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Das deutsche Nachrichten-Magazin
Hausmitteilung
Betr.: SPIEGEL-Gespräche, Söring, Republik Kongo
Dutzende Kameras empfingen Jens Söring Mitte PETER HÖNNEMANN / DER SPIEGEL
SHUTTERSTOCK EDITORIAL
möglich machen . . . . . . . . . . . . . 6 Reporter
Fußball Endspurt im
juristischen Streit um das
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
WM-Sommermärchen . . . . . . 92
Wissen
Tödliches Tourengehen
Hitzerekordjahr 2020? / Mehr Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
als Blumengießer – über den Immer mehr Skitouristen meiden in den Bergen SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . 119
tieferen Sinn der Nachbarschaft präparierte Pisten und begeben sich bei ihren Impressum, Leserservice . . . 124
/ Analyse: Wie Deutschland es Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Tabakkonzernen leicht macht,
Touren in Gefahr. Regina Poberschnigg, Chefin der Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
die Kundschaft in die Sucht Bergrettung in Ehrwald: »Die rennen einfach Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
zu treiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 los, egal wie das Wetter ist. Ein Wahnsinn.« Seite 94 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130
Titelfotos [M]: Jose Garcia / Witters; Foto Jens Söring: Peter Hönnemann für den SPIEGEL; Picture Alliance / AP 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin
D
as Bundesverfassungsgericht hätte es sich und der Vor mehr als vier Jahren hatte der Bundestag die
Politik leicht machen können. In seinem Urteil zur »geschäftsmäßige«, also wiederholte Förderung des Suizids
Sterbehilfe hätte es an Krebspatienten erinnern unter Strafe gestellt. Er wollte damit umstrittene Vereine
können, denen ein Tumor aus dem Hals wuchert. verbieten, die gegen einen Mitgliedsbeitrag versprechen,
An Lungenkranke, die nachts aus Angst vor dem Er- notfalls einen todbringenden Giftbecher bereitzustellen.
stickungstod wach liegen. An Verzweifelte also, denen der Allerdings vergrößerte das Gesetz die Verwirrung,
Staat unerträgliches Leid nicht zumuten dürfe. die es bei der Sterbehilfe in Deutschland ohnehin schon gab.
Doch die Karlsruher Richter beschränkten sich nicht Mediziner waren verunsichert, ob sie sich schon strafbar
auf das Schicksal Schwerstkranker. Jede Bürgerin und jeder machen, wenn sie mit Verzweifelten über Suizidwünsche
Bürger, so urteilten sie am vergangenen Mittwoch, habe reden. Zehn regionale Ärztekammern drohen ihren
das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Ausdrücklich Mitgliedern bis heute mit dem Entzug der Approbation,
schlossen sie auch alle Menschen ein, die nicht unheilbar sollten sie bei einem Suizid assistieren, sieben andere
krank sind. Die Richter eröffneten tun das nicht. Schwerstkranke,
damit einen Freiheitsraum, der so die sich in ihrer Not selbst ein
weit ist, dass es an eine Zumutung todbringendes Medikament
grenzt. Es ist eine Zumutung, die beschaffen wollen, scheitern,
notwendig war. weil ihnen die zuständige
Vordergründig scheint das Bundesbehörde die Erlaubnis
Urteil allen religiösen Wert- verweigert.
vorstellungen zu widersprechen: Es blieb ihnen in letzter Kon-
Das Verfassungsgericht macht sequenz nur, sich vor den Zug
den Menschen zum Entscheider zu werfen. Der Staat hatte alle
über das eigene Sterben. Aller- anderen Auswege versperrt.
dings hat es dieses Recht keiner Das Verfassungsgericht hat die
göttlichen Instanz entrissen. Uhr jetzt wieder zurückgestellt.
Sondern dem Staat. Es ist an der Zeit für eine neue
Der vorgeschobene Verweis gesellschaftliche Debatte darüber,
auf das christliche Menschenbild wie wir sterben wollen und wel-
hat die politische Debatte über che Hilfe wir dabei erwarten dür-
die Sterbehilfe in Deutschland seit fen. Das Urteil gibt dazu den
Jahren geprägt. Als der Bundes- Anstoß, ganz ausdrücklich.
FRANZ ROTH
Renault Kadjar: Gesamtverbrauch kombiniert (l/100 km): 5,9–4,3; CO2 -Emissionen kombiniert: 136–112 g/km. Energieeffizienzklasse: C–A
(Werte nach Messverfahren VO [EG] 715/2007).
1
Restwert des Altfahrzeugs und zusätzlich 10.000 € Neu-für-Alt-Prämie bei Kauf eines Renault Koleos, Talisman, Talisman Grandtour und Espace,
5.000 € bei Kauf eines Renault Kadjar, Scénic, Grand Scénic, Mégane, Mégane Grandtour, Master Pkw und Trafic Pkw, 4.000 € bei Kauf eines Renault
Kangoo Pkw, 3.000 € bei Kauf eines Renault Clio, Clio Grandtour und Captur, 2.500 € bei Kauf eines Renault Twingo. Ausgeschlossen sind alle
Mégane R.S. Varianten. Das Altfahrzeug muss mindestens 3 Monate auf den Käufer des Neufahrzeugs zugelassen sein. Nicht kombinierbar mit
anderen Aktionen/Angeboten. Ein Angebot für Privatkunden, gültig bei Kaufantrag bis 30.04.2020 und Zulassung bis 30.06.2020. 2 2 Jahre Renault
Neuwagengarantie und 3 Jahre Renault Plus Garantie (Anschlussgarantie nach der Neuwagengarantie) für 60 Monate bzw. 100.000 km ab Erstzu-
lassung gem. Vertragsbedingungen. Abb. zeigt Renault Kadjar BOSE Edition mit Sonderausstattung. Renault Deutschland AG, Postfach, 50319 Brühl.
Titel
D
er Karneval in Gangelt-Lang- Labor der Düsseldorfer Uniklinik. Um
broich ist eine große Sache; 17 Uhr meldet der zuständige Virologe
Bernd B. bereitet sich seit dem per Telefon den Kollegen in Erkelenz den
vergangenen Sommer auf die tol- positiven Befund.
len Tage in seiner niederrheini- Um 0.30 Uhr in der Nacht auf Ascher-
schen Heimat vor. Der 47-Jährige, der im mittwoch wird B. auf eine Isolierstation
Nachbarort gemeinsam mit seinem Bruder der Düsseldorfer Uniklinik verlegt und an
seit 1999 eine Immobilienfirma mit sechs eine künstliche Lunge angeschlossen. Sein
Mitarbeitern führt, tanzt im Männerballett Zustand ist kritisch, er kämpft um sein Le-
des örtlichen Karnevalsvereins Langbröker ben. Mit ihm wird auch seine Frau verlegt.
Dicke Flaa. Ihr Test war zunächst negativ ausgefallen,
Am 15. Februar, einem Samstag, besucht erst bei einer zweiten Probe am Mittwoch
er die traditionelle Kappensitzung in der wird auch bei ihr das Virus nachgewiesen.
Langbroicher Bürgerhalle. Die rund 300 Die beiden sind die ersten Coronavirus-
Narren feiern bis in den späten Abend. Zu Patienten in Nordrhein-Westfalen.
diesem Zeitpunkt trägt Bernd B. das hoch Fast gleichzeitig tauchten auch in Baden-
ansteckende Coronavirus Sars-CoV-2 ver- Württemberg Fälle auf: Ein 25-Jähriger aus
mutlich bereits in sich. dem Kreis Göppingen, der nach Mailand
Gut eine Woche später verschlechtert gereist war, hatte sich infiziert, ebenso sei-
sich sein Zustand dramatisch. Am Ro- ne 24-jährige Begleiterin aus Tübingen.
senmontag fährt er mit seiner Frau ins Die wiederum steckte ihren 60-jährigen
knapp 30 Kilometer entfernte Hermann- Vater an, Oberarzt in der Pathologie am
Josef-Krankenhaus von Erkelenz. Gegen Tübinger Universitätsklinikum.
11.15 Uhr betreten die beiden die Klinik. Weil der Pathologe an einem Oberärzte-
B. ist kaum noch ansprechbar. Er kommt treffen teilgenommen hatte, teilte das
auf die Intensivstation, wird isoliert. Die Klinikum mit, habe man ein Dutzend
Ärzte vermuten Influenza. Doch das Test- Mediziner getestet und aus der Kranken-
ergebnis ist negativ. versorgung herausgenommen.
In der Nacht geht es weiter bergab mit Am Mittwoch wurde das Virus bei ei-
B.s Befinden, er muss künstlich beatmet nem 32-jährigen Mann aus dem Kreis Rott-
werden. Nun wird den Ärzten klar: Die weil nachgewiesen. Der Mann war zuvor
Symptome deuten auf das neuartige Coro- ins italienische Codogno gereist. Am Don-
navirus hin – obwohl B. in den vergange- nerstagnachmittag ergab ein Test, dass ein
nen Wochen nach allem, was man bislang Mann Anfang dreißig aus Kaiserslautern
weiß, weder in China oder Südkorea war, an Covid-19 erkrankt ist. Am Donnerstag-
noch in Italien oder Iran. Die Ärzte ent- abend wurden vier weitere Fälle in Baden-
nehmen Sekret aus der Lunge, am Fast- Württemberg und je einer in Bayern, Hes-
nachtsdienstag gegen Mittag bringt ein sen und Hamburg bekannt – bei Letzte-
Rettungswagen die Probe mit Blaulicht ins rem handelt es sich um einen Mitarbeiter
des Universitätskrankenhauses im Stadt- Ist Deutschland gerüstet gegen ein Virus, die Infektionsketten gekappt kriegen«,
teil Eppendorf. das einen Schaden anrichten könne, der gab NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef
Keine Frage: Covid-19, wie die vom »weit über die Folgen eines reinen Gesund- Laumann (CDU) am Mittwoch bei einer
Sars-CoV-2 verursachte Erkrankung heißt, heitsnotstands hinausgeht«, wie Jeremy Far- Pressekonferenz zu.
ist in Deutschland angekommen. Wir be- rar analysiert, Direktor des Wellcome Trust, Auch in Köln ist man alarmiert. Zwei-
fänden uns hierzulande »am Beginn einer einer der weltgrößten Gesundheitsstiftun- mal seit Mitte des Monats, am 13. und am
Corona-Epidemie«, sagte Bundesgesund- gen? Er glaubt, das Virus könne eine Ket- 19. Februar, war Bernd B. für ambulante
heitsminister Jens Spahn nach wochenlan- tenreaktion auslösen mit dem »Potenzial Untersuchungen, eine Magenspiegelung
gem Abwiegeln. Es sei »fraglich, ob unsere der Finanzkrise von 2008« (siehe Seite 13). und einen Ultraschall, im Kölner Univer-
bisherige Strategie, das Virus einzugren- Am Mittwochnachmittag sitzt der Erke- sitätsklinikum. Noch am Dienstagabend
zen und Infektionsketten zu beenden, lenzer Pflegedirektor Stephan Demus in trifft sich deshalb Johannes Nießen, der
auch weiterhin aufgeht«. der leeren Kantine seines Krankenhauses. Leiter des Kölner Gesundheitsamts, mit
Im Gesundheitsministerium ist von ei- Geschlafen hat er kaum in der Nacht zuvor. Ärzten der Kölner Uniklinik und weiteren
ner »dynamischen Lage« die Rede, die sich Immer noch sind entscheidende Fragen Experten zu einer Krisensitzung, die bis
stündlich ändere. Noch am Mittwoch be- ungeklärt: Mit wem hatten Bernd B. und tief in die Nacht dauern wird.
rief Spahn eine Telefonkonferenz mit allen seine Frau Kontakt? Und wo haben sie sich B. hatte während seiner Untersuchun-
Gesundheitsministern der Länder ein und angesteckt? gen Kontakt zu zehn Mitarbeitern der Kli-
bat sie, ihre Pandemiepläne zu aktualisie- Ihre beiden Kinder und die Großmutter nik sowie zu 31 Patienten; das lässt sich
ren. Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts stehen unter häuslicher Quarantäne. Ein dem Terminkalender im Klinikcomputer
(RKI) schrieben derweil laut Sprecherin Bürgertelefon wird eingerichtet. Mehrere entnehmen. Noch in der Nacht rufen Nie-
Susanne Glasmacher mit Hochdruck an Mitarbeiter des Erkelenzer Krankenhau- ßen und sein Stellvertreter die zehn Kli-
einem neuen »Rahmenkonzept«, das sich ses, die mit B. in Kontakt gekommen wa- nikmitarbeiter an und bitten sie, am nächs-
anders als der Nationale Pandemieplan ren, müssen in häusliche Isolierung und ten Tag zu Hause zu bleiben. Einer hält
nicht auf Influenzaerreger, sondern auf das sollen dort nun Tagebuch über ihren Ge- das zunächst für einen Karnevalsscherz.
neuartige Coronavirus bezieht. sundheitszustand führen. Alle Patienten zu erreichen wird länger
Während in China die Zahl der Neuin- Am Mittwoch tauchen zahlreiche Men- dauern. »Einer«, sagt Nießen, »ist inzwi-
fektionen zurückgeht, breitet sich der Er- schen in der Klinik auf, die sich ganz ohne schen in Tripolis.«
reger inzwischen in Südkorea, Iran und Symptome auf das Virus testen lassen wol- Bis Donnerstagabend waren zwar alle
Italien aus und zieht von dort in die Welt. len. Die Telefone am Empfang und in den Tests in Köln negativ. Dennoch: Längst hat
Irak, Afghanistan, Bahrain, Oman, Geor- Büros klingeln durchgehend. »Wir wurden sich das Virus verbreitet, spätestens wohl
gien, Norwegen, Griechenland, Rumänien, mit Anfragen überflutet. Es ist ein Wahn- aus der Karnevalssitzung heraus. So sind
Brasilien, Österreich und die Schweiz, sie sinn«, sagt Demus. inzwischen eine Mitarbeiterin aus Bernd
alle meldeten in den vergangenen Tagen Die nächste Schreckensnachricht: Die B.s Immobilienfirma und ihr Lebensgefähr-
ihre ersten Fälle. Frau von Bernd B. arbeitet als Erzieherin te positiv auf das Coronavirus getestet
In den USA hatte Nancy Messonnier, Di- in einer Kita. Behörden ordneten umge- worden. Auch ein Stabssoldat der Flugbe-
rektorin des National Center for Immuni- hend an, bis Montag alle Schulen und Kin- reitschaft aus der Bundeswehrkaserne in
zation and Respiratory Diseases, der Seu- dertagesstätten im Kreis zu schließen. Köln-Wahn wurde isoliert und in ein Trup-
chenbehörde, am Dienstag eine klare Bot- »Wir können nicht garantieren, dass wir penkrankenhaus nach Koblenz gebracht.
schaft für ihre Landsleute. Die Frage sei Er hatte mit Bernd B. in Gangelt-Lang-
nicht, ob sich das Coronavirus in den USA broich gefeiert. Das Virus ließ sich bei
ausbreiten werde, sagte sie, sondern wann einem Arzt aus Mönchengladbach nach-
– und wie viele Amerikaner dann schwer weisen; er war ebenfalls bei der Kappen-
erkranken würden: »Unser tägliches Leben sitzung dabei. Und schließlich wurden am
könnte massiv eingeschränkt werden.« Donnerstagabend 14 weitere Covid-19-Fäl-
Zwar versuchen die Behörden weltweit le aus dem Kreis Heinsberg gemeldet.
immer noch, die Ausbreitung des Virus so Doch wenn schon nach wenigen Tagen
gut es geht zu bremsen, Experten hoffen, in Deutschland Ärzte infiziert, viele Kran-
den neuartigen Erreger wenigstens so kenhausmitarbeiter isoliert, die Infektions-
lange in Schach halten zu können, bis die ketten kaum noch nachvollziehbar und
Influenzasaison zu Ende ist, damit sich alle Verantwortlichen erschöpft sind, was
MATT ROTH / DER SPIEGEL
nicht auch noch zwei Seuchenwellen über- soll dann erst passieren, wenn in den
lagern. Aber inzwischen dürfte klar sein: nächsten Wochen vielleicht Tausende In-
Nun gilt es ebenso dringend, sich auf die fizierte in den Wartezimmern sitzen?
medizinische Versorgung Tausender, viel- Dass Horrorvisionen, wie sie in Filmen
leicht Hunderttausender Infizierter allein US-Epidemiologin Nuzzo wie »Outbreak« oder »Contagion« gezeigt
in Deutschland vorzubereiten. werden, ins Reich der Fantasie gehören, da-
Was in den vergangenen Tagen an eini- rin sind sich alle Experten einig. Dafür ist
37%
gen Orten passierte, kann als Testlauf ver- die Tödlichkeitsrate von Covid-19, die der-
standen werden für das, was in den zeit groben Schätzungen zufolge zwischen
kommenden Wochen auf Ärzte, Kranken- etwa 0,2 und 2,5 Prozent liegt, zu niedrig.
häuser, Gesundheitsämter, Ministerien Andererseits wäre eine Letalität von 0,2
und jeden Bürger zukommen wird. Ist Prozent doppelt so hoch wie bei einer
aller Krankenhäuser in Deutschland mussten
Deutschland wirklich so gut vorbereitet, durchschnittlichen saisonalen Grippe – und
aus Personalmangel im ersten Halbjahr 2019
wie Gesundheitsminister Spahn seit Wo- die tötet jedes Jahr Hunderte bis Tausende
Intensivbetten sperren.
chen behauptet? Reicht die »aufmerksame Menschen in Deutschland.
Gelassenheit«, die er zu Beginn empfahl, Quelle: DKI Mit einer Tödlichkeitsrate von 0,7 Pro-
wirklich aus, um die Krise zu bewältigen? zent, wie sie die WHO in China für die
10
Platz 14 : Deutschland
63 Russland
5 Kanada
2 Großbritannien
3 Niederlande
1 USA
51 China 21 Japan
Gewappnet
für die Pandemie?
Weltweiter Gesundheits-
Sicherheits-Index*, 22 Brasilien
Ranking 2019 (Auswahl)
Ansteckungs- oder
am besten vorbereitet Übertragungsfähigkeit zum Vergleich:
Covid-19-Erreger saisonale Grippe 4 Australien
besser vorbereitet
am wenigsten vorbereitet 1 Erkrankter 1 Erkrankter
keine Daten
Quellen:
GHS Index, WHO, Lancet,
*Bewertung bspw. nach Entdeckungs- und Reaktions- BMC Infectious Diseases,
fähigkeiten, medizinischer Versorgung, Umweltbedingungen 2 bis 3 Infizierte ca. 1,3 Infizierte Journal of Travel Medicine
Regionen außerhalb von Hubei ermittelt schen und in ein Taschentuch oder in den sondern – nach telefonischer Vorankündi-
hat, wäre sie sogar siebenmal so hoch. Ärmel husten soll? Warum ist die Website gung – die Hausärzte. Sie sollen, geschützt
»Jedes Virus, das wie der Covid-19-Er- des Robert Koch-Instituts so unübersicht- mit Atemmaske und Schutzkleidung, die
reger leicht übertragbar ist, die Lunge be- lich, dass man die wichtigen Informatio- Proben für den Virustest entnehmen und
fällt und zum Tod führen kann, muss man nen kaum finden kann?« die Patienten dann je nach Schwere der
ernst nehmen«, sagt Florian Klein, Direk- Wenn es ein Land gibt, das dem neuar- Symptome ins Krankenhaus oder in die
tor des Instituts für Virologie an der Kölner tigen Virus Einhalt gebieten kann, dann Isolation nach Hause schicken. So etwa
Uniklinik. »Vor allem, wenn es wie Sars- ist das wahrscheinlich Singapur. Das steht es jetzt schon in der Coronavirus-
CoV-2 auf eine nicht immune Bevölkerung Mount Elizabeth Hospital im Novena-Vier- Information der Degam.
trifft.« Und Heiko Schneitler, langjähriger tel sieht eher aus wie ein Fünfsternehotel Doch viele niedergelassene Ärzte fühlen
Leiter des Düsseldorfer Gesundheitsamts, denn wie ein Krankenhaus: Teure Autos sich von Behörden und Politik alleinge-
mahnt: »Wir wissen noch immer nicht ge- stauen sich auf der großen Rampe, die lassen. »Und Bundesgesundheitsminister
nau, warum das neuartige Coronavirus schwungvoll zum opulenten Eingang hi- Jens Spahn meint allen Ernstes, Deutsch-
welche Menschen tötet.« naufführt, die Patienten müssen sich regis- land sei gut auf eine Pandemie vorberei-
Sich auf die Ausbreitung eines solchen trieren und ihre Temperatur messen lassen, tet«, sagt ein Berliner Herzmediziner. Au-
völlig neuartigen Erregers gut vorzuberei- bevor sie Zugang erhalten. ßer den Infos im Internet gebe es keine
ten, so Schneitler, schaffe man nicht in Im siebten Stock residiert Leong Hoe Memos oder Anschreiben der Gesund-
zwei Wochen oder zwei Monaten. »Dafür Nam, 49, einer der führenden Virologen heitsbehörden an die niedergelassenen
braucht man eher 20 Jahre.« des asiatischen Stadtstaats. Leong hat Ärzte. »Wir stehen komplett im Dunkeln.«
Doch ausgerechnet Deutschland, das 2003 Sars überstanden. »Aber diesmal«, Vor allem, dass es viel zu wenig Atem-
für Gesundheit pro Kopf so viel ausgibt sagt er, »haben wir es mit einer viel größe- schutzmasken der Schutzstufe FFP-3 und
wie kaum ein anderes Land in Europa, ren Herausforderung zu tun. Dieses Virus Schutzanzüge gibt, macht den Ärzten große
schneidet bei der Pandemie-Vorbereitung muss ganz anders gemanagt werden.« Sorgen. »Die Vorbereitungen sind aus mei-
allenfalls mittelmäßig ab. Beim Global Man könne den Kampf gegen den neu- ner Sicht alles andere als optimal«, sagt
Health Security Index etwa stuften inter- en Erreger mit einer Seeschlacht verglei- Frank Unger, Allgemeinmediziner im Berli-
nationale Experten Deutschland unter chen: »Die großen Krankenhäuser sind in ner Stadtteil Marzahn. »Ich finde, dass jede
195 Ländern lediglich auf Platz 14 ein, in dieser Schlacht unsere Flugzeugträger. Sie Praxis eine Art Carepaket mit 20 bis 100
der Kategorie »Notfallvorsorge und Ge- haben das höchste strategische Gewicht Schutzmasken und Schutzanzügen bekom-
fahrenabwehr« sogar auf den wenig und müssen geschützt und abgeschirmt men sollte«, sagt Unger. »Aber davon kann
schmeichelhaften Platz 67. werden von den Gesundheitsämtern und keine Rede sein. Wenn wir nicht selbst aktiv
»Wir sind überhaupt nicht vorbereitet«, niedergelassenen Ärzten.« geworden wären, hätten wir jetzt gar nichts.«
sagt Michael Kochen, langjähriger Präsi- So ungefähr könnte es auch in Deutsch- Tatsächlich sind Masken und Schutz-
dent der Deutschen Gesellschaft für All- land laufen, wenn die Zahl der Infizierten anzüge, die zum großen Teil in China pro-
gemeinmedizin und Familienmedizin steigt – theoretisch. Erste Anlaufstelle für duziert werden, hierzulande kaum noch
(Degam). »Wo sind die Plakate an Bushal- die meisten Patienten wären entsprechend zu bekommen.
testellen, U-Bahnhöfen und Litfaßsäulen, nicht die Kliniken, die sich allein um die Die gebürtige Chinesin Ming Gutsche
dass man sich regelmäßig die Hände wa- wirklich schweren Fälle kümmern sollen, vertreibt mit ihrer Firma in Rastatt Schutz-
kleidung und Atemmasken, ihre 21 Mitar- dort mit noch unerkannten Sars-CoV-2-
beiter können die Bestellungen kaum noch Gegen das Virus Infizierten sitzen. Andreas von Thüna, in-
bewältigen. Ende Januar standen sogar ein Wie sich Gesunde vor dem neuartigen ternistischer Hausarzt aus Brühl, macht
paar Glücksritter mit Kleintransportern Coronavirus schützen können deshalb lieber Hausbesuche bei Verdachts-
auf dem Firmenparkplatz und wollten ihr fällen. Dies sei, glauben viele Experten,
die Bestände en gros abnehmen. Gutsche Hände waschen der richtige Weg. Doch systematisch orga-
drohte mit der Polizei, sie wolle keine »Kri- Die Hände regelmäßig und gründlich nisiert wird das in Deutschland bislang
senkäufer«, sagt sie. mit Wasser sowie Seife oder nicht.
Desinfektionsmittel reinigen
Das, was sie noch auf Lager hat, geht In Großbritannien läuft hingegen seit
nun über ein Quotensystem an Stamm- Schleimhäute schützen Ende Januar ein Pilotprojekt, bei dem
kunden wie Krankenhäuser, Feuerwehren Mund, Nase und Augen Menschen mit Infektionsverdacht zu Hau-
oder Pharmakonzerne. Doch auch Gut- nicht mit den Händen berühren se getestet werden. Ärzte in einem Lon-
sches Bestände schrumpfen. doner Krankenhaus kamen auf die Idee,
Der Lieferengpass ist im Bundesgesund- nachdem sie gesehen hatten, dass Kran-
heitsministerium bekannt. Die wenigen Körperkontakte vermeiden kenwagen, die Verdachtsfälle für Tests in
Fertigungsstätten in Europa, so hält es das Auf unnötigen Körperkontakt wie Krankenhäuser bringen, nach jedem Trans-
Protokoll einer Videokonferenz von Mi- Handschläge und Umarmungen port stundenlang dekontaminiert werden
nisteriellen mit Branchenvertretern fest, verzichten mussten.
könnten die chinesische Produktion »nicht Nun fahren die Virentester zu den Leu-
Abstand halten
annährend kompensieren«. Engen Kontakt zu Personen, die ten nach Hause. Die Schutzkleidung wird
Ein langjähriger Lieferant Gutsches sitzt Grippesymptome zeigen, vermeiden nach jedem Besuch entsorgt. In Wales
bei Wuhan und produziert in Sonder- konnte inzwischen fast 95 Prozent aller
schichten durchgehend von 7 bis 22 Uhr. Verdachtspatienten eine Testung zu Hause
»Aber seit dem Neujahrsfest dort dürfen Wie Infizierte ihr Umfeld schützen können angeboten werden.
die Fabriken uns nicht mehr beliefern«, Im Global Health Security Index liegt
Gegenstände reinigen
sagt Gutsche. »Die Produkte sind alle be- Großbritannien auf dem ersten Platz in
Häufig berührte Gegenstände wie
schlagnahmt.« Tastaturen und Türklinken reinigen, Europa und auf dem zweiten Platz welt-
Auch Länder wie Taiwan oder Korea Küchen und Bad sauber halten weit. Das dortige Gesundheitsministerium
hätten wohl bereits Exportverbote für hat längst auf Covid-19 reagiert und de-
Schutzkleidung verhängt, hält das Proto- Verdeckt husten und niesen taillierte Anweisungen für Hausärzte, La-
koll aus dem Gesundheitsministerium fest. Beim Niesen und Husten Taschentuch bors und das medizinische Personal online
Und beim verfügbaren Rest steigen die benutzen oder Mund und Nase mit gestellt.
Preise: Bei Amazon, sagt ein Sprecher Ellenbeuge bedecken Hierzulande leiden die Gesundheits-
der Deutschen Krankenhausgesellschaft, ämter unter drastischem Personalmangel.
verlange manch Händler für ein Paket mit
Zu Hause bleiben »In Köln sind wir gut aufgestellt«, sagt der
Nicht zur Arbeit, Schule oder auf
50 einfachen Schutzmasken, das vorher Veranstaltungen gehen, keine Kölner Gesundheitsamtschef Nießen,
für 3,95 Euro zu haben war, inzwischen öffentlichen Verkehrsmittel benutzen »aber vielerorts verdient ein erfahrener
150 Euro. Arzt im Durchschnitt etwa 1500 Euro brut-
Michael Koch hat noch ein paar Atem- Separate Räume nutzen to weniger als im Krankenhaus.«
schutzmasken bei sich zu Hause im Keller Kontakt zu Haushaltsmitgliedern Vor allem: Schon ohne Krisenlagen sto-
liegen. Er sitzt an der Quelle, ist Produkt- meiden, sich nicht im selben ße der Gesundheitsdienst in den Bundes-
manager bei Medika Medizintechnik, ei- Raum aufhalten ländern an die Grenzen seiner Belastbar-
nem Großhändler für Medizinprodukte. keit, sagt Ute Teichert, Vorsitzende beim
Doch seine Quelle werde schon bald ver-
Mundschutz tragen Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte
Bei allen unvermeidlichen Kontakten
siegen, sagt Koch. »90 Prozent aller Artikel wie Arztbesuchen Mund-Nasen- des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.
wie Masken, Schutzkleidung, Tupfer oder Schutz tragen Da ist es wenig tröstlich, dass selbst die
Verbände kommen aus China. Viele davon USA, die im Global Health Security Index
sogar direkt aus der Provinz Hubei.« auf Platz eins liegen, ihre Schwierigkeiten
Der fehlende Nachschub könnte sich zu Blieben die Coronavirus-Infektionen re- mit der Bewältigung der Krise haben. Sie
einem gefährlichen Problem auswachsen. gional begrenzt, könnten Kliniken Perso- haben Probleme mit ihrem Virustest.
Denn ohne ausreichende Schutzkleidung nal zwischen den Bundesländern verschie- Jennifer Nuzzo, Epidemiologin am Cen-
werden sich Ärzte und Pflegekräfte mit ben. Aber: »Wenn wir bundesweit mehrere ter for Health Security der Johns Hopkins
dem Coronavirus anstecken. Wer soll sich Hunderttausend Patienten zusätzlich ver- University in Baltimore, eine der Verfas-
dann um die Patienten kümmern? In Kran- sorgen müssten, gäbe es kein Gesundheits- serinnen des weltweiten Index, ist schwer
kenhäusern, die ohnehin schon unter Per- system der Welt, das damit kein Problem zu erreichen in diesen Tagen. Als sie sich
sonalnot leiden? bekommen würde«, sagt Susanne Johna, am Mittwoch endlich kurz Zeit für den
Deshalb steht das Thema Schutzklei- Chefin der Ärztegewerkschaft Marburger SPIEGEL nimmt, ist es ihr wichtig, vor al-
dung fürs medizinische Personal ganz Bund und Pandemiebeauftragte der Bun- lem eines klarzustellen: »Unserer Meinung
oben auf der Tagesordnung des Krisen- desärztekammer. Andererseits habe man nach ist kein Land der Welt auf diese Seu-
stabs der Bundesregierung. »Wir tun ge- »mit dem jetzt vorhandenen Personal auch che richtig vorbereitet.«
rade alles, um noch einmal zu schauen, die große Influenzawelle vor zwei Jahren
Jörg Blech, Kristina Gnirke, Hubert Gude,
was wir in Deutschland an Lagerbestän- gestemmt«, sagt Johna, Internistin am St.-
Veronika Hackenbroch, Nils Klawitter,
den haben«, sagt Spahn, »und vor allem Josef-Hospital Rheingau in Rüdesheim am Martin U. Müller, Christian Parth,
auch rechtlich sicherzustellen, notfalls Rhein. Allerdings sei das Gesundheitssys- Cornelia Schmergal, Christoph Schult,
auch durch Beschlagnahmung oder Ex- tem da an Grenzen gekommen. Samiha Shafy, Julia Smirnova,
portverbot, dass jetzt nichts mehr das Viele Patienten könnten sich indes in Frank Thadeusz, Bernhard Zand
Land verlässt.« den Wartezimmern anstecken, wenn sie
J
im Reid ist Staranalyst der Deut- damit, dass sich das Virus im Westen aus- ten, angetrieben vom billigen Geld der
schen Bank in London und setzt breiten werde, mindestens in Europa, Notenbanken, neue Rekordhöhen.
sich täglich mit den ökonomischen höchstwahrscheinlich aber auch in den China und die Lungenkrankheit Covid-
Folgen der Corona-Epidemie ausei- USA – »und dass dann in den nächsten 19 schienen weit weg, die ökonomischen
nander. Am Dienstag zog er persönliche Wochen einige ziemlich extreme Sachen Folgen für die Weltkonjunktur beherrsch-
Konsequenzen aus seinen Erkenntnissen. passieren werden«. Das Virus werde auch bar. So war es ja auch bei früheren Seu-
Seine Frau und er hätten in der Nacht be- erhebliche ökonomische Schäden verur- chen gewesen, bei Sars oder der Schweine-
schlossen, am Wochenende ihre Vorrats- sachen. grippe. Sie hatten die Welt in Aufregung
kammern und Kühlschränke mit Extraein- Noch vor Kurzem wären solche Aus- versetzt und waren nach wenigen Mona-
käufen vollzustopfen, er wolle vorsorgen sagen an den Finanzmärkten kaum zur ten weitgehend vergessen.
für den Fall, dass sich die Lage verschlech- Kenntnis genommen worden. Die Börsia- Am Montag vergangener Woche schien
tere, schrieb er am Mittwoch in seinem ner zumindest im Westen hatten die Nach- den Anlegern zum ersten Mal zu däm-
täglichen »Early Morning Reid«. richten über das tödliche Virus wochen- mern, dass es beim Coronavirus anders
Er halte sich und seine Frau für rationale lang ausgeblendet. Die Aktienkurse in sein könnte. Da meldete Apple, einer der
Menschen, so Read weiter. Aber er rechne New York und Frankfurt am Main erreich- wertvollsten Konzerne der Welt und Lieb-
Lange glaubten die Anleger, die Party mit ewig steigenden Kursen könnte auch in Zeiten des Coronavirus
weitergehen. Das war ein Irrtum. Seit klar ist, dass sich das Virus auch außerhalb Chinas schnell ausbreitet, hat sich
die Stimmung an den Finanzmärkten gedreht. Die Kurse reagieren deutlich – und das könnte erst der Anfang sein.
Titel
ling der Anleger, dass es die prognostizier- immer mal wieder vorkommt. Noch kann dent Donald Trump einen Handelskrieg
ten Umsätze vermutlich nicht erreichen von einem Crash keine Rede sein. Aber angefacht.
werde. Apple lässt seinen Hauptumsatz- die zunehmende Unsicherheit ist gefähr- Jeder Wachstumszyklus ist einmal vor-
bringer, das iPhone, wie andere Produkte lich. bei. Dieser könnte besonders abrupt enden.
auch von Foxconn in China fertigen. Und Angst schlägt an der Börse schnell in Zumal die Weltwirtschaft verwundbar
dort stockt die Produktion, obwohl die Panik um, und dann finden die Kurse ist wie nie, weil sie verflochten ist wie nie.
Fabrik wieder geöffnet ist. Viele Wander- keinen Halt mehr – so wie im September Die Unternehmen kaufen Teile bei Zu-
arbeiter sind noch immer nicht an ihren 2008, als die Pleite der amerikanischen lieferern, die wiederum Teile von Unter-
Arbeitsplatz zurückgekehrt. Investmentbank Lehman Brothers einen zulieferern beziehen und die Teile von Un-
Apples Gewinnwarnung löste einen ers- Crash auslöste, es folgte die Finanz- und terunterzulieferern. Viele Konzerne ver-
ten Börsenschock aus. Die Meldung hatte anschließend eine schwere Wirtschafts- schaffen sich erst jetzt einen genaueren
deutlich gemacht, wie abhängig selbst die krise. Überblick über ihre Lieferketten, erst jetzt
größten Konzerne von Chinas Fabriken Gibt es jetzt wieder einen solchen Leh- wird ihnen klar, welche Abhängigkeiten
sind. man-Moment? Ist das Coronavirus der be- sie eingegangen sind – und dass sie sich
Dann tauchten immer mehr Fälle von rüchtigte Schwarze Schwan, der dem lang- alle gegenseitig in den Abgrund ziehen
Infizierten außerhalb Chinas auf, in Süd- jährigen Börsenboom ein jähes Ende können.
korea, in Italien, auf Teneriffa und auch setzt? Stehen in Chinas Fabriken die Bänder
in Deutschland. Und wie über Nacht war »Der Schwarze Schwan«: So hieß ein still, spüren dies die Kunden in Südkorea,
es mit der Illusion vorbei, das Virus sei ein Buch, das kurz vor der Finanzkrise heraus- Japan oder Vietnam, in den USA und in
regionales Problem. Die Gefahr einer Pan- kam und das Phänomen eines vollkom- Deutschland. Sie warten auf Nachschub,
demie erschien plötzlich real. Eine solche men unerwartet auftretenden Ereignisses ihnen fehlen Komponenten für Computer
globale Seuche würde die westlichen beschreibt, das extreme Folgen hat. Kurz und Smartphones, für Motoren und Ma-
Volkswirtschaften direkt treffen, weit über nach Erscheinen ging Lehman pleite. Die schinen. Das ganze Ausmaß des Problems
die Verbindungen zu China hinaus. Fabri- Finanzmärkte standen vor dem Abgrund. dürfte erst in diesen Tagen erkennbar wer-
ken würden auch in Europa stillstehen, Damals mussten Banken mit dem Geld den: Ein Containerschiff aus Shanghai
Schulen würden geschlossen, die Bürger der Steuerzahler gerettet werden, die Men- braucht rund sechs Wochen, bis es den
würden Menschenansammlungen meiden, schen fürchteten um ihr Erspartes, was die Hamburger Hafen erreicht. Erst kurz zu-
das öffentliche Leben käme weitgehend Nachfrage einbrechen ließ und schließlich vor war das neuartige Coronavirus iden-
zum Erliegen. auch die Konjunktur. Aus Angst vor Ver- tifiziert worden.
Angst breitete sich an den Börsen aus, mögensverlusten horteten die Bürger Das Virus mache klar, wie abhängig die
der deutsche Aktienindex Dax brach am Geld, und Investoren zogen Kapital ab. Weltwirtschaft davon sei, dass die inter-
Montag und Dienstag um 5,8 Prozent ein, Schließlich standen nicht nur die Finanz- nationale Arbeitsteilung reibungslos funk-
der amerikanische Dow-Jones-Index um märkte, sondern auch die Weltkonjunktur tioniere, sagt Handelsexperte Stefan Leg-
6,6 Prozent. Und der Kursverfall setzte vor dem Kollaps. ge von der Universität St. Gallen – und
sich am Donnerstag fort, nachdem weitere Diesmal ist es anders. Die Gefahr geht wie verletzlich das System sei. Einige Wo-
Konzerne wie Microsoft ihre Erwartungen nicht von den Banken, sondern von der chen lang könne die Industrie die Störung
zurückschrauben mussten. Und nachdem realen Wirtschaft aus. Wenn sie wegen des von Lieferketten einigermaßen überste-
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Virus weitgehend zum Erliegen kommt, hen, allmählich aber werde es eng. »Wir
(CDU) offiziell vom »Beginn einer Epide- würde sie die Börsen mit in die Tiefe zie- befinden uns an einem kritischen Punkt.«
mie« in Deutschland gesprochen hatte. hen. Was wiederum eine Finanzkrise nach Bei der Welthandelsorganisation WTO
»Diese Krise ist viel tief greifender für sich ziehen könnte, weil viele Unterneh- in Genf verfolgt Chefvolkswirt Robert
China und den Rest der Welt, als die In- men hoch verschuldet sind. Es wäre wie- Koopman die Entwicklung mit Sorge.
vestoren geglaubt haben«, sagt der US- der eine Krisenspirale, die sich immer wei- »Das Coronavirus hat vor allem einen An-
Ökonom Nouriel Roubini. Mit drastischen ter verstärkt. Eine Krise wie bei Lehman, gebotsschock ausgelöst«, sagt er. Wenn Ar-
Folgen für die Finanzmärkte: Er glaubt, nur andersherum. beitskräfte zu Hause blieben, werde die
dass die globalen Aktienmärkte »in die- Die Bedrohung ist real. Die Weltwirt- Produktion beeinträchtigt. Außerdem ver-
sem Jahr um 30 bis 40 Prozent fallen«. schaft schwächelt, der bisherige Wachs- ursache die Bekämpfung der Epidemie
Noch bewegen sich die Kursrückgänge tumstreiber, die Globalisierung, stockt, das Kosten: im Gesundheitswesen zum Bei-
im Rahmen einer normalen, wenn auch Dopingmittel der niedrigen Zinsen wirkt spiel oder durch die Ausfälle in der Luft-
heftigen Korrektur, wie sie an den Börsen nicht mehr. Und zu alledem hat US-Präsi- fahrt. Und schließlich leide auch die Nach-
frage, weil die Leute weniger einkaufen,
Dez. Jan. Febr.
wenn sie zu Hause isoliert sind.
Kerosinpreis in Dollar je Tonne 2019 2020 1. bis 3. Woche
Goldpreis Solange das Virus auf China begrenzt
0 in Dollar je Feinunze war, hielt die WTO die Folgen der Epide-
600
Quelle: Quelle: Refinitiv Datastream mie für überschaubar. Inzwischen sei klar,
Refinitiv
Datastream »dass sich das Virus weiter ausbreitet und
–20% 1600
die wirtschaftlichen Folgen weit über Chi-
550 na hinausgehen«, sagt Koopman.
–40% Wie stark der Rückgang des Welthan-
Auto- dels ausfällt, hängt allerdings in erster Li-
1500
500
absatz nie von China ab. Die Volksrepublik ist
–60% in China nach den USA zur zweitgrößten Volkswirt-
jeweils gegen- schaft der Welt aufgestiegen. Sie ist heute
über dem 1400 gut viermal größer als 2003, als das Sars-
450 –80% Vorjahresmonat
Dez. Jan. Febr. Dez. Jan. Febr. virus das Land lähmte. Damals machte
2019 2020 Quelle: CPCA 2019 2020 Chinas Anteil an der globalen Wirtschaft
4,3 Prozent aus, heute liegt er bei gut
14
KAY NIETFELD / DPA
Im Kampf gegen das Virus gibt sich die Bundesregierung, hier Gesundheitsminister Jens Spahn
mit Mitarbeitern, entschlossen. Aber die wirtschaftlichen Folgen will sie erst einmal abwarten:
Für direkte Finanzspritzen an Not leidende Unternehmen sieht das Wirtschaftsministerium keinen Bedarf.
16 Prozent. Vor allem sind chinesische Un- mer und Körpertemperatur eintragen, so- bis hinunter zu den Nachbarschaftskomi-
ternehmen viel stärker vernetzt als früher. bald der Sicherheitsmann ihn mit dem In- tees unterschiedliche Maßnahmen erlas-
Nach der Finanzkrise von 2008 war es frarotthermometer abgescannt hat. Aber sen. »Die totale Atomisierung der Vor-
China, das die Weltwirtschaft aus der Kri- gerade ist ja Raucherpause, da ist dem schriften hat für uns zu einem Albtraum
se zog. Die deutsche Industrie, allen voran Dienst Genüge getan, wenn der Unifor- geführt«, sagt Jörg Wuttke, Präsident der
die Maschinenbauer und die Autoherstel- mierte den Vorbeigehenden das Thermo- EU-Handelskammer in China. »Die Wirt-
ler, profitierte besonders vom Aufstieg der meter bloß für eine Sekunde nachlässig schaft stottert extrem. Wir müssen jetzt
Chinesen. aufs Handgelenk richtet und sie dann erst mal die Synchronisierung wieder hin-
Dieser Treiber fällt nun aus, ein neuer durchwinkt. Dokumentiert wird nichts. kriegen.«
ist nicht in Sicht. Ob es zu einer Weltwirt- Chinas Hauptstadt kann sich nicht recht In einer am Donnerstag veröffentlichten
schaftskrise und einem Crash an den entscheiden, ob sie bei strengen Kontrol- Umfrage der EU-Handelskammer in Chi-
Märkten kommt, wird deshalb davon ab- len bleiben oder die Zügel allmählich lo- na, an der 577 ihrer Mitgliedsunternehmen
hängen, wie schnell China es schafft, das ckern soll. Die Menschen sollen konsumie- teilnahmen, gaben fast 90 Prozent an, die
Coronavirus zu besiegen. ren, aber irgendwie auch wieder nicht. Vie- Epidemie habe mittlere bis starke Auswir-
Mindestens so entscheidend wird sein, le Geschäfte in der Shoppingmall haben kungen auf ihre Geschäfte. Die Hälfte be-
wie stark andere Länder von dem Virus zwar geöffnet, die meisten jedoch nur von absichtigt, ihre Jahresziele herabzusetzen.
befallen werden und wie sie damit um- 11 bis 18 Uhr, weit weniger lange als in nor- Mitte Februar, eine Woche nach Ende
gehen; Länder wie Südkorea, Italien – und malen Zeiten. Die Haupteingänge der Flag- der extra verlängerten Neujahrsferien, war
Deutschland. ship-Stores von Apple und Uniqlo stehen erst rund ein Drittel der knapp 300 Mil-
offen, die Seitentüren sind zugesperrt. lionen Wanderarbeiter an ihren Arbeits-
An einem Nebeneingang zum noblen Drinnen lehnt das Personal gelangweilt an platz zurückgekehrt. Doch am Wochen-
Pekinger Einkaufszentrum Taikoo Li steht den Warentischen – es kommt eh kaum ende gab Staats- und Parteichef Xi Jinping
ein Uniformierter und zieht an seiner ein Kunde. die Losung aus, Gebiete mit geringen An-
Zigarette. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Die Wirtschaft beginnt sich zu norma- steckungsrisiken sollten »die volle Pro-
Clipboard mit einer Liste. Eigentlich soll lisieren, in Gang kommt sie nicht. Im duktion und das normale Leben wieder
jeder Besucher dort Namen, Telefonnum- Kampf gegen das Virus haben Instanzen aufnehmen«. In rund der Hälfte der chi-
16
Titel
es sehr wahrscheinlich, dass Unternehmen zur Kenntnis nehmen, kommen zuneh- Auch der Einzelhandel in den Städten
Investitionen und Einstellungen verschie- mend Schreckensnachrichten aus der Wirt- leidet. In der Industrie mussten die ersten
ben«, sagt Choi Sangyup von der Wirt- schaft. Eine Branche nach der nächsten Fabriken geschlossen werden, nachdem
schaftsfakultät der Yonsei-Universität in meldet Gewinneinbrüche, stornierte Auf- sich Arbeiter mit dem Virus infiziert hat-
Seoul. träge, verschreckte Geschäftspartner in ten. Aus Angst vor einer Kettenreaktion
Viele Unternehmen haben in dem für aller Welt. appellierten Branchenverbände bereits an
seine rigide Arbeitskultur bekannten Land Besonders hart hat es den Tourismus die Unternehmen, die Produktion mög-
sogar die Kernarbeitszeit verändert, um getroffen. Venedig verscherbelt Hotelzim- lichst nicht zu unterbrechen.
die Ansteckung in öffentlichen Verkehrs- mer für 30 oder 40 Euro, trotzdem gingen Die Kritik am Krisenmanagement der
mitteln zu vermeiden. Andere haben für die Reservierungen um 40 Prozent zurück. Regierung wächst. Fabrikanten, Hoteliers
die gesamte Belegschaft Heimarbeit ange- Landesweit rechnet die Branche bis Ende und Einzelhändler sprechen von einem Pa-
ordnet. Der Mischkonzern Samsung muss- Mai mit über 20 Millionen weniger Gästen. nikeffekt, den das Kabinett erzeugt habe,
te seine Fabrik in Gumi, wo auch das falt- Ostern und Pfingsten haben die Touris- und von Maßnahmen, die als exzessiv
bare Galaxy Z Flip hergestellt wird, sogar mushochburgen Norditaliens schon verlo- wahrgenommen würden. Italien sei des-
für zwei Tage schließen. ren gegeben, jetzt bangen sie um die Re- halb weltweit quasi auf einer schwarzen
Sosehr das Virus die südkoreanische servierungen für die Sommerferien. Liste gelandet. Manager würden von Ge-
Wirtschaft beeinträchtigen wird: Die Fol-
gen für die deutsche Wirtschaft werden
wohl eher gering sein. »Die Importe
Deutschlands aus Südkorea machen etwa
ein Zehntel seiner Einfuhren aus China
aus und ähneln denen des Landes aus Dä-
nemark«, sagt Wirtschaftsprofessor Choi.
Die Versorgung der deutschen Hersteller
von Elektroautos mit Batterien südkorea-
nischer Unternehmen ist ohnehin unab-
hängig davon. Zwar beliefert der größte
koreanische Produzent LG Chem 13 der
20 wichtigsten Automarken der Welt, die
Batterien für die Autokonzerne aber kom-
men aus einem Werk in Polen.
Das Problem: Auch Europa rutscht all-
mählich in den Krisenmodus.
18
Titel
feranten breiter und internationaler auf- Die Experten in den zuständigen Ber- hilfe niedriger Zinsen wiederbelebt, es da-
stellen.« liner Ministerien halten die psychologi- nach aber versäumt, die Zinsen wieder an-
Viel größere Sorgen machen dem Ford- schen Effekte, insbesondere für die Wirt- zuheben. Die amerikanische Federal Re-
Manager die Zustände in Europa. »Sollte schaft, für wesentlich gefährlicher als den serve hat sich immerhin etwas Spielraum
sich das Virus dort weiter ausbreiten, könn- Erreger selbst – und wollen die Ängste des- nach unten erarbeitet, ihr Leitzins liegt
te es quer durch die Industrie zu Produk- halb nicht befeuern. Am 12. Februar trafen aktuell bei 1,75 Prozent. Europas Leitzins
tionsstopps kommen«, so Herrmann, »das sich Vertreter des Wirtschafts- und Außen- verharrt seit Jahren bei null.
wäre für die Konjunktur sehr schmerz- ministeriums mit rund 50 Wirtschaftsver- Das wird vor allem dann gefährlich,
haft.« tretern. Die Beamten erinnerten daran, wenn das Euroland Italien in ernsthafte
Eine Epidemie in Deutschland wäre ein dass bei Produktionsausfällen infolge der Schwierigkeiten gerät. Kommissionsvize-
Härtetest für Großkonzerne wie Siemens, Corona-Krise ein altbewährtes Hilfsmittel präsident Valdis Dombrovskis wies vor-
Lufthansa, die Deutsche Post oder die bereitstehe: das Kurzarbeitergeld. sorglich darauf hin, dass es im Stabilitäts-
Bahn. Immerhin haben sie Pläne in der Erleichterte Voraussetzungen für diese und Wachstumspakt bereits Klauseln gebe,
Schublade, anders als viele Mittelständler, staatliche Unterstützung wurden jüngst die es den Mitgliedstaaten erlaubten, im
die schlecht vorbereitet sind. von der Koalition auf den Weg gebracht. unverschuldeten Krisenfall von den Defi-
»Wir schätzen, dass nur 20 bis 25 Pro- Theoretisch kann 24 Monate lang Geld zitregeln abzuweichen.
zent der deutschen Unternehmen sich mit fließen, damit Arbeiter zu Hause bleiben »Natürlich fallen Dinge im Zusammen-
dem Thema auseinandergesetzt haben«, und dennoch weiter entlohnt werden. Das hang mit dem Coronavirus unter diese
sagt Dirk-Matthias Rose, Arbeitsmedizi- Ministerium hat ein eigenes Monitoring Klausel«, sagte Dombrovskis. »Sobald es
ner an der Universitätsklinik Mainz. Ein ins Leben gerufen, welche Branchen wie die konkrete Nachfrage eines Mitglied-
Auslöser dafür sei die Vogelgrippe gewe- stark beeinträchtigt sind. staates gibt, sind wir offen, darüber zu
sen. »Doch seit 2009 hat in die Pläne si- Besonders anfällig sei ausgerechnet die reden.«
cher keiner mehr reingeschaut.« Pharmaindustrie, heißt es aus dem Wirt- Wirtschaftlich großen Schaden würden
Gerade kleinere, oft familiengeführte die Folgen des Corona-Ausbruches in
Unternehmen, die als »Hidden Cham- Europa insbesondere dann anrichten,
pion« auf den Weltmärkten aktiv sind, Leiden mit China wenn sich einzelne Mitgliedsländer ent-
dürften besonders gefährdet sein – und oft Prognose* zur Auswirkung von Corona: Rückgang schlössen, vorübergehend Grenzkontrol-
des Bruttoinlandsprodukts 2020, in Prozentpunkten
völlig planlos. Die Kernfrage bei der Vor- len einzuführen. Dies dürfen sie »als letz-
bereitung sei: Welche Bereiche muss ich Euro- Deutsch- tes Mittel«, wie es der Schengen-Grenz-
unbedingt am Laufen halten, und welche China Japan raum land USA Welt kodex formuliert, die EU-Kommission
Mitarbeiter brauche ich dafür? prüft dann, ob das Vorgehen verhältnis-
In den seltensten Fällen würden alle mäßig ist.
gebraucht. »Der Rest gehört nach Hause, –0,1 –0,1 Der grenzfreie Schengenraum ist das
ins Homeoffice oder in den Urlaub. Herz des europäischen Binnenmarkts.
Jede zusätzliche U-Bahn-Fahrt ist ein –0,2 –0,2 Kilometerlange Staus, etwa auf der Bren-
Risiko.« ner-Autobahn wären die Folge bei Kon-
–0,3 –0,3 *vom 12. Februar
Quelle: Deutsche Bank
trollen – mit weitreichenden Problemen
Die Lage ist unübersichtlich, sie ver- für die Lieferketten von Unternehmen. Zu-
ändert sich täglich. Wirtschaftliche Pro- dem ist umstritten, ob solche Kontrollen
gnosen gleichen einem Blick in die Glasku- schaftsministerium. Mehr als 80 Prozent durch Polizisten und medizinisches Perso-
gel. Was also kommt auf die Wirtschaft zu? aller Wirkstoffe stammen aus China und nal mehr wären als ein bisschen Show, da
Die Volkswirte der Deutschen Bank ha- Indien. Auch chemische Grundstoffe kom- Infizierte bis zu zwei Wochen lang keine
ben ihre 2020er-Wachstumsprognose für men häufig aus Asien. Weniger dramatisch Symptome zeigen.
Deutschland von 1,0 auf 0,7 Prozent re- ist die Situation in der Autoindustrie. Sie US-Ökonom Roubini hält diese Sorgen
duziert, ihre Kollegen aus dem Berliner bezieht viele Bauteile aus dem benachbar- für naiv, verlangt nach härteren Antwor-
Wirtschaftsministerium rechnen damit, ten Ausland. ten. Die Grenzen nach Italien müssten um-
dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt Für direkte Finanzspritzen an Not lei- gehend geschlossen werden, wie 2016,
um 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte weniger dende Unternehmen gebe es derzeit keinen nach der Flüchtlingskrise. Diese Krise gehe
wächst, wenn das Virus die Produktion in Bedarf, heißt es im Wirtschaftsministerium. noch tiefer, sagt er. »Die Situation ist viel
China noch den ganzen März hindurch Es sei aber möglich, ohnehin geplante Ent- schlimmer, als wenn noch einmal eine Mil-
behindert. lastungen für Unternehmen, etwa Abschrei- lion Flüchtlinge nach Europa kämen.«
Aber diese Berechnungen stammen bungserleichterungen, vorzuziehen. Sollte Und was rät Roubini den verunsicher-
noch aus der Zeit, bevor sich das Virus durch das Coronavirus die Nachfrage ein- ten Anlegern?
außerhalb Chinas ausbreitete. Je mehr brechen, ließe sich natürlich mit einem »Halten Sie Bares, und investieren Sie
Länder betroffen sind, je mehr Menschen Stimulus gegensteuern, heißt es im Haus in sichere Staatsanleihen, zum Beispiel
sich infizieren, desto größer ist die Gefahr, von Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Bundesanleihen«, empfiehlt der Crash-
dass die Weltwirtschaft einem tiefen Ab- Doch die mangelnde Nachfrage dürfte Prophet. Dass die negative Renditen ha-
schwung entgegengleitet. Und »wenn wir nicht das Problem sein. Ökonomen spre- ben, stört ihn nicht. »Das bedeutet ja nur,
in eine globale Rezession rutschen, wer- chen von einem Angebotsschock, wenn dass die Kurse steigen und steigen«, sagt
den wir auch eine Finanzkrise haben«, pro- Unternehmen nicht liefern können, weil er, »damit können Sie eine Menge Geld
phezeit Krisenforscher Roubini. Die Schul- etwa die Arbeiter zu Hause bleiben müs- machen.«
den seien in den vergangenen Jahren ge- sen. Dagegen hilft kein Konjunkturpro- Tim Bartz, David Böcking, Georg Fahrion,
stiegen, der US-Immobilienmarkt gleiche gramm und auch kein billiges Geld der No- Simon Hage, Martin Hesse, Frank Hornig,
wie 2007 einer Blase. »Bislang waren das tenbanken. Alexander Jung, Armin Mahler, Juan
nur deshalb keine Zeitbomben, weil es Ohnehin haben die Notenbanken ihr Moreno, Martin U. Müller, Peter Müller,
Wachstum gab«, sagt der US-Ökonom. Pulver weitgehend verschossen. Nach der Katharina Peters, Gerald Traufetter
»Doch das ist jetzt vorbei.« Finanzkrise hatten sie die Wirtschaft mit-
DPA
Trauer um Hanauer Opfer Als erste Tote des Attentats wurde am Montag Mercedes K. auf dem Neuen Friedhof in
Offenbach beigesetzt. Die 35-Jährige hinterlässt zwei Kinder. Sie wollte in der Arena Bar Pizza für ihre Familie
besorgen, als der Täter am vorvergangenen Mittwochabend das Feuer eröffnete. Er tötete elf Menschen, darunter sich
selbst. Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen des Verdachts auf einen Terrorakt mit rassistischem Hintergrund.
Das Umweltbundesamt hat neue Schät- ziele nach dem Klimaschutzgesetz in den Die Emission von Treibhausgasen im
zungen, wie viel Treibhausgas durch ein nächsten Jahren deutlich verfehlen wird.« Straßenverkehr stagniert seit Jahren auf
generelles Tempolimit auf Autobahnen Der Verkehrssektor muss bis zum Jahr hohem Niveau, unter anderem weil
eingespart würde. Demnach würden bei 2030 jährlich 50 Millionen Tonnen CO immer mehr leistungsstarke Autos wie
²
einer Obergrenze von 130 Stundenkilome- einsparen. Die von Bundesverkehrsminis- etwa SUVs die Spritersparnis moderner
tern 1,9 Millionen Tonnen CO im Jahr ter Andreas Scheuer eingereichten Maß- Motoren auffressen. Die Bundesumwelt-
²
eingespart. Bei maximal 120 Stundenkilo- nahmen zur CO -Reduktion dürften die- ministerin fühlt sich durch die Zahlen
²
metern wären es jährlich 2,6 Millionen ses Ziel verfehlen, wie Gutachten des Bun- vom UBA in ihrer Forderung nach Einfüh-
Tonnen Kohlendioxid weniger, bei Tempo desumweltministeriums zeigen. Im Gegen- rung von Tempo 130 bestätigt. »Ein
100 sogar 5,4 Millionen Tonnen. »Ein satz zu Umweltministerin Svenja Schulze solches Tempolimit ist vernünftig, auch
Tempolimit auf Autobahnen ist weit- (SPD) lehnt Scheuer ein Tempolimit für den Klimaschutz«, sagt Schulze. »Es
gehend kostenlos und wirkt kurzfristig«, ab. Seine Partei, die CSU, führt eine Kam- ist in der Gesellschaft mehrheitsfähig.«
sagt der Präsident des Umweltbundesamts pagne gegen ein Limit auf Autobahnen Die Einsparung von 1,9 Millionen Ton-
(UBA), Dirk Messner. »Ohne die Einfüh- (»Tempo 130 – Nein Danke!«). Allerdings nen Kohlendioxid durch Tempo 130
rung eines Tempolimits befürchten wir, muss Scheuer noch alternative Maß- entspräche 1,2 Prozent aller Emissionen
dass der Verkehrssektor seine Emissions- nahmen zur CO -Reduktion vorlegen. des Straßenverkehrs im Jahr 2018. GT
²
Kreatives Täterraten
Vorteil was diese bestreiten. Die
Hohenzollern Aussichten der Hohenzollern
sind mäßig; das Bundesver-
Georg Friedrich Prinz von waltungsgericht hat 2017 eine Der Reporter vor Ort erfüllt eine wichtige Aufgabe
Preußen, Chef der Hohenzol- Entschädigung in einem min- im Journalismus: Er berichtet, was er mit eigenen
lern, hat im Rechtsstreit mit derschweren Fall abgelehnt. Augen gesehen hat. Wenn er aber nichts sieht,
der öffentlichen Hand Zeit Allerdings sind die 1,2 Millio- wird er zur tragischen Figur, man könnte auch
gewonnen. Das Verwaltungs- nen Thema in den Vergleichs- sagen, zum Hanswurst. Besonders undankbar ist
gericht Potsdam hat seinem verhandlungen zwischen der Einsatz nach einem Attentat, wenn der Repor-
Antrag auf Fristverlängerung den Hohenzollern und Berlin, ter in irgendwelche Livesendungen geschaltet wird, die
für eine Stellungnahme bis Brandenburg sowie dem Nähe und Information suggerieren und doch meist nur hilflos
Mitte August stattgegeben. Es Bund über einige Tausend dahingestammelte Spekulationen liefern.
geht um Immobilien, die von Kunstwerke, die einst den Wie das konkret aussieht, konnte man am Montag zum Bei-
den Sowjets nach 1945 enteig- Hohenzollern gehörten. Gut spiel auf n-tv beobachten. Gerade war im hessischen Volkmar-
net wurden. Dafür stehen den möglich, dass Prinz von Preu- sen ein Auto in den Karnevalsumzug gefahren und hatte viele
Hohenzollern 1,2 Millionen ßen auf diesem Wege die Ent- Menschen verletzt. Mehr wusste man zum Zeitpunkt der
Euro zu. Brandenburg verwei- schädigungssumme einstreicht Schalte nicht. Trotzdem ging es gleich live nach Volkmarsen,
gert die Zahlung, weil die und das Verfahren vor August konkret: zur Alex. Am Ende blickte sie brav in die Kamera,
Hohenzollern dem National- ohne Urteil beendet wird. KLW während der Moderator im Studio ihr erzählte, was hinter ihr
los war. »Wir sehen hinter Ihnen auch Menschen, noch im Kos-
tüm, die natürlich bei der freiwilligen Feuerwehr vermutlich
engagiert sind und sich dort einbringen. Eh, ja. Wir sehen dort
Bundeskanzler Deutschen seien in der ersten auch einen Bauzaun, der jetzt aufgebaut wird, um eben dort
Volksschelte Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rettungsmaßnahmen in keiner Form irgendwie zu stören.
Hochstapler gewesen. Nun Ja, ehm, Alex, ehm, vielen Dank erst mal für den Moment.«
Kanzler Helmut Kohl (1930 müssten sie dagegen, so Kohl, Die Alex konnte nur nicken, weil sie die kostümierten Feuer-
bis 2017) war nicht zufrieden »Tiefstapler« sein. Auch miss- wehrleute am Bauzaun nicht sah. Der Nachrichtenwert der
mit seinem Volk. Das zeigt fiel ihm die Neigung, »geliebt Schalte war überschaubar. Aber immer-
der Vermerk eines Gesprächs werden« zu wollen. Das sei hin, man war live! Und immerhin rich-
mit einem US-amerikani- nicht möglich, wenn man
Nach Atten- tete die Alex keinen Schaden an.
schen Besucher im März wirtschaftlich so erfolgreich taten lauern Nach Attentaten bittet die Polizei
1989, den das Institut für Zeit- sei. Die Deutschen sollten Tausende regelmäßig darum, keine ungesicherten
geschichte in einer Dokumen- sich damit zufriedengeben,
tensammlung (De Gruyter dass »sie den Respekt der
AfD-Anhänger Meldungen zu verbreiten. Was sie mit
dieser Bitte verhindern möchte, illus-
Oldenbourg) jetzt veröffent- anderen« hätten. Unter Kanz- an ihren trierte »Bild Live« in der Attentatsnacht
licht. Danach klagte der lern hat Deutschenschelte Twitter- von Hanau geradezu vorbildlich. Dort
christdemokratische Regie- Tradition. Adenauer schimpf- spekulierten gleich zwei Reporter vor
rungschef, die Deutschen te einst, die Deutschen seien
Schleudern. Ort um die Wette, wie ein Zusammen-
müssten »Bescheidenheit ler- »entsetzlich dumm«; Helmut schnitt des Portals »Übermedien« doku-
nen«. Diese Tugend sei ihnen Schmidt (SPD) attestierte mentiert. »Ich habe aus relativ gut unterrichteten Quellen in
»nicht angeboren«. Sein Vor- ihnen die »Neigung zu Aufge- Hanau hier erfahren – aber ich muss dazusagen: es sind nur
gänger Konrad Adenauer regtheit, Gefühlsüberschwang Spekulationen – dass es sich bei dem Täterumfeld um Russen
(CDU) habe ihm gesagt, die und Überheblichkeit«. KLW handeln könnte«, erzählte der eine Reporter. »Es kann ja auch
sein, dass die Betreiber der Bars schlicht und ergreifend kein
Schutzgeld bezahlen wollten«, spekulierte der andere. »Was
glauben oder fühlen die Menschen vor Ort?«, hakte der Mode-
Nachgezählt
Behinderungen durch Drohnen rator später nach. »Glauben oder wissen kann man ja zu dieser
im deutschen Flugverkehr Stunde wohl kaum sagen. Aber was hörst du?«
»Es gab hier die Angst, dass es sich um einen rechtsextremen
Anschlag handeln könnte«, erklärte der erste Reporter. »Aber
die meisten Spekulationen, die ich bisher wahrnehmen konnte,
gehen eher in die Richtung, dass es sich um eine Milieutat han-
2015 meldeten die Piloten 2019 waren es deln könnte.« Wer sich am kreativen Täterraten beteiligt, sollte
14 125
wissen, dass Tausende AfD-Anhänger an ihren Twitter-Schleu-
dern lauern, in der Hoffnung, was Neues gegen Migranten
raushauen zu können.
Behinderungen Meldungen, Ich weiß nicht, welchen Stuss ich mir zusammengestammelt
durch Drohnen.
hätte, wenn ich nach einem Attentat in Hanau stünde und
gefragt würde, was die Menschen vor Ort denn so fühlen und
davon 110 im was den Täter getrieben haben könnte. Ich kann nur hoffen,
Großraum von
Flughäfen.
dass mich niemals jemand in eine solche Lage bringt.
Quelle: Deutsche Flugsicherung An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander
Neubacher im Wechsel.
21
BKA schuldigte habe ein Bild von Adolf Hitler
Rechte Ausfälle gepostet, der mit den Händen ein Herz
formt, so die BKA-Sprecherin. Gegen
Das Bundeskriminalamt (BKA) hat ihn habe man ein Entlassungsverfahren
drei Kommissaranwärter wegen rechts- eingeleitet. Die beiden anderen hätten
extremer Entgleisungen suspendiert. sich reumütig gezeigt. Deren »Fehlver-
Hintergrund ist ein WhatsApp-Chat. halten« werde das BKA nur disziplina-
Darin hätten die Anwärter im Oktober risch ahnden. Bereits im Sommer vori-
2019 über Kostüme für Halloween disku- gen Jahres gab es einen vergleichbaren
tiert, so eine Sprecherin des BKA. Einer Vorfall. Damals waren zwei Kommissar-
aus dem Trio habe vorgeschlagen, sich anwärter gemaßregelt worden. Sie hat-
als Attentäter von Halle zu verkleiden. ten sich bei einer Übung am Computer
22
Suizidhilfe aber dazu, solche Anträge
Spahn blockiert pauschal abzulehnen, mit
dem Argument, die Erlaubnis
Rechtsexperten fordern würde den Werten widerspre-
Bundesgesundheitsminister chen, auf denen Paragraf 217
Jens Spahn (CDU) auf, nach des Strafgesetzbuchs beruhe.
dem Urteil des Bundesver- Diesen Paragrafen – das Ver-
fassungsgerichts zur Suizid- bot der geschäftsmäßigen För-
assistenz das tödliche Mittel derung der Selbsttötung – hat
Natrium-Pentobarbital für das Bundesverfassungsgericht
sterbewillige Schwerstkranke nun gekippt. Dass Spahn jetzt
nieren. »Das Vorschlagsrecht gibt kaum Informationen und keine Ressourcen für die neuen
ist mittlerweile strittig«, sagt Aufgaben. Für mich bleibt der Eindruck, dass da Arbeit
der CDU-Abgeordnete von oben nach unten verteilt wird: Ausbaden müssen es die
Johann Wadephul. »Ich finde hoch belasteten Schulleitungen. Wieder einmal zeigt sich,
es bemerkenswert, dass die dass die Politik überhaupt nicht weiß, welche Auswirkungen
SPD einen im Amt befindli- ihre Entscheidungen auf Schule hat.«
chen und hoch anerkannten Bartels Aufgezeichnet von Armin Himmelrath
© 2020 McDonald’s
Deutschland
Die Reifeprüfung
CDU Friedrich Merz und Armin Laschet kämpfen um den Parteivorsitz und damit perspektivisch
um die Kanzlerschaft – der eine ist konservativ, der andere sieht sich
pragmatisch in der Mitte. Der Sieger könnte die Zukunft des Landes bestimmen.
E
s fängt an mit der Haltung. Damit, Armin Laschet hat in sein Büro in der Es deutet deshalb viel darauf hin, dass
wie sie dasitzen, wie sie ihren Düsseldorfer Staatskanzlei gebeten, er ist sich Ende April in Berlin alles zwischen
Körper positionieren, welche Wir- hier der Ministerpräsident. Er sitzt in ei- Friedrich Merz, 64, und Armin Laschet,
kung sie so erzielen. Wahrschein- nem leichten Sessel, der zu einer Sitzgrup- 59, entscheiden wird. Wer dort gewinnt,
lich sagt die Haltung schon etwas darü- pe gehört. Während des Gesprächs rutscht wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Kanz-
ber aus, wie dieser Wahlkampf verlaufen er mal nach vorn auf die Kante, dann lehnt lerkandidat der Union, also von CDU und
wird. er sich zurück, dreht sich diesem Ge- CSU. Und dann womöglich Kanzler.
Friedrich Merz hat für das Interview ins sprächspartner zu, dann dem anderen, je Der SPIEGEL hat mit beiden, Merz und
Haus des CDU-Wirtschaftsrats in Berlin- nachdem, wer ihn angesprochen hat. Es Laschet, ein Gespräch geführt, jeweils ein-
Mitte gebeten, er ist hier Vizepräsident. ist die Haltung eines Mannes, der gut darin zeln, für die direkte Konfrontation war es
Er sitzt in einem Besprechungsraum an ei- ist, Menschen für sich einzunehmen. noch zu früh. Die Fragen an beide sind
nem massiven Holztisch. Während des Ge- Merz gegen Laschet, das ist die Lage, trotzdem ähnlich, stellenweise sind es die-
sprächs lässt er sich allmählich tiefer in sei- das wird die Auseinandersetzung. Ja, es selben. Es sind die Fragen, die sich aus der
nen Stuhl sinken, dann verschränkt er die gibt noch Norbert Röttgen, auch er kandi- Zeit ergeben: nach Gerechtigkeit, Öko-
Hände hinter dem Kopf und lässt sie dort, diert für den CDU-Vorsitz, er kann reden, logie, dem Verhältnis zu Angela Merkel.
minutenlang, die Ärmel des Sakkos rut- versteht viel von Außenpolitik, sieht gut Es geht darum, wie die beiden dem gras-
schen fast bis zu den Ellbogen hoch. Es ist aus. Am Ende aber entscheidet ein Partei- sierenden Rassismus begegnen, wie sie
die Haltung eines Mannes, der sich über- tag, und dort geht es um den Rückhalt in dieses Land in die Zukunft führen wollen.
legen fühlt. Der sich seiner Sache sicher der Partei, unter den Delegierten. Da sieht Und darum, wie sie auf den jeweils ande-
ist, sehr sicher. es für Röttgen bislang nicht so gut aus. ren blicken.
27
Deutschland
SPIEGEL: Herr Merz, Sie wollen CDU- können wir viele für uns gewinnen. Und müssen sie auch zwingend sein. Der Kon-
Vorsitzender und Kanzlerkandidat wer- die AfD ist bei vielen Wählerinnen und trollverlust an unseren Grenzen von 2015
den, also Angela Merkel beerben. Wie ist Wählern das Ventil für die Unzufrieden- und 2016 darf sich einfach nicht wieder-
Ihr Verhältnis zur Kanzlerin? heit mit uns, mit der Union. Das darf so holen – zu diesem Ergebnis ist ja auch
Merz: Gut. nicht bleiben. Ich bin fest davon überzeugt: die CDU unter dem Vorsitz von Annegret
SPIEGEL: Den Eindruck hatten wir bislang Wenn wir uns wieder klarer positionieren, Kramp-Karrenbauer im vorigen Jahr schon
nicht. Was war denn die größte Leistung wenn wir unsere Kernkompetenzen wie- gekommen.
von Frau Merkel? der besser formulieren, dann bekommen SPIEGEL: Wie wollen Sie dem grassieren-
Merz: 15, vielleicht sogar 16 Jahre lang wir von dort mehr zurück, als wir irgend- den Rassismus entgegentreten?
Kanzlerin dieses Landes zu sein. wo anders hin verlieren. Wie viel wollen Merz: Der offensichtlich zunehmende
SPIEGEL: Also keine inhaltliche Leistung? wir denn noch verlieren? Wir liegen ohne Fremdenhass in unserem Land ist eine He-
Merz: Doch, natürlich. Angela Merkel hat die CSU jetzt noch bei rund 22 Prozent. rausforderung für die ganze Gesellschaft.
mit ihrer Regierung in einer sehr schwieri- SPIEGEL: Also muss die CDU aus Ihrer Gerade in Deutschland müssen wir ganz
gen Lage 2008 und 2009 die Finanzkrise Sicht ein Stück nach rechts rücken? konsequent und wenn notwendig mit allen
bewältigt. Das wird im Rückblick wahr- Merz: Nein. Wir müssen das Fundament Mitteln des Rechtsstaates dagegen vorge-
scheinlich als eine der größten Leistungen der CDU wieder so verbreitern, dass alle hen. Aber juristische Schritte sind das eine,
ihrer Amtszeit bewertet werden. bürgerlichen Wählerinnen und Wähler bei viel wichtiger ist das gesellschaftliche Um-
SPIEGEL: Und ihre größte Fehlleistung? uns zu Hause sind: die sozialpolitisch feld. Da sind wir alle aufgerufen, ein tole-
Merz: Alles andere zu beurteilen sollten Engagierten, die Liberalen und die Wert- rantes und weltoffenes Klima in diesem
wir den Historikern überlassen. konservativen. Das waren immer die drei Land zu bewahren.
SPIEGEL: Nehmen wir an, Sie gewinnen großen und starken Wurzeln der CDU. SPIEGEL: Uns ist aufgefallen, dass Sie bei
die Wahl und werden CDU-Chef. Können SPIEGEL: Was hat diese Wähler in den ver- Ihren Auftritten häufig Rechtsextremismus
Sie verstehen, dass uns die Fantasie fehlt, gangenen Jahren verprellt? Etwa nur die und Linksextremismus quasi gleichsetzen.
wie Sie fast anderthalb Jahre lang mit einer Flüchtlingspolitik von Angela Merkel? Merz: Nein, ganz im Gegenteil. Es gibt
Kanzlerin Merkel auskommen sollen? Merz: Ganz sicher war das eine Ursache, Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch erheb-
Merz: Kann ich verstehen, ja. ja. Dazu beigetragen haben aber auch gro- liche Unterschiede zwischen rechtsextre-
SPIEGEL: Wie wollen Sie das lösen? ße Teile der Europapolitik, speziell die mer und linksextremer Gewalt. Ja, wir
Merz: Wir sprechen gegebenenfalls nach Eurorettungspolitik. Das war ja auch die haben ein Problem mit wieder zunehmen-
meiner Wahl darüber, wie wir das machen. Gründungsgeschichte der AfD, bevor sie dem und gewaltbereitem Linksradikalis-
SPIEGEL: Sie sagen, Sie stünden für »Auf- zu großen Teilen rechtsradikal wurde. mus, aber die Sicherheitsbehörden haben
bruch und Erneuerung«. Vor zwei Jahr- Dazu kommt bis heute ein zu häufiges das zurzeit weitgehend im Griff. Aus dem
zehnten waren Sie allerdings schon Frak- Nachgeben gegenüber der SPD. Aber ich rechtsradikalen Spektrum hingegen haben
tionschef im Bundestag. Wo soll da, bitte, schaue nicht zurück. Wir treten jetzt in wir in den letzten Jahren rund 100 Mord-
die Erneuerung sein? eine neue Phase ein. opfer zu beklagen. Und das ist gerade in
Merz: Ich bitte Sie, machen Sie die Fähig- SPIEGEL: Klingt aber tatsächlich ziemlich Deutschland besonders furchtbar. Richard
keit zur Erneuerung am Lebensalter fest? rückwärtsgewandt. Sie wollen die Gren- von Weizsäcker hat als Bundespräsident,
Bernie Sanders ist in den USA zurzeit der zen schließen und die Europapolitik ent- bezogen auf den Nationalsozialismus, ein-
Held der Jugend, und er ist 14 Jahre und merkeln. Verstehen wir das richtig? mal sinngemäß gesagt, die heutige Gene-
einen Herzinfarkt älter ist als ich. Wir kön- Merz: Ich will zurück zur Disziplin im ration hat nicht die Verantwortung für das,
nen auch in Deutschland Leidenschaft und Euroraum, das stimmt. Ich will die immer was war. Aber sie hat die Verantwortung
Engagement in den politischen Diskurs zu- noch weiter steigende Verschuldung in dafür, was daraus wird.
rückbringen. Das ist intellektuell anstren- manchen Mitgliedstaaten nicht einfach hin- SPIEGEL: Sie meinen seine berühmte Rede
gend. Aber es muss sein, wenn wir wieder nehmen. Aber darin erschöpft sich doch von 1985, 40 Jahre nach Kriegsende.
echte Debatten führen wollen. nicht meine Europolitik. Ich will mehr Ge- Merz: Ja. Das war ein großer Satz. Wir
SPIEGEL: Ihr großes Versprechen ist es, die meinsamkeiten in Europa, und das heißt, stehen alle, ob wir wollen oder nicht, im
Wahlergebnisse der AfD zu halbieren. Wie dass wir mehr Souveränität mit anderen historischen Kontext dieses schrecklichen
wollen Sie das eigentlich hinkriegen? teilen. Deutschland überlebt nur in einem Teils unserer Geschichte. Und deswegen
Merz: Die größte Partei in Deutschland starken Europa, einem Europa, das auch finde ich, wir müssten da mehr differenzie-
ist die Partei der Nichtwähler. Von denen seine Außengrenzen besser schützt. Grenz- ren. Ich habe massive und grundsätzliche
kontrollen an den Binnengrenzen sind im- Vorbehalte gegen die Linkspartei, und es
Das Gespräch führten die Redakteure Christoph Hick- mer nur anlassbezogen zulässig, aber gibt viele gute Gründe für die CDU, eine
mann und Veit Medick in Berlin. wenn ein solcher Anlass besteht, dann Zusammenarbeit mit ihr auszuschließen.
29
Deutschland
physisch auf viele Menschen von oben, der Merz: Ich habe gelernt, dass ich noch mehr den der CDU, ich verstehe beide Welten,
Schritt hin zu »von oben herab« ist dann zuhören muss. Und vielleicht halte ich im- kann Menschen zusammenführen. Und
nur noch ein kleiner Spin. mer wieder Dinge für selbsterklärend, die ich denke, dass ich in der Lage bin, einen
SPIEGEL: Aber was die Parteispitze an- es nicht sind. sachlich orientierten, konturierten Wahl-
geht, kam eine sogenannte Teamlösung SPIEGEL: Sie halten es also für Ihre größte kampf zu führen, in dem politische Unter-
für Sie ja offenbar nicht infrage. Schwäche, dass Sie schlauer sind als die schiede wieder deutlich sichtbar werden.
Merz: Na langsam. Wenn in den vergan- meisten anderen? SPIEGEL: Was ist die größte Stärke Ihres
genen Tagen von »Teamlösung« die Rede Merz: Das macht ja richtig Spaß mit Ih- Konkurrenten Armin Laschet?
war, dann immer in dem Sinn, dass ich nen! Lassen Sie uns mal ernst bleiben. Die Merz: Er regiert das bevölkerungsreichste
doch bitte auf die Kandidatur für den Vor- Menschen sind angesichts der Lage in Bundesland sehr erfolgreich.
sitz verzichten möge. Team geht aber der Welt sehr verunsichert, und anders SPIEGEL: Und seine größte Schwäche?
auch unter meiner Führung. Für diese als die Politik- und Medienprofis wie wir Merz: Die kenne ich, aber darüber spreche
Variante habe ich bei den anderen Betei- sind sie in ihrem Alltag mit anderen ich nicht öffentlich.
ligten wenig Bereitschaft angetroffen. Dingen beschäftigt als mit Politik. Wir SPIEGEL: Damit zum letzten großen The-
Stattdessen hat man mich ständig gefragt, müssen mehr erklären, Sachzusammen- ma – Ökologie und Klimakrise.
ob ich mich nicht in ein Team einreihen hänge erläutern, Schlussfolgerungen plau- Merz: Das mag vielleicht in diesem Inter-
wolle, wobei immer im Unklaren geblie- sibel machen. view das letzte Thema sein, aber aus mei-
ben ist, wie ein solches Team denn ausse- SPIEGEL: Und Ihre größte Stärke? ner Sicht ist es derzeit, unterhalb der Ebe-
hen soll. Merz: Ich bringe Erfahrungen aus Politik ne von Krieg und Frieden, das politische
SPIEGEL: Was ist Ihre größte Schwäche? und Beruf mit in das Amt des Vorsitzen- Thema Nummer eins.
SPIEGEL: Herr Laschet, Sie wollen CDU- was, was man anders hätte machen können. Ihr Konkurrent Friedrich Merz offenbar
Vorsitzender und Kanzlerkandidat wer- Aus heutiger Perspektive, wenn man sieht, auch nicht. Er wirft Ihnen vor, Sie wollten
den, also Angela Merkel beerben. Wie ist wie wir darum ringen, den CO -Ausstoß zu nur den Status quo verwalten.
²
Ihr Verhältnis zur Kanzlerin? reduzieren, war wohl die Reihenfolge falsch, Laschet: Es mangelt uns nicht an Analysen,
Laschet: Gut. erst aus der Kernenergie auszusteigen und aber wir brauchen Konzepte und Ideen für
SPIEGEL: Was war denn die größte Leis- dann aus der Kohle. Diese Entscheidung ist die Zukunft von Deutschland. Auf der
tung von Frau Merkel? aber nun unwiderruflich gefallen. Grundlage diskutiere ich gern darüber, was
Laschet: Zunächst mal lenkt sie als Regie- SPIEGEL: Sollte Merkel die volle Legis- richtig oder falsch für unser Land ist.
rungschefin in einer sehr langen Kanzler- laturperiode Kanzlerin bleiben? SPIEGEL: Zum Beispiel worüber?
schaft erfolgreich eine der größten Wirt- Laschet: Ja. Laschet: Wir brauchen auch im Bund eine
schaftsnationen. Die Menschen vertrauen SPIEGEL: Sie sagen, Sie würden alles tun, stärkere Politik für industrielle Arbeitsplät-
ihr. Und das seit bald 15 Jahren, eine Zeit- um einen Richtungswechsel der CDU zu ze, zur Entlastung des Mittelstands, für
spanne, die man nach Helmut Kohl nie verhindern. Aber reicht ein Weiter-so? Bürokratieabbau und Planungsbeschleu-
mehr für möglich gehalten hätte. Interna- Laschet: Es wird kein Weiter-so geben. nigung, technologische Lösungen beim Kli-
tional hat Angela Merkel in ihrer Kanzler- Nach der nächsten Bundestagswahl wird mawandel, bessere Aufstiegschancen und
schaft drei große Krisen bewältigen müs- eine völlig neue Bundesregierung gebildet, Nulltoleranz gegenüber Kriminellen. Das
sen: Erst kam die Weltfinanzkrise, daraus ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist meine tagtägliche Politik in Nordrhein-
folgend die europäische Schuldenkrise und in neuer Konstellation. Es liegen auch ganz Westfalen. Was will er anders machen?
dann 2015 die Flüchtlingskrise. Sie hat andere Aufgaben vor uns. Da ist der Wett- SPIEGEL: Herr Merz ist Ihnen zu wolkig?
Deutschland und Europa in dieser Zeit zu- bewerb mit den USA und China. Hier geht Laschet: Es reicht jedenfalls nicht, Proble-
sammengehalten, trotz aller Spannungen, es auch um die Frage: Welches Wertesys- me nur zu beschreiben. Wir brauchen Lö-
die es gab. Das ist eine immense Leistung. tem setzt sich in der Welt durch? Weitere sungen, konkrete Handlungskonzepte. Für
SPIEGEL: Und ihre größte Fehlleistung? Herausforderungen sind die künstliche In- mich zählen praktische Umsetzung und
Laschet: In einer langen Amtszeit mit un- telligenz, die Energiewirtschaft, die wir ge- reale Ergebnisse im Regierungshandeln.
terschiedlichen Regierungsbeteiligungen rade massiv umbauen und zukunftsfähig In diesem Wettbewerb um den Parteivor-
gibt es im Rückblick vermutlich immer et- gestalten. Schon hier verändert sich alles, sitz werden die Delegierten entscheiden,
nichts bleibt, wie es war. ob das, was ich hier in der Praxis tue und
* Das Gespräch führten die Redakteure Lukas Eberle, SPIEGEL: Sie beschreiben Herausforderun- leiste, der richtige Weg für das ganze Land
Christoph Hickmann und Veit Medick in Düsseldorf. gen, neue Antworten hören wir da nicht. und die Zukunft Deutschlands ist.
31
Deutschland
am Werk waren. Stattdessen wurde über Laschet: Eine Gesellschaft darf nicht aus- schaftsministerin dazu zu lesen. Es war
Milieukriminalität spekuliert. Selbst nach einanderdriften. Das beschäftigt mich im eine Verkettung unglücklicher Umstände,
dem NSU haben wir alle die Brutalität der Hinblick auf die zunehmende Sprachlosig- auf allen Seiten wurden Konsequenzen ge-
Rechten immer noch unterschätzt. Mitt- keit zwischen Ost und West, Stadt und zogen, auch von mir.
lerweile, nach dem Mord an Walter Lüb- Land, Alt und Jung. Hier brauchen wir SPIEGEL: Wären Sie Kanzler, hätte eine
cke, den Morden in Halle, den entsetz- mehr Fairness im Umgang miteinander. Es solche Verkettung, wie Sie das nennen,
lichen Ereignissen in Hanau, müsste auch darf auch keinen zu großen Spalt zwischen allerdings viel schwerer wiegende Folgen.
der Letzte wach geworden sein. Arm und Reich, den sehr Wohlhabenden Laschet: Dann würde man mich sicher an
SPIEGEL: Was wollen Sie gegen diesen und denen, die von staatlicher Hilfe leben der Art messen, wie ich das Amt führe. So
rechten Terror tun? müssen, geben. Vor allem ist es sozial ge- wie man mich jetzt an meiner Amtsfüh-
Laschet: Hier brauchen wir unterschied- recht, wenn jedem Einzelnen der Aufstieg rung als Ministerpräsident misst.
liche Ansätze, ganzheitlich, auch gesamt- durch Bildung möglich ist, unabhängig von SPIEGEL: Was ist Ihre größte Schwäche?
gesellschaftlich. Es heißt, der Täter von der Herkunft der Eltern. Laschet: Für solche Diagnosen gibt es
Hanau sei psychisch krank gewesen. Aber SPIEGEL: Das berühmte sozialdemokrati- doch genug Journalisten.
davon abgesehen: Es gab immer schon psy- sche Aufstiegsversprechen. SPIEGEL: Und Ihre größte Stärke?
chisch kranke Menschen, auch psychisch Laschet: Das ist sozial gerecht, dient dem Laschet: Da gilt das Gleiche.
labile Täter. Niemand wird einfach rechts- Zusammenhalt. Ich bin ja selbst ein Bei- SPIEGEL: Was ist die größte Stärke Ihres
radikal. Die Gefahr für labile Menschen spiel dafür, quasi ein Produkt eines solchen Konkurrenten Friedrich Merz?
ist heute größer. Es herrscht in vielen Be- Aufstiegs. Mein Vater war Bergmann, und Laschet: Er kann Menschen begeistern.
reichen ein aggressives Grundklima, auf er hat durch den Kultusminister der CDU, Da, wo er hinkommt, sind die Säle voll.
das sich ein anfälliger Mensch dann schnel- Paul Mikat, die Chance gehabt, auf Lehrer Er spricht eine klare Sprache. Er ist ein
ler draufsetzt. Und dieses Klima von Hass umzusatteln. Seine vier Söhne haben dann Wirtschaftsexperte.
entsteht maßgeblich durch die Verrohung studiert. Das ist das, was ich sozial gerecht SPIEGEL: Und seine Schwächen?
der Sprache. Das geschieht, einerseits, im nenne. Diese Chancen müssen für alle gel- Laschet: Über Schwächen meiner Mit-
Netz, anonym. Und andererseits ganz of- ten, auch für Familien mit Zuwanderungs- bewerber spreche ich nicht.
fen im Deutschen Bundestag. geschichte. Auch Kinder, die vielleicht SPIEGEL: Müsste sich die Politik bei Greta
SPIEGEL: Sie meinen die AfD? Thunberg bedanken, die die Aufmerksam-
Laschet: Natürlich. Seitdem die AfD im keit auf die Klimakrise gelenkt hat?
Bundestag sitzt, gibt es in nahezu jeder Laschet: Greta Thunberg hat sicher einen
Plenarsitzung Beiträge, die das Klima ver- »Merz kann Menschen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass das
giften, die gegen Religionen und Kulturen, begeistern. Bei ihm sind Thema ernster genommen wird, medial,
gegen andere Menschen hetzen. Das gab aber auch in der gesamten Gesellschaft.
es früher in Deutschland nicht. Diese Hetze die Säle voll. Er spricht Das heißt aber nicht, dass wir Klimaschutz
hat die Maßstäbe verschoben. Wir müssen eine klare Sprache.« vor Greta nicht vorangetrieben hätten.
also den politischen Kampf gegen diese ge- Der Beschluss, eine Kommission zum Koh-
sellschaftlichen Klimavergifter aufnehmen leausstieg einzusetzen, wurde von mir und
und gleichzeitig die Polizei und den Ver- dem niedersächsischen Ministerpräsiden-
fassungsschutz stärken. Hier in Nordrhein- nicht so gut Deutsch sprechen, müssen die ten Stephan Weil durchgesetzt, im Koali-
Westfalen beobachten wir zum Beispiel gleichen Chancen haben. tionsvertrag 2018. Das war vor Greta.
stärker auch das Netz: Wer radikalisiert SPIEGEL: Die Große Koalition hat den SPIEGEL: Ist der Klimawandel aus Ihrer
sich? Und wie? Mindestlohn eingeführt und die Rente mit Sicht das politische Thema Nummer eins?
SPIEGEL: Friedrich Merz wirbt für sich mit 63. Voll auf Ihrer Linie, oder? Laschet: Es gibt natürlich nicht immer nur
dem Versprechen, zahlreiche Wähler von Laschet: Die Rente mit 63 habe ich immer das eine große Thema. Der Klimawandel
der AfD zurückzugewinnen. Haben Sie kritisch gesehen. Sie ist in einer Zeit des ist eine globale Herausforderung. Wenn
dafür auch ein Rezept? demografischen Wandels aus meiner Sicht Sie die Frage in einem Land im globalen
Laschet: Das ist jetzt wieder so ein theo- falsch, aber man kann nicht nach jedem Süden stellen würden, ist dort sicher
retisches Beispiel. Wähler holt man zurück, Regierungswechsel derartige Grundpfeiler die Frage der Ernährung, gar des Überle-
indem man überzeugende Politik macht, wieder auf den Kopf stellen. Die Men- bens, des Endes von Krieg, wichtiger. Des-
Probleme der Menschen löst. Hier in Nord- schen müssen sich darauf verlassen kön- halb müssen wir uns weiterhin um die
rhein-Westfalen liegt die AfD bei sieben nen, dass gerade in der Rentenpolitik über Bekämpfung von Armut bemühen und
Prozent. Und wenn wir mit unserem Kurs Jahrzehnte hinweg gedacht wird. darum, dass weltweit das Recht eingehal-
konsequent weitermachen, kriegen wir die SPIEGEL: Viele in der CDU sagen, dass ten wird.
auch noch unter fünf Prozent. Nicht mit Ihre Schwäche eine gewisse Gemütlichkeit SPIEGEL: Wie lässt sich die Klimakrise
Reden, sondern mit Handeln. sei, auch eine gewisse Schlampigkeit. noch bewältigen? Müssen alle verzichten?
SPIEGEL: Wie denn? Laschet: Wir arbeiten hier in Nordrhein- Laschet: Nur mit Verzicht wird es nicht
Laschet: Indem wir zum Beispiel mit un- Westfalen sehr präzise und mit klaren Ab- gelingen. Schauen wir noch mal in den
seren Talentschulen in den schwierigsten sprachen. Anders geht es auch gar nicht, Süden: Wenn dort das Lebensniveau steigt,
Vierteln die besten Schulen anbieten. ein solches Land zu führen. dann steigt dort auch der CO -Verbrauch.
²
Oder indem wir die Voraussetzungen da- SPIEGEL: Dann müssen wir Sie an eine Be- Ja, wir brauchen auch Verzicht, aber wir
für schaffen, dass neue Arbeitsplätze ent- gebenheit im Jahr 2014 erinnern. Damals brauchen vor allem technologische Lösun-
stehen. Und indem wir einen klaren Kurs kamen Ihnen als Dozent an der RWTH gen. Unser Ziel ist zum Beispiel, dass die
in der inneren Sicherheit fahren. Die fal- Aachen Klausuren von Studenten abhan- Stahlproduktion ohne CO -Ausstoß mög-
²
sche Antwort wäre es, AfD-Themen zu den. Sie erfanden dann im Nachhinein kur- lich wird. Grüner Stahl, daran arbeiten wir,
übernehmen und deren Sprache zu spre- zerhand die Noten. Kann man ruhig schla- das wäre ein großer Durchbruch.
chen. Das funktioniert nicht. fen, wenn so jemand im Kanzleramt ist? SPIEGEL: Herr Laschet, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Was ist Ihre Vorstellung von Laschet: Ich empfehle, den ausführlichen für dieses Gespräch.
sozialer Gerechtigkeit? Abschlussbericht der damaligen Wissen-
HERSTELLEN.
Durch sauberes
Trinkwasser entlang
der Lieferkette.
AfD-Leute Meuthen, Gauland, Höcke im Oktober 2019 in Berlin: »Völlig richtig, was Ihr sagt«
34
War dieser neue Ton ernst gemeint?
Oder nur Taktik?
Hört man sich im Umfeld der Parteispit-
ze um, heißt es von den einen, es sei vor
allem Angst vor einer Beobachtung durch
den Verfassungsschutz, die seit einiger Zeit
von anderen Parteien gefordert wird. Die
AfD spürt mehr Druck denn je. Nach der
Ministerpräsidentenwahl in Erfurt und den
Morden von Hanau grenzen sich auch kon-
servative Politiker noch schärfer von ihr
ab. Dass AfD-Politiker offen Rassismus
Rede nimmt niemals Fahrt auf, sie zerfasert, sel zeigte sich ihr Mangel an Professiona-
das Gemurmel im hinteren Teil des Saals lität und Erfahrung. Hektisch und unkoor-
schwillt an. Hinterher kann kaum ein Ge- diniert zündeten sie in Interviews ein wah-
nosse sagen, worüber Esken gesprochen res Feuerwerk an Vorstößen. Es ging um
hat. »Nichts hängen geblieben«, sagt Fran- Bodenwertzuwachssteuer, Cannabis-Frei-
cesco Abate, ein Landesvorstandsmitglied gabe, Tempolimit oder höhere Renten-
der Partei. »Mir fehlen die konkreten An- beiträge für Gutverdiener. Sie streuten so
sagen. Sie hat sich immer so gewendet.« Er viele Botschaften gleichzeitig, dass keine
macht eine Wellenbewegung mit der Hand. davon hängen blieb.
Knapp drei Monate stehen Saskia Esken Fraktionschef Mützenich Die anderen Genossen aus der Partei-
und Norbert Walter-Borjans nun an der Respekt über die Lager hinweg spitze reagierten entsetzt. Zu kleinteilig
Norwegen
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tatsächlich den Eindruck gewinnen, Esken zugänglicher und entspannter. Vielleicht Heil und Mützenich wären für die Par-
wäre die Social-Media-Beauftragte der etwas zu entspannt. Das Credo von Sig- teichefs angenehmer. Doch wären sie auch
SPD, nicht deren Vorsitzende. mar Gabriel, wonach eine Partei geführt die richtigen Kandidaten für einen polari-
Klingbeil, seit Dezember 2017 General- werden wolle, sieht Walter-Borjans kri- sierten Wahlkampf in der Zeit nach Angela
sekretär, erhält dagegen viel Bestätigung tisch. Er will keiner sein, der draufhaut. Merkel? Schon für den Posten des Frak-
in diesen Tagen. Sie finde, die SPD habe »Wir haben die Führungskrise überwun- tionsvorsitzenden musste Mützenich über-
»einen ganz ausgezeichneten General- den«, sagt Esken auf der Bühne beim redet werden. Bei Heil klingen selbst jene
sekretär«, schreibt die sächsische Abge- politischen Aschermittwoch im nieder- Genossen, die seinen Namen ins Spiel brin-
ordnete Daniela Kolbe bei Twitter. Partei- bayerischen Vilshofen. Die Partei solle die gen, wenig begeistert. Sie bezweifeln, dass
vize Kevin Kühnert springt Klingbeil im Schuld für die schlechten Umfragewerte sich mit ihm Aufbruchsstimmung erzeu-
Gespräch mit der »Rheinischen Post« bei. nicht bei den anderen suchen, nicht bei gen ließe.
Die CDU grenze sich nicht klar von der den Medien und nicht bei den Wählern, Bleibt noch Klingbeil selbst. Bis vor
AfD ab, das sei »keine Erfindung von Lars so Esken, »und bitte auch nicht immer wie- Kurzem schien es undenkbar, dass der
Klingbeil, sondern eine Tatsache«. der bei unserem Spitzenpersonal«. Das Generalsekretär für die Kandidatur in-
Von den Auftritten der beiden Vorsit- langweile die Leute mittlerweile. frage kommen könnte. Doch nach den
zenden in der Bundestagsfraktion bleibe Doch die Führungskrise ist in Wahrheit vergangenen Wochen wollen führende
hingegen nichts hängen, kritisiert ein Ab- nicht überwunden. Die zwei an der Spitze Genossen auch dieses Szenario nicht
geordneter, der in der Fraktion schon meh- haben ein ernstes Autoritätsproblem. Da- mehr ausschließen.
rere Parteichefs erlebt hat. Die beiden Vor- bei stehen wichtige Entscheidungen an: Lydia Rosenfelder, Christian Teevs
sitzenden, so erzählt er, würden meist Mit welchem Programm will die SPD in
37
Deutschland
SPIEGEL: Herr Gabriel, für wen haben Sie das große Problem der Migration bewäl- Gabriel: Die CDU scheint sich in dieser
Ihr neues Buch geschrieben? tigen. Hinsicht gerade zu »sozialdemokratisie-
Gabriel: Ich habe es in gewisser Weise für SPIEGEL: Was muss getan werden? ren«, was kein gutes Zeichen ist. Aber Sie
meine Kinder geschrieben*. Das kommen- Gabriel: Wir sollten tun, was die ganze haben schon recht: Während es bei den
de Jahrzehnt wird über vieles entscheiden. Welt von uns fordert: viel mehr investie- Konservativen zumindest in der Vergan-
Mich treibt wie viele Eltern um, wie wohl ren. Für mich war das beeindruckendste genheit immer darum ging zu regieren,
meine Töchter dann leben werden. Eine Foto des vorigen Jahres die Eröffnung des geht es in den politischen Parteien links
von ihnen wird dann gerade volljährig. Ich Pekinger Flughafens, geplant, gebaut, er- der Mitte viel zu oft ums Rechthaben. Und
neige wirklich nicht zur Dystopie, aber öffnet in vier Jahren. Wenn der Flughafen wenn man nicht recht bekommt, wird
jetzt denke ich doch oft: Mensch, was ist in Berlin je eröffnet wird, ist er am Tag schnell der »Wohlfahrtsausschuss« zusam-
hier im Land bloß los? der Eröffnung ein Architekturmuseum. mengerufen …
SPIEGEL: Sie sind kürzlich 60 geworden. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. SPIEGEL: … jenes Gremium, das während
Gabriel: Ich gebe zu, dass das ein heftiger SPIEGEL: Demokratische Staaten sind also der Französischen Revolution entschied,
Einschnitt für mich war. Ich habe zum ers- weniger effektiv als Autokratien? wer unter die Guillotine kommt.
ten Mal ernsthaft über die Endlichkeit des Gabriel: Die Alternative kann doch nicht Gabriel: Gott sei Dank endet es heute
eigenen Lebens nachgedacht. Was ist, sein, entweder so langsam zu sein wie anders. Aber wir gehen untereinander
wenn ich nicht mehr da bin? Was ist das Deutschland oder so undemokratisch wie manchmal schlimmer miteinander um als
für ein Land, in dem meine Kinder leben China. Dazwischen gibt es viele Möglich- mit dem politischen Gegner.
werden, wenn sie so alt sind wie ich? keiten. Dafür müsste man aber den Mut SPIEGEL: Sie schreiben von böswilligen
SPIEGEL: Was macht Ihnen Sorgen? Sie haben, das deutsche Planungsrecht zu ver- und niederträchtigen Durchstechereien,
beschreiben Deutschland als lethargisches ändern. Für Vorhaben, bei denen das Ge- dass sich die »Demütigungsversuche«
Land, als Land in Trance … nach Ihrem Rücktritt fortgesetzt hätten.
Gabriel: Meine Sorge ist, dass wir, gerade Gabriel: Vermutlich können alle meine
weil wir hier verglichen mit vielen anderen Vorgänger und Nachfolger im Amt des
Teilen der Welt auf der berühmten »Insel »Die nächsten zehn SPD-Vorsitzenden davon ein Lied singen,
der Seligen« leben, nicht merken, wie dra- Jahre werden ent- und ich habe es ja verhältnismäßig lange
matisch sich alles verändert, was seit Jahr- ausgehalten. Aber es gab schon ein paar
zehnten unseren Erfolg ausgemacht hat. scheidend für Deutsch- Erfahrungen, wo ich dachte: Donnerwet-
Unser Erfolgsmodell, die exportorientierte land und Europa.« ter, so bist du mit deinem Vorgänger nicht
Wirtschaft, ist zur Achillesferse geworden umgegangen.
in einer Welt, die sich in Teilen entglobali- SPIEGEL: Parlamentspräsident Wolfgang
siert. Die Spannungen der Weltwirtschaft Schäuble und Bundespräsident Frank-
treffen uns mehr als alle anderen. Und meinwohl überwiegt, sollten wir die Wi- Walter Steinmeier haben Sie zum Ab-
noch viel mehr trifft uns, dass große Teile derspruchsmöglichkeiten einschränken. schied zu einem Gespräch eingeladen.
unserer industriellen Wertschöpfung auf Wir müssen in Deutschland wieder mehr Gabriel: Von meiner Fraktion habe ich im-
die Datenplattformen wandern – und die »Mensch ärgere dich nicht!« spielen statt merhin im Geschäftsgang ein Schreiben
beherrschen fünf amerikanische und dem- »Malefiz«. Der Schnellste muss gewinnen mit der Bitte erhalten, doch meine Nach-
nächst zehn chinesische Unternehmen. und nicht der, der allen anderen die meis- sendeadresse dazulassen. Ich fand das
Wenn wir nicht aufpassen, werden wir ten Steine in den Weg legt. irgendwie lustig und einen letzten Beleg
vom Industrialisierer der Welt zur verlän- SPIEGEL: In Ihrem Buch ist ein großes Ka- dafür, dass es Zeit ist zu gehen.
gerten Werkbank. pitel Ihrer Partei und dem Umgang der SPIEGEL: Sie beschreiben das Gefühl,
SPIEGEL: Wo braucht es mehr Mut? SPD mit ihrem Spitzenpersonal gewidmet. »häufig genug weder wirklich respektiert
Gabriel: Vor allem in der politischen Füh- Ist die SPD eine herzlose Partei? noch geachtet« worden zu sein.
rung. Sie muss Mut machen, statt sich Gabriel: Nein. Die SPD ist eine Partei mit Gabriel: Bei mir ist das noch relativ glimpf-
nur mit sich selbst zu beschäftigen. Die viel Herzblut und Leidenschaft. Ich ver- lich abgegangen. Aber denken Sie daran,
nächsten zehn Jahre werden entschei- danke es sozialdemokratischer Politik, welche Verletzungen Kurt Beck erlitten
dend, wenn es darum geht, welche Rolle dass ich etwas aus meinem Leben machen hat, wie sich Martin Schulz missbraucht
Deutschland und Europa in der Welt konnte. Nur weil das Ende dann etwas – gefühlt hat. Oder wie bis heute über Ger-
spielen. Ob wir noch eine deutsche nennen wir es »rustikal« war, darf man hard Schröder geredet wird. Manchmal
Autoindustrie haben, ob wir den Klima- doch nicht alles Gute vergessen, was vor- habe ich gedacht, dass in der SPD so viel
schutz schaffen, Europa zusammenhalten, her war. über Solidarität geredet wird, weil man sie
SPIEGEL: Aber die SPD geht schon gna- im politischen Alltag so oft vermisst.
* Sigmar Gabriel: »Mehr Mut! Aufbruch in ein neues denloser mit ihrem Spitzenpersonal um SPIEGEL: Was ist Ihr Anteil daran, dass
Jahrzehnt«. Herder; 336 Seiten; 25 Euro. als andere Parteien? die Partei Sie am Ende nicht mehr wollte?
Gabriel: Ich bin auch kein einfacher mal auch eine Art von »Organisations- Spannungen wir in Deutschland zu rech-
Mensch, ich kann hart sein und unnach- stalinismus«. nen hatten. Die klare Mehrheit meiner da-
giebig. Ich fand mein ganzes politisches SPIEGEL: Sie sprechen von Säuberungen? maligen Mitstreiter war jedoch der Auffas-
Leben lang Klarheit in der Sache wichtiger, Gabriel: Vielleicht kennen Sie den Comic sung, dass »die richtige Haltung« jetzt das
als durch Unklarheit Zustimmung zu be- »Isnogud«, bei dem ein verschlagener Wichtigste sei. Heute sehen wir, dass die
kommen. Da habe ich ganz oft unter- Großwesir immer versucht, »Kalif anstelle »Haltung« allein noch keine Politik ist.
schätzt, dass die Art, wie ich in die Sache des Kalifen« zu werden. Aber dieser SPIEGEL: Sie wurden 2015 noch einmal
einsteige, auch viele Menschen verletzt. Drang, niemanden neben sich zu dulden, Parteivorsitzender, verzichteten dann aber
SPIEGEL: Das war Ihnen nicht bewusst? ist wirklich verheerend. Brandt, Wehner 2017 auf die Kanzlerkandidatur.
Die Partei sprach schon lange darüber … und Schmidt haben sich weiß Gott nicht Gabriel: Die Sehnsucht nach einem neuen
Gabriel: Ich erinnere mich an Gespräche gemocht, aber sie wussten: Erfolgreich sind Hoffnungsträger war mit Händen zu grei-
mit Hannelore Kraft, in denen sie mir sag- wir nur gemeinsam. Ein großer Teil des fen. Da habe ich gedacht, ich sei es meiner
te: Du hast ja recht, aber geht’s nicht einen aktuellen Erfolgs der Grünen hat damit zu Partei schuldig, diesem Willen nachzuge-
Gang niedriger? Es spricht viel dafür, dass tun, dass sie genau das mit ihrer gemein- ben und meine eigenen Ambitionen auf-
ich weit öfter hätte auf sie hören sollen. samen Führung ausstrahlen. Bei ihnen gibt zugeben. Ich war ja auch der Überzeu-
SPIEGEL: Waren Sie am Ende erleichtert? es derzeit diesen krassen Widerspruch zwi- gung, dass Martin Schulz bessere Chancen
Gabriel: Als ich nach fast acht Jahren als schen den öffentlich bekundeten Werten habe als ich.
Parteivorsitzender mein Amt an Martin des menschlichen Miteinanders und dem SPIEGEL: Ihnen fehlte das Zutrauen. Sie
Schulz übergab, fiel mir ein kleines Ge- innerparteilichen Umgang nicht. haben es nie getestet.
birge von der Seele. Es war inzwischen SPIEGEL: Sie schreiben, Sie hätten den Par- Gabriel: Sie reden genau wie Angela Mer-
einfach eine ganz ungesunde Atmosphäre. teivorsitz 2015 abgeben sollen. Warum? kel. Die wirft mir das auch immer vor. Sie
Sie wissen doch, wie in Berlin Politik Gabriel: Es gab schon hinreichend Kon- meint, es sei mein einziger Fehler gewesen,
gemacht wird. Politik kann das Beste flikte zwischen mir und denen in der SPD, nicht kandidiert zu haben. Sie glaubt, so-
und das Schlechteste im Menschen mobi- die die Große Koalition von Anfang an wohl die SPD als auch die CDU hätten
lisieren: großartiges Engagement, Ideen- partout nicht wollten. Wir hatten uns ein- dann ein besseres Ergebnis gehabt. Aber
reichtum, Leidenschaft, aber eben auch fach wund gerieben. Und dann kam noch damals hat die SPD kurz hintereinander
Ausgrenzungen, Boshaftigkeiten und die Flüchtlingsfrage. Natürlich war auch drei Landtagswahlen verloren. Spätestens
Falschheit, um selbst einen Zuwachs an ich für offene Grenzen, aber mir war da- nach der Niederlage in NRW hätten meine
Einfluss oder Macht zu gewinnen. Manch- mals schnell klar, mit welchen inneren innerparteilichen Gegner auch öffentlich
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zum Angriff geblasen. In den Berliner Hin- Politik. Wir brauchen Leute, die es sich leis-
terzimmern hatten sie das ja schon getan. ten können, Nein zu sagen, weil sie im Zwei-
SPIEGEL: Sie wären vom Hof gejagt wor- fel ohne die Politik klarkommen.« Alles,
den wie Kurt Beck? was ich Kevin Kühnert sagen würde, hört
Gabriel: Garantiert. Das wollte ich mir sich irgendwie altväterlich an, und er wird
und der SPD ersparen. sich das verbitten. Aber hoffentlich hat er
SPIEGEL: Haben Sie Schulz überschätzt? Freunde, die ihm denselben Rat geben, den
Gabriel: Nein, aber ich habe etwas falsch ich damals bekam. Er könnte ja jederzeit
eingeschätzt. Wir alle waren damals der wiederkommen, wenn er sein Studium be-
Überzeugung, dass Schulz im Wahlkampf endet und ein paar Jahre gearbeitet hat.
nicht die Europakarte spielen sollte. Weil SPIEGEL: Jetzt erklären Sie sich doch nur
wir Angst hatten, die CDU würde ihn als selbst zum großen Vorbild.
Europafuzzi diffamieren. Wir haben Mar- Gabriel: Nein, denn früher hätte man so
tin Schulz seiner größten Stärke beraubt, etwas in der SPD nicht erklären müssen.
ihm die Glaubwürdigkeit genommen. Eine Partei der Arbeit sollte nicht von je-
Rückblickend eine wirklich große strate- mandem geführt werden, der in seinem
gische Fehlleistung. Berufsleben noch nicht angekommen ist.
SPIEGEL: Nach der Bundestagswahl 2017 Und besonders frei macht es in einer Par-
kam es zum Streit mit Ihrem langjährigen tei, wenn man zeigt, dass man einen Wahl-
DANIEL HOFER
Freund. Schulz wollte sich Ihren Job als kreis erobern kann, statt immer nur auf
Außenminister nehmen. Sind solche Mo- einen Listenplatz zu schielen.
mente in der Politik unvermeidbar? SPIEGEL: Kann die SPD mit Saskia Esken
Gabriel: Jeder, auch Martin Schulz und Jungsozialist Kühnert und Norbert Walter-Borjans wieder erfolg-
ich, wünscht sich sehr, dass man so etwas »Ein wirklich großes Talent« reicher werden?
vermeiden kann. Wir hätten beide klüger Gabriel: Wenn sie sich die Orientierung
sein können. Waren wir aber nicht. Viel eine Ausrede dafür hatten, warum sie nicht der Hamburger SPD zum Vorbild nehmen,
wichtiger war uns aber, dass wir uns aus- kandieren wollen. Fast so, als wäre der ja. Also keine Verengung auf die Sozial-
sprechen und Freunde geblieben sind. Das SPD-Vorsitz ein infiziertes Bettlaken. Man politik, sondern den Anspruch erheben,
gelingt selten in der Politik. kann ja Olaf Scholz fast dankbar sein, dass wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer und
SPIEGEL: Wer war denn wirklich schuld er schließlich den Mut hatte zu kandidieren. innerer Sicherheit und ökologischer Nach-
daran, dass Sie damals nicht Außenminis- Unfassbar fand ich, dass dann die gesamte haltigkeit zu verbinden.
ter bleiben durften? Schulz oder Olaf SPD-Führung nicht für den Verbleib in der SPIEGEL: Was qualifiziert Sie eigentlich
Scholz oder Andrea Nahles? Regierung und für den Kandidaten Scholz zum Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank?
Gabriel: Das war der Wille von Olaf gekämpft hat. Die Einzigen, die gekämpft Da muss man doch Bilanzen lesen können.
Scholz und Andrea Nahles. Die beiden wa- haben, waren die Jungsozialisten. Gabriel: Nicht nur das, sondern noch einiges
ren ja in Wahrheit die erste SPD-Doppel- SPIEGEL: Was sagt es über die SPD, dass mehr. Jedenfalls habe ich das in Erinnerung,
spitze. Parteivorsitzende dürfen so etwas der Juso-Chef einen solchen Einfluss hat, wenn ich an meine achtjährige Mitglied-
entscheiden. Beide haben meine Ausgren- dass er Kurs und Führung der Partei ent- schaft im Verwaltungsrat der KfW-Bank zu-
zung damals gewollt, um einen möglichen scheidend mitbestimmt? rückdenke, bei der ich immerhin fast vier
Konkurrenten von Anfang an loszuwer- Gabriel: Kevin Kühnert ist ohne Frage ein Jahre lang einer der Vorsitzenden war.
den. Ob solche Ausgrenzungsstrategien wirklich großes Talent. Er macht das hoch SPIEGEL: Sie haben die Banken in der Fi-
immer klug und im Interesse der ganzen professionell. Ob man ihn, der selbst mit nanzkrise für ihr asoziales Verhalten kriti-
Partei sind, ist eine andere Frage. 30 weder eine Berufsausbildung noch ein siert. Wie passt das dazu, dass Sie sich jetzt
SPIEGEL: Nach Ihrem Rückzug ist die SPD Studium abgeschlossen hat, gleich in Füh- von einer gut bezahlen lassen?
weiter abgesackt. Sie sprechen von »kol- rungsfunktionen einer Partei bringen soll- Gabriel: Die Kritik war nun wirklich be-
lektivem Führungsversagen«. Wer hat wie te, ist allerdings eine andere Frage. rechtigt. Aber nicht nur die staatliche Auf-
versagt? SPIEGEL: Warum eigentlich nicht? sicht ist weit besser geworden, sondern die
Gabriel: Die Verantwortung Einzelnen zu- Gabriel: Ich stand mal vor einer ähnlichen Deutsche Bank selbst auch. Ob die Bezah-
zuschieben ist unsinnig. Die Frage ist doch, Situation und wollte mein Studium abbre- lung als Aufsichtsrat der Deutschen Bank
warum alle in Richtung Abgrund laufen, chen. Zwei in meiner Heimatstadt populäre »gut« ist, darüber kann man unterschied-
obwohl die Stoppschilder unübersehbar Sozialdemokraten warnten mich dringend. licher Meinung sein. Ich hatte ja auch das
sind. In der SPD hat eine fatale themati- Ihr Argument war: »Wir brauchen in der Angebot, Präsident des Verbandes der Au-
sche Verengung auf die Sozialpolitik statt- SPD keine Leute, die abhängig sind von der tomobilindustrie zu werden. Dort wäre
gefunden. Weil es das einzige Feld ist, auf das Gehalt um ein Vielfaches größer. Das
dem sie sich noch sicher fühlt. Wir geben habe ich abgelehnt, weil ich nicht zum Lob-
immer mehr Milliarden aus, aber unsere byisten werden wollte, der an die Türen
Wahlergebnisse werden trotzdem immer im Regierungsviertel klopft, hinter denen
schlechter. Man kann die Wähler eben er selbst gesessen hat. Zugegeben bin ich
nicht kaufen. Sie wollen heute vor allem etwas stolz darauf, dass mir mein Über-
SONJA OCH / DER SPIEGEL
Orientierung nach innen und nach außen. gang in ein anderes Berufsleben allein ge-
SPIEGEL: Was haben Sie vom Mitglieder- lungen ist. Ich wollte nie einen Versor-
entscheid über den Parteivorsitz gehalten? gungsjob, den ich durch die Gnade eines
Gabriel: Am Anfang war es ganz schlimm, SPD-Regierungsmitglieds erhalte. Man
als alle Mitglieder der SPD-Führung irgend- muss es selbst schaffen. Das macht frei.
SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
* Markus Feldenkirchen und Christiane Hoffmann in Gabriel, SPIEGEL-Redakteure* für dieses Gespräch.
Gabriels Haus in Goslar. »Ich wollte nie einen Versorgungsjob«
Massive Front
Sicherheit Nach Attentaten und Amokläufen fordern Politiker schärfere Waffengesetze. Doch eine
mächtige Lobby sorgt dafür, dass Killer und Terroristen ganz legal an Waffen kommen können.
E
s war Johannes Rau, der als Bun- ter besaßen ihre Pistolen ganz legal. Denn Söder, assistiert: »Der Rechtsstaat wird
despräsident erschüttert auf Erfurt sowohl Steinhäuser als auch Rathjen wa- sich solcher Gewalt mit aller Härte und
schaute. Er könne »nicht in Worte ren Mitglieder in Schützenvereinen. Die Entschiedenheit entgegenstellen.« Doch
fassen, was wir in Deutschland jetzt Männer galten als derart vertrauenswür- dass nach den markigen Worten Taten fol-
empfinden«, sagte der SPD-Politiker. Der dig, dass sie Waffen besitzen durften, die gen, ist wieder nicht zu erwarten.
Schüler Robert Steinhäuser hatte 2002 im auch Spezialeinheiten der Polizei führen. Seit Jahrzehnten arbeitet der Gesetzge-
Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen er- Bei Bluttaten wie in Erfurt, Bad Rei- ber am Waffenrecht. Die jüngste Novelle
schossen und ein ganzes Land erschüttert. chenhall, Winnenden, Rot am See, Halle tritt im September in Kraft. Wirklich harte
18 Jahre später steht Bundespräsident oder Hanau folgen den einfühlsamen Wor- Einschnitte aber konnte die starke Schüt-
Frank-Walter Steinmeier (SPD) nicht we- ten immer flammende Aufrufe, das Waf- zenlobby verhindern. Das war so – und
niger ergriffen in Hessen. »Was geschehen fenrecht zu verschärfen. Nach dem Mas- wird wohl so bleiben. Bis erneut ein Bun-
ist, was hier in Hanau geschehen ist, macht senmord in Erfurt bescheinigte sich Bun- despräsident traurig ist.
uns fassungslos. Es macht uns traurig. Es desinnenminister Otto Schily (SPD) eine Ein Eingriff in das Waffenrecht ist in
macht uns auch zornig.« »mustergültige Gesetzgebungsarbeit« im Deutschland immer auch ein Angriff auf
In Hanau hatte der 43-jährige Rassist Waffenrecht. Sie sollte künftige Amok- eine gut organisierte Gruppe. Es gibt mehr
Tobias Rathjen zehn Menschen hingerich- läufe verhindern, was sie nicht konnte, wie als 14 000 Schützenvereine. Der Deutsche
tet, anschließend erschoss er sich selbst. man heute weiß. Schützenbund zählt gut 1,3 Millionen Mit-
Zwei Taten, so monströs wie sinnlos. Jetzt erwägt Bundesinnenminister glieder – mehr als CDU, CSU und SPD
Morde, die auch deshalb nicht nur Stein- Horst Seehofer (CSU) eine weitere Ver- zusammen. Geht es ihnen an die Waffen,
meier zornig machen, weil sie eine beun- schärfung der Regeln. Sein Parteifreund, formiert sich heftige Gegenwehr. Seit 2015
ruhigende Gemeinsamkeit haben. Die Tä- der bayerische Ministerpräsident Markus listet die Unesco das deutsche Schützen-
wesen sogar als immaterielles Kulturerbe. Markus H. häufig aktiv. Gut fünfmal, so ses beantragt und ohne Probleme bekom-
Es sei ein »wichtiger, historisch gewachse- stellte der Verein in den Anwesenheitslis- men. Im April 2014 ließ er sich eine Pistole
ner und lebendiger Teil der regionalen wie ten fest, hatte H. wohl seinen Kumpel Ernst eintragen, eine Sig Sauer 226, Kaliber 9
lokalen Identität«. Es gehe um Brauchtum zum Schießen mitgebracht. Womöglich Millimeter Luger. Mit dieser Waffe er-
und Tradition, heißt es. habe Ernst noch häufiger im Verein trai- schoss er sich schließlich nach seinem At-
Es stellt sich allerdings die Frage, ob niert, sagt der Vorstand der Schützenge- tentat. 2018 hatte Rathjen noch eine Klein-
man zur Pflege von Brauchtum und Tra- sellschaft. Es könne sein, dass er sich teils kaliberpistole gekauft, Marke Walther
dition tatsächlich halbautomatische Waf- unter falschem Namen eingetragen habe. PPQ M2, Kaliber .22.
fen braucht, die in kürzester Zeit Dutzen- Erstaunlich ist, dass der Wenige Wochen vor sei-
5,4 Mio.
de Menschen töten können und die es na- Ernst-Vertraute – der im nem Anschlag, es war der
türlich in der angeblich guten alten Zeit Lübcke-Mord als Beschul- 7. Februar, lieh sich Rathjen
gar nicht gab. Im Brockhaus von 1886 digter gilt – seit 2016 legal zudem legal bei einem Waf-
steht unter dem Stichwort »Schützenge- Schusswaffen kaufen und fenhändler in Hanau eine
sellschaften«, diese seien »der letzte Rest besitzen konnte, obwohl Waffen und Waffenteile Pistole vom Typ Ceska 75
wie Schalldämpfer
jener einst dem deutschen Bürger zuste- seine rechtsextreme Gesin- Shadow, Kaliber 9 Millime-
sind im Nationalen
henden allgemeinen Waffenfähigkeit«. Da- nung den Behörden seit Waffenregister erfasst. ter. Der Waffenhändler sag-
mals, als es keine funktionierende Polizei Jahren bekannt war. te dem SPIEGEL, er habe da-
gab, ging es um die Abwehr konkreter Ge-
fahren für jedermann.
Und heute? 5,4 Millionen Waffen befin-
H. hatte seit 2007 ver-
sucht, eine Waffenbesitz-
erlaubnis zu bekommen.
950000 mals keinen Grund gesehen,
dem späteren Massenmör-
der die Pistole nicht zu
den sich in Deutschland in Privatbesitz. Die Kasseler Ordnungs- Waffen- oder Waffenteilbesitzer geben. Rathjen sei »seriös
Zehn davon gehören dem Hamburger IT- behörde lehnte wegen sei- waren Ende 2019 im Nationalen gekleidet« gewesen, habe
Berater Matthias Uhlig. Auf einem Schieß- ner rechten Umtriebe ab. Waffenregister gemeldet. »völlig normal« gewirkt und
stand im niedersächsischen Garlstorf legt 2012 unternahm er einen Quelle: Bundesverwaltungsamt keinerlei verdächtige Bemer-
Stand: 31. Dezember 2019
er für gewöhnlich an. Auch an einem Mitt- neuen Versuch und scheiter- kungen gemacht. Auch die
wochnachmittag der vergangenen Woche. te wieder. H. klagte – und Papiere seien in Ordnung ge-
Neben ihm trainieren Jäger, Polizeibeamte gewann. Im März 2015 befand das Verwal- wesen. Die Ceska entdeckten Kriminal-
und Sportschützen. Uhlig richtet eine tungsgericht, die Behörde müsse eine Waf- beamte später in Rathjens Auto, zusammen
Pistole, Kaliber 9 Millimeter, auf eine Ziel- fenbesitzkarte ausstellen. Das Gericht mit Magazinen und Munition. In der Woh-
scheibe. »Für mich ist die Waffe ein Sport- habe zwar keinen Zweifel daran, dass er nung fanden die Beamten der Spurensiche-
gerät«, sagt der 59-Jährige. Der Mann sich bis 2009 im rechtsextremen Umfeld rung insgesamt 346 Patronen. An den Tat-
besitzt sechs Pistolen und vier Revolver. bewegt habe. Aber die Vorfälle lägen in- orten sammelten sie 52 Hülsen auf – so oft
Außerdem Gewehre. Er ist auch Jäger. zwischen mehr als fünf Jahre zurück. hatte der Täter mindestens abgedrückt.
»Schießen ist ein Sport wie jeder andere 2016 erhielt H. die Papiere, die ihn zum Hätte die Waffenbehörde die Chance ge-
auch«, sagt Uhlig. Denkt er an Hanau? legalen Waffenbesitzer machten. habt, Rathjen die Waffen zu verweigern oder
»Es ist entsetzlich, was da passiert ist, egal Auch der Attentäter von Hanau gehörte zu entziehen? Nein, sagt Verwaltungsspre-
ob es ein Sportschütze war oder ob er sich Schützenvereinen an, unter anderem dem cher Mewes: »Wir haben das jetzt noch ein-
die Waffe illegal besorgt hat.« in Bergen-Enkheim, Mitgliedsnummer mal alles eingehend geprüft. Aber wir haben
Neben ihm steht Rainer Wilhelm, eben- 698. Rathjen hatte als Sportschütze seine nichts gefunden, was wir versäumt hätten.«
falls Jäger und Sportschütze, der über ein Erlaubnis zum Waffenbesitz 2013 bei der Vor einem guten halben Jahr, im August
ähnliches Arsenal an Kurz- und Langwaf- Ordnungsbehörde des Main-Kinzig-Krei- 2019, ordnete der Landkreis noch eine rou-
fen verfügt: »Wenn so etwas in der Zeitung
steht, denken wieder alle, wir horten Waf-
fen, geben damit an und erschießen dann
Leute«, sagt Wilhelm.
»Wir machen alles mit, was wirklich der
Sicherheit dient«, so Uhlig. Doch vieles
sei Aktionismus. »Wer eine solche Tat vor-
bereitet, der findet eine Waffe, auch wenn
er keine legale hat«, sagt Uhlig. Dann baue
er sich eine mit einem 3-D-Drucker, neh-
me ein Messer oder ein Auto, um zu töten.
Immer wieder verweisen Freizeitschützen
auch darauf, dass mit legalen Waffen viel
weniger Straftaten begangen würden als
mit illegalen.
Die Argumente sind bekannt, doch zei-
gen die Taten der vergangenen Zeit, dass
sich unter Sportschützen manchmal auch
MICHAEL KOHLS / DER SPIEGEL
43
Wegen mangelnder Zuverlässigkeit habe
man ihm die Erlaubnis entzogen. »Wenn
es Hinweise auf psychische Auffälligkeiten
gibt, verpflichten wir den Waffenbesitzer,
ein fachärztliches Gutachten einzuholen.«
Die Frage ist bloß, ob Mitarbeiter der
Waffenbehörden tatsächlich während ihrer
kurzen Hausbesuche alle paar Jahre ne-
benbei noch psychische Erkrankungen er-
kennen können?
In Brüssel gab es daher Versuche, eine
generelle psychische Überprüfung im Waf-
fengesetz zu verankern. Schließlich regu-
liert die EU so ziemlich alles, von Glüh-
birnen bis zu Gefrierschränken. Schon im
45
Deutschland
Knapp am
Nun prüfen die Beamten, ob es weitere schossen worden. Zuvor war er im Netz
Indizien für eine Tatbeteiligung Ernsts gibt. mit Hassbotschaften und Todesdrohun-
»Unser Mandant weist diese Vorwürfe em- gen überschüttet worden, weil er sich für
Kopf vorbei
pört zurück«, erklärte Ernsts Verteidiger, die Aufnahme von Flüchtlingen einge-
der Dresdner Rechtsanwalt und Kommu- setzt hatte.
nalpolitiker Frank Hannig. Er habe keine Der heute 46-jährige Ernst war 13 Tage
Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren nach der Tat festgenommen worden und
Rechtsterrorismus Gegen Stephan und habe den Generalbundesanwalt auf- hatte ein Geständnis abgelegt. Mittlerweile
Ernst, den mutmaßlichen gefordert, ihn zu informieren. Sein Man- hat er es widerrufen und Markus H. des
dant sei »betrübt«, so Hannig, dass nun tödlichen Schusses beschuldigt, einen lang-
Mörder Walter Lübckes, wird in »jede Tat, die auf irgendeine Art und Weise jährigen Freund aus der rechtsextremen
einem weiteren Fall ermittelt. mit einem rechten, rechtsradikalen oder Szene. An der Tatwaffe wurden allerdings
Der Vorwurf: versuchter Mord. politischen Zusammenhang betrachtet nur Ernsts DNA-Spuren gefunden.
werden könnte, ihm in die Schuhe gescho- Ernst hatte die Ermittler mit seiner
ben werden soll«. Aussage zu einem Waffenversteck auf
schlag auf S. erstellt worden sein. Die Die Anklage im Mordfall Lübcke wird
hessischen Behörden haben den Lehrer in den kommenden Wochen erwartet.
und die Personen aus Ernsts Dateien be- Rafael Buschmann, Nicola Naber,
nachrichtigt, dass der Rechtsextremist In- Tatverdächtiger Ernst Christoph Winterbach, Michael Wulzinger
formationen über sie gesammelt hat. Name, Adresse und ein Foto des Opfers
46
lern im Herbst. Und auch über »harte« Zie-
le wie die Grünenpolitiker Robert Habeck
und Anton Hofreiter. Er selbst gebe sich
nur radikal, um mitzubekommen, was die
Truppe plane, so der Hinweisgeber. Einem
Bekannten erzählte Huth, er wolle als Spit-
zel Anschläge verhindern. Förmlich als
Vertrauensperson verpflichtet, wie zuletzt
berichtet wurde, haben die Behörden ihn
aber nicht.
Huth hat eine problematische Biografie,
um es vorsichtig auszudrücken: Er verbrach-
te viele Jahre im Gefängnis und im psychia-
trischen Maßregelvollzug, unter anderem
weil er einen Polizisten als Geisel genom-
men hatte. Zuletzt bezog er Hartz IV und
lebte in einer Einrichtung für Ex-Häftlinge
in Süddeutschland. Die Glaubwürdigkeit ei-
nes solchen Mannes ist nicht sehr hoch.
Das wissen auch die Ermittler. In einem
Vermerk hielten sie fest, dass sich viele
seiner Angaben nachweislich als wahr er-
wiesen hätten. Es könne aber auch nicht
ausgeschlossen werden, dass er manches
Der 13. Mann erzählt hat, stimmt also? Was ist womög-
lich aufgebauscht? Wie entschlossen war
die mutmaßliche Terrorgruppe um »Teu-
tonico«? Und trug der Hinweisgeber Huth
Justiz Fahnder konnten Rechtsextremisten stoppen, die Anschläge auf vielleicht zu deren Radikalisierung bei?
Muslime und Politiker geplant haben sollen. Hinweise auf Um sich nicht auf die Behauptungen ei-
die Gruppe lieferte ein Geiselnehmer, der lange hinter Gittern saß. nes Straftäters verlassen zu müssen, griffen
das baden-württembergische Landeskri-
minalamt und der Generalbundesanwalt
BARBARA FRANKE
gestellte Handgranaten sowie ein Schrot-
gewehr Marke Eigenbau, wie es auch der
Attentäter von Halle verwendet hatte.
Die Beweise reichten schließlich für
Haftbefehle gegen insgesamt zwölf Rechts- Opferanwalt Schneider mit Faksimiles: »Wir müssen die alten Menschen warnen«
extremisten, ausgestellt vom Bundesge-
richtshof. Nur der 13. Mann der mutmaß-
lichen Terrorzelle, Maximilian Huth, sitzt
nicht in Untersuchungshaft, sein aktueller
Aufenthaltsort ist unbekannt.
Inzwischen hat ein weiterer Mann aus
A ls zwei Wachleute den Saal im Amts-
gericht Rheine betreten, ist klar, dass
gleich etwas Ungewöhnliches gesche-
hen wird. Die Vorsitzende des Schöffen-
Haken: Mal sollten die alten Leute erst
einmal teure Nachdrucke mittelalterlicher
Schriften kaufen. So könnten sie den Wie-
derverkaufswert ihrer Büchersammlung
dem mutmaßlichen Unterstützerkreis der gerichts verurteilt den Handelsvertreter steigern, hieß es. Mal sollten sie angebli-
Truppe ausgesagt. Als die Beamten ihn Carsten J. zu vier Jahren Gefängnis ohne chen Kaufinteressenten ihrer Sammlung,
nach seiner Festnahme befragten, druckste Bewährung. Es ist die schärfste Strafe, die die gerade leider nicht flüssig seien, zur
er erst herum. In der Gruppe sei viel ge- ein Amtsgericht verhängen kann. Dann ver- Überbrückung einen Kredit gewähren.
schwätzt worden. Eigentlich sei es darum kündet die Richterin, dass der Mercedes des Ein Mann aus Wuppertal gab Carsten J.
gegangen, sich Zufluchtsorte zu suchen für 48-Jährigen beschlagnahmt werde, seine sogar 150 000 Euro, weil dieser vorgab,
den »Tag X«. Mit den Waffen habe man Harley Davidson, sein Pferd und die 90000 ein Problem mit dem Finanzamt zu haben.
sich schützen wollen, vor ausländischen Euro, die er auf dem Konto hat. Schließlich Als »Sicherheit« erhielt der Mann ein paar
Clans, die irgendwann über die Deutschen lässt sie J. noch im Saal verhaften. Kisten mit alten Büchern. Tatsächlich war
herfallen würden. Was das Gericht im Dezember zu dem die Geschichte – wie die meisten anderen
Nach bohrenden Fragen der Ermittler harten Urteil veranlasste: Carsten J. hatte auch – frei erfunden.
räumte er jedoch ein, dass bei dem Treffen gemeinsam mit einem Helfer in 29 Fällen Es scheint eine verbreitete Masche zu
in Minden auch über Angriffe auf Mo- ältere Menschen aus Nordrhein-Westfalen sein, leichtgläubigen Senioren vorgeblich
scheen gesprochen worden sei. Man habe auf perfide Art um ihre Ersparnisse ge- wertvolle Nachdrucke als Wertanlage zu
eines der Gotteshäuser anzünden wollen, bracht. Im Prozess berichteten die Opfer verkaufen. Etliche Firmen mit klangvol-
damit die Muslime Deutschland verließen. über die Masche. Unangemeldet hätten die lem Namen und redegewandten Vertre-
Und ja, auch über mögliche Attacken mit Männer vor der Haustür gestanden und tern sind offenbar auf dem Feld unterwegs.
Schusswaffen sei gesprochen worden. sich als Bertelsmann-Vertreter ausgegeben. Dabei lässt sich nur schwer unterscheiden,
Aber damit wolle er nichts zu tun haben: Das war gelogen. Doch die Täter wuss- wem man vertrauen kann und wem nicht.
»Ich hätte keinen eliminiert.« ten, was ihre späteren Opfer früher bei Anwälte berichten von Hunderten ver-
Als es um die geplanten Moschee-An- Bertelsmann gekauft hatten. Sie boten nun zweifelten Senioren, die guten Glaubens
griffe ging, so glaubte er sich zu erinnern, an, diese Bücher zurückzukaufen oder ei- Tausende Euro investierten und nun auf
habe sich ein Mann besonders hervorge- nen Rückkauf zu vermitteln. Gebrauchte Büchern sitzen, die schön aussehen, aber
tan: Huth, der Hinweisgeber. alte Enzyklopädien seien heute gefragt, nur einen Bruchteil des gezahlten Preises
Julia Jüttner, Martin Knobbe, sagten sie den Opfern zufolge. wert sind. Der angerichtete Schaden dürfte
Wolf Wiedmann-Schmidt Die vermeintlich lukrativen Angebote in die Millionen gehen. Die eingeschalte-
der freundlichen Besucher hatten jedoch ten Juristen versuchen zumeist, die Kauf-
48
Deutschland
verträge zu widerrufen oder das Geschäft beschwerten sich, ihnen seien Faksimiles Nun sitzen sie bei ihren Anwälten Wolf-
rückabzuwickeln. Das Strafrecht müssen als Wertanlage verkauft worden. Es folg- gang Schneider und Patrick Droll in einer
die windigen Vertreter hingegen kaum ten Prozesse und negative Schlagzeilen. Bielefelder Kanzlei. »Wir haben solche Ge-
fürchten – dass Gerichte wie in Rheine 2014 stellte das Unternehmen den Di- schichten schon etliche Mal gehört«, sagt
durchgreifen, ist sehr selten. rektverkauf ein. 400 selbstständige Han- Schneider. In einer Übersicht hat der Jurist,
»Wir sind überzeugt, dass viele Senioren delsvertreter, die für das Tochterunterneh- der sonst vor allem Wirtschaftsverfahren
mit solch erfundenen Geschichten ge- men Inmediaone unterwegs waren, muss- führt, alle offenen Verfahren aufgelistet.
täuscht werden«, sagt Oliver Klau, im Lan- ten eine neue Beschäftigung finden. Das Die Schadenssumme beträgt demnach
deskriminalamt (LKA) Berlin zuständig Unternehmen, so heißt es heute im Um- 2,25 Millionen Euro, verursacht von elf
für Betrugsdelikte. »Aber es ist nicht ein- feld von Bertelsmann, habe versucht, die verschiedenen Anbietern.
fach, das so zu belegen, dass es für eine Betroffenen in anderen Branchen unter- »Das ist ein mieses Geschäft«, sagt
Anklage reicht. Oft steht Aussage gegen zubringen. Das misslang offenbar. Etliche Schneider, »wir müssen die alten Men-
Aussage.« Zudem seien viele Senioren Vertreter scheinen einfach weiterzuma- schen warnen.« Statt aber Polizei und
überfordert, gegen die Täter vorzugehen, chen. »Eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten Staatsanwaltschaft einzuschalten, arbeitet
und erstatteten keine Strafanzeige. Daher ist auf eigene Rechnung nach wie vor aktiv, er diskret auf zivilrechtlichem Weg. »Den
komme es selten zu Strafverfahren. Das die kennen sich alle bestens«, sagt ein Geschädigten ist das Geld am wichtigs-
LKA habe aber gerade Ermittlungen gegen Manager, der anonym bleiben will. ten«, sagt er. »Was nutzt es ihnen, wenn
eine einschlägig bekannte Firma abge- Wie dreist die Verkäufer vorgehen, ein Vertreter tatsächlich strafrechtlich
schlossen und rechne damit, dass bald erfuhren Ingrid und Gerhard S. im Jahr verurteilt würde? Davon hätten sie ihr
Anklage erhoben werde, sagt Klau. 2017. Zunächst glaubten sie noch an einen Geld nicht wieder, und auch Kredite
In Rheine kam der Fall erst ins Rollen, Glücksfall, als zwei junge Männer an der liefen weiter.« Laut Schneider stehen
als eine Sparkasse wegen verdächtig ho- Tür klingelten. In den frühen Neunzigern die Chancen für seine Mandanten nicht
her Geldbewegungen auf dem Konto von hatte das Ehepaar S. eine Bertelsmann-Le- schlecht. Er hält die Verträge für Wucher,
Carsten J. einen Verdacht auf Geldwäsche xikothek gekauft, 24 blaue Bände. Später weil der Preis der Nachdrucke und der
meldete. Doch selbst vor Gericht konnten auch den Brockhaus. Seitdem verstaubten tatsächliche Wert in einem auffälligen
nicht alle Fragen geklärt werden, auch weil die Bücher im Regal. Missverhältnis stünden.
die Angeklagten beharrlich schwiegen, Dass diese Bücher alles andere als eine
etwa zu ihren Verbindungen zu Bertels- Wertanlage seien, sagt auch Balázs Jádi,
mann. Wieso verfügten die Männer über »Ein schlechtes Gefühl Abteilungsleiter Bücher im angesehenen
vertrauliche Kundeninformationen? hatte ich schon«, sagt Berliner Auktionshaus Jeschke van Vliet.
Der Gütersloher Konzern – der über das »Das Grundproblem dieses Geschäfts ist
Unternehmen Gruner + Jahr am SPIEGEL Ingrid S. Trotzdem unter- gerade der rapide Wertverlust«, so der Ex-
beteiligt ist – beteuert, nichts mit den Vor- schrieb das Paar erneut. perte. »Wenn Sie Glück haben, bekom-
fällen zu tun zu haben. Niemals seien Kun- men Sie bei einem Verkauf die Hälfte des
dendaten herausgegeben worden, heißt Ausgabenpreises, meist deutlich weniger.«
es. Im Gegenteil: In drei Rundschreiben Die Besucher boten an, die alten Bü- Manche Opfer landen irgendwann bei
seien ehemalige Kunden vor vermeint- cher zu versteigern. Allerdings müssten Kurt Rohze, Betreiber eines Antiquariats
lichen Mitarbeitern gewarnt worden, teilt die Bücher um ein Faksimile ergänzt wer- in Delmenhorst bei Bremen. Seit 30 Jah-
Bertelsmann mit. den. Im Angebot hatten die Männer als ren kauft und verkauft er die kunstvollen
Über viele Jahre hat die Firma mit ih- Nachdruck das »Gebetbuch für Kardinal Faksimiles. »Lange war das ein wunder-
rem Bücher-Klub und dem Verkauf teurer Albrecht von Brandenburg« zum Preis bares Geschäft für Buchliebhaber«, sagt
Nachschlagewerke prächtig verdient. Als von 4999 Euro. Von dem Werk, 1536/37 er. Inzwischen seien immer weniger Kun-
dieses Geschäft aber schrumpfte, brauchte verfasst, hatte das Paar noch nie gehört. den bereit, große Summen für Faksimiles
sie neue Produkte für ihre Vertreter. Ingrid S. ist Reinigungskraft, ihr Mann ar- auszugeben. Auch das Interesse von Mu-
Die Reproduktionen kostbarer Hand- beitete in einem Schlachthof. Alte Bücher seen und Bibliotheken habe nachgelassen.
schriften aus dem Mittelalter und frühneu- interessierten sie eigentlich nicht. Aber Neuerdings meldeten sich aber ältere
zeitlicher Drucke schienen perfekt geeig- die Aussicht, damit auf einer Versteige- Menschen, die ihre Nachdrucke zum Kauf
net. Sie werden aufwendig hergestellt, auf rung 42 500 Euro erzielen zu können, fan- anböten und auf das große Geld hofften.
teurem Papier gedruckt und manchmal den sie verlockend. »Am Telefon höre ich schon, dass es sich
sogar mit Gold oder Foliengold – gold- Das Ehepaar hat drei Kinder, ein Sohn nicht um Sammler handelt«, sagt Rohze.
bedrucktem Aluminium – dekoriert. Lieb- sitzt im Rollstuhl und ist arbeitslos. Gern »Ich sage dann meistens: ›Nehmen Sie erst
haber zahlen für limitierte Sammlerstücke wollten sie ihn unterstützen. Weil sie sich einmal Baldrian, bevor ich Ihnen die Wahr-
mehrere Tausend Euro. das teure Buch nicht leisten konnten, küm- heit erzähle.‹«
Bald versuchten sich Vertreter daran, merten sich die Vertreter gleich um einen Vor wenigen Tagen rief Heidrun L. aus
auch solchen Kunden die Werke schmack- Kredit. Sie sagten den Eheleuten, sie soll- Hoyerswerda an, Bertelsmann-Kundin seit
haft zu machen, die sich kaum je für la- ten sich schon einmal Gedanken machen, kurz nach der Wende. Elf Faksimiles ha-
teinische oder altdeutsche Schriften in- in welchem Gasthaus die Auktion am bes- ben ihr Vertreter unterschiedlicher Firmen
teressiert hatten. Ein Klassiker war die ten stattfinden könne. in den vergangenen vier Jahren verkauft,
»Merian Kupferbibel«, eine rund fünf Während die beiden auf die Versteige- zum »Wert eines guten Neuwagens«, wie
Kilogramm schwere Schwarte für 1700 Eu- rung warteten, stand ein anderer Vertreter sie berichtet. Der Antiquar sagte ihr, dass
ro. Für die Vertreter war der Verkauf lu- vor der Tür. Er erklärte ihnen, es fehlten er fünf der Werke bereits im Angebot
krativ, sie kassierten wegen der hohen weitere Werke in ihrer Sammlung. Er habe, für zusammen 855 Euro. Auch die
Preise satte Provisionen. schlug vor, diese über einen zusätzlichen angeblich heiß begehrte Bertelsmann-Le-
Für Bertelsmann hingegen entwickelte Kredit zu finanzieren. Dann gebe es auch xikothek steht bei ihm im Regal – 139 Euro
sich das Geschäft weniger erfreulich. Vor- einen höheren Gewinn. »Ein schlechtes für alle Bände.
schriften schränkten Haustürgeschäfte und Gefühl hatte ich schon«, sagt Ingrid S. Michael Fröhlingsdorf, Lea Hensen
die Nutzung von Adressen ein. Kunden Trotzdem unterschrieb das Paar erneut.
Schnüffelei
Anfang Januar trat der Stadtrat zusammen. Er entschied
sich mit vier zu einer Stimme dafür, ein Gerät anzuschaffen,
das sich »Nasal Ranger« nennt. Es war eine Entscheidung,
die wahrscheinlich nur durch die absolute Ohnmacht der
Stadt gegenüber den Pflanzern zu erklären ist.
Wie ein Ort in Michigan gegen den Der Nasal Ranger ist ein rüsselartiges Gerät, etwa einen
Geruch von Cannabis vorgeht halben Meter lang. Man hält es sich vor die Nase, um Ge-
ruchsbelästigungen aufzuspüren und zu messen. Es enthält
stufenweise verstellbare Luftfilter, mit deren Hilfe man fest-
E
ine Altbauwohnung in Hamburg dafür, dass sein Fall im Gedächtnis blieb, durchtrainiert und konzentriert. Er hat sich
Anfang Februar, hohe Decken, die Überschriften lauteten »Vergessen hin- ein paar Punkte aufgeschrieben, die ihm
moderne Kunst, vor dem Fens- ter Gittern« (»Süddeutsche Zeitung«) oder wichtig sind, seine »Agenda« liegt während
ter ein langer Holztisch: Jens »Lebend begraben« (ZDF), »Die Schöne des Gesprächs vor ihm auf dem Tisch. In
Söring, »Häftling 179212« und, je und der Sonderling« (»Tagesspiegel«) oder dem Interview soll es zunächst um die Tage
nach Sichtweise, »Justizopfer« oder »Ger- »Der Häftling mit den leeren Augen« nach der Freilassung gehen und dann um
man Monster«, empfängt hier, um darüber (»Westfälische Rundschau«). Auch SPIEGEL die Jahre in insgesamt sieben amerikani-
zu reden, wie man Jahrzehnte in amerika- ONLINE berichtete über den Fall. schen Gefängnissen. Am Ende werden wir
nischen Gefängnissen übersteht, wie sich Am 26. November 2019 wurde Söring auch auf die Tat zu sprechen kommen.
die Freiheit anfühlt, wie es für ihn jetzt wei- aus dem Gefängnis entlassen, nach 33 Jah- Sörings Medienberater und ein Rechts-
tergehen soll. Wo die Wohnung liegt, was ren, 6 Monaten und 27 Tagen. Am 17. De- anwalt sitzen mit am Tisch, beide achten
man vom Fenster aus sieht, wem sie gehört: zember landete er auf dem Flughafen in darauf, dass er mit seinen Äußerungen
All das soll bitte nicht genannt werden. Er Frankfurt am Main. Seine Freilassung er- nicht gegen seine Bewährungsauflagen ver-
lerne gerade wieder, was »Privatsphäre« folgte auf Bewährung. Sie ist kein Frei- stößt, dazu gehört auch »uniform and
bedeute und wie man sie schütze, sagt er. spruch. Söring bleibt rechtskräftig verur- good behaviour«, angepasstes und anstän-
Die Wohnung gehört einem von Sörings teilt. Alle Rechtsmittel sind ausgeschöpft. diges Verhalten.
»Unterstützern«, er hat Freunde in ganz Er darf nie wieder in die USA einreisen. Es ist das erste ausführliche Gespräch
Deutschland und in den USA, die sich über Im Hamburger Altbau kommt Söring, 53, mit deutschen Journalisten seit seiner Frei-
Jahre hinweg dafür eingesetzt haben, dass den SPIEGEL-Leuten auf der Treppe bis ins lassung. Es wird acht Stunden dauern, un-
Söring, mittlerweile 53 Jahre alt, aus der Erdgeschoss entgegen. Er trägt eine dunkle terbrochen nur von einer Mittagspause.
Haft entlassen wird. Hose und einen schwarzen Pullover, er ist
Am 30. März 1985 waren die Eltern sei- SPIEGEL: Herr Söring, Sie sind jetzt 52 Ta-
ner damaligen Freundin Elizabeth Hay- ge in Freiheit. Wie geht es Ihnen?
som in ihrem Haus in einem Vorort von Söring: Das waren die besten 52 Tage mei-
Lynchburg, Virginia, brutal ermordet nes Lebens. Ich bin so glücklich. Jeder Tag
worden. Nancy und Derek Haysoms Lei- ist stressig, weil alles so neu ist, aber gleich-
chen wiesen zahlreiche Stichwunden auf, zeitig einfach wunderwunderschön. Ganz
beide wurden beinahe enthauptet. Die Er- kleine Sachen sind sehr, sehr intensiv für
mittler bezeichneten den Tatort später als mich, weil ich sie in 33 ½ Jahren nicht er-
»Schlachthaus«. lebt habe. Wenn Regen auf die Erde fällt –
1990 wurde Söring, damals 23 Jahre alt, das riecht gut. Im Gefängnis durften wir
in Virginia angeklagt, das Ehepaar getötet bei Regen meistens nicht raus. Dort gibt
zu haben. In einem Indizienprozess ver- es nur Beton.
urteilte ihn der Richter zu zweimal lebens- SPIEGEL: Was ist noch schön?
langer Freiheitsstrafe. Elizabeth Haysom, Söring: Kleinigkeiten. Neben meinem Bett
PETER HÖNNEMANN / DER SPIEGEL
die Tochter der Ermordeten, war schon habe ich ein kleines Schild, darauf steht:
zuvor zu zweimal 45 Jahren Haft verurteilt »Ich muss gar nichts«. Ich habe fast mein
worden, wegen Anstiftung zum Mord. ganzes Leben unter der Kontrolle anderer
Während der Haft schrieb Söring meh- Menschen verbracht. Alles wird im Ge-
ROANOKE TIMES
rere Bücher, darunter einen Krimi, er stellte fängnis kontrolliert, auch wann man aufs
insgesamt 15 Anträge auf Entlassung. Deut- Klo geht. Man kann nie frei entscheiden.
sche Zeitungen und Fernsehsender sorgten Jetzt kann ich das. Ich habe einen Schlüs-
selbund mit einem Schlüssel, ich kann Tü-
Das Gespräch führten die Redakteure Sarah Heidi Prozessbericht 1990 ren aufmachen. Teilweise ist Freiheit noch
Engel, Hauke Goos und Simone Salden. »Ich bin unschuldig« schwierig. Im Restaurant muss man mir
helfen, weil das Angebot so groß ist. Ich det. Er hat sich für mich gefreut und gesagt: Söring: Wir saßen in der drittletzten Reihe:
war bei Edeka. Die Auswahl ist obszön. »Wir stecken dich in die Krankenstation, bis ich am Fenster und zwei US-amerikani-
Braucht der Mensch wirklich so viele ver- dich die Einwanderungsbehörde abholt. sche Beamte neben mir. Wir haben uns
schiedene Sorten Mandarinen? Im Gefäng- Damit du nicht angegriffen wirst.« So ist übers Hantelstemmen unterhalten. Als wir
nis gibt’s ein Loch in der Wand, da schieben das im Gefängnis: Wenn jemandem etwas abgehoben sind, habe ich die ganze Zeit
sie den Teller durch. Da gibt’s keine Wahl. Gutes passiert, wird er sofort zum poten- aus dem Fenster geguckt, weil ich sehen
SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass ziellen Opfer. Aber als ich in den Trakt wollte, wie wir amerikanischen Boden ver-
Sie freikommen? zurückkam, haben sich alle gefreut. Sogar lassen. Ich hatte meinen Freunden immer
Söring: Am 25. November, gegen vier Uhr einer meiner Feinde ist zu mir gekommen gesagt: Wenn wir an Island vorbei sind,
am Nachmittag. Ich saß im Gemeinschafts- und hat mir ein Highfive gegeben – vermut- haben sie nicht mehr genug Sprit, um zu-
saal des Gefängnisses Buckingham: ein lich war er froh, dass ich endlich weg war. rück nach Amerika zu fliegen. Aber diesen
Trakt für 32 Mann, da haben sie 64 Mann SPIEGEL: Was haben Sie aus dem Gefäng- Augenblick habe ich verschlafen.
reingesteckt. Ich telefonierte gerade mit nis mitgenommen? SPIEGEL: Wo haben Sie Ihr erstes Weih-
einer deutschen Unterstützerin. Ein Wär- Söring: Ich durfte nur die Brille mitnehmen. nachtsfest nach der Freilassung verbracht?
ter kam rein und sagte: »Du musst jetzt Ich hatte seit 2015 einen Beutel in meinem Söring: Hier, in dieser Wohnung. Es war
sofort zum Kontrollzentrum gehen.« Spind, darin waren eine Zahnbürste, Zahn- sehr schön. Meine Freunde und Unterstüt-
SPIEGEL: Was erwartet einen da? pasta, Seife, Shampoo, Unterwäsche, eine zer aus Bitburg, Frankfurt und London wa-
Söring: Üblicherweise gibt es nur zwei Jeans, Hemd und Schuhe. Damit ich sofort ren da, wir haben alle zusammen gefeiert.
Möglichkeiten. Nummer eins: Man hat ge- loskann. Den musste ich dalassen. Sie ha- SPIEGEL: Was haben Sie sich für das neue
gen eine Regel verstoßen und kriegt den ben mir nicht mal meine Gefängnisuniform Jahr gewünscht?
Strafzettel ausgehändigt. Nummer zwei: gelassen. Im staatlichen Gefängnis in Vir- Söring: Nichts Spezielles. Meine Wünsche
Haftentlassung. Ich habe aufgehängt, ohne ginia trug ich Jeans und ein blaues Hemd. waren ja bereits in Erfüllung gegangen.
auf Wiedersehen zu sagen. Mein Antrag Stattdessen gaben sie mir eine Art Jumpsuit. Jetzt führe ich gewissermaßen meinen
auf Entlassung war am 24. August 2016 Und ein Paar Stiefel ohne Schnürsenkel. nächsten Kampf: hier in Deutschland an-
eingereicht worden. Je länger die Entschei- SPIEGEL: Am folgenden Tag durften Sie zukommen. Ich arbeite jetzt, um mich in
dung auf sich warten ließ, desto größer tatsächlich raus. die Gesellschaft zu integrieren und mir ein
wurde meine Hoffnung. Söring: Es gibt in den Gefängnissen in Vir- neues Leben aufzubauen.
SPIEGEL: Wo brachte der Wärter Sie hin? ginia eine Art Käfig, mit einem großen Tor
Söring: Es gibt in der Kontrollzentrale ei- Söring wurde 1966 als Sohn eines deut-
nen Raum, dort habe ich etwa 20 Minuten schen Konsularbeamten in Bangkok gebo-
gewartet. Ich fühlte, wie ich nervös wurde, Er flüsterte in mein ren. Seine Kindheit verbrachte er in Thai-
meine Beine begannen ein bisschen zu zit- land, auf Zypern, in Bonn und im US-Bun-
tern. Der Gefängnisdirektor führte mich
Ohr: »Was machst du, desstaat Georgia. Von einer Privatschule
dann in einen Konferenzraum. Dort saßen wenn ich dich jetzt in Atlanta wechselte er 1984 mit einem
die Vorsitzende und die Ermittlerin des Be- in meine Zelle zerre?« Hochbegabtenstipendium an die Univer-
währungsausschusses. Sie sagten: »Wir sind sity of Virginia. Damals gab es die DDR
hier, weil wir Ihnen bedingte Entlassung ge- noch, Helmut Kohl stand am Beginn seiner
währen. Aber keine Begnadigung.« »Paro- an jedem Ende. Da fuhr ein weißer Kombi Kanzlerschaft, die Türme des World Trade
le« also, kein »Pardon«. Ich war enttäuscht. rein. Die Wärter nahmen mir die Ketten Center waren die höchsten New Yorks.
SPIEGEL: Der Unterschied zwischen »Pa- ab, die Leute von der Einwanderungs- An der Universität lernte Söring die
role« und »Pardon« hat für Sie auch eine behörde legten mir die Bundesketten an, zwei Jahre ältere Kanadierin Elizabeth
finanzielle Bedeutung. Fuß- und Handschellen. Dann ging das hin- Haysom kennen. Die beiden verliebten sich
Söring: Wenn man in Virginia begnadigt tere Tor auf, und der Wagen fuhr rück- ineinander.
wird, kann man einen Antrag auf Haftent- wärts raus. Wir fuhren an dem Zaun vor- Erst Monate nach dem Mord an Derek
schädigung stellen. Das Parlament muss bei, mit dem Natodraht und dem Schild und Nancy Haysom gerieten ihre Tochter
dann darüber abstimmen. Mir hätten »Buckingham Correctional Center«. Die und Jens Söring in Verdacht. Als die ame-
1,4 Millionen Dollar zugestanden, das hat Sonne war inzwischen aufgegangen. Der rikanische Polizei Söring um Blutproben
mir mein Anwalt gesagt. Aber nun kann Wagen bog ab, und durch die Scheibe sah und Fingerabdrücke bat, verließ er flucht-
ich den Antrag nicht stellen. Mir war sofort ich, wie das Gefängnis, in dem ich die letz- artig die USA. Elizabeth Haysom folgte ihm
klar: Ich werde in Deutschland um meine ten zehn Jahre meines Lebens verbracht wenig später. Sie reisten durch Deutsch-
Existenz kämpfen müssen. hatte, immer kleiner wurde. land, Osteuropa und Thailand. Am 30.
SPIEGEL: Wurde die Entscheidung be- SPIEGEL: Haben Sie geweint? April 1986, mehr als ein Jahr nach der Tat,
gründet? Söring: Ich habe die Zeit im Gefängnis als wurden sie in London festgenommen, weil
Söring: Die Vorsitzende des Bewährungs- Krieg empfunden und mein Leben entspre- sie mit gefälschten Schecks bezahlt hatten.
ausschusses und der Gouverneur hatten chend geführt. Ich war 33 Jahre lang im In Virginia, sagt Söring, habe er anfangs
beide gesagt, mein Antrag auf Begnadi- Krieg – und ich habe gewonnen. In dem Mo- Psychologie studieren wollen, sich dann
gung sei »without merit«, unbegründet. ment war ich einfach glücklich. Geweint aber auch für Film und das Regieführen in-
Sie würden mich nur entlassen, weil ich habe ich erst im Flugzeug, als wir über Irland teressiert. Er hat sein Studium nie beendet
zur Tatzeit jung war, eine lange Strafe ab- waren. Auf dem Bildschirm, auf dem man und auch sonst keine Ausbildung gemacht.
gesessen und mich gut geführt hätte. Mei- die Flugroute verfolgt, kann man die Karte Im Gefängnis, sagt Söring, sei das nicht
ne weitere Inhaftierung würde nur hohe bewegen. Ich habe sie zum Genfer See hin möglich gewesen.
Kosten verursachen. bewegt, wo ich als Kind oft die Ferien ver-
SPIEGEL: Wie ging es weiter? bracht habe. Ich hatte in dem Moment das SPIEGEL: Wovon leben Sie aktuell?
Söring: Sie gaben mir ein Dokument mit Gefühl, dass ich zurückkomme auf einen Söring: Momentan von der Unterstützung
den Bewährungsauflagen, etwa zehn Exem- Kontinent, wo ich einmal glücklich war. meiner Freunde. Ich habe nur ein geringes
plare, die musste ich alle unterschreiben. SPIEGEL: Was haben Sie auf dem Flug nach Einkommen.
Und dann habe ich mit dem Direktor gere- Deutschland gemacht? SPIEGEL: Bekommen Sie Geld vom Staat?
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Reporter
wurde Fitnessfanatiker, um mich wehren SPIEGEL: Sie haben mehr als drei Jahrzehn- ist das Klo, hier das Waschbecken, hier der
zu können. te im Gefängnis verbracht. Fühlen Sie sich Spind. Das Bett, der Stuhl. Hier ist die Tür.
SPIEGEL: Wo haben Sie trainiert? wie 53? Selbst für einen Gefangenen ist das eng.
Söring: Neben dem Gebäude gab es einen Söring: In mancher Hinsicht fühle ich mich SPIEGEL: Sie hatten eine Einzelzelle, die
kleinen Sportplatz mit Hanteln. Es geht da- wie 153. Es ist sehr viel passiert, ich habe doppelt belegt war?
rum, sich durch Sport aus der Opfergruppe in meiner Haftzeit kaum ein ruhiges Jahr Söring: Das ist immer so.
herauszumanövrieren. 90 Prozent der Häft- gehabt. Deshalb dieses Gefühl, dass ich SPIEGEL: Haben Sie oben oder unten ge-
linge machen gar keinen Sport, 5 Prozent viel hinter mir habe: die Intensität der schlafen?
trainieren unregelmäßig. Die letzten 5 Pro- Kämpfe, die Gefahren, die da lauern. Ich Söring: Die letzten paar Jahre unten. Das
zent sind Fanatiker. Ich war von Anfang an habe ein schweres Leben gehabt. Ich fühle ist eine Machtfrage.
einer der Fanatiker. Die Leute, die andere mich manchmal sehr alt. In anderer Hin- SPIEGEL: Unten ist besser?
vergewaltigen, erpressen oder ausrauben sicht merke ich, dass ich immer noch Söring: Viele Jahre habe ich absichtlich
wollen, gucken sich an, wer sich am leichtes- 19 Jahre alt bin. Das betrifft besonders oben geschlafen. Dort ist man sicherer,
ten zum Opfer machen lässt. Die gehen nicht Frauen: wie man sie anspricht, wie man wenn jemand einen belästigen will. Irgend-
zu den 5 Prozent, die fanatisch Sport treiben sie kennenlernt. Das ist ein Thema, das wann wollte ich nicht mehr klettern.
– sondern zu den 90 Prozent der Häftlinge, ich noch nicht kapiert habe. SPIEGEL: Sie waren 19, als Sie ins Gefäng-
bei denen kein Widerstand zu erwarten ist. SPIEGEL: Waren Sie schon mal allein, seit- nis kamen. Sucht man sich jemanden, der
SPIEGEL: Sie konnten sich also schützen? dem Sie in Deutschland sind? einem sagt, wie es drinnen läuft?
Söring: Ich konnte es. Man muss immer Söring: Am Sonntag, dem 26. Januar, als Söring: So einen wie Morgan Freeman in
und zu allem Nein sagen. Jede Schwäche, ich in Frankfurt war. Da hatte ich einen frei- dem Film »Die Verurteilten«, der einem
die du zeigst, führt zu einer Vergewal- en Nachmittag. Das hatte ich so eingeplant. alles erklärt? Nein. Es gibt keinen Morgan
tigung. SPIEGEL: Was haben Sie gemacht? Freeman im Gefängnis. Ich hatte mal je-
SPIEGEL: Was wurde aus dem Mann, der Söring: Das sage ich Ihnen nicht. Eine der manden, mit dem ich mich drei Jahre lang
Ihnen in der Dusche aufgelauert hatte? Sachen, die man im Gefängnis nicht hat, viel unterhalten habe. Ich dachte, wir wä-
Söring: Ein paar Tage später lief ich zum ist Privatsphäre. Ein Gefängnis ist ein öf- ren Freunde. Von einem Tag auf den an-
Sportplatz. Dort sah ich ihn. Ich wusste: fentlicher Raum, die Wärter können jeder- deren hat er aufgehört, mit mir zu reden.
Wenn ich jetzt zurückgehe ins Gebäude, zeit in die Zelle reinkommen. Man ist im- Ich habe ihn gefragt: Warum? »Ich hatte
werden alle das sehen. Von da an werde mer einsam, aber niemals allein. Ich muss es satt zu warten«, hat er gesagt. »Ich woll-
ich das totale Opfer sein. Dann werde ich te dich vögeln, das ist nie passiert, jetzt su-
zur Knastnutte, dann werden mich alle ver- che ich mir einen anderen.«
gewaltigen. Ich musste zu ihm gehen. Wir »Alles Äußere wurde mir SPIEGEL: Wie findet man eine Überlebens-
waren die Einzigen da draußen. strategie?
SPIEGEL: Sie haben gemeinsam Sport ge-
weggenommen. Nur Söring: Als ich zum allerersten Mal in ein
macht? ein kleiner Kern ganz tief Gefängnis reinkam, in England, stand an
Söring: Normalerweise hätte ein Häftling drinnen hat überlebt.« der Wand ein Graffito: »Bronco likes little
in dieser Situation eine Hantel genommen white boys.« Es stellte sich heraus, dass
und dem anderen den Schädel eingeschla- Bronco ein Wärter war. Ich sagte damals
gen. Habe ich nicht gemacht. Ich wollte ein Gefühl dafür entwickeln, dass es etwas zu mir selbst: Sie können dir alles nehmen,
Hanteln stemmen. Beim Bankdrücken Privates gibt, das nur mir gehört. Ich übe aber nicht deine Menschlichkeit. Ich habe
braucht man einen, der einem hilft. Ich an Ihrer Frage gerade, etwas zurückzuhal- mich an diesen Satz geklammert im Laufe
habe ihm geholfen, er hat mir geholfen. Die ten, das nur mir gehört. der Jahre. Dann wurden es Jahrzehnte,
nächsten drei Jahre, alle zehn Tage etwa, und im Laufe der Zeit habe ich diesen Satz
haben wir zusammen trainiert. Söring war 23, als er in Virginia vor Gericht mit Bedeutung ausgefüllt. Alles Äußere
SPIEGEL: Sie haben dann noch einen an- stand: ein junger Deutscher mit sehr gro- wurde mir weggenommen. Nur ein kleiner
deren Weg gefunden, sich zu schützen? ßen, dicken Brillengläsern, der wenig sagte Kern ganz tief drinnen hat überlebt. Ich
Söring: Ich habe meine Situation analy- und sich Notizen machte. Sein Prozess war musste alles daransetzen, diesen kleinen
siert. Das eigentliche Problem bestand da- einer der ersten, die live im Fernsehen über- Kern zu bewahren.
rin, dass ich in der Hierarchie zu niedrig tragen wurden. Im Zuschauerraum saßen SPIEGEL: Was heißt das?
stand. Wenn ich jemandem Schutzgeld auch sein Vater und sein Bruder. Er sei un- Söring: Das entscheidende Erlebnis mei-
zahle, signalisiere ich, dass ich schwach sicher gewesen, sagt Söring. Immer wieder nes Lebens war die Sache mit der Todes-
bin. Ich habe dann zwei große Schwarze grinste er, vor allem wenn der Staatsanwalt strafe. Wir haben alle geglaubt, dass ich
angesprochen, die ganz oben in der Ge- ihn ins Kreuzverhör nahm. hingerichtet werden würde. Ich wollte trotz-
fängnishierarchie standen. Ich habe ihnen Elizabeth Haysom war bereits drei Jahre dem vor den Europäischen Gerichtshof für
erklärt, wie wir Geld verdienen können. zuvor wegen Anstiftung zum Mord ver- Menschenrechte gehen – und es hat funk-
Wir wollten Häftlingen Geld leihen, damit urteilt worden. Im Prozess gegen ihn trat tioniert. Damals habe ich gelernt: Solange
sie Zigaretten oder Lebensmittel kaufen sie als Zeugin auf. Söring habe ihre Eltern ich irgendeinen Weg finden kann weiter-
konnten. Ich erzählte ihnen ein wenig über getötet, sagte sie. zukämpfen, kämpfe ich.
Kreditwürdigkeit. Vor allen Dingen, sagte Im Gerichtssaal wurde auch aus Briefen SPIEGEL: Muss man wütend bleiben? Oder
ich, müssten sie aufhören, ihre Kunden zu zitiert, die Söring und Haysom einander sich zur Ruhe zwingen?
verprügeln. Das hatten sie bis dahin ge- geschrieben hatten. Sie hatten darin expli- Söring: Es gab eine Phase bis zum Jahr
macht. Fünf Jahre lang war ich im Kredit- zite sexuelle Anspielungen und Gewalt- 2000, wo ich mich in Selbsthass reinge-
geschäft. Unsere besten Kunden bekamen fantasien geteilt. steigert habe. Ich bin morgens aufgestan-
zu Weihnachten sogar ein kleines Ge- den und habe angefangen, mich zu hassen.
schenk. Die anderen Gefangenen haben SPIEGEL: Wie sah Ihre Zelle aus? Weil ich so dumm gewesen war, mich in
gesehen, dass ich gemeinsam mit den bei- Söring: (nimmt sich ein Blatt Papier und Elizabeth zu verlieben und mein Leben
den Geld verdiente. Das hat mich ge- zeichnet seine Zelle auf) 2,60 mal 3,30 Me- zu zerstören. Ich habe dann angefangen
schützt. ter. Hier sind die ganzen Rohre drin, da zu meditieren, das hat mein Leben geret-
57
Reporter
dem Gefängnisladen ernährt. Statt zu früh- Söring: Die habe ich erst Jahre später gese- Das war so überwältigend für mich. Ich
stücken, bin ich für zwei Stunden rausge- hen. Ich war an jenem Tag im Gefängnis in war einfach dankbar.
gangen, weil ich den Stress abbauen muss- Brunswick in der Bibliothek. Sie hatten SPIEGEL: Haben Sie Elizabeth Haysoms
te. Ich habe Hanteln gestemmt oder bin dort Computer, die nicht mit dem Internet Eltern kennengelernt?
gelaufen. Einen Tag neun bis zehn Meilen verbunden waren, ich habe dort mein erstes Söring: Ich habe sie einmal getroffen, 30
joggen, am anderen Tag 424 Klimmzüge, Buch abgetippt. Ein Gefangener lief herum bis 45 Minuten. Bei einem Mittagessen,
215 Beugestütze und dann Brusttraining und sagte: »Mensch, da sind irgendwelche sie wollten irgendwas besprechen. Ich hat-
und Schulterheben mit 80 Pfund. Flugzeuge in die Hochhäuser geflogen.« Ich te das Gefühl, dass sie mir gegenüber kri-
SPIEGEL: Wann verliert man die Scham, sagte: »Stör mich nicht, ich arbeite an mei- tisch eingestellt waren. Elizabeths bisheri-
mit einem Fremden die Zelle und die Toi- nem Buch. Erzähl mir den Scheiß später.« ge Freunde waren ziemlich schräge Typen
lette zu teilen? SPIEGEL: Haben Sie etwas im Gefängnis gewesen.
Söring: Das wird einem schnell egal. Man gelernt? SPIEGEL: Wie sind Sie auseinander-
muss ein bisschen üben, dann geht das. Es Söring: Ich dachte immer, das Gefängnis gegangen?
gibt im Gefängnis einen Ausdruck, der lau- wäre wie eine Insel im Fluss der Gesell- Söring: Positiv.
tet: »I’ve got to use the cell.« Dann weiß schaft. Und alle Strömungen, die es in einer SPIEGEL: Wie war das Verhältnis zu Ihren
man, dass der Zellenmitbewohner gerade Gesellschaft gibt, fließen um das Gefängnis eigenen Eltern?
ein bisschen Privatheit braucht. herum. Aber das stimmt so nicht. Vieles, Söring: Schwierig. Meine Mutter war Alko-
SPIEGEL: Was ist das Schlimmste am Ge- was sich später in der Gesellschaft durch- holikerin. Es kriselte immer zwischen mei-
fängnis? gesetzt hat, fing im Gefängnis an. Die Über- nen Eltern, ich war nicht glücklich zu Hause.
Söring: Die Sinnlosigkeit. Das ist das Aller- wachung zum Beispiel. Der Strafvollzug SPIEGEL: Haben Ihre Eltern wegen des Al-
schlimmste. Das, was die Menschen kaputt- ist so etwas wie das dunkle Herz Amerikas. kohols gestritten?
macht. Deshalb nehmen so viele Drogen. Diese ganzen Gedanken zu Rache und Stra- Söring: Ja. Das war ein Thema während
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie im Gefängnis fe und Gewalt, alles wichtige Themen der meiner ganzen Jugend. Es war ein fatales
erotische Kohlezeichnungen verkauft amerikanischen Kultur, konzentrieren sich Familienleben, es hat immer zu Stress ge-
haben? in der Justiz und im Strafvollzug. führt. Die Ehe war unglücklich. Meine Mut-
Söring: Eine kurze Phase. Der Versuch, SPIEGEL: Sie waren 18, als Sie sich in Eli- ter hat getrunken, mein Vater hat gebrüllt.
mich künstlerisch auszudrücken. zabeth Haysom verliebten. Wie würden SPIEGEL: Was war schlimmer?
SPIEGEL: Angeblich hatten Sie auch mal Sie den jungen Jens Söring beschreiben? Söring: Mit meiner Mutter hatte ich eher
Investmentfonds. Mitleid. Das Brüllen meines Vaters war
Söring: Gekauft mit dem Geld, das ich für mich schwer auszuhalten.
durch das Kreditgeschäft verdient habe. »Ich habe mich
Damals konnte man ein Depot noch auf
dem Postweg eröffnen. Meine beiden Part-
nicht zum Opfer Auch beide Opfer, Derek ebenso wie Nancy
Haysom, waren zum Zeitpunkt der Tat
ner fanden das toll – die dachten, mein machen lassen. alkoholisiert.
Gott, jetzt sind wir mit dem Deutschen bei
der echten Mafia.
Darauf bin ich stolz.« In der britischen Haft gestand Söring
mehrmals, im Haus der Haysoms gewesen
SPIEGEL: Und Sie haben im Gefängnis Tai- zu sein und die Eltern seiner Freundin ge-
Chi-Unterricht gegeben. Söring: Damals waren Teenager allgemein tötet zu haben: gegenüber den Ermittlern,
Söring: Ein Mitgefangener hat mir das bei- unglaublich unsicher und nervös. Bei mir vor zwei Psychiatern, die ihn untersuchten,
gebracht. Es war der einzige Tai-Chi-Kurs war das noch verstärkt, weil ich der Klas- sowie vor einem deutschen Staatsanwalt.
im ganzen Strafsystem in allen Staaten, so- senprimus war, ein Strebertyp, der alles Die Polizei sagte, Söring habe in seinen Ge-
weit ich weiß. Das ist sonst nirgendwo er- besser wusste und der alle anderen wissen ständnissen Wissen offenbart, das nur ein
laubt worden. lassen musste, dass er alles besser wusste. Tatbeteiligter gehabt haben könne. Söring
SPIEGEL: Sie haben in einem Ihrer Bücher Auf diese Weise wurde ich mit meiner Ner- behauptet, andere Details seines Geständ-
die Schönheit beschrieben, die entsteht, vosität fertig. Das kam als Arroganz rüber. nisses stimmten nicht mit den Befunden
wenn sich die Männer beim Tai-Chi im SPIEGEL: Sie kamen mit einem Stipendium am Tatort überein.
Gleichklang bewegen. an die Uni. Söring hatte vor dem Europäischen Ge-
Söring: Alles im Gefängnis ist so hässlich. Söring: In dem Studentenwohnheim leb- richtshof für Menschenrechte dagegen ge-
Schönheit sticht jedem sofort ins Auge. ten etwa 250, 300 Leute, alle hochbegabt. klagt, nach Virginia ausgeliefert zu werden,
Das ist wie eine kleine Explosion. Ich hatte sehr viele soziale Kontakte. Bis weil es dort die Todesstrafe gibt. Erst als
SPIEGEL: Haben Sie im Gefängnis Heirats- dahin war ich nie mit einem Mädchen zu- Virginia zusagte, im Falle einer Verurtei-
anträge bekommen? sammen gewesen. Elizabeth war zwei Jah- lung auf die Todesstrafe zu verzichten, wur-
Söring: Natürlich gab es ab und zu mal ro- re älter als ich. Sie war aus dem Internat de er an die USA ausgeliefert.
mantische Briefe. Auf der Grundlage, dass in Großbritannien ausgebüxt, hatte auch
ich unschuldig bin. lesbische Beziehungen gehabt. An der Uni SPIEGEL: Hat Ihre Familie während der
SPIEGEL: Entwickelt sich aus so einer Brief- war sie der Star. Ich hatte mir gar keine Haftzeit in Großbritannien und während
freundschaft mehr? Gedanken gemacht, dass sie irgendwie an des Prozesses zu Ihnen gestanden?
Söring: Ich habe mich in meiner gesamten mir interessiert sein könnte. Sie hatte so Söring: Natürlich.
33-jährigen Haftzeit einmal auf eine ro- viel erlebt. Sie schien mir wie ein Mentor SPIEGEL: Wann hat sich das geändert?
mantische Beziehung mit einer Frau ein- zu sein, der sich Zeit nimmt, um mir die Söring: 1997 starb meine Mutter. 2001 kam
gelassen, von Ende 2003 bis Anfang 2005. Welt zu erklären. es zu einem Zerwürfnis zwischen meinem
Sie hat mich besucht und anderthalb Jahre SPIEGEL: Warum, glauben Sie, hat sich Eli- Vater, meinem Bruder und mir. Seit 2001
lang gewartet, dass ich rauskomme. Dann zabeth Haysom in Sie verliebt? habe ich keinen Kontakt mehr.
hat sie die Geduld verloren. Söring: Mir kam der Gedanke gar nicht, SPIEGEL: Warum nicht?
SPIEGEL: Kennen Sie die Bilder, wie die dass sie in mich verliebt sein könnte, des- Söring: Mein Bruder und mein Vater ha-
Flugzeuge am 11. September 2001 ins halb war ich so schockiert. Ausgerechnet ben unter der Situation auch sehr gelitten,
World Trade Center fliegen? ich! Ich konnte mein Glück nicht fassen. und sie haben nun ein Recht auf Privat-
(Söring nickt.)
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Söring: Ich denke, das wird ein schöner
Moment sein, wenn ich endlich mal halb-
wegs normal sein werde, wenn ich nicht
mehr so ein Sonderling bin. Eine Art Freak.
SPIEGEL: Sie schreiben im aktualisierten
Vorwort Ihres Buchs »Nicht schuldig«, Sie
würden gern eine Familie gründen, Vater
sein. Was würden Sie Ihrem Kind mit-
geben wollen? Worauf kommt es an im
Leben?
Söring: Nie aufzugeben. Immer weiter zu
kämpfen. Egal wie lange es dauert. Man
kann Unmögliches schaffen, wenn man
nicht aufgibt.
SPIEGEL: Sie haben vorhin gesagt, Sie
kennen sich nach mehr als 30 Jahren im
Gefängnis nicht besonders gut mit Frauen
MICHAEL PROBST / AP
aus.
Söring: Meine bisherige Erfahrung mit
Frauen ist, dass sie viel direkter sind als
früher. Nicht mehr so zurückhaltend. Sie
sagen einfach, was sie wollen.
61
Wirtschaft
Luftfahrt Tochter war im vergangenen schen dem PSV und der Con- wirtschaftlichen Lage ganz
Oktober unter ein Schutz- dor-Führung kommen. An oder teilweise« wieder rück-
Poker um Condor- schirmverfahren geflüchtet, dem Tag entscheiden die Gläu- übertragen werden können.
Betriebsrenten eine Art Insolvenz light, und biger, darunter auch der PSV, Bleibt die Condor-Führung
hatte sich so ihrer Betriebs- über den Insolvenzplan. Der hart, will der PSV am 12. März
Der geplante Verkauf der rentenlast in Höhe von rund PSV besteht darauf, dass LOT Beschwerde einlegen und
Ferienfluglinie Condor an einer halben Milliarde Euro als neuer Eigner für die Pen- notfalls sogar das Landgericht
die polnische Fluggesellschaft entledigt. Für sie kommt jetzt sionszusagen an die Condor- Frankfurt anrufen. Bis das
LOT könnte sich verzögern. der Pensions-Sicherungs- Mitarbeiter geradesteht. Dabei Gericht entschieden hat, läge
Grund sind die Pensionsver- Verein (PSV) auf, der von allen beruft er sich auf das Betriebs- der Insolvenzplan erst einmal
pflichtungen der Firma gegen- deutschen Firmen finanziert rentengesetz. Es sieht vor, dass auf Eis. Ein Condor-Sprecher
über ihren knapp 5000 Mitar- wird. Am 12. März könnte es die Rentenzusagen »bei einer betont, der PSV werde ohne-
beitern. Die einstige Lufthansa- nun zu einem Showdown zwi- nachhaltigen Besserung der hin bevorzugt behandelt. DID
J. EDELSON / GETTY
durch. Die Verkäufer erklär- Produkt zinsfrei finanziert Ökonom Gabriel durchschnittlichen Stunden-
ten wesentliche Eckpunkte werden konnte. ASE Zucman, 33, gilt löhne zuletzt gestiegen sind.
als geistiger Während die unteren Schich-
Vater der radika- ten aber unter steigenden
len Steuerpläne Mieten, Schulgebühren und
Kohleausstieg zu nehmen und das Kohleaus- des demokratischen Präsident- Gesundheitsausgaben leiden,
stiegsgesetz »wenn nötig auch schaftsbewerbers Bernie haben die Wohlhabenden von
GroKo will Gesetz zu verändern«. So war in Sanders, der derzeit bei den Trumps Steuerreform profi-
nachbessern den Empfehlungen der Kohle- US-Vorwahlen führt. tiert. Was wir erleben, ist kein
Kommission nicht geplant, Aufschwung für die Unter-
Die schwarz-rote Koalition den Betreibern nur bis 2027 SPIEGEL: Sie haben die Argu- schicht, sondern eine aggres-
plant Nachbesserungen am eine Entschädigungen zu zah- mente für Sanders’ Reichen- sive Form von Plutokratie.
Kohleausstiegsgesetz, das im len, wie Altmaiers Entwurf es steuern geliefert. Glauben SPIEGEL: Wie kommen Sie
vergangenen Monat vom nun vorsieht. SPD-Mann- Sie wirklich, dass die den US- darauf?
Bundeskabinett beschlossen Westphal befürchtet langwie- Bürgern zu vermitteln sind? Zucman: Seit Trumps Steuer-
worden war. Im Blick haben rige Schadensersatzprozesse, Zucman: Allerdings. Diese reform zahlen Milliardäre einen
die Parlamentarier dabei die insbesondere für Kraftwerke, Konzepte sind sogar äußerst geringeren Steuersatz als
Betreiber von Steinkohle- die erst vor wenigen Jahren populär, wie Umfragen bele- Durchschnittsverdiener, und
kraftwerken, die sich über eröffnet wurden, etwa das in gen. Es gibt eine große Sehn- die Schere zwischen Arm und
den Gesetzentwurf aus dem Lünen. »Investoren müssen sucht nach einer Politik, die Reich geht weiter auseinander.
Bundeswirtschaftsministeri- sich darauf verlassen können, der wachsenden Ungleichheit In den Fünfzigerjahren brachte
um beschwert hatten. Der dass durch politische Verände- in den Vereinigten Staaten die Unternehmensteuer in den
wirtschaftspolitische Sprecher rungen der Transformations- etwas entgegensetzt. USA ein siebenmal so hohes
der SPD, Bernd Westphal, prozess fair gestaltet wird«, SPIEGEL: Sanders könnte Aufkommen wie die Lohn-
fordert, deren Belange ernst sagt Westphal, der die in der aber auch die Mittelschicht zu steuer, heute ist es umgekehrt.
kommenden Woche starten- Trump treiben. SPIEGEL: Auch demokratisch
den Beratungen im Parlament Zucman: Sanders hat ein gesinnte Ökonomen warnen,
für die SPD leitet. Denkbar anderes Kalkül. Mit seinen dass Ihre Pläne das Wachs-
sei, die Umrüstung von Kohle- Forderungen nach höheren tum schwächen könnten.
kraftwerken auf den Betrieb Mindestlöhnen, einer allge- Zucman: Die Geschichte der
mit Gas stärker zu fördern. meinen Krankenversicherung USA legt eher den gegenteili-
Dies wäre für die Versorgung und dem Erlass von Studien- gen Schluss nahe. Nach dem
mit Strom und Fernwärme gebühren will er jene Wähler- Zweiten Weltkrieg lag der Steu-
wichtig, die Energiekonzerne schichten ansprechen, die ersatz für Spitzenverdienste
müssten allerdings »verläss- schon seit Jahren nicht mehr zwei Jahrzehnte lang bei 90
liche Anreize« bekommen, mitbestimmen: die Jungen, die Prozent, trotzdem wuchs die
MARIUS BECKER / DPA
damit sich ihre Investition Arbeiter, die Minderheiten. Wirtschaft schneller als heute.
lohne, so Westphal. Sein Das ist ein riesiges Potenzial. Ich sehe deshalb keinen Grund,
CDU-Kollege Joachim Pfeiffer SPIEGEL: Viele Experten warum die Wirtschaft unter
verfolgt ähnliche Ziele. verweisen auf Trumps gute moderaten Vermögensteuern,
»Meine Fraktion hat noch Wirtschaftszahlen, sogar für wie wir sie vorschlagen, zu-
Kohlekraftwerk in Lünen einigen Änderungsbedarf.« GT die unteren Schichten. sammenbrechen sollte. MSA
63
Wirtschaft
In Teslas Revier
Autoindustrie Im fünften Jahr nach Dieselgate bemüht sich Volkswagen um ein Comeback
in den USA. Dabei hilft ausgerechnet ein Milliardenprojekt, das als Strafe gedacht war.
D
as Testlabor versteckt sich in Der Fahrer des Chevrolets heißt Gio- Hier in Amerika hatte der Dieselbe-
einem Industriegebiet in Reston, vanni Palazzo und ist Chef des Großpro- trug begonnen. Hier hatten VW-Ingenieu-
Virginia, nahe dem Washingtoner jekts, dessen Name in schwarzen Lettern re schon im Jahr 2007 Betrugssoftware
Flughafen. In einer Wellblechhal- an der Rückwand der Halle prangt: »Elec- verbaut, um die Abgaswerte zu fälschen.
le sitzen vier Männer an Klapptischen und trify America«. »Wir wollen den Wechsel Um sicherzustellen, dass sich der Skandal
starren auf Laptops. Nichts scheint sie zum E-Auto so einfach wie möglich ma- nicht wiederholt, musste der Konzern
bei ihrer Arbeit zu stören; die Männer bli- chen«, sagt er, »Elektromobilität soll in hohe Entschädigungen zahlen. Nebenbei
cken nicht einmal auf, als das Rolltor am den USA endlich Realität werden.« soll er der E-Mobilität in den USA zum
Eingang hochfährt – und ein gelbes Elek- Nichts in der Halle deutet darauf hin, Durchbruch verhelfen.
troauto der US-Marke Chevrolet in die wer hinter dem Milliardenprojekt steckt. Ausgerechnet diese Strafarbeit könnte
Halle gleitet. Die US-Regierung, einer der Tech-Konzer- VW nun zum Comeback in den Staaten
Das E-Mobil hält vor einer Reihe von ne aus dem Silicon Valley? Nein, es ist ein verhelfen. Denn der einstige Abgassünder
weißen Metallpfeilern. Die Apparate strah- Autohersteller aus Deutschland: Volkswa- verkauft dort mittlerweile keine neuen Die-
len grünes Licht aus. An ihren Seiten bau- gen. Der Konzern verfolgt den Plan dis- selautos mehr, er setzt auf dem nach China
meln dicke, schwarze Kabel. Es sind Zapf- kret. Denn Electrify America ist für VW zweitgrößten Automarkt der Welt zuneh-
säulen für Elektroautos aller Fabrikate – kein Vorzeigeprojekt, sondern eine Straf- mend auf E-Mobilität, mit dem klaren Ziel,
egal ob Tesla, Porsche oder Chevrolet. Sie arbeit. Der Aufbau eines Ladenetzes ist zum globalen Marktführer aufzusteigen.
sollen später zu Tausenden aufgestellt Teil des rund 20 Milliarden Dollar teuren Das Ladenetz ist da ein zentrales Ver-
werden, auf Parkplätzen und an Auto- Vergleichs, den der VW-Konzern nach der kaufsargument. Die Stromtankstellen sind
bahnraststätten von der Ost- bis zur West- Dieselaffäre mit der US-Justiz abgeschlos- nämlich schon vorhanden, wenn VW seine
küste der USA, von Kanada bis Mexiko. sen hat. Elektroautos auf den Markt bringt. »Da-
mit befreien wir die Kunden von ihrer
Reichweitenangst«, sagt Scott Keogh, VW-
Neue Werte Mobile Zukunft Landeschef in den USA.
7
Die größten Autohersteller nach Börsenwert, Verkaufte E-Autos* auf dem US-Markt, Ohne den Zwang durch die US-Behör-
32
64
STEPHEN VOSS / DER SPIEGEL
Electrify-America-Chef Palazzo
lion Einheiten pro Jahr. Es geht also um spitze hielt man das für ein unsicheres le sich »vom Diesel-Schmuddelkind zum
viel. Deshalb hat Diess dem VW-Konzern Geschäftsmodell, darum sollten sich lie- Elektro-Gorilla«, warnte das US-Fach-
einen radikalen Wandel verordnet. Er will ber die Energieversorger kümmern. Doch portal E&E News.
Tesla schlagen, um nicht vom E-Auto-Pio- schon bald beurteilte VW das anders. Mittlerweile hat sich die Stimmung ge-
nier abgehängt zu werden. 60 Milliarden Als im Herbst 2015 der Abgasbetrug dreht. Electrify America und Chargepoint
Euro sollen in Elektroautos und Digitali- aufflog, änderte sich Palazzos internes haben 2019 ihre Netze verbunden, mehr
sierung fließen – ein gigantisches Unter- Standing schlagartig. Der Italiener saß mit als 30 000 Ladepunkte können nun be-
fangen. am Tisch, als VW-Juristen den Milliarden- quem von Kunden beider Anbieter ge-
Die Aufholjagd kann nur gelingen, vergleich in den USA aushandelten, der nutzt werden. Auch zum VW-Rivalen
wenn der Konzern alle Weltmärkte mit den Konzern auch verpflichtet, zwei Mil- Tesla, dem Betreiber des derzeit größten
konkurrenzfähigen E-Modellen versorgt. liarden Dollar in ein landesweites Lade- Schnellladenetzes in den USA, pflegt Pa-
Dazu gehören auch die USA, wo die Mar- netz zu investieren. Mindestens bis Ende lazzo Kontakt. Man trifft sich, um gemein-
ke VW derzeit auf klägliche zwei Prozent 2026 muss VW das Netz aufbauen, betrei- sam Stromtankstellen zu planen und mit
Marktanteil kommt. ben und instandhalten. Behörden oder Versorgern zu verhandeln.
Jahrelang setzten die Car-Guys aus Im Sommer 2018 wurde Palazzo in die Die Wettbewerber eint das Interesse,
Wolfsburg auf Dieselautos als vermeint- USA versetzt, als Chef von Electrify Ame- ihre Ladeinfrastruktur möglichst zügig aus-
lich umweltfreundliche Motorisierung. rica, einer hundertprozentigen VW-Toch- zubauen. Doch während Tesla ein ge-
Der »Clean Diesel« sollte in Europa und ter. Nahe der US-Hauptstadt Washington, schlossenes Netz betreibt, das andere Mar-
Amerika Milliardenerlöse einspielen. Elek- D. C., rund 6600 Kilometer von Wolfsburg ken ausschließt, ist Electrify America zur
troautos hielten die Konzernstrategen für entfernt, hat er sich ein kleines E-Reich ge- Neutralität verpflichtet. Elektroautos aller
Nischenprodukte. Erst um das Jahr 2010 schaffen. In den Büros in Reston, unweit Hersteller dürfen die Schnellladesäulen be-
herum begannen sie, sich intensiver mit des Testlabors, arbeiten rund 80 Leute da- nutzen. Ein klarer Vorteil, sagt Palazzo:
E-Mobilität zu beschäftigen. Sie holten ran, das Ladenetz auszubauen. Sie suchen »Mit einem offenen Netz können wir viel
einen jungen Daimler-Manager aus Ita- Standorte, beantragen Baugenehmigun- mehr Nutzer gewinnen und ein stabiles
lien, der dort den Elektro-Smart auf den gen, verhandeln mit Behörden und Ener- Geschäftsmodell entwickeln.«
Markt gebracht hatte: Giovanni Palazzo gieversorgern. Viele kommen von Konkur- Die Zahl der aktuell rund 1800 Schnell-
sollte für VW Ideen entwickeln, wie man renten wie BMW, Ford oder Tesla. Nur je- ladesäulen soll sich bis Ende 2021 fast
mit E-Mobilität Geld verdienen konnte. der Zehnte kommt von Volkswagen. verdoppeln. Wenn Electrify America in
Doch in Wolfsburg hatte er anfangs einen Die räumliche und kulturelle Distanz diesem Tempo weitermacht, könnte das
schweren Stand. zur VW-Zentrale ist nötig, um Misstrauen Unternehmen bis Ende 2026 etwa 1600
Sein Vorschlag, ein eigenes Ladenetz abzubauen. Andere Netzanbieter wie Stationen mit mehr als 7000 Ladesäulen
aufzuziehen, um der E-Mobilität zum Chargepoint fürchteten zunächst, Electrify aufgestellt haben.
Durchbruch zu verhelfen, stieß damals im America werde sie mithilfe der VW-Mil- Längst verfolgt Palazzo eine Wachs-
Management auf Skepsis. In der Konzern- liarden ausbremsen. Volkswagen verwand- tumsstrategie, die über Amerika und das
Tschüss,
Die Szenarien liegen so weit auseinan- Dumm nur, wenn die Warnungen ver-
der, weil sie von unterschiedlichen Annah- hallen. Denn schon im letzten Bericht von
men ausgehen, wie sich Demografie und 2016 war von drohenden Tragfähigkeits-
Überschuss
Wirtschaft entwickeln. Sinkt beispielswei- lücken die Rede – relativ wie absolut fielen
se die Arbeitslosigkeit oder arbeiten mehr sie damals allerdings noch geringer aus.
Frauen, kassiert der Staat mehr Steuern Die finanzpolitische Zögerlichkeit der
und muss weniger für Sozialleistungen Koalition hat die Probleme offensichtlich
Finanzen Die Regierung ausgeben. nicht gelöst, sondern verschärft, trotz Dau-
rechnet langfristig Von ausgeglichenen Etats, Überschüs- erwachstum, Rekordbeschäftigung und
sen gar muss die Republik laut der Pro- Überschüssen.
mit einer Finanzlücke von bis gnosen Abschied nehmen. Im schlechteren Scholz’ Fachleuten ist diese Erkenntnis
zu 140 Milliarden Euro. Fall dreht der Staatshaushalt bereits 2025 offenbar peinlich. Jedenfalls weisen sie in
Schon 2025 droht ein Defizit. ins Rote. Bis zum Jahr 2060 stiege das jähr- ihrem Bericht selbst nicht darauf hin: Der
liche Defizit auf fast 14 Prozent vom BIP, Vergleich zu früheren Projektionen, sonst
nach heutigen Maßstäben fast eine halbe üblich, fehlt diesmal.
67
Wirtschaft
Das Europäische Patentamt (EPA) mit Sitz gang auf Wunsch auf zehn Tage oder sogar 20 Prozent von kleinen und mittleren
in München ist keine EU-Behörde, sondern eine Woche abzukürzen. Betrieben und der Rest von Universitäten
basiert auf einem Patentübereinkommen, SPIEGEL: Wie viele Patentgesuche lehnen und Forschungseinrichtungen.
das 38 Staaten unterzeichnet haben. Sein Sie ab? SPIEGEL: Was auch daran liegen kann, dass
Jahresetat von rund 2,5 Milliarden Euro Campinos: Im Durchschnitt der vergange- Konzerne mit großen Budgets und Rechts-
speist sich aus den Gebühren der Patent- nen Jahre lehnen wir knapp die Hälfte ab. abteilungen unfaire Vorteile haben. Man-
anmelder. Der Portugiese Campinos, 51, ist Etwa ein Drittel der Anmelder zieht den che kaufen ganze Portfolien an Patenten
seit Juli 2018 Präsident des Amts. Antrag zurück – vor allem wenn unsere auf. Wer heute in die Chipproduktion ein-
erste Einschätzung negativ ausfällt. Unsere steigen wollte, müsste erst mal Patente für
SPIEGEL: Herr Campinos, Patente wurden Anmeldungen sind zuletzt jeweils jährlich dreistellige Millionensummen lizenzieren.
erfunden, um das geistige Eigentum von um fast fünf Prozent auf neue Höchstwerte Campinos: Diese Sichtweise ist mir zu ein-
Erfindern zu schützen, ihre Investitionen gestiegen, 2018 waren es 174 000. seitig. Smartphones stecken voller Patente,
abzusichern und damit Innovation anzu- SPIEGEL: Viele Erfinder kritisieren aller- und doch gibt es eine Menge Hersteller.
kurbeln. Erfüllen sie diesen Zweck noch? dings die hohen Kosten. Sie sind erschwinglich, fast jeder hat eines
Campinos: Wir haben das von unserem Campinos: Für die erste Abfrage und Ein- in der Tasche.
Chefökonomen untersuchen lassen, die schätzung fallen rund 1500 Euro Amts- SPIEGEL: Dennoch nutzen viele Firmen
Zahlen sprechen für sich. Industrien, die gebühren an, bis zur Gewährung des Pa- Patente bloß, um mögliche Wettbewerber
in hohem Maß geistige Eigentumsrechte tents etwa 5000 Euro. in Schach zu halten, statt ihnen gegen
nutzen, stehen für 45 Prozent der EU-Wirt- SPIEGEL: Damit liegen Sie preislich weit Lizenzgebühren die Nutzung zu erlauben.
schaftsleistung, mehr als 80 Prozent aller oben. Eine Anmeldung beim Deutschen So wird Innovation eher verhindert als ge-
Exporte, und sie zahlen bis zu 47 Prozent Patent- und Markenamt ist deutlich güns- fördert.
höhere Löhne. tiger. Campinos: Es gibt diese ruhenden Patente,
SPIEGEL: Da reden wir über etablierte Un- Campinos: Die Kollegen vergeben aller- wie viele genau das sind, untersuchen wir
ternehmen. Doch taugt das in der Indus- dings auch nur ein Schutzrecht für den gerade. Nach der Finanzkrise haben aber
triegesellschaft gereifte Patentsystem für deutschen Markt, bei uns gilt es für bis zu auch große Konzerne ihr Patentportfolio
die neue digitale Wirtschaftswelt? Wie lan- 38 Mitgliedstaaten sowie für sechs weitere reduziert. Tausende unprofitable Patente
ge braucht ein Patentantrag bei Ihnen? Märkte. Wirklich hohe Kosten entstehen auf vielen Märkten zu besitzen – das geht
Campinos: Er durchläuft verschiedene sowieso erst, wenn Ihr europäisches Patent selbst bei den Großen ins Geld.
Stufen, insgesamt dauert es im Schnitt vier erteilt worden ist. Dann müssen Sie es SPIEGEL: Prominente Stimmen wie der
bis fünf Jahre, bis wir ein Patent formal meist mehrfach übersetzen lassen und jähr- Nobelpreisträger Joseph Stiglitz fordern
erteilen können. liche Gebühren bezahlen, um es zu erhal- eine grundlegende Reform des Patentsys-
SPIEGEL: Im Digitalzeitalter ist das eine ten. Häufig brauchen Sie auch Patent- tems, andere sogar seine Abschaffung.
Ewigkeit. Bis dahin sind Ideen doch längst anwälte. Und wenn es zum Streit kommt Campinos: Nicht das System an sich ist
kopiert oder technisch überholt. und die Sache vor Gericht geht, kostet das schlecht, es sind Einzelne, die es missbrau-
Campinos: In der wichtigen ersten Phase in manchen Staaten schnell eine halbe bis chen. Ich sehe keine ernsthafte Alternative
nach einer Anmeldung sind wir deshalb eine Million Euro. zum Patent, es gibt nichts Besseres. Un-
besonders schnell. Unsere Experten befra- SPIEGEL: Verständlich, dass das auf einige ternehmen, die über zehn Jahre ein neues
gen mit hauseigenen Suchmaschinen un- Tüftler abschreckend wirkt, oder? Molekül entwickeln und Hunderte Millio-
sere Datenbanken, ob das Beschriebene Campinos: Das Bild vom einsamen Erfin- nen dafür ausgeben, werden ihre Investi-
tatsächlich neu ist und sich nicht direkt aus der in seiner Garage, der einen Geistesblitz tionen immer absichern müssen. Das Pa-
dem Stand der Technik herleiten lässt – hat, ist weitverbreitet und sehr romantisch. tentsystem ermöglicht das.
ob es also wirklich erfinderisch ist. Zudem In der Realität kommen 70 Prozent un- SPIEGEL: Es gibt auch andere Methoden,
prüfen wir, ob es einen technischen Cha- serer Anmeldungen von Großkonzernen, sich zu schützen, etwa durch Urheber-
rakter hat und gewerblich anwendbar ist. rechte, Markenschutz oder Geschäfts-
Nach dieser Recherche bekommen Sie geheimnisse.
eine ausführliche erste Einschätzung. Erfindergeist Campinos: Sicher, aber wenn wir Patente
Wenn die positiv ausfällt, haben Sie eine Europäische Patentanmeldungen, 2018 Quelle: EPA abschaffen, werden wir in einer Welt voller
174 317
hohe Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Patent Geschäftsgeheimnisse wie der Coca-Cola-
erteilt wird. Damit können Sie zu Banken Formel landen. Das wäre intransparent
und Wagniskapitalgebern gehen, um eine und innovationshemmend. Unsere Daten-
Finanzierung zu bekommen. 4,6 % mehr als im Vorjahr
bank EspaceNet ist kostenlos öffentlich
SPIEGEL: Was heißt besonders schnell? davon erhalten eine einsehbar. Sie umfasst 110 Millionen
etwa 50 % Patenterteilung
Campinos: Aktuell brauchen wir für die Patentdokumente, die per Knopfdruck in
erste Stufe im Schnitt etwas mehr als vier der Patentgesuche 31 Sprachen übersetzt werden können.
rund 70 % kommen von Großkonzernen
Monate, damit sind wir weltweit spitze. Das ist ein Schatz, der stets zugänglich
Unser US-Pendant braucht erheblich län- 4 bis 5 Jahre dauert die Prüfung
im Durchschnitt
bleibt. Niemand muss das Rad neu erfin-
ger. Mir reicht das aber nicht, ich möchte den. Innovatoren können auf der Arbeit
unseren Anmeldern anbieten, den Vor- rund 5000 € kostet die Patentgewährung ihrer Vorgänger aufbauen.
68
ROBERT BREMBECK / DER SPIEGEL
Behördenchef Campinos im Sitzungssaal des EPA: »Wir erteilen Patente nur an Menschen als Erfinder, nicht an Maschinen«
SPIEGEL: In der Tech-Branche haben man- Patentrecht kann aber auch hier eine Ba- Campinos: Nehmen Sie das autonome
che Firmen längst größere Forschungsetats lance zwischen den verschiedenen Interes- Fahren. Die Algorithmen, die es möglich
als viele Staaten. Kleine und mittlere Un- sen schaffen. machen, sind nicht patentierbar – sehr
ternehmen sind da doch völlig chancenlos. SPIEGEL: Ihr Amt hat allerdings schon wohl aber ihr Zusammenspiel mit den im
Campinos: Es gäbe für viele dieser Kritik- Hunderte solche Patente erteilt, für die Auto verbauten Chips und Sensoren. Also
punkte längst eine Lösung, das europäi- Anti-Matsch-Tomate beispielsweise oder den Erfindungen, die Autos zu autonomen
sche Einheitspatent. Damit würde ein ein- Verfahren zur Schweinezucht. Wahrnehmungen und Entscheidungen
heitliches Gericht geschaffen. Ein Großteil Campinos: Als Präsident bin ich unpartei- befähigen.
der bisherigen Kosten fiele weg, etwa für isch und halte mich an unsere Regeln. Da- SPIEGEL: Und was passiert, wenn künst-
Übersetzungen und Anwälte in jedem nach dürfen wir keine Patente für Lebe- liche Intelligenz Dinge erfindet?
Land. Bei einer vollen Laufzeit von 20 Jah- wesen ausstellen, wenn es im Kern um bio- Campinos: Einen solchen Fall hatten wir
ren würden die gesamten Gebühren bei logische Züchtungsverfahren geht – also gerade. In zwei Anmeldungen tauchte ein
etwa 35 000 Euro liegen, nicht mehr bei wenn etwa Samen gekreuzt werden. An- gewisser »Dabus« als Erfinder auf – eine
170 000 Euro wie bisher. Zudem sieht es ders sieht es für gentechnisch veränderte Maschine mit künstlicher Intelligenz. Wir
explizit Rabatte für kleinere Unternehmen Pflanzen und Tiere aus, wo die Erfindung haben beide Gesuche abgelehnt, denn wir
vor, die das Spiel bislang vielleicht nicht auf einem technischen Schritt beruht, etwa erteilen Patente nur an Menschen als Er-
ganz so gut beherrschen. Und es schafft auf einer transgenen Veränderung. Im Üb- finder, nicht an Maschinen. Es war unser
größere Anreize, Patente nicht zu horten, rigen können alle von uns erteilten euro- erster Fall dieser Art, aber es wird wohl
sondern an andere zu lizenzieren. päischen Patente juristisch angefochten nicht der letzte bleiben.
SPIEGEL: Warum gibt es dieses Einheits- werden – was in den von Ihnen genannten SPIEGEL: Haben Sie eine Lieblingserfin-
patent nicht längst? Fällen auch geschehen ist. Beide Patente dung?
Campinos: Vor zwei Jahren hatten wir den bestehen nicht mehr. Campinos: Ah, das ist nicht leicht. Ich ver-
Punkt erreicht, an dem das einheitliche Pa- SPIEGEL: Auf Software kann man bei rate Ihnen meine Lieblingserfinderin: Das
tent und das dazugehörende Gericht hätten Ihnen keine Patente anmelden, auf An- ist die Molekulargenetikerin Margarita
starten können. Leider ist in Deutschland wendungen der künstlichen Intelligenz (KI) Salas, die leider im November verstorben
eine Verfassungsbeschwerde dagegen an- hingegen schon. Können Sie das erklären? ist – kurz nachdem wir sie mit dem euro-
hängig, die von einem Patentanwalt ein- Campinos: Das mag verwirren, zugege- päischen Erfinderpreis für ihr Lebenswerk
gereicht wurde. Wir rechnen mit einer Ent- ben. Hinter KI stecken Algorithmen, deren ausgezeichnet haben. Sie hat einen Weg
scheidung noch im ersten Quartal. Software als solche wir nicht patentieren. gefunden, DNA-Spuren von Tatorten zu
SPIEGEL: Wie stehen Sie zu der hoch um- Auf die technischen Lösungen insgesamt, replizieren – sodass selbst die smartesten
strittenen Patentierung von Pflanzen und die auf künstlicher Intelligenz beruhen, er- Kriminellen heute anhand kleinster DNA-
anderen Lebewesen? teilen wir Patente – solange sie wirklich Spuren überführt werden können.
Campinos: Als Privatperson verstehe ich, neu und erfinderisch sind. Interview: Marcel Rosenbach
dass viele Vorbehalte dagegen haben. Das SPIEGEL: Was heißt das konkret?
Keine Zinsen?
Jetzt auf Wertpapiere umsteigen!
Winner 2020
Bester Zertifikate
Emittent
Primärmarkt
DekaBank Deutsche Girozentrale. Quelle Statistik: Onlinebefragung Institut Kantar im Auftrag der DekaBank, Oktober 2019.
* Mehr Informationen zum Scope Zertifikate Award: www.scope-awards.de/awards-2020/zertifikate-awards
Wirtschaft
73
Ausland
Es mag Zufall gewesen sein, dass die Gewalt gerade dann aus-
Die Hassprediger brach, als US-Präsident Donald Trump zu Besuch war. Dass die
Lage eskalieren könnte, hatte sich allerdings abgezeichnet.
Analyse In Indien sind Hindus und Muslime Seit Monaten schürt die hindunationalistische BJP von Pre-
mier Narendra Modi Hass und Misstrauen gegen Muslime.
aufeinander losgegangen. Die Regierung trägt eine Die Regierung hat ein Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet,
Mitschuld an den Ausschreitungen. das die Zugehörigkeit der rund 200 Millionen Muslime infrage
stellt, Indiens größter Minderheit. Modi unterstellte Demons-
Drei Tage lang tobte in Delhi der Mob. Gewalttätige Männer tranten, die gegen das Gesetz protestieren, Lügen zu verbreiten.
zogen, bewaffnet mit Eisenstangen, Molotowcocktails und Ein Staatsminister forderte seine Anhänger auf: »Erschießt die
Pistolen, durch die Straßen. Nun sieht es im Nordosten der indi- Verräter!« Genau dieser Satz ist zum Slogan der Randalierer
schen Metropole fast so aus wie nach einem Krieg: Autos sind geworden. Als Auslöser für die Gewalt gilt zudem die Rede eines
verkohlt, Häuser beschädigt. Auf den Straßen liegen Steine. Der BJP-Politikers am Sonntag. Darin drohte er, dass sie losschlagen
Geruch von Rauch hängt in der Luft. würden, sobald Trump das Land verlassen habe.
Die Kämpfe waren hauptsächlich religiös motiviert. Muslime Hinzu kommt, dass Bürger in Indien oft leicht Zugang zu
und Hindus gingen aufeinander los, wobei zu den Opfern vor Waffen haben und die Polizei dem Gewaltausbruch großenteils
allem Muslime gehörten: Moscheen brannten, Journalisten freien Lauf ließ, sich mutmaßlich sogar an Verbrechen beteilig-
wurden zusammengeschlagen. Sie mussten sich als Hindus zu te. Indien ist ein Vielvölkerstaat. Menschen unterschiedlichen
erkennen geben, damit die Angreifer von ihnen abließen. Glaubens leben hier zusammen. Doch der soziale Frieden
Panische Bewohner verließen ihre Häuser. Mehr als 30 Men- ist fragil. Spannungen können jederzeit zu offenen Konflikten
schen starben bislang, mehr als 200 wurden verletzt. Es waren werden. Modis BJP tut derzeit alles dafür, dass genau das
die schlimmsten Ausschreitungen in der Stadt seit 1984. passiert. Laura Höflinger
P. MATSAS / BRIDGEMAN
gefährlich in dem südamerika- nutzen das aus. Der Landkon- sche Politologe Blockade weiter?
nischen Land. Von Januar flikt ist neu aufgeflammt: Roland Cayrol, Cayrol: Es bleiben nicht viele
bis Anfang Februar wurden Indigene und Kleinbauern, 78, über die Möglichkeiten. Die Opposi-
laut Angaben der Hilfsorgani- die während des Bürgerkriegs geringen Aus- tionsparteien werden ihre
sation Indepaz mehr als ihre Ländereien aufgaben, sichten der Strategie nicht ändern. Inso-
30 Menschen ermordet, die sind auf ihre Parzellen Regierung, die fern wird die Regierung die
sich für die Bewahrung der zurückgekehrt oder haben im umstrittene Rentenreform Reform wohl per Dekret und
Menschenrechte und der Um- Rahmen des Friedensabkom- auf normalem Weg durch das nicht auf dem normalen
welt einsetzten. Im vergan- mens neue Grundstücke Parlament zu bringen Abstimmungsweg durch das
genen Jahr wurden nach erhalten. Die Regierung ist Parlament bringen müssen.
Angaben der Vereinten Natio- jedoch nicht in der Lage, ihre SPIEGEL: Herr Cayrol, seit Der Artikel 49.3 unserer Ver-
nen 107 Aktivisten ermordet, Rechte zu sichern. Hinzu zwei Wochen streiten die fassung erlaubt ihr das, ist
Kolumbien zählt damit zu kommt, dass illegale Holzfäl- Abgeordneten über die Geset- allerdings nicht sonderlich
den weltweit gefährlichsten ler und Goldsucher, die sich zesvorlagen zur Rentenre- beliebt, weil er als demokra-
Ländern für Aktivisten. Das während des Bürgerkriegs form. Die Opposition hat ins- tiefeindlich gilt.
jüngste Opfer war ein Ranger nicht in die oft von der Farc gesamt 41 768 Änderungsan- SPIEGEL: Was vor allem dem
des Nationalparks El Cocuy, kontrollierten Schutzgebiete träge eingebracht. Wie realis- Präsidenten Emmanuel
der seit zwei Jahren dort gear- wagten, jetzt verstärkt in die- tisch ist es, dass noch eine Macron schaden könnte, dem
beitet hatte. Die National- se Regionen strömen. Der Mehrheit zustande kommt? viele Franzosen ohnehin nach
parks und indigenen Schutz- Urwald war zu Zeiten des Cayrol: Die Frage ist eher, den wochenlangen Streiks
gebiete haben die Begehrlich- Bürgerkriegs weitgehend wie lange die Regierung die- unterstellen, er mache, was er
keit diverser bewaffneter unberührt, er birgt zahlreiche ser Blockadesituation wolle?
Gruppen geweckt, die seit Bodenschätze. Der bewaffne- zuschauen kann und will. Der Cayrol: Ich sehe den Schaden
dem Friedensabkommen zwi- te Konflikt habe die Zonen Parlamentspräsident hat aus- auf mehreren Ebenen. Das
schen der Regierung und der »in wahre Kriegsschauplätze« gerechnet, dass man noch Parlament würde beschädigt,
Guerilla Farc vor vier Jahren verwandelt, sagt Harold 150 Tage brauchen würde, auch die Opposition hätte
Aufwind verspüren. In vielen Ospino von der Umweltschutz- um im bisherigen Tempo alle keine glorreiche Rolle ge-
Gegenden des Landes hat die organisation FCDS. JGL vorliegenden Anträge zu spielt. Und Macron stünde
bearbeiten. Das wären fünf als jemand da, der die Demo-
Monate, selbst dann wäre kratie nicht respektiert. Aber
nicht garantiert, dass man mit viele Präsidenten vor ihm
allem durch ist. Die Regie- haben mithilfe des Artikels
rung will das Gesetz aber 49.3 regiert, Charles de Gaulle
noch vor den Kommunalwah- hat auf diese Weise die ato-
CHRISTIAN KOBER / PICTURE ALLIANCE
75
Ausland
Der Scheckbuch-Demokrat
USA Mike Bloomberg dachte, der beschwerliche Weg zur Präsidentschaftskandidatur
ließe sich mit viel Geld und Werbung abkürzen. Jetzt aber holt ihn seine Vergangenheit ein.
Beim Super Tuesday wird sich zeigen, ob ein Milliardär die Wähler begeistern kann.
M
illionen Amerikaner erlebten seines Verhaltens gegenüber Minderheiten Bloombergs Anhänger dagegen sehen
am Dienstagabend zwei Mike und Frauen attackierten. Seine Versuche, in ihm den erfolgreichen Geschäftsmann
Bloombergs. Der eine redete sich selbstironisch zu geben, scheiterten und langjährigen Bürgermeister von New
in schönen Worten darüber, kläglich. Zwischen dem echten Bloomberg York, der als Einziger das Format hat, es
wie er die Wunden heilen werde, die und dem aus der Werbung gab es nur eine mit Trump aufzunehmen. Oder wie
Donald Trump dem Land zugefügt habe. flüchtige Ähnlichkeit. Bloomberg auf der Bühne formulierte:
Es sprach ein Staatsmann, dem seine Zu- Wer ist der wahre Mike? Für seine Kon- »Ich habe die Erfahrung, ich habe die Mit-
hörer ergriffen lauschten. Das war in ei- kurrenten ist die Sache klar. Der linke Se- tel, und ich habe die Erfolge.«
nem Fernsehspot, der in einer Werbepause nator Bernie Sanders sieht in ihm einen Bloomberg ist bislang die unbekannte
der demokratischen Kandidatendebatte in weiteren Milliardär, der versucht, sich die Variable im Rennen um die Präsident-
South Carolina lief. Präsidentschaft zu erkaufen. Die ebenfalls schaftskandidatur der Demokraten. Er
Davor und danach gab es den leibhafti- zum linken Flügel gehörende Senatorin lässt die ersten vier Vorwahlen aus, bislang
gen Bloomberg zu sehen, einen hölzern Elizabeth Warren rief während der Debat- geben nur die Wählerbefragungen einen
und unnahbar wirkenden 78-Jährigen, den te: »Das Herz der demokratischen Partei Hinweis darauf, wie seine Chancen auf die
seine Mitbewerber auf der Bühne wegen wird ihm niemals vertrauen.« Nominierung stehen. Immerhin liegt er im
76
Mittel der landesweiten Umfragen nur Der Sohn eines jüdischen Immigranten Gut situiert
knapp hinter dem früheren Vizepräsiden- aus Polen arbeitete dort zunächst als Tra- Vermögen* der verbleibenden
ten Joe Biden auf dem dritten Platz. Wäh- der und Tech-Experte. Als ihn die Invest- US-Präsidentschaftsbewerber
rend Bidens Werte seit Wochen sinken, mentbank Salomon Brothers 1981 vor die
steigen Bloombergs an. Am kommenden Tür setzte, gründete er mit der Abfindung Michael Bloomberg
Dienstag, wenn Demokraten in 14 Bun- von zehn Millionen Dollar einen Finanz-
desstaaten ihren Favoriten wählen, darun-
ter in Kalifornien, Texas und Virginia, tritt
Bloomberg zum ersten Mal an. Es ist seine
informationsdienst. Bald stand auf fast
jedem Schreibtisch an der Wall Street ein
Bloomberg-Terminal, über das Kurse und
60 Mrd. $
Demokratisch
große Bewährungsprobe. News flimmerten. Mittlerweile ist Bloom-
Am Super Tuesday wird rund ein Drittel berg LP ein globaler Medienkonzern mit
Republikanisch
der Delegierten für den Nominierungs- Radio- und TV-Sendern, dem Ma-
parteitag der Demokraten gewählt. Bloom- gazin »Businessweek« und einer
berg muss es idealerweise schaffen, an Nachrichtenagentur mit 2700
Biden vorbeizuziehen und auf den zwei- Reportern und Analysten
ten Platz hinter Bernie Sanders zu kom- weltweit. Bloomberg besitzt
men, wenn er weiter im Rennen bleiben 88 Prozent des Unterneh-
möchte. An diesem Dienstag zeigt sich, ob mens, er hätte mit seinem
Bloombergs große Wette aufgeht: Kann Vermögen einen angeneh- Donald Trump
ein alter Milliardär, der als kühl bis arro- men Ruhestand verbrin-
gant gilt, die Herzen der demokratischen
Wähler erobern und schließlich gegen
Trump antreten?
gen können.
Die Frage ist: Warum
wirft sich jemand, der
1,7 Mrd.
fast alles hat, in die
Bloombergs Kalkül ist, das Land mit Wer- Schlammschlacht eines
bung zu fluten, bei den Vorwahlen mög- Wahlkampfs? »Bloomberg
lichst viele Delegiertenstimmen zu sam- wollte schon immer Präsi-
meln und dann auf dem Nominierungspar- dent werden«, sagt seine Bio-
teitag im Juli in einer Stichwahl unter den grafin Joyce Purnick. »Ich habe
verbliebenen Bewerbern zum Sieger des mit Leuten gesprochen, die erzähl-
moderaten Lagers gekürt zu werden, ge- ten, wie er bereits im College davon re-
wissermaßen als letzte Hoffnung gegen dete. Das war keine Hoffnung oder ein
den Sozialisten Bernie Sanders. Mehr als Traum. Das war eine Vorhersage«.
400 Millionen Dollar hat der achtreichs- Zunächst aber wurde er 2002
te Mann der USA nach Recherchen der Bürgermeister von New York.
»New York Times« bislang für Werbespots Seine zwölf Jahre im Amt
und Veranstaltungen ausgegeben, mehr standen im Zeichen der
als alle Mitbewerber zusammen. Sein Auf- Terroranschläge des 11. Sep-
stieg in den Umfragen ist vor allem mit tember. Bloomberg emp- Tom Steyer
Geld erkauft. fahl sich mit Law-and-
In mancher Hinsicht ähnelt Bloomberg
Donald Trump. Beide stammen nicht aus
dem Establishment der Partei, sondern
Order-Sprüchen als Nach-
folger des damals in der
Stadt als Helden verehr-
1,5 Mrd.
benutzen sie als Vehikel für die Karriere. ten Rudy Giuliani. Er trat
Trump hat Demokraten unterstützt, be- als Republikaner an, eine
vor er für die Republikaner kandidierte, Koalition aus konservativen
Bloomberg spendete an Republikaner und und moderaten Wählern hiev-
wechselte mehrfach die Partei. Erst seit te ihn ins Amt, dieselbe Wähler-
vergangenem Jahr ist er wieder Demokrat. gruppe, die Bloomberg auch heute
Beide verbreiten ihre Botschaften direkt wieder ansprechen will.
ans Volk, das erspart unangenehme Fragen Bloomberg computerisierte die Kom-
von Journalisten. Bloomberg sieht sich wie munalbürokratie und verwandelte das
Trump als Macher, der sich nicht von Kon- Milliardendefizit der Stadt in einen Über-
ventionen einhegen lässt. Und er besitzt schuss. Unter seiner Ägide sank die Mord- 70,2 William F. Weld
wie dieser einen Hang zum Autoritären. rate auf den Stand der Fünfzigerjahre. Mio.
Im Gegensatz zu Trump hat Bloomberg Gleichzeitig riss seine Politik soziale Grä-
sein Geld selbst erarbeitet, nicht ererbt. Er ben auf. Er säuberte zwar die Stadt, be-
unterstützte damit zahlreiche liberale Ini- handelte die Bürger aber oft wie Kinder. 11,1 Elizabeth Warren
tiativen und setzte sich unter anderem für Kritiker empfanden das als »freundlichen
schärfere Schusswaffengesetze und die Autoritarismus«. Berüchtigt waren seine 7,9 Joe Biden
gleichgeschlechtliche Ehe ein. Als Bürger- »Bloomberg Bans«: Rauchverbote in Knei-
2,3 Amy Klobuchar
meister von New York dehnte er zwar die pen, Verbot der Verwendung von Trans-
Regeln, setzte sich aber nicht über rechts- fettsäuren in Restaurants, Handyverbote 1,8 Bernie Sanders
staatliche Grundsätze hinweg. Anders als in Schulen. Er verbot sogar schwarze Teer-
Trump zählt Bloomberg zum New Yorker pappe auf Dächern. 0,6 Tulsi Gabbard
Establishment, was auch mit seiner Kar- Widerstand war zwecklos. »Er hörte
riere an der Wall Street zusammenhängt. einem nicht zu, er war stur«, erinnert sich 0,2 Pete
Buttigieg
DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
*geschätzter Maximalwert
Quellen: Forbes, OpenSecrets
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Ausland
die frühere Stadtratssprecherin Melissa kampfstrategie. Auch seine Biografin hält von Trumps Machogehabe angewidert
Mark-Viverito, eine Puertoricanerin, die die Entschuldigung für unaufrichtig. »Ich sind. Ein Kandidat wie Bloomberg, dessen
Bloomberg gut kennt und oft mit ihm stritt. glaube nicht, dass er ›stop and frisk‹ für Sprüche über »Blowjobs« und schwangere
Er sei herablassend und arrogant gewesen, einen Fehler hält«, sagt Joyce Purnick. Frauen aktenkundig sind, passt schlecht
Kritik habe er abgewehrt. Gregory Meeks dagegen vertritt seit in die von der #MeToo-Debatte aufge-
Bloomberg verwandelte New York in 1998 einen New Yorker Wahlbezirk im peitschte Zeit. Bloomberg wirkt nicht nur
einen Spielplatz für Immobilienhaie, Mil- amerikanischen Repräsentantenhaus. Er wie ein Typ aus dem 20. Jahrhundert, er
liardäre und Investoren. Dank seiner Steu- geriet häufig mit Bloomberg aneinander, ist es auch.
er- und Subventionspolitik wuchsen Dut- als dieser Bürgermeister war, und ist doch Allerdings melden sich in der Partei
zende gesichtslose Glastürme in den Him- bereit, Bloomberg zu vergeben. »Er ist die Stimmen, die davor warnen, die alten Ge-
mel. Gleichzeitig stiegen die Mieten, vor Person, die meiner Meinung nach die bes- schichten allzu hoch zu hängen. »Wir kön-
allem ärmere Bürger wurden verdrängt. ten Chancen hat, Donald Trump zu schla- nen uns alle vorstellen, wie es vor 30 Jah-
Gegen eine Erhöhung des Mindestlohns gen«, sagt Meeks. ren an der Wall Street zuging«, sagt etwa
sperrte sich Bloomberg. Als das Ende sei- Muriel Browser, Bürgermeisterin von Wa-
ner zweiten, eigentlich letzten Amtszeit Er war einer der ersten Afroamerikaner, shington, D. C. Ihrer Partei müsse klar sein,
als Bürgermeister nahte, boxte er eine Ge- die Bloomberg offen unterstützten, aber dass sie den perfekten Kandidaten oder
setzesänderung durch, die ihm eine dritte er ist nicht der einzige. Der Bürgermeister die perfekte Kandidatin nicht finden wer-
Amtszeit ermöglichte. von Houston, Sylvester Turner, hat sich de, die sämtlichen Strömungen gefalle. Sie
Seine Fehler als Bürgermeister holen ebenfalls für Bloomberg als Kandidaten jedenfalls unterstützt Bloomberg.
ihn jetzt wieder ein, vor allem sein politi- ausgesprochen. »Er hat Fehler gemacht, Dessen Strategie setzt ohnehin darauf,
scher Sündenfall: Die »Stop and frisk«- aber seine Verdienste überwiegen.« konservative Wähler zu begeistern, nicht
Taktik, bei der in zwölf Jahren rund fünf Es bleibt ein Risiko für Demokraten, den linken Flügel der eigenen Partei. Dass
Millionen New Yorker ohne konkreten An- für den Milliardär zu werben, vor allem das funktionieren kann, lässt sich bei einer
lass von der Polizei angehalten und durch- weil immer neue Anschuldigungen gegen Wahlkampfveranstaltung in Norfolk, Vir-
sucht wurden. Beinahe 90 Prozent waren Bloomberg bekannt werden. Etliche frü- ginia, beobachten. Er sei ein Republikaner,
Schwarze oder Latinos. here Angestellte werfen ihm vor, eine frau- sagt der Begrüßungsredner. Aber diesmal
Bloomberg hatte die Politik von Giu- enfeindliche Arbeitsatmosphäre in seinem werde er Michael Bloomberg wählen.
liani übernommen und ausgeweitet. Er sah Unternehmen geschaffen und Frauen Der Redner heißt Richard Spencer, er
ärmere Viertel wie Crown Heights in schlechter als Männer behandelt zu haben. war Staatssekretär für die Marine, bis ihn
Brooklyn als Brutstätte der Kriminalität Einer Mitarbeiterin soll er, nachdem sie Donald Trump Ende November entließ,
und fand, dass Bürgerrechte in solchen Ge- von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte, weil er sich kritisch über die Einmischung
genden zweitrangig seien. »Es war scho- gesagt haben: »Bring es um.« des Präsidenten in Kriegsverbrecher-
ckierend«, sagt Mark-Viverito. »Stop and Bloomberg bestritt die Behauptung un- verfahren geäußert hatte. Im Publikum sit-
frisk« habe die schlimmsten Vorurteile be- ter Eid. Die Frau wurde entlassen. In- zen Männer in dunklem Blazer und Frau-
stärkt. »Die Konsequenzen für alle Min- zwischen fordert Elizabeth Warren, ihr en mit Halstuch.
derheiten waren schrecklich.« Konkurrent solle sämtliche Frauen von Unter ihnen sind Wähler aus den repu-
Die Stadt drosselte das Programm erst, Verschwiegenheitserklärungen befreien, blikanischen Vorstädten. Sie haben dafür
als ein Gericht es 2013 für verfassungs- damit sie offen über ihren früheren Chef gesorgt, dass die Demokraten 2018 im Re-
widrig erklärte. Selbst da kritisierte Bloom- sprechen könnten. Für Bloomberg zeigt präsentantenhaus in Washington wieder
berg das Urteil noch als »gefährlich«. Kein sich, wie riskant und schwer steuerbar ein die Mehrheit haben. Was Bloomberg bei
Wunder, dass das Thema hochkochte, als Vorwahlkampf sein kann, in dem es für den Linken zum Nachteil gereicht, bringt
er in den Vorwahlkampf der Demokraten seine Mitbewerber ums politische Überle- ihm in Norfolk Punkte: sein Reichtum,
einstieg. Zwar entschuldigte er sich vor ben geht, nicht nur um Geld. seine altmodische, steife Art, seine patriar-
Kurzem für die Polizeitaktik. Viele Afro- Dazu kommt, dass die Demokraten jun- chalische Vorstellung von Politik. Er
amerikaner halten das aber für eine Wahl- ge Leute und Frauen anziehen wollen, die glaubt, seine Anziehungskraft auf Wech-
selwähler könne die Vorbehalte in der
Geldschlacht Michael Bloomberg eigenen Partei kompensieren.
kummulierte Ausgaben demokratischer Bewerber für ihre Präsidentschaftskampagne, Der Super Tuesday wird darüber ent-
in Mio. Dollar scheiden, ob Bloombergs Strategie erfolg-
reich ist. Falls Bernie Sanders bis zum Par-
Joe Pete Elizabeth Bernie Tom
teitag der Demokraten im Juni noch keine
Biden Buttigieg Warren Sanders Steyer
absolute Mehrheit der gewählten Delegier-
E R I N S C OT T / R E U T E R S ; DA N I E L AC K E R / R E U T E R S ; J O N AT H A N D R A K E / R E U T E R S
Millionenbluff
Entwicklungshilfe Nach der Entdeckung eines angeblich riesigen Ölfelds im Regenwald versprachen
mehrere EU-Länder dem Präsidenten des Kongo viel Geld, wenn er die Umwelt
schont. Doch nun legen Recherchen nahe, dass der Kleptokrat den Fund nur vorgegaukelt hat.
Z
um 59. Unabhängigkeitstag der chen legen nahe, dass es sich bei dem Die Geschichte des angeblichen Ölfunds
Republik Kongo präsentierte Präsi- angeblichen Ölfund im Ngoki-Block um ist ein Lehrstück über die Schattenseiten
dent Denis Sassou-Nguesso seinen einen Bluff, mindestens aber um eine gro- der Entwicklungshilfe. Klamme Staaten
Landsleuten eine vermeintliche teske Übertreibung handelt. hängen wie Süchtige an der Nadel ihrer
Sensation. Eine kongolesische Ölfirma hat- Experten von Konzernen wie Total Geberländer und tun fast alles, um an noch
te nach eigenen Angaben im Norden des oder Shell haben das Ölvorkommen an mehr Geld zu kommen. Allzu oft landen
Landes ein Ölfeld mit 359 Millionen Barrel dieser Stelle bereits vor Jahren geprüft und die Hilfen aber nicht beim Volk, sondern
entdeckt. Die Ölproduktion des Kongo eine Ausbeutung mangels Wirtschaftlich- auf den Offshorekonten der herrschenden
könnte sich damit auf einen Schlag ver- keit verworfen. Dass nun eine kaum erfah- Klasse, wie jüngst eine Studie der Welt-
vierfachen. In seiner Rede im August 2019 rene Firma alle bisherigen Ergebnisse kom- bank nahelegte.
schwärmte der Präsident von der »Präsenz plett widerlegt, ist kaum zu glauben. Zu- Trotzdem geben Industrieländer weiter
qualitativ hochwertiger Ölvorkommen« mal deren Explorationsarbeiten nach nur Millionensummen, vor allem wenn es um
im sogenannten Ngoki-Block. einer Probebohrung abgebrochen wurden. den Klimaschutz geht. Die Bundesregierung
Dann kam Sassou-Nguesso auf die Um- Nach Ansicht von Fachleuten reicht eine kündigte im vergangenen September an,
welt zu sprechen. In den sumpfigen Böden Bohrung aber nicht aus, um die Qualität ihre Hilfen für Regenwälder um 250 Millio-
des Nordens sind rund 30 Milliarden Ton- eines Ölreservoirs seriös zu bestimmen. nen Euro aufzustocken. Bundeskanzlerin
nen Kohlenstoff gespeichert. Sein Land Hat Präsident Sassou-Nguesso den Angela Merkel erklärte am Rande des Uno-
wolle sich ja »in den Dienst der Mensch- Westen also genarrt, um Hilfsgelder zu Klimagipfels in New York: »Es ist sehr wich-
heit« stellen, um die Torfmoore zu schüt- erschleichen? tig, dass wir mit Blick auf die Erhaltung des
zen, beteuerte der Präsident. Aber der Vieles spricht dafür. Vor der Präsident- Regenwalds auch in Afrika alle Anstrengun-
Kongo habe auch ein »Recht auf Entwick- schaftswahl im kommenden Jahr steht gen fokussieren. Das ist dort genauso wich-
lung«. Und die angekündigten »Kompen- Sassou-Nguesso unter Druck. Zwar ist der tig wie in der Amazonasregion.« Da mag
sationen« ließen »auf sich warten«. sie recht haben, aber ob das Geld immer an
In anderen Worten: Entweder die Welt- den richtigen Stellen landet, ist fraglich –
gemeinschaft zahle dem Kongo mehr Geld Klamme Staaten hängen wie das Beispiel der Republik Kongo zeigt.
für den Umweltschutz oder er, der Präsi- wie Süchtige an der Das Land ist nicht zu verwechseln mit
dent, lasse in dem sensiblen Ökosystem der Demokratischen Republik Kongo,
nach Öl bohren. Nadel der Geberländer und dem großen Nachbarn auf der anderen Sei-
Sassou-Nguessos Drohung wirkte offen- tun fast alles für Geld. te des gleichnamigen Flusses. Die kleinere
bar. Wenige Wochen später empfing der Republik Kongo ist größter Erdölprodu-
französische Präsident Emmanuel Macron zent der zentralafrikanischen Wirtschafts-
den Kongolesen in Paris. Die beiden Kongo reich an Rohstoffen. Trotzdem hat gemeinschaft Cemac. Bis 2014 profitierte
Staatschefs unterzeichneten eine Absichts- der Staat Schulden in Milliardenhöhe an- das Land von hohen Ölpreisen auf dem
erklärung, die dem Kongo rund 60 Millio- gehäuft. Erst im Sommer 2019 hatte sich Weltmarkt. Der dann einsetzende Verfall
nen Euro europäische Hilfsgelder in Aus- die Regierung in Brazzaville mit dem In- stellte die Regierung der ehemaligen fran-
sicht stellte, darunter Mittel des Bundes- ternationalen Währungsfonds auf ein Kre- zösischen Kolonie vor Probleme. Gehälter
umweltministeriums. Mit dem Geld sollen ditprogramm über knapp 400 Millionen von Staatsbediensteten etwa konnten
unter anderem die Folgen der Ölförderung Euro geeinigt. nicht mehr pünktlich gezahlt werden.
für die Torfmoore »reduziert« werden. Die prekäre Finanzlage hat auch mit der Denis Sassou-Nguesso, 76 Jahre alt, re-
Sassou-Nguesso verspricht im Gegenzug, Selbstbedienungsmentalität des Präsiden- giert die Republik Kongo mit einer Unter-
das Ökosystem zu schützen. ten zu tun. Denis Sassou-Nguesso gilt als brechung seit 1979. Seine Prunksucht ist
Eine Win-win-Situation, könnte man notorischer Kleptokrat. Unter seiner Herr- legendär: Einmal soll er für 114 000 Euro
meinen, doch die Sache hat einen Haken: schaft haben sich im Land Korruption und ein paar Schuhe aus Krokodilleder gekauft
Den vermeintlichen Sensationsfund hat es Misswirtschaft breitgemacht. Vergangenen haben. Sein Sohn Denis-Christel, Spitzna-
so wohl nicht gegeben. Wie es aussieht, Sommer beschlagnahmte der Zwergstaat me »Kiki der Ölmann«, verprasste laut
hat sich Europa täuschen lassen. San Marino 19 Millionen Euro von pri- Global Witness beim Shoppen in Paris und
Der SPIEGEL hat gemeinsam mit dem vaten Konten des Präsidenten wegen des Dubai Zehntausende Euro, die wohl aus
europäischen Investigativnetzwerk EIC Verdachts der Geldwäsche. staatlichen Öleinnahmen stammten.
und der Nichtregierungsorganisation Glo- Die Präsidentenfamilie unterhält enge Während die Präsidentenfamilie im
bal Witness interne Unterlagen ausgewer- Beziehungen zum Chef jener Firma, die Überfluss lebt, leidet die Bevölkerung un-
tet; Reporter des SPIEGEL und des fran- den angeblichen Ölfund verkündete: ter Armut und Massenarbeitslosigkeit. In
zösischen Investigativportals Mediapart Claude Wilfrid Etoka. Der soll bei Ge- Brazzaville ragen nur wenige Hochhäuser
haben in Paris und der kongolesischen schäften mit der staatlichen Ölgesellschaft über die ärmlichen Viertel hinaus. Eines
Hauptstadt Brazzaville zudem mit zahl- des Kongo übervorteilt worden sein. So davon ist die Zentrale der staatlichen Öl-
reichen Insidern gesprochen. Die Recher- steht es in französischen Ermittlungsakten. gesellschaft SNPC: zwei versetzte Halb-
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HAMILTON / REA / LAIF
WWW.LEDELTADELACUVETTE.COM
LEONARD PONGO / DER SPIEGEL
Geschäftsmann Etoka*, Präsident Macron mit Amtskollege Sassou-Nguesso 2017 in Paris, Ngoki-Bohranlage*: »Es sind Banditen«
kreise aus Glas und Stein, mit sauber ten. Sie ließen sich etwa die Ergebnisse Nur ein Mann ließ sich davon nicht ab-
gestutztem Rasen davor. Hier wird die von seismischen Untersuchungen vorlegen schrecken: der kongolesische Unterneh-
wichtigste Machtressource des Landes ver- und stellten eigene Berechnungen an. mer Wilfrid Etoka, 50, reichster Mann des
waltet – Öl. Präsidentensohn »Kiki« am- Doch am Ende sagten alle ab. Landes mit einem geschätzten Vermögen
tierte bis 2018 als Vizechef der Firma. Der französische Total-Konzern fürch- von einer halben Milliarde Dollar. Er stieg
Die SNPC war auch für die Vergabe der tete die »hohen Bohrkosten« und den zunächst mit 30 Prozent ein, drängte den
Schürfrechte im Ngoki-Block zuständig, »schwierigen Zugang« zu dem abgelegenen Araber aber bald ganz raus und wurde al-
wo jetzt angeblich die riesige Ölquelle ge- Gebiet. In einem Gesprächsprotokoll vom leiniger Chef der Firma Pepa, die im Ngo-
funden wurde. Ngoki bedeutet »Krokodil« Juli 2015 ist vermerkt: »Die Vorkommen ki-Block bohren durfte.
in der lokalen Lingala-Sprache; das Schürf- in dem Block sind zu klein.« Bei Shell Etoka hat einen beträchtlichen Teil sei-
gebiet liegt tief im Regenwald des Nordens, klang es ganz ähnlich. Der britisch-nieder- nes Vermögens durch Geschäfte mit Staats-
der bisher von der Ölindustrie noch ver- ländische Energiekonzern ließ im Januar firmen gemacht, auch der nationalen Öl-
schont geblieben war. 2016 wissen, am Ende habe man sich gegen gesellschaft SNPC. Dabei dürfte wohl
Im Jahr 2006 einigte sich SNPC mit das Investment entschieden, »aufgrund ei- kaum geschadet haben, dass Geschäfts-
einem arabischen Geschäftsmann auf die ner Kombination aus hohem Risiko und mann Etoka und Präsident Sassou-Ngues-
Ausbeutung des Ngoki-Blocks. Doch dem der bescheidenen Größe der Vorkommen«. so dem Mbochi-Stamm angehören. Ihre
Mann wuchs das Projekt über den Kopf. Die beteiligten Experten äußerten sogar Heimat liegt nicht weit vom Ngoki-Block
Seine Firma suchte bald nach Investoren, die Sorge, ob überhaupt noch Öl im Ngo- entfernt. Ein Neffe des Präsidenten wurde
die bei der Erschließung einsteigen sollten. ki-Block vorhanden sei: Die Vorkommen laut Global Witness zum Generaldirektor
Interne Unterlagen zeigen, dass die Öl- seien wohl schon zu Zeiten des Paläozoi- der Ölfirma Pepa bestellt, was Etoka auf
multis Shell und Total Interesse bekunde- kums entstanden, vor mehr als 400 Mil- Anfrage nicht bestreitet.
lionen Jahren. Das »Hauptrisiko« sei, dass Die Nähe Etokas zum Präsidentenclan
* Links: auf Werbetafel in Brazzaville; rechts unten: sich die Reservoirs längst auf natürliche hat auch das Interesse französischer
Foto von der Projektwebsite Ledeltadelacuvette.com. Weise entleert hätten. Ermittlungsrichter geweckt. Sie haben
Sassou-Nguesso wegen des Verdachts auf Länder einzahlen sollen. Deutschland be- hätte sich auch deswegen monatelang
Korruption, Veruntreuung von Staats- teiligt sich am Aufbau, wie das Protokoll verzögert.
geldern und Geldwäsche im Visier. einer Vorbereitungssitzung zeigt. Laut Um- Als die Genehmigung am 31. Mai 2019
Bei der Durchsuchung eines Pariser weltministerium fließen dafür 550 000 auslief, waren die Arbeiten noch im Gange.
Autohauses fand die Polizei heraus, dass Euro. Machte aber nichts: Am 26. Juli erließ Prä-
Etoka im Jahr 2012, offenbar unter dem Sassou-Nguesso habe den Umweltfonds sident Sassou-Nguesso rückwirkend ein
fiktiven Namen »Pierre Etoka«, zwei gegründet, »um das Geld für sich zu neh- Dekret, das die Genehmigung für Ngoki
Landrover für zusammen 148 000 Euro men«, behauptete das Ex-Regierungsmit- »außerordentlich« um ein Jahr verlängerte.
gekauft hatte. Sie vermutet, dass die SUV glied gegenüber dem SPIEGEL. Reiche Im August 2019 endete die Tätigkeit von
»im Namen der Familie Sassou-Nguesso Staaten mit hohem Umweltbewusstsein SMP. Ob die Firma Öl gefunden hat und
und ihrer Verwandten« erworben wurden. seien die Zielgruppe. Der Ngoki-Block er- wenn ja, wie viel, will sie nicht sagen.
Etoka bestreitet die Vorwürfe. Die Wagen fülle dabei den Zweck, den Druck auf Doch selbst wenn – es wäre noch viel zu
seien für ihn bestimmt gewesen. Europa zu erhöhen, nach dem Motto: früh gewesen, um eine Aussage über die
Vor anderthalb Jahren beschlagnahm- »Wenn ihr uns kein Geld gebt, zerstören Qualität des Ölvorkommens zu treffen.
ten die Ermittler dann Dokumente bei der wir den Dschungel. Es sind Banditen.« »Eine Bohrung reicht nicht aus. Sie muss
Bank BNP Paribas, die weitere verdächti- durch zwei oder drei weitere Bohrungen
ge Geschäfte belegen. BNP hatte Etokas bestätigt werden«, sagt der französische
Firmen früher Kredite gewährt. Zuletzt Branchenkenner Xavier Houzel.
brach sie die Geschäftsbeziehungen zu Experten sprechen von sogenannten
dem Mann ab – wegen des »engen Freund- Produktionstests. Doch die gab es laut
schaftsverhältnisses zur Ehefrau des kon- SMP nicht. Die Firma wurde nach eigenen
golesischen Präsidenten«. Zudem seien die Angaben nicht voll bezahlt und hat eine
Gewinne von Etokas Geschäften mit der Klage gegen Etokas Ölgesellschaft einge-
staatlichen SNPC zu hoch gewesen. Etoka reicht. Sie fordert 4,5 Millionen Euro. Ein
über den Tisch ziehen« fernt ist, Dover aber nur 42 Kilometer von
Calais. Das hat Auswirkungen, auch auf
die Inhalte des Abkommens.
SPIEGEL: Das Handelsvolumen der EU
Europa Zum Start der neuen Gespräche mit den Briten macht
mit den Briten übersteigt das mit den Ka-
EU-Chefunterhändler Michel Barnier, 69, klar, wo die nadiern um ein Vielfaches, um einen wei-
roten Linien verlaufen und wie weit er Boris Johnson vertraut. teren Unterschied zu nennen ...
Barnier: ... dazu kommt: Als wir mit Ka-
nada verhandelten, ging es darum, sich ge-
SPIEGEL: Herr Barnier, am kommenden nenmarkt und Zollunion verlassen. Bis da- genseitig anzunähern, um künftig mög-
Montag startet der zweite Teil der Brexit- hin müssen wir mit einem einfachen Ab- lichst reibungslos Handel zu treiben. Mit
Gespräche. Werden diese Verhandlungen kommen fertig sein, dem Sockel, von dem den Briten ist es nun genau umgekehrt.
über das künftige Verhältnis der EU zu ich spreche. Darauf können wir in Zukunft Zum ersten Mal beginnen wir Handels-
den Briten einfacher oder schwieriger als aufbauen. gespräche mit einem Partner, mit dem wir
die über den Scheidungsvertrag, also das SPIEGEL: Die Verhandlungen könnten sehr eng verflochten sind, nämlich im
Austrittsabkommen? auch deswegen kompliziert werden, weil Binnenmarkt. Wir müssen nun nicht zu-
Barnier: General de Gaulle hat einmal die große Einigkeit, die die Europäer in sammenfinden, sondern ein Stück weit das
gesagt, wo ein Wille ist, da ist auch ein den vergangenen Monaten gezeigt haben, entflechten, was wir über Jahrzehnte ge-
Weg. Wir haben den Willen, zu einem sich aufzulösen scheint. Was können Sie meinsam aufgebaut haben. All das zeigt,
Abschluss zu kommen. Das galt bei den tun, um den Zusammenhalt zu festigen? Großbritannien wird ein spezieller Fall.
Scheidungsverhandlungen, und das gilt Barnier: Die Europäer bleiben zusammen. SPIEGEL: Eine wichtige Besonderheit ist
auch jetzt. Das Problem ist, dass wir nicht Das ist kein frommer Wunsch, sondern die Forderung der EU, dass die Briten sich
viel Zeit haben. Aber ich bin optimistisch, Realität. Soeben haben 27 Europaminister auch künftig an Regeln halten sollen, die
dass es reicht, um einen soliden Sockel mein Verhandlungsmandat einstimmig be- denen der Gemeinschaft ähneln, etwa
zu bauen. schlossen. Aber Einigkeit gibt es nicht ein- beim Arbeits- und Verbraucherschutz oder
SPIEGEL: Der Abschluss der Gespräche fach so. Vergangene Woche saß ich in Ber- bei Beihilfen. Warum sollten sich die Bri-
über das Austrittsabkommen musste wie- lin im Kabinett mit Frau Merkel und den ten darauf einlassen?
der und wieder verschoben werden, am mit dem Brexit befassten Bundesministern Barnier: Die EU und die Briten wollen
Ende erwiesen sich die Verhandlungen als zusammen, ähnliche Besuche führen mich künftig möglichst reibungslos Handel trei-
deutlich zäher als gedacht. Welches Bre- nach Paris oder Warschau. Ich höre mir ben. Null Zölle, null Tarife, das ist unser
xit-Drama erwartet uns diesmal? die Sorgen und Befindlichkeiten der Mit- Angebot. Dafür brauchen wir fairen Wett-
Barnier: Was diese Verhandlung jetzt glieder an. Das schafft Vertrauen. bewerb, also auf beiden Seiten Regeln und
schwieriger machen könnte, ist der Zeit- SPIEGEL: Mit Verlaub, die Bruchlinien Gesetze, die zusammenpassen. Die Briten
druck. Nicht weil wir das wollen, sondern zeichnen sich doch ab: Die Niederlande können sich als souveräne Nation dafür
weil Boris Johnson die Übergangsfrist, die sorgen sich um ihre Häfen, Deutschland entscheiden, dass bestimmte EU-Regeln
derzeit gilt, nicht über das Jahresende sorgt sich um die Autoindustrie und Frank- weiter gelten. Ich würde das begrüßen,
hinaus verlängern will. Das bedeutet: Am reich um den Zugang seiner Fischer zu bri- weil es gute Regeln sind. Aber sie können
Ende des Jahres wird Großbritannien Bin- tischen Gewässern. Wie wollen Sie daraus das gleiche Ergebnis – faire Wettbewerbs-
bedingungen – natürlich auch mit eigenen um Kontrollen bestimmter Güter oder Tie-
Gesetzen herstellen. re, wie es sie übrigens zum Teil schon vor
SPIEGEL: Noch mal: Ist es nicht gerade der dem Brexit gab. Dort steht viel mehr auf
Sinn des Brexits, der Kern des Projekts, dem Spiel. Es geht um Frieden und Stabi-
sich von den EU-Regeln zu befreien? lität auf der irischen Insel. Dafür sind die
Barnier: Das ist das gute Recht der Briten. EU, die britische und die irische Regierung
Der Zugang zu unserem Binnenmarkt gemeinsam verantwortlich.
mit mehr als 440 Millionen Menschen SPIEGEL: Johnson will seinen Wählern
wird aber künftig proportional davon zeigen, dass der Brexit ohne große Zumu-
abhängen, inwieweit es zwischen beiden tungen ein Erfolg wird. Muss die EU um-
Seiten fairen Wettbewerb gibt. Genauso gekehrt das Gegenteil beweisen, also für
haben wir es mit den Briten erst vor we- den Misserfolg des Brexits sorgen, und
Tut was!
als in Europa oft angenommen, nicht von hier weg.
Viele Syrer haben sich jahrelang geweigert, Idlib zu
verlassen, selbst als es noch vergleichsweise einfach und
erschwinglich war, über die Türkei nach Europa zu
gelangen. So auch meine Familie aus der Stadt Atarib im
ländlichen Raum von Aleppo.
Essay Hunderttausende Flüchtlinge sitzen an
Jahrelang hatte ich sie bekniet, zu ihrer eigenen Sicher-
der Mauer zwischen der Türkei und Syrien heit in die Türkei zu ziehen – aber das stieß bei meinen
fest. Der Westen muss Diktator Assad stoppen. Eltern und drei meiner Schwestern auf taube Ohren.
Trotz meiner inständigen Bitten waren sie entschlossen
zu bleiben. Sie beharrten darauf: »Hier ist unser
W
Zuhause.«
ir hassen unser Land nicht, aber wenn wir blei- Erst vergangene Woche führten wir diese Auseinander-
ben, werden wir getötet.« Das sagte mir ein setzung noch einmal per Telefon, als klar war, dass das
Demonstrant in Idlib, im Nordwesten Syriens, Regime auf meine Heimatstadt vorrückte. Meine Ver-
vor Kurzem am Telefon. Er war einer von wandten weigerten sich immer noch. Aber die massiven
Hunderten Zivilisten, die sich jüngst an der türkischen und wahllosen Angriffe zwangen sie Stunden später, mit-
Grenze zu einer Kundgebung eingefunden hatten, um die ten in der Nacht um ihr Leben zu rennen.
Welt zu bewegen, sie zu erhören. Atarib ist nun zu einer Geisterstadt geworden, die Ein-
Auslöser der Proteste war die verstärkte Militäroffen- wohner hatten keine andere Wahl, als zu fliehen. Unter
sive durch das Regime von Syriens Diktator Baschar den Vertriebenen ist auch eine Familie, die bei meinen
al-Assad und seinem wichtigsten Unterstützer, Russland, Eltern Unterschlupf gefunden hatte: nach ihrer Flucht aus
auf die letzten syrischen Gebiete, die von der Opposition Ost-Ghuta, einem Vorort von Damaskus, der im Frühjahr
kontrolliert werden. 2018 auf ähnlich dramatische Art vom Assad-Regime
Das sind der Großteil der Provinz Idlib, Teile Aleppos zurückerobert wurde. Wie viele andere flohen sie von
und Latakias – ein Territorium, das von Tag zu Tag einem Ort zum anderen, weil es kaum noch Schutz gibt.
schrumpft. Durch die Offensive sind die mehr als drei Mil- Doch wohin sollen sie jetzt noch?
lionen Menschen, die dort leben, in Gefahr. Das Regime Wegen der Menschenrechtsverbrechen, die das Regime
und Russland greifen unentwegt aus der Luft an, setzen in vormaligen Oppositionsgebieten verübt, fällt es den
dabei auch Streumunition ein. Menschen schwer, etwaigen Versprechen oder Abkom-
Assad und der russische Präsident Wladimir Putin men, die ihren Schutz garantieren sollen, zu trauen.
greifen nicht nur an der eigentlichen Front an – sie »Hast du die Videos gesehen, in denen Assads Milizen in
attackieren auch Krankenhäuser und Rettungssanitäter, den Gegenden, wo sie jetzt gerade vorgerückt sind, die
Schulen, Märkte und Wohngebiete. Den Vereinten Natio- Gräber schänden? Wenn sie schon die Toten terrorisieren,
nen zufolge haben seit Dezember rund 900 000 Men- was soll dann diejenigen erwarten, die ihren letzten Atem-
schen die Flucht ergriffen – zusätzlich zu den 400 000, zug noch nicht getan haben?«, fragte mich der Mitarbei-
die seit April 2019 bereits vertrieben worden sind. Mehr ter einer Gesundheitsbehörde vor wenigen Tagen.
als 1700 Zivilisten sind seit vergangenem April ums Was die Lage noch schlimmer macht: Es gibt keine
Leben gekommen. Manche Beobachter vor Ort glauben, Lager, die dafür gerüstet wären, eine große Anzahl von
dass die tatsächliche Zahl sehr viel höher liegt. Menschen aufzunehmen. Die bestehenden Camps
Wieder und wieder fliehen zu sind bereits überfüllt, und wegen der Kämpfe dringt die
müssen ist für die meisten Menschen ohnehin knappe humanitäre Hilfe kaum noch durch.
in dieser dicht besiedelten Gegend Was dazu führt, dass Tausende unter freiem Himmel in
zur Normalität geworden. In Idlib Olivenhainen schlafen, ohne Schutz, ohne Zugang zu
haben mehr als eine Million Vertrie- Wasser oder medizinischer Versorgung. Täglich sterben
bene aus verschiedenen Regionen Babys und Kleinkinder, weil sie der schneidenden Kälte
Syriens Zuflucht gefunden. Alle hier ausgesetzt sind.
stehen jetzt vor demselben Problem: Trotz dieser humanitären Katastrophe schier unglaub-
dass es keine sichere Gegend in lichen Ausmaßes hat die Welt kaum etwas unternommen,
Syrien mehr gibt. um Russland oder das syrische Regime zu bewegen,
Haid, 36, stammt aus Da die Weltgemeinschaft ihrem die Kampfhandlungen einzustellen und die systematische
der Stadt Atarib im Nord- Leiden gleichgültig zusieht, haben Tötung von Zivilisten.
westen Syriens. Der Kon- Zivilisten im Großraum Idlib zu dem Fast alle, mit denen ich in Idlib spreche, erzählen mir
fliktforscher hat für das Uno- Marsch an die türkische Grenze auf- von ihrer wachsenden Wut, Enttäuschung, ja Verbitterung,
Flüchtlingshilfswerk in gerufen. Mit dieser Aktion wollen sie was die internationale Gemeinschaft, ihre Versprechen
Damaskus gearbeitet, ehe er der Türkei und westlichen Ländern und ihre Untätigkeit angeht. Die Welt erlaubt es dem
2012 selbst vor dem Krieg deutlich machen, was ihnen droht. Regime, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen,
floh. Nach einer Station bei Wenn die ihrer Verantwortung, den ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
der Heinrich-Böll-Stiftung Massenmord in Idlib zu stoppen, »Assad ist damit davongekommen, dass er Chemie-
in Beirut arbeitet er heute nicht endlich nachkommen, werden waffen eingesetzt, eine halbe Million Menschen getötet
als Senior Fellow für Chat- zahllose Flüchtlinge versuchen, zu und die Hälfte der Syrer vertrieben hat«, sagte mir
ham House, die renom- ihnen zu drängen. ein 43 Jahre alter Lehrer, der jüngst aus Atarib geflohen
mierte britische Denkfabrik Die Situation in Idlib ist dramati- ist. »Deswegen denkt er noch nicht einmal darüber
in London. scher denn je. Schon in den vergan- nach, ob sein Angriff auf Idlib irgendwelche Folgen nach
sich ziehen könnte. Er weiß einfach, dass dies nicht aufrütteln, sodass diese endlich ihrer Verantwortung
geschehen wird.« gerecht wird.
Die Eingeschlossenen in dieser letzten Enklave sind Was heißt das? Das stärkste Mittel wäre militärische
sich bewusst, dass der Westen sich so sehr vor weiteren Abschreckung, um die Attacken zu stoppen. Die Nato,
Flüchtlingen fürchtet, dass er lieber wegschaut – egal eine Uno-Friedensmission, irgendeine Macht müsste
was Assad in Syrien anrichtet. der Türkei jetzt sofort militärisch beistehen. Deren Trup-
»Wenn der Westen nur darauf aus ist, uns innerhalb pen sind ja da, aber allein wagen sie es nicht, Assad und
Syriens zu halten, ungeschützt und egal wie gefährlich das Putin ernsthaft herauszufordern, schaffen es nicht.
für uns ist, werden wir ihm unser Leid auf eine Art und Vielleicht würde es auch schon genügen, wenn etwa
Weise vor Augen führen, die er versteht«, ist eine Dro- die Nato zumindest symbolisch Präsenz demonstrieren
hung, die ich in meinen täglichen Gesprächen mit Syrern würde. Irgendetwas, mehr als das völlige Nichtstun.
oft höre. »Sie sollen wenigstens zeigen, dass sie es versucht
haben«, sagte mir ein Retter, den ich in einem der Dörfer
S
erreichte. »Dass sie mehr tun, als nur diese immer glei-
o entstand auch das Motto des Protestmarsches: chen Statements abzugeben!« Es ist nicht viel, was die
»Von Idlib nach Berlin«. Es geht nicht darum, Menschen fordern: »Wir hoffen, die Angriffe werden ein-
illegal in großer Zahl in die Türkei zu gelangen – gestellt! Selbst wenn es darauf hinausläuft, dass wir in
zumindest jetzt noch nicht –, sondern darum einem endlosen Albtraum gefangen bleiben, aus dem kein
darzustellen, wie dringend Schutz und sichere Zufluchts- Ausweg sichtbar ist«, sagte Waleed al-Ahmed, ein huma-
orte gebraucht werden. nitärer Helfer in Idlib.
Das klingt vielleicht widersprüchlich, aber man muss Die Ironie der Situation ist, dass eine ungehinderte
sich die Verzweiflung vergegenwärtigen. Die Türken sind Fortsetzung der Angriffe genau das erreichen könnte, was
im Moment die einzige Hoffnung der Menschen in Idlib, der Westen fürchtet: eine Massenflucht in die Türkei –
weil sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und von dort aus weiter. Die Menschen, die in Idlib fest-
gegen Assad stellt. stecken, sind in ihrer Not davon überzeugt, keine andere
Gleichzeitig sollen türkische Soldaten ohne Vorwar- Wahl mehr zu haben als die Flucht – selbst wenn das
nung auf Menschen schießen, die versuchen, über die heißt, die Mauer, den Stacheldraht an der türkischen
Grenze zu kommen. Ein junger Journalist, der es nicht Grenze, die Soldaten mit Schießbefehl zu überwinden.
überleben würde, Assads Soldaten in die Hände zu fallen, Ahmed Khalid Hassoun, einer der Organisatoren der
sagte mir unlängst wütend: »Als ob es nicht genug wäre, Kampagne, sagte mir: »Wenn man alles verliert, vor
vom Regime beschossen zu werden, feuern die türkischen allem die Hoffnung, ist die einzige Möglichkeit, alles aufs
Soldaten von der anderen Seite, sobald jemand versucht, Spiel zu setzen – auch das eigene Leben und das der
dorthin zu flüchten.« Familie. Um ein besseres, sichereres, würdigeres Leben
So hoffen die Organisatoren der Kampagne »Von Idlib zu haben. Oder dabei zu sterben, dass man es wenigstens
nach Berlin«, dass sie die internationale Gemeinschaft versucht.« I
87
Ausland
Jeremy macht
weiter
Israel Zum dritten Mal innerhalb eines Jahres wählt
das Volk einen Premier. Unterwegs
mit einem Politiker, der das Land noch weiter
nach rechts drängen möchte.
V
or einem Jahr standen wir schon minister Benjamin »Bibi« Netanyahu an.
einmal hier, in Beit Schemesch. Es vertritt die Interessen der Siedler, will
Es ist wieder dunkel und kühl das Rechtssystem reformieren und die be-
wie damals, und auch sonst hat setzten Gebiete im Westjordanland an-
sich nicht viel verändert. Jeremy Saltans nektieren. Die Yamina-Leute wollten Ne-
Rechtsbündnis Yamina steht in den Wahl- tanyahu nach rechts drängen, sagen sie.
umfragen bei acht Parlamentssitzen. Seine Aber im vergangenen Jahr schien es eher
Mutter ist wieder gekommen. Der Pre- so, als würden sie von ihm durch die Ge-
mierminister muss vielleicht ins Gefängnis. gend geschleift.
Es scheint immer noch keine Regierungs- Die Wahl am 2. März ist wie die beiden
mehrheiten zu geben, aber Saltan hat eine Wahlen zuvor vor allem eine Abstim-
neue Krawatte. mung über Netanyahus Schicksal. Der Mi-
Er wurde ganz in der Nähe groß, zwei nisterpräsident inszeniert sich als Staats-
Straßenecken weiter. Seine Mutter wohnt mann. Im Januar stand er an der Seite von
da immer noch. Ihr Sohn ist seit sechs Stun- US-Präsident Donald Trump in Washing-
den hier, um für Yamina eine Wahlkampf- ton, als dieser seinen »Deal des Jahrhun-
veranstaltung zu organisieren. Es ist die derts« präsentierte.
dritte Parlamentswahl in einem Jahr. Das 181 Seiten ist das Dokument lang, es
Werben wird nicht einfacher. sieht Tunnel und Brücken zwischen dem
Jeremy Saltan hat einen Saal gemietet Westjordanland und dem Gazastreifen vor,
und einen DJ, er hat Snacks gekauft, seine einen lebensfähigen Staat Palästina aber
Poster aufgestellt, er hat über die sozialen nicht.
Medien Einladungen an Freunde und Ver- Bislang war Netanyahu nicht in der
wandte geschickt. Seine Mutter hat ihm Lage, eine Regierung zu formen. Aber
geholfen. Sie steht vor der Tür und begrüßt auch sein Herausforderer Benny Gantz
jeden Gast einzeln. Sie heißt Anne, ist 61 von dem Mitte-Bündnis Blau-Weiß hat kei-
Jahre alt und stammt ursprünglich aus Sko- ne Mehrheit. Die eine Hälfte der vielen »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagt
kie, dem jüdisch geprägten Vorort von Chi- israelischen Parteien will Bibi loswerden, Saltans Mutter zu einem jungen Mann.
cago, und wer die Zusammenhänge nicht die andere folgt ihm. »Ich bin ja auch siebenmal angerufen wor-
kennt, könnte denken, sie sei die Wahl- Beim zweiten Anlauf im vergangenen den«, sagt der Mann und nickt ihrem
kampfmanagerin. Herbst machte Saltan Wahlkampf an Sohn zu.
»Die Zimmermanns kommen nicht, Je- der Seite von Naftali Bennett. »Die Leute Im Saal sitzen inzwischen 50 Leute.
remy«, sagt sie. »Sie haben eine Hochzeit. sind echt müde«, sagte er schon damals. Es ist halb neun. Fünf Minuten später be-
Ist Rina Hollaender da?« – »Noch nicht«, Yamina bekam sieben Sitze, aber es ginnt Jeremy Saltan mit dem Warm-up.
sagt ihr Sohn. gab wieder keine Regierungsmehrheit. Saltan sagt, dass er beim letzten Mal mit
Um acht Uhr soll die Wahlkampfveran- Wenigstens wurde Bennett Verteidigungs- Ayelet Shaked hier gewesen sei, der ehe-
staltung beginnen, jetzt ist es fünf vor acht, minister. Übergangsweise. Alles in der maligen Justizministerin, die gern auch
und im Saal sitzen sechs Leute. Zusam- israelischen Politik wirkt mittlerweile pro- die künftige Justizministerin werden wür-
men mit Saltan wird heute Abend auch visorisch. de. Er habe damals, anschließend an ihren
der Yamina-Spitzenkandidat in Beit Sche- Unmittelbar nach der Wahl, am 17. März, Wahlkampfauftritt, noch Fragen der Bür-
mesch auftreten, Naftali Bennett, Mil- muss sich Netanyahu wegen Betrug, Be- ger seiner Heimatstadt beantwortet, bis
lionär, Verteidigungsminister, einer der stechlichkeit und Untreue vor Gericht ver- weit nach Mitternacht sei das gegangen.
bekanntesten Politiker des Landes. »Es antworten. Noch eine Abstimmung über Das wolle er heute wieder so halten. Er
kommen sowieso nur die Leute, die noch Bibi. Auch die dürfte sich hinziehen. Die sei für sie da.
nicht wissen, wen sie wählen sollen, Zeugenliste hat 333 Namen. Jemand gibt Zeichen, dass sich Naftali
Mom. Insofern ist es ein gutes Zeichen, Eigentlich war die Wahl für den 10. März Bennett dem Gebäude nähere. Der Star.
wenn wenig da sind«, sagt Saltan. Er sieht geplant, aber da ist Purim, der fröhlichste Der Yamina-DJ spielt den Jingle der Partei.
müde aus. jüdische Feiertag. Das passte nicht, das Es ist die Melodie des Liedes »Bella Ciao«.
Sein Bündnis strebt eine Koalition mit konnte man niemandem mehr zumuten. Laut einer Legende ein Klagelied der ita-
dem rechten Likud-Block von Premier- Das israelische Volk ist erschöpft. lienischen Reispflückerinnen gegen ihre
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JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Yamina-Politiker Saltan nahe Jerusalem: »Die Leute sind echt müde«
unwürdigen Arbeitsbedingungen, das spä- Tentakel bekämpft habe: die Hamas in sagt er. Sein Programm in drei Sätzen
ter zur antifaschistischen Partisanenhymne Gaza, die Hisbollah im Libanon. Der Kopf sei: Wir sichern unsere Grenzen. Wir ge-
wurde. Hannes Wader sang sie, Tom sitze in Iran. Gemeinsam mit seinen Freun- ben keinen Zentimeter Land an die Ara-
Waits, jetzt spielen sie die Melodie für Naf- den in den USA sorge er dafür, dass der ber ab. Wir schaffen ein wirtschaftlich star-
tali Bennett, der vor ein paar Tagen die Kopf des Kraken attackiert wird. Trumps kes Land.
Leiche eines mutmaßlichen Dschihadisten Deal ist Bennett allerdings nicht radikal Als er geht, leert sich der Saal sofort.
mit einer Planierraupe an der Grenze zum genug. Es kommt ihm zu oft der palästi- Saltan bietet noch einmal an, einzelne
Gazastreifen holen ließ, um sie in den nensische Staat vor und zu selten die is- Fragen zu beantworten wie beim letzten
Verhandlungen um gefallene israelische raelische Souveränität. Mal. Aber es gibt keine mehr. Die Leute
Soldaten zu benutzen. Bennett entdeckt einen ehemaligen haben wohl das Gefühl, alles gehört zu
Im italienischen Text heißt es: »Parti- Mitarbeiter seiner Hightechfirma im Publi- haben.
sanen, kommt, nehmt mich mit euch / kum und erzählt, wie sie das Unterneh- Ein paar Tage zuvor hat Saltan im
Denn ich fühle, der Tod ist nah«. Die isra- men für 145 Millionen Dollar verkauft Wohnzimmer seines Hauses in Mewas-
elischen Zeilen gehen so: »Von Gaza … hätten. Applaus. Fassungsloses Lächeln. seret Zion erläutert, wie sie die müden
zum Jordantal / Wir kehren heim und wäh- Bennett sagt, dass er jede Art von wirt- Israelis zur Wahl bringen. Seelenfänger
len Yamina / Wir geben ihr unsere ganze schaftlichen Monopolen brechen und die müssten am Wahltag vor den Lokalen ste-
Seele«. Macht der Gewerkschaften schwächen hen, den Leuten in die Augen schauen und
Verteidigungsminister Bennett redet werde, und bittet die anwesenden Jugend- sie daran erinnern, Yamina zu wählen. Sal-
von dem Kraken Iran. Er redet auf jedem lichen im Saal, nicht Jura zu studieren wie tan saß im hellen Wohnzimmer zwischen
Wahlkampfstopp von dem Kraken Iran. er, sondern Mathematik. den Spielsachen seiner drei Kinder und
In israelischen Wohnzimmern, Turnhallen, »Unsere Feinde leben vom Öl. Wir aber den Torabänden. Er wirkte gut gelaunt.
Synagogen. leben von Technologie, von unseren Ta- Ein bisschen wie ein Missionar.
Seine Krakengeschichte besagt, dass lenten. Das Öl geht irgendwann zu Ende Wie sein Chef Bennett trägt Saltan auch
Israel in der Vergangenheit immer nur und damit die Macht unserer Feinde«, bei der Arbeit Kippa. Wie Bennett ist er
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Sport
Skurrile Dopingausreden
Tyler Hamilton, Dennis Mitchell, Sara Errani, Ivonne Kraft,
US-Radrennfahrer, US-Sprinter, bei italienische deutsche
bei dem 2004 dem 1998 ein Tennisspielerin, Mountainbike-
fremde Blutzellen zu hoher Testos- die 2017 positiv Fahrerin, bei
gefunden wurden: teronwert fest- auf das doping- der 2007 das
gestellt wurde: verschleiernde Asthmamittel
Letrozol getestet Fenoterol nach-
Dies liege an wurde: gewiesen wurde:
Stammzellen Kurz vor dem
Test habe er
Doping macht erfinderisch: Erklärungen von Sportlern, wie verbotene Substanzen in ihren Körper gelangten, sind
zum Teil obskur. Manche Mittel zur Leistungssteigerung machen offensichtlich vergesslich. Der britische Lang-
strecken-Olympiasieger Mo Farah trainierte beim umstrittenen und jüngst gesperrten Starcoach Alberto Salazar. Farah,
inzwischen zurückgetreten, soll dabei L-Carnitin gespritzt bekommen haben, was nur in einer geringen Menge
erlaubt ist. Jetzt kam in einer BBC-Dokumentation heraus, dass er die Einnahme zunächst mehrmals vehement ab-
gestritten hatte, kurz darauf aber zugab: »Tut mir leid, ich habe es damals genommen, ich dachte, ich hätte es nicht.«
Fans in Berlin während der WM 2006: Schwarze Wolke vor rot-goldener Sonne
Schweizer Endspurt
Fußball In wenigen Tagen beginnt der Prozess um das
WM-Sommermärchen 2006 und Franz Beckenbauers Millionenzahlung
nach Katar. Doch die prominenten Angeklagten schlagen Haken.
92
Sport
D
ie Fußball-WM 2006. Ein Land das Blitzlichtgewitter der Presse, die harte Die Ersten, die ermittelten, waren noch
im Rausch. Ein Sommer, der zur Erinnerung, dass ihr Lebenswerk beschä- deutsche Ankläger. Allerdings scheiterten
Legende wurde. Wenn Franz Be- digt ist, und ein Urteil, mit dem es mög- die Frankfurter Staatsanwälte 2018 mit
ckenbauer damals das pochende licherweise auch so bleibt. Ob einer sich ihrem Versuch, Niersbach, Schmidt und
Herz des »Sommermärchens« war, dann das antut? Zwanziger vor Gericht zu bringen. Das
war Theo Zwanziger, der geschäftsführen- Die Schweizer Anklage wirft der alten Landgericht lehnte eine Anklage wegen
de DFB-Präsident jener Tage, das kühle Funktionärsriege Betrug auf Kosten des Steuerhinterziehung ab; der DFB hatte die
Auge: Er hatte die Zahlen im Blick, die Ver- Verbandes vor – im Fall Niersbach Beihil- Millionen seinerzeit von der Steuer abge-
träge, den Apparat. Herz und Auge – sie fe. Die Herren vom DFB sollen 2005 aus setzt. Erst im August 2019 sah es das Ober-
haben das Sommermärchen in Schwarz- der Verbandskasse 6,7 Millionen Euro ge- landesgericht anders, ließ die Anklage
Rot-Gold möglich gemacht. nommen haben, um einen Kredit zu tilgen. doch noch zu.
Umso mehr sieht es nun aber so aus, als Den hatte WM-Organisationschef Becken- Inzwischen aber hatten die Schweizer
würde die Ironie des Schicksals das letzte bauer 2002 privat aufgenommen, um das ein Verfahren eröffnet, und sie waren
Kapitel bestimmen. Geld in einer Geheimoperation an den schneller fertig, weil die Zeit knapp wurde:
Am 9. März beginnt in der Schweiz der notorisch korrupten Fifa-Funktionär Mo- Wenn bis zum 27. April kein Urteil vor-
Prozess wegen der 6,7-Millionen-Euro- hamed Bin Hammam in Katar zu schicken. liegt, ist der Fall in der Schweiz verjährt.
Zahlung, die sich als schwarze Wolke vor Warum, das konnte bis heute nicht geklärt Die Frankfurter warten nun offenbar
die rot-goldene Sonne jenes Sommers ge- werden, auch die Schweizer knackten das erst mal ab, wie die Sache in Bellinzona
schoben hat. Beckenbauer hatte die Über- Rätsel nicht. ausgeht. Zwischen der Schweiz und
weisung an einen korrupten Funktionär Weil aber das Schlamassel 2005 kurz Deutschland gilt nämlich, dass keiner zwei-
in Katar veranlasst. Doch der Kaiser der vor der Heim-WM unter der Decke blei- mal wegen derselben Sache vor Gericht
Herzen wird auf der Anklagebank fehlen: stehen darf. »Komplizierte Rechtsfrage«,
ausgerechnet weil er ein schwaches Herz sagen die Frankfurter Ermittler, wenn man
hat; jede Aufregung könnte ihn das Leben sie darauf anspricht. Zwar sind die Vor-
kosten, sagen die Ärzte. Die Schweizer Er- würfe – Steuerhinterziehung in Deutsch-
mittler lassen seinen Fall verjähren, ohne land, Betrug in der Schweiz – nicht exakt
Anklage, das hat sich schon länger abge- gleich. Trotzdem gut möglich, dass es nach
zeichnet (SPIEGEL 31/2019). einem Schweizer Urteil in Frankfurt nichts
Nun wird, das ist so gut wie sicher, aber mehr zu verhandeln gibt. Und als wäre die
auch Zwanziger nicht im Bundesstraf- Lage damit nicht schon verzwickt genug:
gericht von Bellinzona auftauchen. Er hat Ein Schuldspruch aus der Schweiz würde
es – ja tatsächlich – an den Augen. Zwan- UWE ANSPACH / PICTURE ALLIANCE / DPA in Deutschland möglicherweise nicht voll-
ziger hat sich Mitte Februar operieren las- streckt werden. So sieht das zumindest die
sen; Netzhautablösung links, Netzhaut- Zwanziger-Seite.
loch rechts, grauer Star auf beiden Seiten. Frustrierte Fahnder, ein verkorkstes Ver-
Danach musste er noch ein paar Tage in fahren. Dass in dieser Lage ausgerechnet
der Frankfurter Uniklinik bleiben und seit- die Frage aller Fragen geklärt wird, damit
dem regelmäßig zur Nachsorge. Fliegen rechnet ohnehin keiner mehr – warum
darf er in den kommenden Wochen nicht, der Kaiser Millionen nach Katar schickte.
lesen soll er nicht, also auch keine Akten. Beckenbauers Version, er habe dem Fifa-
Dass er sich in so einem Zustand 600 Kilo- Idol Beckenbauer im September 2019 Mann Bin Hammam das Geld zahlen müs-
meter weit in einen Gerichtssaal kutschie- »Eventualiter Anstifter« sen, um sich im Gegenzug von der Fifa
ren lässt, ist nach Stand der Dinge ausge- 250 Millionen Franken Zuschuss für die
schlossen. ben sollte, kaschierten die Funktionäre die WM zu sichern, steht wacklig neben der
Die Probleme mit den Augen hat sein Rückzahlung des Kredits nach Ansicht der genauso schwachen Theorie, er habe mit
Anwalt dem Gericht inzwischen gemeldet. Ermittler mit einer Legende. Der DFB, so dem Geld eine Wiederwahl von Fifa-Chef
Ob die anderen deutschen Angeklagten, hieß es, beteilige sich mit 6,7 Millionen an Sepp Blatter unterstützt. Was die Ermittler
der damalige DFB-Generalsekretär Horst einer Kulturgala, die der Weltverband Fifa auch nicht ausschließen wollen: dass es
R. Schmidt und Ex-DFB-Präsident Wolf- zum WM-Auftakt veranstalten wollte. So darum ging, zwei Jahre nach dem WM-Zu-
gang Niersbach, sich in die Schweiz bemü- wurde das auch den eigenen Aufsehern schlag für Deutschland bestochene Wahl-
hen, ist ebenso fraglich. Schmidt war nach aufgetischt. männer zu bezahlen.
SPIEGEL-Informationen auch schon beim Das Geld floss dann auch tatsächlich Die Wahrheit kennen Bin Hammam –
Arzt und wird die Reise wohl von seinem an die Fifa nach Zürich. Von dort aber gut abgeschirmt in Katar – und Becken-
Gesundheitszustand abhängig machen. ging es noch am selben Tag weiter an bauer – gut beschützt von seinen Ärzten.
In die Schweiz zwingen kann die drei Beckenbauers Kreditgeber, den französi- Der Kaiser hat im vergangenen Jahr fünf
ohnehin niemand, deshalb hatte das Ge- schen Milliardär Robert Louis-Dreyfus. Atteste vorgelegt, von seinem Hausarzt
richt Zwanziger sogar freies Geleit zuge- Wegen der Umleitung über Zürich küm- und von einer Klinik. Demnach muss er
sichert – für den Prozess und nach dem mert sich heute die Schweizer Justiz um jede Aufregung vermeiden und schafft es
Urteil. Sonst hätte er nicht einmal darüber den Fall. Angeklagt ist auch der frühere auch nicht mehr, im Gericht einer Befra-
nachgedacht zu kommen, ganz egal, wie Fifa-Generalsekretär Urs Linsi. Er hatte gung mit wachem Verstand zu folgen. Aus-
es um seine Augen steht. Auch Schmidt dafür gesorgt, dass das Geld an Louis- sicht auf Besserung? Angeblich keine.
hat freies Geleit ausgehandelt, wie sein Dreyfus weiterlief. Zwanziger hat das angezweifelt, auch
Anwalt bestätigt. Bei Niersbach wird es Damit landet nun ein urdeutscher Skan- die Bundesanwälte wollten nicht kampf-
wohl das Gleiche sein, seine Anwältin sagt dal in einem Schweizer Gerichtssaal, und los aufgeben. Sie stellten im August ein
dazu nichts. auch diese Pointe passt: so verwirrend Rechtshilfeersuchen nach Österreich, wo
Alles, was die DFB-Honoratioren also nämlich die Geldströme vor der WM, so Beckenbauer lebt. Ein Amtsarzt sollte ihn
in der Schweiz zu fürchten hätten, wäre groß der juristische Wirrwarr heute. untersuchen, spätestens nach drei Mona-
I
si – sie alle seien nur das Aufräumkom- m Skigebiet Ehrwalder Alm, unweit gen. 2019 kamen in Österreich 39 Men-
mando gewesen. Sie hätten beschlossen, der Zugspitze, ist in der Nähe einer schen beim Tourengehen oder beim so-
das Geld an Louis-Dreyfus zurückzuschaf- Piste ein Schneebrett abgegangen. genannten Freeriden abseits der Pisten
fen, das der Kaiser selbst nicht zurückzah- Der Bergretter Bernhard Lutnig, 52, ums Leben. Viele Opfer wurden von
len konnte oder wollte. Einziges Motiv des inspiziert die Stelle unterhalb einer Lift- Lawinen verschüttet. Die mit Abstand
Quartetts: die Bombe entschärfen. Des- station mit dem Fernglas. meisten Bergtoten in Österreich waren
halb müssen heute die deutschen Ange- Lutnig gehört zur Tiroler Lawinenkom- im vergangenen Jahr zwischen 51 und
klagten den Kopf für Beckenbauer hinhal- mission. Sie hat für diesen Samstag im 60 Jahre alt.
ten, auch wenn sie – wie der Kaiser – ihre Februar wegen der starken Schneefälle in Lutnig, ein kräftiger Mann mit wetter-
Unschuld beteuern. den Tagen zuvor die zweithöchste Warn- gegerbtem Gesicht, gehört seit mehr als
Zu Zwanzigers Verteidigungslinie ge- stufe herausgegeben. Es sei »saugefähr- 20 Jahren zur Bergrettung in Ehrwald. Wie
hört dabei ein Abkommen mit dem DFB lich« jetzt im Gelände, sagt Lutnig. die meisten seiner Kolleginnen und Kolle-
aus dem März 2019. Zwanziger will es so Aber die Sonne scheint. Es ist Wochen- gen macht er den Job ehrenamtlich. Sein
verstanden wissen, dass sich der DFB gar ende. Und in den Hängen unterhalb des Geld verdient Lutnig im Winter als Ski-
nicht geschädigt sieht, zumindest nicht von Vorderen Tajakopfes und der Sonnenspitze lehrer und Skitourenführer.
ihm. Tatsächlich steht in dem Papier, es lockt der Pulverschnee. Lutnig kann bereits Er lebt von der Sehnsucht der Men-
sei dem DFB und Zwanziger »ein Bedürf- die ersten Spuren der Skitourengeher sehen, schen nach den Bergen. Er bringt seine
nis, den Streit im Interesse des Fußballs die sich ihren Spaß nicht von einer kriti- Kunden sicher hinauf auf den Gipfel und
zu beenden und sich auf ein gemeinsames schen Lawinenlage verderben lassen wollen. wieder hinunter. Manchmal muss er sie
Vorgehen zu verständigen«. Die Zahl der Wintersportler, die sich enttäuschen, wenn eine geplante Tour
Weiter heißt es da: Wenn der DFB be- fern der Lifte ihren eigenen Weg auf den nicht zustande kommt, weil das Wetter es
schädigt sei, dann nur, weil Zwanzigers Gipfel suchen, nimmt in fast allen Regio- nicht zulässt. Oft zögen die Touristen dann
Nachfolger Niersbach falsch reagiert habe. nen der Alpen zu. Skibergsteigen ist ein auf eigene Faust los.
Nach ersten Hinweisen, dass die Bombe Trendsport, man ist in der Natur und nicht »Die Leute akzeptieren keine Grenzen«,
doch platzen könnte, habe er die Affäre bei den Massen auf den Pisten. sagt Lutnig, »sie meinen, alles müsse je-
nicht energisch aufgedeckt. Stattdessen Viele der Enthusiasten unterschätzen derzeit möglich sein.«
habe er im Juni 2015 »durch seine Ent- jedoch die tödlichen Gefahren in den Ber- Vor einigen Jahren traf er morgens an
scheidung, das Präsidium nicht unverzüg- der Talstadion der Ehrwalder Almbahn
lich über die Zahlung (von 2005 –Red.) zu zwei Tourengeher, die unterwegs waren
informieren, gegen die Satzung des DFB in die »Neue Welt«, eine der faszinierends-
verstoßen«. So habe am Ende nicht der ten Freeride-Abfahrten der Alpen. Aber
DFB, sondern der SPIEGEL die Affäre öf- auch eine der riskantesten. Sie führt vom
fentlich gemacht. Hätte Niersbach dagegen Gipfel des Schneefernerkopfes über bis
»transparent« aufgeklärt, hätte »Schaden zu 45 Grad steile Hänge hinunter Richtung
vom DFB und den der Strafverfolgung Ehrwald. Lutnig plauderte mit den Sport-
ausgesetzten Personen abgewendet wer- lern, sie tauschten Nummern aus. Er riet
den können«. Niersbach wollte dazu auf ab, er warnte, das Wetter werde um-
SPIEGEL-Anfrage nichts sagen. schlagen.
Alles gut mit dem DFB, so das Signal, Als er am Nachmittag nach der Arbeit
das Zwanziger sendet. Warum verfolge das sah, dass ihr Auto immer noch auf dem
Schweizer Gericht überhaupt noch einen Parkplatz der Talstation stand, rief er ei-
Fall, in dem der Verband geschädigt sein nen der Männer an und erreichte ihn – in
soll? Für Zwanziger ist die Anklage ein großer Not. Die beiden waren doch los-
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
Machtmissbrauch der Schweizer Justiz, gezogen und in der Neuen Welt an einer
die sich an einem deutschen Fall vergrei- senkrechten Wand angekommen, die man
fe. Das Vorgehen sei »unverantwortlich«, hinabklettern muss, um anschließend auf
»absurd«. Um das zu erkennen, braucht Ski weiter ins Tal abfahren zu können.
Zwanziger nicht mal seine Augen. Das er- Die Sportler hatten für den Abstieg
kennt seiner Ansicht nach jeder Blinde. jedoch eine Stelle gewählt, für die das
Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Seil, das sie mitgenommen hatten, viel zu
Jörg Schmitt Skibergsteiger am Schneefernerkopf kurz war. Einer der Skiläufer baumelte
Eines der riskantesten Abenteuer bereits hilflos über dem Abgrund. Sein
94
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
Freerider bei »Neue Welt«-Abfahrt in den Alpen: »Über bis zu 45 Grad steile Hänge Richtung Ehrwald«
Partner schaffte es nicht, ihn wieder hoch- Stabilität einer Schneedecke auswirken. ihrem Smartphone eine Touren-App herun-
zuziehen. Er erkennt die Zonen, in denen sich Lawi- tergeladen, die ihnen die richtige Route fast
Lutnig gab Alarm. Nachdem ein Ver- nen oder Schneebretter besonders leicht metergenau anzeigt. Sie sind ausgestattet
such gescheitert war, die Tourengeher mit lösen können. mit Funktionsklamotten, mit Sendern, Son-
einem Hubschrauber zu bergen, machte Ende Januar bricht er auf zu einer kur- den und Lawinenschaufeln. Manche tragen
er sich mit drei Kollegen auf zu den Tou- zen Skitour Richtung Brandjoch. Im Zick- sogenannte Lawinen-Airbags mit sich, die
risten. Sie hievten den einen Skifahrer aus zackkurs arbeitet Lutnig sich den Hang verhindern sollen, dass man vom Schnee
der Wand. Anschließend seilte sich die ge- zum Grat hinauf. Der Himmel ist klar, es begraben wird. Das teure Equipment gibt
samte Gruppe ab. gilt die niedrigste Lawinenstufe. Gämsen ihnen ein Gefühl von Sicherheit.
Doch mittlerweile hatte der Schnee- jagen durch das nur mäßig verschneite Bergsportschulen und Alpenvereine bie-
sturm begonnen, eine Abfahrt ins Tal war Gelände. ten für Skibergsteiger unzählige Kurse an.
unmöglich geworden. Die Retter bauten Wenn das Wetter umschlägt, kann sich Sie sind gut besucht. Die Teilnehmer ler-
ein Biwak aus Schnee unter einem Fels- ein alpines Idyll innerhalb weniger Stun- nen, sich im Gelände zu orientieren. Ex-
überhang. Mehr als zwölf Stunden lang den in eine Todeszone verwandeln. Vor perten bringen ihnen bei, wie man einen
harrten die Helfer mit den Skibergsteigern gut einem Jahr wären unweit des Brand- Vermissten mit dem Lawinenverschütte-
bei minus 20 Grad in der Höhle aus. Von jochs fast drei Studenten umgekommen. tensuchgerät finden kann.
den Hängen über ihnen donnerten immer Ein Unwetter hatte sie überrascht. Sie ka- Denn im Ernstfall bleibt nicht viel Zeit.
wieder Lawinen herab. men im tiefen Schnee nicht mehr weiter Nach 15 Minuten sinkt die Überlebens-
Am nächsten Mittag mussten sie per Ski und mussten sich eine Schutzhöhle graben. chance für einen Verschütteten rapide ab.
runter vom Berg, aus Sorge, eine weitere Erst nach Stunden konnten die jungen Die ganze Ausbildung und Ausrüstung
Nacht bei der Kälte nicht zu überleben. Männer in einer waghalsigen Hubschrauber- hilft aber manchmal nichts, weil die Natur
»Wir hatten großes Glück«, sagt Lutnig, aktion geborgen werden. unberechenbar ist.
»hätte uns bei der Abfahrt eine weitere La- In Deutschland hat sich laut Alpenver- Vor einem Jahr wurden die Ehrwalder
wine überrascht, wäre das wohl übel aus- ein die Zahl der Tourengeher in den ver- Bergretter zu einem Notfall in die Ammer-
gegangen.« gangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt gauer Alpen gerufen. Tourengeher aus
Lutnig stammt aus Ehrwald, er hat fast auf 600 000. Der Freizeitspaß hat Zulauf, Deutschland waren beim Abstieg von ei-
alle Gipfel im umliegenden Wetterstein- weil viele Wintersportler es satthaben, auf nem Gipfel in einem steilen Waldgebiet
gebiet und im Mieminger Gebirge bestie- überfüllten Pisten Ski zu laufen. von einer 200 Meter breiten Nassschnee-
gen und jede mit Ski befahrbare Berg- Die meisten Skibergsteiger verlassen sich lawine erfasst worden.
flanke bewältigt. Er weiß, wie sich wech- bei ihren Wanderungen nicht auf das Glück. Eigentlich gilt die Regel, dass Skiberg-
selnde Temperaturen und Winde auf die Sie haben Karten dabei und zusätzlich auf steiger im Wald ziemlich sicher sind. Dies-
Die letzten
Zeugen von
Schneefernerkopf,
Freeride-Abfahrt 2875 m
»Neue Welt«
Auschwitz
nahe der Zugspitze
im Wettersteingebirge
Abseilstelle
25 %
sparen
+ Prämie
Tabak, adieu Verkaufsstellen für Tabak massiv zu senken. Obwohl sie für die
Firmen wichtige Umsatzbringer sind, sollen Zigaretten bereits in
den kommenden Jahren aus allen Supermärkten und Tank-
Analyse Warum die Niederlande Zigaretten aus den stellen verschwinden. Das zuvor beschlossene Verbot aller Ziga-
rettenautomaten tritt schon Anfang 2022 in Kraft.
meisten Läden verbannen – und Deutschland nicht. Zigaretten sollen künftig nur noch in vergleichsweise dünn
gesäten Fachgeschäften zu kaufen sein. Im öffentlichen Raum
G Wer Zigaretten kaufen will, der hat es leicht in Deutschland. sinkt zudem die Zahl der Orte, an denen gequalmt werden darf;
Tabak gibt es am Kiosk, im Supermarkt, in der Drogerie, am ab April werden alle Bahnhöfe rauchfrei sein. Die Zigarette, das
Imbiss, an der Tankstelle und an circa 300 000 Automaten. ist so gewollt, soll die Aura des Alltäglichen, des Normalen und
Kaum ein anderes Produkt ist derart leicht verfügbar, 24 Stun- sozial Akzeptablen verlieren.
den am Tag, 365 Tage im Jahr. In Deutschland sind indes Verkaufsbeschränkungen für
Zigaretten töten in Deutschland mehr als 120 000 Menschen Zigaretten ein unpopuläres Thema. Im Bundestag haben Abge-
im Jahr, weltweit bringen sie jährlich über sieben Millionen Frau- ordnete der CDU, aber auch der SPD lange für das Gegenteil
en und Männer um. Die meisten Raucher möchten gern auf- gekämpft: dafür, dass Tabakwerbung auf Plakaten und im Kino
hören, sie schaffen es nur nicht – Tabak ist ein überaus starkes legal bleibt.
Suchtmittel. Und es lockt: an jeder Ecke. Kein anderer EU-Staat erlaubt der Tabakindustrie einen
Mit diesem Missstand machen zumindest die Niederlande derartigen Zugriff auf seine Bevölkerung. Und obwohl die
jetzt Schluss. Eine große Mehrheit im Haager Parlament hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jüngst Besserung gelobte, ist
Regierung vergangene Woche dazu verpflichtet, die Zahl der das entsprechende Gesetz nicht in Sicht. Marco Evers
schule Münster, So wird das Internet immer oft die Segregation, also in der Stadt?
über die Frage, mehr zu einer Erweiterung der den Umstand, dass einzelne Kurtenbach: Das halte ich
ob in Zeiten Nachbarschaft – und ganz Stadtteile zunehmend von eher für eine Legende, die den
digitalen Dauer- bestimmt nicht zu deren Ende. Menschen aus dem gleichen ländlichen Raum verklärt.
kontakts per Chat und Face- SPIEGEL: Trifft das für alle Kulturkreis und der gleichen Allerdings haben wir in einer
book Nachbarn noch wichtig Bevölkerungsgruppen zu? Bildungs- und Einkommens- Studie herausgefunden, dass
sind Kurtenbach: Es sind vor allem schicht bewohnt werden. Nachbarschaften intensiver
Nachbarschaften der jungen Welchen Einfluss hat das auf sind, wenn es, wie auf dem
SPIEGEL: Herr Kurtenbach, urbanen Mittelschicht, die bis- die Qualität von Nachbar- Land, viele Eigentümer gibt.
kennen Sie Ihre Nachbarn? her von den Plattformen profi- schaften? Kaufen statt mieten kann also
Kurtenbach: Ja, sehr gut sogar. tieren. Eine digitale Vernet- Kurtenbach: Es fällt den Men- auch deswegen eine sinnvolle
Das Problem der wachsenden zung wäre aus unserer Sicht schen natürlich leichter, sich Entscheidung sein. GUI
Anonymität ist nicht so groß, aber besonders in Quartieren
wie oft unterstellt wird. Tat- mit hoher Armutsprägung
sächlich sind viele Menschen, sinnvoll, denn darüber lässt
die Tür an Tür leben, intensiv sich informelle Hilfe organisie-
miteinander vernetzt. Auch ren und die Lebensqualität
heute leben wir in guten Zei- steigern.
ten für Nachbarschaften. SPIEGEL: Sind Menschen in
SPIEGEL: Woran liegt das? funktionierenden Nachbar-
Daran, dass ständig online schaften zufriedener?
bestellte Pakete hin- und her- Kurtenbach: Ja, sogar gesün-
geschleppt werden? der, das ist in vielen Studien
INA FASSBENDER / AFP
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Wissen
Es werde Sonne
Physik Mit neuen Reaktoren wollen millionenschwere US-Start-ups den alten Menschheitstraum
von der Fusionsenergie wahr machen. Die technischen Hürden sind enorm hoch.
D
er Mann, der in einer Fabrikhalle kein hoch radioaktiver Müll an, der für nisch für »der Weg«, kostet mindestens
das Feuer der Sterne entzünden Jahrmillionen irgendwo verbuddelt wer- 20 Milliarden Euro und liegt neun Jahre
möchte, verfolgt seinen Plan den muss. Stattdessen ist es möglich, Ab- hinter dem Zeitplan – die Projektleiter
wie eine Geheimoperation. Nein, fälle vor Ort zu verwahren, und die Strah- müssen auf die Befindlichkeiten von
sagt Robert Mumgaard, der Chef der Fir- lung ist nach wenigen Jahrzehnten weit- 35 Ländern Rücksicht nehmen, die das
ma Commonwealth Fusion Systems (CFS) gehend abgeklungen. Vorhaben bezahlen. Und wenn der Reak-
aus Cambridge bei Boston, die Werkstatt Fusionsreaktoren haben aber auch einen tor voraussichtlich im Jahr 2025 in Betrieb
dürfe man nicht betreten. Nicht einmal ein Nachteil: Noch hat keine Maschine es ge- geht, wird er keinen Strom erzeugen. Iter
kurzer Blick sei erlaubt. »Wir sind noch schafft, mehr Energie zu erzeugen, als man ist ein wissenschaftliches Experiment, eine
dabei, unsere Erfindungen zu schützen«, zum Betrieb in sie hineinstecken muss. Das Schablone für künftige Kraftwerke. Und:
fügt er hinzu. kontrollierte Sternenfeuer auf Erden funk- eine ewige Verheißung.
Das Einzige, was Mumgaard zu zeigen tioniert bislang nur in der Theorie. Commonwealth Fusion Systems möch-
bereit ist, wirkt unscheinbar: ein metal- te beweisen, dass es schneller geht. Das
lischer Streifen, breit wie eine Bandnudel Die Wende soll ein internationales Groß- Start-up ist das jüngste Mitglied einer
und fast so biegsam wie Papier. Er ist forschungsprojekt namens Iter bringen. Gruppe finanziell extrem gut ausgestatte-
der wichtigste Bestandteil seiner Maschine. Der riesige Reaktor wächst in der südfran- ter privater Fusionsunternehmen. Es gibt
Es handelt sich um einen neuartigen Hoch- zösischen Forschungsanlage Cadarache zwei Dutzend davon, vorwiegend in Nord-
temperatur-Supraleiter. Durch ihn fließt heran und wird einmal die Höhe eines
Strom ohne Widerstand, und zwar extrem zehnstöckigen Hauses haben. Iter, latei-
viel Strom. Mumgaards Ingenieure win-
den diese Streifen zu menschenhohen
Elektromagneten, den stärksten ihrer
Größe. Jede Magnetspule bestehe aus
500 Kilometer Supraleiter, und 18 Stück Gebändigtes Sternenfeuer
benötige er für seine Maschine, sagt Mum- Funktionsweise des Fusionsreaktors Sparc
gaard. Das ist alles, was sich ihm über seine
Wundermagneten entlocken lässt.
Macht eine Firma ein solches Geheim- In der Donut-förmigen Brennkammer werden
nis um sich, kann es zweierlei bedeuten: schwere Wasserstoffkerne, Deuterium und Tritium
Entweder hat sie etwas zu verbergen, genannt, auf 150 Millionen Grad Celsius erhitzt.
oder sie ist etwas Großem auf der Spur, Tritium und Deuterium bilden ein Plasma.
vielleicht sogar einem Menschheitstraum Ein Magnetfeld stabilisiert die Teilchen.
– wie dem von einer unerschöpflichen
Energiequelle.
Der Bau eines Fusionskraftwerks gehört
zu den kühnsten Unternehmungen der Die Kerne verschmelzen zu Helium.
Dabei setzen sie ein Neutron mit hoher
modernen Physik. Anders als in einem ge-
Energie frei.
wöhnlichen Kernkraftwerk werden Atom-
kerne in einem Fusionsreaktor nicht ge-
spalten, sondern verschmolzen – wie in
Sonnen. Dabei wird Wasserstoff in Helium Die Neutronen werden Deuterium
verwandelt, und eine enorme Menge Ener- in der Hülle des Reaktors
gie wird frei. Aus einem Gramm Brenn- abgebremst und erzeugen
material kann ein Fusionskraftwerk so viel dabei Wärme. Helium
Energie gewinnen wie ein herkömmliches
Kraftwerk aus elf Tonnen Kohle. Nur dass Tritium Neutron
der Reaktor dabei keine klimaschädlichen In der späteren Anwendung wird
Gase ausstößt. mit der Wärme wie in herkömm-
Fusionskraftwerke sind nicht darauf lichen Kraftwerken zunächst
angewiesen, dass Wind bläst oder die Wasserdampf erzeugt, über
Sonne scheint, und sie könnten Mega- Turbinen lässt sich anschließend
städte genauso mit Strom versorgen wie Strom produzieren.
die Schwerindustrie. Gegenüber der Kern-
spaltung haben sie zwei große Vorteile:
Die Reaktion kann nicht zu unkontrollier- 1 Gramm der Brennstoffe Tritium und Deuterium könnte bei einer Fusion
baren Kernschmelzen führen, und es fällt so viel Energie liefern wie die Verbrennung von 11 Tonnen Kohle.
100
amerika. Firmen wie TAE Technologies stehen, warum sich manche Erfindungen modulen wird das Neutron abgefangen
aus Kalifornien, die kanadische General durchsetzen und andere vergessen werden. und seine Energie in Wärme umgewandelt.
Fusion oder eben CFS aus Massachusetts »Eine Erfindung kann wissenschaftlich spit- Mit ihr lässt sich Wasser erhitzen, eine Tur-
haben ausgefeilte Pläne. Zum Teil haben ze sein und es dennoch zu nichts bringen«, bine antreiben.
sie schon Prototypen gebaut. Sie wollen sagt Mumgaard. Ein Start-up müsse von Kein Material der Welt hält aber
Fusionsenergie auf den Markt drücken Anfang an mitdenken, wie es sein Produkt 150 Millionen Grad aus – die Wand des
wie Tesla das Elektroauto oder SpaceX in großer Zahl produzieren könne und stets Reaktors ist deutlich kälter. Was wiederum
die Weltraumraketen. an Kapital komme. »Steht auf deinem Plan zur Folge hat, dass das Plasma abkühlt, so-
»Diese Start-ups sind überzeugt, dass an irgendeiner Stelle: ›Hier muss ein Wun- bald es die Wand berührt. Die Reaktion
sie die Fusion einen Riesenschritt voran- der geschehen‹, ist es kein guter Plan.« erlischt. Das hat zwar den Vorteil, dass im
bringen können«, sagt der Physiker Hart- Störfall die Reaktion nicht außer Kontrolle
mut Zohm vom Max-Planck-Institut für Mumgaards eigenes Konzept wurde von geraten kann. Es zeigt aber auch, warum
Plasmaphysik in Garching, das selbst an finanzmächtigen Investoren für solide die Unternehmung so knifflig ist: Physiker
Iter mitarbeitet. »Und sie setzen ihre Pläne befunden. In nur zwei Jahren hat CFS müssen ein Gefäß bauen, in dem Plasma
energisch um.« Robert Mumgaard von 115 Millionen Dollar eingesammelt, vor schwebt, ohne irgendetwas zu berühren,
CFS sagt: »Unser Antrieb ist der Klima- allem von Risikokapitalfirmen. Aber die gehalten etwa von den Feldern starker
wandel. Als eine von wenigen Lösungen technischen Probleme bleiben. Dazu ge- Magneten.
wird Fusionsenergie dem ungeheuren Aus- hört, dass ein Reaktor hohe Drücke erzeu- Wenn Robert Mumgaard erklären möch-
maß dieses Problems gerecht.« gen und ziemlich heiß werden muss, damit te, warum er fest an seine Idee glaubt,
Mumgaard, 36 Jahre alt und Chef von Atomkerne verschmelzen: 150 Millionen führt er durch eine Halle voller schrank-
etwa 50 Mitarbeitern, empfängt in einem Grad Celsius. In der Hitze lösen sich im großer Energiespeicher und ein Tor in
zweistöckigen Backsteinbau in Cambridge, Reaktor Elektronen und Atomkerne von- einer meterdicken Betonwand. Dahinter
den sich die Firma mit dem Fusionsfor- einander und bilden ein Gemisch, das sich verbirgt sich eine blassblau gestrichene
schungszentrum des Massachusetts Insti- Plasma nennt: ein dünnes, elektrisch gela- Riesentonne – das Vorbild für seine Son-
tute of Technology (MIT) teilt. Er trägt ei- denes Gas. Unter diesen Bedingungen ver- nenmaschine. Die Tonne heißt Alcator
nen weiten Pulli und ausgebeulte Jeans. wandeln sich zwei spezielle Wasserstoffker- C-Mod, der Reaktor ist ein Fossil der
Ihn faszinierten Bücher über Technikge- ne zu einem Heliumkern. Dabei entsteht Fusionsforschung.
schichte, erzählt Mumgaard. Er wolle ver- ein extrem energiereiches Neutron – das Jahrelang tüftelten Physiker des MIT
Teilchen der Sehnsucht für eine stromhung- an der Tonne herum. Mumgaard stieß
rige Menschheit. In speziellen Reaktor- 2008 dazu und war verantwortlich für ei-
nes der vielen Messinstrumente am Reak-
tor. Durch ein armdickes Rohr schoss er
Teilchen ins Plasma und vermaß das mag-
netische Feld. Gemeinsam gelang es den
Wissenschaftlern, die Plasmawolke immer
besser zu formen. Schließlich, am vorerst
letzten Betriebstag im Jahr 2016, stellte
Alcator C-Mod einen Rekord auf. Der Re-
Schutzwand aktor presste die Wolke mit einem Druck
aus besonders hitzebeständigem Material, z.B. zusammen, der mehr als zweimal so hoch
Beryllium. Sie schirmt den Rest des Reaktors von ist wie in der Atmosphäre auf Meereshöhe.
der Hitze ab. Das ist zwar verschwindend gering für das
Sterneninnere, für einen Fusionsreaktor
jedoch unerreicht. Vor allem aber konnte
Alcator C-Mod diesen Druck lange hal-
Spezielle Elektromagnete ten – zumindest auf der Zeitskala von
aus Hochtemperatur-Supraleitern pressen das Atomkernen: zwei Sekunden.
Plasma zusammen und sorgen so für die Alcator C-Mod gehört zu den sogenann-
Fusionsbedingungen. ten Tokamaks. Das Gefäß dieses Reaktor-
typs ähnelt einem überdimensionalen Do-
nut mit starken Magneten drum herum.
Blanket Elektromagnetische Wellen heizen die
soll im späteren Reaktor aus flüssigen Salzen Plasmateilchen auf, und die Magnete hal-
bestehen und die Wärme aus der Reaktion ten sie auf ihrer Bahn. Eine Sonne, einge-
abführen fasst von Magnetkraft.
Tokamaks sind die am weitesten ent-
wickelten Fusionsgefäße, jedoch längst
nicht die einzigen. So wird am Max-
Weitere Magnete halten das Plasma in Form. Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifs-
wald ein sogenannter Stellarator erprobt;
laut theoretischen Vorhersagen könnte er
Stützen fangen die mechanischen effizienter laufen als ein Tokamak, doch
Kräfte auf die Magnete ab. sein Bau ist noch anspruchsvoller. Unab-
hängig vom Reaktortyp gestaltet sich der
letzte Schritt zum Sternenfeuer zum Ver-
zweifeln schwierig. Entweder erreichen
Plasma (heißes, dünnes Gasgemisch) aus schwerem Wasserstoff die Maschinen nicht den nötigen Druck
101
Wissen
oder – wie Alcator C-Mod – nicht die er- Website oder Firmenschild. Herausgekom-
forderliche Temperatur. men ist eine Maschine von der Länge zwei-
Das Problem: Plasma liegt niemals ru- er Busse. Sie schießt Plasmakringel von
hig. Ständig geraten seine elektrisch gela- beiden Seiten aufeinander, die sich in der
denen Teilchen in Turbulenzen, verlassen Mitte des Reaktors zu einer zigarrenför-
ihre Bahn und prallen gegen die vergleichs- migen Plasmawolke vereinen.
weise kalte Wand. Berechnungen zufolge Die Maschine habe ihre Ziele in puncto
bieten sich zwei Lösungen für dieses Pro- Hitze und Plasmadauer erreicht, teilt
blem an. Man kann den Donut entweder die Firma mit und sieht sich für die ge-
größer bauen, um den heißen Plasmakern plante nächste Generation auf einem
besser von der Wand abzuschirmen. Das sicheren Weg: »Unseren Annahmen zu-
ist der Weg von Iter. Oder man baut stär- folge steigt die Stabilität des Plasmas mit
kere Magneten, um das Plasma enger zu- der Temperatur.«
sammenzudrücken. Das ist der Weg von Der Physiker Hartmut Zohm ist mit den
Commonwealth Fusion Systems. Konzepten der nordamerikanischen Fir-
Unter Physikern gibt es einen verbrei- men vertraut – und hat ernste Zweifel. Sie
teten Witz, schon seit den Sechzigerjahren: hätten noch nicht bewiesen, dass sie das
Thrillerautor John Grisham im Interview – eine Leseprobe zugeben, keine Steuern gezahlt zu haben. Das verschafft
aus dem nächsten SPIEGEL BESTSELLER: ihm sicher eine gewisse Anziehungskraft.
SPIEGEL: Diese ganzen Intrigen und Skandale unter
SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman »Die Wächter« sagt Ihr Trump, die ans Licht der Öffentlichkeit dringen – steckt da
Held, ein Anwalt: »Ich hatte Hunderte Mandanten, und auch ein Grisham-Thriller drin?
nach kurzer Zeit war ich an einem Punkt, an dem ich alle Grisham: Das Material wäre reichhaltig genug, na klar. Ich
für schuldig hielt.« Sie waren selbst Strafverteidiger. Wie habe eine Weile darüber nachgedacht. Bei Trump und all
gut können Sie Menschen einschätzen? den irren Geschichten habe ich allerdings das Gefühl, dass
Grisham: Es ist schwierig, nicht irgendwann jedem, der in es zu verrückt klingen würde.
die Kanzlei kommt, gefühllos, abgestumpft, zynisch und
zweifelnd gegenüberzustehen. Weitere Themen im nächsten
SPIEGEL: Ich frage deshalb, weil Sie 2016 sagten, dass SPIEGEL BESTSELLER
Donald Trump Ihnen keine Angst mache – im Gegenteil: Hausbesuch beim Stockholmer
Als Kandidat der Republikaner sei er am einfachsten zu Krimiautor Arne Dahl
schlagen. Der Pianist Igor Levit beantwortet den
Grisham: Das habe ich gesagt, mehrfach sogar. Vielleicht SPIEGEL-BESTSELLER-Fragebogen
auch einmal zu viel. Andererseits kann ich mich nicht erin- Interview mit Schauspielerin
nern, wann ich mal bei einer Wahl richtiglag. Paula Beer
SPIEGEL: Lässt sich der Erfolg von Trump mit einer Faszi- Kübra Gümüşays kluges Sachbuch
nation für Gauner erklären? über Sprache und Politik
Grisham: Wir neigen dazu, Verbrecher zu unseren Helden
zu machen. Trump hat auch etwas davon, er ist schamlos, SPIEGEL BESTSELLER erscheint viermal im Jahr als Beilage
wenn es um seine Laster geht. Er ist dreist genug, damit an- des SPIEGEL.
103
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Straße, Hausnr. Geburtsdatum
W
urde je ein Mensch so innig Wie kommt eine solche Fülle an Be- Rom der Antike pflegten die Senatoren
geschmäht wie die Bundes- leidigungen zustande? Woher die Erfin- einander öffentlich wüst zu beleidigen,
kanzlerin? Es gibt Leute, die dungswut? nicht zuletzt um das Publikum auf ihre
nennen Angela Merkel be- Wer das verstehen will, muss sich die Seite zu ziehen. In dieser Tradition steht
harrlich Murksel, Mürkül oder Mehrkill Szene genauer ansehen. Sie besteht zu auch der moderne Battle-Rap, bei dem
(da sie angeblich beabsichtigt, das »deut- einem großen Teil aus Leuten, die wenig die Musiker ihre Kontrahenten mit aus-
sche Volk« auszurotten). Besonders ge- gemeinsam haben – außer dem Drang, getüfteltem Schmähgesang »dissen«.
hässige Eiferer versteigen sich zu Adol- andere niederzumachen. Im gehässigen Bei den Rechten hingegen geht es kaum
Abwerten, glaubt Scharloth, finde die um die Pflege einer Kunstform. Sie begnü-
Nordrhein-Wirdfallen neue Rechte überhaupt erst zusammen.
Wie es dabei zugeht, ist den einschlä-
gen sich auch nicht mit der schlichten Be-
leidigung, die nur Einzelne trifft – und in
Mürkül
Murksel Annekröt K*uffn*uckenp*ack gigen Kommentar-
spalten zu entneh-
der Regel nicht lange vorhält. Was die
Hassbürger mit der Sprache treiben, geht
Staats(ver)gewalt(igung) Müsülmün
ReGIERung
Kuscheljustiz men. »Dort spie-
len sich regelrechte
weit darüber hinaus. Sie setzen systema-
tisch ganze Gruppen herab.
fela Ferkel und Überbietungswett- Zu diesem Zweck schmähen die Leute
Schlimmerem. Fernsehvolk
GehirnpROTHese bewerbe ab«, sagt vom rechten Rand, wie es scheint, fast
Eine Stichpro- Scharloth. Der eine ohne Unterlass. Und sie sparen dabei
be im Internet förderte weit über tausend Schreiber nennt die Kanzlerin Mehrkill, kaum etwas aus: Es geht nicht nur gegen
solcher Schmähvokabeln allein für die der nächste erhöht auf Mehrkillova (in die- die gewählte Regierung (BRD-/DDR-Jun-
Kanzlerin zutage. sen Kreisen wird die EU auch beharrlich ta), die angeblich gezielt Flüchtlinge (Fi-
Die abgründige Sammlung verdankt EUdSSR genannt). Und wo es wieder mal ckificki-Fachkräfte) ins Land holt, um die
man dem Sprachwissenschaftler Joachim um die verhassten Gutmenschen geht, ist angestammte Bevölkerung
Scharloth; er hat sie auf Onlineplattformen von BestmenschInnen oder gar von Super- auszurotten. Es geht auch Bundesverarschu
zusammengetragen, wo AfD-Anhänger, gutüberhochleistungsbestmenschen™ die gegen den Islam, den Femi-
Rechtsradikale und sonstige Hassbürger Rede. Je bizarrer das Spottkonstrukt, desto nismus, die Justiz, die De- WeiberXInnen
verkehren. Das Publikum dort bringt es besser die Aussichten auf den Beifall der mokratie, kurz: das System.
offenbar kaum noch über sich, Merkel ein- Gleichgesinnten. Selbst das ominöse Volk,
fach beim Namen zu nennen. »Jeder will möglichst noch eins drauf- dessen Willen man doch zu repräsen-
Auch sonst zeigen die neuen Rechten, wie setzen«, sagt Scharloth, »noch radikaler tieren vorgibt, ist oft Gegenstand ver-
der Forscher herausgefunden hat, eine selt- beleidigen.« Es gehe darum, Beachtung zu ächtlicher Tiraden. Ein Sauvolk wird es
same Obsession für das Herumfrickeln an finden, sich als der Härtere zu zeigen. Die genannt, ein Hosenscheißervolk, eine
Wörtern. Sie schreiben gern vielsagend Herde von Schlafschlachtschafen.
ReGIERung und Büntesrepüblük, das Par- Wahlbeschiss So kann sich die neue Rechte als elitäre
Tätervolk Grabschylant
Hosenscheisservolk
Minderheit inszenieren, die alles längst
durchschaut hat, während die Massen
ALImentsempfänger
Fickificki-Fachkräfte erst noch aufgeklärt werden müssen. Im
Stimmvieh-Doofies
Affgarnixtan 68er-Arschrichter
MitgliedX*/_Innen
POlitikern
Feminismusgeschwür JournagogenBülützkrügg
KamelbeglückerX*/_Innen
Jürüstün Wahlurnenkult
Schwanzlurch-Abgeordnete BRDDDR-Junta
D-Gutmenschen
»Ein solcher Ausschluss muss sprachlich Sprache verhunzen. Dabei ist ihnen doch
vorbereitet werden«, sagt Anatol Stefa- angeblich so sehr an der Reinheit des Deut-
nowitsch, Sprachwissenschaftler in Ber- schen gelegen«.
lin. Letztlich laufe es auf die Vernich- Gut möglich, dass im unaufhörlichen
tung der Geschmähten hinaus. Es müsse Verunstalten der Wörter schon der
nicht zwangsläufig so enden, aber damit Wunsch zum Vorschein kommt, etwas
fange es an. Aus Sicht des Forschers Ähnliches mit den Menschen anzustellen,
machen eingängige Voka- auf die man damit zielt – symbolische
ungsgericht beln das Schmähen öko- Gewalt an der Sprache nähme in gewis-
ser Weise die reale vorweg. Der
Presstituierte
C(haotisch) D(ebile) Eindruck drängt sich speziell bei
den Namen auf, an denen der
BAND 2 · 576 Seiten
Paperback · c 20,00 (D)
RechtsextremWICHSexperten Hassbürger zugange ist. Sein Fu- Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich
Al Waziristan Repüblük
ror richtet sich besonders gegen
ANALytikern U(ndemokraten) die Frauen in der Politik – von der In ihrem neuen Buch geben die
Grünenpolitikerin Claudia Roth,
Mülltikültüllütät nomisch und ef- deren Name etwa als Rot(z)h verballhornt SPIEGEL Journalisten
SPIEGEL-J ournalisteen Rafael Buschmann
fizient. »Durch wird, bis hin zur Bundeskanzlerin mit und Michael Wuulzinger wieder
sie werden Dinge sagbar, die man nicht ihren Aberhunderten von abfällig gemein- exklusive Einblicke in die zunehmend
mehr erklären muss. Und man kann sie ten Pseudonymen.
jederzeit wie beiläufig einfließen lassen, In früheren Kulturen war der Glaube mafiösen Strukturen im Spitzenfußball.
auch wenn es gerade um etwas anderes verbreitet, wer mit allerhand Simsalabim Dabei erzählen sie auch die Geschichte
geht.« den Namen eines Menschen beschwöre, des Whistleblowers, der die spekta-
Die Rechte pflegt nicht umsonst mit erlange auch Macht über ihn. So ganz kulären Enthüllungen möglich gemacht
Hingabe ihr Arsenal von Schmähwörtern. ist die Namensmagie nie verschwunden.
Etwas Ähnliches hat es bislang nicht ge- Die neue Rechte scheint ihr geradezu hat – und dafür nun im Gefängnis sitzt.
geben. Zwar bilden soziale Bewegungen verfallen zu sein. Sein Schicksal zeigt, wie gnadenlos
in der Regel einen Jargon aus – so wie Besonders die vormalige SPD-Vorsitzen- die Branche gegenn jeden vorgeht,
vorgeht der
beispielsweise die Spontis in den Siebzi- de hatte unter zwangsoriginellen Wort-
gern Bankfurt für Frankfurt sagten. Aber spielen zu leiden: »Sie glauben gar nicht«, ihr gefährlich werden kann ...
viel weiter ging das kaum. sagt der Sprachforscher Scharloth, »wie
Nicht einmal die Nazis kannten einen viele Namenswitze mit ›anal‹ über An-
solchen Reichtum abwertenden Vokabu- drea Nahles gemacht wurden.«
lars. Wenn sie hetzten und wüteten, griffen Die postpubertär verklemmte Narretei BAND 1
BA
sie dabei eher selten auf spezielle Schmäh- gehört offenbar zum Kernbestand des 3552 Seiten aktualisiert
wörter zurück. Schmähsystems. Die Hassbürger machen unnd erweitert 2018
Es gab damals eben noch kein Internet, auch da vor kaum einer Peinlichkeit halt. Brroschur
o · c 10,00 (D)
kein Facebook, keine Onlineplattformen. Von POlitikern ist in Scharloths Sammlung Aucch als E-Book und
Ein gemeinsames Wörterbuch der Ge- relativ häufig die Rede, von Rechtsextrem- Hörbuch erhältlich
hässigkeit setzt voraus, dass viele Men- WICHSexperten und ANALytikern.
schen zugleich daran arbeiten und es er- Das verrät auch einiges über Charakter
weitern können. Die einen steuern Ideen und Reifegrad der Urheber. Es spricht das
bei, andere greifen sie auf und spitzen sie öffentliche Klo. Manfred Dworschak
zu, und alle zusammen sorgen für Aus-
107 www.dva.de
Kultur
CHRISTIAN DEVLEESCHAUWER
Literatur nitz mit Freundinnen gründet. weilig und konservativ zu auffällig geworden sind. Und
Einfach um für immer zusam- werden. Von solchen Leuten ist sie berichtet von der Stille und
Chemnitzer men zu sein, gemeinsam poli- die Welt ohnehin schon voll dem alltäglichen Kampf da-
Kämpferinnen tisch links zu bleiben, zu trin- genug. Irmschler erzählt vom nach. »Superbusen« ist auch
ken und zu feiern. Die Band Partyleben in Chemnitz, ein Roman über den Kampf
Einfach mal die Welt verän- hilft dabei, nicht alt und lang- vor allem aber von der Politik. der Protagonistin mit sich
dern, Musik machen und Spaß Von den Nazis der Stadt, der selbst. Gisela entspricht nicht
haben. Dafür ist Gisela von Toleranz der Bürger gegenüber der Körpernorm, ist super-
Dresden nach Chemnitz gezo- den Rechtsextremen. Sie er- dick – und davon erzählt die-
gen. So ein Umzug ist für ech- zählt von den alltäglichen Be- ses eindrucksvolle Debüt
te Dresdner natürlich ein Ver- drohungen, denen erkennbar ebenfalls: über die Scham, das
rat. Von der Schönheit ins Linke und Menschen, die für Leiden, den nie endenden
verachtet Hässliche, das macht Ausländer gehalten werden, Spott, die Angst und die
man einfach nicht. Paula ausgesetzt sind. Staunend und Schwierigkeiten der Heldin,
Irmschler, 1989 in Dresden spöttisch beschreibt die selbst mit den besten Super-
geboren, »Titanic«-Redakteu- Autorin die Sekundenbesuche busen-Freundinnen über das
rin, hat ihren ersten Roman wohlmeinender Demons- Offensichtliche zu reden. VW
»Superbusen« genannt. So tranten, Musiker, Politiker in
PRIVAT
heißt auch die Band, die die der Stadt immer dann, wenn Paula Irmschler: »Superbusen«.
Romanheldin Gisela in Chem- Irmschler die Nazis der Stadt allzu Claassen; 320 Seiten; 20 Euro.
109
Kultur
Der Verrat
Literatur Ingo Schulze wurde in Dresden geboren und nach der Wende einer der erfolgreichsten
Schriftsteller des Landes. Hat er sich den Erfolg durch Verleugnung des Ostens
und seiner selbst erkauft? Sein neuer Roman ist ein Geständnis. Von Volker Weidermann
D
ieses Werk ist ein Angriff auf die de sich sowieso nichts ändern. Zu viel Kon- stände verlieren von einem Tag auf den
Etablierten. Ja, fehlt es denn da- takt mit der Ewigkeit kann den Blick auf anderen komplett ihren Wert. Erschüttert
ran?, möchte man fragen. Sind die Gelegenheiten des Jetzt schon trüben. sieht der Antiquar Bücherberge auf Müll-
diese Etablierten zurzeit nicht oh- Nach der sogenannten Wende geht es halden, die gesamte DDR-Produktion,
nehin von allen Seiten scharfen Angriffen mit Paulini und seiner Welt bergab. Die Klassiker, Dissidentenwerke, Neues, Altes:
ausgesetzt? Sind die Etablierten von einst Kunden bleiben aus, haben Besseres zu tun, Was eben noch ein wertvoller Schatz war,
nicht längst die Zittrigen von heute? Und als alte Bücher zu kaufen, und Paulinis Be- ist plötzlich Abfall, der von Müllbaggern
muss man in dieser Situation ihre sturm-
reife Festung noch bombardieren?
Doch das Interessante an »Die recht-
schaffenen Mörder«, dem neuen Roman
von Ingo Schulze, 57, der am 4. März er-
scheint, ist, dass hier von innen geschossen
wird: aus der Festung gegen die Mauern,
die das Innere und ihre etablierten Bewoh-
ner doch eigentlich schützen sollen. Es ist
ein Buch über den von Hass und Ressen-
timents beherrschten Osten Deutschlands,
aus der Perspektive von einem, der weg-
gegangen ist. Der seine Herkunftswelt hin-
ter sich gelassen hat, um im Westen Erfolg
zu haben. Und der sich jetzt fragt: Hat sein
Verrat, seine »Selbstentleibung« Ost, zu der
Situation, wie sie heute ist, beigetragen?
111
Fehlen jedweder Nachwendeweinerlichkeit Und das ist alles nicht aus der Perspek-
an. Endlich also einer, der nicht jammert. tive eines Uwe Tellkamp geschrieben, der
Der beschreibt, staunt, großartig schreiben in seinem Erfolgsroman »Der Turm« eine
kann und Erfolg hat im neuen Land. ganz ähnliche, luftabgeschlossene höhere
Nach seiner Rückkehr aus Sankt Peters- Herkunftswelt entwarf und der in seiner
burg zog er nach Berlin, hat seitdem fast 1000-seitigen Fortsetzung womöglich –
ununterbrochen im Westen gelebt. Er fügt das legen die politischen Äußerungen Tell-
hinzu: »Der Verlag, die Zeitungsrezensio- kamps und die bekannten ersten Passagen
nen, die Lesungen, das war alles Westen. nahe – eine rechtsextreme und ausländer-
Erst bei einem Interview 1998 sagte mir ein feindliche Gesinnung der gefallenen Hel-
Journalist von der ›Süddeutschen Zeitung‹: den als folgerichtige Konsequenz der West-
›Sie müssen mir das nicht alles erklären, ich dominanz beschreiben wird.
bin auch aus dem Osten.‹ Da merkte ich Ein solcher entschuldigender Fatalismus
Belletristik Sachbuch
Das neue
7 (9) Susanne Fröhlich
Ausgemustert Knaur; 16,99 Euro 7 (–) Walter Kohl Welche Zukunft
8 (8) George Saunders
Fuchs 8 Luchterhand; 12 Euro 8 (6)
wollen wir? Herder; 24 Euro
P
rinz Pi und Prinz Porno teilen xis, einer Anwaltskanzlei oder bei Gold- Songs zu schreiben, und nahm mit 19 Jah-
sich eine Altbauwohnung mit man Sachs. Ein Rapper, der eher Banker ren sein erstes Rap-Album auf (Auflage:
hohen Decken, drei Balkonen geworden wäre, als Banken auszurauben, zwölf Stück), als Prinz Porno. Damals
und drei Parkplätzen. Vor der warum kommt der so gut an? sei es ihm darum gegangen, durchs Schrei-
Wohnung, tiefer Berliner Westen, sind Kautz ist Sohn einer Buchhalterin und ben Wut abzulassen: »Auf dem Blatt, da
die Passanten auf den Bürgersteigen rar eines Zollbeamten, zu dessen Beruf es konnte ich als Sieger vom Platz gehen und
gesät, im Treppenhaus knarzen die Die- gehört habe, sichergestellte Drogen zu zeigen, was ich kann.«
len, als machten sie Werbung für Heime- untersuchen, erzählt Kautz. Er wurde in Doch erst mit der Zahl Pi im Namen,
ligkeit, und in der Wohnung hängen die Charlottenburg geboren und besuchte als Prinz Pi, wurde Kautz berühmt: mit
Fotos an den sauber gestriche- gerappten Coming-of-Age-Sto-
nen Wänden gerade. rys, irgendwo zwischen Pa-
Prinz Pi und Prinz Porno thos, Tristesse und Sozialkri-
sind Rapper. tik. »Die Generation, für die
Sie sind ein und dieselbe ein Roman wie J. D. Salingers
Person. ›Fänger im Roggen‹ alles war,
Friedrich Kautz, 40, der stirbt jetzt aus«, sagt Kautz.
Mann hinter den Pseudo- »Dafür gibt es heute viele Leu-
nymen, empfängt an der Tür, te, die sagen: ›Dieser Song, der
hinter ihm her tapst Sgt. Pep- beschreibt mein Leben in drei
per, Kautz’ Hund. Der Hund Minuten.‹«
davor hieß Penny Lane. Ein Antrieb für Kautz, als
Kautz, der die Beatles, den Prinz Pi aufzutreten, sei es
Schriftsteller Bret Easton Ellis, gewesen, an Jugendliche ran-
aber auch den Rapper Biggie zukommen, die ein Schrift-
Smalls mag, ist einer der er- steller mit seinen Büchern
folgreichsten Hip-Hop-Künst- nicht erreiche. Zudem habe
ler Deutschlands. Seit Jahren er in der deutschen Literatur
landen seine Alben in den Top Bücher wie »American Psy-
Ten, drei davon standen auf cho« von Bret Easton Ellis
Platz eins. vermisst und sich die Aufgabe
Jüngst hat er zeitgleich zwei gestellt, diese Lücke zu füllen.
neue Alben veröffentlicht, ei- Mit Rap.
nes als Prinz Pi, eines als Prinz »Wahre Legenden« heißt
Porno: zusammen 91 Minuten das neue Album von Prinz Pi.
MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL
115
ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL
HERBERT HOFFMANN / BPK
ULLSTEIN BILD
Wissenschaftler Simms, Diktator Hitler 1936, amerikanischer Soldat mit Hitler-Büste 1945
»Ein Arrangement über die Aufteilung der Welt«
116
Kultur
Das Verständnis von Hitler und seiner Simms: Die Furcht vor dem Kommunis- nationale Kapitalismus bleibt. Den Bol-
Ideologie ist durch seinen Rassenwahn, mus war sehr ausgeprägt, das zu bestreiten schewismus betrachtet er nur als Virus,
den Vernichtungskrieg im Osten und den wäre absurd. Meine These lautet aber, dass dessen Ausbreitung Deutschlands natio-
Holocaust geprägt. In einer Biografie, die sie seinem Hass auf den globalen Kapita- nale Wirtschaftskraft zertrümmern und
nun auf Deutsch erscheint, bricht der Ire lismus und seiner Furcht vor der anglo- damit reif für die Übernahme durch die
Simms, 52, mit vielen verbreiteten Ansich- amerikanischen Macht nachgeordnet war. Kräfte des internationalen Kapitalismus
ten über die Intentionen und Antriebskräfte Sein politischer Orientierungspunkt am machen würde.
des Diktators. Simms ist Professor für Ende des Ersten Weltkriegs war nicht die SPIEGEL: Der Bolschewismus ist für ihn
Geschichte der internationalen Beziehun- Russische Revolution, sondern die Nieder- ein Instrument des internationalen Kapi-
gen in Cambridge. lage gegen die westlichen Alliierten und talismus? Das klingt ziemlich verquer.
die Mächte des internationalen Kapitalis- Simms: Nicht, wenn Sie seiner Logik fol-
SPIEGEL: Mr Simms, über Adolf Hitler, mus, die von Großbritannien und Amerika gen und seine Prämissen verstehen, wobei
das »Dritte Reich« und den Zweiten Welt- verkörpert wurden. Auch seine ersten do- ich betonen möchte, dass man sich als His-
krieg gibt es unzählige Veröffentlichungen. kumentierten antisemitischen Ausfälle aus toriker in seine Gedankenwelt versetzen
Was hat Sie bewogen, dieser langen Liste dem Sommer 1919 entspringen eindeutig muss, um sie deuten zu können, ohne sie
einen weiteren Titel hinzuzufügen? seiner Haltung zum Kapitalismus, nicht zu übernehmen oder sich von ihr anste-
Simms: Alle diese Werke haben entschei- zum Bolschewismus. cken zu lassen. Dann stoßen Sie auf sein
dende Beiträge zu unserem Verständnis SPIEGEL: Sein Antisemitismus hatte weni- Argument, dass der internationale Kapi-
von Hitler geleistet. Sie sind Produkte ger eine antikommunistische als eine anti- talismus und Angloamerika alle möglichen
ihrer Zeit, sie spiegeln unterschiedliche kapitalistische Stoßrichtung? Mittel nutzten – die Gewerkschaften, den
Ansätze und wissenschaftliche Trends Simms: Hitler wurde zum Feind der Ju- Liberalismus, die Demokratie, den Mar-
wider – Totalitarismusforschung, Sozial- den, bevor er zum Gegner der Russischen xismus, die Sozialdemokratie und den Bol-
geschichte, Kultur und Psychologie. Ich Revolution wurde. Und er war zum Geg- schewismus –, um die nationale Volkswirt-
glaube jedoch, dass all diesen Studien, so ner Großbritanniens und der Vereinigten schaft Deutschlands zu zerstören.
bedeutend sie sind, zwei oder drei wichti- Staaten von Amerika geworden, bevor er SPIEGEL: Machen Sie da aus Hitler einen
ge Dimensionen fehlen. zum Judenfeind wurde. Tatsächlich wurde der ersten Globalisierungskritiker?
SPIEGEL: Was haben sie übersehen? er zum großen Teil wegen seines Hasses Simms: Noch einmal: Ich will Hitler nicht
Simms: Vor allem Hitlers überaus heftige auf die kapitalistischen, angloamerikani- rechtfertigen. Aber sein gesamtes Denken
Gegnerschaft zum internationalen Kapita- schen Gegner Deutschlands zum Antise- und die Politik des »Dritten Reichs« waren
lismus. Und dann seine beharrliche Aus- miten. Es ist entscheidend, die kausale Ver- im Wesentlichen eine Reaktion auf die
einandersetzung mit den Briten und den knüpfung richtig zu verstehen. enorme globale Macht des britischen Em-
Amerikanern, mit der deutschen Auswan- SPIEGEL: Hitler hatte den Ersten Welt- pire und der Vereinigten Staaten.
derung nach Amerika, mit dem Rassen- krieg im Westen mitgemacht, wo den SPIEGEL: Sein Verhältnis zu Großbritan-
kampf nicht allein gegen die Juden oder Deutschen britische und am Ende auch nien und den USA war durch Furcht und
die Slawen, sondern mit den Angelsachsen. amerikanische Soldaten gegenüberstan- Bewunderung geprägt. Warum?
Dazu seine höchst zwiespältige Haltung den. Aber hat er danach, in den Wirren Simms: Bewunderung und Respekt ent-
zum deutschen Volk. der ersten Nachkriegsjahre, die rote Ge- sprangen seinen Erfahrungen im Krieg.
SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, dass Hit- fahr nicht als viel bedrohlicher angesehen? Hitler kam immer wieder auf die Zähigkeit
lers Hauptaugenmerk gar nicht, wie weit- Simms: Wenn man Hitlers politisches der Briten zu sprechen, wie er sie an der
hin angenommen, dem Bolschewismus, Weltbild in seiner Entstehung und Ent- Front erlebt hatte. Die Kämpfe im Osten
der Sowjetunion und den Juden galt? wicklung durch die Zwanziger- und Drei- berührten sein Bewusstsein dagegen zu
ßigerjahre und auch noch durch den dieser Zeit kaum. Hinzu kam die Be-
Brendan Simms: »Hitler. Eine globale Biographie«.
von ihm angezettelten Krieg verfolgt, gegnung mit amerikanischen Soldaten
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. DVA; dann ergibt sich eindeutig, dass der im Sommer 1918, frischen Truppen, die
1056 Seiten; 44 Euro. Erscheint am 9. März. Hauptfeind Angloamerika und der inter- hoch motiviert gegen erschöpfte Deutsche
antraten. Darunter befanden sich auch der angloamerikanischen Welt eine so ein-
Deutschstämmige. Hitler schilderte in spä- drucksvolle Stärke zuschreiben, wenn er
teren Reden wiederholt, wie dieses Aha- sie zugleich für jüdisch beherrscht hielt?
Erlebnis ihm die Augen geöffnet habe: Das Simms: Daraus ergibt sich wirklich ein lo-
Reich sei über Jahrhunderte durch die Aus- gisches Problem. Er assoziierte Juden als
wanderung seiner besten rassischen Ele- angebliche Regenten der Börse so eng mit
SPIEGEL TV
re, aber es kam mehr auf die Maschinen-
als auf die Mannschaftsstärke an. Entschei-
dend war die Produktionsschlacht. Und Klimawandelskeptikerin Seibt
wenn Sie deren Zahlen betrachten – Flug-
zeuge, U-Boote, Munition, V-Waffen –, so
stellen Sie fest, dass der Hauptanteil dem SPIEGEL TV SPIEGEL TV REPORTAGE
Kampf gegen die Angloamerikaner galt. MONTAG, 2. 3., 23.15 – 0.00 UHR, RTL DIENSTAG, 3. 3., 23.10 – 0.15 UHR, SAT.1
SPIEGEL: Und die Panzerschlachten im
Osten? Die Wut der Klimaleugner Notruf Frankfurt –
Simms: Panzer machten nur einen gerin- Beim Klimawandel scheiden sich die Keine Atempause für die
gen Anteil der deutschen Waffenproduk- Geister: Die einen glauben der Wis- Rettungssanitäter
tion aus. Hitler führte ab 1941 zwei Ver- senschaft, die anderen abstrusen Christoph Grüne und Fraz Ahmad
nichtungskriege, den einen gegen die Verschwörungstheorien – wie Naomi sind Sanitäter auf einem Rettungs-
Sowjetunion, den anderen, der schon viel Seibt, selbst ernannte »Anti-Greta«. wagen in Frankfurt. Es gibt Tage,
früher begonnen hatte, gegen Angloame- an denen sie zwischen Bahnunfall,
rika und das von ihm so genannte Welt- Lost auf Lesbos Drogenüberdosis und blutiger
judentum, der zum Völkermord eskalierte. Auf der griechischen Insel eskaliert Messerstecherei nur wenige Augen-
SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie durch eine der Konflikt zwischen Flüchtlingen blicke zum Verschnaufen haben.
sehr britische Lupe auf den Zweiten Welt- und Einheimischen. Ein Fulltime-Job für die Männer vom
krieg blicken? Arbeiter-Samariter-Bund.
Simms: Aber Hitler selbst interpretierte die Unschuldig im Gefängnis?
Welt in einer anglozentrischen Perspektive! Seit neun Jahren ist der angebliche
Er hatte diese Macht im Ersten Weltkrieg Doppelmörder Andreas Darsow in
fürchten und bewundern gelernt. Lange Haft, aber er bestreitet, die Tat be- SPIEGEL TV WISSEN
hoffte er, ein Arrangement über die Auftei- gangen zu haben. MITTWOCH, 4. 3., 17.45 – 20.15 UHR, SKY
lung der Welt mit ihr erreichen zu können. und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Er übersah, dass die Briten niemals zulassen
würden, dass eine Macht – ob Deutschland
oder eine andere – den europäischen Kon- SPIEGEL GESCHICHTE
tinent dominierte. Sein Vorbild und sein DIENSTAG, 3. 3., 20.15 – 21.05 UHR, SKY
Feindbild war Angloamerika. Sein Projekt
ENTERTAINMENT ONE
des »Dritten Reichs« war seine Antwort auf Lügen, die Geschichte
die Vorherrschaft der Briten, der Amerika- schrieben – Der Fall Madoff
ner und des globalen Kapitalismus. Mindestens 50 Milliarden Euro Scha-
SPIEGEL: Und der Holocaust? den, Tausende Opfer und ein Betrü-
Simms: Der Holocaust war untrennbar ger, der zu 150 Jahren Haft verurteilt Hoverboarder auf Wolkenkratzer
verbunden mit der Feindschaft gegenüber wurde. Das ist die Bilanz des Krimi-
der globalen Hochfinanz, die im und nach nalfalls um Bernard Madoff. Nach elf
dem Ersten Weltkrieg in seinen Augen Jahren in Haft hofft er nun, vorzeitig Der Clip-Check –
Deutschland ausgehungert und geknechtet entlassen zu werden. Echt oder Fake
hatte. Der Holocaust war in seiner pa- Mit der wachsenden Videoclipflut
GETTY / NY DAILY NEWS ARCHIVE
119
Kultur
Schwarzer Panther
Rassismus Er ist der wichtigste afroamerikanische Intellektuelle, seine Essays durchleuchten
die Diskriminierung in den USA. Nun erscheint Ta-Nehisi Coates’ erster
Roman »Der Wassertänzer«: Er beschreibt den Alltag der Sklaverei. Von Philipp Oehmke
I
m vergangenen Sommer ist Ta-Nehisi eindringlicher Warnbrief Ta-Nehisi Coates’ die Rede war, die junge schwarze Männer
Coates nach Washington ins Kapitol an seinen damals 14-jährigen Sohn, wurde erschossen hatten. Das hatten sie wohl
gereist, um vor dem Abgeordneten- ein Bestseller und ist heute das Referenz- schon immer getan, bloß gab es nun auf
haus auszusagen. Es ging um das dokument für Schwarze wie Weiße, die einmal Videos davon. Michael Brown in
Gesetzesvorhaben H. R. 40, Reparationen ein Gefühl dafür bekommen wollen, wie Ferguson, Trayvon Martin in Florida,
für afroamerikanische Bürger. Coates hat- sehr sich ein schwarzes Leben von einem Tamir Rice in Cleveland, Freddie Gray in
te sich ein weißes Hemd und ein tailliertes weißen in den USA unterscheidet. Es ge- Baltimore.
graues Sakko angezogen, aber die obers- hört vielleicht zu den prägendsten Erfah- Es war jedenfalls eine ziemlich große
ten beiden Knöpfe des Hemdes offen rungen für einen Europäer, der für einige Lücke, die von Baldwin, in die Ta-Nehisi
gelassen. Jahre in die USA kommt, wenn er in sei- Coates da reinsollte.
Am Tag zuvor hatte ihm der umtriebige nen ersten Wochen feststellt, wie tief der Er misst einen Meter zweiundneunzig
Mehrheitsführer im Senat, Mitch McCon- Rassismus in jeder Form bis in die banals- und hat eine kompakte Statur. Es ist ein
nell, schon entgegengerufen, er verstehe ten Alltagsvorgänge verwoben ist: an der Montagmorgen Mitte Februar, gerade wird
nicht ganz, was der Quatsch mit Reparatio- Supermarktkasse, auf dem Amt, in der es 7.25 Uhr. Coates stapft durch die Kälte
nen solle, er halte das alles »für keine gute U-Bahn, auf dem Kinderspielplatz. am Cooper Square auf dem Weg zu einem
Idee«. Die Sklaverei sei jetzt schließlich seit Erstaunlich, dass gemessen an seiner Gebäude der New York University, wo er
150 Jahren vorbei, und die Leute, die damals Omnipräsenz und Schwere nicht viel Journalismusstudenten gutes Schreiben
dafür verantwortlich waren, seien alle tot. mehr über dieses Problem geschrieben beibringen soll. Er trägt eine schwarze Dau-
Außerdem habe man in dieser Sache bereits und nachgedacht wurde. Vielleicht konn- nenjacke von Moncler, einer Luxusmarke,
»einen Bürgerkrieg geführt, bahnbrechende ten die Amerikaner nach all den Jahrhun- die sonst eher von wohlhabenden Skifah-
Bürgerrechte verabschiedet und einen afro- derten und Jahrzehnten auch schlicht rern von Kitzbühel bis Aspen getragen
amerikanischen Präsidenten gewählt«. Und nicht mehr. Vielleicht hatten sie resigniert. wird. Coates kopiert damit das Modecredo
jetzt noch Reparationen? C’mon. So wie Leute irgendwann aufhören, sich der Rapszene: Marken, die mit weißem
Gegen den Republikaner McConnell über die Verspätung der Bahn aufzuregen, Wohlstand und Macht assoziiert werden,
hatten die Befürworter des Gesetzesvor- so lassen sie es vielleicht auch irgendwann zu besetzen und umzucodieren.
habens für Reparationen, hauptsächlich mit dem Rassismus. Es änderte sich ja Coates’ Seminar beginnt um halb zehn.
Angehörige der Demokratischen Partei, doch nichts. Dieser Termin um 7.25 Uhr war der einzi-
ihren besten Mann geschickt: Ta-Nehisi Ab Mitte der Zehnerjahre wurde es so- ge, den er innerhalb der nächsten Wochen
Coates. Er gilt, zumindest in progressiven gar eher wieder schlechter, als in den Nach- frei hatte, und er sieht abgekämpft aus,
Kreisen, als wichtigster lebender afroame- richten alle paar Wochen von Polizisten eine Erkältung. Seine Assistentin hatte vor-
rikanischer Denker. gewarnt: »Ta-Nehisi has a cold.«
Als er 2015 ein kleines Büchlein mit Er ist trotzdem gekommen, um über sei-
dem Titel »Zwischen mir und der Welt« nen ersten Roman zu sprechen. Er sagt, er
fertig hatte, bat Coates seinen Verlag, habe ihn lange vor seinem Erfolg »Zwischen
der schwarzen Literaturnobelpreisträgerin mir und der Welt« begonnen. Der Roman
Toni Morrison die Fahnen seines Buchs zu ist, wenn man so will, das »Was bisher ge-
schicken. Coates kannte Morrison nicht, schah« zu Coates’ essayistischem Werk.
aber er bewunderte sie. Nach einigen Ta- Ging es in Letzterem um die Gegenwär-
gen schrieb Morrison zurück: »Ich habe tigkeit schwarzen Lebens, behandelt »Der
mich schon lange gefragt, wer die intellek- Wassertänzer« die Ursünde, auf der alles
tuelle Lücke schließen könnte, die mich beruht: jene Sklavenhaltung, für die Coates
geplagt hat, seit James Baldwin gestorben in dem wegweisenden Essay »The Case
ist: Ganz klar ist das Ta-Nehisi Coates.« for Reparations« von 2014 Wiedergut-
Baldwin ist 1987 gestorben, die Lücke machungszahlungen gefordert hat, für
war also schon ziemlich lange da. Und weil die er im Sommer 2019 vor dem Senat
Baldwin, der in den Fünfziger- und Sech- gesprochen hatte.
zigerjahren richtungsweisende Abhand- Die Sklavenhaltung wurde 1865 nach
lungen dazu schrieb, was es bedeutete, dem Ende des Sezessionskriegs abge-
schwarz in Amerika zu sein, war es auch schafft, also tatsächlich schon vor langer
eine ziemliche große Lücke. Zeit. Doch darauf folgten weitere 100 Jah-
Doch Morrison hatte sich nicht ge- re, bis 1965, in denen die sogenannten
täuscht. »Zwischen mir und der Welt«, ein Jim-Crow-Gesetze Afroamerikaner zu Bür-
DPA / PA
120
als wir bisher in Freiheit leben. Die Skla-
verei hat die Geburtsjahre dieser Nation
definiert und war immer an die Institutio-
nen des Wohlstands geknüpft. Es wäre
merkwürdig, wenn das keine Spuren hin-
terlassen hätte. Es wäre verrückt anzuneh-
men, dass die Sklaverei zwar stattgefun-
den, aber nichts damit zu tun hat, dass die
betroffene Bevölkerungsgruppe sich heute
am unteren Ende nahezu jeder sozioöko-
nomischen Kategorie wiederfindet.«
Coates sagt, er habe als junger Mann
selbst hart daran arbeiten müssen zu ver-
stehen, warum das im Einzelnen so ist, er
habe viel dafür lesen und denken müssen.
Intuitiv aber habe er die Zusammenhänge
schon immer befürchtet.
»Jeder fühlt es in seinen Knochen. Ich
habe als Kind früh erkannt, dass mein Vier-
tel irgendwie gefährlicher ist. Dass die
Menschen um mich herum ärmer sind.
Und die Schulen beides, ärmer und gefähr-
licher. Doch dann schaltest du das Fernse-
hen an, und du siehst: Die meisten Ameri-
kaner leben gar nicht so. Das bist nur du!«
Ta-Nehisi Coates ist auf der Westside
von Baltimore aufgewachsen, in einer Ge-
gend, die seit der Sozio-Drogenhandels-
Serie »The Wire« eine gewissen Reputa-
tion hat, mit ihren Straßen voller zugena-
gelter Häuser, 13-jähriger Corner Boys, die
Heroin an die Eltern verkaufen, und den
Polizisten, die wissen, dass sie mit ihren
Festnahmen nie etwas verändern werden.
Coates’ Vater war bei den Black Panthers
und hat mit vier Frauen sieben Kinder ge-
zeugt, Ta-Nehisis Mutter, eine Lehrerin,
war die letzte in der Reihe. Über all das
hat Coates 2008 in einer Art Coming-of-
Age-Buch berichtet, in »The Beautiful
Struggle«.
VINCENT TULLO / DER SPIEGEL
Waldfeen auf dem kamen auch diverse Körperflüssigkeiten zum Einsatz. »Die
Horrorfilme der Siebzigerjahre, zum Beispiel ›Suspiria‹ von
Dario Argento, sind für meine Arbeit bis heute wichtig, aber
Kriegspfad auch die Filme von Quentin Tarantino«, sagt Holzinger. »Alle
meine Shows haben ein cinematografisches Moment.«
»Tanz« aber ist zunächst eine fast liebevolle Beschäftigung
mit der Balletttradition des 19. Jahrhunderts. Die engelsglei-
Theaterkritik Die Choreografin Florentina chen Tanzschülerinnen und die auf einem Besen reitende
Holzinger gastiert mit ihrer Stuntkünstlerin spielen in einer modernen Version des be-
rabiaten Performance »Tanz« in Berlin. rühmten Balletts »La Sylphide« mit, das im Jahr 1832 in Paris
uraufgeführt wurde. Die Regisseurin sagt: »Die Tradition des
klassischen Tanzes interessiert mich wirklich, wegen der per-
EVA WURDINGER
und Besucher, in der Ankündigung der
Berliner Sophiensäle heißt es: »In eini-
gen Szenen kommen selbstverletzende
Handlungen zur Darstellung, die auf Mitwirkende in Holzinger-Stück »Tanz«: Verblüffend rohe Aktionen
manche Zuschauer*innen eine verstören-
de Wirkung haben könnten.« Während
der Vorstellung schweben zwei Crossmotorräder am Bühnen- plötzlich Rockgitarren. Die gerade noch zum schwerelosen
himmel, die auch bestiegen werden. Man blickt auf grellrotes Schweben auf ihren Fußspitzen dressierten Performerinnen
Theaterblut und sieht den Darstellerinnen bei der Exkursion schwingen nun an Seilen kreuz und quer im Raum, prallen
in einen Gruselwald zu, während der die Geburt einer Ratte aufeinander und stürzen auch mal übel auf den Boden. Irgend-
aus einem Menschenleib vorgeführt wird. »Das Publikum soll- wann unterbricht Florentina Holzinger die Show und stellt
te nie wissen, was als Nächstes kommt«, sagt die Regisseurin. sich selbst an die Bühnenrampe, um, natürlich nackt, unter fa-
Die Österreicherin Holzinger, 33, ist in der Bühnenwelt ein denscheinigen Vorwänden Geldscheine im Publikum einzu-
junger Star. René Pollesch, der im Sommer 2021 als neuer sammeln – ihre Art des Spotts über die historisch verbürgte
Chef der Berliner Volksbühne antritt, hat sie als Hausregis- Praxis, dass sich früher in der Pariser Ballettwelt männliche
seurin engagiert. Ihre Produktionen mit Namen wie »Apollon« Sponsoren im dafür berüchtigten Foyer de la Danse vor der
oder »Stick« werden in vielen Städten Europas und in New Vorstellung an Balletttänzerinnen heranwanzen durften.
York gezeigt. Holzinger selbst fing vergleichsweise spät als »Tanz« ist feministische Demonstration, Zirkus und auf-
Teenagerin mit dem Tanzen an und studierte in Amsterdam gekratztes Schocktheater in einem. Wiederholt wandern wäh-
an der School for New Dance Development Choreografie. rend der Aufführung Zuschauer aus dem Saal, weil sie offen-
In der Theaterwelt bekannt wurde Holzinger mit einer kundig von der Radau- und Verausgabungskunst der Dar-
Show, die sie 2011 mit ihrem zeitweiligen Lebenspartner Vin- stellerinnen überfordert sind. Die Regisseurin findet das nicht
cent Riebeek unter dem Titel »Kein Applaus für Scheiße« schlimm. »Ich will unterhalten, aber ich erzähle auch von
herausbrachte. Schon damals staunten Kritikerinnen und Kri- sehr ernsten Themen«, sagt sie. »Die Zuschauer sollen Spaß
tiker über die Vermischung von Kunst und privatestem Be- haben. Aber es ist auch okay, wenn sie in Ohnmacht fallen
kenntnis sowie über die Experimentierwut der Performer im oder abhauen.« Wolfgang Höbel
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Nachrufe
Dmitri Jasow, 95 Mathematikerin berechne-
Drei Tage sind es, die aus te für US-Astronauten wie
dem langen Leben des Dmi- Alan Shepard und John
tri Jasow herausstechen. Glenn unter anderem die
Geboren 1924, zweimal ver- Flugbahnen. Weil sie dies
wundet im Großen Vater- ohne elektronische Hilfe tat,
ländischen Krieg gegen die wurde sie zusammen mit
Deutschen, war Jasow ein einigen anderen Kollegin-
typischer Vertreter der nen bei der Nasa als »Com-
sowjetischen Militärmacht. puter« bezeichnet. Kathe-
Es war sein Pech, dass er als rine Johnson gehörte zu
letzter Verteidigungsminis- einem Team von sehr schlau-
ter der Sowjetunion den en Frauen, die in den Fünf-
Niedergang dieser Macht ziger- und Sechzigerjahren
mitansehen und mitverwal- in der Flugforschungsabtei-
ten musste. Am 19. August lung der Nasa arbeiteten.
SHUTTERSTOCK EDITORIAL
machte ihn der damalige Präsident Anwar el-Sadat zu sei- bereute den Putsch später
nem Vize. Nach dessen Ermordung 1981 durch Fundamen- öffentlich als »Dumm-
talisten, die Sadats Friedensschluss mit Israel ablehnten, heit« – und verbrachte den-
wurde Hosni Mubarak Präsident – und blieb es 30 Jahre noch anderthalb Jahre in
lang. Er regierte mithilfe von Notstandsgesetzen, die viele Untersuchungshaft. Er wur-
Rechte massiv einschränkten. Seine Regentschaft schien de nicht verurteilt, später
eine Phase der Stabilität zu sein: International hielt er am sogar rehabilitiert und unter
Frieden mit Israel und der Freundschaft mit Washington Präsident Wladimir Putin Bodenkontrolle der Toll-
fest. Gleichzeitig empfanden viele Ägypter es als Phase der mehrfach ausgezeichnet. kühnheit, ohne sie wäre das
Stagnation. Dazu kamen Repression und Korruption. Als Raumfahrtprogramm der
Mubarak seinen Sohn als Nachfolger in Stellung bringen Amerikaner womöglich
wollte, zog er den Unmut mancher Generäle auf sich und nicht so erfolgreich gewesen.
trat 2011 nach Massenprotesten zurück. Der öffentliche Johnson war schwarz und
Druck sorgte dafür, dass ihm der Prozess gemacht wurde. eine Frau, doppelter Nach-
Rund 800 Menschen waren 2011 während der Proteste teil in einer Zeit der Rassen-
gegen ihn von Sicherheitskräften getötet worden. 2012 wur- trennung und voremanzi-
de er zu lebenslanger Haft verurteilt. Nachdem Ägypten patorischen Rollenbilder.
2013 zur autoritären Herrschaft zurückkehrte, wurde Wie sie sich durchsetzte, da-
er jedoch von den schwersten Vorwürfen freigesprochen. von erzählte 2016 der oscar-
Hosni Mubarak starb am 25. Februar in Kairo. RAS nominierte Film »Hidden
Figures – Unerkannte
Heldinnen«, der Johnson
Mike Hughes, 64 und ihre Mitstreiterinnen
IMAGO IMAGES
Er war Draufgänger von Beruf und setzte sich in selbst als Pionierinnen feiert. Ein
gebaute Raketen, in denen er Hunderte Meter in die Höhe Jahr zuvor hatte US-Präsi-
schoss. Der Ex-Rennfahrer wollte Rekorde aufstellen und dent Barack Obama ihr
ging dafür nahezu jedes Risiko ein. 2002 gelang ihm mit die Presidential Medal of
einer drei Tonnen schweren Stretchlimousine ein Sprung Dmitri Jasow, der letzte Freedom verliehen, eine
über 30 Meter – was ihm einen Eintrag ins Guinnessbuch Marschall der Sowjetunion, der höchsten zivilen Aus-
der Rekorde einbrachte. Mike Hughes behauptete, der starb am 25. Februar in zeichnungen. Im August
Überzeugung zu sein, dass die Erde »die Form einer Fris- Moskau. ESC 2018 wurde auf dem Gelän-
beescheibe« habe. Den Beweis dafür musste er schuldig de der West Virginia State
bleiben, schaffte es mit einem seiner Fluggeräte aber Katherine Johnson, 101 University eine lebensgroße
immerhin auf eine Höhe von rund 600 Metern. Bei dem Sie trug maßgeblich dazu Statue für sie eingeweiht –
Versuch, 1500 Meter zu erreichen, den er für eine TV-Sen- bei, dass die ersten Männer ein großer, später Triumph.
dung mit dem Titel »Homemade Astronauts« aufzeichnen durchs All fliegen konnten Katherine Johnson starb
ließ, stürzte er nun in der kalifornischen Wüste ab. Mike und am Ende wieder lebend am 24. Februar in Newport
Hughes starb am 21. Februar in der Nähe von Barstow. LOB auf der Erde landeten. Die News, Virginia. LOB
Star im
Kampfmodus
G US-Präsident Donald Trump ist im Dauer-
wahlkampf für seine zweite Amtszeit.
Hillary Clinton, 72, gescheiterte Präsident-
schaftskandidatin der Demokraten, kämpft
dagegen um ihren Platz in den Geschichts-
büchern, sogar in Deutschland. »Wenn
nicht jetzt, wann dann?«, fragte die ehema-
lige amerikanische Außenministerin, als
sie Anfang dieser Woche auf der Berlinale
die Dokumentation »Hillary« vorstellte.
Routiniert wie ein Hollywoodstar, lächelte
und winkte Clinton für Fans und Fotografen.
Bei einem Podiumsgespräch im Haus
der Berliner Festspiele versuchte sie, das
Reizwort »Trump« zu vermeiden, was
ihr nicht immer gelang. »Hillary«-Regisseu-
rin Nanette Burstein, die gemeinsam mit
der Politikerin in Berlin auftrat, konzentriert
sich in ihrem Filmporträt nicht nur auf
Clintons Wahlniederlage 2016. Vielmehr
sich laut Staunton hundert Glaubensfreiheit mir per E-Mail zum neuen
alle um deutlich gegeben. »Das war aber ein Amt gratulierte, klang sie
mehr Konzentration gönnerisches Dulden, um stolzer als 2005, als ich Mi-
bemühen. LOB Arbeitskräfte mit fremdem nisterpräsident wurde.« AB