoxien schon
in der Antike als ein eristisches Spielzeug missverstanden wurden.
Sie stammen aber aus einem tödlichen Ernst.
9

DER SCHEIN DES SEINS


ZENON: DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG

Aus dem bisherigen Gang unseres Nachdenkens mag uns klar


geworden sein, daß die philosophische Thematik von Raum, Zeit,
Bewegung schon im Ansatz, schon in der Wahl der Blickbahn
ihre großen Schwierigkeiten hat. Und dies nicht etwa deshalb,
weil es sich um versteckte, schwer zugängliche Phänomene han-
delt, die erst aufgesucht und freigelegt werden müssten, - im
Gegenteil: Raum, Zeit, Bewegung sind uns immer bekannt und
vertraut, so vertraut, daß sie ja die Voraussetzung bilden für das
Suchen, Aufspüren, Freilegen nicht gegebener, versteckter Dinge.
Raum, Zeit, Bewegung sind uns aber, trotz - oder besser: wegen
ihrer umgänglichen Vertrautheit, undurchsichtig in ihrem We-
sen, unklar hinsichtlich ihrer "Natur". Wir wissen nicht, was
sie sind. Ihr Seins-Charakter ist das beunruhigende Problem.
Bevor also eine strukturelle Analyse von Raum, Zeit, Bewegung
in Gang gebracht werden kann, muss eine Vorverständigung
gesucht werden über den prinzipiellen Charakter dieser drei
Titel. Vor aller analytischen Explikation muss eine zureichende
spekulative Bestimmung stehen. Der strukturanalytischen Ent-
faltung des differenzierten Gefüge-Reichtums, welchen eben die
einheitliche Verklammerung von Raum-, Zeit- und Bewegungs-
momenten bildet, muss die Charakteristik des Ganzen vorauf-
gehen, das in seine Momente auseinandergelegt werden soll.
Denn erst der volle Blick auf das Ganze sichert die Vollständig-
keit der nachkommenden analytischen Aufgliederung. Das ist
jetzt nicht als eine allgemeine methodische Maxime gesagt. Zwar
mag es bei allen "Phänomenen" nötig sein, das Phänomenganze
und seine Seinsweise vorgängig in den Blick zu bringen, um die
analytische Abhebung einzelner Wesenszüge in rechter Weise
zu steuern und auf das Ganze hin zu sammeln und zu versam-
meln. Bei Raum, Zeit, Bewegung ist der Vorblick auf das "Ganze"
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 105

schwerer zu gewinnen als bei jedem "Phänomen''', das im Raum


und in der Zeit sich zeigt und dort die Bewegung seines Auf-
scheinens hat. Hier ist die Gefahr viel grösser, daß ein Moment
das Ganze verdeckt und verstellt, - sich als das Ganze ausgibt.
Das In-der-Zeit-sein und das Im-Raum-sein von Dingen ist der
Grundzug an Zeit und Raum, der sich vordrängt und aufdrängt, -
der weithin in der Geschichte der Philosophie die Raum- und
Zeit-Auslegung beherrscht. Die vordringliche Aufdringlichkeit
der Binnen-Strukturen von Raum und Zeit erschwert die speku-
lative Bestimmung hier ungemein. Das hat seinen tieferen Grund
darin, daß das spekulative Denken selbst in einem Grundbezug
steht zu jenem allumfangenden Ganzen, das raumhaft-zeithaft
alle endlichen Dinge umfängt und zum Aufschein bringt, - in
einem Grundbezug also steht zur W el t. Raum, Zeit, Bewegung
sind also nicht nur in ihrem spekulativ zu fassenden Gesamt-
charakter uneinsichtig und dunkel, - auch das Wesen der Speku-
lation selbst, sofern es aus einem Bezug des Denkens zur
Welt zu denken ist, bleibt in der Schwebe des Unbestimmten.
Wir können gar nicht ein irgendwie schon vorhandenes "Ver-
mögen" ganzheitlichen Denkens, das wir "Spekulation" nennen,
einfach auf Raum, Zeit, Bewegung anwenden, - wir sind durch
die bedenkliche Frage aufgehalten, ob am Ende nicht das Wesen
des spekulativen Denkens seinerseits gerade von der Weltganz-
heit von Raum, Zeit, Bewegung her begriffen werden muss. Der
Bezug von Denken und Welt, von Vernunft und Universum bildet
eine unverlierbare Grundthematik abendländischer Welt-Weis-
heit, sie ist ebenso zu erkennen in der antiken Ortsbestimmung
von NOUS und LOGOS, welche sie in der Weltseele beheimatet sein
läßt, als auch in Kants Vernunftbegriff als dem "ideenhaften
Vorstellen" der nicht gegebenen Totalität (wobei bei Kant nicht
nur in den kosmologischen Ideen, sondern auch in den psycholo-
gischen und theologischen Ideen das Ganze des Seienden gedacht
wird) ; und ebenso ist Hegels Begriff der Spekulation geleitet vom
Gedanken, daß das Wahre das Ganze ist.

Und doch ist die W el t nicht das ausdrücklich Erst- und Letzt-
Gedachte der überlieferten Weltweisheit. Sie bildet eine gleich-
sam ständig unterdrückte, und doch nie ganz zu unterdrückende
Problematik. Das hat seinen Grund und seinen geschichtlichen
106 DER SCHEIN DES SEINS

Anfang in der Grundstellung der eleatischen Philosophie, d.h.


in der Stiftung der abendländischen ONTOLOGIE. Mit dem Den-
ken des Seins beginnt die Weltvergessenheit - und die abschät-
zige Bewertung von Raum, Zeit, Bewegung, ihre Verweisung in
die Sphäre des Scheins. Vor dem unerbittlichen Gericht des einen
streng gedachten Gedankens vom "SEIEND", vom EON, haben
Raum, Zeit, Bewegung keinen eigentlichen Bestand; sie sind
und sind zugleich nicht, sind auf eine Art, die ganz und gar von
Nichtigkeit durchsetzt ist. Dieser ontologische Aspekt bleibt in
der langen Geschichte des Raum-, Zeit-, Bewegungs-Problems
führend; er herrscht auch dort vor, wo anscheinend aus "erkennt-
nistheoretischen" Gründen dem Raum und der Zeit die metaphy-
sische Realität abgesprochen wird.

Wenn aber die Frage nach Raum und Zeit erneut gestellt wer-
den soll, so kann sie nicht unmittelbar beginnen mit einer unbe-
fangenen Analyse; denn wir sind befangen, ob wir es wollen oder
nicht, in einer denkgeschichtlichen Tradition, die bereits über
den Seinsrang und den Grad der Ursprünglichkeit bzw. Abge-
leitetheit von Raum und Zeit entschieden hat. Und vielleicht
gilt es allem zuvor, diese Vor-Entscheidung der Geschichte zu
überdenken, sie in Frage zu stellen, - nicht in dem anmaßenden
Sinne einer "Kritik", die Fehler und Unterlassungen vorrechnet,
was ein in jedem Sinne eitles Unterfangen wäre, sondern als Ein-
blick in eine historische Notwendigkeit, die ihr Recht und ihre
Zeit gehabt hat. Das war das Motiv für unsere Zuwendung zur
Philosophie des Parmenides. Man könnte der Ansicht sein, diese
Zuwendung wäre überflüssig und unergiebig, weil Raum, Zeit
und Bewegung in der eleatischen Philosophie gleichsam nur ne-
gativ, nur in ausgrenzender Absicht Thema würden und es zu
einer positiven Bestimmung dabei gar nicht komme. Damit aber
verkennt man, daß durch die Eleaten sich die fundamentale
Ortsbestimmung des Raum- und Zeit-Problems für den Gang
der Jahrhunderte vollzieht, - daß wir immer noch im Banne die-
ser Ortsbestimmung stehen, auch wenn wir meinen, vorurteilsfrei
Raum und Zeit als "Phänomene" auszulegen. Der Ort von Raum
und Zeit und Bewegung ist das "Erscheinen", - das Aufscheinen-
de, das in Geltung und Namen und Ansehen stehende endlich-
Seiende, die DOKOU::-..'TA sind das Feld, wo es allein dergleichen
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 107

gibt, während das SEIEND jenes von sich ausschließt; das EON
ist raumlos, zeitlos, unbewegt. Dieser Satz ist ungenau. Das EON
ist raumlos, wenn das bedeutet: es ist nicht so raumhaft wie
endliche Dinge raumhaft sind, es ist nicht hier - im Gegensatz
zum dort, nicht begrenzt durch Grenzen, die anderes Seiendes
von ihm abtrennen, es hat keine Lage, keine Stelle im Raum.
Aber es ist überall gänzlich, ist einshaft zusammenhängend, hat
keinen Unterschied der Teile und Gegenden an sich; - es ist zeit-
los, wenn das Zeithaftsein meint, irgendwann jetzt-sein und
damit gleichzeitig im Hinblick auf das Vorherige nicht-mehr-
sein und im Hinblick auf das Künftige noch-nicht-sein; das EON
aber ist bestimmt durch das NYN, durch das Jetzt einer gleichsam
stehenden Gegenwart (durch ein nunc stans) , worin nichts vorbei
und nichts im Kommen ist; und ferner das EON ist unbewegt,
wenn eben Bewegtheit soviel bedeutet wie Entstehen, Vergehen,
Veränderung, Ortswechsel ; das "Seiend" kann nicht entstehen
und nicht untergehen, kann sich nicht wandeln und keinen Platz
mit jemandem tauschen; - aber es selbst ist doch der Grund dafür
dass im Bereich der DOKOUNTA Wandel und Wechsel herrscht;
es selbst ist gleichsam der unbewegte Beweger jener vielfältigen
Bewegungen; die Sphäre der DOKOUNTA ist ja nicht schlechthin
nichts, sie ist kein Wahngebilde und keine Illusion; diese Sphäre
ist der Schein des Seins, - gehört dem Sein zu, wie das Licht
der Sonne zugehört. Der Bereich der DOXA hängt nicht in der Luft,
er ist nicht in seinem fragilen, von Nichtigkeit durchtränkten
Sein eine bloße menschliche Täuschung; auch der "Schein" kann
nicht aus dem Sein heraus fallen, er muss in jenem gründen, wenn-
gleich er nicht die angemessene Blickbahn bilden kann für das
Verstehen des EON. Parmenides denkt also doch eine eigentüm-
liche Raumhaftigkeit, Zeithaftigkeit und Bewegung des EON,
das nur im Gegensatz zu den inner-räumlichen und inner-zeit-
lichen bewegten Dingen als das Raum- und Zeitlose, Unbewegte
erscheint. Diese verborgene, dem ersten Blick nicht sofort erkenn-
bare Räumlichkeit und Zeitlichkeit und Bewegung des EON bildet
den Angelpunkt unserer Parmenides-Deutung. Hier erhebt sich
die Frage: wie verhält sich das EON zur Welt? Ist es raumlos wie
die Welt, die keinen Ort hat - und doch alle Orte in sich begreift;
zeitlos wie die Welt, die alle Zeiten umspannt; unbewegt wie sie,
die in ihrem lichtenden Aufgang erst das Gewimmel der verschie-
108 DER SCHEIN DES SEINS

denen Bewegungsarten aus sich entlässt? Zielt das ontologische


Denken des Pannenides unausgesprochen auf den KOSMOS -
oder verbraucht es noch den KOSMOS als Bild und Modell, als
Absprungsbasis für ein Denken, das auch den KOSMOS über-
steigt ?

Eine Entscheidung dieser Frage ist schon aus dem Grunde


schwer, weil das Denken auf das EON hin sich in Wegmarken, in
Zeichen vollzieht, - kein unmittelbares Aussagen, sondern ein
vermitteltes ist. Was hier der "Vermittlung" angehört und was
der Sache selbst, lässt sich nicht leicht ausmachen. Wenn wir
aber etwas gelernt haben beim Nachdenken der großen Gedan-
ken des Parmenides, so vielleicht dies, daß es zum mindesten
voreilig ist, die Frage nach Raum, Zeit, Bewegung anzusetzen bei
der Räumlichlkeit, Zeitlichkeit, Bewegtheit des endlich Seien-
den, - daß auszuspähen ist nach einer ursprünglicheren Weise von
Raum, Zeit, Bewegung, sei diese nun die Weise des EON oder des
KOSMOS. Und vielleicht haben wir auch schon eine Ahnung wenig-
stens erhalten davon, wie bedenklich es ist, dass wir nach dem
SEIN von Raum und Zeit und Bewegung fragen. "Bedenklich" -
das ist nicht ein vorsichtiger Ausdrück für "falsch", sondern meint
solches, das zu bedenken ist; solches, was wir nicht einfach hinneh-
men sollen, weil es eine ehrwürdige Tradition ist, sondern was
wir überdenken und durchdenken sollen. Seit den Eleaten bildet
das "IST" die Bahn des fragenden und untersuchenden Denkens;
alles, was befragt und untersucht wird, wird abgefragt daraufhin,
was und wie und inwieweit es "ist". Die Frage nach Raum und
Zeit wird selbstverständlich zur Frage nach dem SEIN von Raum
und Zeit. Wie ist Raum, was ist Raum, und inwieweit ist er
eigentlich ? Welches ist sein Seinsrang ? Die 0 n t 0 log i s c h e n
Kategorien beherrschen die Fragebahn. Aber ist das ein geschicht-
liches Faktum, das zwar seine schicksalhaften Gründe hat, aber
gleichwohl nicht unabänderlich ist? Oder mus s alles Fragen
unter der Botmässigkeit der Seinsvorstellung sich vollziehen?
Ist gar keine andere Denkbahn möglich? Sofern wir sprechend
philosophieren - und sofern Sprechen immer ein IST-Sagen ist,
kann es kein Entkommen und Entrinnen aus dem magischen
Kreis der Seins-Idee geben; selbst wenn wir über das Nichts re-
den, hat unsere Rede die Form einer Aussage über solches, was ist.
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 109

Man ist jetzt vielleicht schnell bei der Hand mit der bekannten
Unterscheidung zwischen dem "IST", das ein Wirklichsein meint,
das also Existenz setzt, und dem bloss kopulativ gebrauchten
"Ist", das nur einem Satzsubjekt ein Prädikat zuspricht. Aber
es handelt sich hier gar nicht um den Unterschied des Wirklichen
zu einem gemeinten "Sinn", sondern um einen viel problemati-
scheren und dunkleren Unterschied. Nämlich um die offene Frage,
ob letztlich die Welt, d.h. in unserem Zusammenhang das Ganze
von Raum-Zeit-Bewegung, vom Boden einer vorgängigen Be-
stimmung des Seiendseins aus zu verstehen ist, - oder ob um-
gekehrt, das Seiendsein aus dem Horizont der Welt zu
denken ist. Mit den Eleaten fallen die Würfel eines Geschicks,
welches das Denken der Welt in die Bahn des Seinsproblems
drängt. Raum, Zeit, Bewegung bleiben fortan fragwürdig hin-
sichtlich ihres "Seins". Und das bedeutet wieder: sie werden
gemessen an dem absoluten Maße des EON, - das angesprochen
wird in den SEMATA des Unvergänglichen und Unbewegten. Wir
sagten schon, dass in der Formulierung der SEMATA das Modell des
konträren Gegensatzes vorherrscht. Diese Orientierung über-
steigert die Getrenntheit von EON und DOKOUNTA und läßt den
bei Parmenides selbst noch deutlichen Zusammenhang von
SEIN und SCHEIN nicht aufleuchten. Wo in der Folgezeit die Philo-
sophie auf der absoluten Trennung beider Sphären besteht, wo
sie die Ideen den Sinnendingen, den "mundus intelligibilis" dem
"mundus sensibilis" schroff entgegenstellt, ist solche "Hinter-
weltlerei" in einem naiven Missverständnis des Parmenides be-
gründet. Wesentlicher, so scheint es, ist das Verstehen, wenn nicht
einfach auf dem fixen Unterschied des Vergänglichen und Un-
vergänglichen, des Bewegten und Unbewegten insistiert wird,
sondern wenn das Unvergängliche als das Vergehen-Lassende,
Vergehen-Bewirkende verstanden wird, und ebenso das Unbe-
wegte als das Bewegende; m.a.W. wenn der Unterschied orien-
tiert wird am Modell von Leiden und Tun, von TO PASCHON und
TO POIOUN. Denn dann ist die Gefahr eines starren Dualismus,
der bei der biossen Entgegensetzung stehen bleibt, weniger gross.
Leiden und Tun sind auf einander bezogen, sind ineinander ver-
wirkt; sie sind jeweils nur zwei Momente an einem Einheitlichen.
Es gibt kein Leiden ohne ein Tun und ebensowenig ein Tun ohne
ein Leiden. Leiden und Tun in ihrer gegenseitigen Bezogenheit
110 DER SCHEIN DES SEINS

aber bilden das Gefüge der Bewegung. Wenn also der Unter-
schied von EON und DOKOUNTA am Leitmodell der Gegenbezie-
hung des Passiven zum Aktiven ausgelegt wird, ist die Bewegung
der unausgesprochene operative Horizont der Seinsaussagen.
Je radikaler die Bewegung der endlichen Dinge ontologisch
entwertet, in ihrer Hinfälligkeit und Nichtigkeit entlarvt
wird, desto mehr taucht die Bewegung wieder - in einer ursprüng-
licheren Gestalt - auf im Unendlichen: z.B. in der ZOE, die der
späte Platon der Idee des Guten zuspricht, im unbewegten Be-
weger des Aristoteles, in Hegels Leben des "absoluten Geistes".
Von da aus ist jener Grundzug der antiken Ontologie zu verstehen,
welcher in steigendem Maße, nach den Eleaten, das Seinsproblem
entwickelt im Hinblick auf PSYCHE, NOUS, ZOE. Das bedeutet
keineswegs einen Anthropomorphismus; PSYCHE ist primär Welt-
Seele, nicht Einzelseele des sterblichen Menschen. HE GAR NOU
ENERGEIA ZOE, 15 das AmWerksein der Vernunft ist Leben. Es
ist eine sehr schwere Frage der Interpretation, ob dieses Motiv
bereits schon bei den Eleaten auftritt, eben in der Dialektik des
Zenon.

Wir überspringen hier die bedeutende Figur des Melissos,


dessen Seinslehre stärker noch als die des Parmenides auf den
zentralen Gedanken der unwiederholbaren, also nicht numeri-
schen Einzigkeit des HEN, des EINEN ausgerichtet ist und so eine
bestimmte Weiterentwicklung der parmenideischen Philosophie
bedeutet. Für das Bewusstsein des Altertums ist allerdings der
Unterschied zwischen diesen beiden Denkern nicht gross. Aristo-
teles berichtet, dass Parmenides das Eine mehr dem Begriffe
nach, also KATA LOGON, Meliss dagegen es mehr als Stoff, KATH'
HYLEN gedacht habe; ferner habe Parmenides es als in sich be-
grenzt, Melissos aber als unbegrenzt bestimmt. Ob eine solche
Unterscheidung von LOGOS und HYLE, die beheimatet ist in der
aristotelischen Philosophie, eine angemessene Abgrenzung beider
Denker ermöglicht, kann vielleicht bezweifelt werden, vor allem
wenn man weiss, mit welcher Selbstsicherheit Aristoteles alle
Vorgänger mit seinen eigenen Begriffen charakterisiert und nach
deren Maß bemisst. Denselben Stil der überlegenheit zeigt er
auch gegen Zenon. Das zenonische Denken gilt ihm im Wesent-
lichen als fehlschlüssig. Im 9. Kapitel des VI. Buches der "PHY-
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 111

SIR" vor allem geht er ausführlich darauf ein: ZENON DE PARALO-


GIZETAI, 16 "Zenon aber macht Fehlschlüsse" -so hebt die aristote-
lische Darstellung der bekannten Paradoxien an. Gemessen am
Bewegungsverständnis, das sich Aristoteles in der Physik erar-
beitet, muß Zenons Denken diesen paralogistischen Aspekt be-
kommen; Aristoteles operiert in seiner Lehre von der Bewegung
mit dem Unterschied von ENERGEIA ON und DYNAMEI ON, vom
Seiend der Wirklichkeit nach und der Möglichkeit nach. Der
Grundfehler des Zenon sei, dass er solches, was nur der Möglich-
keit nach ist wie eben die unendliche Teilung des Raumes, als
wirklich ansetze und dann in die 'Nidersprüche gerate, welche er
suche, um die Bewegung als nicht-seiend darzutun. Dieses aris-
totelische Urteil über Zen on dürfen wir nicht einfach nachspre-
chen, obgleich es weithin zur communis opinio geworden ist.
Vielleicht steckt mehr in der Dialektik des Zenon als nur ein
Irrtum. W'ir müssen versuchen, von der Grundstellung der Elea-
ten aus den zenonischen Ansatz zu verstehen. Parmenides hatte
in einer unheimlichen Konsequenz den Gedanken des SEIEND
ausgedacht, hatte das EON bestimmt in einer Vielheit von SEMATA
als das EINE. Das Denken auf das EON hin steht, gerade weil es
weghaft und in Wegmarken verläuft - und weil es überhaupt ein
Ablauf, eine Denk-Bewegung ist, in der Situation der DOXA.
Diese DoxA-Gefangenschaft des ontologischen Denkens wird nun
bei Zen on ausdrücklich thematisch. Zwar meint Platon im Dia-
log "PARMENIDES", 17 dass Zenon das gleiche sage wie sein Meister
nur in anderer Wendung; wenn jener sage, dass alles eins sei,
so Zenon, dass das Viele nicht sei. Aber diese "andere Wendung"
ist sehr wesentlich. Es sind nicht zwei Seiten des gleichen Gedan-
kens, die sich verhalten wie Rechts und Links. Gewiss kann man
sagen, wenn alles eins ist, wenn nur das Eine ist, so ist eben das
Viele nicht. Aber Zenon zieht nicht bloss Konzequenzen aus dem,
was Parmenides vorgedacht hat; er ist ein eigener und echter
Denker, insofern er im Nachdenken des Parmenides eigens be-
denkt, was dort un-thematisch blieb. Zenon späht denkend nicht
nur über das Feld der DOXA hinaus, er entwickelt das An-Denken
des EINEN, des HEN, in der dialektischen Zerstörung
der DOXA. Er beginnt nicht mit dem kühnen Flug des Gedan-
kens, der über alle endlichen Dinge sich dem Unendlichen zu-
schwingt, - er bleibt im Endlichen, bleibt im Umkreis der uns
112 DER SCHEIN DES SEINS

angehenden sinnlichen Dinge, - hier, wo die Winde wehen, die


Wolken ziehen, die Gestirne ihre Bahnen laufen am Firmament.
Zenon sieht sich um in dieser wirbligen Welt mannigfacher Be-
wegtheit, vielfältiger Einzeldinge - und sieht sie an mit einem
Denkblick. Und es ist wie ein Blick der Meduse. Alles erstarrt:
Bewegung ist nicht. Das bedeutet keineswegs, dass Zenon das
Faktum der Bewegungen leugne, aber er leugnet den Bewegun-
gen und bewegten Dingen ins Gesicht hinein, dass sie sind, dass
sie seiend sind. Und diese Leugnung spricht er nicht aus, weil
er dabei bereits einen Einblick hat in das, was in rechter Weise
seiend ist. Er misst nicht die vielen und vielfach bewegten Dinge
am Maße eines Absoluten, das er vorweg hat; er entwickelt viel-
mehr aus den vielen, bewegten Einzeldingen selbst heraus die
Unmöglichkeit, dass das Viele und die Bewegung ist. Er spürt
einen inneren Widerspruch in ihnen auf, an dem sie ihm unter der
Hand zerbrechen und dabei den Blick erst freigeben in das eine
heile SEIN; m.a.W. Zenons Denken beginnt in der Doxa, macht
die Setzungen der DOXA zunächst mit und entfaltet dann den
darin verborgenen Widerspruch, die ontologische Ungereimtheit
dessen, was dort als "seiend" gilt; im Untergang der Seinsvor-
stellungen der DOXA findet Zenon den Weg zum wahren Denken
des Seins. Dieses Denken fängt also nicht, um das Hegelwort zu
gebrauchen, "wie aus der Pistole geschossen" mit dem Absoluten
an und entwertet nicht von dorther die im Aufschein sich zeigen-
de Welt vieler und bewegter Dinge, - es dringt umgekehrt durch
die dialektische Zerstörung der sog. "Bewegung" erst vor zum
Gedanken des Unbewegten, Einen. Hegel macht gelegentlich der
Darstellung Zenons in seinen Vorlesungen zur Geschichte der
Philosophie die tiefe Bemerkung, dass Zen on zwar dialektisch
die Bewegung der Dinge zerstöre und aufhebe - aber in eben sol-
chem Vernichtungswerk, das der Gedanke an der sinnlichen Welt
vollbringt, selber eine andere und wesentlichere Bewegung ent-
decke: die Bewegung des Gedankens selbst; aus der Dialektik der
Bewegung erwachse überraschend die Bewegung der Dialektik, -
die ja nicht nur das Zufällige eines subjektiven Meinens sei,
sondern eine Verflüssigung der Begriffe und Wesenheiten. Indem
Hegel der zenonischen Dialektik diesen Akzent gibt, interpre-
tiert er sie ganz im positiven Sinne seiner Philosophie, welche das
Sein mit höchster Entschiedenheit als Bewegung und Leben
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 113

denkt - und so die mit den Eleaten anhebende ontologische


Philosophie durch die extreme Gegenposition abschliesst. Es ist
fraglich, ob die zenonische Dialektik absieht auf eine Bewe-
gung des NOUS, die frei werden soll, wenn die ontischen Bewegun-
gen der Dinge in ihrer Nichtigkeit einsichtig geworden sind.
Die zenonische Dialektik ist mehr als nur die Dialektik der Orts-
bewegung, sie ist so radikal gemeint, dass sie auch die Denkbewe-
gung mit einbegreift, d.h. also auch die ontologische Nichtigkeit
jener Bewegung mit-meint, durch welche der innere Widerspruch
der Ortsbewegung erkannt und gedacht wird. Dem Denkenden
vergeht dabei nicht nur Hqren und Sehen, sondern schliesslich
auch das Denken selbst, - es feiert seinen höchsten Triumph in
der Selbst aufhebung. Für den blinden Blick der Menge sieht es
dann so aus, als werde aus eristischer Lust an Witz und Scharf-
sinn eine geistige Akrobatik durchexerziert, der es schliesslich
nur auf die Verblüffung des Gegners ankomme. Gewiss waren die
Griechen weit entfernt von allem schwerfälligen Ernst, von der
Unbeholfenheit und Gezwungenheit einer Rede, die ihre Ernst-
haftigkeit immer noch mitsagen will; sie hatten eine abgründige
Leichtigkeit auch in schweren Dingen. Platon ist vielleicht nir-
gends ernster zu nehmen, als dort, wo er scherzt. Die Paradoxien
des Zenon aber sind keine biossen Späße, - über die man hin-
weggehen könnte; sie sind vielmehr eine grossartige Form der
produktiven Verlegenheit des antiken Denkens vor dem Rätsel
der Bewegung.

Wir beschränken uns auf die bekanntesten Paradoxien. 18


Zenon behauptet, Bewegung habe keine Wahrheit, sei als seien-
d e deswegen unmöglich, weil ein Bewegtes, bevor es am Ziele an-
komme, doch zuerst bei der Hälfte des Raumes ankommen
müsse; und wenn der Weg bis eben zur Hälfte zu durchlaufen
sei, so müsse wiederum zuerst die Hälfte der Hälfte, - und wieder-
um die Hälfte dieser Hälfte durchmessen werden. Weil wir aber
nie bei einer letzten Wegstrecke bleiben können, sondern sie im-
mer wieder unterteilen müssen in Hälften und vorher alle
unendlichen Hälften durchmessen sein müssten, bevor die
Bewegung über die Hälfte der gesamten Wegstrecke hinauskäme,
so wäre eben Bewegung unmöglich; denn eine unendliche Zahl
von halben Wegstrecken ist in gar keiner Zeit zu durchlaufen;
114 DER SCHEIN DES SEINS

das Laufende versinkt sozusagen in der Unendlichkeit immer


neuer Zwischenräume. Und ferner stellt Zeno die These auf,
dass Achilles, der Schnellfüßige, nie ein Langsameres einholen
könne, - wenn es mit einem Vorsprung begänne. Denn wenn
Achilllosläuft, so kommt während dieser Zeit auch das Langsa-
mere, etwa eine Schildkröte, voran; der Vorsprung mag sich ver-
kleinern, ja er muss sich verkleinern, aber er verkleinert sich ins
Unendliche; aber nie kann er ganz zunichte gemacht werden, -
denn dieselbe Zeit, die Achill hat für seinen Lauf, hat auch die
Schildkröte; hier liegt die Paradoxie der These in der unendlichen
Aufteilbarkeit des Zeitrnoments und des koordinierten Raum-
moments. Was das der Sache nach bedeutet, wird noch zu fragen
sein. Zunächst aber lassen wir uns befremden von dem Ungereim-
ten einer solchen Behauptung. Es ist gar nichts gewonnen, wenn
man sagt, das ist doch offenkundig falsch; die zenonischen Be-
hauptungen stehen in einem schreienden Widerspruch mit der
tagtäglich gesehenen Wirklichkeit. Jedes Kind weiss doch, dass
wir, wenn wir durch ein Zimmer gehen, zwar sicherlich zuerst
durch die Hälfte des Raumes gehen, aber eben doch hindurch-
gehen, mögen in Gedanken die Hälften der Hälften noch so oft
geteilt werden; wir laufen doch hindurch und kommen an. Und
jedes Kind weiß, dass Achill mit wenigen Sprüngen die Schild-
kröte eingeholt und überholt hat. Die phänomenale "Falschheit"
der zenonischen Thesen berührt aber gar nicht deren Kern, tan-
giert nicht ihre philosophische Bedeutung. Wir müssten eher
umgekehrt fragen, etwa: wenn Bewegung wegen der unendlichen
Teilung von Zeit und Raum unmöglich ist, wie kann es dann den
Anschein der Bewegung geben, - wie kann der Raum und die
Zeit aussehen wie nichtgeteilt, wie nicht-unendlich-aufgesplit-
tert? Wie kann überhaupt Bewegung möglich scheinen? Glei-
chen Raum und Zeit nicht dem Fass der Danaiden, das grundlos,
bodenlos ist? Ein drittes Paradox, das ebenso schockiert, lautet:
der fliegende Pfeil ruht. Das uns gewöhnlich leitende Verstehen
von Bewegung, genauer von Ortsbewegung, geht doch dahin, dass
eben das Sichbewegen eines Körpers einen Übergang bedeutet aus
einem Ort in einen anderen Ort und dazu auch einen Übergang
aus einem Jetzt in ein anderes Jetzt. Und zwar meinen wir, dass
solches Übergehen nicht jeweils getrennt ist nach Ort und Jetzt,
sondern einheitlich zusammengefasst: indem ein Ding seinen Ort
DIE PARADOXIEN DER BEWEGUNG 115

wechselt, wechselt es auch sein Jetzt. Aber wie soll denn ein
solcher Wechsel von Hier und Jetzt vonstatten gehen? Geht das
Ding, der fliegende Pfeil, einmal aus einem Platz weg und kommt
in einem anderen Platz ein wenig später an? Aber wie soll er aus
dem Platz weggehen? Ist er einmal, wenn auch nur auf ganz kurze,
ja allerkürzeste Zeit, ohne Platz, gleichsam zwischen Orten-
oder muss er nicht immer an einem Hier sein? Und ebenso auch
hinsichtlich des zeitlichen überganges: geht der fliegende Pfeil
aus einem Jetzt weg und gelangt in ein anderes Jetzt, so nämlich,
dass er eine jetztlose Zwischenzeit überspringt - oder muss er
immer und an allen Orten in einem Jetzt sein ? Wenn es aber
keinen Zwischenort, kein Leeres zwischen den Plätzen gibt und
geben kann - und wenn es desgleichen keine unbesetzte Zeit,
keine "jetztlose" Zwischenzeit zwischen den Jetzten gibt und
geben kann, dann ist überhaupt kein übergang denkbar - und
damit auch keine Bewegung: der fliegende Pfeil, weil er immer
und überall in einem Jetzt und an einem Hier ist, ruht. Denn das
ist das Wesen des Ruhenden, immer und allzeit im gleichen Hier
und Jetzt zu sein. - Das 4. Paradox behauptet, dass bei einer
bestimmten Bewegung die halbe Zeit ist gleich der doppelten
und will dies dartun an der Gegenbewegung zweier Dinge, die
sich im umgekehrten Richtungssinne an einander vorbei und
auch an einem stehenden Dritten vorbei bewegen. Was hier von
Zenon in den Blick genommen wird, ist die Relativität der Be-
wegung je in bezug auf ein Ruhendes oder auf ein anderes Be-
wegtes. - Wenn wir also zunächst ganz schematisch zusammen-
fassen, können wir sagen: die erste Paradoxie beruht auf der
unendlichen Teilung des Raumes, die zwischen allen unterschie-
denen Enden immer neue und zwar unendliche viele Zwischen-
Räume aufbrechen lässt; die zweite Paradoxie denkt entschiede-
ner schon die Verbindung von Raum und Zeit, und zwar beide
in der ihnen eigenen und doch ineinander verzahnten Unend-
lichkeit; weil Raum und Zeit in einem festen Verhältnis sich
"entsprechen", muss jedem Raumdifferential sozusagen auch
ein Zeitdifferential zugeordnet werden, so dass Achill nie die
Schildkröte einholen kann; und die dritte Paradoxie beruht auf
dem Gedanken der Undenkbarkeit eines übergangs; das, was die
Kontinuität von Raum und Zeit ausmacht, wird damit in einer
radikalen Weise in Frage gestellt. Die vierte Paradoxie endlich
116 DER SCHEIN DES SEINS

operiert mit dem Gleichzeitigsein mehrerer Orte, also mit einer


doppelten, entgegengesetzt gerichteten Bewegung zur selben
Zeit, - und diese Gleichzeitigkeit wird dabei fragwürdig einmal
als Gleichzeitigkeit mit einer anderen Bewegung und in eins damit
als Gleichzeitigkeit mit einer Ruhe. Der Aufbau dieser Paradoxa
hat eine erstaunliche innere Konsequenz. Sie enthüllt sich, wenn
man einmal darüber grübelt und nicht gleich den allzubilligen
Triumph ausspielt, dass Zenon, wie uns jedes Kind sagen kann,
offenkundig Unrecht hat, - dass man nicht, wie es schon der
Kyniker Diogenes tat, einfach hin- und hergeht, um den Zenon
zu überführen. Dass es Bewegungen gibt, wie es Mücken und
Elephanten gibt, wusste auch Zenon, - aber er versuchte durch
die Gewalt des reinen Denkens zu zeigen, dass diese Bewegungen
im eigentlichen Sinne nicht seiend sind, - er suchte es zu zeigen,
indem er eine Dialektik von Raum und Zeit und Bewegung ent-
wickelte, die den denkenden Menschen mit Schrecken erkennen
lässt, dass wir Sterblichen, die so einfach und problemlos dahin-
leben im Raum und in der Zeit, in Wahrheit den Danaiden
gleichen, - vergeblich ein bodenloses Fass zu füllen suchen.
10

WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

Wir stehen bei der Erörterung der Paradoxien des Zenon.


Diese bedeuten uns keine Merkwürdigkeiten, keine Absonder-
lichkeiten eines verirrten Denkens, dem nur mit einem Kuriosi-
tätsinteresse zu begegnen wäre. In der spielerischen Form steckt
ein ernsthaftes und schweres Problem. Und dies ist auch damit
nicht abgetan, dass man, nach dem Vorgang des Aristoteles, in
den Paradoxien nur Sophismen erblickt. Sie sind so gewichtig
wie die Seinslehre des Parmenides, - sie sind diese Seinslehre in
der Gestalt einer vernichtenden Dialektik, in welcher die Wahr-
heit der DOXA sich auflöst. Zenon entwickelt die Absolutheit des
EON nicht selbst absolut, sondern auf dem Wege einer Vermitt-
lung, auf einem Wege, der durch den Untergang aller endlichen
Dinge hindurchgeht. Bei Parmenides wurde, wie wir wissen, das
EON nicht gänzlich von allen räumlichen und zeitlichen Bestim-
mungen frei gehalten, es war in den SEMATA "NYN" und "SYNE-
CHES" d.h. in den Wegmarken des "JETZT" und des "ZUSAMMEN-
HANGS" (des Kontinuums) angesprochen worden. Wenn es auch
raumlos und zeitlos ist, gemessen am InderZeitsein und ImRaum-
sein der endlichen Dinge, - wenn es nicht raumhaft und zeithaft
ist wie jene, so ist es doch nicht völlig dem Raum und der Zeit
entrückt. Wir sagten zwar, dass mit Parmenides, mit der Stiftung
der ontologischen Philosophie, jene Austreibung von Zeit und
Raum aus dem Wesen des Seins begänne, welche den latenten
nihilistischen Grundcharakter der abendländischen Philosophie
ausmacht, den Nietzsche als die "Weltverleumdung "angriff, -
trotzdem hat das EON noch raumhafte und zeithafte Wesenszüge,
Züge des Raumganzen und Zeitganzen, Züge des Weltraumes
und der Weltzeit, im Gegensatz zur Binnenräumlichkeit und
Binnenzeitlichkeit der endlichen Dinge. Das führte uns zu der
nur gestellten, aber nicht beantworteten Frage, ob im parmeni-
118 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

deisehen Gedanken des EON der KOSMOS stecke, ob also der N euan-
satz der Eleaten eine Verwandlung des Weltdenkens der Jonier
sei. Parmenides gibt zwar die grundsätzliche "Ortsbestimmung"
für Raum, Zeit, Bewegung mit seiner Lehre von der DOXA. Er
bestimmt aber das Wesen der DOXA nicht primär von Raum,
Zeit, Bewegung her. Seine Wesensbestimmung der DOXA ist viel-
mehr vom Namengeben, von der Sprache aus gedacht, und d.i.,
wie wir gesehen haben, nicht so sehr ein subjektives Prinzip, als
vielmehr das allgemeine Prinzip der "Individuation", der Ver-
einzelung. Zenon dagegen begreift radikaler jetzt die Vereinze-
lung selbst als gegründet in Raum und Zeit. Seine negative Lehre
von der DOXA wird zu einer dialektischen Entdeckung der inneren
Widersprüchlichkeit von Zeit, Raum, Bewegung. Genauer, er
setzt den Hebel seiner Destruktion an am Phänomen der Bewe-
gung und will von ihr aus, sofern in ihr Raum und Zeit sich
in inniger Weise einen, das ganze Gefüge der DoxA-Welt aus den
Angeln heben. Die DOKOUNTA, das endliche Seiende, welches die
DOXA vernimmt, - die DOKOUNTA sind nich t- und dieses Nicht-
sein, zutreffender: Nichtigsein, trotz alles sinnfälligen Augen-
scheins von Bestehen und Vorhandensein, ist es, was das Denken
im Durchdenken der Bewegung entdeckt. Die Paradoxien des
Zenon bilden den Gang einer bestimmten ontologischen Erfah-
rung, worin die Nichtigkeit des sonst als "seiend" Geltenden ent-
deckt und ineins damit eine ursprünglichere Dimension des
Seins aufleuchtet. Der thetische Gehalt der Paradoxe wurde be-
reits genannt. Es kommt nun darauf an, dass wir uns über die
Tragweite und die eigentliche Absicht der Paradoxien klar wer-
den. Dazu gehört auch, dass wir die Begriffe, mit denen Zenon
operativ umgeht, uns vergegenwärtigen. Die erste Paradoxie
hatte behauptet, dass das Durchlaufen einer Strecke unmöglich
wäre, weil der Laufende zuerst doch bei der Hälfte dieser Strecke,
ja zuvor bei der Hälfte der Hälfte usw. ankommen müsste. Man
könnte sogleich den Einwand erheben, Zen on benütze für die
dialektische Durchführung seines Gedankenexperiments Voraus-
setzungen, die er nachher gerade aufhebe; er spreche doch vom
Durchlaufen einer Strecke; er setze also zunächst einmal die
Möglichkeit der Bewegung voraus, wenigstens hinsichtlich der
halben Strecke; er reduziere das Vorausgesetzte dann schritt-
weise, immer wieder auf die Hälfte der Hälfte und so in infinitum;
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 119

er beginne also mit der Annahme, Bewegung sei möglich, und


ende mit der These, sie sei unmöglich; er operiere zunächst mit
dem Gegenteil dessen, was er schliesslich beweisen wolle. Und
man könnte noch weiter gehen mit dem Einwand und sagen, es
kann sein, daß Zenon Recht hat, es kann sein, dass Bewegung
unmöglich ist, - aber das müsste sozusagen direkt gezeigt werden.
und nicht auf die hinterhältige Weise, dass man zuerst Bewegung
zugibt und dann an ihr zeigt, dass sie unmöglich ist; denn damit
widerspricht man sich doch selbst. Zenons Widerlegungen wider-
legen nur die Bewegung an der Bewegung. Um den Sinn eines
solchen Einwandes deutlicher zu machen, ist ein wenig auszu-
holen. Das Durchlaufen einer Wegstrecke hat sein Ausmaß durch
die Entfernung vom Ausgang bis zum Ziel. Diese Wegstrecke
wird gemeinhin als eine endliche, bestimmte Entfernung ange-
sehen; der Läufer, der sie durcheilt, braucht eine bestimmte, eine
endliche Zeit, etwa eine Stunde. Zenons Argument geht nun dahin,
dass der Läufer bei gleich schnellem Lauf in der halben Zeit auf
der Weghälfte ankommen müsse; das bedeutet aber, Zenon setzt
zunächst einmal die Möglichkeit der Bewegung voraus; der Lauf
über eine Wegstunde hin muss halbstündig genommen bei der
halben Wegstrecke ankommen; aus dem ganzen Lauf wird das
Erreichen der Weghälfte bei halber Laufzeit geschlossen; und
dann wird erst dieses rückschliessende Verfahren wiederholt auf
die Hälften der Hälften der Hälften und so weiter; aus der Un-
endlichkeit der unaufhörlichen Halbierungen ergibt sich dann,
dass ein Durchgang durch die unendlich zahlreichen Zwischen-
strecken nicht möglich ist. Wenn aber, so könnte man sagen, ein
Durchkommen durch eine Raumstrecke überhaupt nicht mög-
lich ist, weil sie die unendliche Menge von Zwischenstrecken ent-
hält, so darf man doch nicht, wie es Zenon tut, zunächst von der
wirklichen Bewegung ausgehen, - darf man doch nicht zunächst
einmal ein Durchlaufen annehmen, daran das Verhältnis von
Ganzem und Teil, von ganzer und halber Wegstrecke illustrieren,
um am Ende die ganze Voraussetzung dieser Halbierungen,
eben den vollzogenen Lauf, als unmöglich zu erklären. Paradox
formuliert: Zenons dialektische Vernichtung der Bewegung lebt
davon, dass Bewegung ist; seine Argumente schliessen nur unter
der Voraussetzung dessen als "wirklich", was sie in ihrem Re-
sultat als "nichtig" behaupten.
120 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

Ein solcher Einwand trifft in der Tat eine wesentliche Seite


der zenonischen Dialektik, er bedeutet aber ein Missverständnis,
wenn damit dem Zenon ein fehlerhaftes Vorgehen vorgerechnet
werden soll. Dass Zenon zunächst die Bewegung voraussetzt,
um sie im Durchdenken ihrer widersprüchlichen Natur aufzu-
heben, - dies ist gerade der entscheidende Grundzug seines den-
kerischen Wegs aus der DOXA heraus; er macht die Setzungen der
DOXA mit, um sie als solche in ihrer Nichtigkeit zu erweisen. Es
geht Zenon nicht darum, zu behaupten, dass Bewegung schlech-
terdings nichts sei, dass es in gar keiner Weise Bewegung gebe
und geben könne, dass das, was wir für Bewegung halten, nur ein
subjektiver Trug, nur eine Illusion, nur ein Hirngespinst sei; im
Gegenteil, Zenon geht aus von der Phänomenalität der Be-
wegung, er benützt für die Exposition seiner dialektischen Ver-
nichtung der Bewegung gerade phänomenale Momente derselben.
In der Tat gilt seine These, dass Bewegung unmöglich ist, unmög-
lich SEIEND ist, nur unter der Voraussetzung, dass Bewegung
phänomenal ist. Die dialektische Destruktion der Wahrheit der
DOXA bringt die DOXA nicht zum Verschwinden; sie löst sich
nicht auf wie ein Nebel in nichts, wenn die Sonne der eigentlichen
Wahrheit durchbricht; die DOXA bleibt - aber bleibt als erkannter
und durchschauter Schein. Was hinsichtlich der ersten Paradoxie
ausgeführt wurde, gilt ebenso auch hinsichtlich der anderen.
Auch dort macht Zenon immer vorgängig von dem Gebrauch,
was er nachher aufhebt und verneint. Achill kann die Schildkröte
nicht einholen, obwohl er als der Schnellere und jene als die Lang-
samere zunächst angesetzt werden; hier gebraucht Zenon die Be-
griffe des Schnelleren und Langsameren, die ja nur einen Sinn-
bezug haben aus ihrem gegenseitigen Vergleich; das Schnellere ist
ja dasjenige, das als das Überholende, Überholenkönnende ge-
dacht ist. Die Paradoxie geht dahin, dass das Überholenkönnende
nicht überholen kann. Und beim Paradox vom Ruhen des flie-
genden Pfeils ist zunächst das Fliegen, d.h. die Bewegung, ange-
nommen; die Paradoxie hat ihre Schärfe darin, dass sie sagt, das
Bewegte ruht, -und nicht etwa darin: es gibt keine Bewegung,
sondern nur Ruhe. Und in der vierten Paradoxie geht Zen on
ebenfalls aus von der Wirklichkeit einer Gegenbewegung von
zwei bewegten Dingen an einem unbewegten Ding vorbei; und
sofern die Zeit einer Bewegung sich bestimmt aus der durch-
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 121

messenen Wegstrecke, also aus dem Raum, an dem ein Bewegtes


vorbeikommt, so kommt hier das eine Sichbewegende in der
selben Zeit in bezug auf das ruhende Ding nur an halb soviel
Raum vorbei, wie es in bezug auf das sich entgegengesetzt be-
wegende andere Ding vorbeikommt, so dass sich die Paradoxie
ergibt, dass dieselbe Zeit als Bewegungszeit zugleich halb und
doppelt sei. Ausgehend vom Beispiel einer Gegenbewegung zweier
bewegter Dinge vor einem unbewegten Ding kommt Zen on im
operativen Gebrauch des faktischen Bewegungsverständnisses
dazu, die Möglichkeit seines Beispiels selbst aufzuheben.

Diese vier Paradoxien stehen in einem inneren Zusammenhang,


bilden eine dialektische Thematik von einer erstaunlichen syste-
matischen Konsequenz. Es sind nicht Einfälle eines geistreichen
Kopfes, nicht aphoristische Genieblitze, es steckt eine strenge
Zucht und Unbeirrtheit eines Denkens darin, wie sie nur die
Versenkung in eine Sache zuwege bringt. Um diese Systematik
wenigstens anzudeuten, können wir sagen: die erste Paradoxie
denkt die unendliche Teilung des Raumes, denkt damit ein Mo-
ment der Bewegung, nämlich das endliche Durchmessen einer
unendlichen Anzahl von Zwischenstrecken ; die zweite macht
ausdrücklich, was in der ersten schon mit enthalten war: das
Zeitmoment ; die endliche Zeit einer Bewegung auf endlichem
Raum hat ihr Zeitmaß; wieviel oder wiewenig sie Zeit braucht
für einen Weg, bestimmt Schnelligkeit oder Langsamkeit einer
Bewegung; es ist ein ausserordentlich kühner Gedanke des Zenon,
die Zeiterstrecktheit der Bewegung in seiner Paradoxie zu ent-
wickeln am Gegenverhältnis der langsamen und schnellen Be-
wegung -und eben diesen Unterschied dialektisch in Frage zu stel-
len. Was im Raumverbrauch (1. Paradoxie) und im Zeitverbrauch
(2. Paradoxie) der Bewegung unthematisch mit gedacht war,
nämlich der Übergang von einem Raumort zum anderen, von
einem Zeitmoment zum anderen, - dieser Übergang wird in
seinem paradoxen Gehalt entwickelt in der dritten Paradoxie
vom "Pfeil," der fliegend ruht. Die Dialektik der Bewegung
führt zur Gleichsetzung mit der Ruhe, d.h. zur Aufhebung des
Gegensatzes, der konstitutiv ist für das phänomenale Bewegungs-
wissen ; denn dort wird ja Bewegung als Gegenfall der Ruhe und
Ruhe als Gegenfall der Bewegung verstanden. Und endlich in
122 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

der vierten Paradoxie wird das volle Gefüge der Bewegung in


eben ihren möglichen Gegenbezügen zu anderen Bewegungen
und zur Ruhe entfaltet. Dabei ist die andere Bewegung nicht
die gleichgerichtete; denn diese war schon im Verhältnis des
schnelleren Achilleus zur langsameren Schildkröte thematisch,
sondern die entgegengesetzte, gegengerichtete.

Dieser Systematik, die unauffällig hinter den zenonischen


Paradoxien steht und in ihrer spielerisch-zufälligen Form sich
versteckt, wollen wir ein wenig nachdenken. Zenon eröffnet die
Dialektik der Bewegung mit der Einsicht in den offenkundigen
Widerspruch, dass Bewegung bedeutet: das Durchlaufen einer
begrenzten Raumstrecke, die in sich in unendlich viele Zwischen-
strecken zerfällt. Kann es überhaupt so etwas geben? Kann eine
endliche Strecke unendliche Teile haben? Die Rede von endlich
und unendlich ist hier offenbar nicht auf demselben Niveau ge-
braucht. Was bedeutet eine endliche Raumstrecke ? Eben eine
Entfernung, etwa von der einen Wand des Hörsaals bis zur
anderen. Diese Entfernung können wir unterteilen, wir können
sie messen und maßgerecht einteilen, und wir können winzige
Maßeinheiten zugrundelegen, - aber wir kommen schliesslich
an ein Ende der kontrollierbaren Kleinstmaße, - gleichwohl
können wir in Gedanken die Unterteilung fortsetzen, wir können
diesen Prozess der unaufhörlichen Zerteilung mit mathematischen
Formeln exakt fassen. Aber wir sagten eben, wir teilen ein. Das
Einteilen ist eine Operation, die wir an diesem Raumstück an-
bringen. Aber ist es selbst von sich aus schon so eingeteilt, schon
in sich zerfällt und zersplittert? Muß es an sich aufgelöst sein
in unendlich viele Kleinststrecken, damit es unsere messende
Operation überhaupt zulässt - und in solchen Messungen berechen-
bar ist? Ist der Raum aber an sich unendlich differenziert, unend-
lich eingeteilt, - dann ist keine Bewegung möglich. Man hilft
sich gewöhnlich mit der These, der Raum ist ebensosehr Einge-
teiltsein (Diskretion), als er auch Kontinuum, Zusammenhang,
ist. In der Tat wird damit eine wesentliche Struktur des Raumes
in den Blick genommen: aber das Zusammenbestehen von Dis-
kretion und Kontinuität im Raum ist gerade das, woran Zenon
die Dialektik anknüpft. Sie wird also gar nicht damit zurückge-
schlagen, dass man auf der kontinuierlich-diskreten Doppel-
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 123

natur des Raumes besteht. Was bedeutet Kontinuität? Der


Raum ist kein additives Ganzes, das sich zusammensetzt aus
Teilen, die vor dem Ganzen sind; er ist ein einheitlicher Feld-
zusammenhang, der nirgends eine Lücke hat; das Ganze, 'könnte
man sagen, ist hier eher vor den Teilen; denn Teile sind eben
Einteilungen in diesem Ganzen; die Kontinuität, der durchgän-
gige Zusammenhang wird durch Eingrenzungen und Einteilungen
nicht aufgehoben und beseitigt, - die Kontinuität bildet viel-
mehr den Boden für die abgesteckten Grenzen. Auf dem Boden
der Kontinuität gibt es dann so etwas wie "Grenzen", wie Raum-
stücke, Raumstrecken, Abstände, Entfernungen. Die Kontinuität
wird mit den in sie eingekerbten Eingrenzungen gleichsam nur
überdeckt; aber sie ist immer da, - sie ist das, was die Grenzen,
die trennen und abscheiden, zugleich zusammenhält, zusammen-
bindet, damit sie nicht ins Zusammenhangslose des Unbezüg-
lichen auseinanderfallen. Mit der Grenze wird ein Unterschied
im Kontinuum fixiert, aber damit das Kontinuum nicht ver-
nichtet; das eine unterschiedslose Raumfeld wird zum Substrat
einer Vielzahl möglicher Eingrenzungen, es ist gleichsam durch-
furcht wie ein Acker von den Furchen des Pflugs, - aber es bleibt
trotz solcher Furchung das eine, alle Unterschiede in sich zu-
sammenfassende Feld - wie der gepflügte Acker trotz aller Ge-
staltung das gestaltlose Antlitz der Mutter "ERDE" bleibt. Es
bedeutet jeweils eine abstrakte Einseitigkeit, wenn man am
Raume nur das Moment der Diskretion d.h. das Moment der
Grenzen und Unterschiede, - oder das andere Moment der Konti-
nuität d.h. das Moment des einen Zusammenhangs sieht, der alle
Unterschiede unterläuft. Gerade die Kontinuität, gerade die
Stetigkeit des unabreissbaren Zusammenhangs macht auch die
unaufhörlich fortsetzbare "Einteilung" und Grenzen-Ziehung
möglich. Der konkrete Raum ist niemals nur Kontinuum, und
niemals nur Diskretheit, - er ist immer beides zugleich, ein
einheitliches Gesamtfeld, das von unzähligen Grenzen zerrissen
ist und dabei doch nicht seine allbefangende Einheit und Eins-
heit verliert.

Es ist nun keineswegs so, dass Zenon gleichsam nur die Dis-
kretheit, die Durchgrenztheit des Raumes in den Blick nähme
und blind wäre gegen die ebenso gültige und ebenso gewichtige
124 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

Struktur des Kontinuums. Die zenonische Dialektik operiert


vielmehr gerade mit dem Gegengewicht dieser bei den Momente
des Raumes; er blickt z.B. hin auf die Kontinuität, eben auf das
Fliessende und Stetige, das alle Abgrenzungen unterläuft und
was aller Einteilung und Unterteilung voraufgeht; das Raum-
kontinuum wird bei aller Einteilung nie aufgeteilt; seine Un-
auf teilbarkeit in faktischen d.i. in gesetzten Grenzen bedeutet
aber die unendliche Fortsetzbarkeit der Grenzziehung - und das
ist es, was den Gedanken befremdet, was ihm unbegreiflich und
widersprüchlich erscheinen muss. Kontinuität und Diskretion
in ihrer Verschlungenheit bilden das Paradoxon des Raumes: die
Kontinuität scheint in der Diskretion und diese in jener unter-
gegangen. Dank der Kontinuität ist der Raum unendlich für
ein Vorgehen, welches eine gegebene Raumstrecke unterteilt;
dank der Kontinuität springt sozusagen jeder gesetzten "Grenze"
noch ein voraufgehender Zusammenhang voraus, ein stetiges
Feld, das die gemachten Grenzen zusammenhält; - aber dank
der Diskretion kann auch jedes stetige Feld wieder von Grenzen
durchfurcht werden; die bei den Raumstrukturen treiben sich
gegenseitig in eine unabsehbare Unendlichkeit, worin alles Be-
stimmte zu ertrinken droht. Die grosse spekulative Einsicht der
ersten zenonischen Paradoxie ist, dass für das Durchlaufen einer
endlichen Raumstrecke, da diese eine unabsehbare innere Un-
endlichkeit ist, eine unendliche Zeit notwendig wäre, - und des-
halb Bewegung im wahrhaften Sinne nicht "seiend" sein kann.

Die zweite Paradoxie basiert auf einer festen Zuordnung von


Raum und Zeit. Die Bewegung wird zunächst angesetzt als das
einheitliche Ganze eines raum-zeitlichen Vorgangs, der dadurch
charakterisiert ist, dass jedem Zeitstück ein Raumstück ent-
spricht; die schnellere Bewegung hat eine grössere Raumstrecke
als Aequivalent, die langsamere eine kleinere. Entscheidend für
den Ansatz der Paradoxie ist nun, dass Zenon die "Entsprechung"
primär vom Raume aus denkt - und damit zu einer verräum-
lichten Zeit gelangt. Weil die Raumstücke, die Achill und die
Schildkröte in der gleichen Zeit durchmessen, ihren gegenseiti-
gen Abstand bis ins Infinitesimale verkleinern, muss die ent-
sprechende Zeit ebenfalls diesen infinitesimal sich verkleinernden
Abstand haben; der Zeitvorsprung der Schildkröte ist also nie-
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 125

mals einzuholen. Das eigentlich Problematische an dieser Para-


doxie ist das von Zen on vorausgesetzte Verhältnis von Raum und
Zeit; es ist aber nicht eine beliebige Anschauung, die er damit
ausspricht, es ist die herrschende Raum- und Zeit-Auffassung
der DOXA. Raum und Zeit verhalten sich wie zwei aneinander-
gekoppelte Dinge, wie ein Doppelgeleise.

Die dritte Paradoxie verschärft das Problem der Bewegung


durch die Frage, wie überhaupt ein Bewegtes in Bewegung ist.
Ein Bewegtes ist in Bewegung in Raum und in Zeit, - d.h. ist je
in einem Hier und in einem zugeordneten jetzt. Wenn es aber so
im Raum und in der Zeit ist, dass es an einem Ort und in einem
jetzt ist, je in einem jeweils anderen, so ist es gleichwohl immer
an einem Ort und in einem jetzt: es ruht. Diese Interpretation
der Bewegung hebt sich selbst auf, lässt die Bewegung in ihr
Gegenteil, in die Ruhe umschlagen. Zenon erreicht dies nicht
durch einen Trick oder sonst durch ein eristisches Kunststück-
chen, sondern einfach durch die Anwendung des in der Doxa
selbst beheimateten Bewegungsverständnisses. Er löst die Bewe-
gung gleichsam auf in eine unendliche Vielzahl von Querschnit-
ten, von Phasen, von Zustandsmomenten ; wenn der fliegende
Pfeil in jedem Moment an einem einzigen Ort ist, dann kann es
überhaupt gar keinen Übergang geben. Die tragende Vorausset-
zung des ganzen Arguments ist also, dass das bewegte Seiende im
Raum und in der Zeit ist wie in einem Behälter.

Und hinsichtlich der vierten Paradoxie ist zu sagen, dass Zenon


nicht etwa die Zeit relativiert, wenn er sagt, dass in diesem Falle
die Hälfte der Zeit gleich der doppelten sei, - im Gegenteil, an der
Ungereimtheit einer solchen Folgerung erkennt der dialektische
Gedanke viel eher die Ungereimtheit, ja die UnmÖglichkeit der
Bewegung; diese wird hier zunächst in ihrem vollen Gefüge
entfaltet: zwei Bewegungen von Dingen laufen gegeneinander,
ziehen aneinander vorbei und beide ziehen dabei, wenn auch in
verschiedenem Richtungssinne an einem dritten, das ruht, vorbei.
Gegenbewegung und Ruhe sind in einer einheitlichen Verschrän-
kung. Auch hier ist es wiederum bedeutsam, dass Zenon sowohl
die Bewegungen als auch die Ruhe - gemäss dem Verständnis
der DOXA - interpretiert als ein solches InderZeitsein und ein
126 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

solches ImRaumsein, das durch die Zuordnung je einer Raum-


stelle und einer Zeitstelle charakterisiert ist. -

Wenn wir den zentralen Grundbegriff herausgreifen, der allen


zenonischen Paradoxien zugrundeliegt, so ist es der Begriff des
In-Seins, wie wir einmal formal-anzeigend sagen könnten. Die
Paradoxien entspringen nicht dem Begriff des Unendlichen,
wie man vielleicht zuerst meinen könnte, sondern der bestimmten
Art und Weise, wie das Unendliche gedacht wird, wie gedacht
wird, wie das Endliche im Unendlichen einbeschlossen ist.
Die Frage wäre aufzuwerfen, wie umfängt die Kontinuität des
Raumes alle in ihn eingezeichneten und einzuzeichnenden Gren-
zen, Unterschiede, diskreten Momente; - wie ist Raum und Zeit
beisammen, sind sie neben-einander wie Dinge im Raum
nebeneinander und in der Zeit gleichzeitig sein können, oder um-
fangen sie sich, und dann wie. Ferner, ist das bewegte Seiende so
in der Zeit und im Raum, wie eine Felswand in einem Berg, ein
Käfer im Gras, ein Mensch in einem Staat? Sind die uns geläufi-
gen und bekannten innerräumlichen und innerzeitlichen Ver-
hältnisse von Weisen des In-seins zureichend, um damit das
Insein der bewegten Dinge überhaupt in Raum und Zeit zu inter-
pretieren? Oder ist der ungeklärte, der DOXA entnommene Be-
griff des Inseins der eigentliche Grund für die Möglichkeit der
radikalen Dialektik des Zenon? In der Tat. Sie ist schlüssig, so-
lange eben das Insein des Seienden in Raum und Zeit der DOXA
gemäss verstanden wird, - nämlich verstanden wird als das
Drinsein eines Kleineren in einem Grösseren, eines Teiles in ei-
nem Ganzen, einer Grenze in einem "Feld"; - sie wird aber pro-
blematisch und in ihrer Grundlage fraglich, wenn das Insein der
Dinge im Raum und in der Zeit als das Weltverhältnis des
Seienden begriffen wird. Damit nennen wir die Position, von wo
aus unsere Darstellung der zenonischen Paradoxe, wenn auch nicht
expressis verbis ausging. Es mag vielleicht eine einseitige Sicht
sein, aber sie ist durch den ganzen Zug der Erörterung motiviert.
Die Dialektik des Zenon ist sicher mehr als ein Irrtum, mehr als
eine kurzschlüssige Sophisterei, mehr aber auch als ein Versäum-
nis, das sich nachholen lässt, - sie ist die notwendige Raum-
und Zeit-Auflösung, die notwendige Destruktion der Bewegung
im Bannkreis der entschiedenen ontologischen Phi-
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 127

losophie. Bewegung ist das absolute Ärgernis des Denkens, das


denkt, dass das Seiende ist.

Aber die grossartige Leistung des Zenon ist es, daß er nicht bei
der einfachen Ablehnung der Bewegung stehen bleibt, sondern
aus ihr selbst heraus ihre Unmöglichkeit nachzuweisen unter-
nimmt. Und dabei verfährt er nicht so billig, irgendwelche Wider-
sprüche in ihr aufzuzeigen und dann aus der Widersprüchlichkeit
den Schluss auf die ontologische Unmöglichkeit der Bewegung zu
ziehen, - als ob er das Dogma voraus hätte, was einen \Vider-
spruch enthält, kann unmöglich sein. Es kommt Zenon gar nicht
so sehr darauf an, die Bewegung als für unseren Verstand und
unser Denken inkommensurabel darzutun, als vielmehr den
Widerspruch in ihr selbst als existent, als darin wirklich aufzu-
zeigen. Die Bewegung ist der Widerspruch - sie ist als das Nichtige,
- als das Uneigentlich-Seiende. Der operative Grundgedanke aber
der zen on ischen Paradoxien ist das binnen wel tlich angesetzte
Verhältnis des Inseins des Endlichen im Unendlichen; für Zen on
muss das Endliche an der in ihm aufgedeckten Tiefe des Unend-
lichen zerbrechen, - und zwar deswegen, weil beides sozusagen
auf der gleichen Ebene konkurriert. Die endliche Raumstrecke
ist deswegen nicht durchlaufbar, weil sich bei der Teilung in
Hälften und Hälften der Hälften usw. ein unendlicher Abgrund
auftut, über den nicht mehr hinwegzukommen ist; der Läufer
läuft nicht mehr durch die endliche Strecke hindurch, sondern in
ihre unendliche Tiefe hinein, wo er niemals ankommen kann, weil
sich unaufhörlich immer neue Zwischenstrecken und zwar in in-
finitum auftun. Und ebenso ist der Wettlauf des Achill gar nicht
mehr ein solcher mit der Schildkröte, sondern mit der infinitesi-
malen Unendlichkeit; und es ist kein Wunder, dass er erliegen
muss. Die Paradoxien des Zenon, sicherlich eines der grossartig-
sten Dokumente der durchdringenden Kraft der antiken Speku-
lation, basieren auf dem unausgelegten und unausgesprochenen
Gedanken, dass das Seiende nicht zugleich endlich und
unendlich sein könne, dass es entweder das eine oder das
andere sein müsse. Wenn der Gedanke entdeckt, dass eine endliche
Strecke ja in sich unendlich ist, unendlich viele Hälften der Hälf-
ten hat, dann muss er zur Aufhebung der zuvor angesetzten End-
lichkeit und damit auch der Durchlaufbarkeit der Strecke kommen.
128 WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN

Aber das ist eben, was es vielleicht neu zu überdenken gilt, ob


Endlichsein und Unendlichkeit des Seienden sich ausschliessen ?
Was heisst es überhaupt, so fragen wir, eine begrenzte bestimmte
Strecke ist der Einteilung nach unendlich? Zunächst könnte man
schon die Vorfrage stellen, was ist überhaupt eine "begrenzte
Strecke"? Man sagt etwa, von hier bis dort, eine Abmessung des
Raumes, die durch die Anwesenheit zweier Dinge an den Enden
und durch ihren Abstand bestimmt ist. Aber haben diese Dinge
nur einen Abstand hinsichtlich ihrer, - sind sie mit ihrem Ab-
stand nicht in einem unübersehbar vielfältigen Gewebe von an-
deren Abständen, - ist die Beziehung zu den anderen Abständen
sozusagen gleichgültig für diesen bestimmten Abstand, der uns
jetzt allein interessiert? Keineswegs, denn durch die anderen
Abstände werden diese Endpunkte ja erst in ihrem Ort festge-
halten und fixiert. Aber die Zahl der Bezüge zu den anderen um-
gebenden Dingen ist ja ganz und gar unabsehbar. Wir können
noch einen Schritt weitergehen und fragen: gibt es jemals Ab-
stände, die einfach da sind, - oder sind alle endlichen Abstände
jeweils schon überholt von einer offenen Unendlichkeit des gan-
zen Raumes, indem sie sich vorfinden? Ist das Verhältnis der
bestimmten, endlichen Strecke zu dem umfangenden Raum-
ganzen der Welt etwas Analoges wie das Verhältnis dieser Strek-
ke zu anderen Strecken und Abständen, die ebenfalls im Raum-
ganzen sind? Strecken sind gegeneinander zu messen, - aber
sind die endlichen Strecken prinzipiell als messbar zu denken in
bezug auf den ganzen Raum? Jedenfalls zeigt sich schon jede
bestimmte Strecke, jeder endliche Abstand als eingehalten in
eine offene unabsehbare Weite, zeigt sich als eingehalten in den
ganzen Raum; der Ort der endlichen Strecken ist im Unendli-
chen, sie sind insgesamt in der Welt. Die Natur dieses Inseins
aber ist das schlechthin Dunkle und Fragwürdige. Die Strecken
sind nicht im Unendlichen der Welt, wie eine kleine Strecke in
einer grösseren vorkommt, darin enthalten ist. Die Welt aber
ist nicht ein äusserer Rahmen, der die Dinge und binnenwelt-
lichen Strecken umfängt und in sich einschliesst, sie ist kein
Kasten, kein Behälter, kein Haus; sie ist nicht der unendliche
"Ort" aller endlichen Orte, nicht die unendliche Zeitstrecke
aller Zeitweilen. Und dennoch ist sie auf eine geheimnisvolle
Weise mit allem Endlichen mitgegenwärtig. Die endliche Strecke
WEITERE ERÖRTERUNG DER PARADOXIEN 129

steht als solche schon im aufgetanen offenen Bereich des Welt-


raumes, hat in ihm ihre Grenzen, ihre Erstreckung. Was heisst
es, so frugen wir vorhin, eine endliche Strecke erweise sich dem
Denken als in sich unendlich, als unendlich "eingeteilt"? Das
bedeutet nichts anderes, als dass man die ganze Zeit brau-
chen müsste, um die Teilung durchzuführen. Um eine endliche
Strecke zu teilen, muss die ganze Zeit der Welt verbraucht werden.
Die innere Unendlichkeit der endlichen Strecken ist selbst eine
Weise, wie das Weltganze in ihnen anwest, - ist ein kosmologi-
scher Charakter, der gar nicht die Endlichkeit des Endlichen zer-
stört und sprengt, sondern in Wahrheit behütet. Es ist eine alte
Weisheit, dass der Mensch ein Mikrokosmos, ein Abbild des
Weltganzen sei. Vielleicht aber sind alle Dinge schlechthin solche
Abbilder des Ganzen, vielleicht sind alle Monaden Spiegel des
Universums, das nicht nur aussen herum liegt um das begrenzte
Seiende, sondern in allem, was ist, seine waltende Macht be-
kundet.
I I

RUHE UND BEWEGUNG


PARALLELISIERUNG VON RAUM UND ZEIT
WELTGANZHEIT DES RAUMES UND DER ZEIT

Die zenonische Dialektik der Bewegung hat wie alle originalen


Gedankenmotive der Philosophie die eigentümlich labyrinthische
Natur, dass sie dunkler, schwieriger, undurchdringlicher wird,
je länger man darüber nachdenkt, - dass das Rätsel wächst, je
mehr sich das Begreifen abmüht. Zenons Dialektik hat die Form
von Paradoxien. Das Denken stellt sich mit einer unerhörten
Entschiedenheit auf sich selbst, stellt sich gegen die DOXA,
wendet sich PARA DOXAN. Und die DOXA, die hier angegriffen
wird, ist nicht das Zufällige eines beliebigen subjektiven Meinens,
nicht eine ungeprüfte Tradition, nicht eine vom Hörensagen
gekannte Welt. Die DOXA ist hier ganz wesentlich genommen als
das menschliche Vernehmen des Seienden in seiner Vielheit,
seinem Wandel, seinem Wechsel von Aufgang und Untergang.
Vielheit, Wandlung, Kommen und Gehen der Dinge: all das
gründet in der Bewegung. Das ist eine entscheidende Einsicht des
Zenon. Die Bewegung ist also nicht ein isoliertes Phänomen, an
welchem der Schüler des Parmenides seinen Witz und seinen
Scharfsinn übt. Die Bewegung ist vielmehr die Grundverfassung
dessen, was wir, befangen in der DOXA, bereits schon das "Seien-
de" nennen. Dass dieses sogenannte "Seiende" gerade nicht
SEIEND ist, aber gleichwohl auch nicht schlechthin nichts ist, das
zu zeigen, ist die Grundabsicht der zenonischen Paradoxa. Diese
gehen alle aus vom Phänomen der Bewegung und heben die
Realität der Bewegung auf. Und dies nicht so, als ob schon der
Unterschied von "Phänomen" und "Realität" für Zenon vor-
aus bestünde und er gewissermassen mit einem geläufigen Unter-
schied ontologischer Natur operiere, - dieser Unterschied er-
wächst erst im Vollzug seines "para-doxischen" Denkens. Er
vertieft und radikalisiert damit die parmenideische Differenz von
EON und DOKOUNTA; so zwar, dass er die Negativität der DOKOUN-
RUHE UND BEWEGUNG 131

TA an ihnen selbst entwickelt, indem er ihre Grundverfassung:


die Bewegung, denkend prüft. Diese Prüfung, welche die Nich-
tigkeit der Bewegung und alles bewegten Seienden zum Resul-
tate hat, darf in ihrer Bedeutung nicht nur von diesem negativen
Ergebnis her charakterisiert werden. Zenon hat erstmals wesent-
liche Strukturen der Bewegung in den Blick gebracht. Was
zunächst als ein bloßes eristisches Räsonnement aussieht, erweist
sich bald als die Schärfe eines Wesensblickes. Der denkende
Einblick in die Natur der Bewegung zerstört diese nicht nur
dialektisch, er erarbeitet zuvor das Gefüge, das strukturelle
Schema der Bewegung. Die positiven Einsichten in die Weise,
wie Bewegung ist, geben erst der negativen Aufhebung der
Bewegung das Schwergewicht. Das muß man sich vergegenwär-
tigen, wenn man den Ertrag der zenonischen Paradoxien voll
erfassen will.

Bewegung wird dort gefasst als die eigentümliche Grundver-


fassung der Dinge, die bald hier, bald dort sind, - bald noch nicht
und bald nicht mehr sind, die nur zeitweilig währen, - die bald so,
bald anders sind, - bald gross, bald klein sind, bald jung, bald alt
sind; alle solchen dem Wandel, der Veränderung unterworfenen
Dinge müssen, um überhaupt "bewegt" sein zu können, im Rau-
me sein; das ImRaumsein ist die fundamentale Voraussetzung
jeder möglichen Bewegung. Und dieses ImRaumsein tritt bei
Zenon gleich schon in den Blick in der zwiefachen, heterogenen
Bestimmtheit des Raumes als Kontinuum und Diskretion;
das endliche Ding ist so im Raume, dass es darin einen Ort,
einen Platz, eine Lage hat, - dass es einen Raum einnimmt, eine
Raumstelle besetzt; das Ding hat seine Figur, seine Gestalt, es
umgrenzt mit seinen figuralen Grenzen ein Raumstück, es
schneidet sozusagen aus dem gleichförmigen kontinuierlichen
Raumfeld ein "Stück" heraus; es unterbricht, wie es scheint, den
Zusammenhang, es zeichnet mit seiner Gestalt eine diskrete,
einzelne Einheit in das Kontinuum ein; aber das scheint nur so,
das Kontinuum geht durch das Ding hindurch, und diese Durch-
gängigkeit des Kontinuums ist die Bedingung dafür, dass über-
haupt ein Ding seinen Platz wechseln kann, dass es mit seinen
"Grenzen", mit den Kanten seines figuralen Umrisses, an einen
anderen Ort hingelangen kann. Das Kontinuum seinerseits aber
132 RUHE UND BEWEGUNG

wird nicht nur "unterbrochen" durch ein Ding, seine Homoge-


neität nicht nur gestärt durch einige Grenzen, sondern überall
sind Dinge, überall sind Grenzen; nirgends gibt es einen reinen
unbesetzten Raum, immer ist er eingeräumt d.h. von Grenzen
und Unterschieden zerfurcht, von Dingen (im weitesten Sinne)
"besetzt"; der Unterschied des Leeren und des Vollen, der die
antike Raumspekulation, besonders in der von den Eleaten
ausgehenden Philosophie Demokrits beunruhigt (TO KENON und
TO PLERES), ist primär der Unterschied von Kontinuum und
Diskretion. Diese beiden Momente stehen aber nicht nur in einer
Gegenspannung zu einander, die Diskontinuität, die grenzenhafte
Unterbrechung ist selbst kontinuierlich, sie setzt sich stetig fort,
solange überhaupt ein Feld raumhafter Stetigkeit gegeben ist.
Bewegung setzt des weiteren voraus, dass alles bewegte Seiende
auch in der Zeit ist; jede räumliche Bewegung braucht Zeit,
verbraucht Zeit. Charakteristisch für Ansatz und Durchführung
der zenonischen Dialektik ist die weitgehende Parallelisierung
von Raum und Zeit. Die Zeit kommt in den Blick im Ausgang
vom Raume aus; dieser Aspekt bleibt vorherrschend; Zeit wird
primär als Zeit von Raumvorgängen thematisch, auch wenn mit
dem Problem des Verhältnisses des Langsamen und Schnellen
eine neue Seite der Bewegung: die Geschwindigkeit, sich meldet.
Das Inder-Zeitsein wird im ganzen doch analog dem ImRaumsein
angesetzt. Das besagt aber: die Zeit wird hier noch nicht vor-
wiegend aus dem Bezug zur PSYCHE, zur Seele, bestimmt, wie
dann bei Platon, Aristoteles und vor allem Augustin.

Die eigentliche Problematik von Raum und Zeit, das eigent-


liche Rätsel der Bewegung aber bildet für Zenon der Übergang
von einem Ort zu einem anderen, von einem Jetzt zu einem
anderen Jetzt. Und sofern Im-Raum-sein gleichbedeutend ist
mit an-einem-Ort-sein und ebenso das InderZeitsein gleich-
bedeutend mit in-einem-Jetzt-sein, kann es im Sinne wahr-
haftigen Seins keine Bewegung geben; der fliegende Pfeil ruht.
Zenons radikales Denken kommt aber nicht ans Ende mit der
These, dass die Bewegung = Ruhe ist; er begreift vielmehr, dass
Ruhe selbst nur aus dem Horizont der Bewegung ihren phäno-
menalen Sinn hat; er löst also noch diese Sinnverweisung von
Ruhe und Bewegung selber auf. Bewegung zeigt sich als solche
RUHE UND BEWEGUNG 133

in Hinsicht auf andere Bewegungen (z.B. Gegen-Bewegungen)


und in Hinsicht auf Ruhe; die Ruhe ist selbst ein konstitutives
Moment der Bewegung. Nur im Vergleich zu solchem, was in
Ruhe ist, kann das Bewegtsein von Bewegtem sich vollziehen.
Das ist in keinem Sinne "erkenntnistheoretisch" gemeint, nicht
so, dass wir nur Bewegungen wahrnehmen können, wenn wir zu-
gleich Unbewegtes als Bezugspunkt der wachsenden oder sich
verringernde Abstände mit im Blick haben; etwa die Bewegung
unseres Planeten, die Erdumdrehung nehmen wir nicht wahr, -
wir können sie durch indirekte Methoden wissenschaftlicher
Erkenntnis erschliessen, - ein solcher Schluss bedeutet die
Umkehrung phänomenaler Bewegungsverhältnisse ; für den All-
tag wandert die Sonne am Firmament; die Wissenschaft hebt die
gesehenen Bewegungen nicht auf, aber interpretiert sie in einem
grundsätzlich veränderten Sinne. Wo ein Standort in seiner
Eigenbewegtheit nicht erkannt ist, kann sich das Verhältnis von
Ruhendem und Bewegtem für den Wahrnehmenden völlig
verkehren. Auch die vielfältigen Weisen der Relativität der Be-
wegungen, je nach dem Standort des Betrachters, je nach der
Art der Eigenbewegtheit dieses Standortes, - und auch die'
schliessliche allgemeine Relativität aller Begriffe von "Ruhe"
und "Bewegung", zu der die moderne Wissenschaft mit der
Preisgabe des absoluten Raumes gelangt, - all das ist bezogen auf
die Grundstellung der neuzeitlichen Metaphysik, welche das
Seiende und also auch seine Bewegtheit als "Gegenstand" für
ein vorstellendes Subjekt auffasst. Solche neuzeitlich-
modernen Deutungen der Bewegung dürfen wir aber nicht in
die eleatische Seinsproblematik zurückinterpretieren. Für Zen on
handelt es sich nicht um die "Subjektivität" der Bewegungs-
auffassung, sondern um die ontologische Fragwürdigkeit
der Bewegung. Im Durchgang durch die Problematik der
Bewegung gelangt er nicht zur Behauptung einer allgemeinen
Ruhe, er verneint vielmehr auch noch die Ruhe, soweit sie als
Gegenfall der aktuellen Bewegung eines Seienden genommen
wird. Das ganze Gefüge der Bewegung überhaupt, zu welchem
auch die Ruhe mitgehört, wird in der 4. Paradoxie erschüttert;
die Dialektik der Bewegung terminiert nicht in einer Absolutset-
zung der Ruhe, sondern im Vorblick auf das reine Sein, das EON,
das weder ruhend, noch bewegt ist. Das Bewegungsver-
134 RUHE UND BEWEGUNG

ständnis, das Zenon gerade im Gang seiner dialektischen Prüfung


der Bewegung entwickelt, enthält also folgende Momente: 1. alles
Bewegte muss im Raum sein; 2. alles Bewegte muss in "paralle-
ler Weise" auch in der Zeit sein; 3. alles ImRaumseiende und
InderZeitseiende muss immer an einem Ort und in einem Jetzt
"sein"; 4. die Bewegung des Bewegten steht in einem Verhältnis
zur Ruhe eines Ruhenden. - Dieses Bewegungsverständnis bildet
die Voraussetzung der zenonischen Paradoxien. Es erscheint uns
fast wie eine "Selbstverständlichkeit"; das bedeutet aber nur,
dass wir immer noch in der Bahn jener Interpretation der Bewe-
gung mitlaufen, welche die Spekulation des Eleaten "gestiftet"
hat.

Das mag uns merklicher werden, wenn wir ein wenig darüber
nachdenken. Was bedeutet es denn, zu sagen, alles Seiende,
sofern es beweglich ist, ist im Raume? Was ist das für ein "In-
sein"? Aber wird mit einer solchen Frage nicht etwas Absurdes
gefragt? Man könnte doch antworten, das Insein der bewegten
Dinge im Raume ist nicht ein Fall von· Anwendung eines all-
gemeinen Begriffs von Insein, den wir weißGottwoher haben;
"In-sein" hat vielmehr ursprünglich einen reinen Raumsinn.
Vom Raume her verstehen wir überhaupt erst so etwas wie
In-sein, - der Raum ist das Ur-Beispiel dafür; es ist absurd, eine
Kategorie, die wir vom Raume her verstehen, in ihrer Gültigkeit
für den Raum bezweifeln zu wollen. Mag in dieser Abwehr auch
ein berechtigtes Motiv stecken, so bedarf es doch einer acht-
sameren Genauigkeit. Das Katheder ist im Hörsaal, der Hörsaal
in der Universität, diese in Freiburg, die Stadt in der oberrhei-
nischen Tiefebene, diese in der eurasischen Festlandscholle, diese
in einem Stück der Erdrinde, die Erde im Sonnensystem, dieses
im System der Milchstraße usw.; ist ein solches In-sein aber
gemeint? Ein bestimmt begrenztes, innerräumlich Seiendes ist in
einem größeren Seienden, bildet ein Stück, einen Teil des
umfassenderen größeren Ganzen. Ein größeres Ding (oder ein
Dingzusammenhang) enthält kleinere Dinge und umfängt sie.
Sind nun die räumlichen Dinge im Raum, wie die kleineren Dinge
in den größeren sind? Keineswegs. Die besondere Weise, wie ein
größeres Raumding ein kleineres in sich enthalten kann, gehört
zur allgemeinen Verfassung des ImRaumenseins; diese ist durch
RUHE UND BEWEGUNG 135

jene nicht erklärbar. Eher müßte umgekehrt aus dem Wesen


des Inseins aller Raumdinge im Raume die Art verständlich
werden, wie die Dinge Dinge umfangen und enthalten können.
Das raumhaft Seiende steckt nicht im Raume wie ein Kleid im
Schrank, - nicht wie das Katheder im Hörsaal. Das Im-Raum-
sein der räumlichen Dinge, ihre "Eingeräumtheit", ist ein zwar
immer vertrauter und gleichwohl undurchsichtiger Begriff; wir
gehen ständig damit um, aber durchschauen ihn nicht. Und wo
wir eine Auslegung versuchen, legt sich immer der andere Begriff
des Inseins vor wie eine Barriere.

Auch der Hinweis auf die Doppelnatur des Raumes als Konti-
nuum und Diskretion macht das. problematische Insein nicht
verständlicher. Der Raum ist ein homogenes Feld möglicher
Inhomogeneität, ein Zusammenhang, der von Grenzen durch-
furchbar ist. Aber wie jeweils die faktische Eingrenzung in dieses
Feld des stetigen Zusammenhangs sich vollzieht, wie die Beset-
zung des Raumes durch das Binnenräumliche sich ereignet, das
kann am Leitfaden eines Modells von Behälter und Inhalt,
d. h. eines grösseren und kleineren Dinges niemals zureichend
hegriffen werden. Die Paradoxie des Zenon aber beruht weit-
gehend auf der Nivellierung des prinzipiellen Unterschiedes
zwischen dem Imraumsein der Dinge und dem raumhaften Insein
eines Dinges in einem grösseren Ding. Weil der Rau m unendlich
teilbar ist, muss - nach ihm - auch das Binnenräumliche, die
bestimmte, endliche Strecke im Raum, als Abstand zwischen
zwei Dingen, unendlich teilbar, ja geteilt sein. Der Raum
selbst und das binnenräumlich Seiende haben für Zenon
eine konforme Natur. Die Unendlichkeit des Raumes (nach
innen) hebt die endliche Bewegung auf. Keine Strecke ist
durchlaufbar. Die Endlichkeit des Rauminhalts wird von der
Unendlichkeit der Raumform aufgezehrt. Dass aber überhaupt
eine solche Nivellierung eintreten konnte, zeigt die Vorherrschaft
eines Denkens, das am Binnenräumlichen fixiert bleibt auch dort
noch, wo es das Raumganze zu denken versucht, - zeigt die Vor-
herrschaft einer unausdrücklichen W elt-Blindhei t. Vielleicht
aber hängt die Weltblindheit des eleatischen Denkens gerade aufs
Engste zusammen mit dem, was seine einmalige Grösse ausmacht:
mit der Entschiedenheit und Strenge des Seinsgedankens.
136 RUHE UND BEWEGUNG

Gilt, was vom Raume gesagt wurde, nun nicht auch mutatis
mutandis von der Zeit? Auch hier ist offenbar zu scheiden zwi-
schen der Art, wie überhaupt die Vorgänge, Ereignisse usw. in der
Zeit sind, und der Weise, wie ein Teilvorgang im ganzen Vorgang
enthalten ist. Auch ist es vielleicht fraglich, ob die unendliche
Teilung der Zeit die unendliche Geteiltheit des "Zeitinhaltes"
zur notwendigen, unvermeidlichen Folge hat, - oder ob eine
solche Folgerung nur dann unausweichlich ist, wenn ni eh t prin-
zipiell zwischen der Zeit selbst und dem Innerzeitlichen unter-
schieden wird.

Fragen, die es in diesem Zusammenhang zu bedenken gälte,


wären dann auch solche, die sich mit der von Zen on angesetzten
Parallelisierung von Raum und Zeit auseinandersetzen müssten.
Wird die strukturelle Verwandtschaft von Raum und Zeit nicht
hier übertrieben? Ist auch die Zeit, so wie der Raum, zugleich
kontinuierlich und diskret, zugleich ein Zusammenhang der Ste-
tigkeit und der Diskontinuität? Zunächst wird man geneigt sein,
dies zu bejahen. Wir sagen etwa, die Zeit ist ein unaufhörlicher,
nie abreissender Fluss, ein kontinuierliches Strömen, das nirgends
eine "Lücke" hat, nirgends ein Intervall; ein Ton etwa, eine
Melodie, ein Zeitvorgang kann anfangen und aufhören und
kann Unterbrechungen, Pausen haben, - aber die Zeit selbst in
ihrem Fliessen kann nie "aussetzen", sie muss ja weitergehen,
damit z.B. eine Melodie überhaupt Intervalle haben kann; die
Zeit läuft unaufhörlich, endlos und stetig in sich zusammenhän-
gend ab. Sie ist gleichsam ein endloses Fließband, auf dem alle
Vorgänge und Begebenheiten ihre temporale Stelle haben. Aber
ebenso wie sie kontinuierlich ist, ist sie auch diskret, sie bietet
die innere Möglichkeit vielfältiger Eingrenzungen; sie zerfällt
in eine Unzahl von Weilen, die sich überschneiden; alle Dinge in
der Zeit haben ihre Dauer, die Zeitspanne ihres Verweilens ;
kein endliches Ding erfüllt die ganze Zeit, ist immer und allzeit
im Dauern begriffen. Eine solche Beschreibung der Zeit, die
einerseits den kontinuierlichen Fluss, und andererseits die
diskreten Zeitgrenzen der jeweiligen Dauern und Weilen der
innerzeitlichen Dinge im Blick hat, ist nicht falsch; aber es
bleibt zu fragen, inwieweit die Beschreibung dabei geleitet ist
durch das Vorbild des Raumes, dem hier parallelisierend
RUHE UND BEWEGUNG 137

nachgefolgt wird. Entspricht die Zeit sozusagen in allen wesent-


lichen Stücken dem Raume, - sind Raum und Zeit zwei ver-
schiedene, aber doch verwandte Dimensionen, deren Verwandt-
schaft durch eine weitreichende Entsprechung eben der Struk-
turen der Stetigkeit und der Diskontinuität angezeigt ist? Zwar
wird man nicht bestreiten können, dass sowohl beim Raume, als
auch bei der Zeit Kontinuität und Diskretion zu finden sind,
aber sind sie jeweils in analoger Weise gegeben? Ohne uns jetzt
auf eine eingehende und eindringliche Auslegung einzulassen,
können wir doch einen wesentlichen Unterschied bemerken. Die
Zeit hat in Ansehung ihrer "Teile" nich t primär den Charakter
des Homogenen und Stetigen. Das "jetzt" ist offenbar gegen-
über allem Gewesenen und allem Künftigen ausgezeichnet, hat
einen merkwürdigen Vorrang. Wir müssen die geläufige Vorstel-
lung verabschieden, daß die Zeit gleichsam einer kontinuier-
lichen Linie gleiche, worin es keinen Vorrang eines Punktes vor
dem anderen gebe. Der "Zeitpunkt" des jetzt ist ausgezeichnet,
er ist das Diskrete schlechthin. Zwar kann die Ausdehnung
dieses jetzt selbst fliessend variieren, bald groß, bald kleiner
verstanden werden, - aber das ist ein Unterschied nur für uns.
Aber kein Unterschied für uns ist es, dass das jetzt grundsätzlich
abgebrochenistgegendasVergangene und gegen das Kommende;
als jetzt ist die Zeit primär diskret. Diese Diskretheit der
Zeit ist etwas anderes als die Grenzen der binnenzeitlichen Dinge,
als die Grenzen der Dauern und Weilen. Sofern Zeit jetzt ist
und in einer Abfolge von jetzten verläuft, ist sie selber im-
mer durch ihren inneren Unterschied gegenüber Vergangenheit
und Zukunft bestimmt. Das jetzt ist aber nicht durch den Bezug
zu einem zeitverstehenden Lebewesen bestimmt, nicht durch
das jetzt-Sagen der Seele; das jetzt ist keine bloße Weise, wie die
Seele Zeit zählt und bemisst, - das jetzt ist das weltweite An-
wesen, das alles umspannt, den Stein und den Menschen. Es ist
eine eigentümliche Geschichte, daß im Gang der Zeitinterpre-
tation der abendländischen Philosophie das Zeitverständnis in
steigendem Maße vom Subjekt aus zur Auslegung kommt, - dass
damit der weltweite Sinn des jetzt immer mehr verloren geht
und sich einschränkt. Das kommt zum Ausdruck in der Paral-
lelisierung von Hier und Jetzt. Das Hier ist nicht über-
haupt ein Ort, sondern mein Ort; hier stehe ich und kann nicht
138 RUHE UND BEWEGUNG

anders als Hier-Sagen; aber mein Hier ist vom Anderen her
gesehen ein Dort. Das Hier ist die Weise, wie ein Lebewesen
seinen Ort im Ganzen des Raumes "erlebt". Zwar erlebe ich auch
das Jetzt; sofern ich es erlebe, ist es "meines"; aber ich erlebe es
dabei nicht als allein mir gehörig, sondern als allem Seienden
überhaupt gehörig; jetzt bin ich im Jetzt aller Dinge. Das Jetzt
ist eine Bestimmung der weltweiten Zeit als allumfangender
Gegenwart, in welcher ich jeweils mitgegenwärtig bin mit allem,
was gleichzeitig ist. Das Jetzt hat den grundsätzlichen Sinn einer
universalen Gleichzeitigkeit, es ist szs. nur "punktuell"
gegenüber der Vergangenheit und der Zukunft, es ist die Grenze,
der Riß zwischen beiden und ist doch mehr als nur eine Tren-
nungslinie, es enthält in diesem Moment die ganze Weltweite des
Gleichzeitigen. Mein Jetzt kann niemals das Vergangene oder
Künftige eines anderen sein; alles, was ist, ist in einem und
demselben Jetzt versammelt, sei es ein Regenwurm oder ein Gott;
auch das mächtigste Seiende kann kein eigenes Jetzt haben, so
wie es und auch das geringste der Dinge ein eigenes Hier hat. Die
fälschliche Parallelisierung von Hier und Jetzt, die aufkommt
mit der Betonung des Zusammenhangs von Raum und Zeit und
- Seele, hat ihre großartigste Form vielleicht gefunden in Hegels
Dialektik der "sinnlichen Gewißheit", die er als Dialektik von
Hier und Jetzt entwickelt (Ph.d.G.).19 Die Zei t hat von Hause
aus einen engeren Bezug zur Diskretion als zum Kontinuum,
während der Raum primär dem Kontinuum nahesteht. Raum
und auch Zeit zeigen beide Momente, - aber es wäre zu fragen,
ob eben die Doppelnatur je des Raumes und der Zeit aus ihrer
innigen "Vermischung" zum Zeit-Raum begriffen werden muss,
- oder ob der Raum für sich in gleicher Weise kontinuierlich und
diskret ist wie die Zeit. Das sind Fragen, die wir jetzt noch in
keiner Weise erörtern können, aber die wir streifen wollen, an-
deuten wollen, - weil sie in der von Zenon erstmals vollzogenen
Koordinierung von Raum und Zeit frag-würdig sind.

Was bedeutet überhaupt eine solche Zusammenstellung von


Raum und Zeit? Wie sind sie beisammen? Nebeneinander ?
Heißt das "nebeneinander, wie zwei Dinge im Raume benach-
bart sind? Oder sind sie etwa gleichzeitig, also beisammen, wie
zwei Ereignisse in einer gemeinsamen Weile einbegriffen sind?
RUHE UND BEWEGUNG 139

Kann man denn wirklich sagen: wo Raum ist, da ist auch Zeit-
oder: während Zeit ist, derweilen ist auch Raum? Enthält
nicht jedes Nebeneinander schon Gleichzeitigkeit und jede
Gleichzeitigkeit auch ein Nebeneinander, das nah sein kann wie
das Katheder und die Wandtafel oder auch fern wie wir und der
Sirius? Jedenfalls können wir doch sagen, daß Zenon im Zuge
seiner Dialektik zwar mit dem "Parallelismus" von Raum und
Zeit operiert, aber diesen selbst nicht mehr eigens befragt. -

Bei der Paradoxie vom Ruhen des fliegenden Pfeils aber ist
seine Grundvoraussetzung, daß Binnenräumliches und Binnen-
zeitliches nur so im Raum und in der Zeit sein könne, daß es
jeweils nur einen Ort und ein Jetzt besetze; die stillschweigende
Annahme liegt zugrunde, es könne nicht gleichzeitig an zwei
Orten und nicht im selben Ort in zwei Zeiten sein. In dieser
massiven Formulierung ist das sicher richtig, aber Bewegung ist
die seltsame Weise, wo ein Ding im selben Moment an zwei Orten
ist, d.h. im übergang zwischen zwei Orten sich befindet. Die
Dialektik ist in ihrem negativen Resultat aber nur dann unum-
gänglich, wenn dieses "an zwei Orten sein" gedacht wird als ein
Angelangtsein in zwei Orten. Das ist allerdings unmöglich.
Bewegung ist nicht die gleichzeitige Lage eines Dinges an zwei
Plätzen, ist überhaupt kein Liegen, kein Stillstehen, kein Stand.
Zenon gewinnt seiner Paradoxie die zwingende Schärfe dadurch
ab, daß er die Bewegung auflöst in eine Vielzahl von Lagen.
Aber Bewegung bedeutet gar nie, jetzt und jetzt und jetzt in
einer Lage sein, sondern weder jetzt, noch jetzt in einer Lage
ankommen, - erst mit dem Ende der Bewegung gelangt das
Bewegte in eine Lage. Zenon löst dialektisch die Bewegung in
eine unendliche Anzahl von Ruhelagen auf, um so die Bewegung
in ihr Gegenteil umschlagen zu lassen. Und wenn er in der 4.
Paradoxie das Gegenverhältnis von Bewegung und Ruhe dialek-
tisch aufhebt, dann sind ihm Ruhe und Bewegung primär Weisen
des Inder Zeitseins, - nicht Momente der Zeit selbst.
Auch das bedeutet eine wesentliche Grenze der zenonischen
Problematik.

Grundsätzlich formuliert, die Paradoxien des Zenon, welche


im Ausgang von der Phänomenalität der Bewegung ihre Realität,
140 RUHE UND BEWEGUNG

ihre eigentliche Wirklichkeit leugnen, operieren mit einem unge-


klärten und undurchsichtigen Begriff des Inseins. Das Insein
der Dinge im Raum und in der Zeit wird prinzipiell an binnen-
weltlichen Modellen orientiert. Das Raumganze und Zeitganze
wird in seinem Weltcharakter übersehen. Das Welthafte der
Welt aber erscheint dennoch als die Unendlichkeit von Raum
und Zeit. Weil aber diese Unendlichkeit mit der Endlichkeit
einzelner Raumstrecken und einzelner Zeitstrecken unverträglich
ist, muss Zenon die Bewegung dialektisch aufheben. Das Seiende
in der Welt kann in Wahrheit sich nicht bewegen, weil es dann
unendliche Raum- und Zeit-Tiefen durchmessen müsste. In der
Konsequenz des zenonischen Ansatzes aber würde es liegen, zu
sagen, nicht nur, daß Bewegung nicht ist, sondern daß auch die
Ausbreitung eines Seienden in Raum und Zeit überhaupt und
schlechthin unmöglich ist. Jede endliche Erstreckung, jedes
Ausmaß einer bestimmten Größe eines Dinges muß ja unmöglich
sein. Kein Ding könnte von seiner Kante bis zur Gegenkante
reichen, kein Ding von einem Jetzmoment bis zu einem späteren
andauern. Denn es müsste ja eine unendliche Zahl von Zwischen-
stücken in seiner räumlichen und zeitlichen Ausbreitung durch-
greifen. Auch wenn es ruht, müsste es eine Unendlichkeit von
räumlichen und zeitlichen Punkten durchstehen. In der Konse-
quenz Zenons liegt also nicht nur die Verwerfung der Bewegung,
sondern auch des endlichen Seins von Seiendem über-
hau p t. Alles Binnenräumliche und Binnenzeitliche muss im
Gefolge dieses Ansatzes in der unendlichen Tiefe von Zeit und
Raum ertrinken, wesenlos und nichtig werden. Die Dialektik
Zenons ist eine Dialektik von Zei tun d Rau m, - aus ihrer
Unendlichkeit folgt für ihn die Unmöglichkeit der Bewegung.

Aber ist der Schluß seiner Dialektik "gültig"? Eine solche


Frage zielt nicht auf eine naive "Beantwortung". Es kann sich
nicht darum handeln, bei einem Denker von dem Range des
Eleaten aus unserer Pygmäenperspektive entscheiden zu wollen,
was daran "wahr" oder "falsch" ist. Aber wir können versuchen,
den Voraussetzungen Zenons nachzudenken und sie vielleicht
wesentlicher zu fassen als bisher. Die Bewegung ist das auslö-
sende Problem. Bewegung ist zuerst angesetzt als Ortsbewegung.
Die Unmöglichkeit der Ortsbewegung ergibt sich aus der U n-
RUHE UND BEWEGUNG 141

durchlaufbarkeit eines in sich unendlich sich aufsplit-


ternden Raumes in einer endlichen Zeit; - die Schwie-
rigkeit verschärft sich, wenn das, was man für eine endliche
Zeitstrecke hielt, nun auch seinerseits diese Aufsplitterung
zeigt, - wenn sich also die Unendlichkeit in einer Doppelgestalt
auftut. Das angeblich in Bewegung begriffene Seiende kann gar
nicht bei seinem Ziel ankommen, - weil es erst in den unend-
lichen Raum und in die unendliche Zeit hinein-kommen müßte.

Diese Gestalt des Problems beherrscht Zenons Fragen. Aber


ist es denn in der Tat so, daß das endlich-Seiende erst hinein-
kommen muss in den Raum und in die Zeit? Ist es nicht je
schon "drinnen" - auf eine rätselhafte und das Denken beunruhi-
gende Art? Wird wirklich alles Endliche von seinem Widerspruch
zum umfangenden Unendlichen zerrissen? Oder gilt dies nur,
solange die Unendlichkeit von Raum und Zeit sozusagen
dem binnenräumlichen Ding und dem binnenzeitlichen
Vorgang selbst zugeschrieben werden? Nur wenn Endlich-
sein und Unendlichsein gleichzeitig als spekulative Prädikate der
Dinge genommen werden, muss es zum Austrag dieser unaushalt-
baren Spannung kommen, muss es zur Dialektik kommen, welche
das Endliche als gesetzte Nichtigkeit im Unendlichen aufhebt.
Aber hier müssen wir am Ende umdenken lernen. Gesetzt den
Fall, dass wir eines Tages begreifen lernten, daß "Unendlichkeit"
nichts anderes ist als die waltende Welt, als der Zeit-Raum des
Seins, der alle endlichen Dinge umfängt, durchmachtet und
behütet, - dann würden wir auch verstehen, dass ein endlicher
Raum, ein Raumstück, eine Strecke einzig deswegen durch-
laufbar ist, weil der Raum selber unendlich ist, - dass Achill
die Schildkröte wirklich einholen kann und einholen muss, weil
er durch das Unendliche der vielen Zwischenräume hindurchgeht,
weil er schon drinnen ist und nicht erst anfängt, hineinzukom-
men. Die Endlichkeit einer Raumstrecke widerspricht nicht der
inneren Unendlichkeit des Raumes; die unendliche Teilung
zerreist nicht die bestimmte Strecke, sondern ist nur die Weise,
wie die Welt, wie der ganze Raum und die ganze Zeit in
allem ihren Widerschein hat, was in ihr ist. Alle endlichen
Dinge sind als solche je schon im Weltall- und alle repräsentieren
wie "Spiegel" das Ganze, (was keineswegs bedeutet, dass sie es
142 RUHE UND BEWEGUNG

"vorstellen"). "Vorstellend" verhalten sich Menschen und Götter


zur Welt, - sie wohnen in ihrer Weite, wir in einer Enge, die vom
Schimmer des Offenen überstrahlt wird, jene "droben im Licht".
Aber jedwedes Ding, auch das ärmste und geringste, ist im Gan-
zen und ist von der Macht des Ganzen durchwaltet und getragen;
die Unendlichkeiten von Raum und Zeit durchdringen es, auch
wenn es nur ein geringfügiges Stück Raum und eine elende
Spanne Zeit einnimmt. Diese innere Unendlichkeit zerreißt und
vernichtet das endliche Ding nicht, - es muss an diesem Wider-
spruch nicht zugrundegehen, um schließlich aufzuerstehen im
Absoluten, wie dies im Gefolge der ontologischen Philosophie
geschieht, z.B. bei Spinoza und Hegel. Das Insein der endlichen
Dinge in der Welt ist kein Widerspruch, der entweder im Denken
versöhnt oder in seiner Unversöhnbarkeit ausgehalten werden
müsste; der Riß zwischen Welt und binnenweltlichem Ding ist
immer schon versöhnt, der Streit ist immer schon geschlichtet,
sofern die Welt alles endliche Seiende in ihre Verwahrung ge-
nommen hat. Es braucht nicht heimgeholt zu werden. Es gibt
keine andere Heimat als die Welt.
12

ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN


BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELT-
BEWEGUNG

Der spekulative Gedanke des "Un-Endlichen" ist es, welcher


der eleatischen Philosophie jene ungeheuerliche Kraft der
Negation gibt, die Kraft zur Verneinung der alles-durchwirken-
den Bewegung, die wir doch unmittelbar erleben, - die wir spüren
im Hingang unseres Lebens, gewahren im Fluß der Zeit, der alles
mit sich reißt, der die rosenfingerige Morgenröte verwandelt in
das milde Licht des Abends. Was erleben wir an einem einzigen
Tag nur an Bewegungen? Man kann sie gar nicht alle aufzählen.
Und dieses unabsehbare Gewimmel, dieser Wirbel und Tanz aller
Dinge ist im Grunde gar nicht, hat kein eigentliches und wahr-
haftes SEIN. Diese Negation von Zeit, Bewegung und Raum ist
viel radikaler als irgend eine asketische Weltflucht; der Anacho-
ret ist immer noch den Versuchungen ausgesetzt, auch wenn er
felsenfest an die Eitelkeit und Nichtswürdigkeit des Irdischen
glaubt; der eleatische Denker aber ist überzeugt von der Nichtig-
keit alles Endlichen. Vor dem einen Gedanken des Un-Endlichen
brechen ihm alle endlichen Dinge zusammen, zerfallen in den
Staub, der sie sind; diese Abwertung verliert nichts an Schärfe
dadurch, daß die Dinge in gewisser Weise eine Art von minderem
"Sein" behalten, daß sie nicht gänzlich sich in nichts auflösen,
sich nicht herausstellen als bloße Truggebilde. Im Gegenteil.
Wären sie nur Irrtümer, nur Halluzinationen, die vor dem Blick
des Denkens zerplatzen wie Seifenblasen, so wäre mit ihrer Ver-
nichtung und Auslösung die Spannung beseitigt, - das Denken
wäre ungestört und unbeunruhigt in seinem reinen Element,
wäre beim Unendlichen. Einmal eingesehen, wäre die fiktive
Wahnwelt ein für alle mal beseitigt. Die Einsicht der Philosophie
aber wäre nur eine subjektive Bereinigung unserer Weltvorstel-
lung, nur die Aufhebung unseres trügerischen Wahnglaubens
an endliche Dinge, - wäre nicht die wirkliche ontologische
144 ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN

Einsicht in die Nichtigkeit der Dinge_ Dinge sind, - Raum, Zeit,


Bewegung sind, aber sie sind nicht in eigentlicher und wahrhaf-
tiger Weise, sind nicht "seiender Weise", nicht ONTOS ON.
Wahrhaft seiend ist für die Eleaten nur das UNENDLICH. Kaum
ein Begriff ist durch eine lange Geschichte so abgenutzt, so aus-
gelaugt, so überdeckt von verschiedenartigen Motiven, so schil-
lernd und zweideutig wie eben der Begriff des "Unendlichen".
Jede Zuchtlosigkeit des Denkens, jede wilde Schwärmerei ver-
sucht sich zu legitimieren, indem sie sich auf das Unendliche
beruft; bald wird es mathematisch verstanden, bald mystisch, -
bald wird es als das "Leben" der natura naturans, bald als der
Gott einer positiven Religion gedeutet, oder auch nur als das
Asyl jener docta ignoratia, welche das Absolute auf dem Wege
der Verneinung aller endlichen Prädikate zu umkreisen sucht.
Die Eleaten hatten diese Abnutzungsgeschichte und auch die
Vermengung von Philosophie und Religion, die seit dem Helle-
nismus ihre unheilvolle Rolle spielt und alle Begriffe schillern
läßt, noch nicht hinter sich. Ihre Spekulation ist keine solche,
die über das Unendliche als solches Aussagen macht, aber sie
operiert in einer unbefangenen Art mit dem Gedanken des Un-
Endlichen; das EON wird bestimmt durch Begriffe, die alle Struk-
turen der endlich begrenzten Dinge verneinen. Das Entscheiden-
de aber ist, daß die Eleaten das Unendliche ontologisch den-
ken.

Schon in der ersten Frühe der abendländischen Philosophie,


bei Anaximander von Milet, ist das Unendliche der Grundbegriff
schlechthin. ARCHE TON ONTON TO APEIRON, "der Anfang des
Seienden ist das Unbegrenzte" 20). Das Fragment sagt selbst nichts
mehr weiter aus, wie das Unbegrenzte zu denken sei, - wie es zu
allem Begrenzten, zu den Dingen, steht, die doch in ihm ihren
Anfang haben sollen. Aber die Rede von ARCHE verweist doch
auf ein Verhältnis des Hervorgehens aller begrenzten Dinge aus
dem Unbegrenzten. Und so wäre denn am Ende zu begreifen, daß
Anaximander das Unbegrenzte, das die Dinge hervorgehen lässt
in ihre Vereinzelung und Zeitweiligkeit, - das sie hinausschickt
in den Gang, der schließlich in Untergang, in Tod und Zerstörung
endet, nun selber nennen kann als das Todlose und Unzerstör-
bare, ATHANATON KAI ANOLETHRON. Und ferner, daß das
BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 145

APEIRON, das Unbegrenzte auch der schwer ansagbare Urgrund


ist, "woraus den Dingen das Entstehen und wohinein ihnen das
Vergehen ist, - sofern sie einander Buße zahlen nach der Schuldig-
keit gemäß dem Geheiß der Zeit". Anaximander denkt im APEI-
RON, im Unbegrenzten, noch das waltende Wesen der Welt, die
alle Dinge hervorbringt und wieder in sich zurücknimmt, - denkt
sie als die Gebärerin, als die All-Mutter. Das Verhältnis von
ARCHE und den ONTA ist noch als zeithaftes und raumhaftes, als
ein bewegungshaftes begriffen; die ursprünglichste Bewegtheit
der Dinge ist ihr Hervorkommen und ihr Zurückgehen, ihr Auf-
gang aus dem Unbegrenzten und ihr Untergang ins Unbegrenzte.
Geburt und Tod sind die eigentliche Bewegung, - nicht jene Be-
wegtheit, die den Dingen in der Zwischenzeit zwischen Geburt
und Tod zukommt; der Wurf, der sie ins Dasein wirft, er ist auch
das eigentlich Treibende, was Steigen, Stoßen, Wachsen, Blühen,
Zunehmen, Entfalten bewegt, - und der Griff, der das endliche
Seiende hinabreißt in den Untergang, er zieht auch schon in
allem Fallen, Weichen, Dorren, Abnehmen, Schrumpfen, Wel-
ken. Die beiden gegenläufigen Bewegungen des Aufgangs und
Untergangs gehören der Welt an, sie sind die Weisen, wie sie das
endlich Seiende entläßt in das Zeitweilige eines Eigenstandes und
seinen Eigensinn zerbrechend wieder zurücknimmt. Diese Grund-
bewegungen, die gleichsam "Fangball" spielen mit allen Dingen,
mögen es kleine Menschen sein oder ganze Sternsysteme, sind
keine Bewegungen, die "phänomenal" aufzeigbar wären, die
man vorführen und analysieren könnte wie einen objektiven
Befund. Der Mensch, dieses seltsame Wesen, das im Weltall
geringfügig ist wie ein Staubkorn und doch sich zum Ganzen
verhält, lebt in einer geheimen Mitwisserschaft mit dem Univer-
sum, weiß um das Schöpferische, um die Macht des Hervorbrin-
gens ; er zeugt nicht nur wie das Tier, er weiss um Zeugung, - er
gebiert nicht nur, er weiss um Geburt; und die Lust der Zeugen-
den und der Schmerz der Gebärenden ist kein blosses dumpfes
Gefühl, es ist ein Einverständnis mit aller Zeugung und aller
Geburt - und ist auch schon das Einverständnis mit allem Tod,
mit allem Untergang, von dem jedes Endliche gezeichnet,
sobald es erscheint im Licht. Aus der Mitwisserschaft mit der
produktiven Kraft des Weltganzen ist das Bewegungsverständ-
nis genährt, das aus den wenigen Worten des Anaximander oder
146 ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN

auch aus den Fragmenten des dunklen Heraklit zu vernehmen


ist. Bewegung ist dort noch nicht eingeschränkt auf die binnen-
weltliche Bewegtheit der Dinge, sondern diese ist gerade noch
begriffen aus dem Walten der hervorbringenden und vernichten-
den Welt.

Die Abschnürung des Bewegungsverständnisses aber gegen die


Welt, die Einschränkung auf die phänomenal ausweisbare
Bewegtheit der einzelnen Dinge, vollzieht sich mit der parmeni-
deischen KRISIS von SEIN und NICHTS. Das Unendliche wird zum
spekulativen Richtmaß, an dem die Dinge gemessen werden -
und alsbald in ihrer Nichtigkeit offenbar werden. Das EON, das
SEIEND, wird den vergänglichen, versehrten, bewegten Dingen
gegenübergestellt; aber damit wird zugleich die Bewegung als
solche, die Zeit als solche und der Raum als solcher "heimatlos",
sie scheinen nur noch den Dingen anzugehören und lassen sich
doch niemals wirklich auf das Dingsein der Dinge reduzieren, -
aber sie sind aus dem Wesen des Seins herausgetrieben worden,
sie gehören nicht dem EON an - und auch nicht den Dingen. Die
Gegenstellung von EON und DOKOUNTA, der Graben, den das
Seinsdenken hier aufgerissen hat, hat Raum und Zeit und Bewe-
gung eigentlich in ein Niemandsland verwiesen_ Und die zenoni-
sehe Dialektik vollendet in ungeheuer Konsequenz den eleati-
schen Grundansatz. Die Bewegung ist im eigentlichen Sinne
nicht, weil ein Insein des Endlichen im Unendlichen
unmöglich zu denken ist, - weil das Endliche wie ein Sieb durch-
löchert wird, wenn es zusammengedacht wird mit dem Unend-
lichen. Wir sahen schon, daß hier die zentralen Motive der zeno-
nischen Paradoxa liegen. Das Durchkommen durch einen end-
lichen Streckenabstand ist unmöglich, weil diese endliche
Strecke in Wahrheit in unendliche, in unendlich viele Teilstrek-
ken und Zwischenstücke zerfällt. Das Auge sieht nur ein begrenz-
tes Stück, der Gedanke aber erkennt, daß die scheinbare End-
lichkeit des Augenscheins in Wahrheit eine unausschöpfbare
Unendlichkeit ist. Der Gedanke hat Recht gegen das Auge, aber
nicht deshalb, weil er als ein geistiges Vermögen einem bloß
sinnlichen überlegen wäre; gerade dieses erkenntnis-theoretische
Motiv spielt bei Zenon keine Rolle; der Gedanke hat Recht, weil
an sich nur das Unendliche "ist", - weil ein endliches Sein einen
BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 147

ontologischen Widerspruch darstellt. Die eleatische Problem-


stellung ist beherrscht von der Einsicht in die Unverträglichkeit
des Unendlichen und Endlichen; das besagt aber: sie setzt das
Unterschiedene trotz der entschiedensten Betonung des Unter-
schieds dennoch auf einer Ebene an. Feuer und Wasser vertragen
sich nicht, wenn sie zusammengebracht werden; entweder bringt
das Feuer das Wasser zum Verdampfen oder das Wasser das
Feuer zum Erlöschen. Ähnlich denkt die eleatische Spekulation
das Endliche und Unendliche zusammen; sie können nicht beide
zusammen bestehen; das Wasser des Endlichen verdampft
gleichsam zum Dunst eines in seinem Seinsrang herabgeminder-
ten "Scheins", der zwar nicht nichts, aber auch nicht im echten
Sinne seiend ist. Die endliche Strecke ist nur Schein, der die
unendlichen Abgründe von Zeit und Raum trügerisch verdeckt.
Wenn man diesen Schein ernst nehmen wollte, versänke man
rettungslos im Bodenlosen. Bewegung als ein Durchkommen
durch irgend einen Raum- und Zeit-Teil ist absolut unmöglich.
Eine solche Konsequenz ist aber nur dann zwangläufig, wenn
man, wie es Zenon macht, bei der Unverträglichkeit des Zusam-
menbestehens von Endlichem und Unendlichem ansetzt. Sie ist
nicht unvermeidbar, wenn das Verhältnis wesentlich anders
begriffen wird, nämlich genommen wird als die Weise, wie die
Welt enthält, wie das Universum umfängt, wie es die endlichen
Dinge in sich zum Aufschein bringt, ohne dadurch in seiner
eigenen Unendlichkeit berührt oder gestört zu werden - und auch
ohne die Endlichkeit der Dinge zum bloßen Schein herabzuset-
zen. Gewiss sind auch für ein ursprüngliches Welt denken die
Einzeldinge nicht ein Wirkliches, das absolut in sich selber
steht, - auch hier wird das Endliche als das Vergängliche und
dem Untergang Geweihte genommen; aber solange es weilt und
währt, ist es für sich, - der Tod ist die Macht, die seine Nichtig-
keit vollbringt; die Dinge sind, solange sie weilen, nicht bloß
vermummte Gestalten des Unendlichen, denen das Denken unter
die Maske schauen kann, um sie zu entlarven. Für eine aus dem
An-Denken der Welt lebende Philosophie ist alles Endliche
heimisch im Ganzen, - ist die Welt die Heimat aller Dinge. Das
bedeutet, auf unser Problem hin gesprochen, daß gerade der
Unterschied von Welt und Ding nicht angesetzt werden darf wie
ein Unterschied zwischen Dingen; Welt und Ding, obwohl sie
148 ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN

gerade ein einiges Ganzes bilden, stehen szs. nicht auf der glei-
chen Ebene, sie konkurrieren nicht miteinander, ihre Kategorien
und Prädikate können nicht in einen Widerspruch geraten, weil
gar kein Feld gleichartiger Gegenständlichkeit beides umfaßt.
Wenn der Unterschied von Unendlichem und Endlichem aufge-
faßt wird als der Unterschied von Welt und den binnenwelt-
lichen Dingen, kann es gar nicht zur Spannung der zenonischen
Paradoxien kommen, weil hier gar keine Dimension der Unver-
träglichkeit besteht. Die unendliche Welt (als Raum, als Zeit,
als Grundbewegung des Erscheinenlassens) steht nicht in einem
unverträglichen Widerspruch mit den einzelnen zeitweiligen
Dingen. Sie ist vielmehr ja das, was den Dingen Raum läßt und
Zeit läßt, sie in ihrer Weite ansiedelt, - das Unendliche umfängt
und durchwirkt das Endliche, lässt es sein. Die Strecke ist im
Weltraum, aber dieser ist durch keine Zusammensetzung von
Strecken ausmessbar, auch nicht durch eine "unendliche"
Aneinanderreihung von Strecken und zwar deshalb, weil er über-
haupt keine "Größe" hat, vielmehr alle Größen in ihm sind. Aber
dieses Insein der Strecken in ihm ist wesenhaft anders als die
Weise, wie eine Teilstrecke in einer größeren Strecke vorkommt.
Jede endliche Strecke ist als solche schon im Unendlichen, ohne
dass damit ein Bezugssystem unendlicher Koordinaten mitge-
setzt ist, - und jede endliche Strecke enthält auf eine seltsame
Weise das Unendliche in sich, d.h. ist unendlich teilbar, was
aber nicht ein gegebenes Moment an ihr bedeutet, sondern den
Widerschein der Welt in jedem Binnenweltlichen. Was damit
gemeint ist, kann jetzt noch nicht zur vollen Verdeutlichung
kommen. Die zenonische Dialektik, die den Gegensatz des End-
lichen und Unendlichen in einer unerhörten Schroffheit entwik-
kelt, bleibt aber damit gerade auf dem Niveau der Endlich-
k e i t e n stehen, weil der Gegensatz gleichsam als ein 0 n t i s ehe r
Gegensatz, gleichsam als ein Gegensatz zwischen Dingen
aufgefasst wird, sofern eben das Endliche und Unendliche
unverträglich scheinen. M.a.W. die spekulative Höhe ver-
hindert es nicht, daß das Denken eine Kategorie des Unterschieds
gebraucht, die einer Sphäre zugehört, welche durch die Speku-
lation überwunden sein sollte. Der Hinweis darauf bedeutet
nicht eine überhebliche Kritik. Es gehört vielleicht zur Endlich-
keit aller Philosophie, - zum Tribut, den sie der Gebrechlichkeit
BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 149

der menschlich-allzumenschlichen Natur entrichten muss, dass


sie immer irgendwie hinter sich selbst zurückbleibt, - daß sie mit
den Denkmitteln operiert, die sie überwunden zu haben glaubt.
Platon vergleicht das Philosophieren mit dem Aufstieg aus dem
Dämmer der Höhle ans Licht der Sonne, - in solchem Aufstieg
wird das Sichtbare, das uns zuvor als das Seiende galt, als Schat-
ten und Abbild des wahrhaft-Seienden, der IDEEN bzw. des
AGATHON erkannt. Aber dieses Gleichnis entnimmt die Mittel zur
Kennzeichnung der philosophischen Umwendung der Seele
gerade dem Bereich, der überstiegen werden soll: hier im Sicht-
baren gibt es Urbilder und Abbilder, Schatten, Licht, Feuer und
Sonne. Und ähnlich wird schon bei Zenon, dem Eleaten, die
Unverträglichkeit des Unendlichen und Endlichen entwickelt
am Leitbild eines Zusammenseins endlicher Dinge. Das Insein
einer Strecke im Raum wird prinzipiell so genommen, wie das
Insein einer Teilstrecke in einer größeren; deswegen folgt für ihn
aus der Unendlichkeit des Raumes auch konsequent die Unend-
lichkeit der binnenräumlichen Strecke, - folgt der Widerspruch
der gleichzeitigen Bestimmungen als "endlich" und "unendlich"
- und die schließliche dialektische Aufhebung des Widerspruchs
in der Leugnung der Real i t ä t der Bewegung.

Welches aber ist der eigentliche Grund für diesen Ansatz


zenonischer Dialektik? Es reicht nicht aus, wenn man den
Gedanken der Unendlichkeit und andererseits die methodisch-
endliche Weise, den Unterschied des Endlichen und Unendlichen
zu fixieren, anführt. Entscheidend ist vielmehr die 0 n t 0 log i s c h e
Wendung, die bestimmte Interpretation, welche die Eleaten
dem Unendlichen und Endlichen gegeben haben mit dem Ge-
danken vom "Sein". Sein ist zunächst ganz naiv genommen ein
Zeitwort. Wir sagen von etwas, es ist, und meinen: es ist jetzt,
sagen: es war, und: es wird sein. Ähnlich wie "es läuft", "es ist
gelaufen", "es wird laufen". Daneben gebrauchen wir allerdings
auch das Wort "sein" als sog. "Hilfszeitwort", und anders wieder
als bloße Kopula etwa im Satze "Das Nichts ist ein schwieriger
Begriff". Wenn wir von etwas aussagen, daß es ist, daß esjetzt
ist, sprechen wir ihm Sein zu, wir sprechen ihm eine Teilhabe am
Sein zu, aber sagen doch nicht, daß das Sein jetzt ist und früher
noch nicht und später nicht mehr; sondern was zeitweilig am
150 ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN

Sein teilhat, kann einmal nicht mehr und früher noch nicht ge-
wesen sein. Aber das Sein selbst ist, es kann nie vorbei und nie zu
Ende sein, es muß ständig stehen, in reiner Gegenwart und
Anwesenheit ruhen; das ist die seltsame Wendung des
eleatischen Denkens, daß es ausschließlich dem SEIEND nach-
denkt, nicht irgendwelchen Dingen, die zeitweilig sein mögen.
Und das ist das unerhört Schwere, Schwernachzuvollziehbare,
daß die Seinsspekulation vom Sein aussagt, daß es "ist", daß sie
sich sozusagen im Kreise dreht. Aber dieses Drehen ist nicht das
Unfruchtbare einer langweiligen Tautologie, es ist die einzig
mögliche Weise, wie an dem in die größte Selbstverständlichkeit
Eingehüllten eine Fragwürdigkeit aufleuchten kann. Das SEIEND,
dieses Merkwürdige, das in allen seienden Dingen irgendwie
anwest und doch nicht mit ihnen erlischt und untergeht, das
wird gerade von den Eleaten begrifflich ausgearbeitet in jener
scheinbaren Tautologie. Wenn immer wieder gesagt wird, daß das
Seiend ist, daß das Seiend seiend ist, dann wird dabei erfahren,
daß es nicht nichtig ist, daß es in keiner Weise nichtig ist, - daß
es nicht entsteht und vergeht, d.h. nicht wird, daß es nicht bloß
scheint, - und endlich daß es eins und einig ist mit dem Den-
ken, nicht als einem Vorgang im Menschen, nicht als einer Bewe-
gung, sondern als einem ruhigen Verweilen. Die ontologische
Auslegung des SEIEND führt zur Unterscheidung der wesent-
lichen Horizonte des Seinsproblems : die wir benennen können
als Bezug von Sein und Nichts, Sein und Werden, Sein und Schein,
Sein und Denken. 21) Diese Bezüge bilden fortan den Grund-
riß der abendländischen Philosophie, anders zwar noch vor
Plato, anders in der durch Platon begründeten Metaphysik. Weil
das N ich ts, das Werden, der Schein in der Ontologie der
Eleaten dem Sein entgegengestellt werden, - weil nur das Den-
ken ihm zugesellt bleibt, muss notwendig die Bewegung als mit
dem Sein unverträglich aufgefaßt werden. Die zenanisehen Para-
doxa haben ihre eigentlich zwingende Schärfe eben im Raume
dieses Seinsbegriffs. Sein ist Stand. Die Ständigkeit seines Standes
bestimmt sich nur negativ aus der Abgrenzung gegen das Werden,
gegen das Nichts, gegen den Schein. D.h. aber, es wird nicht nur
dreifach abgegrenzt, sondern diese Abgrenzung interpretiert
jeweils das Nichts aus dem Werden und Schein, und den
Schein aus dem vVerden und Nichts und das Werden
BINNENWELTLICRE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 151

aus dem Nichtes und dem Schein. In dieser kurzen


Formulierung mag das unverständlich klingen, es soll nur ein
Hinweis sein für die, die an der Sache selbst interessiert sind und
die alten Texte wirklich lessen und studieren. Wenn das Sein
primär als Stand begriffen wird, dann wird es zwangsläufig,
daß das Phänomen des überganges, d.h. der Ortswechsel und
Wechsel des Jetzt-Momentes, als das ontologisch schlechthin
Unmögliche erscheinen muss. Das Sein als das Ständige kann
nicht umschlagen, - und auch solches, das am Sein teilhat, kann
nicht umschlagen; diese letztere Konsequenz zieht Zenon.
Damit geht er über Parmenides hinaus. Er nimmt die Unendlich-
keit nicht nur als Charakter des EON, sondern auch als Charakter
von Raum und Zeit. Was er leugnet, ist die Realität des
Binnenräumlichen und Binnenzeitlichen und die Bewegtheit, -
was er aber setzt, ist die unendliche Zeit und der unendliche
Raum; Raum und Zeit aber sind ihm nicht ein zweites Unend-
liches neben dem "Seiend", sondern sind eben das EON. Wieso
Zenon zu dieser Umwandlung des parmenideischen Ansatzes
kommen konnte, wäre nur auf dem Umwege einer Auslegung des
Melissos zu verdeutlichen, von dem ja Aristoteles, wie wir schon
wissen, sagte, dass er das EINE, das REN, mehr KATH'HYLEN,
mehr dem Stoffe nach aufgefaßt habe.

Damit scheinen wir in einen Widerspruch geraten zu sein mit


dem, was wir bislang behauptet haben, wenn wir sagten, die
Seinsphilosophie der Eleaten bedeute die Austreibung von Raum
und Zeit und Bewegung aus dem Wesen des Seins und ihre Ver-
weisung in die Sphäre des "Scheins". Aber es ist zu fragen, ob
Zenon damit wirklich den wesenhaften Raum und die wesenhafte
Zeit im Blick hat, wenn er das EON als unendlichen Raum und
unendliche Zeit bestimmt. Was ist das für eine Unendlichkeit?
Es ist die Unendlichkeit einer unaufhörlichen, unvollendbaren
Teilung, die kein Vorgang ist, der sich vollzieht, sondern die
Bodenlosigkeit schlechthin, das Faß der Danaiden, das nicht nur
wir nicht ausfüllen im Messen mit unseren kleinen menschlich-
allzumenschlichen Krügen, sondern das überhaupt kein endliches
Ding, und sei es das Gewaltigste unter der Sonne, jemals füllen
kann. Zenon entdeckt die leere Unermeßlichkeit von Raum und
Zeit. Aber, so fragen wir bedenklich, ist diese leere Unermess-
152 ONTOLOGISCHE FASSUNG DES UN-ENDLICHEN

lichkeit das Wesen des Weltraumes und der Weltzeit? Oder


bedeutet diese unermeßliche Unendlichkeit nur die gedanklich
radikalisierte Form einer endlosen Erweiterung der binnen-
räumlichen und binnenzeitlichen Sphäre, die wir phänomenal
haben? In der Tat. Es ist jene Unendlichkeit, die Hegel die
"schlechte Unendlichkeit" genannt hat. Wir leben jeweils in
einer Umwelt, die als ein räumlich-zeitliches Feld von Nähen
und Fernen die Dinge einbegreift, mit denen wir es zu tun haben;
sie ist in der Nähe vertraut, man kennt sich aus an seinem
Wohnort, und darüber hinaus durch Reisen, mittelbare Berichte,
schließlich durch Geographie usw.; ebenso ist es mit der Zeit, die
selbsterlebte und selbsterfahrene Zeit bildet gleichsam eine
Nahzone, von der ringförmig Erweiterungen ausgehen, die mit-
telbaren Charakter haben, Berichte, Erzählungen, Chronik,
Geschichte usf.; aber diese Erweiterungen verlieren sich schließ-
lich in einem fernen Ungefähr, das uns wohl noch vertraut ist
seinem allgemeinen Stil, aber nicht mehr seinem Inhalt nach. Die
Naturwissenschaft, sagt man etwa, gibt uns die am weitesten
reichende Kunde von fernen Räumen und fernen Zeiten, als
Astronomie und als Geologie, Urgeschichte u.dgl.; aber schließlich
verliert sich auch hier jede Kunde in der Unermeßlichkeit von
Zeit und Raum. Zwar sehen wir nicht nur in einen Nahraum
hinein, erblicken nicht bloß Dinge, die zu unserem unmittelbaren
Lebensfeld gehören, zu unserer Praxis und Hantierung, sondern
wir sehen auch immer die Wolken am Himmel,die Sterne der Nacht,
- wir sehen je schon in den tiefen, unauslotbaren Raum hinein,
und ebenso wissen wir um die Zeit, die älter ist als alle Ereignisse
in ihr. Vielleicht beschleicht uns auch einmal ein Schrecken vor
dieser Unermesslichkeit und wir fragen uns verwundernd, wie
es überhaupt zu unserem Jetzt und Hier hat kommen können,
wenn von so weit weg der Gang der Zeiten und der Räume hat
beginnen müssen, um schließlich bei uns anzulangen.

Kant nennt es eine erhabene Vorstellung, "wenn das Subjekt


mit dem Gedanken sich über den Platz erhebt, den es in der
Sinnenwelt einnimmt, und die Verknüpfung ins unendlich Große
erweitert, eine Verknüpfung mit Sternen über Sternen, mit
Welten über Welten, Systemen über Systemen, überdem noch
in grenzenlose Zeiten ihrer periodischen Bewegung, deren An-
BINNENWELTLICHE BEWEGUNG UND WELTBEWEGUNG 153

fang und Fortdauer. - Das Vorstellen erliegt diesem Fortgehen


ins Unermesslich-Ferne, wo die fernste Welt immer eine noch
fernere hat, die so weit zurückgeführte Vergangenheit eine noch
weitere hinter sich, die noch so weit hinausgeführte Zukunft
immer noch eine andere vor sich; der Gedanke erliegt dieser Vor-
stellung des Unermeßlichen, - wie ein Traum, daß einer einen
langen Gang immer weiter und unabsehbar weiter fortgehe, ohne
ein Ende abzusehen, mit Fallen oder mit Schwindel endet .. " Zu
dieser kantischen Beschreibung aber sagt Hegel (in der "Logik" 22)
"Diese Darstellung, ausserdem dass sie den Inhalt des quantita-
tiven Erhebens in einen Reichtum der Schilderung zusammen-
drängt, verdient wegen der Wahrhaftigkeit vornehmlich Lob,
mit der sie es angibt, wie es dieser Erhebung am Ende ergeht: der
Gedanke erliegt, das Ende ist Fallen und Schwindel. Was den
Gedanken erliegen macht, und das Fallen desselben und den
Schwindel hervorbringt, ist nichts anderes als die Langeweile
der Wiederholung, welche eine Grenze verschwinden und wieder
auftreten und wieder verschwinden, und so immer das Eine um
das Andere, und eins im anderen, in dem Jenseits das Diesseits, in
dem Diesseits das Jenseits perennierend entstehen und vergehen
lässt, und nur das Gefühl der Ohnmacht dieses Unendlichen
oder dieses Sollens gibt, das über das Endliche Meister werden
will und doch nicht kann". Es gibt keine zutreffendere und auch
vernichtendere Kritik des Erhabenheitsgefühls, das sich an der
leeren Unermesslichkeit entzündet, als Hegels Worte. Aber die
Bedeutung dieser Kritik geht weit über den Aufweis der Hohl-
heit einer menschlichen Stimmung hinaus. Sie ist die Kritik eines
Unendlichkeitsbegriffs, der sich ständig vom Endlichen abzu-
stoßen versucht, es übertreffen will und dadurch gerade an es ge-
bunden bleibt, nur eine unangemessene Verunendlichung von End-
lichkeiten bedeutet, mit einem Worte, eine "schlechte Unendlich-
keit" ist. Dieser schlechten Unendlichkeit stellt Hegel allerdings
eine gute, eine wahrhafte gegenüber, die - wie er meint - kein Mo-
ment des Quantitativen enthalte, nicht jenes Quantitative, das
der Gedanke doch nie ausdenkt, dem er immer erliegt, sondern
eine Unendlichkeit, die dem Gedanken gemäß ist, ja seine eigent-
liche innere Natur ist, nämlich die Unendlichkeit des "Lebens",
das in allen endlichen Gestalten sich auslebt; - was Hegel mit dem
Begriff des "Lebens" aber zu fassen sucht, ist die ursprüngliche
154 ONTOLOGISCHE FASSUNG

Zei t. Das Quantitative kehrt in einer verwandelten Form wieder


zurück. Was das grundsätzlich bedeutet, können wir jetzt nicht
erörtern. Für unseren Zusammenhang aber ist wichtig, dass die
Vorstellung von Unendlichkeit, die sich an der Unermesslichkeit
von Raum und Zeit ·orientiert, immer noch ein Verständnis
bedeutet, das auf die Strukturen des binnenweltlichen Raumes
und der binnenweltlichen Zeit hinblickt, auch wenn im Gedan-
ken die phänomenale Sphäre überschritten wird.,
Mit den zenonischen Paradoxien verfestigt sich die Herrschaft
einer Raum- und Zeit-Interpretation, die auf Jahrhunderte
hinaus die Problematik in dieser Blickbahn festhält. Wenn wir
nun rückblickend zusammenzufassen suchen, was wir bei der
Besinnung auf die Eleaten gewinnen konnten, so war es zunächst
eine erste Einsicht, daß Raum und Zeit und Bewegung keine
Titel für eine unbefangene Analyse darstellen, sondern primär
spekulative Probleme sind, deren Problemort schon vorentschie-
den wird durch die leitende Grundauffassung von SEIN oder auch
von WELT. Eine solche Vorentscheidung haben wir gerade als die
Philosophie des Parmenides kennen gelernt. Auf ihrem Boden
entwickelt Zenon eine großartige und noch immer unwiderlegte
Dialektik von Raum und Zeit und Bewegung. Dabei ist nicht
nur das negative Resultat dieser Dialektik von Bedeutung,
sondern auch das explizit werdende Bewegungsverständnis. Die
Bewegung wird nach wesentlichen Momenten in den Blick
gebracht. Sie ist Raumdurchmessung, Zeitdurchmessung ; jedes
Seiende ist im Raum und ist in der Zeit, hat einen Ort und ein
Jetzt, und dennoch wechselt es Ort und Jetzt, es schlägt um, von
einem Ort in den anderen, von einem Jetzt in ein anderes; das
entscheidendste Moment der Bewegung ist der Übergang, der
Umschlag, die METABOLE. Und ferner zur Bewegung gehört ein
wesenhafter Bezug zur Ruhe; nicht allein deswegen, weil die Be-
wegtheit eines Bewegten sich erst gegen die Ruhe abhebt, sondern
weil sie in sich selbst ein Ruhendes haben muss. Bewegung kann
nur sein, wenn sie an etwas ist, das ihr zugrundeliegt, - das bleibt,
während der Wechsel geschieht. Das sagt, jede KINESIS muss ein
Bleibendes, das in ihr sich erhält, haben, ein HYPOMENON. Damit
haben wir eine Reihe von Begriffen genannt, die in der aristoteli-
schen Auslegung der Bewegung fundamental sind. Aristoteles be-
deutet den Höhepunkt des antiken Bewegungsverständnisses.
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT
ALS UNBEWÄLTIGTES PROBLEM
PLATON: METAPHYSIK DES NOUS

Unsere Besinnung auf Raum, Zeit und Bewegung steht unter


der Führung der geschichtlichen Frage nach der Herkunft der
abendländischen Ontologie. Die Ausbildung der Ontologie er-
möglicht nicht nur einen bestimmten Stil der Behandlung der
Probleme von Raum, Zeit, Bewegung, - sie stiftet in der unge-
heuren, eruptiven Gewalt, mit welcher die Seinsfrage zum Durch-
bruch kommt, eine Blickbahn von bedenklicher Zweideutigkeit.
Die reinen Weltmomente werden in gleichem Maße unterdrückt,
wie das Sein als das Ständige und Beständige, als das Stehend-
Insichruhende, allzeit Gegenwärtige und Anwesende, als das
Unbewegte und Ewige bestimmt wird: Raum, Zeit, Bewegung
sinken herab zu Charakteren des Endlichen, des Nichtigen, des
Scheinhaften; sie gehören nunmehr in das Reich des Werdens.
Aber daß es überhaupt ein solches Reich des Werdens gibt, eine
Sphäre des Scheinens, - dass das Sein nicht selbstgenügsam in
sich vollendet ist, sondern jenes Nichtige durchwalten muss, dass
das heile Sein die vom Rost der Vergänglichkeit zerfressenen
Dinge braucht, um gegen sie in seiner Herrlichkeit und Ständig-
keit zu bestehen, das zeigt die Unvertilgbarkeit von Raum, Zeit,
Bewegung; der Gedanke kann nicht im reinen Aether des Abso-
luten bleiben, nicht deshalb, weil wir, die Denkenden, endlich
sind, sondern weil das Absolute, sofern es sich gegen das Endliche
und Nichtige und Scheinhafte und Bewegte absetzt, selbst davon
mit-bestimmt wird. Wie in alten, grausamen Zeiten oft ein
Mensch lebend eingemauert wurde in das Fundament einer Tem-
pelburg, auf dass sein Opfertod den Bestand verbürge, so ist in
das Fundament der Ontologie das lebendigste Leben, das Leben
des Weltalls, eingemauert worden. Aber das so Unterdrückte
und Versenkte meldet sich immer wieder in der gleichsam un-
terirdischen Spannung, die allen ontologischen Begriffen anhaf-
156 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN-RAUM UND ZEIT

tet; Raum und Zeit und Bewegung haben eine heimliche Macht
auch dort, wo sie offen verleugnet werden; in den operativen
Begriffen der Seinsphilosophie spielen sie ihr verborgenes Spiel.
Raum, Zeit, Bewegung gelten zwar als die "Felder" für die end-
lich begrenzten, zeitweiligen Dinge, welche das Sein nicht halten
können, die wie flüchtige Wellen auftauchen und verschwinden,-
aber sie selber sind nicht endlich wie die Dinge in ihnen; der
Zeit-Raum der Nichtigkeiten erweckt das Gefühl des "Erhabe-
nen"; in seiner "Unermeßlichkeit" erliegt der Gedanke. "Der
bestirnte Himmel über mir" und "das moralische Gesetz in mir",
das Erhabene in der Form des Äusseren und des Inneren: diese
Inkonsequenz war es, wie wir sahen, die Hegels bissigen Spott
gegen Kant erregte. Es stehen sich da gleichsam zwei "Absoluta"
gegenüber: die intelligible Welt und das unermeßliche Ganze von
Raum und Zeit; und das Denken wird zwischen beiden hin- und
hergerissen, wie Buridans Esel zwischen zwei Heubündeln. Aber
Hegels Spott ist nur insoweit im Recht, als er die Form der
"schlechten Unendlichkeit" bekämpft, die Form der langweiligen
Wiederholung, welche hinter jeder Fernzone immer eine noch
fernere ansetzt. Die Raum- und Zeit-Unendlichkeit ist dabei
nur als "Grenzenlosigkeit im Fortgange der Anschauung", als
unaufhörliche Repetition binnen weltlicher Erweiterungen gefaßt
- und eben nicht als wahrhafte Unendlichkeit des Welt-Alls. Die
Welt - U nendlichkei t aber ist gerade das Gedankenmotiv,
das als innere Unruhe in aller Ontologie am Werke ist, das unaus-
drücklich ihre Entwürfe stört, zuweilen als Mene-Tekel auch
offenbar wird in den Mitternachtstunden der seinsbegrifflichen
Geschichte.

Ein Durchgang durch die Geschichte der Ontologie unter die-


sem Gesichtspunkt, gleichsam mit dem "bösen Blick" für die
mannigfachen Formen der Weltverleugnung, stellt eine Aufgabe
dar, die immer unumgänglicher wird, je ernster die Seins frage
selbst genommen wird. Auf diese Aufgabe will die Schrift nur
hinzeigen und einige hinweisende Vorbesinnungen durchführen.
Wir versuchten daher zuerst den Anfang der Ontologie unter
diesem Blickwinkel zu betrachten; Parmenides bedeutet die
schicksalhafte Entscheidung, daß der Gedanke des SEINS gleich-
sam ohne seinen SPIEL-RAUM, ohne die Welt gedacht wird und
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 157

in solcher Weltlosigkeit fortan zum Grundthema der abendlän-


dischen Philosophie wird; die Welt wird nur noch in einer nicht-
ursprünglichen Dimension gesehen, wird als der Bereich des
Erscheinenden, als das Feld der DOKOUNTA, als DoxA-Welt
aufgefaßt; in solcher DoxA-Welt allein ist Entstehen-Vergehen,
Ortsbewegung und Wandel der leuchtenden Farben zu Hause;
das Herz aller Dinge, das EON, ist unbewegt, ist jenseits des Wer-
dens_ Bei Zenon, dem Eleaten, wird die parmenideische Trennung
zwischen der dem reinen Denken vernehmbaren Dimension des
SEIEND und dem Bereich der sinnlich wahrnehmbaren Einzeldinge
radikalisiert zu einem ne g a ti v e n Verhalten der Vernunft zu
Raum, Zeit, Bewegung; Zenon bildet die Dialektik aus in jener
Form der gedanklichen Destruktion aller Wahrheit der Sinne.
Bewegung ist unmöglich, weil der Gedanke um die Unendlichkeit
jeder Strecke weiß. Sie wird zwar gesehen, gespürt, - aber solches
Sehen und Spüren ist unwahr und wesenlos. Vor dem Gericht
der Vernunft ist Bewegung als Durchlauf durch einen in sich un-
endlich zerteilten Raum unmöglich, mögen auch tausend Achilles
tausendmal die langsamen Schildkröten überholen. Der Beweis
des Augenscheins zählt nicht, weil die Bestreitung überhaupt
nicht im Bereich des Augenscheins behauptet wird. Der Augen-
schein sieht auch nicht die unendliche Teilung, welche zum Raum
und zur Zeit gehört. Wir sehen vielmehr Strecken, Abstände,
Entfernungen, wir sehen die Ausgebreitetheit räumlicher Kör-
perdinge im Raume, wir erleben mannigfach die Dauern und
Weilen von Vorgängen, Ereignissen, Begebenheiten. Wir rechnen
auch schon alltäglich mit diesen Strecken und Dauern, sagen von
einem Weg, er sei zwei Stunden weit usf.; das messende Umgehen
macht sich nicht klar, daß mit dem Gebrauch der messenden
Zahl schon die Unendlichkeit von Zeit und Raum gesetzt ist,
- daß nun schon jedes Stück in Hälften und diese wieder in Hälf-
ten zerfallen; das Maß der Zahl setzt, paradox genug, die Uner-
meßlichkeit des Auszumessenden. Die Zahl setzt das, worin sie,
die reine Schöpfung des Gedankens, ertrinken muß, sie setzt jenes
Abstrus-Unendliche, das sich durch keine Wiederholung aus-
schöpfen läßt. Die von Zen on gedachte Raum- und Zeit-Unend-
lichkeit ist eine seiende Unendlichkeit, eine solche, die "ist",
ja die nicht nur an der Ständigkeit des IST teilhat, sondern die
gerade diese Ständigkeit des IST, des EON selber ist. Wenn Parme-
158 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT

nides die Ausbildung des reinen Seinsgedankens unter Absehen


vom Spielraum des Seins war, dann bedeutet Zenon den ge-
waltsamen und entschiedenen Versuch, den Weltspielraum, also
das Feld und die Gegend des Seins, unter die Herrschaft des
Seins zu bringen_ Mit Zenon kommt endgültig jene Verdre-
hung zustande, welche das Ursprünglichere unter die Botmäßig-
keit des Abgeleiteten stellt; mit ihm gewinnt die Ontologie ihren
prinzipiellen Stil: sie wird selber universal, der KOSMOS wird ein
ontologisches Spezialproblem, - wie es dann später deutlich
wird, wo die Kosmologie zu einem Sonderproblem der"metaphy-
sica specialis" neben Psychologie und Theologie herabsinkt; das
ist aber nicht erst eine Entwicklung, die in der Schulphilosophie
des 18. Jahrhunderts hervortritt und bedeutsam ist, weil sie
den Aufriss der "Kritik der reinen Vernunft" bestimmfe, sondern
diese Tendenz ist unverkennbar schon in der griechischen Philo-
sophie der klassischen Zeit ausgeprägt, ist bereits bei Platon und
Aristoteles, also bei den Begründern der Metaphysik, am Werk.
Jene Tendenz ist zenonisches Erbe. Zen on ist nicht bloss ein
geistreicher Sophist, kein Freund verblüffender Paradoxa, um
damit harmlosen Epheben zu imponieren, er ist kein eristischer
Fallensteller, wie gross man im allgemeinen auch die griechische
Neigung zu solchen Dingen einschätzen mag, Zenon ist der Vor-
läufer der Metaphysik. Er hat die Behandlung des Weltpro-
blems in die Bahn der ontologischen Erörterung gedrängt, - er
hat die Weltunendlichkeit von Raum und Zeit umgedeutet in
eine seiende Unendlichkeit infinitesimaler Teile, eben
in der Paradoxie einer unaufhörlichen Teilung, die nicht als ein
Prozeß sich vollzieht, sondern immer schon sich vollzogen hat
und als perfekte Unendlichkeit nun selbst "steht".

Bei unserer Betrachtung der zenonischen Paradoxa ergaben


sich einige Grundbegriffe, die fortan zum Arsenal der Raum- und
Zeitspekulation gehören, in mannigfachen Verwandlungen immer
wiederkehren. Das ist zunächst der Begriff des "Inseins" . Von
seiner Zweideutigkeit haben wir schon ausführlich genug ge-
sprochen; er schillert zweideutig, weil die Weise, wie ein Ding im
Raum und in der Zeit ist, gemeinhin nicht unterschieden wird
von der Weise, wie im Raum und in der Zeit ein Ding in einem
anderen Ding, oder eine Strecke in einer anderen Strecke ist.
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 159

Das Insein des Seienden in Raum und Zeit wird aufgefaßt als
Vorkommen an einem Ort und in einem Jetztmoment. Das be-
dingt einen eigentümlichen Vorrang der Lage und des Jetzt in der
gesamten Spekulation; denn der Ort und die Präsenz eines Dinges
sind nun die Weisen, wie es "ist", - es jeweils hier-haft und jetzt-
haft ist. In Jetzt und Hier drängt sich gleichsam das ganze Sein
von Zeit und Raum zusammen, es ballt sich. Diese Ballung be-
herrscht weitgehend das metaphysische Verständnis von Raum
und Zeit, - es ist schon vorbereitet in der parmenideischen Be-
stimmung des EON als Kugel, als SPHAIRE. Das binnenräumliche
Moment des Hier und das binnenzeitliche Moment des Jetzt
spreizen sich gleichsam auf, gebärden sich als das allein Wirk-
liche an Raum und Zeit; die Raumganzheit und Zeitganzheit tritt
in das Dunkel eines kaum beachteten Hintergrunds. Und dazu
gehört ferner, daß die Weise der Durchdringung von Raum und
Zeit als Koppelung aufgefasst wird, als ein Parallelgefüge, als ein
Doppeljoch eines gemeinsamen Gespanns. Dieser Parallelismus
bleibt ein unbewältigtes Problem, das die ganze Geschichte der
metaphysischen Raum- und Zeit-Theorien durchzieht. - Der
Vorrang von Hier und Jetzt einerseits und die parallele Koppe-
lung von Zeit und Raum andererseits bewirken den "erhabenen"
Charakter der Unermeßlichkeit, über den Hegelseinen Spott goß.
Mit dieser Unermeßlichkeit wiederum hängt aufs Engste zusam-
men die grundsätzliche Bewegungsauffassung der Ontologie und
Metaphysik, wonach diese eben eine Durchmessung von Raum
und Zeit sei, d.h. aber prinzipiell irgendeine Strecke des zuvor
schon bestehenden Raumes durchlaufen müsse, und ebenso
hinsichtlich der Zeit. Bewegung wird grundsätzlich, weil sie als
Bewegtheit beweglicher Dinge angesetzt wird, aufgefasst als
Bewegung im Raum durch eine Raumstrecke hindurch, wobei
eine parallele Strecke von Zeit verbraucht wird. Die Bewegung
kommt so von vornherein in einen abgeleiteten Aspekt.

Warum bezeichnen wir eine solche Deutung als fragwürdig


oder gar als abwegig? Gibt es denn andere Bewegungen, die ur-
c;prünglicher sind? Wir sprachen schon davon und nannten die
entscheidendste Bewegung den Wurf, der alle Dinge ins
Dasein wirft, und damit verschlungen den Zug, der alle
Dinge wieder hinabzieht, die Bewegung jenes Weges hinauf
160 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT

ins Erscheinen und hinab ins Verlöschen; das aber sind nicht
zwei getrennte, in einer parallelen Gegenbezüglichkeit zusammen-
gespannte Bewegungen, sondern ist in Wahrheit eine einzige; das
Aufscheinen des Seienden ist schon sein Vergehen; alles, was
leuchtet im Licht, gehört schon dem dunklen Gott des Todes,
aber deshalb nur, weil Hades derselbe ist mit Dionysos; HODOS
ANO KATO MIA KAI HAUTE, "der Weg hinauf und hinab ist
einer und derselbe" gemäß dem Spruche des Heraklit. (Diels,
Frg.60).

Aber diese Grundbewegung der allesbringenden und alles-


nehmenden Horen steht nicht als ein abgegrenztes "Phänomen"
uns gegenüber, wir können diese Bewegung nicht gegenständlich
fixieren und von einem ruhigen Standort aus betrachten - wir
sind immer von ihr mitgenommen - und deswegen sehen wir
sie auch nicht so in phänomenaler Eindeutigkeit wie Fall und
Stoß, Blühen und Welken, Wolkenflug und Blitz. Wir sehen sie
so wenig, wie wir die Erdumdrehung sehen. Dieser Vergleich
hinkt. Schon bei den phänomenalen Bewegungen haben wir den
bekannten und uns geläufigen Unterschied von Dingen, die sich
vor uns, in unserem Gesichtskreis bewegen wie etwa die Sonne
am Firmament, der vorüberhuschende Vogel, das vorbeirau-
schende Wasser, und von Bewegungen von Dingen, an denen wir
selbst teilnehmen. Wir sind ja inmitten der uns umgebenden
Dinge nicht angepflockt, wir haben die mannigfaltigsten Möglich-
keiten der willkürlichen Ortsveränderung ; wir können uns ruhig
verhalten, stillst ehen und die bewegten Dinge an unserem Stand-
ort vorüberziehen sehen; wir können andererseits uns herum-
bewegen, und erfahren dann den Wechsel der Abstände, der
Distanzen zu den festliegenden Dingen, als durch uns bewirkt;
wir unterscheiden unsere Eigenbewegung von der Ruhelage oder
den Bewegungen fremder Dinge; und wir haben fernerhin die
Möglichkeit, ohne Eigenbewegung bewegt zu sein, eben wenn wir
von einem bewegten Ding getragen und so mitgenommen wer-
den. Der erste Mensch, der sich auf den Rücken eines Pferdes
schwang oder einen Einbaum bestieg, machte die Erfahrung der
mittelbaren Bewegtheit; diese Mittelbarkeit hat nun ver-
schiedene Grade; der Reiter oder der Seefahrer wissen um ihre
Bewegtheit, sie ist selber phänomenal einsichtig; wir Erdbewoh-
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 161

ner wissen aber nicht im selben Sinne um unser Mitgenommen-


sein von der Erdumdrehung ; dieses Wissen ist ein Resultat wissen-
schaftlicher Beobachtungen und auf mathematische Berechnungen
gestützter Schlüsse; die phänomenale Sphäre wird aber grund-
sätzlich anders in der Wissenschaft überstiegen als in der Philo-
sophie. Deswegen hinkt der vorhin gemachte Vergleich. Die
Grundbewegung des Erscheinens aller Dinge im Zeit-Raum und
ihres Wegsinkens aus dem Erscheinen kann kein "Phänomen"
sein - nicht weil sie mittelbar wäre und erst durch indirekte
Methoden erschlossen werden müßte, sie ist vielmehr zu unmittel-
bar, als dass wir sie gewahren; denn in ihr bildet sich erst der
Bereich der "Phänomene". Die Behauptung einer solchen phäno-
menal nicht feststellbaren und kontrollierbaren Grundbewegung
begegnet notwendig einem Mißtrauen. Ein solches Mißtrauen ist
berechtigt und gut, wenn es eine Maßnahme der Vorsicht ist,
es ist aber schlecht, wenn damit eine Gedankenfaulheit legiti-
miert werden soll, welche beim Augenschein verharrt, ohne über
die Voraussetzungen des Augenscheins nachzudenken. Das "Phä-
nomen" kann nie der Weisheit erstes und letztes Wort sein.

Das ontologisch-metaphysische Denken über die Bewegung,


das jeweils seinen Ausgang nimmt von den schon seienden Bewe-
gungen eines Dinges in den schon bestehenden Dimensionen von
Raum und Zeit, bleibt gleichwohl durch die Frage nach dem
Anfang dieser Bewegungen beunruhigt, nach dem Moment des
Anstoßes; d.h. es macht die Unterscheidung zwischen einer ge-
suchten bewegenden Bewegung und einer bewegten Bewe-
gung, zwischen einem reinen Anfangen, in-Gang-Setzen, und den
in Gang befindlichen Bewegtheitsformen. In dieser Problematik,
die wir ebenso bei Platon als bei Aristoteles finden können, ver-
birgt sich jene Grundbewegung, die aller phänomalen
Gegebenheit voraufliegt, weil sie erst Phänomene bringt und weg-
nimmt. Diese rätselhafte Grundbewegung versteckt sich gleich-
sam in dem Charakter des Fertigseins von Raum und Zeit.
Das will sagen: weil das gängige Bewegungsverständnis orien-
tiert ist an der Bewegtheit von Dingen im Raum und in der Zeit,
erscheinen Raum und Zeit selbst als das Bewegungslose, als ste-
hende Formen, fertig vorhandene Dimensionen, in denen sich
die vielerlei Bewegungen abspielen. Im Rückblick von den bin-
162 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN-RAUM UND ZEIT

nenräumlich und binnenzeitlich bewegten Dingen aus scheint


Raum und Zeit etwas Ruhendes zu sein. Aber vielleicht ruhen
sie nur, weil sie aus der Optik des binnenweltlichen Standortes
betrachtet werden. Vielleicht ist der Raum und die Zeit gerade
das Eigentliche an der Bewegung. Vielleicht geschieht als Raum
und als Zeit die wahrhafte Bewegung der waltenden Welt, näm-
lich die Raumeröffnung, das Raumgeben, wodurch alles Seien-
de in den Raum eingeräumt wird, - und die Zeiteröffnung, die
Zeitigung, das Zeitlassen, das allem, was in ihr kreucht und
fleucht, die Weile zumißt. Gesetzt den Fall, Bewegung sei ur-
sprünglich das Räumen und Zeitigen, dann müsste offenbar jede
Bewegungsinterpretation zu kurz tragen, welche Raum und
Zeit als fertig vorhandene Stellensysteme ansieht, in denen sich
Bewegungen als Wandlungen des Raum- und Zeit-Inhaltes be-
geben.

Was wir in der behutsamen Form des "Vielleicht" aussprechen,


ist die Auffassung, zu der wir uns bekennen. Man kann sie als
"mythisch" deklarieren, oder als pseudo-mythisch; ein solches
Etikett ist genau so viel wert wie ein subjektives "Bekenntnis".
Kein Denkender aber, solange er noch einen Hauch "intellek-
tueller Redlichkeit" verspürt, will jemand anderen zu einer
Glaubensposition überreden. Was er suchen kann, ist, wenn es
hoch kommt, eine Basis gemeinsamer Fragen, eine dialogische
Situation. Und wenn es im Felde der Philosophie keine "Autori-
täten" gibt, so sagt das nur, daß alle, wenn sie wirklich fragen,
der gleichen Bedrohung ausgesetzt sind; man darf aber diese
"Gleichheit" nicht verdrehen in das billige Räsonnement, dass
jeder auf seine Art eben Recht habe. Kierkegaard hat über das
Thema geschrieben: "Über das Erbauliche des Gedankens, daß
wir vor Gott immer Unrecht haben"; im Unrecht ist jeder, der
denkt; - der Einwand, den wir gegen den prinzipiellen Ansatz
der ontologisch-metaphysischen Tradition hinsichtlich des Be-
wegungsverständnisses machen, entspringt nicht der Meinung,
darüber hinaus zu sein; er formuliert in vielleicht allzu-thetischer
Art eine Frage, der nachzugehen ist, die als Frage noch einer
zureichenden Entfaltung bedarf. Worauf es hier ankommt, ist
nur die Weckung einer Bedenklichkeit, nichts weiter. Ist in
der Tat "Bewegung" ursprünglich genug begriffen, wenn sie
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 163

genommen wird als ein Ablauf, als ein Ereignis, als eine Begeben-
heit, die je schon in der zuvor fertigen Gefügeform von Raum
und Zeit abrollt? Ist Bewegung Raum-Durchmessung, Zeit-
Durchmessung - oder ursprünglicher: Raum- und Zeitbildung ?

Bestimmt durch die Wucht der parmenideischen Seinslehre


hat Zenon Raum und Zeit primär vom "IST" aus interpretiert,
den Vorrang des Hier und Jetzt proklamiert und so Raum und
Zeit zu einem bestehend-beständigen Feld der Unendlichkeit
umgedeutet, das wegen seiner bodenlosen Tiefe keine Bewegung
als Durchmessung, ja nicht einmal die Ausbreitung von Seiendem
im Raum und in der Zeit zuläßt. Diese Konzeption bestimmt nun
auf eine schwerlich zu überschätzende Weise die platonisch-
aristotelische Raum- und Zeitlehre. Obgleich diese Denker in
vielen Stücken zu anderen Lösungen gelangen, so ist doch der
Stil ihres Problemansatzes dadurch geleitet. Das soll verdeutlicht
werden in einer Erörterung der aristotelischen Spekulation über
Raum, Zeit und Bewegung, nicht allein deshalb, weil hier das
antike Bewegungsverständnis auf seinen Gipfel kommt, sondern
auch weil hier spekulative Tiefe und phänomenale Analyse sich
seltsam verschwistern, weil der abstrakte Gedanke immer den
konkreten Anhalt bekommt, von dem er abspringen kann, - weil
das Verständnis sich ungemein anreichert durch konkrete Einzel-
züge, obgleich es gar nicht auf das Einzelne als solches ankommt,
- das gerade eine Transparenz sondergleichen erhält vor dem
kühlen, hellen und doch durchdringenden Blick dieses Denkers,
dessen Nüchternheit ebenso verführerisch ist wie Platons bild-
starker Enthusiasmus. Aber das Wesentlichste ist, daß bei Aris-
toteles, dem größten Systematiker der antiken On tologie, die
Problematik der W el t durchschimmert - und zwar gerade im
Zuge eines universalen Begreifens der Bewegung. Aristoteles stellt
damit nochmals in Frage, was Platon mit dem Vorrang der Idee
vor dem Sinnending, mit dem Vorrang des Seins vor dem Wer-
den festgesetzt hatte.

Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick wenigstens noch


auf Platons Auffassung von Raum, Zeit, Bewegung werfen.
Gewiß ist ein solcher flüchtiger Hinblick etwas sehr Missliches.
Er kann unter Umständen mehr verwirren als klären; aber wir
164 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT

brauchen ihn, um einige Motive, die dann bei Aristoteles in ver-


wandelter Form wiederkehren, in der vorläufigsten Form doch zu
verstehen. Der "Ort" der von uns gesuchten Probleme ist dort
der Bereich der Sinnendinge, der ONTA GIGNOMENA. Die Einzel-
dinge kommen und gehen, entstehen und vergehen, wandeln sich,
nehmen zu und ab, vollführen Ortsbewegungen, teils aus eigener
Kraft wie die Lebewesen, teils werden sie bewegt wie der gewor-
fene Stein oder der abgeschossene Pfeil. Diese Sinnendinge sind
in einer unablässigen Bewegung begriffen; auch wenn sie ruhen,
sind sie beweglich; diesen Einzeldingen stehen nun die reinen
Formen gegenüber, die Anblicke, die EIDE, die "Ideen"; diese
sind unbewegt und unveränderlich, bleibend und ständig; die
Ideen sind in "seiender Weise seiend", die Sinnendinge dagegen
haben nur auf eine abgeleitete Art teil am Sein, sie sind in unechter,
in schlechter Weise nur seiend, d.h. eben nur zeitweilig und be-
grenzt. In einer solchen dichotomischen Aufgliederung scheint
das Problem der Bewegung einfach entschieden zu sein: hier die
bewegten Sinnendinge, dort die unbewegten Ideen. Aber gerade
die Frage nach der Art und Weise, wie denn das so Verschiedene
dennoch in einem Abbildverhältnis stehen könne, wie das Unbe-
wegte im Bewegten "anwesen" und dadurch doch nicht selbst
seine Ständigkeit verlieren soll, - dieses Problem der Teilhabe,
der METHEXIS bildet die erregende Problematik, die Platon bald
aus der ersten Zweiteilung des Alls des Seienden in Bewegtes und
Unbewegtes heraustreibt. Die platonische Spätphilosophie ist
gerade dadurch charakterisiert, daß die statische Grundauffas-
sung immer mehr einer dynamischen weicht, - daß es bei der
einfachen Sphärentrennung von Ideen und Sinnendingen gar nicht
bleiben kann, - dass eine Vermittlung zwischen dieser Dimension
immer dringlicher wurde. Als dieses "Mittlere" zwischen dem
Immerseienden und dem nur Zeitweiligen erkennt Platon den
KOSMOS; er wird begriffen als das Ganze der endlichen Dinge;
aber dieses "Ganze" ist nicht einfach eine Summe, die mit den
Elementen dieser Summe gleichartig wäre; das Ganze ist viel-
mehr etwas prinzipiell Anderes als die Dinge im Ganzen; der
KOSMOS steht in seiner Seinsart zwischen den Ideen und den ver-
gänglichen Sinnendingen ; er ist ein selber bleibendes Abbild des
wahrhaft Bleibenden; er bleibt so, wie überhaupt höchstenfalls
ein Seiendes, das nicht Idee ist, bleiben kann: er verharrt, er dau-
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 165

ert unabsehbar; er bleibt in der Zeit. Während der KOSMOS


verharrt, kommen und gehen die Dinge in ihm, - während er
dauert, wechseln die Weilen der binnenweltlichen Dinge, wo
eines aufgeht, geht ein anderes unter, über allem Wandel und
Gang bleibt das umgreifende Ganze. Der KOSMOS aber ist für
Platon nicht selbst ein Ewiges im strengen Sinne, - denn er ist
entstanden, - aber einmal entstanden, ist er unvergänglich. Der
KOSMOS ist entstanden durch die einrichtende Kraft des NOUS,
er ist das Werk des Demiurgen; Demiurg aber ist der NOUS, nicht
irgend eine freie schöpferische Vernunft, die am Anfang über den
Wassern des Chaos schwebte; der NOUS ist ursprünglich die Seins-
weise des AGATHON, des Guten, - welches für Platon die höchste
Idee, die Idee aller Ideen ist; das AGATHON gewährt den IDEEN
nicht nur Erkennbarkeit, es lichtet sie nicht nur, es gibt ihnen
selbst das wahrhafte Sein, - als das Sein-Gebende ist das AGA-
THON "EPEKEINA TES OUSIAS", ist es "jenseits der Seiendheit";
d_h. es ist nicht etwas, was ist, es ist das Sein selbst, das sich
zunächst prismatisch bricht in der Vielheit der Ideen und doch
in allen ist, - und es ist auch der Grund für das Dasein der ver-
gänglichen Dinge, die durch die EIDE geprägt und bestimmt sind.
Das AGATHON ordnet die Welt, richtet sie ein; und bei dieser Ein-
richtung, bei dieser Ordnung der Sinnendinge in ihrem chaoti-
schen Wirbel ungezügelter Bewegtheit blickt der Demiurg vor
auf das ständig-Seiende d_h. auf die Idee, auf das AEI ON, auf das
Immerseiende, das nie wird, sondern immer ist; im Hinblick auf
das Ständige der Idee ordnet nun der Demiurg die wirbelnden
und regellosen Dinge zu einem Ganzen, - er bildet den Kosmos,
indem er eine Regel der Bewegung schafft; der Kosmos ist
primär die in sich kreislaufende Bewegung, ist der Umschwung
des Himmels, der Himmelskörper, die mit ihren Bewegungs-
maßen alles bestimmen, was unter dem Himmel ist, - die jegliches
zur rechten Zeit rufen und fallen lassen, Wachstum und Schwund,
Üppigkeit des Sommers und winterliche Brache bewirken_ Wir
können hier nicht die Grundzüge der platonischen Weltlehre
dartun, wie sie vor allem im "Timäus" entwickelt werden; es
soll nur soviel deutlich werden, dass die Problematik von Zeit
und Bewegung zumindest mehrdeutig geworden ist. Denn
"Bewegung" ist offenbar jetzt nicht mehr ausschließlich behei-
matet im Bereich der Sinnendinge, - anders ist sie doch als Be-
166 DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT

wegung des Himmels, als der Umschwung des Kosmos; dieser


Umschwung stellt doch im Vergleich zu der isolierten Bewegung
des einzelnen Dinges eine Grundbewegung dar, in welche die
vereinzelten Bewegungen zwar hineingehören, aber die sich
doch nicht aus den vielen erst zusammensetzt; eher ist es umge-
kehrt, daß die Bewegtheit des Vielen aus dem einen Umschwung
des einen Himmels hervorgeht. Und ganz anders als die Himmels-
bewegung und die in ihr gründende Bewegung der Dinge ist die
Bewegung des planenden-ordnenden NOUS, des Demiurgen der
Welt. Aber es wäre eine unzulässige Vereinfachung, wollte man
jetzt einfachhin drei verschiedene Bereiche von wesensverschie-
denen Bewegungen unterscheiden; für Platon stehen diese drei
Bereiche nicht zusammenhanglos nebeneinander, - im Gegen-
teil, ihr Zusammenhang ist das zentrale Problem.

Platon versucht diesen inneren Zusammenhang aufzudecken in


der Orientierung am NOUS. Die Bewegung des NOUS ist für ihn die
ursprünglichste Bewegung, gleichsam die Ur-Bewegung. Platons
Begriff des NOUS hat sich bereits von dem parmenideischen weit
fortentwickelt. Parmenides sagt, daß NOEIN und EINAI in einem
Selben versammelt sind; aber dieses Selbe ist die haltende Macht
der MOIRA, der ANANKE, der schicksalhaften Notwendigkeit,
welche das SEIEND festhält in ehernen Banden in seiner Unbe-
wegtheit und Ständigkeit. NOUS und ANANKE bedeuten für den
Eleaten keinen spannungsreichen Gegensatz. Wohl aber für
Platon. Und das bedeutet, dass die Vernunft, der NOUS in die
Sicht einer veränderten Grundauffassung hinübergeglitten ist,
welche von der Freiheit und von der Bewegung her bestimmt ist.
Der NOUS ist für Platon das eigentlich Bewegende, er ist nicht
in Bewegung, sondern solches, das in Bewegung setzt, das
anstößt, bewirkt, Bewegliches zur Bewegung antreibt. Im
X. Buch der "NOMOI" 23 macht Platon darüber die wesentlichsten
Aussagen. Er unterscheidet dort 10 Arten von Bewegungen.
Zunächst sieht das aus wie eine Bestandsaufnahme phänomenaler
Unterschiede, so wenn unterschieden wird die Kreisbewegung
eines Körpers an derselben Stelle von der gerichteten Bewegung,
die von einem Ort zum anderen übergeht, dann die aus beiden
gemischte Bewegung, dann weiter die Bewegung des Zusammen-
stoßes zweier Körper gegeneinander, wodurch Zersprengung oder
DAS IN-SEIN VON SEIENDEM IN RAUM UND ZEIT 167

auch Verschmelzung statthaben kann, ferner Bewegung des


Gräßer- und Kleinerwerdens, des Zunehmens und Schwindens.
Aber dann zählt Platon - anscheinend - als neunte Art von Bewe-
gung eine auf, die überhaupt nicht eine Art neben den bisher ge-
nannten ist, sondern die Struktur aller genannten bedeutet: alle
aufgezählten Bewegungen vollziehen sich so, daß sie jeweils etwas
in Gang setzen, aber nur weil sie zuvor selber in Gang gesetzt
sind. Etwa der fallende Stein schlägt ein Loch in den Boden, er
bewegt das Erdreich, aber er ist selbst bewegt worden - und so
immer zurück. In allen Bewegungen setzt sich eine frühere Be-
wegung weiter fort. Diesen Stil im Ganzen nennt Platon die Be-
wegung, die zwar anderes in Bewegung zu setzen vermag, aber
eben sich selbst nicht, - und davon unterscheidet er nun die eigent-
liche und allein wahrhafte Bewegung, jene, die sich selbst in Gang
bringt. Dieses reine Sichselbstanfangen der Bewegung spricht
er einzig dem NOUS zu. Der NOUS aber kommt dabei in einen inni-
gen Zusammenhang mit der ZOE, mit dem Leben, genauer noch
mit dem belebenden Prinzip des Lebens: mit der PSYCHE.

Die PSYCHE, die Seele, die nicht als menschliche Einzelseele,


sondern als Leben des Ganzen genommen werden muß, bildet
von Platon ab den entscheidenden Horizont des Bewegungspro-
blems - und auch der Frage nach der Zeit.
BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS

Der Unterschied zwischen einer bewegenden Bewegung und


einer bewegten Bewegung, den wir bei unserem flüchtigen Hin-
blick auf die platonische Auffassung kennen gelernt haben, hat
zunächst einmal einen gewissen Anschein von eingängiger
Verständlichkeit. So im Ungefähren versteht man es. Aber dieses
Ungefähre ist gerade die eigentliche Gefahr für die Philosophie.
Es ist das machtvolle Medium, das unser Leben einhüllt, das uns
erlaubt, unsere Tage hinzubringen, obgleich wir wahrhaft im
Leeren hängen, nicht wissen, woher wir kommen und wohin wir
gehen, - obgleich wir wie verschlagen sind auf diese unbegreif-
liche Erde, nicht den Sinn der Leiden erkennen und nicht die
Liebe gelernt haben und das Geheimnis des Todes so wenig
durchschauen wie das offenbarste aller Geheimnisse: daß es
überhaupt Seiendes gibt. Das "Ungefähre" aber ist nicht bloß
jene nachlässige Weise des Obenhin-Verstehens, nicht das
Ungenaue und Verschwommene. In der Mathematik z.B. gibt es
auch das Phänomen des ungefähren Verstehens, - aber dort ist es
bestenfalls eine Art von Antizipation, - man ist einem Zusam-
menhang auf der Spur, aber hat noch nicht den Beweis; das
Ungefähre muss sich dort verwandeln in das Genaue, die instink-
tive Intuition in den lückenlos geführten Beweis. Das aber ist in
der Philosophie nicht im gleichen Sinne möglich. Das Ungefähre
unseres alltäglichen Seins- und Welt-Verständnisses wird in der
Philosophie nicht in das Genaue eines gesicherten Wissens ver-
wandelt, - im Gegenteil: das scheinbare Verständnis wird in der
Verwunderung, welche nach Aristoteles der Anfang der Weisheit
ist, aufgebrochen und zerbrochen, - wir erfahren vor allem die
Frag-Würdigkeit; wir erleben, wie der Boden weicht, der uns
bisher trug. Und die Besinnung führt uns immer tiefer in die
Bodenlosigkeit hinein. Diese Grunderfahrung der Bodenlosigkeit
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 169

ist aber nicht das "Unglück der Philosophie", nicht das hoff-
nungslos Traurige jenes melancholischen Geschäfts, das schon zu
Sokrates Zeiten die Jünglinge verdorben hat, die "Bodenlosig-
keit" ist vielmehr gerade die Weise, wie "Sein", "Welt", "Wahr-
heit" uns aufgehen, wie sie als das Umfangende erfahren wer-
den, - als die ungeheuren Dimensionen, in denen denkend das
menschliche Dasein schwingt. Platons Unterscheidung zwischen
der bewegenden und der bewegten Bewegung ist eine Unter-
scheidung des Denkens. Das sagt: dieser Unterschied wird nicht
unmittelbar vorgefunden und einfach aufgelesen. Es ist im eigent-
lichen Sinne gar kein "phänomenaler Unterschied". In dieser
platonischen Unterscheidung verbirgt sich eine Problematik,
welche die ganze antike Spekulation in Unruhe hält; das Denken
müht sich, hinter die Bewegtheit des einzelnen, endlichen Seien-
den, d.h. hinter die Bewegtheit der Dinge, zurückzudenken -
und diese ganze Bewegtheit der Dinge in allen ihren Formen aus
einer Grundbewegung her zu verstehen. Das Mühsame und
schwer Durchschaubare der platonisch-aristotelischen Bewe-
gungslehre liegt darin, daß diese Denker im Ausgang von der
Bewegtheit endlicher Dinge auf die ursprünglichere Bewe-
gung, welche die Dinge bedingt, zurückgehen - und so von diesem
Ausgang her die Kategorien mitbringen, die für die Ur-Bewegung
versagen.

Versuchen wir, uns den genannten Unterschied zwischen bewe-


gender und bewegter Bewegung deutlicher zu machen. Zunächst
wird man wohl sagen, der Unterschied zwischen "bewegend" und
"bewegt" ist doch anscheinend nicht eine Differenz im Wesen
der Bewegung überhaupt, als vielmehr eine Differenz des Seien-
den, das in Bewegung ist; nicht die Bewegung als solche ist bewe-
gend oder bewegt, sondern das Seiende ist entweder bewegend
oder bewegt. Etwas bewegt ein anderes. Das Stoßende bewegt
das Gestoßene. Das eine tut, das andere leidet. Das eine ist tuend
in Bewegung, das andere leidend in Bewegung; Tun und Leiden
sind zwei verschiedene Weisen des "In-Bewegung-seins". Das
Tuende aber ist, sofern es bewegt, bewegend ist, doch auch
zugleich bewegt; es kann nur anderes bewegen, auf anderes
einwirken, wenn es selber aus seiner Ruhelage herausgeht, z.B.
das andere stößt. Und umgekehrt, auch das Gestoßene, das
170 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

Leidende, kann nur bewegt werden, wenn es zugleich seinerseits


bewegend ist, d.h. wenn es den Stoß, den Druck weitergibt. Als
Gestoßenes ist es zugleich auch Stoßendes. Das Leiden ist hier
zugleich auch ein Tun. Und zwar nicht nacheinander, nicht so,
als ob es zuerst erleiden würde und dann auch seinerseits zu einem
Tun überginge, - nein, es ist überhaupt nur soweit leidend, als es
zugleich tuend ist. Tun und Leiden, unterschieden als Weisen des
In-Bewegung-seins, verklammern sich so innig, daß nur ein Unter-
schied des Richtungssinnes übrig bleibt: die· Bewegung des
Gestossenen ist vom Stossenden her betrachtet ein Leiden,
während die gleiche Bewegung, von dem zweiten Gestossenen her
gesehen, ein Tun ist. Aber, könnte man einwenden, das gilt in
dieser zugespitzten Weise eigentlich doch nur vom Stoß, der
eben das Eigentümliche hat, daß die Stoßbewegung sich fort-
pflanzt, -dass das Gestoßene seinerseits weiterstößt, bis schließ-
lich die Stoßenergie am Widerstand des Gestoßenen sich erschöpft.
Es sind, könnte man sagen, eben nur Zwischenstadien, wo
jene Verklammerung des Aktiven und Passiven statthat, - man
müßte die ganze Stoßbewegung als ein einheitliches Phänomen
nehmen und käme dann zu einer sicheren Ausscheidung des
Tuenden und des Leidenden. Das Leidende im strengeren Sinne
wäre eben dann nicht das Ding, das gestoßen seinerseits den
Stoß weitergibt, sondern das Widerständige überhaupt. Und
ähnlich wie beim Stoß wäre es auch bei einigen anderen Bewe-
gungen, etwa beim Phänomen des Wärmens; das Wärmende
wärmt, aber das Gewärmte wärmt seinerseits, gibt die Wärme
weiter, leitet; diese Weiterleitung erschöpft sich schließlich.
Anders aber ist es offenbar beim Schneiden. Das Schneidende
und das Geschnittene stehen in einem anderen Verhältnis; das
Geschnittene schneidet nicht wieder seinerseits. Hier liegt eine
Fülle interessanter Phänomene. Aber wie immer es damit stehen
mag, ob nun der Unterschied des Tuenden und Leidenden bei
einer bestimmten Bewegungsart ein relativer oder ein absoluter
ist, das Tun und das Leiden sind nicht zwei isolierte \Veisen des
In-Bewegung-seins, sondern sie sind notwendig in einem festen
Bezug zu einander. Bewegtes kann es nur geben, wo es Bewegen-
des gibt und umgekehrt. Das hat mit einer formal-logischen
Implikation beider gegenbezüglichen Begriffe nichts zu tun. Das
Tun ist der Sache nach auf das Leiden bezogen; Tun ist Überwäl-
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 171

tigen von Widerstand und schließlich am Widerstand Sicher-


schöpfen. Das ist der Grundriß aller endlichen Kraft. Die
endliche Kraft ist es, die gemeinhin unser Bewegungsverständnis
bestimmt: der endliche Impuls, der Stoß, der Fall, der Wurf, die
abgeschlossene Handlung, die ins Ziel kommt. Das sagt: es sind
die phänomenalen Bewegungen der Dinge, die wir kennen, mit
denen wir vertraut sind. Zum Vertrautheitsstil gehört das be-
kannte Wechselverhältnis von Bewegung und Ruhe. Die Dinge
können daliegen, ruhen und plötzlich in Bewegung übergehen,
wenn eine auslösende Ursache wirkt. Die Felswand, die lange
schon drohend überhängt, kann sich plötzlich lösen und als
Steinlawine zu Tal donnern. Die Windstille kann wie mit einem
Schlage weg sein und ein Sturm aufziehen; das Reh, das in der
Mittagshitze im Dickicht ruht, steht gegen Abend auf, um sein
Futter zu suchen. Natürlich wissen wir, dass die Plötzlichkeit
solcher Bewegungseinsätze nicht "grundlos" geschieht, - daß
Verwitterungsvorgänge die Felsen gelockert, - dass thermische
Vorgänge in der Atmosphäre den plötzlichen Sturm bringen,
- dass der Hunger das Reh aufstört. Aber am Wechsel von Ruhe
und Bewegung haben wir gleichsam das Schema, das uns eine
endliche Umgrenzung der Bewegung erlaubt. Eine Bewegung
hebt an aus der Ruhe und endet wieder in Ruhe. Ein Ding ist in
Bewegung zwischen zwei Ruhelagen. Ruhe ist Pause der Bewe-
gung, wie Bewegung Unterbrechung der Ruhe ist. Diese über-
schaubare Bewegung bildet den Prototyp, der die gewöhnliche
Bewegungsinterpretation leitet. Gleichwohl wissen wir auch im-
mer schon, daß diese abgegrenzten Bewegungen nur Phasen in
unabsehbaren Bewegungskontinuen darstellen, - dass das, was
wir so gewöhnlich Ruhe nennen, nur ein Modus der Unauffällig-
keit fortgehender Bewegung bedeutet; wir wissen, daß seit
unvordenklichen Zeiten die großen Bewegungen in Gang sind: die
kreisenden Gestirne, der Umlauf der Jahreszeiten, die Rhythmen
des Wachstums, die alles Lebendige durchwalten; - wir wissen,
daß die kleinen, abgegrenzten Bewegungen letztlich in diesen
großen gründen, wissen, daß kein Sperling vom Dache fällt und
kein Haar von unserem Haupte, ohne daß ein solch kleines
Geschehnis im Gang der Natur, in ihrer großen Gesamtbewegung
mitbegründet ist. Aber es ist von prinzipieller Bedeutung, dass
wir gewöhnlich jene große, unabgeschlossene und unüberblick-
172 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

bare Bewegung der Natur doch am Leitmodell des kleinen


Bewegungsvorgangs auslegen.

In etwas schwierigerer Form hat dies auch statt in der Bewe-


gungstheorie von Platon und Aristoteles: zwar wird dort der
wesentliche Unterschied zwischen der PERIODOS OURANOU, dem
Umschwung des Himmels, und der Bewegung der Dinge unter
dem Himmel gesehen, - aber methodologisch leitet die binnen-
weltliche Bewegungsauffassung das Verständnis der Bewegung
des Alls. An der binnenweltlichen Bewegung, am einzelnen
Bewegungsvorgang, der in einer phänomenalen überschaubar-
keit gegeben ist, kann man also zunächst die Momente abheben
eines aktiv-tuenden Dinges und eines leidenden Dinges. Tun und
Leiden verteilt sich dann an zwei verschiedene Dinge, etwa an
den Billardstock und die Billardkugel. Tun und Leiden hat in
diesem Zusammenhang einen ganz allgemeinen Sinn, meint also
nicht ein ichliches Tun, ein bewusstes und willentliches Tun,
und ebenso auch kein Leiden, das ein Leid ist. Es ist der Unter-
schied von KINEIN und KINEISTHAI. Das eine Ding ist ein Bewe-
gendes, KINOUN, das andere ein Bewegtwerdendes, KINOUMENON.
Aber der Billardstock, welcher die Kugel stößt, ist seinerseits
geführt von der Hand des Spielers, er ist also in anderer Hinsicht
selber ein KINOUMENON, wie auch die Billardkugel, welche die
zweite anstößt, ein KINOUN ist. Aber eine solche Aufteilung an
zwei verschiedene Dinge übersieht, daß ein Bewegendes nicht
dann und wann zufällig auf ein Bewegtwerdendes auftrifft, das
außer ihm bleibt, sondern daß es in sich schon die Verweisung auf
das Widerständige hat, an dem es seine Kraft ausläßt. Wir
können also zusammenfassend sagen: der Unterschied des Bewe-
gens und des Bewegtwerdens ist zunächst einmal ein Unter-
schied der Weisen, wie Seiendes "in Bewegung ist"; das so in
Bewegung begriffene Seiende sind die endlichen Dinge; ihre
Bewegungsweisen sind die endlichen, überschaubaren, phäno-
menalen Bewegungen.' die durch die Grenzpunkte der Ruhen
eingegrenzt werden; das bedeutet: es ist nicht primär die
Gesamtbewegung aller Dinge in der einen all-umfangenden Be-
wegung des Ganzen, sondern die binnen-weltliche Bewegung,
die das Leitmodell der Bewegungsauslegung liefert; die Gesamt-
bewegung erscheint in der Perspektive der Himmelsbewegungen
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 173

(ob sie damit angemessen erfaßt ist, bleibt offen); am begrenzten


Bewegungsvorgang unterscheiden wir "Tun" und "Leiden",
genauer ein Tuendes und ein Leidendes; aber diese so Unter-
schiedenen stehen nicht isoliert neben-einander, sondern sie sind
wesenhaft aufeinander bezogen, was aber nicht ausschließt, daß
sie gleichzeitig in anderer Hinsicht die Charaktere des Tuenden
und Leidenden vertauschen. Tun und Leiden bildet einen fun-
damentalen Wesenszug der Bewegung überhaupt.

Aber nun bedarf es einer Einschränkung. Gewöhnlich verstehen


wir doch das Tun als AKTION; das meint jetzt nicht als Tun
eines Täters, aber als Tun, das in sich selber ein Vorgang, ein
Geschehen, ja eine Bewegung ist. Der Stoßende ist im Vorgang
des Stoßens in Bewegung, oder der Werfende holt aus zum Wurf.
Aber muss das Tuende in Bewegung sein? Kann es nur bewegen,
anderes bewegen, sofern es selber in Bewegung ist? Oder gibt es
eine \Veise des Bewegens, wo das Bewegende als solches ruh t?
Zuerst mag man wohl antworten, ein Ruhendes kann nicht bei
anderem Bewegung hervorrufen, es sei denn als die scheinbare
Ruhe, womit eine Last auf anderem lastet, in Wahrheit aber
einen ständigen Druck ausübt, unter welchem die Unterlage
schließlich zerbricht, in Bewegung gerät; dann wird nur sichtbar,
was zuvor als Ruhe aussah, aber eigentlich eine aufgestaute
Druckspannung war. Solche Spannungsentladungen, wird man
vielleicht sagen, täuschen uns vor, dass ein Ruhendes Bewegun-
gen auslösen kann. Der Blitz kommt nicht aus heiterem Himmel,
sondern aus einem elektrischen Spannungsfeld ; die Ruhe vor dem
Sturm ist die höchste Steigerung einer Spannung, die zur Ent-
ladung drängt. Aber unsere Frage war gar nicht so gemeint,
nicht geht es darum, ob ein Ruhendes eine Bewegung auslösen
kann, ohne selbst in Bewegung zu geraten, wenn Bewegen
grundsätzlich als ein sich weiterpflanzender Bewe-
gungsanstoß verstanden wird. Ein Stoßendes muss sich bewe-
gen, um anderes zu bewegen. Aber ist eben der Stoß die einzige
Grundform des Bewegens? Aristoteles stellt dieser Grundweise
des Bewegens eine andere als gleichen, ja schließlich als höheren
Ranges entgegen; es ist die \Veise, wie das Ziel bewegt, das TELOS,
zu welchem jeweils die Dinge unterwegs sind, sie in ihrer ihnen
einwohnenden Zielstrebigkeit auf sich zu zieht, ohne dabei
174 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

selbst in Bewegung zu geraten. Das Ziel steht still- und übt doch
den stillen Zug auf alles, was ihm zustrebt. Man hat diese
"Endursache" des Aristoteles, die "causa finalis" der schola-
stischen Terminologie, viel verspottet, so vor allem im Zeitalter
der Ausbildung der "Nuova scienza", der neuen Wissenschaft der
neuzeitlichen Naturerklärung; Endursachen, teleologische N a-
turdeutung galten als ein "Aberglauben"; als einzig legitime Art
der "Kausalität" wurde die "Ursache" im engeren Sinne, die
"causa efficiens", anerkannt, und diese zunächst auch nur als
in unmittelbarer Nahwirkung wirkend; zögernd nur entschloß
man sich zur Anerkennung von Fernkräften, - und heute ist man
bereit, erneut das Problem der Endursachen zu diskutieren,
zumindest in der Biologie. Das Missliche dieser Situation ist
nur, dass der gängige Gegensatz von causa efficiens und causa
finalis eine populäre Trivialisierung darstellt und nicht mehr
aus dem genuinen Problemverständnis des Aristoteles erwächst.
Der "unbewegte Beweger" des Aristoteles ist das, was dem
platonischen Gedanken der IDEA TOU AGATHOU entspricht, aber
verwandelt wurde im Zuge eines entschiedenen und umfassenden
Durchdenkens der Bewegung überhaupt. Der eigentliche Sinn
dieser aristotelischen Konzeption liegt nicht klar und eindeutig
zutage, er stellt ein schwieriges und dunkles Problem dar; dieses
Problem ist nicht gelöst, je nachdem es gelingt, wirkende End-
ursachen aufzuweisen, die Zielstrebigkeit des Verhaltens der
Lebewesen dokumentarisch zu belegen.

Für Aristoteles verbirgt sich in der Thematik des unbewegten


Bewegers nicht eine Sonderfrage, sondern das Problem der all-
haften Ganzheit aller Bewegungen überhaupt. Zunächst handelt
es sich nur darum, zu fragen, ob das Bewegende immer und not-
wendig selbst in Bewegung sein muss, wenn es anderes bewegen
will, oder ob es auch in der Weise des Unbewegtseins bewegen
kann. Der Hinweis auf die allerdings uns nicht ohne weiteres
einsichtige Art, wie ein Telos, ein Ziel, ein Worumwillen, ein HOU
HE:K'EKA, "bewegt", auf sich zu "zieht", macht zumindest die
Selbstverständlichkeit fragwürdig, wonach wir vom Bewegenden
eben gewöhnlich immer sagen, es sei "in Bewegung". Bewegendes
kann sowohl in Bewegung bewegen, als auch unbewegt bewegen.
In der bisherigen Betrachtung ist der Unterschied des Bewegen-
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 175

den und des Bewegten ein reiner Unterschied, der zum allge-
meinen Wesen der Bewegung überhaupt gehört, gleichgültig,
um welche besonderen Bewegungen besonderer Dinge es sich
handelt. Es spielte keine Rolle, welchem Bereich, welcher Region
das bewegende und bewegte Ding angehört, ob es ein Stein, ein
Baum, ein Mensch oder eine Maschine ist. \Venn man aber diese
Bereiche mit in Betracht zieht, ergeben sich neue Gesichtspunkte
der Unterscheidung. Von einem Stein sagen wir etwa, er ist
bewegt, wenn er die Berghalde herunterrollt, oder wenn er ver-
witternd auseinanderfällt; zumeist liegt er ruhig an seinem Platz,
erst unter Einwirkung von Kräften, die seine Ruhe stören, gerät
er in Bewegung; er wird von außen in die Bewegtheit hineinge-
stoßen; er kann die Bewegung nicht selbst einleiten, er kann
nicht von sich aus anfangen, zu rollen. Er ist zwar immer ein
Bewegliches, aber erst dann ein Bewegtes, wenn auf ihn äussere
Einwirkungen statthaben, die ihn anstoßen. Anders, sagt man,
ist es doch offenbar bei Pflanze und Tier und Mensch; sicherlich
sind auch hier die Weisen sehr verschieden, aber das Lebendige
überhaupt hat die Kraft, sich in Bewegung zu setzen, "aufzu-
brechen"; die Pflanze wendet sich zur Sonne, ihre Wurzeln
suchen den feuchten Grund; sie wird nicht nur von außen bewegt,
vom Wind gebeugt, vom Regen benetzt, sie bewegt sich aus
einem inneren Lebensprinzip heraus, sucht die günstigen Bedin-
gungen ihres Wachstums, ihrer Entfaltung; sie bewegt sich; in
einer anderen und gesteigerten Art bewegt sich das Tier, es sucht
die Beute, den Geschlechtspartner, es flieht den Feind; und wieder
anders und doch in gewisser Weise analog wie alle anderen
Lebewesen bewegt sich der Mensch; er hat die Lebensbewegun-
gen der vegetativen Vorgänge, der animalischen Dränge und
Triebe - und darüber noch die willentlichen; er hat die Freude
und Qual der Wahl, er kann jenes lassen, dieses tun, kann sich
in Bewegung setzen, kann stillstehen ; er kann aus eigenen
souveränen Willensimpulsen Bewegungen in Gang setzen, neu
anfangen - oder anhalten. Weil er aber nicht nur seinen Körper
willentlich durchwaltet, sondern mit diesem leiblichen Walten
mit eingreift in die Bewegtheit der Dinge, beeinflußt er die Be-
wegungen, die bereits schon im Lauf sind, oder eröffnet neue
Ketten und Folgen von Ereignissen. Aus dem Bezirk des Leben-
digen also strömen neue Bewegungsimpulse in die schon ablau-
176 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

fenden mechanischen Bewegungsprozesse ein; Pflanzen, Tiere,


Menschen wirken, sofern sie Bewegungen anfangen, sie beginnen
damit Bewegungsreihen. Im Blick auf diese Fähigkeit des Leben-
digen, Bewegungen "anzufangen", primär sich zu bewegen und
durch die Vermittlung des Leibes auch Dinge ausserhalb des
Leibes, könnte man diese ganze Typik der Lebensbewegungen
"bewegende Bewegungen" nennen - im Gegensatz zur Bewegung
des Steins, die immer von aussen angestoßen werden muss und
daher eine bewegte Bewegung eher ist. Eine solche Bezeich-
nung hätte unleugbar ein gewisses Recht; aber es handelt sich
dabei um einen phänomenalen Unterschied, um die Differenz des
Bewegungsstils des Leblosen und des Lebendigen. Sicher stecken
darin große und bedeutsame Probleme; aber diese müssen wir jetzt
ausser Acht lassen. Wir suchen zu verstehen, was Platon mit der
"bewegten Bewegung" meint. Der Gegensatz des Bewegenden
und des Bewegten ist, wie wir sahen, einmal ein gegenbezüg-
liches Strukturgefüge der Bewegung überhaupt (KINOUN und
KINOUMENON): an jeder Bewegung ist zu unterscheiden das
Bewegende und das Bewegte, - wobei das Bewegende einmal
selber in Bewegung sein muß, dann aber auch in Unbewegt-
he i t bewegen kann; zum anderen aber weist die Rede hin auf
eine phänomenale Differenz der Bewegtheit des Lebendigen und
des Leblosen, also auf bestimmte Bereiche von Seiendem. Das
Gewagte des platonischen Gedankens ist nun, daß die ganze
Dimension der uns bekannten und vertrauten Bewegung schlecht-
hin charakterisiert wird durch ein Moment, das zunächst nur
ein Strukturmoment eben dieser Dimension ist - oder auch
ein e m Bereich dieser Dimension nur zugehört; die Bewegung
überhaupt, die in sich bewegend-bewegt ist, nennt er nunmehr
"bewegte Bewegung"; damit verändert sich der Sinn des Wortes
"bewegt", - es wird zu einer spekulativen Anzeige, wird zu
einem Zeiger und Wegweiser des Denkens. Platon entnimmt also
auch hier wieder, wie so oft in seiner Philosophie, gerade dem
Bereich die Mittel eines transcendierenden Denkens, den er
übersteigt. Dadurch entsteht jenes Zwielicht, jene Zweideutig-
keit, die ein adäquates Nachverständnis so schwer macht. Immer
besteht die Gefahr, dass wir im Nachdenken seines Gedankens
in den harmloseren naiven \Vortsinn von "bewegt" zurückfallen,
den wir bisher entwickelt haben. Die "bewegte Bewegung" ist
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 177

nicht ein Teilmoment der ganzen Bewegungsstruktur, noch ist


sie bloß die mechanische Bewegtheit der leblosen Dinge; sondern
- und das ist eben das Gewagte - die Bewegung der Dinge über-
haupt mit allen ihren Formen wie Kreisbewegung, gerichtete
Bewegung, Auseinandergehen und Zusammengehen, Zunehmen
und Abnehmen usw.; dieses ganze vielfältige Gewebe von Einzel-
bewegungen, die sich zusammenwirken zum Teppich des Lebens,
ist im ganzen nur "bewegt"; auch was wir in ihr das Bewegende
nennen, sei es der Stoß oder der Drang der Pflanze, der Trieb
des Tieres, der Wille des Menschen, ist noch "bewegt", - aber
nicht in anderer Hinsicht und Rücksicht, sondern gerade das
sogenannte Bewegende samt seinem Bewegten ist, mit dem Blick
des Denkers gesehen, "bewegt".

Aber was kann denn das heissen? Ist das nicht ein leeres
übertrumpfen der Phänomene, das sich Platon leistet? Keines-
wegs, er versucht in eine POIESIS, in ein TUN, in eine ursprüng-
liche Aktion zurückzudenken, die eben überhaupt kein Phäno-
men ist, sondern vielleicht der Ursprung aller Phänomene.
Die bewegende Bewegung, die er sucht, liegt nirgends vor, sie
kann nicht vor Augen gestellt werden, gleichsam als Urbild
eigentlichen Tuns und eigentlicher POIESIS, an der gemessen die
sonstige, uns bekannte Weise des Hervorbringens auf eine niedere-
re Stufe herabsänke. Platon nennt zwar wohl die bewegende
Bewegung den NOUS. NOUS, die Vernunft aber ist doch zunächst
einmal ein Vermögen des Menschen; das menschliche NOEIN,
von dem Platon wirklich groß denkt, ist ihm aber nur die kleine
Vernunft, der Widerschein des großen Seinslichtes, das die Welt,
das Seiende im Ganzen erhellt und durchmachtet. Aber auch
der NOUS als Herr der Welt ist nicht eine vorhandene Ausstattung
des Kosmos; obgleich er regiert und allen Wandel beherrscht,
geht sein Wesen in diesem Regentenamt und dieser Herrschaft
nicht auf: er ist ursprünglicher der DEMIURG, der Einrichter und
Ordner des Seienden im ganzen und aller dort umlaufenden
Bewegungen. Er bewegt nicht wie ein Bewegendes ein anderes
bewegt innerhalb eines schon im Gang befindlichen Weltlaufes, -
er bewegt als der In-Gang-Setzer des Weltlaufs selbst. Solches
Bewegen aber lässt sich am Leitbild der Bewegungen der end-
lichen Dinge überhaupt nicht angemessen fassen und aussprechen.
178 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

Aber es ist die Frage, ob es sich überhaupt "angemessen" fassen


läßt, - ob wir nicht bei jedem Versuch, dieses ursprüngliche
Hervorbringen zu denken, unvermeidlich zurückfallen in die
Sphäre der bekannten Bewegungen, wo eben das "Hervorbrin-
gen" seinerseits schon ein hervorgebrachtes ist. Liegt hier nicht
die Schwierigkeit aller Spekulation, daß sie nur Begriffe zur Ver-
fügung hat, die sie ebensosehr zerbrechen und auflösen muss,
wenn sie diese in Gebrauch nimmt? In der Tat, Platons Unter-
schied zwischen der bewegten und der bewegenden Bewegung ist
ein spekulativer Gedanke; er wird immer wieder getrübt und
verdunkelt durch den untilgbaren Rest von massivem Sinn, der
dem Gegensatz des Bewegenden und Bewegten anhaftet und
den Platon selber nie ganz los wird. Seine tiefste Spekulation
über die Bewegung bleibt in gewisser Weise immer in der Gefan-
genschaft jener Vorstellungsweisen, welche das "Bewegende"
bald am Modell der phänomenalen Seinsweise des Lebendigen,
bald am Modell der schöpferischen Freiheit zu charakterisieren
versuchen; mit dem NOUS aber will Platon, wie er in den NOMOI,
jenem gedankenschweren Alterswerk, sagt, die eigentliche
PHYSIS denken, - er will die übliche und herrschende Auffassung
gerade umkehren. Nach der landläufigen Ansicht ist die PHYSIS,
die "Natur", der Inbegriff des Vorhandenen im weitesten Sinne;
es sind die Dinge, die von Hause aus sind, die von selber sind, die
- nicht gemacht sind, nicht von anderem "verfertigt" sind wie
die Geräte, die menschlichen Kulturgebilde. Natur, sagt man
etwa, ist das Ganze der Elemente, das Ganze der aus den Ele-
menten geformten Einzeldinge, sei es nun Lebloses oder Leben-
diges, der Stein im Grund ebenso wie die Grille im Gras und der
Mensch in der Gemeinschaft; all dergleichen ist einfach, ist
vorhanden. Zwar ist dieses vielgestalte und mannigfaltige Seien-
de in Bewegung, es entsteht und vergeht, ändert und wandelt
sich usf., aber es ist, recht und schlecht, weil es ist; man kann,
sagt man, hinter dieses Faktum des einfachen Vorhandenseins
nicht zurückgehen; es gibt eben dergleichen. Wir wissen, daß
Lebewesen aus Lebewesen entstehen, aber wir wissen nicht,
warum es überhaupt Lebewesen gibt; letzlich bleibt nur die
Hinnahme des Faktums. Wir beruhigen uns gewöhnlich damit,
daß wir sagen, all das ist von "Natur aus"; und wenn wir
dann weiter fragen, was hier Natur bedeutet, so weicht man aus
DIE NOMOI: PHYSIS UND NOUS 179

in die Unerklärbarkeit; solche Dinge gibt es eben, sie sind gleich-


sam durch Zufall, wenn anders wir mit Zufall eben nur die
Unerklärlichkeit bezeichnen wollen. Das Seiende ist von Natur
aus und durch Zufall, die ONTA sind PHYSEI ONTA und sind durch
TYCHE. PHYSIS und TYCHE, Natur und Zufall, sind so in eine enge
Verbindung gebracht; diese Verbindung beherrscht das gewöhn-
liche Meinen der Menschen. Auf dem Boden dieser Meinung
steht dann auch die übliche Auffassung der TECHNE; das her-
stellende Verfertigen des Menschen ist zuvor angewiesen auf das
Material; der Töpfer kann nur Töpfe machen, wenn ihm Tonerde
zur Verfügung steht; die TECHNE ist immer an Bedingungen
geknüpft, deren sie nicht mächtig ist; sie kann nur zubereiten und
umformen, aber sie kann nicht wahrhaft das Material "hervor-
bringen", sie ist angewiesen auf die Natur, die das Material für
alle Formungen erst vorgeben muß; und die Natur, soweit sie
lebende Natur ist, organisches Wachstum, produziert immer
neue Gestalten, sie wirkt in den Prozessen der Zeugung und
Geburt; gemessen an solchem Hervorbringen aus dem Mutter-
schoß der Natur ist das Hervorbringen, wie es in der mensch-
lichen Techne geschieht, wo ja nur eine Umformung statthat und
nicht mehr, eine recht armselige und unbedeutende Sache. Die
Kunstgebilde der TECHNE nehmen sich im Weltall geringfügig
aus; es sind Kleinigkeiten, die es kaum zu erwähnen lohnt,
wenn auch der Mensch seinen Stolz in dieses Gemächte setzt. Die
so beschriebene Auffassung der Techne ist für Platon ebenso wie
die enge Verbindung von Natur und Zufall in Wahrheit die
Grundstellung der ASEBEIA, der Gottlosigkeit. So denkt der
"gottlose" Mensch über Natur und TECHNE, Platon bekämpft
diese Asebie, aber bekämpft sie nicht zu Gunsten des Glaubens
an einen Gott, der dieses ganze Reich des anscheinend Zufälligen
hervorgebracht habe, wie ein Tischler Tische macht, geschweige,
der es durch den Spruch seiner Allmacht aus dem Nichts gerufen
habe. Der gottlose Frevel besteht vielmehr darin, das reine Hervor-
bringen, welches als das waltende Ordnen des NOUS geschieht, als
seine DIAKOSMESIS, zu verkennen, die lebendige Vernunft zu
übersehen, welche im Sein alles Seienden am Werk ist, ja welche
das Sein des Seienden selber ist. Platon dreht das gängige Ver-
hältnis von TECHNE und PHYSIS um, - die TECHNE als hervor-
bringendes Werken des NOUS ist nicht angewiesen auf ein
180 BEWEGTE UND BEWEGENDE BEWEGUNG

unabhängiges Material, das nur um-geformt werden kann; zwar


bringt der NOUS nicht die Materie der Welt hervor, diese ist das
Reich der Notwendigkeit, das Reich der ANANKE, nicht des
Zufalls, der TYCHE; aber der weltordnende und welteinrichtende
NOUS ist zumindesten gleichwertig mit der Materie, ja übertrifft
sie noch. Man sieht leicht, dass auch hier Platon eine analoge
spekulative Verwandlung des TEcHNE-Begriffs vollzieht, wie
vorhin bei der Bewegung. Und ebenso auch hinsichtlich der
Physis. Natur bildet nicht mehr den übermächtigen Gegenbegriff
zum NOUS, vielmehr ist der NOUS eigentliche Natur, ist die "wahre
PHYSIS". Allerdings bleibt der NOUS als die Lichtrnacht in einer
von Platon letziich nicht mehr bewältigten Weise zusammen-
gespannt mit der CHORA, mit der raumhaften, dunklen Materie,
die er die Amme des Werdens nennt; sie, die CHORA ist der näch-
tige Abgrund, der den EIDE, den Ideen, den reinen Lichtmächten,
"Platz gewährt" für ihr weltbildendes Werk. Sie ist in einem
gewissen Sinne das Unbewegte in allen Bewegungen.
TECHNE UND TECHNIK
PLATONS BEGRIFF DER CHORA
HINTERGRüNDE SEINER METAPHYSIK

Platons grundsätzliche Auffassung vom Wesen der Bewegung


wird bestimmt durch eine vom Denken vollzogene überschrei-
tung der phänomenalen Sphäre. Was Bewegung ist, wird nicht
an den gesehenen, getasteten, gehörten Bewegungen der Sinnen-
dinge abgenommen; zwar sind diese in mannigfachen Weisen
bewegt, sie bilden ein Gewimmel, einen wirbelnden Tanz von
Erscheinen, Wandlung und Verschwinden, - sie sind in der selt-
samen Weise, dass sie nie ankommen in einem ständigen-stehen-
den "Sein", sondern nur "werden", nie wahrhaft seiend sind;
und ihr Werden ist dabei nicht eine Annäherung an einen stän-
digen Stand, - sofern sie werden, vergehen sie auch schon; alles
Werdende ist als solches schon das Vergängliche. Die Sinnendinge
die ONTA GIGNOMENA, werden von Platon von der eigentümlichen
Bewegtheit ihres InderZeitseins her charakterisiert. Was Be-
wegung ist, entnimmt er nicht dem Hinblick auf die Bewegungs-
arten, noch auf die temporale Bewegtheit der Sinnendinge, -
vielmehr werden diese in ihrem Bewegtsein letztlich von der
nicht-phänomenalen wesenhaften Bewegung aus interpretiert,
welche sich nur dem Denken eröffnet. Die dem Denken allein
zugängliche wesenhafte Bewegung ist die Bewegung des Denkens.
Das darf nicht im billigen Sinne einer reflexiven Selbstvergegen-
ständlichung verstanden werden. Es handelt sich keineswegs da-
rum, dass etwa das menschliche Denken einen Vorrang vor den
anderen Bewegungen habe, dass es als geistige Bewegung etwa
des Wahrnehmens die Voraussetzung für die wahrgenommenen
Bewegungen der Dinge bilde; es geht hier nicht um die Erstge-
burt des "Subjekts". Weil wir gemäß der Grundstellung der uns
bestimmenden neuzeitlichen Metaphysik das Denken primär
als ein subjektives Vermögen oder Verhalten auffassen, laufen
wir Gefahr, diese Position auch in die antike Philosophie zurück-
182 TECHNE UND TECHNIK

zudeuten. "Denken" ist aber, antik gedacht, nicht primär ein


Vermögen des Menschen, nicht die ihn auszeichnende Weise,
sich kritisch und distanzierend zu allem, was ist, verhalten zu
können. Denken ist dort nicht eine Handlung der souveränen
menschlichen Vernunft, sondern ist im ersten und fundamentalen
Sinne das Walten der Welt vernunft, ist ein Grundcharakter
des Seins selbst, ist das Licht, in welchem alle endlichen Dinge
zum Erscheinen kommen. "Dasselbe west als Denken und Sein".
Dieses Wort des Parmenides ist ein Grundwort der antiken Philo-
sophie, ist keine Doktrin eines bestimmten Denkers, - es ist die
Grunderfahrung, welche die verschiedenen Doktrinen und Philo-
sopheme durchstimmt. Das endliche Denken des Menschen, die
"kleine Vernunft", ist gleichsam der mikrokosmische Wider-
schein der "großen Vernunft", welche das Ganze des Seienden
regiert, einrichtet und lenkt. Das menschliche Denken vermag
über alle Phänomene, über alle endlichen Dinge und ihre Bewe-
gungen hinauszugehen und dank seiner "Verwandtschaft" mit
dem Welt-Licht des alles-durchwaltenden NOUS das eigentliche
und wesenhafte Grundgeschehen: die Ur-Bewegung der Seins-
lichtung selber zu erfahren.

Diese Ur-Bewegung nennt Platon die "bewegende Bewegung".


Die Schwierigkeit dieser Begriffsbildung haben wir uns zu ver-
deutlichen gesucht, sie besteht, kurz wiederholt, darin daß der
Gegensatz des Bewegens und des Bewegtwerdens zunächst doch
ein konstitutives Moment jeder Bewegung überhaupt ist; jede
Bewegung hat als solche ein Tuendes und ein Leidendes; und
nun entnimmt Platon dieser gegensätzlichen und doch einheit-
lich verklammerten Bewegungsstruktur. die Begriffe, mit denen
er ganz wesensverschiedene Weisen von Bewegungen anspricht:
solche, die schon im Gang, im Ablauf sind, die eben angestoßen
sind und nun ihrerseits den Anstoß weitergeben, - und solche,
die rein anfangen, die anstoßen, ohne angestoßen zu sein, -- die
sich anfangen und mittelbar eine Kette von weiterleitenden
Ereignissen einleiten. "Bewegend" in diesem spekulativen Sinne
ist der NOUS, ist das Denken, nicht das Denken des Menschen,
sondern das Denken, das einrichtend, planend, lenkend das
Seiende im ganzen durchmachtet, fügt, ordnet und beherrscht.
Die tragende Leitvorstellung für solches Wirken des NOUS bildet
TECHNE UND TECHNIK 183

für Platon die TECHNE. Er nimmt aber dabei die TECHNE nicht
auf in ihrem phänomenalen Sinne, nicht mit dem Sinngehalt,
den sie für das gängige Verständnis hat; er verwandelt den
TEcHNE-Begriff und bildet ihn zu einem spekulativen Begriff um.
In der naiven Vorstellung ist alle TECHNE nur eine geringfügige
Umformung auf dem Boden der schon bestehenden Natur, - ist
angewiesen auf ein bereits vorgegebenes, für die Umformung zur
Verfügung stehendes Material; das technische Herstellen sinkt im
Vergleich zu dem, was von Natur aus ist, in völlige Bedeutungs-
losigkeit zusammen. Platon dreht dieses Verhältnis gänzlich um.
Das aber ist nur möglich dadurch, daß er den Begriff der Techne
radikalisiert, ihn nicht mehr als ein abgeleitetes und fundiertes
Hervorbringen auffaßt, wie wir es gewöhnlich mit gutem Rechte
tun, sondern als ein ursprüngliches Hervorbringen inter-
pretiert.

Der griechische Begriff der TECHNE ist schon in seiner nicht-


spekulativen, naiven Weise von dem uns geläufigen verschieden.
Wir sind es gewohnt, die Technik vor allem als eine Dokumen-
tation der menschlichen Macht über die Natur anzusehen, als ein
prometheisches Vermögen, das Zeugnis ablegt, daß nichts Ge-
waltigeres lebt als der Mensch, der die Elemente zwingt, daß die
Erde ihm die Bausteine seiner Behausung und die Nahrung gibt,
daß Luft und Wasser seine Mühlen treiben und das Feuer die
N acht erleuchte und als Herdbrand diene. Unser Techne-
Verständnis ist titanisch und beruht im ganzen auf jener auf-
rührerischen Gesinnung, welche die Große Mutter zur Dienst-
magd erniedrigt, - welche titanische Empörung den Griechen
als Frevel galt. Technik ist für uns heute primär ein Verfertigen,
ein Machen, ein könnendes Vermögen menschlicher Selbstherr-
lichkeit; das Machen entlässt aus seinem Vollzug das verfertigte
"Werk", das als solches immer den Stempel seiner Abkunft aus
Menschenhand trägt. Das Werk ist Fabrikat und trägt, solange
es ist, die unsichtbare Fabrikmarke des Erwirktseins durch
menschliches Werken. Wir sind geneigt, die verfertigten Dinge
für weniger seiend zu halten als uns selbst, denn jene sind doch,
wird man sagen, was sie sind, eben durch uns; wir sind ihre
Schöpfer, - wir haben sie ins Dasein gerufen, nicht absolut, aber
eben in der Umformung gegebenen Natur-Materials. Der moderne
184 TECHNE UND TECHNIK

Mensch zieht einen nicht kleinen Stolz aus dieser seiner Herr-
schaft, er fühlt sich "gottähnlich". Die gigantische Technik unse-
rer Tage baut Wohnmaschinen mit höchstem Komfort, schlägt
Brücken über die breitesten Ströme, organisiert das Gesundheit-
wesen, die Wohlfahrt, das allgemeine Glück, aber erfindet auch
gleichzeitig die Vernichtungsmittel, wie der Hygiene, der allzu
großen Bevölkerungsvermehrung, dem Übermut des technisier-
ten Massendaseins wieder abzuhelfen ist. Unser "Technisches
Jahrhundert", das den Promethiden als den Herrn der Erde pro-
klamiert, atmet im Rhythmus von Zuständen üppiger Wohlfahrt
und nackter Not, - Frieden und Krieg sind jeweils gekonnte
technische Leistungen. Aber wir bauen keine Kathedralen mehr,-
wir sind profan geworden. Die Profanität unseres Daseins aber
ist nicht nur durch die Entgötterung bestimmt, - sie ist nur der
deutlichste Zug; andere Züge sind die Ohnmacht der Eliten, die
Vermassung, die Hypertrophie der Lebensapparatur. All das
aber gründet letztlich in der Seinsverlassenheit des neuzeitlichen
Menschen, der sich auf sich selbst stellte. Zur unbedingt
gewordenen Selbständigkeit solchen Menschentums gehört
wesentlich mit die Um-Interpretation der TECHNE. TECHNE ist
uns TECHNIK, d.h. primär Verfertigung, "Machen"; das techni-
sche Werk ist Mach-Werk des Menschen - nichts weiter.

Das Sein der durch TECHNE hervorgebrachten Dinge wird in


seiner Eigenständigkeit übersprungen, nur als menschliches Ge-
mächte gedeutet. Dadurch faßt aber der neuzeitliche Mensch
nicht nur den Eigenstand der gemachten Dinge zu kurz, sondern
auch sein eigenes Hervorbringen. Wo der Mensch zu stolz und
hochmütig von sich denkt, denkt er vielleicht zu gering von seinem
wahren Wesen. Denn als Hervorbringer ist er am Ende ursprungs-
näher denn als "Macher". Hervorbringen d.h. hervorgeleiten ins
Erscheinen, pro-ducere, ist das Durchgangsein des Menschen für
den Eintritt eines bestimmten Seienden eigenen Gepräges in die
Versammlung der Dinge, die schon von Natur aus sind. Die
TECHNE ist, antik verstanden, mehr eine Weise des Offenbar-
machens als des Bewerkstelligens. Sicher gehärt das Bewerk-
stelligen mit dazu, aber es ist nicht der entscheidende Grundzug
der antiken TECHNE. Das Her-Stellen stellt ein bislang Verborge-
nes heraus ins Offene, es hat als solches Tun den Charakter des
TECHNE UND TECHNIK 185

Entbergens, des ALETHEUEIN; die TECHNE entbirgt, wie der Künst-


ler den im Steinblock schlafenden Gott in die Epiphanie bringt.
Und wenn der Künstler sich dabei als den Durchlaß erfährt, den
dieser Gott braucht und verbraucht, um ins Offene zu gelangen,'
ist er weit weg von dem eitlen Stolz, der Macher des Kunstwerks
zu sein. TECHNE ist POIESIS; das ursprünglich POIETISCHE aber
ist die Natur selbst, die die vereinzelten Dinge herauslässt aus
ihrem Schoß und sie ins Offene stellt, wo sie einander begrenzen,
wo sie einander ablösen in Auf- und Untergang. Der Mensch aber
ist das poietische Wesen, das die ursprüngliche POIESIS der Natur
wiederholt, sie nachahmt. Das antike Verständnis der Kunst als
Nachahmung, als Mimesis, beruht nicht auf einem naturalistischen
Vorurteil, als sei sie nichts anderes als Nachahmung des bereits
schon Vorliegenden und Vorhandenen, platte Abschilderung.
Die MIMESIS muß vielmehr in ihrem rechten Bezug gesehen wer-
den; sie ahmt, um eine vielleicht bedenkliche Formel zu ge-
brauchen, nicht die natura naturata, als vielmehr die natura
naturans nach. Die POIESIS der menschlichen TECHNE ist der end-
liche 'Widerschein einer unendlichen Kraft des Alls. Der Mensch
ist das Seiende, das nicht nur wie sonst alle Dinge an sein Dasein
überlassen ist und es zu sein hat, er ist nicht nur ein von der
Natur Hervorgebrachtes, er bringt selber noch hervor, - er ist
verständigt mit der schöpferischen Kraft des Ganzen, - er
spiegelt und wiederholt sie, - er steht zu ihr im selben Verhältnis
wie das menschliche Denken zum Denken der Weltvernunft.
Das Vermögen zur TECHNE ist nicht eine Ausstattung, welche
der Mensch als sein Eigentum besitzt, gleichsam als eine Aus-
stattung, die ihn über die anderen Lebewesen erhebt; dieses Ver-
mögen ist eher eine \Veise der Offenheit des Menschen für das
ursprüngliche Hervorbringen der Natur, eine Weise, wie er hin-
ter alles Gewordene ins Werden zurückzudenken und in solchem
Gedächtnis zu existieren vermag. Das Seiende, das durch TECHNE
ist, durch menschliches Werken ins Erscheinen kommt, löst sich
von der werkenden Tat ab und steht nummehr für sich; es ist
ERGON, vollbrachtes \Verk, das losgerungen ist von den bilden-
den Händen und - nun dasteht, in sich selbst. Der Topf, der
aus des Töpfers Hand hervorging, steht in sich vollendet. Das
Tun des Töpfers ermöglicht zwar den einzelnen Topf, aber selber
ist es seinerseits nur möglich, weil die Dimension vorweg bestand;
186 TECHNE UND TECHNIK

es gibt nicht Töpfe, weil Töpfer sind, sondern es kann nur Töpfer
geben, weil Töpfe möglich sind, weil die Dimension vorherbesteht,
in die hinein faktisches Werken hervor-bringt. Es ist ein schwieri-
ges, und wohl bis heute nicht ernstlich in Angr,iff genommenes
Problem, welcher Art die Möglichkeit des der Idee nach vorbeste-
henden, aber faktisch noch nicht verwirklichten Seienden aus
TECHNE ist; die Möglichkeits-Spekulation bewegt sich zumeist im
Gegensatz zwischen Vorhandenheit und Freiheit und anders wie-
der zwischen Seinsmöglichkeit und Denkmöglichkeit. In jener
Form der modernen Logik, die durch eine Mathematisierung der
logischen Probleme entstanden ist, in der Logistik spielt der
Modalitäten-Calcul eine große Rolle, - es ist fast die einzige Stelle
noch, wo heute ernsthaft am Problem der Möglichkeit gearbeitet
wird. Aber letztlich ist die Möglichkeit nicht ein logisches, son-
dern ein zentrales ontologisches Problem. In diesen Zusammen-
hang gehört eine philosophische Erörterung der TECHNE. Das ist
nur als Hinweis gesagt, dem wir hier nicht nachgehen können.

Die TECHNE interessiert uns hier beiläufig, - eben sofern Platon


am Modell der TECHNE orientiert ist und diesen gewöhnlichen
TEcHNE-Begriff spekulativ verwandelt. Auch wenn wir nicht in
unserem gewohnten d.i. in dem neuzeitlichen Sinne von TECHNE
reden, sie also nicht nur als ein selbstherrliches Machen von sei-
ten des Menschen auffassen, - auch wenn wir sie primär als
POIESIS, als Hervor-Bringen von Seiendem in das Erscheinen
auffassen, müssen wir zugestehen, daß sie dabei immer angewie-
sen bleibt an solches Seiende als Material der Formung, das von
Natur aus ist, das vorgegeben ist. Die TECHNE verhält sich gegen-
über dem bereitliegenden Material in der Weise des Entwurfs;
jenes wird aufgegriffen unter der Leitung eines Vorblicks, welcher
vorausblickt in die künftige Gestalt und aus solchem Voraussehen
die einzelnen Schritte der Verwirklichung regelt. Das aber ist
das Moment, das Platon abhebt, um zum spekulativ verwandel-
ten Begriff einer TECHNE vorzustoßen, die nicht mehr abkünftig
ist und eine schon seiende Natur vorhandener Dinge voraussetzt,
sondern im Gegenteil jene Ordnung des Vorhandenen erst zuwe-
gebringt. Platon macht gleichsam die Analogie: wie bei der
TECHNE im gewöhnlichen Sinne der Entwurf der endgiltigen
Wirklichkeit des Werkes vorausläuft, so läuft eine planende
TECHNE UND TECHNIK 187

Voraussicht der Ordnung des Seienden im ganzen, dem KOSMOS,


voraus; diese Vorsehung ist das Walten der Weltvernunft, des
NOUS. Und wie die TECHNE jeweils angewiesen ist auf ein Ma-
terial, so auch der NOUS auf die dunkle, nächtige Raum-Materie
des Weltalls, auf die CHORA; aber die TECHNE sonst hat immer ein
Material, das bereits jeweils SEIENDES ist, - das bereits eine
Form, eine Gestalt, ein Gepräge hat, eben das Gepräge des Fels-
blocks, oder des Erzklumpens, aus dem die Bildsäule werden
soll; das Natur-Material hat die naturhafte Prägung; hat ein Aus-
sehen, hat je ein EIDOS, einen Anblick, es muß nicht überhaupt in
ein Gepräge gebracht werden, - die technische Umformung
kann auch nicht den anfänglichen Naturanblick auslöschen; der
Stuhl ist aus Holz und das stuhlhaft geformte Ding hat nicht nur
den Anblick "Stuhl", sondern immer dabei auch den Anblick
"Holz". Das der TECHNE vorgebene naturhaft-Seiende ist schon
in einer Ordnung, in einem Gefüge; es ist dort nicht wahllos
"alles eins" ; die Natur, auch soweit sie bloß als ein Inbegriff des
Vorhandenen genommen wird, ist unterschieden nach Bereichen;
wir kennen das Feste der Erde, das Flüssige des Wassers, das
weiche Wehen der Luft und den Glanz und die Wärme des Feuers,
aber darüber hinaus auch alle die aus den Elementen gemischten
Dinge: die Steine, die Pflanzen, die Tiere und Menschen; und
weiter kennen wir auch schon die diesen Dingen eigenen Bewegun-
gen in ihrem Stil, in ihren Regeln und Gesetzen; das Zusammen-
bestehen der Naturdinge ist kein anarchistisches Gemenge, son-
dern von festen Ordnungen durchwaltet. TECHNE ist Umformung
eines von Hause aus schon Ordnungshaften und Geregelten.
Dieses Moment aber hebt nun Platon für die spekulativ gedachte
TECHNE auf: sie verhält sich planend-entwerfend zu einer "Ma-
terie", die von Hause aus ungeordnet, regellos, mit einem Wort
"chaotisch" ist. Die CHORA, die Ur-Materie des Weltalls, ist
das CHAOS, das noch nicht in das Gepräge einer ORDNUNG, einer
TAXIS Gefügte; aber wir müssen uns hüten, dieses Chaos szs. nur
von der Ordnung her zu denken, nur als das Ungefüge zu nehmen,
das auf die Fügung wartet; im vorplatonischen Denken ist diese
Weltdimension noch positiv begriffen, als Reich der ANANKE,
als Reich der Notwendigkeit; das NOTWENDIGE ist das, was unbe-
greiflich, grundlos, uneinsehbar einf ach ist, das insichverschlos-
sene, ungelichtete abgründige Sein. Das Chaos ist "ordnungslos"
188 TECHNE UND TECHNIK

wenn Ordnung schon vom Licht her gedacht ist, als die geprägte
Gestalt oder als die geregelte Bewegung (etwa des Umschwungs
der Gestirne). Auch Platon nennt die CHORA den Bereich der
Notwendigkeit, aber das Notwendige ist ihm noch das Weltlose,
das A-Kosmische, das der Gestaltung zur Welt, zum Kosmos,
bedarf; es ist ihm nicht eine ebenbürtige Dimension der Welt,
sondern eher eine Vorstufe; die CHORA hat (nach Platon) kein
Gesicht, kein Aussehen, es ist das Gestaltlose, das - wie das
Wachs die Figuren des Prägestempels - alle Prägungen nur auf-
nimmt, an sich geschehen läßt, allen EIDE den Platz gewährt,
wo und woran sie ihr prägendes Tun vollführen können; diese
Ur-Materie der Welt ist das absolut Leidende, es ist das Welt-
Weib, die Große Mutter, die "ERDE". Platons Begriff der TECHNE
(im spekulativen Sinne) meint nicht Umformung eines je schon na-
turhaft Geformten, sondern ist Formung des an sich Formlosen;
und ferner ist sie nicht nur vereinzelte Formung, sondern grund-
sätzlich Formung des Ganzen, Welt-Ordnung, DIAKOSMESIS. Als
solches Welt-Ordnen, als TECHNE des Demiurgen, ist der ordnende
NOUS bewegende Bewegung. Das bedeutet: die eigentliche Be-
wegung spielt sich gar nicht ab im Felde der schon eingerichteten
Welt; die in ihr ablaufenden Bewegungen sind insgesamt abkünf-
tig, sind alle im ganzen "bewegt", sind bewegt durch jene Ur-Be-
wegung, welche das Weltganze einrichtet bzw. immer schon ein-
gerichtet hat; deswegen kann die bewegende Bewegung auch gar
nie als ein einzelnes, bestimmtes Phänomen erscheienen, weil sie
der Grund alles Erscheinens ist. Das Erscheinen-Lassende kann
nicht selbst als ein einzelnes Phänomen begegnen. Es ist nicht
nur ein Gleichnis, es ist ein SYMBOL, ein echtes Zusammenfallen,
wenn Platon immer wieder das demiurgische AGATHON, das welt-
erhaltende "Gute", diese höchste Idee der Ideen gleichnishaft als
Helios, als Sonne anspricht, als lichtende Macht, die erscheinen
lässt. Wir sehen im Licht der Sonne, aber vermögen die Sonne
selbst nicht dir e k t anzuschauen; sie sticht uns die Augen aus.
Die Sonne aber ist nicht allein jener glühende Ball, sie ist auch
die allumfangende Helle des Tags. In der offenen Weite der
Tageshelle, die von keinem Dunkel umrandet wird, sind die an-
blickshaft geprägten Dinge versammelt und leuchten auf in der
Bestimmtheit ihres abgegrenzten Gesichts. Wenn die Sonne
kommt, wenn der strahlende Gott aufsteigt am Horizont, weicht
TECHNE UND TECHNIK 189

die alles-verhüllende Nacht und die Dinge rücken ein in das Feste
und Verlässliche ihres endlichen Umrisses, - dann schwindet der
Spuk der Nacht, wo die Grenzen aufgehoben scheinen und alles
eins ist; die Helle aber ist nicht bloß ein verharrendes Leuchten
und Scheinen, sondern ein Wandel, eine Bewegung; die Bewegung
der Sonne mißt den Tag und die Stunden, sie misst in größerer
Art die Jahreszeiten, die Jahre der Menschen und Völker. Das
Licht hat einen tiefen Bezug zur Bewegung. Das eigentliche Welt-
Licht ist für Platon der NOUS, und er gerade ist die bewegende
Bewegung. Die CHORA, die chaotische Urmaterie ist das ur-
sprünglichste Unbewegte, Verharrende, Insichbleibende, Auf-
sichberuhende, das Bewegungen an ihm zuläßt und den Schlag
der Prägungen hinnimmt; die CHORA ist das leidend-duldende
Weltprinzip, wie anderseits das Licht, das Ideenhafte, das ur-
sprünglichste Tun ist. Tun und Leiden, die wir zunächst als
strukturelle Momente der bestimmten Bewegung von einzelnen
Seienden aufgefasst haben, zeigen sich, im Zuge der spekulativen
Durchdenkung der endlichen Bewegung und d.i. ihrer Aufhebung
als Ur-Momente der Welt, als die bewegende Bewegung des lich-
tenden NOUS - und als das Unbewegte der CHORA; was man ge-
meinhin eben "Bewegung" nennt, ist die Seinsverfassung der
endlichen Dinge, die Zwischen-Dinge sind zwischen NOUS und
CHORA, Mischungen aus dem fügend-Begrenzenden des EIDOS
und dem ungefügen Formlosen der ungestalten "Materie", - oder
in der bestimmten Terminologie des platonischen "Philebos"
gesprochen: Mischungen aus PERAS und APEIRON. Der Denkblick
Platons aber ruht mehr auf dem aktiven Weltprinzip als auf dem
leidenden, - mehr auf dem Licht als auf der Nacht; das ist keine
individuelle Entscheidung, die als weltanschauliche Option nicht
mehr weiter zu diskutieren und als das Recht des Denkers auf
einen eigenen Standpunkt nur hinzunehmen wäre, - hier handelt
es sich um eine Grundentscheidung der abendländischen
Philosophie, welche die nachfolgenden Jahrhunderte bestimmt
hat.

Das Denken des Seins in der Weise der menschlichen Philosophie


ist selber ein Widerschein des Denkens, das als bewegende Bewe-
gung des NOUS lichtend die Welt durchwaltet und die Dinge
ins Gepräge schlägt; das menschliche Denken erfährt sich als
190 TECHNE UND TECHNIK

dem kosmischen Denken verwandt, - andererseits fühlt es


sich bedroht von der Nacht der Erde, in welcher es auszulöschen
droht, - die CHORA wird zum "Grenzbegriff". Aber diese
Abdrängung und Ausschaltung gelingt nie restlos; sie wird
bei Platon selber oft durchbrochen; nur von diesen Durch brü-
chen ist überhaupt die dämonische Macht des EROS in seiner Phi-
losophie zu verstehen. Und es gibt noch verdecktere Weisen, wie
in seiner Licht-Metaphysik die Weltnacht sich meldet. Solche
verdeckten Weisen zeigen sich gerade in den Begriffen, mit denen
er operiert. Es ist sicherlich nicht falsch, wenn man, so im all-
gemeinen Überschlage, sagt, daß die platonische Philosophie in
zwei verschiedene Phasen eingeteilt werden kann: in die Aus-
bildung der Ideenlehre und in die kritische Überholung der
Ideenlehre; die zweite Phase entspricht dann der platonischen
Spätphilosophie. Die erste Phase vollzieht in vielen Formen und
Gestalten die Umwendung der Seele von den bewegten, entste-
hend-vergehenden, mannigfach sich wandelnden Dingen weg auf
das unwandelbare Sein, von den vielen frommen Handlungen
weg auf das Fromme an ihm selbst, von den schönen Sachen und
Jünglingen auf das Ansieh-Schöne; das Idee-sein der Idee
wird als Ständigkeit, Wandellosigkeit, Unbewegtheit
ausgelegt; die idee-bestimmten Dinge kommen und gehen, die
Idee selbst steht; ihr Stand aber ist nicht nur das Bleiben eines
Ruhenden im Wandel, sie steht nicht wie der Regenbogen in den
fallenden Wassern; sie steht ständiger als je ein im Wandel
Verharrendes und durchgängig Dauerndes "stehen" kann. Woher
aber nimmt Platon das Maß solchen ewigen Standes? Gewinnt er
es einfach nur aus der Negation der Zeit? Die Dinge treiben in
der Zeit, sie verfallen ihrem allestilgenden Zahn; von den end-
lichen Dingen aus gesehen, sind die Ideen gleichsam "zeitlos";
aber Platon bestimmt sie als AEI ON, als das Immerseiende;
dieses Immer hat gewiss nicht den Sinn eines ununterbrochenen
Andauerns, nicht den Sinn einer veränderungsfreien Ruhelage.
Das "Immer" bedeutet keine Weise des Vorkommens in der Zeit,
des ungestörten Weiter-Alterns von Jetzt zu Jetzt, unaufhörlich.
Das "Immer" aber meint auch nicht eine "Ewigkeit", wie wir
sie aus christlichen Vorstellungen kennen. Platon entnimmt viel-
mehr gerade der von allem Ideen-Denken mißkannten und ver-
achteten Erde die entscheidenden ontologischen Charaktere, um
TECHNE UND TECHNIK 191

das Ideensein der Idee, das Sein der Lichtrnächte zu bestimmen;


die CHORA ist das Ur-Ständige, das Unvergängliche, das allen
Wandel und Wirbel der Zeit nur an sich duldet und doch davon
nicht mitgenommen wird. Sie durchsteht nicht die Zeit, sie ist
das Andere, der Raum, mit dem erst zusammen die zeithafte
"Lichtung" die Welt bildet. Dieses Zusammen von Zeit und
Raum, nicht als bloßer Stellen-Systeme, sondern als Weltprin-
zipien verstanden, bleibt eine unbewältigte Erbschaft von Platon
an. Die zweite Phase der platonischen Philosophie ist gekenn-
zeichnet dadurch, daß entschiedener das Verhältnis von Idee
und Einzelding Problem wird, aber auch das Verhältnis der
Ideen zu einander und schließlich ihre Gemeinschaft, ihre KOI-
NONlA, in der Idee des "Guten". Das führt dazu, daß Platon in
steigendem Maße die Unwandelbarkeit und Ständigkeit der
Ideen in Frage stellt, - daß er die Bewegung ins Ideenreich
einlässt, ja schließlich die Idee als ein Geschehen, als die weltord-
nende und welteinrichtende Bewegung des NOUS - und diese am
Leitmodell der TECHNE, allerdings in spekulativer Verwandlung
begreift. Die IDEE des Guten wird als allumfangendes ZOON, als
lebendiges Lebewesen, verstanden, daß alle besonderen Ideen als
ZOA in sich so umfängt wie der Kosmos die Einzeldinge. Gemes-
sen am "Leben" der Ideen, welches Leben eben bewegende
Bewegung ist, sinken die in Bewegtheit gehaltenen Einzeldinge
herab zu einem Stande von Bewegung, der gleichsam im ganzen
"passiv", eben in Platons Ausdrucksweise nur "bewegte Bewe-
gung" ist. In dem Maße also, wie in der Spätphilosophie die Ideen
mehr an der Bewegung orientiert werden, werden umgekehrt die
Sinnendinge aus dem Gegenprinzip verstanden, werden in ihrer
Passivität letztlich von der Ur-Passivität der Chora her, allerdings
unausdrücklich gedacht. In den operativen Begriffen der Philo-
sophie Platons ist das Gegenspiel der großen Weltprinzipien
nicht zu verkennen. Wesenhafter als der üblicherweise immer
genannte "Dualismus" von Idee und Einzelding ist der Dualis-
mus von NOUS und CHORA, von bewegender Bewegung und unbe-
wegtem Stand der Welt-Momente.

Unser Hinblick auf Platon war flüchtig, und dabei doch ge-
leitet von der Absicht, bei Platon die Vorbereitung der Hin-
sichten zu verfolgen, unter die dann bei Aristoteles das Bewe-
192 TECHNE UND TECHNIK

gungsproblem und ebenso die Problematik von Zeit und Raum


geraten. Platon, so sahen wir, exponiert seine Fragestellung nach
dem Wesen der Bewegung in einer Erörterung der Bezüge zwi-
schen PHYSIS - TECHNE und NOUS. Die PHYSIS, die Natur,
wird dabei zunächst einmal im landläufigen Sinne genommen als
der Inbegriff des Vorhandenen, des Gegebenen -- und dann im
Abstoß von dieser Auffassung als hervorbringende Macht,
als jenes mit keinem rechten Namen unmittelbar zu Nennende,
das die Dinge "gibt", sie herauslässt, zum Erscheinen bringt,
sie hervorbringend herausführt in ihren gebrechlichen und ver-
gänglichen Eigenstand - und sie auch schließlich daraus wieder
wegreißt. Das Hervorbringen war dabei orientiert am Begriff der
TECHNE - und gleichwohl in einer charakteristischen Umbildung
dieses gewöhnlichen TEcHNE-Begriffs verstanden. Das Seiende,
das Ding ist ERGON, ist Werk, - aber eben nicht Werk, wie der
Tisch das Werk des Tischlers ist, - es ist ERGON in einem grund-
sätzlicheren Sinne; erwirkt ist nicht eine Umformung einer schon
vorhandenen und bestehenden Geformtheit, erwirkt ist die Ge-
formtheit erst als solche. Das aktiv Wirkende ist der NOUS,
aber er ist in solcher Wirkung angewiesen auf ein passives Ele-
ment, das die wirkende Aktivität an sich erduldet und in solcher
Duldsamkeit überhaupt erst ermöglicht. Dieses Wirken des NOUS
wird bei Platon an alogisch verstanden zur POIESIS der mensch-
lichen TECHNE. Und diese wiederum ist nicht in unserem moder-
nen-neuzeitlichen Sinn zu nehmen als ein "Machen", sondern als
ein Offenbaren, als ein Zum-Erscheinen-Bringen, als ein "Ent-
bergen". Die POIESIS des Menschen aber gründet in der ursprüng-
licheren POIESIS der Natur, sie ist nur deren Widerschein, wie
auch das endliche Denken der Widerschein der Weltvernunft ist.
Die hervorbringende Natur, deren Hervorbringung im Analogon
der menschlichen TECHNE gedacht wird, ist aber nicht ein Ein-
heitliches, nicht eine in sich ruhige und stille Macht, sondern ist
der polar gespannte Bogen eines Urgegensatzes: Natur, PHYSIS,
ist NOUS und CHORA, ist Licht und Nacht des Seins.

Unschwer wird jeder, der Aristoteles auch nur im Ungefähren


kennt, die Grundmotive schon bei Platon vorbereitet finden,
welche die ganze Raum- Zeit- Bewegungsphilosophie des Sta-
giriten beherrschen. Bei Aristoteles wird die TECHNE zum Schlüs-
TECHNE UND TECHNIK 193

selbegriff - neben der Zeugung - um das Hervorbringen, das


Seinlassen der PHYSIS auszulegen. Der Gegensatz von NOUS und
CHORA erscheint hier als Polarität von MORPHE und HYLE, von
Form und Stoff, - die Bewegung allerdings zunächst eher in jener
Sicht, die Platon die "bewegte Bewegung" nennt, um auf dem
Höhepunkt, in der Lehre vom "unbewegten Beweger", dem
platonischen Gedanken in einer neuen Ursprünglichkeit nahe
zu kommen.

Was aber Aristoteles von Platon trennt, ist der ganz andere
Stil seiner Spekulation, - sie sieht aus wie eine schlichte Befra-
gung der Phänomene.
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM
AUSGANG BEIM INNERWELTLICH SEIENDEN
ONTOLOGISCHE GENEALOGIE DER
ENDLICHEN DINGE

Der Stil der aristotelischen Spekulation ist dadurch charak-


terisiert, daß das Denken bei aller hintergründigen Tiefe an-
scheinend vordergründig gebunden bleibt an das unmittelbare
"Phänomen", an das, was sich von ihm selbst her zeigt. Die Sache
selbst hat offenbar die Führung. Ihr unterstellt sich der ausle-
gende Gedanke. Er sichert sich dadurch vor der immer drohen-
den Gefahr, in das Leere des bloß Ausgedachten zu fallen. An
der Sache, an die er sich bindet, gewinnt er Boden und Stand.
Der Ausgang vom Phänomen verschafft ihm eine unabstreitbare
Bodenständigkeit. Wie immer auch die Auslegung über die
Unmittelbarkeit des Phänomens hinausgehen mag, - wie immer
sie sich in Schwierigkeiten und Ungereimtheiten festfahren mag,
sie hat doch ständig die Möglichkeit, zum Ausgang zurückzu-
kehren und erneut von dort aus die "Interpretation" des Phä-
nomens zu versuchen. Diese Möglichkeit der offen gehaltenen
Rückkehr zur Sache selbst bestimmt den Sinn der aporetischen
Methode des Aristoteles; die Aporien, "Weglosigkeiten", sind
nicht müßig ausgedachte, gleichsam spielerische Verlegenheiten,
die der Autor nur dem Leser bereitet, um ihn zu verwirren und
endlich ihm die eigene Lösung der Probleme aufzureden; die
Aporetik ist kein pädagogischer Kunstgriff. Sie ist vielmehr eine
wirkliche Erfahrung, welche das Denken macht. In der
Durchsprache der Aporien macht Aristoteles nicht nur eigene
Erfahrungen, sondern wiederholt die Denk-Erfahrungen der
Denker vor ihm - auf seine Weise; er durchdenkt ihren Ansatz,
wägt und prüft, - nicht von einer vorgefaßten Theorie aus,
sondern eben im immer wieder versuchten Gang einer verste-
henden Auslegung des Seienden, so wie es sich von ihm selbst her
zeigt. Dabei ist es ein entscheidender Grundzug der aristoteli-
schen Philosophie, daß das Phänomen, die Sache selbst, ihrer-
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 195

seits nicht bereits in einer dogmatischen Weise vorausgelegt ist


durch einen bestimmten Begriff von "Sache" ; Aristoteles nimmt
vielmehr die Sache auf mit der ihr unmittelbar zugehörigen
"Ausgelegtheit"; das Verstehen vollzieht sich doch nicht erst in
der Philosophie, es ist immer schon am Werk, wenn die philo-
sophische Besinnung anfängt; die Sache ist immer schon irgend-
wie verstandene Sache, sie ist je schon sprachlich ausgelegt. Das
Seiende ist zumindest das alltäglich bekannte und besprochene
Seiende, das ON ist schon ON LEGOMENON. Das bedeutet aber: der
Rückgang auf das "Phänomen" kann nicht die Beiseitesetzung
aller Deutungen der Sache selbst sein, so als ob sie in einer
hermeneutischen Nacktheit übrig bliebe, wenn alle umlaufenden
Interpretationen zunächst einmal "eingeklammert" würden;
die Sache selbst zeigt sich in einem Horizont alltäglicherBekannt-
heit, - sie zeigt sich nicht "sprachfrei", sie ist schon beredet und
in der menschlichen Rede irgendwie ausgelegt. Dieses "Irgend-
wie" , das in seinem Gehalt schwer zu fassen ist, gehört aber mit
zum unmittelbaren Sichzeigen der Sache. M.a.W. die Sache, das
Phänomen im Sinne des Aristoteles ist etwas völlig anderes
als etwa die Sache im Sinne Husserls. Aristoteles hat keinen
"phänomenologischen" Denkstil im modernen Wortsinne. Der
phänomenologische Begriff der "Sache selbst" ist bei Husserl
bestimmt durch eine Reduktion des unmittelbar gegebenen und
ebenso unmittelbar schon irgendwie verstandenen und sprachlich
ausgelegten Seienden auf den reinen Wahrnehmungsgegenstand.
Es gehört zu den zählebigen Vulgärvorstellungen, Aristoteles als
einen "Empiriker" aufzufassen, der den ganzen Reichtum der
sinnlich erfahrbaren Welt zum Thema machte, den Blick des
Denkens nicht mehr in den Sternenhimmel der überirdischen
Ideen, sondern auf das hiesige und irdische Feld der Erscheinun-
gen richtete. Gewiss hat er große und entscheidende Anregungen
zu positiven Erfahrungswissenschaften gegeben, gewiss hat er
weitgehend den Blick eröffnet auf die Eigenständigkeit und den
Eigenwert des Empirischen, - aber eben nicht in einer biossen
Umwendung des Interesses, nicht in einer Verlagerung der
Thematik, nicht in einer Abkehr von der Spekulation, sondern
gerade im Zuge seines eigenen spekulativen Denkens.
196 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

Aristoteles ist nicht weniger spekulativ als Platon. Nur der


Stil seines spekulativen Denkens ist ein ganz anderer. Die An-
dersartigkeit aber gründet in einer Verwandlung des Begriffs des
"Seienden". Für Platon ist das SEIENDE das, was in echter und
rechter Weise ist, die "Idee", das uns dagegen im vor-philoso-
phischen Alltag als "seiend" Geltende, die Dinge, die entstehen
und vergehen, sich wandeln und verändern, sind nur in uneigent-
licher Weise seiend, ein ME ON, sind solches, dessen Sein von
Nichtigkeit durchtränkt und zerfressen ist. Der platonische
Seinsbegriff ist primär vom Un-Endlichen her gedacht; das Un-
Endliche ist das Seinslicht der IDEA TOU AGATHOU, das sich bricht
in die vielen Strahlen der einzelnen Ideen, welche ihrerseits den
flüchtigen Dingen den Anblick verleihen, sie in das Gepräge eines
Umrisses bringen, in welchem sie gehalten sind, solange sie über-
haupt verweilen. Das Lichtwesen der Idee ist das Begrenzen; als
solches Grenzen-Gebendes, Gestalt-Verleihendes, Anblick-Schen-
kendes aber ist die Idee das Prinzip der Grenze, ist wesentlich
PERAS. Die platonische Ontologie aber braucht, wie wir wissen,
noch eine ursprüngliche Gegenrnacht, woran die begrenzende,
lichtende Idee ihr Wesen auslassen kann: die CHORA, die dunkle
Raum-Materie, welche die Prägungen an sich geschehen läßt.
Auch die CHORA ist un-endlich. Die endlichen Dinge sind "er-
zeugt" aus der Vermischung der beiden Seinsmächte PERAS und
APEIRON, sie sind gleichsam die Kinder des Vaters Aether und
der Mutter Erde. Platons Ontologie arbeitet mit dem polaren
Gegensatz zweier ursprünglicher Weltrnomente, auch wenn er das
Weltproblem, dort wo er es offen stellt, nur in einer abge-
leiteten Weise in Angriff nimmt, eben als Frage nach der TAXIS
der Bewegung, in welcher die zahllosen Bewegungen der einzel-
nen Dinge im ganzen geordnet sind. Daß letzten Endes die pla-
tonische Philosophie mit der lichthaft begriffenen Idee gerade
das Wesen der Zeit denkt, wenn auch uneingestanden, ja sogar
mit einer betonten Frontstellung gegen den unständigen "Fluß
der Zeit", - daß Idee und CHORA in ihrer Vermischung und Ver-
mählung das Spiel des Zusammenwirkens von Zeit und Raum
im Grunde sind, das kann jetzt im Vorbeigehen nur als These
behauptet werden. Platons spekulatives Denken geht aus von
dem Urst reit der beiden Seinsmächte, - d.h. es kommt aus dem
\\'eltganzen her und begreift von dort aus die endlichen Dinge.
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 197

Und wo es den umgekehrten Anschein hat, weil im faktischen


Gang des Dialogs zunächst bei den gerechten Handlungen oder
den schönen Dingen angesetzt wird, um dann nach dem Gerech-
ten an ihm selbst und dem an sich Schönen erst zu fragen, - dort
ist der gespräch-führende Sokrates immer schon voraus; das
macht gerade seine ironische Distanz aus zu seinen Dialog-Part-
nern; er kommt schon von dort her, wohin er jene führen will.
Platons Dialektik entspringt nicht, wie etwa die Hegels, der
ontologischen Unhaltbarkeit des endlich-Seienden, - sie hat
ihren Ursprung nicht in jenem Widerspruch, als welcher das
Einzelding existiert, sie ist eher umgekehrt durch das Staunen
darüber erregt und in Gang gehalten, dass überhaupt das Un-
Endliche sich verendlicht, - dass es überhaupt zu einem solchen
gebrechlichen und windigen "Sein" kommen kann, wie es die
Einzeldinge haben.

Aristoteles, der weit mehr von Platon übernommen hat, als


man bei seiner heftigen Plato-Kritik meinen sollte, ist aber
durch einen gänzlich anderen Ausgang von Platon geschieden.
Seine Ontologie ist primär eine solche des innerweltlich
Seienden. Das bedeutet nicht, daß bei ihm das Weltproblem
keine Rolle spiele, dass es ganz abgeglitten sei in eine Theorie des
KOSMOS als der Gesamtfügung aller Dinge. Das Welt problem
verbirgt sich bei Aristoteles im Begriff der PHYSIS. Er
gebraucht ihn, wie wir noch sehen werden, in einer merkwürdi-
gen und schwer durchschaubaren zweideutigen Art. Zunächst
aber ist die bevorzugte Rolle des "Phänomens" bei Aristoteles zu
verstehen. Die Dinge sind, was sie sind, in ihrem Erscheinen.
Das Erscheinen hat dabei gar nicht primär den Sinn des "bloßen
Aussehens", das uns täuschen kann; gewiss können Dinge auch
uns täuschen, wir können in die Irre gehen, wenn wir uns darauf
verlassen, daß sie immer so sind, wie sie sich zeigen; aber der dann
und wann mögliche Irrtum, der mit dem Erscheinen zusammen-
hängt, darf nicht als das Wesentliche am Erscheinen genommen
werden. Viel eher gibt es überhaupt ein Verlassen auf die Dinge,
weil sie sich zeigen. Indem sie erscheinen, enthüllen sie sich,
decken sich auf als das, was sie sind; sie kommen bei uns an in
der Unverhülltheit ihres Anblicks. Das Erscheinen aber darf
nicht bloß als ein Bezug der Dinge zu uns gedeutet werden; wir
198 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

sind nicht das, worauf sie hinauswollen; sie sind bei uns, weil wir
selber wie sie alle von der gleichen Grundbewegung des Aufgangs
mitgerissen sind; sie sind nicht mehr bei uns als wir bei ihnen;
das Erscheinen ist nicht Ankunft der Dinge beim vorstellenden
Menschen, der nun ihrer gewärtig wird, es ist vielmehr die An-
kunft aller Dinge, den vorstellenden Menschen eingeschlossen,
in der gefügten Ordnung des Ganzen, in welchem alles sich ver-
sammelt. Das Erscheinen aber ist nicht etwas, was den Dingen
gleichsam noch von außen zustieße, so als ob sie sein könnten,
ohne zu erscheinen; erscheinen ist vielmehr gerade die Weise,
wie sie ins "Sein" gelangen. Das Sichzeigen gehört als wesent-
liches Moment zum Sein des Seienden. Das Phänomen, bei dem
Aristoteles immer ansetzt, und was allzu oft als eine Art von
Empirismus und Positivismus gedeutet wird, das "Phänomen"
ist selbst schon ein spekulativ gedachter Begriff. Es bedeutet
also gar nicht eine vor-philosophische Dimension. Es handelt
sich auch nicht darum, der Spekulation eine Sphäre vorzuord-
nen, wo der Denkende sich rein aufnehmend zu verhalten habe
und an der Eigenständigkeit der Phänomene zunächst einmal die
Grenze seines eventuell allzu subjektiven Denkens erfahre. Für
Aristoteles kombiniert sich die philosophische Arbeit nicht aus
einer naiven Beschreibung eines schlicht vorhandenen "Befun-
des" und einer denkerischen Ausdeutung desselben. Das Seiende,
das sich erscheinend zeigt und dabei immer schon in einer
sprachlichen Ausgelegtheit vorgegeben ist, bildet für Aristoteles
den Ausgang seiner Spekulation. Er bleibt also bei ihm nicht
stehen, er verweilt nicht in einer endlosen Deskription, welche
langweilig immer wieder weitersagt, was man schon weiß und
kennt. Aber er springt auch nicht einfach nur ab vom Phänomen.
Sondern er sucht das Phänomen zu verstehen im Rückgang auf
die Gründe und Ursachen, aus denen her es ist, was es ist.

Das sich zeigende Seiende rückt damit in den grundsätz-


lichen Aspekt einer Gegründetheit. Das spekulative Begreifen
realisiert sich als Begreifen aus "Gründen". Es geschieht als
Rückgriff auf die ARCHE. Gemeinhin ist uns der Gedanke des
Grundes zu vertraut, zu geläufig, als daß wir uns eigens noch
darüber Gedanken machen, uns verwundern, warum überhaupt
etwas, was ist, noch einen "Grund" haben muss. \Vir operieren
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 199

auf vielfache Weise mit "Gründen", erklären Naturvorgänge,


entschuldigen unsere Handlungen, motivieren Maßnahmen usf. ;
aber das Grundsein selbst und andererseits die Gegründetheit des
Seienden denken wir nicht aus. Das gibt es eben, daß das Seiende
seine jeweiligen Gründe hat, und daß eventuell sogar das Weltgan-
ze seinen" Grund" hat; Gründe gibt es, wie es Sand am Meer und
Wolken am Himmel gibt. Mit dieser alltäglichen Ansicht, die
gar nicht mehr nach dem Grund des Grundes fragt, sondern die
Gegründetheit hinnimmt wie eine vorhandene Ausstattung, ist
der Unterschied selbst verwischt zwischen den gegründeten
Dingen und ihren Seinsgründen und ist auch zugleich der Riß
verdeckt, welcher die Zerrissenheit des denkenden Weltverhält-
nisses d.i. der Philosophie entspringen läßt. Die gedankenlose
Alltagsauffassung nimmt die Gründe und das Gegründete gleich,
- bei des ist ihr gleich; sie ist gleichgültig gegen diesen Unter-
schied; das eine ist wie das andere. Und sie beruft sich darauf,
daß doch irgend ein Grund für irgend ein Geschehen selber
wieder ein Geschehen ist; etwa daß die Straße naß ist, weil es
geregnet hat, und dass es geregnet hat, weil bestimmte atmosphä-
rische Bedingungen eingetreten sind usw.; zwischen der nassen
Straße und den Regenwolken ist kein prinzipieller Unterschied;
ein Vorgang gründet in einem anderen Vorgang, eine Begeben-
heit in einer anderen, ein Ding in einem anderen Ding. Aber wie
hängen die einzelnen Dinge und Ereignisse in einem Begrün-
dungszusammenhang zusammen, - wie ist die Kette, welche sie
verbindet? Ist das Grundsein in dieser Form schon verstanden,
wenn wir einsehen, daß die Regenwolke Regen und Regen eine
nasse Straße bewirkt? Wir verstehen in diesem Falle doch einen
bestimmten Zusammenhang gemäß einer Regel, aber die Regel
selbst und die Regelbeherrschtheit des Geschehens überhaupt
verstehen wir dabei doch nicht. Aristoteles aber kommt es nicht
auf ein Verstehen faktischer Fälle von bestimmter Gegründetheit
von Ereignissen oder Dingen an, sondern auf die verstehende
Einsicht in die Natur des Seienden, aus Gründen zu sein. Der
Gedanke der ARCHE ist der erste Gedanke der griechischen Phi-
losophie, ihr Ur-Gedanke. Mit ihm denkt sie über das Gegebene
und sich andrängende Seiende hinaus, aber nicht um es zu ver-
lassen, sondern um es von Grund auf zu verstehen. "Der Anfang
des Seienden ist das Unbegrenzte", he isst es bei Anaximander;
200 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

das Seiende ist dabei verstanden als solches, das begrenzt d.h.
das endlich ist; alles Endliche gründet im Unendlichen; das aber
nicht in dem leeren Sinne, wie wir gewöhnlich umgehen mit
diesen allgemeinen Begriffen, sondern in der bestimmten, wenn
auch schwer zu denkenden Weise, wie die endlichen Dinge
insgesamt im Weltall gründen. Die jonische Physik versucht
in immer neuen Anläufen, das Ganze zu denken als das Ur-
Element des Wassers, der Luft, des Feuers. Das Ur-Element ist
gleichsam der Mutterschoß aller Dinge; es wird an ihm selbst gar
nicht gesehen, weil es selber nicht erscheint, weil es sich mit den
aus ihm hervorgegangenen Elementen und Dingen verdeckt. So
ist nicht das phänomenale Wasser oder Feuer, das als solches
unterschieden von den übrigen Elementen ist und einen eigenen
Anblick hat, gemeint, sondern eben ein Urelement, das im
Kreislauf der offenbaren, der erscheinenden Elemente sich ver-
birgt.

Daß Aristoteles rückinterpretierend das Denken der jonischen


PHYSIOLOGOI deuten konnte als eine Befangenheit in nur einer
Form von Verstehen des Grundes, eben als ein Denken, welches
"Grund" nur als HYLE nimmt, verweist auf eine grundsätzliche
Verwandlung, die der Begriff der ARCHE bei ihm selbst findet.
Die anfängliche Sicherheit eines im Weltganzen heimischen
Denkens ist zerfallen; den Ausgang des Denkens bildet das
innerweltlich Seiende. Von ihm zurück läuft nunmehr die
Richtung der philosophischen Hermeneutik; das endlich-Seiende
ist "fragwürdig", sofern es befragt wird in seiner undurchsich-
tigen Verfassung der Gegründetheit. Es verweist von sich weg
auf Bedingungen, durch die es ist. Philosophisches Verstehen
hat den Charakter des Regressus. Aristoteles betont immer wie-
der, daß dieser Regress auf die "Anfänge und Ursachen" des
Seienden nicht ein unendlicher sein kann. Wenn er ein unend-
licher wäre, so könnte es keine Philosophie geben. Die Möglich-
keit der Philosophie hängt ab von der Durchlaufbarkeit des
Regressus. Aber Aristoteles argumentiert nicht "ad hominem".
Die Möglichkeit oder Unmöglichkeit von Philosophie ist nicht
der entscheidende Grund. Sondern das allgemeine Faktum des
Wissens überhaupt. Darauf, dass Wissen ist, beruht letztlich
auch das philosophische Wissen. Wissen aber ist ihm nicht so
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 201

sehr ein bestimmtes menschliches Verhalten zu dem Seienden,


etwa das kenntnisnehmende Betrachten, als vielmehr das Sich-
zeigen des Seienden selbst; Sichzeigen, Offenbarsein aber
setzt voraus, daß es hier bei uns angekommen ist. Ganz abge-
sehen davon, dass nicht wir den Bezugspunkt in einem absolu-
ten Sinne darstellen, so bedeutet doch die Ankunft im Raume
des Erscheinens, in den wir selber mit hineingehören, daß das
Seiende selbst szs. den Weg hinter sich gebracht hat, der von
seinen "Anfängen und Ursachen" hierher führt; der Weg kann
also kein unendlicher d.i. undurchlaufbarer sein. Aristoteles'
Grundsatz ist zunächst der En twurf des Seienden als eines
Gründungsgefüges. Dabei geht es nicht um die faktische
Gründung eines einzelnen Dinges oder einer Begebenheit, son-
dern um die ontologische Natur einer solchen Gegründetheit
überhaupt. Das allgemeine Verständnis von ARCHE ist bei Aris-
toteIes TO PROTON HOTHEN, das Erste, wovon her ... ; das Seien-
de schlechthin ist grundsätzlich abkünftig, es kommt in
mancherlei Weise von einem Ursprünglicheren her; es verweist
auf Ursprünge, die nicht in ihm selbst liegen, sondern durch die es
ist, was es ist. Das besagt: was wir das Seiende nennen, ist als
solches immer ein Zweites, das nur im Rückgang auf ein Erstes
von dort her zu verstehen ist.

Aber es wäre zu kurz gefaßt, wollte man darin nur eine Ord-
nung des Erkenntnisweges sehen; Aristoteles faßt das Wesen des
Grundes, des Anfangs, der ARCHE als eine Dreifalt : ARCHE ist das
Erste, von woher etwas ist oder wird, oder erkannt wird. Im
Wesen der ARCHE verklammert sich Sein- W erden-Lich tung
des Seienden. Man sagt oft, daß Aristoteles die innere Einheit
seines zentralen Begriffs der Arche nicht ausdrücklich entwickelt
habe, daß er die Dreiheit von Seinsgrund, Werdensgrund, Er-
kenntnisgrund neben einander stelle und andererseits dort, wo
er die Gründe inhaltlich bestimme, eine Vierteilung gebrauche,
ohne den Zusammenhang dieser beiden Einteilungsprinzipien aus-
drücklich klarzulegen. Das ist nur beschränkt richtig. In Wahr-
heit operiert Aristoteles mit den bei den Schemata so, daß ihre
Einheit aus der Struktur des Seinsproblems deutlich wird, welches
immer sich als eine Verklammerung von Sein und Werden und
Schein und Wahrheit erweist. Die prinzipielle Genealogie
202 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

der aristotelischen Gründe aus der Natur der Seinsfrage selbst


kann jetzt nicht einmal in den Grundzügen entwickelt werden.
Wir suchen etwas viel Vorläufigeres; nämlich ein erstes Ver-
ständnis seines Grundansatzes, sofern durch die besondere Form
seiner Ontologie die Fragen nach Raum, Zeit und Bewegung eine
ganz bestimmte Richtung und Reichweite bekommen. Diese
Ontologie ist primär eine Ontologie des innerweltlich
Seienden. Das bedeutet nicht ein Stehenbleiben bei diesem
Seienden, gleichsam ein biosses Anstarren und gegebenenfalls
ein "Beschreiben", sondern fordert ein regressi ves Verstehen,
das von diesem Seienden ausgeht und in seine "Gründe" zurück-
geht, es aus diesen Gründen heraus durchsichtig und einsichtig
macht. Die "Gründe" liegen aber nicht einfach hinter dem Seien-
den, gleichsam in einer anderen Dimension, sie sind Gründe nur,
sofern sie, ,gründen", d.h. das Seiende in seinem Sein bedingen. Im
Durchdenken dieser bedingenden Gründe aber gelangt Aristote-
les zuweilen aus der Bahn seines Ansatzes heraus - und dringt zu
einem Denken vor, das den innerweltlichen Ansatz seiner Onto-
logie sprengt. Das zeigt sich vor allem in der seltsamen schillern-
den Zweideutigkeit seines PHYSIS-Begriffs. Zunächst aber ge-
braucht er den Begriff des Seienden in einer ganz weiten und
allgemeinen Art: zum Seienden rechnen nicht nur die Dinge
(nicht nur die endlichen Einzeldinge wie Steine, Bäume, Häuser,
Tiere, Menschen - oder auch die sog. einfachen Körper, die Ele-
mente Erde, Wasser, Luft und Feuer, aus denen die abgestück-
ten Einzeldinge jeweils gemischt sind); zum Seienden rechnen
auch die Zahlen und Figuren d.h. das Mathematische, ferner die
reinen Wesenheiten, und schließlich auch das Ganze, das PAN,
der KOSMOS. Mit dem Seienden überhaupt hat es die erste
Philosophie zu tun; sie untersucht das ON HE ON, das Seiende
als solches d.i. in seinem Seiendsein. Diese erste Philosophie
nennt man später die "Metaphysik". Anders aber gebraucht er
den Begriff des Seienden dann dort, wo er ihn gleichsetzt mit den
Dingen. Die Dinge selber zerfallen in solche, die von Natur aus
sind, und solche, die durch TECHNE hervorgebracht sind. Dabei
aber ist es klar, daß alles, was durch TECHNE wird, wenigstens
dem Material nach von Natur aus sein muß, - dass die TECHNE
nichts absolut hervorbringen kann. Die "Physik" des Aristoteles
ist keineswegs Physik in dem uns geläufigen Wort verstande,
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 203

meint nicht eine positive Erfahrungswissenschaft von der Natur


als einem Teilbereich des Wirklichen oder den mathematischen
Apparat einer solchen Wissenschaft; sie ist auch nicht "Natur-
philosophie" als eine besondere philosophische Disziplin, sie
ist die Ontologie des endlich-Seienden, die Ontologie
des Dinges im Rückgang in die es bedingenden Gründe, als wel-
che insgesamt die PHYSIS, die Natur verstanden wird. Dabei ist
die TECHNE nicht ausgeklammert, im Gegenteil: die Klärung des
Wesens der TECHNE vollzieht sich gerade ineins mit der Aufhel-
lung der PHYSEI ONTA - und umgekehrt -. Es macht eine bedeu-
tende methodische Schwierigkeit der aristotelischen "Physik"
aus, daß das Wechselverhältnis von TECHNE und PHYSIS selbst
nicht zu einer entscheidenden Durchsichtigkeit kommt, - dass
Aristoteles von der TECHNE aus die POIESIS der Natur anzeigend
verdeutlicht. Der TECHNE sind gleichsam die Kategorien ent-
nommen, mit denen das von Natur aus Seiende begriffen wird.
Daneben spielt allerdings der generative Vorgang der Erzeugung
(das biologische Werden) eine gleichrangige Rolle als Modell-
vorstellung. Vereinfachend gesagt: in der TECHNE entsteht jeweils
ein Werk, ein ERGON. Das Werkgebilde ist, wenn es aus der
TECHNE hervorgegangen ist, damit eingegangen in ein eigenstän-
diges Sein, es steht für sich, ist abgelöst, es beruht nun in sich
selbst. Aber es hat in seinem fertigen Dastehen immer noch die
sinnhafte Rückverweisung in die es bedingenden Gründe. Ein
Werkgebilde ist aus etwas; der Schuh besteht aus Leder, der
Krug aus Ton, die Bildsäule aus Erz; der Schuh aber ist nicht nur
das, woraus er besteht, sondern ist eine besondere Form, in die
das Material gebracht ist; diese Form entspricht einem Zweck;
der Zweck (der Schutz des Fußes) ist das, worumwillen die Form
so und so gebildet wurde, aber das Leder kann keinen Schuh
machen, so wenig wie der Zweck; die Zusammenfügung von Stoff
und Form muss bewirkt werden durch den Schuhmacher, der den
Zweck kennt und auf ihn vorblickt und die Bewegung vollbringt,
die Form und Stoff zusammenkommen lässt in den fertigen
Schuh. Am Werkgebilde der TECHNE lassen sich also abheben
vier Gründe für dieses Seiende: das Woraus des Bestehens, der
Stoff, die HYLE; die bestimmte anblickshaft geprägte Form, die
MORPHE, durch welche dieses Seiende eben ist, was es ist: ein
Schuh; ferner den die Herstellung motivierenden und den Gang
204 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

des Werkens regelnden Zweck, das Worumwillen (das HOU


HENEKA) und endlich den Bewirker als den Anfang der Bewe-
gung, durch welche Stoff und Form in ein Gebilde zusammen-
gehen; die bewirkende Ursache nennt Aristoteles das Woher des
Anfangs der Bewegung (HOTHEN HE ARCHE TES KINESEOS). In der
lateinischen Terminologie also die causa materialis, die causa
formalis, die causa finalis und die causa efficiens. Wie weit in der
lateinischen übersetzung, welche die scholastische Aristoteles-
Interpretation beherrscht, wesentliche Momente des ursprüng-
lichen spekulativen Sinnes verloren gingen, kann jetzt nicht
erörtert werden. Wesentlich ist aber jetzt, daß für Aristoteles die
Verfassung des technischen Dings das Leitmodell abgibt, um die
ontologische Struktur des endlich Seienden überhaupt als ein
Gefüge der vierfachen Gegründetheit zu entwerfen. Das von
Natur aus Seiende besteht aus einem "Stoff", hat eine "Form";
das kann jetzt offenbar nicht den genau gleichen Sinn haben wie
vorher; beim technischen Ding, etwa einem Gerät, ist das ohne
weiteres einsichtig: ein Pflug ist aus Eisen; aber das Eisenstück
in seiner ursprünglichen Naturform, das Erz, woraus besteht
denn es? Können wir das auch so geradehin angeben wie beim
Pflug? Bei den Lebewesen scheint dies leichter zu gelingen: ein
Tier besteht aus Fleisch und Knochen, - woraus aber diese?
Eben aus dem, was das Tier als seine Nahrung aufnimmt, z.B.
aus den pflanzlichen Stoffen, die es frißt; - und diese, aus dem
Erdreich, aus dem sie ihre Nahrung ziehen, aus der Luft, die sie
atmen, aus dem himmlischen Feuer der Sonne, die ihnen scheint,
und aus dem Regen, der sie erquickt. Aber Erde, Nässe, Luft
und Feuer - woraus bestehen den nun wieder diese? Sie sind
doch nicht bloße Stoffe, die einfach herumliegen, sie haben
selber ein ganz bestimmtes Aussehen, einen verlässlichen Anblick,
sie sind im ganzen geformt. Der Stoff, aus welchem ein techni-
sches Ding besteht, ist überhaupt nicht ein ungeformter, form-
loser Stoff, sondern immer schon ein bestimmtes Naturding, das
ein "Gesicht" hat, das als ein Was kenntlich ist. Der Stoff der
Naturdinge aber, gesetzt dass der Gedanke streng gedacht werden
soll und nicht nur ein relatives Verhältnis meint, ist überhaupt
nie "gegeben"; die Zusammensetzung des Naturdinges aus Stoff
und Form ist kein bereitliegendes Phänomen, das wir einfach in
seine vorhandenen Bestandteile auflösen können. Jedes Natur-
ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM 205

ding ist schon geformt, sofern es erscheint und sich zeigt. Und
das bedeutet ferner, dass auch der Zweck, das Worumwillen,
nicht in seiner Vorgängigkeit einfach offenkundig ist, sondern im
Ding selbst liegt: das Ding, so wie es ist, ist schon der realisierte
Zweck; er steht nicht noch aus; und ebenso ist schließlich die
bewirkende Ursache, die das Seiende (als Naturding) hervor-
bringt und seinläßt, gar nicht in ihrem Wirken und Tun zu Ge-
sicht zu bringen: sie muss schon ihr Werk getan haben, wenn das
bewirkte Seiende ist, d.h. angekommen ist in einem Erschei-
nen. Nicht also nur die PROTE HYLE, die "materia prima" ist
nicht gegeben, sondern auch die anderen bedingenden Gründe
des Dings erscheinen nicht selbst, weder das Worumwillen, noch
das EIDOS, noch der Anfang der Bewegung. Es erscheint vielmehr
das Ding selbst, das durch das Zusammenwirken der vier Seins-
gründe als deren Gewirk hervorkommt ins Feld des Sichzeigens.
Das Zurückdenken vom erscheinenden Seienden in die bedingen-
den Gründe ist spekulativ.

Wir haben mit einer gewissen Gewaltsamkeit eine Trennungs-


linie gezogen, die Aristoteles eher zu verwischen und aufzuheben
trachtet. Die ontogonische Genealogie des Seienden wird bei ihm
nicht so schroff abgeschieden von den phänomenalen Momenten.
Aristoteles zögert immer wieder, die Bewegung, wodurch das
Naturding ins Sein gelangt, scharf abzusetzen von der Bewegung,
die das seiende Ding durchwaltet, die es durchströmt als das all-
gemeine Leben der Natur; er zögert, das TELOS, als welches das
Ding ist, wenn es angekommen ist im Sein, abzutrennen von dem
Ziel, auf welches zu es noch unterwegs ist, etwa wie die blühende
Pflanze auf die Reifezeit der Frucht. Und ebenso zögert er, HYLE
und EIDOS gleichsam in ihrer unverbundenen Isoliertheit einan-
der entgegenzusetzen: auf diesem Zögern, das gewiss keine
Unachtsamkeit dieses scharfsichtigen Denkers ist, beruht die
bereits angedeutete Zweideutigkeit des PHYSIS-Begriffs. Die
PHYSIS ist ihm nicht eine Seinsmacht, welche ursprünglicher als
die endlichen Dinge ihnen allen "zugrundeliegt" , sie ins Dasein
wirft und daraus wegreißt, sie ist ihm eher das Anwesende in
allen Dingen; sie ist ihm szs. nicht getrennt von den PHYSEI
ONTA, eher ist sie das in ihnen allen Waltende, sie Durchwirkende.
Das Verhältnis von PHYSIS und den PHYSEI ONTA bedarf noch der
206 ARISTOTELES: PHYSIS UND WELTPROBLEM

Erörterung, gerade unter dem Blickwinkel des genannten aristo-


telischen Zögerns. Dieses Zögern ist der tiefere Grund dafür, daß
der Stil der aristotelischen Spekulation oft aussieht wie eine
Beschreibung von Phänomenen - und auch der Grund dafür,
dass seine Interpretation von Raum, Zeit und Bewegung prinzi-
piell durch den Hinblick auf binnen weltliche Strukturen
geführt bleibt, selbst dort, wo er der Sache nach darüber hinaus-
denkt.

Das soll verdeutlicht werden an einem kurzen, vielleicht


skizzenhaft bleibenden Hinweis auf Aristoteles' Lehre von TOPOS,
CHRONOS und KINESIS.
ARCHE UND DING. RAUM-ANALYTIK
AM PLATZTAUSCH ORIENTIERT
ANALOGIE VON GEFÄß UND RAUM

Die eigenartige Verwandlung des Begriffs der ARCHE bei Aris-


toteies führt zur Einebnung eines fundamentalen Unterschieds,
der in seiner Unausdenklichkeit das eigentliche Element des
Denkens war - des Unterschieds nämlich zwischen Welt und
Ding. Die vorsokratischen Denker insgesamt, unerachtet des
tiefgehenden Gegensatzes zwischen den jonischen PHYSIOLOGOI
und den Eleaten, begriffen das erscheinende Seiende, die Dinge,
als abkünftig, als herkommend aus Wurzelgründen, welche
nicht das Beschränkte von dinghaft Seiendem an sich haben,
sondern in einem verwegenen Sinne das Unbeschränkte und
Unbedingte sind: ARCHE TON ONTON TO APEIRON. Die Dinge
wachsen hervor aus dem Abgrund, sie gehen aus ihm auf und
fallen wieder in ihn zurück; Schoß und Grab, Dionysos und
Hades ist eines und dasselbe. Wie immer auch der "Abgrund"
jeweils gedacht wird, ob als das Gegenspiel von Licht und Nacht,
Lichtung und Verbergung, oder als das Einfache des Seins (HEN-
EON), so ist doch immer der abgründige Unterschied zwischen
der Dimension des Ursprungs und derjenigen der entsprungenen
Dinge in schärfster Weise bewußt; Philosophieren ist das Heim-
denken in den Grund, in welchem alles eins ist. Auch bei Platon
noch findet sich diese Tendenz: die Dinge werden begriffen als
die EKGONOI, als die Sprößlinge, die aus der Vermischung und
Vermählung von lichthafter Idee und nächtiger CHORA hervor-
gehen; Idee und CHORA haben nicht nur eine Parousie in den
Dingen, sie sind ebensosehr durch einen CHORISMOS, durch eine
Trennung von ihnen entfernt. Aber gerade gegen den CHORIS-
MOS der platonischen Idee wendet sich Aristoteles mit aller Lei-
denschaft, die nicht vor maßloser Verzerrung der platonischen
Gedanken zurückschreckt. Bei Aristoteles wird die ARCHE, die
Abgrund war, nunmehr zum "Grund", zur Ur-sache; die ARCHE
208 ARCHE UND DING

ist ihm nicht etwas Geheimnisvolles, was allem Seienden vor-


aufliegt, sie wird zur Struktur des Seienden, zu seinem ontolo-
gischen Gerüst, d.h. zur Seiendheit der Dinge umgedeutet. Aber
dabei vollzieht sich die Umdeutung nicht in einer glatten
Massivität, sondern mit jener seltsamen Zweideutigkeit, wo
immer noch das Ursprüngliche des Ursprungs hereinschillert und
doch schon etwas am Seienden zu sein scheint. Die ARCHE kann
nicht "eins" sein, sagt Aristoteles, in dem Sinne, dass sie gleich-
sam für sich bliebe, - dass sie als in sich ruhend, sich selbst
genügend allein ohne die Dinge wäre; für Aristoteles ist der
Ursprung zusammen mit dem Entsprungenen, ja sogar etwas
am Entsprungenen. HE GAR ARCHE TlNOS E TINON, "denn die
ARCHE ist eben Anfang eines Anderen oder mehrerer Anderen"
(Phys. 185 a4). Das also, wovon der Anfang Anfang ist, hängt mit
dem Anfang zusammen; dabei ist es von entscheidender Bedeu-
tung, daß Aristoteles diesen Zusammenhang szs. als einen seien-
den Zusammenhang nimmt; das IST nivelliert den Unterschied
von ARCHE und DING, ebnet die Differenz ein zwischen Welt
als dem Abgrund und den innerweltlich seienden Dingen. Der
aristotelische Entwurf der Gegründetheit des Seienden nimmt
die ARCHE in die Verfassung des Dinges hinein. Das Grundsein
des Grundes wird vom Ding aus verstanden - und nicht
mehr primär das Dingsein vom Grunde aus. Das Ding als
solches hat die Struktur, aus etwas zu bestehen, ein Aussehen
zu haben, ein Gesicht, in Bewegung zu sein: auf ein Ziel zu
und angetrieben von einem Bewegenden.

Wir wiesen schon darauf hin, wie Aristoteles am Modell der


TECHNE zu dieser vierfachen Struktur der Gründung kommt.
Am technischen Ding lassen sich diese vier Gründe phänomenal
einsichtig aufweisen. Bei einer solchen Aufweisung aber wird auf
das Naturding zurückgegriffen: dessen Auslegung am Schema
der vier Gründe ist nicht mehr unmittelbar einsichtig, ist schon
eine spekulative Deutung. Die Natur, die PHYSIS, bringt analog
hervor wie die TECHNE. Diese "Analogie" ist gerade das speku-
lative Moment der aristotelischen Ontologie, die zwar eine
Ontologie des innerweltlich Seienden ist, aber nicht in der Blick-
bahn auf das "Phänomen" ausschließlich verläuft. Die Analogie
übersteigt und durchbricht das Phänomenale. "Die zugrunde-
ARCHE UND DING 209

liegende PHYSIS ist verständlich durch Analogie; denn wie sich


zur Statue das Erz oder zum Stuhle das Holz oder wie sich zu
irgendeinem anderen von dem, was Gestalt hat, der Stoff und
das Amorphe vor Annahme der Gestalt verhält, so verhält sich
diese Natur zur OUSIA, zum bestimmten Dies-da und zum Seien-
den" (Phys. 191a8). Das So- Wie des analogischen Verstehens
enthält zwar immer noch das Wissen um die Differenz der beiden
Sphären, die verglichen werden, aber andererseits doch auch
einen konstruktiven Zusammenschluß. Nicht allein wird das
Naturding dem technischen Ding angenähert, auch die Natur
selbst, die produzierende, rückt aufs Engste mit ihrem Produkt
zusammen. PHYSIS und die PHYSEI ONTA fallen zwar für Aristo-
teles nicht einfach zusammen, aber auch nicht auseinander in den
abgründigen Unterschied von Welt und Dingen. Wenn Heraklit
noch sagen konnte, daß die PHYSIS sich zu verbergen liebt, so
wäre es der aristotelischen Position angemessener, zu sagen, dass
die Natur sich zu zeigen liebt. Sie ist ihm, gleichsam, das Erschei-
nende in allen erscheinenden Dingen, das Anwesen in allem
Anwesenden. Die Natur entflieht ihm nicht in die mystische
Nacht des Unsäglichen, sie ist ihm nicht das geheimnisvoll Ur-
Eine von Schoß und Grab, sie ist nicht das paradox Anzudenken-
de und paradox Anzusprechende, etwa mit jenem Satz des
Heraklit, daß alles eins ist; sie ist reines Anwesen, gegenwärtiges
Sein, das sich mit und in allen Dingen zeigt; Aristoteles wird
nicht müde, immer wieder gegen den Satz des Herakleitos zu
kämpfen; er besteht auf der Unterschiedenheit der seienden
Dinge, auf ihrer festen Verwahrtheit in Umriß und Gestalt, auf
ihrer eindeutigen Sagbarkeit, ihrem logischen Gepräge, das sie
dem Satz vom Widerspruch als oberstem Prinzip unterwirft.
Deswegen wird die Bewegung für ihn so zum zentralen Problem.
Er wendet eine ungeheuere Anstrengung des Denkens daran, den
anscheinenden Widerspruch von Festigkeit des Seienden und
Bewegtheit aufzuklären, die Bewegung selbst in ihrem Struktur-
gefüge durchsichtig und so zu einem seienden Moment zu machen.
Das Sagen, das LEGElN wird für Aristoteles zur führenden Hin-
sicht für die Interpretation des Seienden: das Sagen aber ist
ihm die verlässliche, eindeutige Rede, welche die Dinge unter-
scheidet, sie in ihren Unterschieden festhält, - die Rede, welche
recht verbindet und auseinanderlegt. Die vom Satz vom Wider-
210 ARCHE UND DING

spruch beherrschte Rede ist das Organon der aristotelischen


Philosophie. Das besagt aber: der nicht-spekulative Satz be-
ansprucht die Führung der Spekulation. "ARCHE DE OIKEIOTATE
PASON, EPEIDE POLLACHOS LEGETAI TO ON, POS LEGOUSIN HOl
LEGONTES EINAI HEN TA PANTA, der am meisten geeignete Anfang
aber ist, da das Wort "das Seiende" in vielen Bedeutungen
gesagt wird, zu sehen, in welcher Bedeutung es jene sagen, welche
behaupten, alles sei eins". (Phys. 185 a20). Die Weisen des Sagens
und Ansprechens von Seiendem entscheiden für Aristoteles über
die Wahrheit des Wissens vom Grunde der Dinge. Seine Philoso-
phie ist in einem gesteigerten Sinne Onto-Iogie: nicht nur der
Gedanke des IST leitet die Blickbahn für alles Fragen und Ant-
worten, sondern das IST seinerseits gerät unter die Macht des IST-
SAGENS. Zusammengefaßt: Aristoteles nivelliert den Unterschied
zwischen Wurzelgrund des Seienden und den seienden Dingen;
Grund, ARCHE, wird zum strukturellen Moment des Dinggefüges ;
PHYSIS und die PHYSEI ONTA rücken zusammen in die Einheit von
Anwesen und Anwesendem; die Spekulation gewinnt den An-
schein phänomenaler Auslegung und muss doch immer wieder
das Erscheinen an alogisch übersteigen; die prinzipielle Leitung
für Ansatz und Ausarbeitung der Fragen bildet die vielfältige
Weise, wie die Rede vom Seienden spricht. In diesen Momenten
zeigt es sich, daß die Philosophie des Aristoteles primär eine
Ontologie des innerweltlich Seienden ist.

Dieser Stil seines Denkens .kommt deutlich und mit aller


Schärfe zum Ausdruck in seinen Theorien über Raum, Zeit und
Bewegung. Das 4. Buch der "PHYSIK" handelt thematisch von
Raum und Zeit. Ihm geht voraus eine ausführliche und eindring-
liche Erörterung des APEIRON, welche für ein tieferes Verständnis
unbedingt vorauszusetzen ist; denn nur auf ihrem Hintergrunde
ist die Raumauffassung des Stagiriten wirklich zu klären. Die
Natur des APEIRON wiederum hängt mit der Bewegung, und diese
mit der Natur überhaupt zusammen. Diese ganze Verflechtung
der Problematik kann auf dem kurzen Raume, der uns zur Ver-
fügung steht, auch nicht skizzenhaft dargestellt werden. Es
bleibt hier bei dem Versuch, einzelne Motive durchzuklären. Die
Frage nach dem Raume wird gleich von Anfang an so gestellt,
daß gefragt wird, 0 b er ist, wie er ist, was er ist. Das IST in einer
ARCHE UND DING 211

dreifachen Weise bildet so den Horizont des Problems. Wenn


wir so obenhin von "Raum" reden, meinen wir etwas Vieldeuti-
geres und Allgemeineres, als es hier bei Aristoteles der Fall
ist. Raum gebrauchen wir in direktem und im übertragenen
Sinne; wir sprechen von Raum als dem Worin des Ausgedehn-
ten, vom "physikalischen Raum", vom geometrischen Raum,
vom biologischen Umraum, vom Raum menschlicher Umwelt,
vom Geschichtsraum, vom Lebensraum eines Volkes usw.;
Aristoteles nimmt Raum an dieser Stelle in dem bestimm-
ten Sinne von Ort eines beweglichen Seienden über-
haupt, d.h. als Ort eines Naturdings. Das Naturding bedeutet
dabei aber nicht die abstraktive Abblendung eines konkreten
Dinges auf die extensionale Struktur, auf die materielle Körper-
lichkeit; das Naturding ist vielmehr das konkrete Seiende, etwa
ein Felsblock, ein Baum, ein Tier, ein Mensch, - oder auch ein
Krug oder ein Haus, sofern solche Dinge aus TECHNE doch auch
immer noch dem Material nach, woraus sie bestehen, Naturdinge
sind. Alle solchen Dinge sind irgendwo, sind an einem Ort;
sie haben einen Platz in der großen Versammlung alles Seienden,
sie nehmen einen Platz ein. Aber sie sind nicht unabänderlich an
ihren Ort gebannt, sie können sich bewegen (bzw. können bewegt
werden); die Dinge können ihren Ort verlassen und an einen
anderen Ort hingelangen; solch ein Weggehen aus einem Ort an
einen anderen bedeutet aber doch nicht, daß dabei das bewegte
Ding irgendwann einmal, und sei es nur ganz vorübergehend,
ortslos wäre; es ist immer irgendwo, auch wenn es den Ort
verläßt. Wo ein Ding weggeht, muss ein anderes ankommen;
Weggang des einen ist Ankunft des anderen. M.a.W. die Dinge
bewegen sich im Platztausch, in der ANTIMETASTASIS. Dieses
Phänomen des Platztausches spielt für Aristoteles eine ganz
wesentliche Rolle. Zunächst dient es dazu, überhaupt den Ort,
den TOPOS, abzuheben von dem Ding im Ort: die Dinge wechseln,
der Ort bleibt, ja er muss bleiben, damit überhaupt ein Wechsel
der Dinge in ihm stattfinden kann. Das Bleiben des Ortes ist die
Bedingung der Möglichkeit des Wechsels des inner-örtlich Seien-
den. Dieser Ansatz zeigt deutlich, daß Aristoteles mit TOPOS, mit
Ort, nicht einfach das meint, was man gewöhnlich obenhin die
Ausdehnung nennt. Denn das körperhafte Ding ist doch ausge-
dehnt, ist eine res extensa. Ein Ding hat seine extension ale
212 ARCHE UND DING

Figur, seine Gestalt, etwa ein Blatt; die Figur des Blattes ist
keine bloß geometrische Gestalt, sie ist materiell erfüllte Gestalt;
das Blatt hat seinen Raum, seine Raumgestalt ; diese ihm eigene
Raumgestalt aber müssen wir doch unterscheiden von dem Orte,
wo das Blatt jeweils ist, - wir müssen unterscheiden den Ding-
raum, den figuralen Eigenraum, und den Raum, den es zu Zeiten
einnimmt, den Ortsraum.

Die aristotelische Raumauffassung ist vom Ortsraum aus


bestimmt. Sowohl der Dingraum selbst, als auch der Welt-
raum bleiben in seiner Raumanalytik unterbestimmt. Raum ist
ihm primär TOPOS, Ort. Das Blatt, das jetzt am Baum ist, kann
vom Wind abgerissen und entführt werden; es wechselt den Ort;
dort, wo es bislang war, ist nun nicht einfach nichts mehr, son-
dern ist Luft; und diese strömt immerzu, immer ist andere und
wieder andere Luft dort. Der Eigenraum des Dinges, hier des
Blattes, kann sich aber auch verändern, das Blatt welkt, schrumpft
zerfällt; oder vorher: der Blattkeim wächst und entfaltet sich,
nimmt zu, wird größer, dehnt sich aus. Ortsbewegung und Zu-
und Abnahme sind Bewegungsweisen der Dinge, die im Ort sind.
Aber wie ist so etwas überhaupt möglich? Es hat seine Schwie-
rigkeiten, wenn man den Ort nicht unterscheidet von dem Ding
im Ort, und es hat ebenso seine Schwierigkeiten, wenn man ihn
unterscheidet. Im ersteren Falle müsste ja der Ort mit dem Ding
szs. mitgehen, wenn es weggeht, er müsste mitwachsen, wenn es
wächst, müßte schrumpfen, wenn das Blatt welkt. Der Platz-
tauseh, Weggang und Ankunft von Dingen zur selben Zeit am
selben Ort, - dies ist das Phänomen, welches den Unterschied
motiviert zwischen Ort und Ding im Ort. Der Raum als Raumort
für die darin hausenden Dinge aber ist nicht ein gleichgültiges
Medium. Aristoteles nimmt ihn nich t, wie wir es vielleicht tun
würden, als ein neutrales, homogenes Stellensystem, als eine
Mannigfalt von Lagen. Topos hat für ihn eine ursprüngliche
DYNAMIS, eine Kraft und Fähigkeit. Das Ganze der Orte hat
gleichsam "Gegenden", die nicht reine Orientierungsrichtungen
sind, sondern gleichsam eine "Qualität" haben; das Oben und
Unten bestimmt sich nicht vom Menschen aus, wie das Rechts und
Links und das jeweilig Wechselnde der Richtungen, es bestimmt
sich von einem wesentlichen Zusammenhang aus zwischen Ort
ARCHE UND DING 213

und den Elementen, d.h. den "Einfachen Körpern". Wir sprechen


gewöhnlich auch von "Himmelsrichtungen" und meinen damit
ausgezeichnete Orte, etwa des Sonnenaufgangs und Untergangs.
Die Sonne, das Feuer am Himmel, bildet einen ausgezeichneten
Ort für Aristoteles, nämlich das Oben, und die Erde, das Schwere,
den Gegenort des Unten. Erde und Himmel sind so die unver-
rückbar ausgezeichneten Gegenden des Raumes, zwischen denen
alle Dinge ihre natürlichen, naturgemäßen Bewegungen haben:
oben kreisen die Feuer, Sonne und Sterne, unten liegt die schwe-
re Erde, - aus ihr heraus heben sich die Pflanzen ans Licht, auf
ihr wandeln die Tiere und Menschen; oben aber sind auch die
Himmlischen und unten die Sterblichen, es sei denn der Sterbli-
chen einer werde durch Gewalt oder Huld der Götter hinaufge-
rissen wie Ganymed oder Herakles. Das ANO (Oben) und KATO
(Unten) nennt Aristoteles MERE KAI EIDE, "Teile und Arten" des
Ortes. Was er dabei im Blick hat, ist in gewisser Weise das Ganze
des Weltraumes, aber er gibt diese Sicht dadurch wieder preis,
daß er die Auslegung immer wieder zurückdreht auf den Ort des
einzelnen Dinges und von dort aus bestimmt, was überhaupt
Ort ist, und dann erst die Ganzheit des einen Orts bestimmt, in
welchen die vielen Orte zusammenstehen in einer Unterschie-
denheit der Weltgegenden.

Wenn jedes Ding im Ort ist, dann ist anscheinend der Ort das
Ursprünglichste von allem; denn kein Ding scheint bestehen zu
können ohne ihn, wohl aber er ohne Dinge, was wir doch meinen,
wenn wir gewöhnlich etwa vom Leeren sprechen und es, wie
Aristoteles sagt, auffassen als einen von Körpern entblößten Ort.
Aber gegen diesen sich andrängenden Gedanken von der Vor-
gängigkeit des Orts vor allen Dingen, die ja je in einem Ort sein
müssen, macht nun Aristoteles Einwürfe, die zeigen sollen, daß
der Ort nichts Eigenständiges sein kann. Der Denker reisst hier
gleichsam mit größer Anstrengung das Steuer herum und zwingt
die Fahrt in eine andere Richtung, Vielleicht wäre er nahe daran
gewesen, den entscheidenden Übergang vom Ortsraum zum
Weltraum und damit zum ursprünglichsten Wesen des Raumes
zu vollziehen. Die Art der nun entwickelten Aporien zeigt mehr
als deutlich, daß Aristoteles immer wieder den denkerischen
Ansatz beim innerweltlich Seienden aufnimmt, - dass er zurück-
214 ARCHE UND DING

weicht, wo er bereits darüber hinausgekommen ist. Die Frage


wird nun aufgeworfen, welche Natur denn der Ort habe, ob die
einer Masse oder eine andere. Ort wird dabei subsumiert unter
ein Allgemeineres. Der Ort hat Ausdehnungen offenbar (DIASTE-
MATA), aber auch die im Ort befindlichen Dinge haben solche,
haben eine Länge, eine Breite, eine Tiefe; jedes Körperding wird
durch diese Ausdehnungen begrenzt. Aber der Ort kann kein
SOMA, kein Körper sein, - wohl aber muß die Ausdehnung des
Körpers mit der Ausdehnung des Orts, worin jener ist, in einem
Verhältnis stehen: wenn es für den ganzen Körper einen Ort gibt,
worin er ist, dann offenbar doch auch für die Flächen des Kör-
pers ebenfalls einen Ort, worin sie sind; - wie aber nun beim
Punkt? Läßt sich auch dort unterscheiden der Punkt etwa des
Körperdings und ein Ort für diesen Punkt. Offenbar nicht. Am
Punkt wird die Unterscheidung des Darinseienden und des Worin
hinfällig. Die Eigenständigkeit und vorgängige Ursprünglichkeit
des Orts wird problematisch. Die Natur des TOPOS wird immer
rätselhafter. Er ist kein STOICHEION, kein Baustein, woraus die
Dinge bestehen, er ist nicht selber etwas Körperhaftes, aber alle
Körper sind in ihm; er ist aber auch nicht unkörperlich wie etwa
die Ideen; er hat Größe (MEGETHOS), aber keinen Körper (SOMA);
er ist - und ist doch kein "Seiendes", er ist auch keine der vier
Ursachen des Seienden, er ist weder HYLE, noch EIDOS, noch
KINOUN, noch TELOS. Dass der Ort nicht zu einer der vier Ur-
sachen des Seienden gehört, wird von Aristoteles nicht einfach
bloß behauptet; im Gegenteil, das wird in einer äusserst subtilen
und scharfsichtigen Weise durchexerziert; denn es hat gewöhn-
lich den Anschein, als sei der Ort etwas dergleichen. Aristoteles
unterscheidet den TOPOS KOINOS, den gemeinsamen Ort, "in
welchem alle Körper insgesamt sind", und den TOPOS IDIOS, den
einzelnen Ort des einzelnen Körperdings. Der Gang seiner
Raumanalytik ist dabei wieder so, dass er vom TOPOS IDIOS aus
letztlich den TOPOS KOINOS interpretiert, d.h. vom binnenwelt-
lichen Ort des Einzeldinges aus die Ortsganzheit aller Orte. Der
TOPOS IDIOS wiederum ist zunächst der PROTOS TOPOS, der Ort,
der nichts umfaßt als ein Einzelding. Aristoteles sagt verdeut-
lichend: "Du bist jetzt im Himmelsgebäude, weil du in der Luft
bist, diese aber im Himmelsgebäude ist, - und in der Luft bist du,
weil du auf der Erde bist und ebenso auf dieser bist du, weil du in
ARCHE UND DING 215

diesem bestimmten Orte bist, welcher nichts weiter als bloss dich
umfaßt."

Der Ort gewinnt seine erste, wenn auch noch nicht vollständige
Bestimmung: TOPOS ist "TO PROTON PERIECHON TON SOMATON
HEKASTON, das erste Umfassende, das jegliches der Körperdinge
umgreift" - und also PERAS, Grenze ist. Als umgrenzende
Grenze aber scheint damit der Ort etwas Ähnliches zu sein wie
das Eidos, das ja auch ein Ding anblickshaft umgrenzt, ihm den
Umriß, die Gestalt gibt. Andererseits aber hat es den Anschein,
weil der Ort ja eine Größe hat, eine Ausdehnung, ein DIASTEMA,
daß er etwas Zugrundeliegendes sei, eine Art von HYLE. Aber er
kann nicht EIDOS und nicht HYLE sein, weil überhaupt Eidos und
HYLE nicht abtrennbar sind von dem Seienden, das sie zusammen
bilden. Der Raum, der Ort, aber ist, wie doch der Platztausch
zeigt, vom Ding abtrennbar. Der Ort umfasst das Ding, wie ein
Gefäß, wie der Krug das Wasser. Der Krug umfaßt das Wasser,
umgrenzt es, grenzt es ein, aber er ist nicht die Gestalt des Was-
sers selbst, - er ist trennbar von seinem Inhalt; er ist nicht die
eigene und eigentümliche Form, nicht das EIDOS des Wassers.
Die Leitvorstellung vom Gefäß, das in seinem Fassen
etwas umfaßt und doch nicht mit dem Umfaßten zusammenfällt,
wird für die Raumauslegung des Aristoteles schlechthin zentral.
Zunächst aber ist sie nur beiläufig herangezogen. Sofern der Ort
abtrennbar ist von dem Ding im Ort, wie der Krug vom Wasser,
ist er nicht EIDOS, - und sofern er umfängt, umfangend eingrenzt,
wieder wie der Krug das Wasser eingrenzt, ist der Ort nicht HYLE.
Der TOPOS kann auch schon deswegen weder HYLE noch EIDOS
sein, weil- wenn er so etwas wäre - er sich ja mitbewegen müßte
mit dem Ding; und das hieße, daß es einen Ort des Ortes geben
müsse, einen Ort also, worin Orte Platztausch machten, und so
fort in infinitum. Mit dem Argument vom Widersinn eines
unendlichen Regresses operiert Aristoteles an vielen entscheiden-
den Stellen seiner Philosophie, z.B. gegen die platonische Ideen-
lehre. Aber es wäre vielleicht einmal aufschlußreich, die innere
Voraussetzung seines Arguments zu prüfen - und darauf hinzu-
weisen, wie sehr dieses Argument durch den prinzipiellen aris-
totelischen Ansatz beim innerweltlichen Ding bestimmt ist
und in seiner Schlagkraft davon letztlich abhängt. Daß Aristo-
216 ARCHE UND DING

teles SO ausführlich die Aporien durchspricht, die sich ergeben


aus der versuchten Auffassung des Orts als EIDOS oder als HYLE
der vom Ort umfaßten Dinge, hat seinen tieferen Grund darin,
daß der ontologische Aufriß der Dingheit gemäß den vier Ur-
Sachen das Schema seiner Problemstellung bildet; - und dieses
Schema drängt sich vor, weil er primär frägt, ob und wie und was
der Ort "ist" ". Das IST aber versteht Aristoteles vorwiegend als
das Sein von Seiendem d.h. von endlichen Dingen, deren Seins-
gefüge durch die vier Ursachen konstituiert wird.

Der Ort "ist", aber ist nicht etwas Selbständiges wie ein Ding
und auch nicht wie eine der vier" Ursachen" eines Dinges, - er
ist also auf eine rätselhafte und ganz unglaubliche Weise; die
Dinge sind "in ihm", und zwar so, daß sie als ein anderes in einem
anderen sind, nicht wie ein Ding in einem Ding, sondern in einer
gänzlich anderen Art und Weise. Dieses Rätsel motiviert nun
eine Besinnung auf das Insein überhaupt. Es wird erörtert,
"in wievielen Bedeutungen gesagt werde, daß etwas in einem
anderen sei", "POSACHOS ALLO EN ALLO LEGETAI". Aristoteles
unterscheidet acht Weisen von Insein: die Weise, wie ein Teil in
einem Ganzen ist, wie ein Ganzes in seinen Teilen ist, - wie der
Mensch im Lebewesen d.h. wie eine Art in einer Gattung, wie
eine Gattung in einer Art, - ferner wie Form im Stoffe, dann wie
das erste Bewegende im Bewegten, wie das Seiende im Endzweck,
- und endlich wie etwas in einem Gefäße, ja überhaupt in einem
Orte ist. Die aristotelische Wesensbestimmung von TOPOS voll-
zieht sich unter der Leitung eines binnenräumlichen Verhältnisses
von Umfassen am Leitmodell des Gefäßes. Dabei ist es nicht so,
daß Aristoteles einfach den Ort als ein Gefäß auffaßt, - daß er
das Gefäß-sein nicht weiter diskutiert; im Gegenteil, er exponiert
aus dem Wesen von TOPOS die Natur von "Gefäß" und umgekehrt
aus der Natur des Gefäßes die Natur des Orts. Das scheint ein
circulus vitiosus zu sein, - aber nur für den, welcher die "meta-
phorische" Natur der philosophischen Modellvorstellungen
nicht begreift. Zwischen Ort und Gefäß, zwischen TOPOS und
AGGEION waltet eine eigentümliche Entsprechung. Zwar ist das
Gefäß, der Krug ein Ding, er enthält auf dingliche Weise andere
Dinge, z.B. Wasser oder Wein; er ist ein Hohlraum, worin sich
ein anderes einräumen lässt. Der Krug bietet Raum für irgend-
ARCHE UND DING 217

welchen Inhalt, - er ist ein Behälter; - als Behälter ist er ein


PERlECHON, ein Umfassendes, das vom Umfaßten verschieden
ist. Diese Momente aber sind es, die für Aristoteles am Modell
des Gefäßes bedeutsam werden. Das Gefäß ist gleichsam ein
übertragbarer Ort; es hat etwas Ortshaftes an sich: das Umfan-
gen und das Verschiedensein vom Umfangenen, aber es hat auch
Dinghaftes an sich, das Bewegbarsein; der Krug kann hier weg-
genommen und dorthin gestellt werden, er ist von einem Ort zu
einem anderen Ort hin beweglich. Insofern gleicht er gerade
nicht dem TOPOS. Aristoteles bestimmt die Entsprechung
schließlich analogisch: "so, wie das Gefäß ein übertragbarer
Ort ist, so ist der Ort ein unübertragbares Gefäß". Ort und
Gefäß werden wechselseitig durch einander interpretiert.

Als Grund der Möglichkeit dafür, daß überhaupt der Ort


Problem werden kann, gibt Aristoteles das Faktum der Orts-
Bewegung an. Von der Bewegung aus gewinnt er dann den
Aufriss der Möglichkeiten, unter denen eine eben das Eigentüm-
liche des Ortes sein muss. Diese Möglichkeiten sind: der Ort ist
entweder EIDOS oder HYLE oder DIASTEMA (Ausdehnung) oder
die äußerste Grenze einer Ausdehnung. Er kann nicht EIDOS
sein, denn die Form ist Form des Dinges, seine Eigengrenze, der
Ort aber ist die Außengrenze d.h. die Grenze des umfassenden
Körpers (im Krug-Modell gesprochen: die Wandung des Krugs,
nicht die Grenze des Wassers selbst). Der Ort ist aber auch nicht
der hohle Zwischen-Raum; was wie das Leere und Hohle aus-
sieht, ist z.B. die Luft, die an die Stelle des Wassers getreten ist.
Topos ist nicht HYLE, weil er erstens umfaßt und zweitens von
dem Umfaßten abtrennbar ist; das aber ist beim Stoff absolut
unmöglich; der Stoff umfaßt nicht das Ding, das aus ihm besteht,
und er lässt sich auch nicht von ihm abtrennen. So bleibt nur
noch eines: er ist die Grenze des umfassenden Körpers:
TO PERAS TOU PERIECHONTOS SOMATOS. Wichtig ist dabei vor
allem die Bestimmung, die Aristoteles nicht vom umfassenden,
sondern vom um faß t e n Körper gibt: "ich verstehe unter dem
umfaßten Körper das in der Ortsbewegung Bewegbare". Das
bedeutet aber für das Umfassende: es ist ein Worin von Be-
wegtem, das letztlich selber un bewegt verharrt.
Der bereits schon berührte Unterschied von Ort als Einzelort
218 ARCHE UND DING

eines Einzeldinges und Ort als Gesamtort aller Dinge muss jetzt
schärfer in den Blick genommen werden. Der Krug umwandet
das Wasser, er ist gleichsam die einbehaltende äussere Grenze,
die die Eigengrenze des Wassers umgreift; aber der Krug steht
auf dem Tisch, Tisch und Luft umwanden wieder den Krug, und
Erde und Himmel umwanden als Äusserstes alle Dinge, die
zwischen ihnen das Auf und Ab ihrer natürlichen und gelegent-
lich gewaltsamen Bewegungen haben. Obwohl Aristoteles
zunächst vom PROTOS TOPOS, vom Ort des Einzeldinges ausgeht,
vollendet er seine Wesensbestimmung des Orts doch erst im
Hinblick auf den KOINOS TOPOS, auf den Gesamtort. Das Frag-
würdige dabei aber ist, daß das Gesamt, das PAN, grundsätzlich
in den Aspekt eines Dinges einrückt, allerdings eines ungeheu-
ren und einzigen, und so von den Dingen im Ganzen verschieden
ist. Das Wesen des Orts ist dann bestimmt als die "äußerste und
den bewegbaren Körper berührende ruhende Grenze des Himmel-
gebäudes" . TOPOS ist nicht das Himmelsgebäude selbst, er ist
gleichsam die Außenschale der Weltkugel, das Weltgefäß,
welches ruht, während in ihm die Gestirne ziehen, die Jahres-
zeiten kommen und gehen, Ebbe und Flut der Lebensströme
wogen, die Völker eintreten in den Tag der Geschichte, Reiche und
Kulturen verlöschen, jedes Vergängliche seine Weile hat, solange
die Parze ihm den Lebensfaden spinnt. Aristoteles vergisst nicht,
wie man vielleicht meinen könnte, zu fragen, ob denn hin ter
jener Aussensehaie nicht wiederum Raum sei; er weist eine solche
Fragestellung ausführlich ab in der Durchdenkung des Begriffs
des Leeren, des KENON, was sich unmittelbar an seine Raum-
Lehre anschließt. Raum als Ort verstanden aber ist Gefäß für
Bewegtes und Bewegliches, ist unbewegtes Gefäß für bewegte
Dinge. Topos ist also für ihn nur etwas im Bezug auf Dinge.
Er ist zwar nicht etwas an Dingen, aber ist nicht ohne sie. Der
Raum als Weltgefäß für Dinge, genauer als unbewegtes Gefäß,
gleichsam als der große Mischkrug, in welchem der Wein des
Lebens gärt, ist für Aristoteles letztlich die äusserste allumspan-
nende Grenze des Himmels; der Himmel gewinnt einen unbe-
dingten Vorrang. Wie die Bewegungen am Himmelsgewölbe alle
irdischen Bewegungen übertreffen, wie der Gang der himmlischen
Feuer Tag und Nacht bewirkt, den Wandel der Jahreszeiten,
üppigkeit und Kargheit der Fluren, wie sie die Wetter senden,
ARCHE UND DING 219

von denen der landbebauende Mensch abhängt, so sind überhaupt


alle irdischen Dinge umfangen vom Himmel. Sein Ort ist der
Ort aller Orte. " .. und deswegen ist die Erde in dem Wasser, dies
aber in der Luft, diese aber in dem Aether, der Aether aber in
dem Himmelsgebäude, das Himmelsgebäude aber nicht mehr in
einem anderen". Aristoteles schneidet hier nicht einfach durch
einen Machtspruch eine weiterweisende Kette ab, etwa um die
Geschlossenheit und überschaubarkeit seines Weltbildes zu
retten, und was ähnlich törichte Redensarten sind. Der eigent-
liche Grund dafür ist allein dieser: nur der bewegbare Körper ist
überhaupt in einem Orte; an einem Orte sein und Bewegbar-
sein ist dasselbe. Ort und Bewegung hängen wesensmässig zu-
sammen. Der Himmel im ganzen ist, weil er als ganzer nicht mehr
bewegbar ist, auch in keinem Orte, obgleich seine äusserste
Grenze gerade der alles-umfangende Raum ist.

Die Raumlehre des Aristoteles, die hier vereinfachend auf


wenige Grundlinien zusammengedrängt wurde, ist ein instruk-
tives Beispiel dafür, wie er im Bedenken des Raumes an eine
Grenze seines dingontologischen Ansatzes kommt - aber ihn
doch nicht entscheidend durchbricht.
18

ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK


DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND
DAS IN-DER-ZEIT-SEIN

Die Raumanalytik des Aristoteles ist durch seinen prinzipiell


binnen wel tlichen Grundansatz bestimmt: der Raum ist nichts
Selbständiges, nichts Eigenes, - er ist nicht etwas, was allem
innerräumlichen Seienden voraufgeht, er ist aber auch nicht
einfach die Ausdehnung der Dinge; weder eigenständig neben
den Dingen, noch identisch mit der eigenen figuralen Struktur
der Dinge hat er einen seltsamen Charakter: er ist gleichsam
nirgendwo. Aristoteles bestimmt den Raum primär als Ort
(TOPOS) ; alle räumlichen Dinge sind "im Ort" ; der Ort umfängt;
das Umfangen ist das Wesen des Ortes. In diesem reinen Um-
fangen meldet sich die Welthaftigkeit des Raumes. Aristoteles,
der mit der größten Schärfe immer wieder das Umfangen heraus-
arbeitet, interpretiert es aber dann immer wieder als eine Art von
quasi-dinglichem Umfangen; TOPOS wird bestimmt als die ruhen-
de äusserste Grenze des umfangenden Körpers; das Welthafte
des Umfangens wird wieder ins Dinghafte umgedeutet. Leitmodell
ist das AGGEION, das Gefäß. Der Ort ist jeweils im einzelnen das
Gefäß, das ein ruhender Körper bildet für solches, was in ihm
sich bewegt, was in ihm den Platz tauscht, wie etwa das Flußbett
der Ort ist des Flusses; der Ort im ganzen aber ist die äusserste
ruhende Grenze des Weltalls, des Himmelsgebäudes; die Ganz-
heit des Ganzen wird in der Metapher eines binnenwelt1ichen
Enthaltens gedacht, das Weltgefäß verwischt eben den Unter-
schied von Welt und Ding. Was einen immer wieder bestürzt, ist
die NÄHE des aristotelischen Denkens zur Welt und sein Zurück-
weichen vor ihrer Unfaßlichlkeit in ein ontisches Modell. OURANOS
der Himmel, der allumfangende, wird letztlich doch gedacht im
Bilde eines Dinges, das umfängt. Der Raum ist für Aristoteles
endlich, weil gleichsam die kristallene Schale des Himmelsgewöl-
bes die äußerste, ruhende Grenze ist, -die Wand, welche alle ver-
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 221

einzelten Dinge und auch die Elemente umwandet und umrandet.


Aristoteles entkommt der sofort auftauchenden Schwierigkeit,
ob denn nicht ein solcher Weltrand unweigerlich ein ,,] enseits"
fordere, durch die These, Ort ist prinzipiell Ort für Bewegba-
res. Wenn also die Himmelsschale nicht mehr bewegbar ist, wenn
nur an ihr die großen Bewegungen der kreisenden Gestirne laufen
und unter ihr die kleinen Bewegungen der flüchtigen Einzeldinge,
welche ihrerseits angetrieben werden durch den Drang der Ele-
mente nach ihrem einheimischen Ort, dann hat ein Umfangen,
welches noch über die Himmelsschale hinausläge, keinen angeb-
baren Sinn mehr. Das Denken geriete dabei in das Leere. In dieser
Rückbindung des Ortes an die Bewegttng, sofern er der unbewegte
Raum für Bewegliches ist, liegt der entscheidende Grundzug der
aristotelischen Raumanalytik ; hier liegt ihre Größe und - ihre
Grenze. Der Raum ist für Aristoteles endlich, die Zeit un-endlich.
Der Raum- und Zeit-Analyse geht voran die Erörterung des
APEIRON, zwischen der Raum- und Zeit-Analyse liegt die Erörte-
rung des KENON, des Leeren. Das Leere ist gleichsam das APEIRON
im Felde des raum- und zeithaft Quantitativen. Erst mit der
ausdrücklichen Zurückstellung der Raum- und Zeit-Auslegung
in den umfassenderen Zusammenhang könnte der volle Sinn
dieser Auslegungen herauskommen. Es ist also eine notgedrun-
gene Vereinfachung, wenn wir das beiseite lassen. Das KENON
vermittelt zwischen dem endlichen Raum und der unendlichen
Zeit; erst von ihm her ist die aristotelische Fundierung der
Zeit in der Größe ganz einsichtig zu machen. Das ist nur als eine
Warnung gesagt; man kann überhaupt philosophische Gedanken
nicht herauslösen aus dem Gesamtzug der Problementfaltung -
und doch muss man das aus didaktischen Gründen der Darstel-
lung immer wieder tun. Aber es ist wichtig, daß ein Wissen um die
Vorläufigkeit dabei wach bleibt, - daß man nicht des Aristoteles
Raumverständnis gleichsam in Händen zu haben glaubt, wenn
man seine Definition des Orts als der ruhenden äussersten Grenze
des umfassenden Körpers begriffen hat.

Und das Gleiche gilt von der Zeit. Zeit ist der Titel eines zen-
tralen Problems der Philosophie. Keineswegs wird nun die Zeit
hier nach dem vollen Umfang ihrer Problematik zum Thema.
Vielmehr führt ebenso wie beim Raum eine ganz bestimmte Hin-
222 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK

sicht des Fragens. Im Blick steht die PHYSIS, die Natur; was Natur
ist, wird primär erfragt im Ausgang von den PHYSEI ONTA; diese
sind solches Seiendes, das durch Bewegtheit und Ruhe bestimmt
ist; Bewegung aber wird letztlich bei Aristoteles verstanden von
HYLE, EIDOS, TOPOS und CHRONOS aus. Ort und Zeit erfahren eine
Interpretation aus dem Horizont des Bewegungsproblems. Und
dieses wird als Rätsel erfahren aus der Spannung von Sein
und Bewegtsein heraus. Wie ist Bewegung und wie kann
Seiendes in Bewegung sein?

Die Zeitanalytik, die ebenfalls noch im 4. Buche der "PHYSIK"


ihre Stelle hat, hat im vorläufigen Überschlag betrachtet folgen-
den Gang. Auch hier ist wie beim Ort der gleiche Frageansatz :
ist überhaupt die Zeit, wie ist sie und was ist sie? Auch hier
macht sich Aristoteles das von früheren Denkern erarbeitete
Zeitproblem zu nutze, er entfaltet eine differenzierte Aporetik.
Das Bedenken, ob die Zeit überhaupt is t, ist motiviert; es kommt
nicht von ungefähr, es ist kein beliebiger Einfall eines kritiksüch-
tigen Denkens. Von der Zeit ist das Vergangene vorbei und das
Künftige steht noch aus, das eine ist nicht mehr und das andere
noch nicht. Die Zeit selber ist zusammengesetzt aus solchem, was
noch nicht, und solchem, was nicht mehr ist. Und diese Zusam-
mensetzung hat sowohl die Zeit im ganzen (APEIROS CHRONOS)
als auch jede bestimmte Zeitweile in der ganzen Zeit (LAMBANO-
MENOS CHRONOS). Man sieht leicht, wie diese Unterscheidung
jener erwähnten räumlichen Differenz entspricht von TOPOS im
ganzen und PROTOS TOPOS. Die Frage ist nun: kann denn über-
haupt etwas, das so aus Nicht-Seiendem zusammengesetzt ist
am Sein, an der OUSIA teilhaben? Die Orientierung der Problema-
tik überhaupt an der OUSIA ist ein Grundzug der aristotelischen
Interpretation der Zeit. Das IST bildet das selbstverständliche
Bezugsgefüge. Aber dies doch wiederum nicht so, daß es einfach
unbefragt stehen bliebe: einerseits wird von ihm aus die Zeit
gewogen und gerichtet, andererseits aber kommt gerade im Durch-
denken der Zeit eine Grundunterscheidung in das Sein, es gliedert
sich auf in Inder-Zeit-sein und in AusserderZeitsein.
Zunächst aber bleibt dieser Unterschied unausgesprochen; die
Zeit wird ganz allgemein einfach befragt, ob sie überhaupt ist.
Die Art und Weise des IST selbst kommt dabei vorerst nicht zur
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 223

Erwägung; dagegen bestimmter wird schon das Nichtsein gefaßt.


Die Zeit ist dem Verdachte ausgesetzt, am Ende gar nicht zu sein,
weil ihre Teile nicht sind, weil Vergangenes und Künftiges vor-
bei ist bzw. aussteht. Aber mit welchem Rechte sagen wir denn,
daß die Vergangenheit "nicht ist" und die Zukunft "nicht ist"?
Das Nichtsein des Vergangenen und Künftigen hat doch primär
einen temporalen Sinn. Das Vergangene ist doch nicht schlecht-
hin nichtig, es ist in einem bestimmten Zeitsinne nichtig, es ist
nicht-jetzig; und dasselbe gilt vom Künftigen. Die Nichtigkeit
der Teile der Zeit, die Aristoteles aporetisch betont, ist im Grunde
doch schon eine zeithafte Weise der "Nichtigkeit". Man
könnte die Gegenfrage stellen, ob es nicht die Zeit selber aufheben
hieße, sozusagen zu verlangen, daß ihre Teile seiend wären im
Sinne des jetzigen, jetzthaften. Merkwürdiger Weise reflektiert
Aristoteles gar nicht auf den temporalen Sinn der eigentüm-
lichen Nichtigkeit des Vergangenen und Künftigen. Zeit ist zu-
sammen gesetzt aus zwei Teilen, aus dem Vergangenen und dem
Künftigen - und beide Teile sind in gewisser Weise "nichtig".

Aristoteles dreht das Problem in eine ganz andere Richtung:


das Fragwürdige ist ihm das Verhältnis von Ganzem und Teil;
er subsumiert die Zeit unter das Allgemeinere eines "Ganzen
überhaupt". Kann ein Gq.nzes sein, wenn seine Teile nicht sind?
Sofern die Zeit Teile hat, ist sie ein Teilbares. Es ist von großer
Konsequenz, daß Aristoteles die Zeit unter den ontologischen
Aspekt eines "teilbaren Ganzen" rückt; darin drückt sich die
Vorherrschaft des Raumes aus, ein methodologisches übergewicht
des Raumes über die Zeit; denn die leitende Ganzheitsvorstellung,
die nun aporetisch durchgesprochen wird, ist eigentlich ein räum-
liches Ganzes. Wenn ein solches Ganzes ist, dann müssen entwe-
der alle Teile oder doch einige davon sein. Bei der Zeit ist aber
gar kein Teil. Das Vergangene ist nicht mehr, das Künftige noch
nicht. Aber das jetzige ist doch. So wäre man versucht zu sagen.
Aber da stellt Aristoteles die These auf, das jetzt ist kein
Teil der Zeit. Als Begründung gibt er an, daß ein Teil immer
das Ganze ausmesse; das Ganze ist das wiederholt Vielfache des
ausmessenden Teils. Das jetzt aber lässt sich nicht zusammen-
stücken und addieren, weil es Grenze ist, - eine Grenze, die das
Vergangene vom Künftigen abgrenzt. Aus Grenzen aber lässt
224 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK

sich das Zeitganze nicht aufbauen_ Aristoteles verschärft die


Aporie, indem er auf eine seltsame Zweideutigkeit des jetzt
aufmerksam macht: es scheint immer wieder ein anderes und
auch immer wieder dasselbe zu sein. Sowohl aber das Bleiben
wie das Wechseln des jetzt bringt unabsehbare Schwierigkeiten
mit sich. Wenn es wechselt, wann wechselt es? Während es noch
ist, kann es nicht zugrundegehen, und während das nachfolgen-
de jetzt ist, kann sich sein Untergang auch nicht ereignen. Und
wenn es bleibt, so verliert es den Charakter der Grenze, der ihm
doch wesentlich ist. Das jetzt ist zwar kein Teil der Zeit, aber
eine rätselhafte und fast unbegreifliche Struktur an der Zeit.
Die aristotelische Auslegung von CHRONOS geschieht vor allem
als Ringen mit der Unbegreiflichkeit des jetzt.

N ach dieser ersten Besprechung von Schwierigkeiten, die sich


aus dem Nichtsein der Teile der Zeit ergeben, erörtert Aristoteles
die überkommenen Ansichten über die Natur der Zeit. Zeit hat
einen Zusammenhang mit der Bewegung. Von einigen wird sie als
die Bewegung des Ganzen, KINESIS TOU HOLOU, bestimmt. Aris-
toteIes wendet dagegen ein, dass der Bewegungsumlauf des Ganzen
nicht selber die Zeit sein könne, weil ein Teil des Umlaufs nicht
wieder ein Umlauf, wohl aber ein Teil der Zeit wieder eine Zeit
sei. Man sieht, wie hier Aristoteles wieder, wo er in die Nähe der
W el t kommt, zurückweichend umdeutet: er deutet dieBewegung
des Ganzen als die PERIPHORA, als den Himmelsumschwung,
als den Kreislauf der himmlichen Feuer. Die massivere Anschau-
ung, wonach die Zeit die SPHAIRA, die Weltkugel selber sei, weil
wie alles im Ganzen, so alles auch in der Zeit sei, weist er ab als
eine "einfältige" Meinung.

Es wäre aber vielleicht erst noch zu prüfen, ob dieses "Ein-


fältige" aufgefaßt werden muss als ein vorhandener Behälter
oder auch in einem wesentlicheren Sinne verstanden werden kann.
Was uns erstaunt, ist daß hier bei der Zeit Aristoteles eine An-
schauung verwirft, die er beim Raume selber vertritt: jener ist
ihm doch das Welt gefäß , worin sich das Bewegliche tummelt.
Zeit aber ist eher, meint Aristoteles, eine KINESIS KAI METABOLE
TIS, eine Art von Bewegung und Umschlag. Aber da erhebt sich
die neue Schwierigkeit: eine Bewegung und ein Umschlag ist
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 225

immer an einem Bewegten und Umschlagenden, sie ist dort


gleichsam lokalisiert; das ist aber bei der Zeit nicht der Fall, sie
ist nicht als Bewegung an irgendeinem Seiendem, sie ist überall
und bei allem, PANTACHOU KAI PARA PASIN_ Ferner haben Bewe-
gungen ein Tempo, sie können bald schnell, bald langsam vor
sich gehen; die Zeit aber hat kein Tempo; es ist sinnlos zu sagen,
sie laufe schnell oder langsam ab, vielmehr bestimmt sich von
ihr her erst, was "schnell" oder "langsam" ist; nämlich schnell:
was in wenig Zeit viel bewegt wird, langsam: was in viel Zeit
wenig bewegt wird. Schnelligkeit und Langsamkeit sind Möglich-
keiten der Bewegung: weil die Zeit diese Möglichkeiten nicht hat,
ist sie keine Bewegung. Die erste Charakteristik der Zeit er-
folgt aus dem Blickwinkel des Bewegungsproblems. Sie ist keine
Bewegung, aber sie ist nicht ohne die Bewegung. Sie hat
einen Bezug zu jener.

Diesen Bezug erläutert Aristoteles auf eine Weise, die zunächst


leicht missverstanden werden kann. Nämlich vom Wissen um
Z e i t aus. Das Vernehmen von Zeit setzt, wenn sonst keine Be-
wegungen gegeben wären, zumindesten die Bewegung der verneh-
menden Seele voraus. Das heißt: das Wachsein. Das bedeutet aber
keineswegs, daß Aristoteles umspringe von der Zeit auf die Zeit-
wahrnehmung, sondern das Innewerden von Zeit ist selber eine
Bewegung an der Zeit, die als etwas an der Bewegung erscheinen
kann. Aber was ist nun die Zeit in Bezug auf die Bewegung? Um
dieser Frage näher zu rücken, erörtet Aristoteles einen wesent-
lichen Fundierungszusammenhang. Er geht aus vom Seienden,
das bewegt wird, vom KINOUMENON. Dessen Bewegtwerden er-
folgt so, daß es aus etwas in etwas bewegt wird: EK TINOS EIS
TI. Das aber ist nur möglich, wenn das eine mit dem anderen
zusammenhängt. Jede Größe aber ist zusammenhängend, sagt
Aristoteles. PAN MEGETHOS SYNECHES. Die Bewegung ist immer
Durchgang durch ein Größe-Feld. Weil die Größe zusammenhän-
gend ist, muss die Bewegung nachfolgend auch zusammenhän-
gend sein, - und weil die Bewegung es ist, muss es auch die Zeit
(als etwas an der Bewegung) sein. Die Kontinuität der Zeit
folgt bei Aristoteles aus der Kontinuität der Bewegung, die der
Bewegung aus der Kontinuität der Größe. Dieser Fundierungs-
zusammenhang bildet das Grundgerüst der aristotelischen Zeit-
226 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK

interpretation. Auch darin verrät sich, sobald man einige Distanz


gegen den bestechend durchgearbeiteten Gedankengang gewon-
nen hat, eine grundsätzliche Orientiertheit am Primat des Rau-
mes.

Das tritt deutlich auch heraus mit der These, daß das Vorgän-
gige und Nachgängige (TO PROTERON, TO HYSTERON) in der Größe
vorkommt, dort sozusagen heimisch ist. Man übersetzt gewöhn-
lich diese Termini mit: "das Früher und Später": das hat das
Missliche, dass diese Ausdrücke damit gleich schon einen tempo-
ralen Sinn bekommen, den sie bei Aristoteles von Hause aus noch
nicht haben. TO PROTERON ist das, was einem Anfang näher liegt,
TO HYSTERON, was einem Anfang ferner liegt, was weiter ab liegt.
Das Fundament eines Hauses ist anfänglicher als das Dach.
Für Aristoteles kommt das "Früher" und "Später" in die Zeit im
Zuge des genannten Fundierungszusammenhangs. Weil die Größe
das Früher und Später hat, hat es auch die Bewegung, und weil
diese es hat, hat es auch die Zeit. Ausdrücklich sagt Aristoteles,
daß das zeitliche Früher und Später und dasjenige der Bewegung
ein Analogon des raumhaften, größe-haften sei. Das Erkennen
von Zeit aber erfolgt durch ein Abgrenzen des Früher und des
Später, d.h. durch ein Unterscheiden, welches jenes auseinander-
hält. Unsere Seele spricht zwei J etzte aus; in ihrem Zwischenraum,
besser in ihrer Zwischenzeit ist die Weile ausgebreitet. Solange
wir nur ein Jetzt gewahren, ist keine Zeitwahrnehmung; erst
wenn zwei verschiedene Jetzte auseinandergehalten werden, ist
die dazwischenliegende Zeit-Strecke erfahren. Damit gelangt
Aristoteles zu seiner berühmten Definition der Zeit: als ARITH-
MOS KINESEOS KATA TO PROTERON KAI HYSTERON, als Anzahl der
Bewegung nach dem Früher und Später.

Die Formel überrascht, obgleich sie in allem Vorangegangenen


vorbereitet wurde, sorgsam vorbereitet wurde und sich konse-
quent ergab. Das überraschende dabei ist die scheinbare Leere
dieser Formel. Die Zeit eine Zahl, eine Zahl der Bewegung, und
zwar hinsichtlich des Früher und Später. Man sieht nicht gleich,
was denn hier "gezählt" wird. Das hängt damit zusammen, daß
Aristoteles zunächst bewusst zurückhält mit dem "Gezählten",
es vorerst ganz formal lässt, eben als das Früher und Später.
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 227

Er will eine Formel, die für jegliche Zeit gilt, für die begrenzte
Zeitweile etwa irgend eines Bewegungsvorgangs, als auch für
die Weilen, die durch die großen kyklischen Bewegungen am
Himmel abgegrenzt werden: die Jahre und Monde und Tage.
Formell kann man bislang nur sagen: gezählt werden die ver-
schiedenen Jetzte einer Bewegung. Aber in welchem Sinne ist die
Zeit ARITHMOS TIS, eine Art von Zahl? Aristoteles unterscheidet
ein Doppeltes, Zahl als ARITHMOUMENON, als gezählte Zahl, und
als jene, womit wir zählen, etwa wie beim Maß unterschieden
werden kann das Maß als das Gemessene und als das Messende.
Zeit ist die gemessene Anzahl der Bewegung nach dem Früher
und Später. Die Bewegung, die KINESIS ist, sagt Aristoteles,
immer wieder eine andere, ALLE KAI ALLE, - und damit ist auch
die Zeit, der Bewegung nachfolgend, immer wieder eine andere.
Andererseits gibt es nicht viele Arten von Zeiten, sondern sie ist
eine vielfache und immer wieder eine andere, gerade sofern alle
vielen Zeiten in der einen sind. "Die ganze Zeit ist eine und
dieselbe". An diesem Doppelcharakter der Zeit, einerseits die
eine, andererseits immer wieder eine andere zu sein, nimmt in
ausgezeichneter Weise gerade das NYN, das Jetzt teil. Diese
zweideutige Natur des Jetzt aber ist bedeutsam, weil es doch
"gezählt" werden soll. Aristoteles gebraucht in diesem Zusam-
menhang eine Unterscheidung subtiler Art: die von HOPOTE ON
und OUSIA, die wir, um die Darstellung nicht noch mehr zu ver-
schwierigen, beiseite lassen; andeutungsweise kann gesagt
werden, daß das HOPOTE ON, "das, was jeweils ist", den Charak-
ter des Jeweiligen in einer Art von "Allgemeinheit" hat,
die OUSIA aber das bestimmte Sein eines einmalig Bestimmten
meint. Das Jetzt, das NYN, ist als jeweils immer Gegebenes
"dasselbe"; immer ist jetzt und jetzt und jetzt; als das bestimm-
te Jetzt aber ist es je ein anderes. Im Deutschen wie im Griechi-
schen liegt aber in dem "Jeweiligen", dem HOPOTE ON, schon
ein Zeitmoment im Wort. Hier müsste eine eindringende Inter-
pretationsanalyse einsetzen, die hier nicht durchgeführt werden
kann.

Aristoteles geht nun zu einer Exposition der Problematik


über, die wiederum Gebrauch macht von dem Fundierungszu-
sammenhang von Größe-Bewegung-Zeit. Und zwar so, dass
228 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT·ANALYTIK

analog dazu ebenfalls eine Fundierung zwischen dem, was in der


Größe, in der Bewegung und in der Zeit ist, aufgezeigt wird. "In"
der Größe ist der Punkt, die STIGME. Das hat dabei nicht einen
geometrisch "punktuellen" Sinn; es meint eher das, was eben
den Charakter des Darin-Seienden hat. Der Punkt ist im Feld der
Größe. So, wie der "Punkt" im Größe-Feld ist, so ist das räum-
lich Bewegtwerdende, TO PHEROMENON, "in" der Bewegung, -
und ebenso ist das JETZT, das NYN, "in" der Zeit. Das Bewegte
verhält sich also analog zur Bewegung, wie das jetzt zur Zeit.
Diese Analogie ist ein fragwürdiges Wagnis, aber sie in Frage
stellen, würde bedeuten, den aristotelischen Ansatz überhaupt
erschüttern zu wollen. Das jetzt ist für Aristoteles gleichsam so
etwas wie das Zeitding im Zeitfeld. Die KINESIS, sagt Aristoteles,
ist kein TODE TI, kein Ding, dagegen ist wohl das Bewegte, das
PHEROMENON ein solches. CHRONOS und NYN, Zeit und jetzt sind
aber in ihrer Unterschiedenheit auf einander bezogen. Zeit kann
nicht ohne jetzt und jetzt nicht ohne Zeit sein, entsprechend
wie die Bewegung nur am Bewegten und dieses nur in jener ist.
Aristoteles treibt die Analogie noch weiter: wie das Bewegte
sich zur Bewegung verhält, so verhält sich auch die Zahl des Beweg-
ten zur Zahl der Bewegung. Die Zeit, CHRONOS, ist die Zahl der
Raumbewegung, der PHORA; das jetzt aber, das NYN, ist gleich-
sam wie die Einheit dieser Zahl. Aristoteles spricht hier von der
MONAS, mit welcher die bestimmte Zahl ausgemessen, d.h. durch-
gezählt wird. Um es für uns deutlicher zu machen, kann man
sagen: die Zeit ist Zahl der Bewegung, d.h. sie ist eine Anzahl
von zählbaren Einheiten, die an der Bewegung gezählt werden.
Im Hinblick auf das Bewegte unterscheiden wir das Früher und
Später, - ein Wagen ist in diesem jetzt hier, im anderen jetzt
dort; dem Unterschied von "hier" und "dort" entspricht ein
Unterschied von zwei j etzten; diese zwei umgrenzen eine
Weile, eine Zeitstrecke, - diese Strecke ist so groß, wie viele
j etzte als abzählbare Einheiten sie in sich hat. - Das jetzt also ist
die Einheit, die Monas, die im Zählen gebraucht wird. Die Proble-
matik der Zeit verlagert sich immer mehr in die Problematik des
jetzt. Dieses ist kein "Teil" der Zeit - und ist doch dasjenige, wo-
durch sie ausgemessen wird; und das Früher und Später ist zu-
nächst etwas an der Bewegung, aber sofern dieses Früher und Spä-
ter ein Zählbares ist, muss es als das jetzt bestimmt werden.
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 229

Und nun macht Aristoteles noch einen neuen Anlauf, in


welchem der rätselhafte Charakter des jetzt in neuer Weise zum
Aufschein kommt. Das jetzt ist ein Analogon des Punktes;
der Punkt verbindet und trennt zugleich; er hat die janus-Natur,
Grenze und Band zu sein; ebenso das jetzt: es scheidet, indem
es zusammenhält, und hält zusammen, indem es abscheidet.
Der Punkt wie das jetzt sind also zugleich "Anfang und Ende",
ARCHE KAI TELEUTE. Aber in dieser Zwiefachheit wird das jetzt
nicht gezählt, sondern als Anfang nur das eine jetzt, als Ende
aber ein anderes jetzt; denn nur dann umgrenzen die zwei
jetzte als ESCHATA eine dazwischen liegende Weile. Zeit als Zahl
und Zeit als Grenze wird von Aristoteles in einer scharfsinnigen
Weise unterschieden. Sofern die Zeit Zahl ist, ist sie ein Wieviel
von jetzten, ist sie eine Zeitlänge; als Grenze aber ist das
jetzt gar nicht eigentlich Zeit. Denn Grenzen gehören dem an,
dessen Grenzen sie sind, die Zahl aber lässt sich von dem, dessen
Zahl sie ist, unterscheiden und szs. wegheben und abziehen. Die
Zehnzahl, sagt Aristoteles, z.B. dieser 10 Pferde, ist nicht nur an
oder in diesen Pferden, sie ist auch anderswo. Und ebenso ist
die Zeit als Anzahl von jetzten, als das Maß eines "Wielange",
gar nicht an eine bestimmte Abfolge von j etzmomenten ge-
bunden, sie kann das Zeitmaß, das selbe Ausmaß immer wieder
einer anderen, sich gleich wiederholenden Bewegung sein. Damit
hängt aufs Engste zusammen das eigentümliche Gegenverhältnis
von Bewegung und Zeit. Durch die Zeit messen wir die Bewegung,
sagt Aristoteles, durch die Bewegung aber wieder die Zeit. Das
bedeutet keinen fehlerhaften Zirkel. Denn es ist ein Gegenver-
hältnis wie zwischen der Anzahl als Menge und der Zahl als
Einheit; durch die Menge wird die Einheit als so und soviel mal
genommen bestimmt, - durch die Einheit aber die Menge als das
So- und-so-Vielfache. Aus der Einsicht in diesen Gegenbezug von
Bewegung und Zeit kommt nun Aristoteles zu dem grundsätz-
lich ontologischen Ertrag seiner Zeitinterpretation: alles
Bewegliche, und das heißt: alles Bewegte und auch Ruhende,
sofern es die Möglichkeit zur Bewegung hat, ist prinzipiell ein
"in der Zeit Seiendes". Das InderZeitsein ist die ontologi-
sche Verfassung der PHYSEI ONTA.
230 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK

Wie aber ist das InderZeitsein zu denken? Ähnlich wie beim


Orte ist jetzt auch das Insein ein wesentliches Problem. "In der
Zeit" - das ist, so meint man beim ungefähren Vorstellen, zur
selben Zeit, in der auch die Zeit ist. Die Dinge sind
dann, wann Zeit ist. Sie sind mit der Zeit gleichzeitig. Eine
solche Auffassung führt zu tollen Ungereimtheiten. Aristoteles
erläutert seinen Gedanken auch durch die analogische Parallele
zur Bewegung und zum Orte. "In-Sein" in einer Bewegung ist
nicht allgemein eben dann sein, wann eine Bewegung ist, - in
einem Orte sein ist nicht dann sein, wann ein Ort ist. Man sieht
leicht, daß Aristoteles für die verwandten Parallelen gerade vom
"dann - wann" Gebrauch macht, vom HOTE. In der Zeit sein
ist nicht dann sein, wann Zeit ist. Das hätte die Folge, daß alles
in allem wäre, wie Aristoteles sagt, "das Himmelgebäude im
Hirsekorn, denn in jenem Zeitpunkt, wo das Hirsekorn ist, ist
auch das Himmelsgebäude" . Das In-sein in der Zeit muss be-
stimmter und genauer gedacht und bestimmt werden. Die Dinge,
TA PRAGMATA, sind in der Zeit "HOS EN ARITHMO". Das will
sagen, analog wie das Gerade und Ungerade in einer Zahl ist, so
sind die Dinge in der Zeit als ihrer Zahl des Wielange. Die Zeit
hat ebenfalls wie der Raum die Struktur des "Umfassens", - sie
umfaßt als Zahl alles, was in ihr ist. Wie beim Raume Aristoteles
das reine Umfassen wieder umdeutet, das Welthafte solchen
Umfassens in ein ontisches Verhältnis, so auch bei der Zeit;
der Ort "umfaßt" wie ein Gefäß, die Zeit wie eine Zahl. (Aris-
toteies stiftet damit eine Tradition des metaphysischen Denkens,
die sich in der Bezüglichkeit von Zeit und Zahl noch bis Kant
durchhält - und bei Hegel ihre spekulative Kritik findet).

Das in der Zeit Seiende, in ihr Weilende, von ihr als Zahl
Durchherrschte ist aber, sagt Aristoteles, nicht nur in der Zeit
wie in einem gleichgültigen Medium, im Gegenteil: alles wird von
ihr mitgenommen, erleidet von ihr eine Einwirkung, verfällt
ihrem nagenden Zahn; das InderZeitseiende "altert", welkt,
siecht dahin. "Denn mehr Ursache des Vergehens ist die Zeit an
ihr selbst". Sie ist gleichsam das Korrumpierende, die vernich-
tende, auflösende, aufreibende "Macht des Negativen" (um mit
Hegel zu sprechen). Alles, was in der Zeit ist, ist korruptibel. Das
Unbewegte, Bewegungsfreie, das Immer-Seiende, das von der
DIASTEMA-BEGRIFF LEITEND DAS IN-DER-ZEIT-SEIN 231

Zeit keine aufreibende Einwirkung erfährt, von ihrem Zahn nicht


zernagt wird, aber fällt nicht "in die Zeit". Man neigt vielleicht
dazu, hier an so etwas wie die platonischen Ideen zu denken, -
aber für Aristoteles ist ja gerade die Abtrennung der Ideen von
den Dingen mehr als fragwürdig. Wir dürfen also den ontologi-
schen Unterschied des InderZeitseienden und des Immerseienden
nicht am Vorbild des platonischen "Dualismus" von Sinnending
und Idee orientieren. Das Immerseiende muss vielmehr als das
Unbewegte rückläufig aus dem Horizont der Bewegung neu
bestimmt werden. Zunächst ist das Zeitliche eben das Beweg-
liche, in dem prinzipiell weiten Sinne, daß es den Unterschied
des Bewegten und des Ruhenden übergreift. PASA METABOLE KAI
HAPAN TO KINOUMENON EN CHRONO, "jeder Umschlag und jedes
Bewegtwerdende (ist) in der Zeit".

Die Charakteristik der Zeit als Zahl der Bewegung führt


zuletzt noch auf die schwierige Frage, ob denn die Zahl der
Bewegung sei, gleichgültig ob ein sie Zählendes ist, d.h. gleich-
gültig, ob die Seele zählt. Wie steht die Seele zur Zeit? Vernimmt
sie jene nur, gleichsam sich passiv verhaltend, -oderist das Zählen
der Seele in irgendeiner dunklen Weise mit Grund dafür, daß Zeit
"ist" ? Nicht als ob die Seele die Zeit produzierte, - aber sie bringt
am Ende doch etwas ausdrücklich zum Vorschein: eben die An-
zahl der letzte, denARITHMOS KATA TO PROTERON KAI HYSTERON;
das Früher und Später aber bewirkt die Seele nicht, sie kann es
nicht bewirken, denn es liegt je in der Bewegung des Bewegten
selbst. Aber sie bewirkt die Heraushebung des Wieviel, die
Heraushebung der Zahl in Bezug auf das Früher und Später.
Durch das Zählen der Seele "entsteht" Zeit. Aber ist sie daInit
etwas "Subjektives" oder gar etwas bloß Menschliches, eine
vom Menschen mitgebrachte "reine Form seiner Sinnlichkeit"
oder etwas dergleichen? Der antike Begriff der Seele und auch
des NOUS ist gerade ni c h t zunächst "anthropologisch", sondern
kosInisch, zielt ab auf die Weltseele und die Weltvernunft,
und erst mittelbar auf die menschliche Seele und ihr Denken.
Aristoteles geht hier an dieser Stelle der "Physik" dem proble-
matischen Zusammenhang von Zeit und Seele nicht weiter nach,
das Problem wird nur angeritzt, nicht entwickelt. Es hat seine
große Stelle in der Lehre vom ""unbewegten Beweger" , von der
232 ORTSRAUM UND WELTRAUM. ZEIT-ANALYTIK

NOESIS NOESEOS, - Aristoteles springt schnell zu einer anderen


Aporie über. Es gibt doch viele Bewegungen und vielerlei. Von
welcher nun ist die Zeit "Zahl der Bewegung"? Die Antwort ist:
von keiner bestimmten, einzelnen oder der einer Bewegungsart,
weder einer langsamen, noch einer schnellen, aber auch nicht
vom Entstehen und Vergehen, oder vom Zunehmen, oder vom
Sichverändern oder von der Ortsbewegung, sondern von der
kontinuierlichen Bewegung schlechthin. Die einzelnen Be-
wegungen zwar sind von einander gesondert, die Zeit aber, in der
sie ablaufen, ist in allen die gleiche, - weil die Zeit Zahl ist ;die
Zahl ist gleich, ob Hunde oder Katzen gezählt sind. Und trotz-
dem hat eine Bewegung einen merkwürdigen Vorrang, sie hat den
Vorrang aber nicht sofern sie "gezählt" wird, sondern sofern mit
ihr gezählt wird. Die ursprünglichste Ortsbewegung ist die
Kreisbewegung, die KYKLOPHORIA. Nicht irgendein Drehen
und Wirbeln im Kreise, sondern jenes gleichmäßige Kreis-
laufen der Gestirne am Gewölbe des Himmels. Das Maß sol-
chen Umlaufs ist am kenntlichsten, die Zahl dieser Bewegung
ist ARITHMOS GNORIMOTATOS. Die Zeit selbst, sagt Aristoteles, ist
in gewisser Weise ein Kreis, KYKLOS TIS - deshalb nämlich, weil
sie durch die Kreisbewegung ausgemessen wird. Das Maß aber
steht nicht ausserhalb des Gemessenen. Eine Bewegung ist aus-
gezeichnet gleichsam als der Maßstab, mit dem die Zahl der an-
deren Bewegungen ausgemessen wird. Diese Bewegung bildet
gleichsam die "Uhr der Welt". Es wäre hier noch viel zu sagen
und vor allem zu fragen, so z.B. über den Zusammenhang von
Jetzt und Zeitmaß, ganzer Zeit und abgestückter Zeitweile. Eine
Welt von Problemen eröffnet sich, darunter auch das zeitliche
Problem der Welt.

Es liegt an der ontologischen Grundstellung der aristotelischen


Metaphysik bezw. "Physik", dass Raum und Zeit auf das an
ihnen "Seiende" befragt werden: seiend am Raum ist die
ruhende äußerste Grenze des Weltgefäßes ,- seiend an der Zeit ist
die Zahl, d.h. sie, sofern sie Zahl ist. Raum und Zeit, TOPOS und
CHRONOS erfuhren ihre ontologische Durcharbeitung, die für
immer ein Glanzstück der Philosophie ist, im Zuge der Frage
nach der Natur der Bewegung
19
BEWEGUNG UND DYNAMIS UND ENERGEIA
DES ENDLICH-SEIENDEN. KINESIS UND KATE-
GORIEN; PHÄNOMENALE UND ONTOGONISCHE
BEWEGUNG; DIE UNGEKLÄRTE ZWEIDEUTIG-
KEIT DES PROTON KINOUN: GOTT ODER WELT?

Die Lehre des Aristoteles von Raum, Zeit und Bewegung


bildet ein so innig verklammertes Ganzes, daß jede isolierende
Betrachtung eines Moments immer zu kurz trägt; die Momente
erhellen sich wechselseitig. Ausserdem stellt diese Lehre nicht
einen Inbegriff von Thesen dar, die satzmässig verwahrte fixe
Resultate wären, - diese Lehre ist eher ein Gang, eine Denkbe-
wegung, ist die Entfaltung eines Problems, sie hat einen langen
Atem, ohne weitschweifig zu sein; im Gegenteil, sie hat eine
Schärfe der begrifflichen Durcharbeitung, eine intellektuelle
Architektur, die höchsten Ranges ist. Dazu kommt, daß die
spekulative Interpretation sich in einer solchen Nähe zum Phäno-
men, zum sich von sich selbst her zeigenden Seienden, hält, dass
der Anschein einer unmittelbaren Beschreibung der "Sachen
selbst" entsteht, obgleich diese "Phänomen-Nähe" erst die Folge
einer denkerischen Grundentscheidung ist, der Entscheidung
nämlich, daß das "Sein" im "Erscheinen" besteht. Das Anwesen
als das Hervorkommen und Herauskommen ins Offene der Lich-
tung bildet den Grundzug dessen, was Aristoteles als "Sein"
versteht. Deswegen hat für ihn das abgegrenzte, endliche Ding,
das eingerückt ist in die feste Bestimmtheit seines Aussehens,
einen entschiedenen Vorrang; das HO R I S M E NON ist das Lei t-
bild des ON. Das bedeutet allerdings nicht, daß Aristoteles
gleichsam nur "Dinge" kennt, er begreift das Dingsein im Rück-
gang von dessen ontologischem Bau als "gegründetem" auf
Gründe und Ursachen (AITIA KAI ARCHAI); er geht in mannig-
fachen Weisen zurück vom AnwesendEm auf das Anwesen: von
den PHYSEI ONTA auf die PHYSIS, - vom Ding als ERGON auf
das Sein als ENERGEIA, - von den Einzeldingen auf den KOSMOS.
Es bedeutet eine mehr als fragwürdige Vereinfachung, wenn wir
aus dem Riesenbau der aristotelischen Philosophie einige Ge-
234 BEWEGUNG UND DYNAMIS

dankenmotive herauslösen. Aber auch in solcher Vereinfachung


ist es keine ausreichende "Darstellung" einiger seiner Lehren;
uns kommt es vielmehr nur auf eine bestimmte Perspektive an.
Darauf nämlich, inwieweit seine Begriffe von Raum, Zeit und
Bewegung durch seinen ontologischen Ansatz bedingt sind, anders
formuliert, inwieweit jene Weltmomente unter die Herr-
schaft der OUSIA geraten. Der Raum, als Ortsraum, als
TOPOS gefaßt, ist für Aristoteles die ruhende äusserste Grenze
des umfassenden Körpers - und zwar für das darin befindliche
Bewegliche; Zeit ist Zahl der Bewegung in bezug auf das Vor-
gängige und Nachgängige. Raum und Zeit sind ihm nichts
"Selbständiges", nichts, was für sich besteht, sie sind nur
in bezug auf Bewegung und Bewegliches; sie sind strukturelle
Momente für die Bewegung, sind Bedingungen der Bewegung;
aber sie sind nicht am bewegten Ding, sie sind gleichsam am
Bewegungsfeld, sie bilden den Bewegungsspielra um. Dieser
Ansatz zeigt deutlich, daß zwar Aristoteles Raum und Zeit nicht
zu Momenten der seienden Dinge macht, andererseits sie aber
auch nicht als reine Weltmomente anerkennt; sie sind bei ihm
gleichsam Zwitter zwischen Welt und Ding. Die äusserste ruhen-
de Grenze des umfassenden Körpers ist die Schale des Himmels-
gewölbes. OURANOS ist zwar kein Ding, weil er nicht im Ort ist,
andererseits wird er doch als der größte umfassende Körper
aufgefaßt, er ist das größte PERIECHON. Und ebenso ist die Zeit
letztlich die Zahl der Bewegung des Himmelsumschwungs ; sie
ist als himmlische Zahl. OURANOS, der Himmel, ist für Aristote-
les die seiende, stehend-ständige Schale, worin oder worunter
alles Bewegliche bewegt ist. Im Gewölbe des Himmels ist der
Welt ort des Anwesens, er sammelt und versammelt alles Beweg-
te; sofern der unvergängliche Himmel ist, ist auch alles unter
ihm Wirbelnde, Aufscheinende und Wegsinkende, Wachsende
und Schwindende, Sich-Wandelnde und Ortsveränderliche, im
Sein gehalten und festgemacht; sowohl des Aristoteles Lehre
vom Raum, als die von der Zeit, als auch die von der Bewegung
vollendet sich in einer Theorie des Himmels.

Aristoteles philosophiert in lebendiger Auseinandersetzung mit


Platon. Die platonische Problematik war weitgehend bestimmt
durch die Frage nach der Natur dessen, was "ist und zugleich
BEWEGUNG UND DYNAMIS 235
nicht ist", d.h. durch die Frage nach dem Sein der sinnlichen
Dinge, welche die Menge für das wahrhaft Seiende hält; dem
Denken hält solcher Anspruch nicht stand, das angebliche Sein
erweist sich als ein ME ON, ein nichtiges Sein, Platon charakteri-
siert diese Nichtigkeit als ON GIGNOMENON. Das aber ist nicht
einfach eine Bezeichnung für die Dinge, welche wir kennen als
solche, die entstehen und vergehen. ON GIGNOMENON ist eine
spekulative Formel, sie enthält den Widerspruch von Sein und
Werden. Für Aristoteles stellt sich die Frage nach dem fragwür-
digen Sein der sinnlichen Dinge als das Problem der Bewegung.
OUSIA und KINESIS stehen in einer begrifflichen Spannung zu
einander, die Spannung macht gerade die Spannweite der aris-
totelischen Philosophie aus. Wie kann Sein und Bewegung
zusammengehen? Das führt dazu, dass einesteils die OUSIA, das
selbständig Seiende selber als Bewegung interpretiert wird,
nämlich als die Bewegung des Zusammenwachsens aus Stoff und
Form, anderenteils die Bewegung ins Sein eingebettet wird. Die
platonische Charakteristik des ME ON gewinnt bei Aristoteles eine
ontologische Ausarbeitung in der fundamentalen Unterscheidung
von DYNAMIS und ENERGEIA, von Seinsmöglichkeit und Seins-
wirklichkeit.

Das durch Bewegung bestimmte Seiende, das Bewegte, TO


KINOUMENON, ist grundsätzlich solches, das durch AUSSTAND
bestimmt ist; wie immer es ist, immer steht an ihm etwas aus,
das es nur der Möglichkeit nach ist. Bewegtsein ist Übergang
von DYNAMIS zu ENERGEIA. Der aristotelische Ansatz der Frage
nach der Bewegung liegt im Bezirk der Frage nach der Natur,
nach der PHYSIS. PHYSIS, dieses Urwort der vorsokratischen
Philosophie, hat auch bei Aristoteles noch einen rätselhaften,
geheimnisreichen Klang; es bleibt in eine letzte Zweideutigkeit
verhüllt. Oft scheint sie gerade zusammenzufallen mit den von
Natur aus seienden Dingen, mit den PHYSEI ONTA, dann aber
wieder ist sie die hervorbringende Macht, durch welche die
Dinge sind, was sie sind. Der PHYSIS-Begriff schillert geheimnis-
voll zwischen dem Inbegriff des Vorhandenen und Anwesenden
und dem Seinlassen, wodurch erst Anwesendes ins Sein kommt.
Sie ist das Zugrundeliegende in jeglichem noch, was seinerseits
zugrundeliegt, als eine Substanz, als ein Ding seinen Bestim-
236 BEWEGUNG UND DYNAMIS

mungen. Analog wie die Zustände und Eigenschaften am Ding


sind, so sind die Dinge letztlich an oder in der PHYSIS. Es ist sehr
bezeichnend, daß Aristoteles das Bewegungsproblem exponiert
als Frage nach dem Bewegtsein, und nicht nach dem Bewe-
gen. Im Durchgang erst durch das Problem gelangt er schließ-
lich zur Vollendung seiner Bewegungslehre in der Theorie des
Bewegens und des Bewegenden. Die PHYSEI ONTA, die von Natur
aus seienden Dinge, sind "in Bewegung", sie sind bewegt. Anders
zwar ist die Weise, wie das Naturding bewegt ist, anders dieje-
nige, wie das Ding aus TECHNE bewegt ist. Das technische Ding
hat den Anfang der Bewegung, in welcher es wird und entsteht,
nicht in sich selbst; es hat den Anfang in einem anderen, - der
Topf hat seinen Anfang im Töpfer, das Haus im Architekten und
in den Bauleuten. Der Topf kann keinen Topf hervorbringen,
was ihn hervorbringt, ist ein anderes, ein Art-Verschiedenes.
Kein Ding aus TECHNE kann seinerseits hervorbringen. Dagegen
hat das Naturding, wie Aristoteles sagt, den Anfang der Bewe-
gung in sich selbst. Zunächst verdeutlicht dies Aristoteles im
Hinweis auf die Lebewesen, - von denen wir doch sagen, daß sie
sich bewegen. Aber mit der den Naturdingen eigenen und ein-
heimischen Bewegtheit meint Aristoteles nicht nur das biolo-
gische Bewegungsphänomen, das wir an Pflanzen, Tieren und
Menschen gewahren, dies dient ihm nur als Absprungmodell.
Auch die Bewegung der "leblosen" Naturdinge hat die ARCHE
in sich selbst. Naturding überhaupt ist alles, was den Anfang der
Bewegung in sich selbst hat - d.h.: ihn nicht in einem Anderen
und Art-Verschiedenen hat. Aristoteles geht, um die Bewegtheit
der Naturdinge zu charakterisieren nach dem prinzipiellen Stil,
den Anfang der Bewegung in sich zu haben, aus von den leben-
digen Naturdingen; das Phänomen des "Lebens" liefert das
Strukturmodell. Aber im Zuge der Ausarbeitung dieses Be-
wegungsverständnisses dreht sich gleichsam die Sache um:
Bewegtheit aller Naturdinge wird als ZOE bestimmt; wenn zu
Anfang die Bewegung vom "Leben", so wird nachher das Leben
von der Bewegung aus interpretiert. So z.B. zu Beginn des 8.
Buches der "Physik"; dort heißt es von der Gesamtbewegung
aller Naturdinge, "dass sie selber weder entstand, noch vergeht,
sondern immer war und sein wird .... als ein Unsterbliches und
1Jnaufhörliches für die seienden Dinge, gleichsam als eine Art
BEWEGUNG UND DYNAMIS 237
Leben (ZOE TIs) für alles, was von Natur aus ist". Die aristote-
lische Philosophie der Bewegung beginnt mit der bewegten
Bewegung und endet mit der bewegenden Bewegung.
Grundsätzlich ist das PHYSEI ON ein Bewegtes, obgleich es den
Anfang der Bewegung in sich hat, - es ist KINOUMENON. Dieser
Ansatz ist von grösster Tragweite. Die Bewegung, so wie sie zu-
nächst in den Blick genommen wird, ist etwas am Seienden, - die
KINESIS etwas an oder doch in Bezug auf die OUSIA. Das N atur-
ding ist in Bewegung, sein Sein ist "InBewegungsein" . Die
Bewegung kommt also nicht primär so in Sicht, sofern durch sie
das Seiende ins Dasein gelangt, durch die Bewegung hervor-
gebracht wird, sondern sie wird zuerst Thema als die phäno-
menale Bewegung, die an und mit den Dingen geschieht.
Mannigfaltig sehen wir die Dinge umgetrieben in Bewegungen,
zwischen Erde und Himmel ereignet sich ein unabsehbares Ge-
wimmel von Bewegungen, geschieht ein unaufhörlicher Tumult.
Die Wasser des Meeres strömen und wogen, die Berge des Fest-
lands verwittern, über Land und Meer weht der Wind, Licht und
Dunkel wechseln, - Steine lösen sich aus Felswänden und rollen
zu Tal, Pflanzen wachsen aus dem Erdreich hinauf in Luft und
Licht, Tiere jagen und fliehen, Menschen siedeln, gründen
Städte und Reiche, steigen in den Ruhm oder sinken in Schmach.
Es gibt viele Arten von Bewegungen. Jeder Bereich von Seien-
dem hat die ihm eigentümliche Weise des Bewegtseins, die anders
ist beim Stein, anders bei der Pflanze, anders beim Tier und
anders beim Menschen.

Für Aristoteles ist dieser Unterschied nicht zentral, ihm kommt


es eher darauf an, die Struktur der Bewegtheit bei allem natur-
haft Seienden herauszuarbeiten. Gleichgültig ob Stein, Pflanze,
Tier, Mensch, - alle solchen Dinge haben eine grundsätzlich gleiche
Verfassung des Bewegtseins. Aristoteles gewinnt diese unter der
Leitung seiner ontologischen Explikation des Dinges. Das Ding
ist in seinem Dingsein bestimmt durch das kategoriale Gefüge.
Aristote1es kennt 10 Kategorien. Die erste davon ist die OUSIA.
OUSIA meint das Seiende selbst, das Ding. (Dass und wie er
.,erste" und "zweite" OUSIA unterscheidet, lassen wir beiseite).
Das Ding aber ist weiterhin bestimmt durch ein Wiebeschaffen-
sein, durch ein Wiegroßsein und ein W osein, d.h. durch POION,
238 BEWEGUNG UND DYNAMIS

POSON, pou. Diese vier Kategorien bilden die möglichen Hori-


zonte der Bewegung. Ein Ding kann bewegt sein hinsichtlich
seiner Wesenheit, hinsichtlich des TI, - es kann als ein Wesen
entstehen oder vergehen: GENESIS KAI PHTHORA; ferner kann es
bewegt sein hinsichtlich des POION, oder KATA TO PATHOS, solche
Bewegung nennen wir dann Veränderung (ALLOIOSIS); ferner
kann es bewegt sein hinsichtlich des Wiegroß, es kann zunehmen
oder abnehmen (AUXESIS-PHTHISIS); und endlich es kann bewegt
sein KATA TOPON, hinsichtlich des Wo in der Ortsbewegung, der
PHORA. Hinsichtlich der übrigen Kategorien, sagt Aristoteles,
gibt es keine Bewegung. Warum nicht? Welches ist der Grund
für diese Behauptung? Aristoteles spricht ihn mehr indirekt aus,
es gibt keine Bewegung der Bewegung. Von den übrigen 6 Kate-
gorien gibt es keine Bewegung und kann es keine geben, weil sie
selber das Strukturgefüge der Bewegung bilden. Jede Bewegung
ist ein Bezug, aus etwas in etwas, sie enthält also das PROS TI in
sich; jede Bewegung verläuft in der Zeit (POTE), jede Bewegung
hat in sich den Unterschied des Tuns und Leidens (POIEIN-PAS-
CHEIN), und ebenso auch den des Haltens und Gehaltenseins
(ECHEIN und KEISTHAI). Hinsichtlich der Kategorien, die den
Bewegungsspielraum eines Dinges bilden, kann es nicht selber
wieder eine Bewegung geben.

Den Begriff der KINESIS, der Bewegung, gebraucht Aristoteles


in einem weiteren und in einem engeren Sinne. Das ist keineswegs
eine schwankende Terminologie; dahinter steht ein schweres
Problem. Wo er den Begriff weit nimmt, umspannt er alle vier
genannten Bewegungsarten, - wo er ihn eng nimmt, gehört
Entstehen und Vergehen (GENESIS und PHTHORA) nicht dazu.
Die drei anderen Bewegungen: die Veränderung, das Zu- und
Abnehmen, und die Ortsbewegung, haben das Gemeinsame, daß
sie Bewegungen an einem schon Seienden sind; in ihnen allen
bleibt ein Ding, gerade wenn es sich bewegt: es wird anders, es
nimmt zu oder ab, es ändert seinen Ort. Dagegen wo wir vom
Entstehen reden, meinen wir doch, daß etwas in der Bewegung
des Entstehens eben erst wird, - daß es im Vergehen verschwin-
det. Das Entstehen und Vergehen bildet das exemplum erucis
der aristotelischen Bewegungs-Auslegung. Wie dies in einem Gang
schwierigster Überlegungen durchgedacht wird, kann jetzt
BEWEBUNG UND DYNAMIS 239
unmöglich dargestellt werden. Denn dies verlangte eine Inter-
pretation der ganzen "Physik". Als Hinweis gesagt: das anfäng-
liche Modell der Bewegungsinterpretation bildet die Veränderung.
die ALLOIOSIS, - schließlich gelingt es Aristoteles sogar, auch das
Entstehen und Vergehen als eine Art von ALLOIOSIS zu deuten.
Dabei muss er allerdings den ALLOIosIs-Begriff so überspannen,
daß er allzu formell wird. Veränderung kennen wir alle; wir haben
dergleichen schon unzählige Male gesehen. Aber zu sagen, was sie
ist, welches ihre Struktur ist, bleibt unendlich schwer.

Nehmen wir einen einfachen Fall. Ein Blatt verfärbt sich; aus
sattem Grün wird flammendes Rot und schließlich stumpfes Braun.
Aus etwas wird ein anderes, aus Grün wird Rot aus Rot, wird
Braun. Wir haben einen eigentümlichen Umschlag, eine METABO-
LE. Was heisst es aber: aus Grün wird Rot? Das Grün wird ja
gar nicht, es erlischt, verschwindet; und das Rot, wird nicht am
Grün, sondern wird dort, wo das Grün war, es entsteht. Wo eins
verschwindet, entsteht das andere. Aber Grün und Rot lösen
sich doch nicht ab wie zwei Wachtposten, sondern das Grün
vergeht in das Rot. Das, von dem wir sagen, es wird zu etwas
anderem, bleibt nicht im Werden, hier ereignet sich ein Umschlag,
der eben ein Vergehen des einen und ein Entstehen des anderen ist.
Grün und Rot aber sind nichts Eigenständiges, sie sind Farben
an einem Blatt. Wenn wir das Rotwerden vom Blatt aussagen,
dann sehen wir, daß es blei bt im umschlagenden Wechsel seiner
beiden Farben, - ja dass es bleiben muss, um überhaupt den
Umschlag zu ermöglichen. In der Bewegung der Veränderung
also müssen wir unterscheiden das Zugrundebleibende (TO
HYPOMENON), also das, was sich verändert und durchhält im
Wechsel, und dann seine Bestimmungen, die ineinander um-
schlagen. Terminologisch können wir den Unterschied ausdrük-
ken als Veränderung und Änderung. Das Grün ändert sich in
Rot; in der Änderung geht das zugrunde ,von dem wir sie aus-
sagen, in der Veränderung muss das Sichverändernde gerade
bleiben, es muss den Wechsel durchstehen und in solcher Durch-
ständigkeit den Umschlag ermöglichen. Der Wandel der Ände-
rung ist auf das ungewandelte Bleiben des Trägers des Wandels
bezogen. Die Bewegtheit des Wandels ist szs. nicht freischwebend
möglich, sie muss sich an einem Seienden vollziehen; Wandel
240 BEWEGUNG UND DYNAMIS

und UngewandeItheit, Bewegung und Bleiben sind so in einander


verspannt und verschränkt. Der Träger der Bestimmungen (das
Blatt) muss je ein Aussehen haben, ein EIDOS, d.h. in je einer
Bestimmtheit etwa aus dem Bereich der Farbe stehen. Sofern er
aber bestimmt ist, hat er gegenüber einen Spielraum anderer
Bestimmungen, die ihm zukommen können; der einen bestimm-
ten Farbe liegen die anderen Farben, in welche ein Umschlagen
möglich ist, gegenüber. Sofern das Blatt in einer Bestimmtheit
ist, ist es um der anderen, ihm auch möglichen, beraubt. Das
Gegenüberliegende heisst griechisch TO ENANTION, Beraubung
STERESIS. Die aristotelische Interpretation der Veränderung dreht
sich um die Grundbegriffe des Zugrundeliegenden, des HYPOME-
NON, des ENATION, der STERESIS, und des Umschlags, der META-
BOLE. Die Weise aber, wie diese Grundbegriffe denkerisch ent-
faltet und in Bewegung gebracht werden, wie sie fortlaufend
subtilere Prägnanz gewinnen, - wie sie zusammengebracht wer-
den mit den Strukturbegriffen der anderen Bewegungsformen
und verwandelt in jene eingehen, das nachzudenken ist eine zwar
schwierige, aber von höchstem geistigem Genuß begleitete Arbeit,
eine Hohe Schu1e speku1ativen Denkens. Und wenn man sich
vergegenwärtigt, daß dies Vorlesungen des Aristoteles waren - so
ist der Rest für uns Schweigen.

Der Gang der aristotelischen Bewegungsinterpretation geht,


wie wir sagten, aus von den phänomenalen Bewegungen, aber er
bleibt nicht dabei stehen, so groß und schwierig auch da schon die
Problematik ist. Von der phänomenalen Bewegung (oder der
ontischen Bewegung) frägt er zurück in diej enige Bewegtheit,
wodurch jedes Naturding zusammenwächst aus Form und Stoff,
aus EIDOS und HYLE. Die ungeheuerliche Schwierigkeit dieser
radikaleren Bewegungsproblematik liegt im methodischen Prin-
zip der Analogie; Aristoteles überbrückt methodisch den Un-
terschied zwischen der seienden Bewegtheit der Dinge und der
on togonischen Bewegtheit, die im Seiendsein der Dinge
terminiert, durch das Analogieprinzip ; die Gefahr ist, dass man
dabei gerade die entscheidende Differenz übersieht, durch welche
die Analogie hindurchgreift. Aber auch die Bewegung, durch
welche das Ding aus Stoff und Form zusammenwächst, ist
grundsätzlich von Aristoteles als eine bewegte Bewegung ver-
BEWEGUNG UND DYNAMIS 241

standen. Auch in der Ontogonie ist das Seiende ein KINOUMENON.


Erst in der gleichsam seine Bewegungsphilosophie abschliessen-
den Lehre vom "unbewegten Beweger" kommt das Bewegende
in aller Bewegtheit des Seienden ins Thema. Um diese auch nur
in vorläufigster Weise zu verstehen, müssen wir zuvor einen
ontologischen Unterschied erörtern, welcher das aristotelische
Denken beherrscht und trägt: den von DYNAMIS und ENERGEIA.
Es ist schwer, diese Ausdrücke angemessen zu übersetzen. DYNA-
MIS ist gleich Vermögen, Fähigkeit, Kraft; ENERGEIA besagt das
AmWerksein. Vermögen und AmWerksein sind zwei Grundwei-
sen einer Kraft. Eine Fähigkeit kann ruhen, d.h. sie wird nicht
aktuell ausgeübt; ein sehbegabtes Lebewesen hat die DYNA-
MIS, die Fähigkeit, zu sehen, auch wenn es schläft. Kräfte über-
haupt können inaktuell sein, ausser Vollzug stehen. Vermögen,
Fähigkeiten sind zeitweise unbetätigt. Aber sie können betätigt
werden. Die Betätigung ist das AmWerksein der Kraft. Die Kraft
hat zwei Zustände, das Ruhen und das AmWerksein, die latente
und die patente Kraft. Wo Dinge in Bewegung sind, sind Kräfte
im Spiel, "am Werk"; das Bewegtsein der Dinge wird gemeinhin
schon verstanden vom InBewegungsein der Kraft. Kraft gibt es
zunächst mannigfaltige, gibt es im Plural; es gibt vielerlei Kräfte,
die Schwerkraft, die Zeugungskraft, die Willenskraft (um nur drei
verschiedene Bereiche zu nennen). Die Besinnung auf das Wesen
der Kraft entdeckt bald an ihr den Unterschied des Ruhens und
des InBewegungseins. Kraft wird von Ruhe und Bewegung aus
verstanden in ihrer Doppelform. Aristoteles nimmt nun den
Kraftbegriff auf, um von da aus das Wesen des Seins zu
deuten. Es geht jetzt nicht mehr um je einzelne Kräfte, die
irgendwelche Dinge haben, sondern um die Seinskraft von
Seiendem. Diese kann nicht im Plural vorkommen; es gibt sie
nur im Singular. Das Ding ist. Das sagt aber, es ist nicht im
ganzen und nach allen seinen Momenten, es ist nicht zu jeder
Zeit alles, was es sein kann; es hat eine Reihe von Bestimmt-
heiten - und andere, die ihm auch möglich wären, nicht. Es kann
aber jene annehmen, eben wenn es sich ändert, wenn es um-
schlägt, wenn es sich bewegt. Das Sein eines Dinges ist grund-
sätzlich durch Bewegung bestimmt, das heißt: es ist durch den
Ausstand von solchem bestimmt, was es möglicherweise auch
sein kann, - wozu es das Vermögen hat. Das Seinkönnen gehört
242 BEWEGUNG UND DYNAMIS

mit zum Sein des Dinges; was es "sein kann", ist es, aber
eben nur der Möglichkeit nach; was es aber gerade ist, ist
das gegenwärtige AmWerksein seiner Seinskraft, ist seine
ENERGEIA.

Diesen ontologischen Unterschied von DYNAMIS und ENERGEIA,


den Aristoteles im Absprung vom Modell einer bestimmten Kraft
zu der Seinskraft eines Seienden überhaupt gewinnt, nimmt er
auf, um die Bewegung zu interpretieren. Bewegung ist ihm der
übergang eines Seienden aus dem Zustand des Seinskönnens
in das verwirklichte Sein, ist übergang von der DYNAMIS zur
ENERGEIA. Entstehen etwa ist nicht Herausspringen aus dem
"Nichts", sondern Hervorgang eines Dinges aus anderen, worin
es der Möglichkeit nach bereit lag, wie das Haus im Baumaterial
und in den Bauleuten, das Tier in den Elterntieren usw. Bei der
Veränderung ist das Ding schon der ENERGEIA nach, aber nicht
nach allen Momenten, es steht einiges aus; oder anders, was jetzt
klein ist, kann später groß sein usf. Alle endlichen Dinge, gerade
sofern sie KINOUMENA sind, sind gemischt aus ENERGEIA und
DYNAMIS, sie sind nie reine und vollständige ENERGEIA, weil sie
immer im Entweder-Oder von Gegensätzen stehen; entweder
warm oder kalt, groß oder klein, hier oder dort sein müssen. Zum
Bewegtsein als solchem gehört wesensmässig die Aufgespalten-
heit in DYNAMIS und ENERGEIA. DAS KINOUMENON ist "zwischen
Wirklichsein und Möglichsein" , ist unterwegs. In Metaphysik
A (12. Buch) 24 vollzieht Aristoteles den Abstoß vom Bewegten
zum ersten Bewegenden, zum PROTON KINOUN. Das hat dort
folgenden Gang. Zunächst werden die drei Substanzen unter-
schieden, die es überhaupt gibt: die sinnlich wahrnehmbare ver-
gängliche Substanz, d.h. das endliche Ding; dann die sinnliche,
aber unvergängliche Substanz (das Himmelsgewölbe) ; und schließ-
lich die geistige und unvergängliche Substanz (der NOUS). Die
sinnliche Substanz ist durch Bewegung, durch METABOLE be-
stimmt. Jede METABOLE aber ist "Umschlag aus dem der Mög-
lichkeit nach Seienden in das Wirklich-Seiende". Der Umschlag
ist immer Umschlag von etwas durch etwas in etwas (PAN GAR
lIIETABALLEI TI KAI HYPO TINOS KAI EIS TI). Aus diesem Grundriss
der Bewegung zieht Aristoteles nun die größten denkerischen
Konsequenzen. vVeil es drei Substanzen gibt, zwei durch Bewe-
BEWEGUNG UND DYNAMIS 243

gung bestimmte. muss es eine unvergängliche und unbewegte


geben. Denn an dieser unbewegten hängt für Aristoteles die
Möglichkeit der Bewegung selbst. Die Bewegung im ganzen kann
nicht selber entstanden sein, so wenig wie sie vergehen kann;
sie ist immer wie die Zeit; und die Zeit ist etwas an der Bewegung;
aus dem Immersein der Zeit folgt für Aristoteles das Immersein
von Bewegung. Immersein von Zeit aber fordert die Bewegung
als Kreislauf, weil diese allein die gleichmässige und kontinuier-
liche sein kann. Solcher Kreislauf, der eben die KYKLOPHORIA
des Himmelsumschwungs ist, bedarf eines ersten Bewegers; und
dieser kann seinerseits nicht mehr "bewegt" sein; woraus Aris-
toteies dies folgert, ist nicht auf den ersten Blick zu sehen. Der
erste Beweger kann nicht seinerseits in Bewegung sein, weil er
sonst ein KINOUMENON wäre und weil zur Verfassung des Beweg-
ten wesentlich gehört, daß es durch eine Differenz dessen, was
es der ENERGEIA und was es der DYNAMIS nach ist, zerspalten ist.
Bewegt kann es nur sein, als so zerspalten und zerrissen, weil
Bewegung ein übergehen ist aus DYNAMIS in ENERGEIA. Aus der
Natur des Bewegten, des KINOUMENON, folgt, dass das erst-Be-
wegende seinerseits nicht mehr bewegt sein kann. Das Erst-Be-
wegende muss ein POIETIKON, ein "Hervorbringendes" sein, ohne
daß sein Hervorbringen den Charakter einer bewegten Bewe-
gung haben kann, es kann also nicht am Bild des Handelns und
Werkens gefaßt werden. Man mißversteht den Aristoteles, wenn
man in den ersten Beweger gleichsam eine rastlose unaufhörliche
Tätigkeit hineindeutet, eine schöpferische Gewalt. Der erste Be-
weger ist kein "Täter" und kann in den Kategorien der Tat über-
haupt nicht angemessen gefaßt werden. Er ist eher ein stilles
Verweilen, reiner Zustand, nicht Bewegung. Er ist durch keine
DYNAMIS bestimmt, er muss reine ENERGEIA sein. Am ersten Be-
weger kann nichts ausstehen, er kann durch keinen Fehl bestimmt
sein. Aristoteles verwendet in diesem Zusammenhang eine Be-
gründung, die zunächst nur formell zu sein scheint. Es gibt Be-
wegtes, das sind die Dinge; ferner es gibt etwas, das sowohl be-
wegt, als auch selbst in Bewegung ist: das ist der Himmelsum-
schwung ; er setzt die Bewegungen unter der Himmelsglocke in
Gang, er selbst aber ist in unaufhörlicher, nie stillstehender
Kreisbewegung. Weil es also ein Bewegtes, dann aber auch ein
bewegtes Bewegendes gibt, muß es schliesslich ein unbewegtes
244 BEWEGUNG UND DYNAMIS

Bewegendes geben. Aus der Natur der Bewegung überhaupt, aus


ihrem Grundgefüge von KINOUMENON und KINOUN, folgt für
Aristoteles die Notwendigkeit des ersten Bewegers, der als solcher
gar nicht selbst bewegt sein darf. Dem dreifachen Gefüge der
Bewegung entsprechen so die drei Substanzen der aristotelischen
Metaphysik.

Die Weise nun, wie der erste Beweger bewegt, ohne selber be-
wegt zu sein, verdeutlicht Aristoteles wiederum im Hinblick auf
die von ihm erarbeitete ontologische Vierfalt der Gründe. Wenn
wir vom "Bewegen" sprechen, tritt uns eher das Bild des Tuns,
des Handeins, des Bewirkens vor das Auge. Die erste Ursache
des Seienden im ganzen in aller seiner Bewegtheit dünkt uns ein
Hervorbringendes zu sein in der Art der causa efficiens; für
Aristoteles wird aber gerade die causa finalis zum Leitmodell.
So wie ein Erstrebtes und Geliebtes die Bewegung des Hinstre-
bens in einem anderen auslöst, so bewegt der erste Beweger den
Umschwung des Himmels und die dadurch vermittelten Bewe-
gungen der Dinge. Er ist das Geliebte, auf das alles zueilt, zu dem
alles hingerissen ist, - er bewegt als das AGATHON. KINEI DE HOS
EROMENON, "er bewegt wie ein Geliebtes". Das in allem Seienden
Geliebte, von allen Dingen und von den Sternen und Sonnen
des Firmaments Erstrebte, das, weswegen und worumwillen sie
ihre nimmermüden Bahnen ziehen, ist der NOUS, - er ist das
Göttliche, das alles hervorbringt, er ist der Gott des Aristoteles.
Dass dieser Gott des Philosophen aber verwechselt werden konn-
te, durch lange Jahrhunderte hindurch, mit dem Gott Abrahams
und Jakobs ist fast unbegreiflich. Der NOUS ist kein Weltschöpfer,
er ist der Hervorbringer aller Dinge ins Offene des Erscheinens,
in das Gegliederte und Geordnete des festen Umrisses, in das Be-
ständige und Verlässliche geregelten Wandels. Aristoteles spricht
dem NOUS im höchsten Sinne ZOE, "Leben" zu. Das ist zunächst
befremdend. Denn ZOE gibt zuerst das Modell ab für die Eigenart
der Naturbewegung, in sich den Anfang zu haben, - dann wird
die Bewegung (im Sinne der Bewegtheit) als die ZOE begriffen, -
und nun letztlich in offenbar ganz anderer Weise der NOUS.
"Leben", so meinen wir doch gewöhnlich, ist immer eine Weise
des Bewegtseins, der Aktivität. Wie kann der un bewegte erste
Beweger überhaupt "Leben" haben? Um das zu verstehen, müs-
BEWEGUNG UND DYNAMIS 245
sen wir uns vergegenwärtigen, wie Aristoteles die Bewegtheit
bestimmt; Bewegtsein ist "an einem Orte sein", "Bestimmtsein
durch eine Bewegungszahl", d.h. durch Zeit. Was nicht in einem
Orte und nicht in einer gemessenen Weile ist, ist für Aristoteles
eben nicht-bewegt. Der NOUS hat keinen Ort derart, daß ihn ein
umfangender Körper einschließt; er hat keine Weile, die auszu-
messen wäre, er ist AIDIOS. Erst wenn die ihm wesentliche Orts-
und Weile-Iosigkeit recht begriffen ist, kann auch die aristote-
lische Bestimmung des NOUS als ZOE verstanden werden. "Denn
das AmWerksein des NOUS ist Leben". Das göttliche Leben des
NOUS versucht Aristoteles anzuzeigen mit dem Hinweis, daß er
immer und unaufhörlich, in aller Ewigkeit das ist, was dem Men-
schen nur zuweilen, in seltenen und kurzen Augenblicken seines
Daseins möglich ist, das reine Denken, das THEOREIN. Dies ist -
nach antikem Verständnis - Seligkeit. Aber das reine Denken
des NOUS ist abgrundtief von allem menschlichen verschieden;
er denkt nichts Fremdes, er denkt sich selbst, ist NOESIS NOESEOS.
Damit legt Aristoteles für zwei Jahrtausende fest, was das Abso-
lute ist. Aristoteles stellt die Frage, wie die Natur des Ganzen
(HE TOU HOLOU PHYSIS) das AGATHON habe, - ob als ein von ihr
Abgetrenntes oder als eine sie durchwaltende Ordnung (TAXIS), -
oder vielleicht auf beide Weisen "wie das Heer"; das Heer hat
die Ordnung in sich und den Ordner, den Feldherrn. Kaum ein
Gleichnis könnte schlagender und treffender anzeigen, wie bei
Aristoteles der Grund aller Dinge selbst zu einem Seienden,
zu einem Seienden höchsten Ranges, zum Gott zu werden droht,
und wie er immer wieder davor zurückweicht.

Diese Konsequenz liegt aber im ontologischen Grundansatz


des aristotelischen Bewegungsverständnisses. Die Welt wird
ihm zu einem Seienden, zuerst einmal als der Himmel, dann als
der NOUS, der zum Gott wird.

Vielleicht aber gilt es, diese Entscheidungen, die auf dem Höhe-
punkt der abendländischen Metaphysik gefällt wurden, zu prüfen,
zu überdenken und in Frage zu stellen, um das verdeckte We-
sen der PHYSIS denkend erneut zu vernehmen.
246 BEWEBUNG UND DYNAMIS

Doch Aristoteles hat nicht schlechthin die Natur dem Gott


geopfert, für ihn fallen PHYSIS, NOUS und THEOS in einem geheim-
nisvollen Zwielicht zusammen. Mag das menschliche Denken
dieser Einheit vielfach vergeblich sein, -

HO DE THEOS KAI HE PHYSIS OUDEN MATEN POIOUSIN25

"Der Gott und die Natur bringen nichts vergeblich hervor" .


ANMERKUNGEN

1) vgl. ,,50phistes" 248c4 - 253c3 und 254b7-257aI2.


2) Heidegger, Brief über den "Humanismus"; s. in "Platons Lehre von der
Wahrheit", Bern 1947,5.53.
3) 5. Diels "Fragmente der Vorsokratiker"6, Berlin 1951; Parmenides B l.
4) Reinhardt "Parmenides und die Geschichte der griechischen Philosophie",
Bonn 1916, 5.32 ff.; zu dem Verhältnis der beiden "Teile" des Gedichts ist u.a.
zu vergleichen: Fränkel "Parmenidesstudien" (Götting. Nachr. 1930, 5.153 ff.),
Abschnitt IV und V; Calogero, 5tudi sull' Eleatismo, Rom 1932; Riezler "Par-
menides", Frankfurt 1934 (dazu die Rezension von Gadamer in "Gnomon" XII
1936,5.77 ff.); Jaeger "Die Theologie der frühen griechischen Denker", 5tutt-
gart 1953,5.123 f..
5) B 8,1 '" !J.6~o~ i3't;,~ t-'"ü'&?~ o~?,Io A€L7tE'Tct,L w~, €,O'''n~ .. ~ . ,
6) B 8,2 ... "t"lXu··nJI Il zm <n][.I.IX"t" ZIXO"I 1tOAAIX [.I.IXA, w~ IXYEVYj"t"OV EOV XIX(
&.VWAE&p6v EO""t"IV, 1t0""t"\ YOtp OUAo[.l.EAe~ "t"E XIXL &."t"pq1.l:, ~Il' &.-reAZO""t"OV.
7) B 8,5 oulle 7to"t"''ljv oUIl'ItO""t"IXI, e7td vGv EO""t"\'1 O[.l.oG 7tEi'l, it'l, O"U'lZXe, . . . .
8) B 8,22-33.
9) B 8,55 "t"&.'1"t"LIX ll'expLvlXv"t"O IlEl1.lX~ XIXL O"~[.I.IX"t"'E&EV"t"O XWPL~ &.7t'&.AA~AWV,
't'~L lJ.~~ fAOYO~ ,(xL'&EP,LO~ 1tÜP, \ ~7tLO~ 0_", [J.Ey'~A~CP~6\1" €CX,u't'w,., 1t~~TO?:e: 't'{,t}u-r6,v,
"t"WI Il E"t"EPWI [.I.Yj "t"WU"t"O'l. 1X"t"lXp XIXXZ\VO XIX"t" IXU"t"O "t"IXV"t"11X vux"t" 1X1l1X"IJ, 7t\)XIVOV
IlE[.I.IX~ E[.I.ßPI'&€, "t"e:.
10) ~ 19 o(hw "t"~1 XIX"t"Ot 1l6~lXv Itq)\) "t"cXllz XIXL W'I Etlcr\ XIXL [.I.E"t"E7tZI"t"' &.7t0 "t"OGIlE
"t"e:AEU"t"YjO"OUO"I "t"PIX~EV"t"IX.
11) B 19,3 "t"o);, ll'i5vo[.l.'OEv&pw7to\ xlX"t"e&E'I"t"'E7tLO"1j[.l.OV I:xcXO""t"WI.
12) 0 OEVIX~, OU "t"0 [.I.lXv"t"e:1:6v EO""t"1 "t"0 EV Ae:A~O);~, oü"t"e: Aeye:1 oü"t"e: XPU7t"t"e:1 &.AAOt
O"Yj[.I.IXL'IEI.
13) B 4 Ae:G(}"O"E Il' i5[.1.w, &.7tE6'1"t"1X '16(0\ 7tlXpE6'1"t"1X ßEßIX[W~· OU YOtp &.7tO"t"[.I.~~EI
"t"o EOV "t"ou E6'1"t"0~ EXZO"&IXI oü"t"Z (}"xIllvcX[.I.zvoV 7tcXV"t"YjI rrcXv"t"w~ XIX"t"Ot X60"[.I.OV oü"t"e:
O"U'IIO""t"cX[.I.EVOV.
14) "Timaios" 27d5-29b2
15) Aristoteles "Metaphysik" XII 7. 1072b27
16) "Physik" Z 9. 239b5
17) "Parmenides" 128a6
18) Aristoteles "Physik" Z 9. 239b9 ff. (wiedergegeben bei Diels, F. d. V.,
unter Zen on A 25-28).
19) "Phänomenologie des Geistes" 5. 79 ff. (ed. Hoffmeister).
20) Anaximander B 1 (Diels)
21) vgl. dazu die Gliederung des Abschnittes IV. der "Einführung in die Me-
taphysik" von Heidegger (Tübingen 1953,5.71 f.).
22) "Wissenschaft der Logik" (ed. Lasson 5. 226, Glockner 5.277).
23) "Gesetze" X 893b6 ff. - Es erübrigt sich in diesem Zusammenhang, auf
die Frage der Echtheit des \Verkes einzugehen.
24) "Metaphysik" XII 3. 1070a10 ff.
25) Aristoteles "de caelo" A 4. 271a33.

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