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Jens Söring, verur teilt wegen Do


Wie wahrscheinlich ist ein Corona-Crash,

»Ich war 33 Jahre im K


und wie gefährlich wird die Epidemie in Deutschland?

und ich habe gewonnen«


rieg,
ppelmord, über seine US-Haft
Nr. 10 / 29.2.2020
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Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Betr.: SPIEGEL-Gespräche, Söring, Republik Kongo

Es sind ziemlich wilde Zeiten in der Bundes-


republik und auch global: Die SPD findet nicht
ihren Tritt, bei der Union beginnt der Macht-
kampf jetzt so richtig, und in Europa steht uns
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL
der zweite Teil des Brexit-Dramas bevor. Deshalb
hat der SPIEGEL mit den Akteuren gesprochen:
Christoph Hickmann und Veit Medick trafen in
Berlin Friedrich Merz, der nächster Vorsitzender
der CDU werden will, und wenig später auch Ar-
min Laschet, Ministerpräsident von Nordrhein-
Hickmann, Merz, Medick Westfalen und Konkurrent von Merz. Mit einem
Politiker, der bereits an der Spitze einer Partei
gestanden hat, sprachen Christiane Hoffmann und Markus Feldenkirchen: Sigmar
Gabriel, bis 2017 Vorsitzender der SPD und kürzlich in den Aufsichtsrat der Deutschen
Bank berufen, erklärt, wie es zum Krach mit seiner Partei kam und was da jetzt schief-
läuft. Ebenfalls im Heft ein Gespräch mit Michel Barnier, dem EU-Chefunterhändler,
der sich bei den nun beginnenden Gesprächen über ein Freihandelsabkommen nicht
vom britischen Premier Boris Johnson über den Tisch ziehen lassen will. Barnier
glaubt trotzdem, dass sich auch die Europäer ändern müssen, wenn sie im Wettbewerb
mit den Briten nicht manchmal den Kürzeren ziehen wollen. Seiten 28, 30, 38, 83

Dutzende Kameras empfingen Jens Söring Mitte PETER HÖNNEMANN / DER SPIEGEL

Dezember am Frankfurter Flughafen. Fast 30 Jahre


hatte der Deutsche in amerikanischer Haft ver-
bracht, nachdem er wegen Doppelmord an den
Eltern seiner damaligen Freundin zu zweimal le-
benslänglich verurteilt worden war. Söring sagt bis
heute, er sei es nicht gewesen. Alle seine Wieder-
aufnahmeanträge wurden abgewiesen. Nun wurde
er plötzlich freigelassen, allerdings nur auf Bewäh- Salden, Söring, Engel, Goos
rung. Nicht, weil seine Unschuld erwiesen ist. Nach
seiner Ankunft zog er sich zunächst ins Private zurück, traf aber nun die Redakteure
Sarah Heidi Engel, Hauke Goos und Simone Salden zu einem SPIEGEL-Gespräch,
das sich ebenfalls in diesem Heft findet. Die drei wollten aus dem Treffen keinen
zweiten Prozess machen, sie sprachen mit Söring unter anderem darüber, wie man
in einem amerikanischen Gefängnis überlebt und wie sich sein neues Leben anfühlt.
»Man könnte meinen, dass jemand nach einer so langen Strafe einfach nur sein
Leben genießen will«, sagt Engel, »aber er hadert damit, wie die Menschen in
Deutschland über ihn denken.« Seite 52

Fast jede Regierung behauptet, den Klimawandel


stoppen zu wollen – die entscheidende Frage
JULIAN BUSCH / DER SPIEGEL

lautet meist: Wer zahlt für was? Nach dem Fund


eines angeblich riesigen Ölfelds im zentralafri-
CHRISTIAN WERNER

kanischen Regenwald einigte sich die Republik


Kongo mit mehreren EU-Ländern darauf, dass
sie 60 Millionen Euro bekommen werde, wenn
sie die Umwelt in der Umgebung des Ölfelds
Schaap Becker schone. Recherchen von SPIEGEL-Redakteur
Sven Becker, -Korrespondent Fritz Schaap, dem
europäischen Rechercheverbund EIC und der NGO Global Witness legen nun aber
nahe, dass es den Ölfund so in Wahrheit nicht gegeben hat, schlimmstenfalls existiert
das Ölfeld gar nicht. Die Verkündung war wohl eine raffinierte Täuschung, mit der
womöglich vor allem die Europäer abgezockt werden sollten. Verwickelt in die Affäre
ist auch der Präsident des Landes, Denis Sassou-Nguesso, ein erfahrener Kleptokrat.
Die Geschichte des Millionenbluffs beginnt auf Seite 80.

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 3


Inhalt
74. Jahrgang | Heft 10 | 29. Februar 2020

Titel Rechtsterrorismus Die


Bundesanwaltschaft eröffnet
Krisen Bedingt abwehrbereit – ein weiteres Mordverfahren
warum das Coronavirus gegen den Verdächtigen im Fall
in Deutschland leichtes Spiel Lübcke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
haben könnte . . . . . . . . . . . . . . . . . 8
Justiz Wie die Behörden
Die Angst vor der neuen einer mutmaßlichen
Lungenseuche schockt rechten Terrorzelle auf
die Börsen und bedroht die die Schliche kamen . . . . . . . . . 47
anfällige Weltwirtschaft . . . . . 13
Kriminalität Mit angeblich
wertvollen Büchern
Deutschland werden alte Menschen um
viel Geld gebracht . . . . . . . . . . 48
Leitartikel Der Staat muss
einen würdevollen Suizid

SHUTTERSTOCK EDITORIAL
möglich machen . . . . . . . . . . . . . 6 Reporter

Neue Zahlen rechtfertigen Familienalbum / Warum haben


Tempolimit / Rechtsextreme wir Spaß an der Angst? . . . . . . 50
BKA-Anwärter / EU verspricht
Afrika Milliardengarantien / Eine Meldung und ihre
Der gesunde Menschenverstand Geschichte Eine Stadt in
/ So gesehen: Brennpunkt
Apolda . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20
Nett gegen forsch, pragmatisch Michigan kämpft gegen
den Cannabisgeruch . . . . . . . . 51
gegen konservativ
CDU Die Partei steht vor einer JustizSPIEGEL-Gespräch
Richtungsentscheidung . . . . . 26 Armin Laschet und Friedrich Merz sind die mit Jens Söring, der wegen
Favoriten im Kampf um den Parteivorsitz der CDU. Doppelmord 33 Jahre im
SPIEGEL-Gespräch mit Gefängnis saß . . . . . . . . . . . . . . . 52
Chefkandidat Friedrich Merz
In zwei SPIEGEL-Gesprächen reden sie
über seine Fehde übereinander, über ihre Pläne für die Partei und den Ortstermin Warum ein
mit Angela Merkel . . . . . . . . . . 28 Umgang mit Kanzlerin Angela Merkel. Seiten 28, 30 Imbissbesitzer aus Halle
Döner verschenkt . . . . . . . . . . . 61
Merz-Gegenspieler Armin
Laschet im SPIEGEL-
Gespräch über NRW als Wirtschaft
Vorbild für den Bund . . . . . . . 30
Durchsuchungen bei Porsche /
AfD Haben die Rechten Fragwürdige Billigkredite . . . 62
aus dem Anschlag von Hanau
gelernt? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 Autoindustrie Wie VW
in den USA gegen
Karrieren Lars Klingbeil Tesla punkten will .......... 64
wird zum heimlichen
Vorsitzenden der SPD ...... 36 Finanzen Auf die öffent-
lichen Haushalte kommen
SPD SPIEGEL-Gespräch harte Zeiten zu . . . . . . . . . . . . . 67
mit Sigmar Gabriel über die
Grausamkeiten seiner Volkswagen jagt Tesla Innovationen Der Chef
Partei und seinen Job bei des Europäischen Patentamts,
der Deutschen Bank . . . . . . . . 38 Viereinhalb Jahre nach Dieselgate will VW das António Campinos, über
Comeback in den USA schaffen, dem Erfinder und ihren Schutz . . . 68
Sicherheit Die Schützen-
lobby verhindert
Heimatmarkt des Elektropioniers Tesla. Dabei hilft Arbeitszeit Eine skurrile
eine Verschärfung des ein milliardenschweres Ladenetzprojekt, Regelung für Lokführer
Waffenrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 42 das ursprünglich als Strafe gedacht war. Seite 64 kostet die Bahn viel Geld . . . 70

4 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Genuss Wie Ex-Sternekoch Physik Mit raffinierten
Franz Keller den Deutschen Reaktoren wollen Start-ups
gutes und gesundes Essen sauberen Strom durch
nahebringt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 Kernfusion erzeugen – haben
sie eine Chance? . . . . . . . . . . . 100

Ausland Linguistik Ein Forscher unter-


sucht die Obsession der
Indiens Premier Modi Rechten mit zwangsoriginellem
trägt Mitschuld an den Schmähvokabular im
Ausschreitungen im Internet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 106
Land / Gewalt in Kolumbiens
Nationalparks . . . . . . . . . . . . . . . 74
Kultur
USA Kann sich New
Yorks Ex-Bürgermeister Ausstellung zur Kultur-

MUZZAFAR KASIM / DPA


Mike Bloomberg die geschichte des Bades / Neues
Präsidentschaftskandidatur Album von Carla Bley . . . . . 108
erkaufen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
Literatur Der Schriftsteller
Entwicklungshilfe Der Ingo Schulze kommt aus dem
kongolesische Präsident narrte Osten und hatte großen Erfolg
den Westen mit einem ver- Das Crash-Virus im Westen – nun fragt er sich,
meintlich riesigen Ölfund . . . 80 ob der Preis dafür vielleicht zu
Seitdem sich das Coronavirus auch außerhalb hoch war . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110
Europa EU-Unterhändler Chinas ausbreitet, wächst die Angst. Deutschland
Michel Barnier über Pop Der Rapper Prinz Pi ist
die nächste Runde im
ist auf eine Pandemie schlecht vorbereitet, der erfolgreichste Außenseiter
Brexit-Tauziehen . . . . . . . . . . . 83 auch für die Weltwirtschaft hätte sie verheerende des deutschen Hip-Hops . . . 114
Folgen. Droht eine neue Finanzkrise? Seiten 8, 13
Essay Konfliktforscher Geschichte SPIEGEL-Gespräch
Haid Haid über Syriens mit dem Historiker Brendan
Diktator Assad und Simms über seine ganz andere
die Gefahr für Europa . . . . . . 86 Hitler-Biografie . . . . . . . . . . . . 116
Sternenfeuer im Kleinreaktor
Israel Der Politiker Jeremy Rassismus Ta-Nehisi Coates,
Saltan will das Land bei der Es klingt betörend in Zeiten des Klimawandels: der als wichtigster Intellek-
dritten Wahl innerhalb saubere Energie durch Kernfusion zu gewinnen. tueller des schwarzen Amerika
eines Jahres noch weiter gilt, hat seinen ersten Roman
nach rechts rücken . . . . . . . . . . 88
Schon ewig quälen sich Physiker damit herum – geschrieben . . . . . . . . . . . . . . . . 120
vergebens. Nun wollen amerikanische Start-ups
der Welt beweisen, dass es möglich ist. Seite 100 Theaterkritik Die öster-
Sport reichische Choreografin
Florentina Holzinger
Die Ausreden der Doper / hängt Ballett-Tänzerinnen
Gut zu wissen: So gefährlich an Haken auf . . . . . . . . . . . . . . 123
sind Kopfbälle für Kinder . . . 91

Fußball Endspurt im
juristischen Streit um das
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS

WM-Sommermärchen . . . . . . 92

Trends Wie risikofreudige


Tourengeher die Bergwächter
in Atem halten . . . . . . . . . . . . . . 94

Wissen
Tödliches Tourengehen
Hitzerekordjahr 2020? / Mehr Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
als Blumengießer – über den Immer mehr Skitouristen meiden in den Bergen SPIEGEL-TV-Programm . . . . . . 119
tieferen Sinn der Nachbarschaft präparierte Pisten und begeben sich bei ihren Impressum, Leserservice . . . 124
/ Analyse: Wie Deutschland es Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125
Tabakkonzernen leicht macht,
Touren in Gefahr. Regina Poberschnigg, Chefin der Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . . 126
die Kundschaft in die Sucht Bergrettung in Ehrwald: »Die rennen einfach Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
zu treiben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 los, egal wie das Wetter ist. Ein Wahnsinn.« Seite 94 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130

Titelfotos [M]: Jose Garcia / Witters; Foto Jens Söring: Peter Hönnemann für den SPIEGEL; Picture Alliance / AP 5
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Würde bis zum Schluss


Leitartikel Das Karlsruher Urteil zur Sterbehilfe ist eine notwendige Zumutung.

D
as Bundesverfassungsgericht hätte es sich und der Vor mehr als vier Jahren hatte der Bundestag die
Politik leicht machen können. In seinem Urteil zur »geschäftsmäßige«, also wiederholte Förderung des Suizids
Sterbehilfe hätte es an Krebspatienten erinnern unter Strafe gestellt. Er wollte damit umstrittene Vereine
können, denen ein Tumor aus dem Hals wuchert. verbieten, die gegen einen Mitgliedsbeitrag versprechen,
An Lungenkranke, die nachts aus Angst vor dem Er- notfalls einen todbringenden Giftbecher bereitzustellen.
stickungstod wach liegen. An Verzweifelte also, denen der Allerdings vergrößerte das Gesetz die Verwirrung,
Staat unerträgliches Leid nicht zumuten dürfe. die es bei der Sterbehilfe in Deutschland ohnehin schon gab.
Doch die Karlsruher Richter beschränkten sich nicht Mediziner waren verunsichert, ob sie sich schon strafbar
auf das Schicksal Schwerstkranker. Jede Bürgerin und jeder machen, wenn sie mit Verzweifelten über Suizidwünsche
Bürger, so urteilten sie am vergangenen Mittwoch, habe reden. Zehn regionale Ärztekammern drohen ihren
das Recht auf einen selbstbestimmten Tod. Ausdrücklich Mitgliedern bis heute mit dem Entzug der Approbation,
schlossen sie auch alle Menschen ein, die nicht unheilbar sollten sie bei einem Suizid assistieren, sieben andere
krank sind. Die Richter eröffneten tun das nicht. Schwerstkranke,
damit einen Freiheitsraum, der so die sich in ihrer Not selbst ein
weit ist, dass es an eine Zumutung todbringendes Medikament
grenzt. Es ist eine Zumutung, die beschaffen wollen, scheitern,
notwendig war. weil ihnen die zuständige
Vordergründig scheint das Bundesbehörde die Erlaubnis
Urteil allen religiösen Wert- verweigert.
vorstellungen zu widersprechen: Es blieb ihnen in letzter Kon-
Das Verfassungsgericht macht sequenz nur, sich vor den Zug
den Menschen zum Entscheider zu werfen. Der Staat hatte alle
über das eigene Sterben. Aller- anderen Auswege versperrt.
dings hat es dieses Recht keiner Das Verfassungsgericht hat die
göttlichen Instanz entrissen. Uhr jetzt wieder zurückgestellt.
Sondern dem Staat. Es ist an der Zeit für eine neue
Der vorgeschobene Verweis gesellschaftliche Debatte darüber,
auf das christliche Menschenbild wie wir sterben wollen und wel-
hat die politische Debatte über che Hilfe wir dabei erwarten dür-
die Sterbehilfe in Deutschland seit fen. Das Urteil gibt dazu den
Jahren geprägt. Als der Bundes- Anstoß, ganz ausdrücklich.
FRANZ ROTH

tag das bisherige Gesetz im Jahr Bis es eine Neuregelung gibt,


2015 beschloss, argumentierten können die Sterbehilfevereine
die Befürworter, der Staat solle wieder ihrer Arbeit nachgehen.
jedes Leben schützen – egal wel- Anbieter dürften damit sogar
che Qualen es bereithalte. Er müsse gebrechliche oder Geld verdienen, was kaum erträglich ist. Deshalb ist die
schwer kranke Menschen vor gesellschaftlichem oder fami- Politik erneut gefragt. Sie darf die Suizidbeihilfe regulieren,
liärem Druck bewahren, ihr Leben vorschnell zu beenden. sie darf bedenkliche Formen verbieten, auch dafür bietet
Ein bedenkenswertes Argument. Allerdings setzte sich die das Urteil Raum. Sie darf alles versuchen, Menschen vom
Politik damit faktisch über den freien Willen aufgeklärter Weiterleben zu überzeugen. Sie darf den Suizid nur nicht
Menschen hinweg. unmöglich machen.
Selbst liberalere Kräfte erinnerten damals an die Prinzi- Gefordert ist ein sensibles Regelwerk, in dem die Assis-
pien der Bibel. So trat der inzwischen verstorbene CDU- tenz zum Suizid nur die letzte aller Lösungen sein kann.
Politiker Peter Hintze dafür ein, dass es Ärzten erlaubt sein Selbstbestimmtheit bedeutet, dass es Alternativen gibt, aus
müsse, unheilbar Kranken aus ihrer Not zu helfen. Der denen gewählt werden kann. Dass Palliativmedizin und
Theologe verstand das als Akt der Nächstenliebe. Hospize weiter ausgebaut werden, die sich in Deutschland
Nun mahnten die Karlsruher Richter, dass religiöse oder erst viel zu spät entwickelt haben. Dass Betroffene aufge-
kulturelle Prägungen – so lauter ihre Anliegen auch sein klärt werden, ob sie Aussicht auf Therapien haben. Dass
mögen – in dieser Debatte keine Rolle spielen dürfen. sie beraten werden, wie ihre Seele Hilfe findet – und genau
Jeder Mensch müsse frei entscheiden können, wann und an dieser Stelle wäre manchmal auch der Beistand der
wie er sterben will. Das gebiete seine Würde. Der Staat Kirchen sinnvoll. Doch dass die Menschen am Ende, wenn
dürfe dieses Grundrecht nicht entleeren. Es brauchte diese es keinen Ausweg gibt, auf letzte Hilfe hoffen dürfen.
Deutlichkeit, um ein missratenes Gesetz zu kippen. Cornelia Schmergal

6 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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Titel

»Wir sind nicht


vorbereitet«
Krisen Das neuartige Coronavirus dringt in Deutschland
vor, und die Frage ist nur noch: Wie schlimm wird
die Epidemie? Experten warnen, dass sie Ärzte, Ämter und
Kliniken überfordern könnte.

D
er Karneval in Gangelt-Lang- Labor der Düsseldorfer Uniklinik. Um
broich ist eine große Sache; 17 Uhr meldet der zuständige Virologe
Bernd B. bereitet sich seit dem per Telefon den Kollegen in Erkelenz den
vergangenen Sommer auf die tol- positiven Befund.
len Tage in seiner niederrheini- Um 0.30 Uhr in der Nacht auf Ascher-
schen Heimat vor. Der 47-Jährige, der im mittwoch wird B. auf eine Isolierstation
Nachbarort gemeinsam mit seinem Bruder der Düsseldorfer Uniklinik verlegt und an
seit 1999 eine Immobilienfirma mit sechs eine künstliche Lunge angeschlossen. Sein
Mitarbeitern führt, tanzt im Männerballett Zustand ist kritisch, er kämpft um sein Le-
des örtlichen Karnevalsvereins Langbröker ben. Mit ihm wird auch seine Frau verlegt.
Dicke Flaa. Ihr Test war zunächst negativ ausgefallen,
Am 15. Februar, einem Samstag, besucht erst bei einer zweiten Probe am Mittwoch
er die traditionelle Kappensitzung in der wird auch bei ihr das Virus nachgewiesen.
Langbroicher Bürgerhalle. Die rund 300 Die beiden sind die ersten Coronavirus-
Narren feiern bis in den späten Abend. Zu Patienten in Nordrhein-Westfalen.
diesem Zeitpunkt trägt Bernd B. das hoch Fast gleichzeitig tauchten auch in Baden-
ansteckende Coronavirus Sars-CoV-2 ver- Württemberg Fälle auf: Ein 25-Jähriger aus
mutlich bereits in sich. dem Kreis Göppingen, der nach Mailand
Gut eine Woche später verschlechtert gereist war, hatte sich infiziert, ebenso sei-
sich sein Zustand dramatisch. Am Ro- ne 24-jährige Begleiterin aus Tübingen.
senmontag fährt er mit seiner Frau ins Die wiederum steckte ihren 60-jährigen
knapp 30 Kilometer entfernte Hermann- Vater an, Oberarzt in der Pathologie am
Josef-Krankenhaus von Erkelenz. Gegen Tübinger Universitätsklinikum.
11.15 Uhr betreten die beiden die Klinik. Weil der Pathologe an einem Oberärzte-
B. ist kaum noch ansprechbar. Er kommt treffen teilgenommen hatte, teilte das
auf die Intensivstation, wird isoliert. Die Klinikum mit, habe man ein Dutzend
Ärzte vermuten Influenza. Doch das Test- Mediziner getestet und aus der Kranken-
ergebnis ist negativ. versorgung herausgenommen.
In der Nacht geht es weiter bergab mit Am Mittwoch wurde das Virus bei ei-
B.s Befinden, er muss künstlich beatmet nem 32-jährigen Mann aus dem Kreis Rott-
werden. Nun wird den Ärzten klar: Die weil nachgewiesen. Der Mann war zuvor
Symptome deuten auf das neuartige Coro- ins italienische Codogno gereist. Am Don-
navirus hin – obwohl B. in den vergange- nerstagnachmittag ergab ein Test, dass ein
nen Wochen nach allem, was man bislang Mann Anfang dreißig aus Kaiserslautern
weiß, weder in China oder Südkorea war, an Covid-19 erkrankt ist. Am Donnerstag-
noch in Italien oder Iran. Die Ärzte ent- abend wurden vier weitere Fälle in Baden-
nehmen Sekret aus der Lunge, am Fast- Württemberg und je einer in Bayern, Hes-
nachtsdienstag gegen Mittag bringt ein sen und Hamburg bekannt – bei Letzte-
Rettungswagen die Probe mit Blaulicht ins rem handelt es sich um einen Mitarbeiter

8 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Fiebermessung bei aus Italien einreisender Passagierin am Flughafen im ungarischen Debrecen

Foto: Akos Stiller / Bloomberg / Getty Images 9


Titel

des Universitätskrankenhauses im Stadt- Ist Deutschland gerüstet gegen ein Virus, die Infektionsketten gekappt kriegen«,
teil Eppendorf. das einen Schaden anrichten könne, der gab NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef
Keine Frage: Covid-19, wie die vom »weit über die Folgen eines reinen Gesund- Laumann (CDU) am Mittwoch bei einer
Sars-CoV-2 verursachte Erkrankung heißt, heitsnotstands hinausgeht«, wie Jeremy Far- Pressekonferenz zu.
ist in Deutschland angekommen. Wir be- rar analysiert, Direktor des Wellcome Trust, Auch in Köln ist man alarmiert. Zwei-
fänden uns hierzulande »am Beginn einer einer der weltgrößten Gesundheitsstiftun- mal seit Mitte des Monats, am 13. und am
Corona-Epidemie«, sagte Bundesgesund- gen? Er glaubt, das Virus könne eine Ket- 19. Februar, war Bernd B. für ambulante
heitsminister Jens Spahn nach wochenlan- tenreaktion auslösen mit dem »Potenzial Untersuchungen, eine Magenspiegelung
gem Abwiegeln. Es sei »fraglich, ob unsere der Finanzkrise von 2008« (siehe Seite 13). und einen Ultraschall, im Kölner Univer-
bisherige Strategie, das Virus einzugren- Am Mittwochnachmittag sitzt der Erke- sitätsklinikum. Noch am Dienstagabend
zen und Infektionsketten zu beenden, lenzer Pflegedirektor Stephan Demus in trifft sich deshalb Johannes Nießen, der
auch weiterhin aufgeht«. der leeren Kantine seines Krankenhauses. Leiter des Kölner Gesundheitsamts, mit
Im Gesundheitsministerium ist von ei- Geschlafen hat er kaum in der Nacht zuvor. Ärzten der Kölner Uniklinik und weiteren
ner »dynamischen Lage« die Rede, die sich Immer noch sind entscheidende Fragen Experten zu einer Krisensitzung, die bis
stündlich ändere. Noch am Mittwoch be- ungeklärt: Mit wem hatten Bernd B. und tief in die Nacht dauern wird.
rief Spahn eine Telefonkonferenz mit allen seine Frau Kontakt? Und wo haben sie sich B. hatte während seiner Untersuchun-
Gesundheitsministern der Länder ein und angesteckt? gen Kontakt zu zehn Mitarbeitern der Kli-
bat sie, ihre Pandemiepläne zu aktualisie- Ihre beiden Kinder und die Großmutter nik sowie zu 31 Patienten; das lässt sich
ren. Mitarbeiter des Robert Koch-Instituts stehen unter häuslicher Quarantäne. Ein dem Terminkalender im Klinikcomputer
(RKI) schrieben derweil laut Sprecherin Bürgertelefon wird eingerichtet. Mehrere entnehmen. Noch in der Nacht rufen Nie-
Susanne Glasmacher mit Hochdruck an Mitarbeiter des Erkelenzer Krankenhau- ßen und sein Stellvertreter die zehn Kli-
einem neuen »Rahmenkonzept«, das sich ses, die mit B. in Kontakt gekommen wa- nikmitarbeiter an und bitten sie, am nächs-
anders als der Nationale Pandemieplan ren, müssen in häusliche Isolierung und ten Tag zu Hause zu bleiben. Einer hält
nicht auf Influenzaerreger, sondern auf das sollen dort nun Tagebuch über ihren Ge- das zunächst für einen Karnevalsscherz.
neuartige Coronavirus bezieht. sundheitszustand führen. Alle Patienten zu erreichen wird länger
Während in China die Zahl der Neuin- Am Mittwoch tauchen zahlreiche Men- dauern. »Einer«, sagt Nießen, »ist inzwi-
fektionen zurückgeht, breitet sich der Er- schen in der Klinik auf, die sich ganz ohne schen in Tripolis.«
reger inzwischen in Südkorea, Iran und Symptome auf das Virus testen lassen wol- Bis Donnerstagabend waren zwar alle
Italien aus und zieht von dort in die Welt. len. Die Telefone am Empfang und in den Tests in Köln negativ. Dennoch: Längst hat
Irak, Afghanistan, Bahrain, Oman, Geor- Büros klingeln durchgehend. »Wir wurden sich das Virus verbreitet, spätestens wohl
gien, Norwegen, Griechenland, Rumänien, mit Anfragen überflutet. Es ist ein Wahn- aus der Karnevalssitzung heraus. So sind
Brasilien, Österreich und die Schweiz, sie sinn«, sagt Demus. inzwischen eine Mitarbeiterin aus Bernd
alle meldeten in den vergangenen Tagen Die nächste Schreckensnachricht: Die B.s Immobilienfirma und ihr Lebensgefähr-
ihre ersten Fälle. Frau von Bernd B. arbeitet als Erzieherin te positiv auf das Coronavirus getestet
In den USA hatte Nancy Messonnier, Di- in einer Kita. Behörden ordneten umge- worden. Auch ein Stabssoldat der Flugbe-
rektorin des National Center for Immuni- hend an, bis Montag alle Schulen und Kin- reitschaft aus der Bundeswehrkaserne in
zation and Respiratory Diseases, der Seu- dertagesstätten im Kreis zu schließen. Köln-Wahn wurde isoliert und in ein Trup-
chenbehörde, am Dienstag eine klare Bot- »Wir können nicht garantieren, dass wir penkrankenhaus nach Koblenz gebracht.
schaft für ihre Landsleute. Die Frage sei Er hatte mit Bernd B. in Gangelt-Lang-
nicht, ob sich das Coronavirus in den USA broich gefeiert. Das Virus ließ sich bei
ausbreiten werde, sagte sie, sondern wann einem Arzt aus Mönchengladbach nach-
– und wie viele Amerikaner dann schwer weisen; er war ebenfalls bei der Kappen-
erkranken würden: »Unser tägliches Leben sitzung dabei. Und schließlich wurden am
könnte massiv eingeschränkt werden.« Donnerstagabend 14 weitere Covid-19-Fäl-
Zwar versuchen die Behörden weltweit le aus dem Kreis Heinsberg gemeldet.
immer noch, die Ausbreitung des Virus so Doch wenn schon nach wenigen Tagen
gut es geht zu bremsen, Experten hoffen, in Deutschland Ärzte infiziert, viele Kran-
den neuartigen Erreger wenigstens so kenhausmitarbeiter isoliert, die Infektions-
lange in Schach halten zu können, bis die ketten kaum noch nachvollziehbar und
Influenzasaison zu Ende ist, damit sich alle Verantwortlichen erschöpft sind, was
MATT ROTH / DER SPIEGEL

nicht auch noch zwei Seuchenwellen über- soll dann erst passieren, wenn in den
lagern. Aber inzwischen dürfte klar sein: nächsten Wochen vielleicht Tausende In-
Nun gilt es ebenso dringend, sich auf die fizierte in den Wartezimmern sitzen?
medizinische Versorgung Tausender, viel- Dass Horrorvisionen, wie sie in Filmen
leicht Hunderttausender Infizierter allein US-Epidemiologin Nuzzo wie »Outbreak« oder »Contagion« gezeigt
in Deutschland vorzubereiten. werden, ins Reich der Fantasie gehören, da-
Was in den vergangenen Tagen an eini- rin sind sich alle Experten einig. Dafür ist

37%
gen Orten passierte, kann als Testlauf ver- die Tödlichkeitsrate von Covid-19, die der-
standen werden für das, was in den zeit groben Schätzungen zufolge zwischen
kommenden Wochen auf Ärzte, Kranken- etwa 0,2 und 2,5 Prozent liegt, zu niedrig.
häuser, Gesundheitsämter, Ministerien Andererseits wäre eine Letalität von 0,2
und jeden Bürger zukommen wird. Ist Prozent doppelt so hoch wie bei einer
aller Krankenhäuser in Deutschland mussten
Deutschland wirklich so gut vorbereitet, durchschnittlichen saisonalen Grippe – und
aus Personalmangel im ersten Halbjahr 2019
wie Gesundheitsminister Spahn seit Wo- die tötet jedes Jahr Hunderte bis Tausende
Intensivbetten sperren.
chen behauptet? Reicht die »aufmerksame Menschen in Deutschland.
Gelassenheit«, die er zu Beginn empfahl, Quelle: DKI Mit einer Tödlichkeitsrate von 0,7 Pro-
wirklich aus, um die Krise zu bewältigen? zent, wie sie die WHO in China für die

10
Platz 14 : Deutschland

63 Russland
5 Kanada
2 Großbritannien

3 Niederlande
1 USA
51 China 21 Japan

Gewappnet
für die Pandemie?
Weltweiter Gesundheits-
Sicherheits-Index*, 22 Brasilien
Ranking 2019 (Auswahl)
Ansteckungs- oder
am besten vorbereitet Übertragungsfähigkeit zum Vergleich:
Covid-19-Erreger saisonale Grippe 4 Australien
besser vorbereitet
am wenigsten vorbereitet 1 Erkrankter 1 Erkrankter
keine Daten
Quellen:
GHS Index, WHO, Lancet,
*Bewertung bspw. nach Entdeckungs- und Reaktions- BMC Infectious Diseases,
fähigkeiten, medizinischer Versorgung, Umweltbedingungen 2 bis 3 Infizierte ca. 1,3 Infizierte Journal of Travel Medicine

Regionen außerhalb von Hubei ermittelt schen und in ein Taschentuch oder in den sondern – nach telefonischer Vorankündi-
hat, wäre sie sogar siebenmal so hoch. Ärmel husten soll? Warum ist die Website gung – die Hausärzte. Sie sollen, geschützt
»Jedes Virus, das wie der Covid-19-Er- des Robert Koch-Instituts so unübersicht- mit Atemmaske und Schutzkleidung, die
reger leicht übertragbar ist, die Lunge be- lich, dass man die wichtigen Informatio- Proben für den Virustest entnehmen und
fällt und zum Tod führen kann, muss man nen kaum finden kann?« die Patienten dann je nach Schwere der
ernst nehmen«, sagt Florian Klein, Direk- Wenn es ein Land gibt, das dem neuar- Symptome ins Krankenhaus oder in die
tor des Instituts für Virologie an der Kölner tigen Virus Einhalt gebieten kann, dann Isolation nach Hause schicken. So etwa
Uniklinik. »Vor allem, wenn es wie Sars- ist das wahrscheinlich Singapur. Das steht es jetzt schon in der Coronavirus-
CoV-2 auf eine nicht immune Bevölkerung Mount Elizabeth Hospital im Novena-Vier- Information der Degam.
trifft.« Und Heiko Schneitler, langjähriger tel sieht eher aus wie ein Fünfsternehotel Doch viele niedergelassene Ärzte fühlen
Leiter des Düsseldorfer Gesundheitsamts, denn wie ein Krankenhaus: Teure Autos sich von Behörden und Politik alleinge-
mahnt: »Wir wissen noch immer nicht ge- stauen sich auf der großen Rampe, die lassen. »Und Bundesgesundheitsminister
nau, warum das neuartige Coronavirus schwungvoll zum opulenten Eingang hi- Jens Spahn meint allen Ernstes, Deutsch-
welche Menschen tötet.« naufführt, die Patienten müssen sich regis- land sei gut auf eine Pandemie vorberei-
Sich auf die Ausbreitung eines solchen trieren und ihre Temperatur messen lassen, tet«, sagt ein Berliner Herzmediziner. Au-
völlig neuartigen Erregers gut vorzuberei- bevor sie Zugang erhalten. ßer den Infos im Internet gebe es keine
ten, so Schneitler, schaffe man nicht in Im siebten Stock residiert Leong Hoe Memos oder Anschreiben der Gesund-
zwei Wochen oder zwei Monaten. »Dafür Nam, 49, einer der führenden Virologen heitsbehörden an die niedergelassenen
braucht man eher 20 Jahre.« des asiatischen Stadtstaats. Leong hat Ärzte. »Wir stehen komplett im Dunkeln.«
Doch ausgerechnet Deutschland, das 2003 Sars überstanden. »Aber diesmal«, Vor allem, dass es viel zu wenig Atem-
für Gesundheit pro Kopf so viel ausgibt sagt er, »haben wir es mit einer viel größe- schutzmasken der Schutzstufe FFP-3 und
wie kaum ein anderes Land in Europa, ren Herausforderung zu tun. Dieses Virus Schutzanzüge gibt, macht den Ärzten große
schneidet bei der Pandemie-Vorbereitung muss ganz anders gemanagt werden.« Sorgen. »Die Vorbereitungen sind aus mei-
allenfalls mittelmäßig ab. Beim Global Man könne den Kampf gegen den neu- ner Sicht alles andere als optimal«, sagt
Health Security Index etwa stuften inter- en Erreger mit einer Seeschlacht verglei- Frank Unger, Allgemeinmediziner im Berli-
nationale Experten Deutschland unter chen: »Die großen Krankenhäuser sind in ner Stadtteil Marzahn. »Ich finde, dass jede
195 Ländern lediglich auf Platz 14 ein, in dieser Schlacht unsere Flugzeugträger. Sie Praxis eine Art Carepaket mit 20 bis 100
der Kategorie »Notfallvorsorge und Ge- haben das höchste strategische Gewicht Schutzmasken und Schutzanzügen bekom-
fahrenabwehr« sogar auf den wenig und müssen geschützt und abgeschirmt men sollte«, sagt Unger. »Aber davon kann
schmeichelhaften Platz 67. werden von den Gesundheitsämtern und keine Rede sein. Wenn wir nicht selbst aktiv
»Wir sind überhaupt nicht vorbereitet«, niedergelassenen Ärzten.« geworden wären, hätten wir jetzt gar nichts.«
sagt Michael Kochen, langjähriger Präsi- So ungefähr könnte es auch in Deutsch- Tatsächlich sind Masken und Schutz-
dent der Deutschen Gesellschaft für All- land laufen, wenn die Zahl der Infizierten anzüge, die zum großen Teil in China pro-
gemeinmedizin und Familienmedizin steigt – theoretisch. Erste Anlaufstelle für duziert werden, hierzulande kaum noch
(Degam). »Wo sind die Plakate an Bushal- die meisten Patienten wären entsprechend zu bekommen.
testellen, U-Bahnhöfen und Litfaßsäulen, nicht die Kliniken, die sich allein um die Die gebürtige Chinesin Ming Gutsche
dass man sich regelmäßig die Hände wa- wirklich schweren Fälle kümmern sollen, vertreibt mit ihrer Firma in Rastatt Schutz-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 11


Titel

kleidung und Atemmasken, ihre 21 Mitar- dort mit noch unerkannten Sars-CoV-2-
beiter können die Bestellungen kaum noch Gegen das Virus Infizierten sitzen. Andreas von Thüna, in-
bewältigen. Ende Januar standen sogar ein Wie sich Gesunde vor dem neuartigen ternistischer Hausarzt aus Brühl, macht
paar Glücksritter mit Kleintransportern Coronavirus schützen können deshalb lieber Hausbesuche bei Verdachts-
auf dem Firmenparkplatz und wollten ihr fällen. Dies sei, glauben viele Experten,
die Bestände en gros abnehmen. Gutsche Hände waschen der richtige Weg. Doch systematisch orga-
drohte mit der Polizei, sie wolle keine »Kri- Die Hände regelmäßig und gründlich nisiert wird das in Deutschland bislang
senkäufer«, sagt sie. mit Wasser sowie Seife oder nicht.
Desinfektionsmittel reinigen
Das, was sie noch auf Lager hat, geht In Großbritannien läuft hingegen seit
nun über ein Quotensystem an Stamm- Schleimhäute schützen Ende Januar ein Pilotprojekt, bei dem
kunden wie Krankenhäuser, Feuerwehren Mund, Nase und Augen Menschen mit Infektionsverdacht zu Hau-
oder Pharmakonzerne. Doch auch Gut- nicht mit den Händen berühren se getestet werden. Ärzte in einem Lon-
sches Bestände schrumpfen. doner Krankenhaus kamen auf die Idee,
Der Lieferengpass ist im Bundesgesund- nachdem sie gesehen hatten, dass Kran-
heitsministerium bekannt. Die wenigen Körperkontakte vermeiden kenwagen, die Verdachtsfälle für Tests in
Fertigungsstätten in Europa, so hält es das Auf unnötigen Körperkontakt wie Krankenhäuser bringen, nach jedem Trans-
Protokoll einer Videokonferenz von Mi- Handschläge und Umarmungen port stundenlang dekontaminiert werden
nisteriellen mit Branchenvertretern fest, verzichten mussten.
könnten die chinesische Produktion »nicht Nun fahren die Virentester zu den Leu-
Abstand halten
annährend kompensieren«. Engen Kontakt zu Personen, die ten nach Hause. Die Schutzkleidung wird
Ein langjähriger Lieferant Gutsches sitzt Grippesymptome zeigen, vermeiden nach jedem Besuch entsorgt. In Wales
bei Wuhan und produziert in Sonder- konnte inzwischen fast 95 Prozent aller
schichten durchgehend von 7 bis 22 Uhr. Verdachtspatienten eine Testung zu Hause
»Aber seit dem Neujahrsfest dort dürfen Wie Infizierte ihr Umfeld schützen können angeboten werden.
die Fabriken uns nicht mehr beliefern«, Im Global Health Security Index liegt
Gegenstände reinigen
sagt Gutsche. »Die Produkte sind alle be- Großbritannien auf dem ersten Platz in
Häufig berührte Gegenstände wie
schlagnahmt.« Tastaturen und Türklinken reinigen, Europa und auf dem zweiten Platz welt-
Auch Länder wie Taiwan oder Korea Küchen und Bad sauber halten weit. Das dortige Gesundheitsministerium
hätten wohl bereits Exportverbote für hat längst auf Covid-19 reagiert und de-
Schutzkleidung verhängt, hält das Proto- Verdeckt husten und niesen taillierte Anweisungen für Hausärzte, La-
koll aus dem Gesundheitsministerium fest. Beim Niesen und Husten Taschentuch bors und das medizinische Personal online
Und beim verfügbaren Rest steigen die benutzen oder Mund und Nase mit gestellt.
Preise: Bei Amazon, sagt ein Sprecher Ellenbeuge bedecken Hierzulande leiden die Gesundheits-
der Deutschen Krankenhausgesellschaft, ämter unter drastischem Personalmangel.
verlange manch Händler für ein Paket mit
Zu Hause bleiben »In Köln sind wir gut aufgestellt«, sagt der
Nicht zur Arbeit, Schule oder auf
50 einfachen Schutzmasken, das vorher Veranstaltungen gehen, keine Kölner Gesundheitsamtschef Nießen,
für 3,95 Euro zu haben war, inzwischen öffentlichen Verkehrsmittel benutzen »aber vielerorts verdient ein erfahrener
150 Euro. Arzt im Durchschnitt etwa 1500 Euro brut-
Michael Koch hat noch ein paar Atem- Separate Räume nutzen to weniger als im Krankenhaus.«
schutzmasken bei sich zu Hause im Keller Kontakt zu Haushaltsmitgliedern Vor allem: Schon ohne Krisenlagen sto-
liegen. Er sitzt an der Quelle, ist Produkt- meiden, sich nicht im selben ße der Gesundheitsdienst in den Bundes-
manager bei Medika Medizintechnik, ei- Raum aufhalten ländern an die Grenzen seiner Belastbar-
nem Großhändler für Medizinprodukte. keit, sagt Ute Teichert, Vorsitzende beim
Doch seine Quelle werde schon bald ver-
Mundschutz tragen Bundesverband der Ärztinnen und Ärzte
Bei allen unvermeidlichen Kontakten
siegen, sagt Koch. »90 Prozent aller Artikel wie Arztbesuchen Mund-Nasen- des Öffentlichen Gesundheitsdienstes.
wie Masken, Schutzkleidung, Tupfer oder Schutz tragen Da ist es wenig tröstlich, dass selbst die
Verbände kommen aus China. Viele davon USA, die im Global Health Security Index
sogar direkt aus der Provinz Hubei.« auf Platz eins liegen, ihre Schwierigkeiten
Der fehlende Nachschub könnte sich zu Blieben die Coronavirus-Infektionen re- mit der Bewältigung der Krise haben. Sie
einem gefährlichen Problem auswachsen. gional begrenzt, könnten Kliniken Perso- haben Probleme mit ihrem Virustest.
Denn ohne ausreichende Schutzkleidung nal zwischen den Bundesländern verschie- Jennifer Nuzzo, Epidemiologin am Cen-
werden sich Ärzte und Pflegekräfte mit ben. Aber: »Wenn wir bundesweit mehrere ter for Health Security der Johns Hopkins
dem Coronavirus anstecken. Wer soll sich Hunderttausend Patienten zusätzlich ver- University in Baltimore, eine der Verfas-
dann um die Patienten kümmern? In Kran- sorgen müssten, gäbe es kein Gesundheits- serinnen des weltweiten Index, ist schwer
kenhäusern, die ohnehin schon unter Per- system der Welt, das damit kein Problem zu erreichen in diesen Tagen. Als sie sich
sonalnot leiden? bekommen würde«, sagt Susanne Johna, am Mittwoch endlich kurz Zeit für den
Deshalb steht das Thema Schutzklei- Chefin der Ärztegewerkschaft Marburger SPIEGEL nimmt, ist es ihr wichtig, vor al-
dung fürs medizinische Personal ganz Bund und Pandemiebeauftragte der Bun- lem eines klarzustellen: »Unserer Meinung
oben auf der Tagesordnung des Krisen- desärztekammer. Andererseits habe man nach ist kein Land der Welt auf diese Seu-
stabs der Bundesregierung. »Wir tun ge- »mit dem jetzt vorhandenen Personal auch che richtig vorbereitet.«
rade alles, um noch einmal zu schauen, die große Influenzawelle vor zwei Jahren
Jörg Blech, Kristina Gnirke, Hubert Gude,
was wir in Deutschland an Lagerbestän- gestemmt«, sagt Johna, Internistin am St.-
Veronika Hackenbroch, Nils Klawitter,
den haben«, sagt Spahn, »und vor allem Josef-Hospital Rheingau in Rüdesheim am Martin U. Müller, Christian Parth,
auch rechtlich sicherzustellen, notfalls Rhein. Allerdings sei das Gesundheitssys- Cornelia Schmergal, Christoph Schult,
auch durch Beschlagnahmung oder Ex- tem da an Grenzen gekommen. Samiha Shafy, Julia Smirnova,
portverbot, dass jetzt nichts mehr das Viele Patienten könnten sich indes in Frank Thadeusz, Bernhard Zand
Land verlässt.« den Wartezimmern anstecken, wenn sie

12 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Der Corona-Schock
Globalisierung Die Angst vor einer Pandemie hat die Finanzmärkte infiziert,
weltweit fallen die Aktienkurse. Die Börsianer realisieren, dass das
Covid-19-Virus die Weltwirtschaft empfindlich treffen wird. Kommt es zum Crash?

J
im Reid ist Staranalyst der Deut- damit, dass sich das Virus im Westen aus- ten, angetrieben vom billigen Geld der
schen Bank in London und setzt breiten werde, mindestens in Europa, Notenbanken, neue Rekordhöhen.
sich täglich mit den ökonomischen höchstwahrscheinlich aber auch in den China und die Lungenkrankheit Covid-
Folgen der Corona-Epidemie ausei- USA – »und dass dann in den nächsten 19 schienen weit weg, die ökonomischen
nander. Am Dienstag zog er persönliche Wochen einige ziemlich extreme Sachen Folgen für die Weltkonjunktur beherrsch-
Konsequenzen aus seinen Erkenntnissen. passieren werden«. Das Virus werde auch bar. So war es ja auch bei früheren Seu-
Seine Frau und er hätten in der Nacht be- erhebliche ökonomische Schäden verur- chen gewesen, bei Sars oder der Schweine-
schlossen, am Wochenende ihre Vorrats- sachen. grippe. Sie hatten die Welt in Aufregung
kammern und Kühlschränke mit Extraein- Noch vor Kurzem wären solche Aus- versetzt und waren nach wenigen Mona-
käufen vollzustopfen, er wolle vorsorgen sagen an den Finanzmärkten kaum zur ten weitgehend vergessen.
für den Fall, dass sich die Lage verschlech- Kenntnis genommen worden. Die Börsia- Am Montag vergangener Woche schien
tere, schrieb er am Mittwoch in seinem ner zumindest im Westen hatten die Nach- den Anlegern zum ersten Mal zu däm-
täglichen »Early Morning Reid«. richten über das tödliche Virus wochen- mern, dass es beim Coronavirus anders
Er halte sich und seine Frau für rationale lang ausgeblendet. Die Aktienkurse in sein könnte. Da meldete Apple, einer der
Menschen, so Read weiter. Aber er rechne New York und Frankfurt am Main erreich- wertvollsten Konzerne der Welt und Lieb-

KIMIMASA MAYAMA / EPA-EFE / REX

Lange glaubten die Anleger, die Party mit ewig steigenden Kursen könnte auch in Zeiten des Coronavirus
weitergehen. Das war ein Irrtum. Seit klar ist, dass sich das Virus auch außerhalb Chinas schnell ausbreitet, hat sich
die Stimmung an den Finanzmärkten gedreht. Die Kurse reagieren deutlich – und das könnte erst der Anfang sein.
Titel

ling der Anleger, dass es die prognostizier- immer mal wieder vorkommt. Noch kann dent Donald Trump einen Handelskrieg
ten Umsätze vermutlich nicht erreichen von einem Crash keine Rede sein. Aber angefacht.
werde. Apple lässt seinen Hauptumsatz- die zunehmende Unsicherheit ist gefähr- Jeder Wachstumszyklus ist einmal vor-
bringer, das iPhone, wie andere Produkte lich. bei. Dieser könnte besonders abrupt enden.
auch von Foxconn in China fertigen. Und Angst schlägt an der Börse schnell in Zumal die Weltwirtschaft verwundbar
dort stockt die Produktion, obwohl die Panik um, und dann finden die Kurse ist wie nie, weil sie verflochten ist wie nie.
Fabrik wieder geöffnet ist. Viele Wander- keinen Halt mehr – so wie im September Die Unternehmen kaufen Teile bei Zu-
arbeiter sind noch immer nicht an ihren 2008, als die Pleite der amerikanischen lieferern, die wiederum Teile von Unter-
Arbeitsplatz zurückgekehrt. Investmentbank Lehman Brothers einen zulieferern beziehen und die Teile von Un-
Apples Gewinnwarnung löste einen ers- Crash auslöste, es folgte die Finanz- und terunterzulieferern. Viele Konzerne ver-
ten Börsenschock aus. Die Meldung hatte anschließend eine schwere Wirtschafts- schaffen sich erst jetzt einen genaueren
deutlich gemacht, wie abhängig selbst die krise. Überblick über ihre Lieferketten, erst jetzt
größten Konzerne von Chinas Fabriken Gibt es jetzt wieder einen solchen Leh- wird ihnen klar, welche Abhängigkeiten
sind. man-Moment? Ist das Coronavirus der be- sie eingegangen sind – und dass sie sich
Dann tauchten immer mehr Fälle von rüchtigte Schwarze Schwan, der dem lang- alle gegenseitig in den Abgrund ziehen
Infizierten außerhalb Chinas auf, in Süd- jährigen Börsenboom ein jähes Ende können.
korea, in Italien, auf Teneriffa und auch setzt? Stehen in Chinas Fabriken die Bänder
in Deutschland. Und wie über Nacht war »Der Schwarze Schwan«: So hieß ein still, spüren dies die Kunden in Südkorea,
es mit der Illusion vorbei, das Virus sei ein Buch, das kurz vor der Finanzkrise heraus- Japan oder Vietnam, in den USA und in
regionales Problem. Die Gefahr einer Pan- kam und das Phänomen eines vollkom- Deutschland. Sie warten auf Nachschub,
demie erschien plötzlich real. Eine solche men unerwartet auftretenden Ereignisses ihnen fehlen Komponenten für Computer
globale Seuche würde die westlichen beschreibt, das extreme Folgen hat. Kurz und Smartphones, für Motoren und Ma-
Volkswirtschaften direkt treffen, weit über nach Erscheinen ging Lehman pleite. Die schinen. Das ganze Ausmaß des Problems
die Verbindungen zu China hinaus. Fabri- Finanzmärkte standen vor dem Abgrund. dürfte erst in diesen Tagen erkennbar wer-
ken würden auch in Europa stillstehen, Damals mussten Banken mit dem Geld den: Ein Containerschiff aus Shanghai
Schulen würden geschlossen, die Bürger der Steuerzahler gerettet werden, die Men- braucht rund sechs Wochen, bis es den
würden Menschenansammlungen meiden, schen fürchteten um ihr Erspartes, was die Hamburger Hafen erreicht. Erst kurz zu-
das öffentliche Leben käme weitgehend Nachfrage einbrechen ließ und schließlich vor war das neuartige Coronavirus iden-
zum Erliegen. auch die Konjunktur. Aus Angst vor Ver- tifiziert worden.
Angst breitete sich an den Börsen aus, mögensverlusten horteten die Bürger Das Virus mache klar, wie abhängig die
der deutsche Aktienindex Dax brach am Geld, und Investoren zogen Kapital ab. Weltwirtschaft davon sei, dass die inter-
Montag und Dienstag um 5,8 Prozent ein, Schließlich standen nicht nur die Finanz- nationale Arbeitsteilung reibungslos funk-
der amerikanische Dow-Jones-Index um märkte, sondern auch die Weltkonjunktur tioniere, sagt Handelsexperte Stefan Leg-
6,6 Prozent. Und der Kursverfall setzte vor dem Kollaps. ge von der Universität St. Gallen – und
sich am Donnerstag fort, nachdem weitere Diesmal ist es anders. Die Gefahr geht wie verletzlich das System sei. Einige Wo-
Konzerne wie Microsoft ihre Erwartungen nicht von den Banken, sondern von der chen lang könne die Industrie die Störung
zurückschrauben mussten. Und nachdem realen Wirtschaft aus. Wenn sie wegen des von Lieferketten einigermaßen überste-
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn Virus weitgehend zum Erliegen kommt, hen, allmählich aber werde es eng. »Wir
(CDU) offiziell vom »Beginn einer Epide- würde sie die Börsen mit in die Tiefe zie- befinden uns an einem kritischen Punkt.«
mie« in Deutschland gesprochen hatte. hen. Was wiederum eine Finanzkrise nach Bei der Welthandelsorganisation WTO
»Diese Krise ist viel tief greifender für sich ziehen könnte, weil viele Unterneh- in Genf verfolgt Chefvolkswirt Robert
China und den Rest der Welt, als die In- men hoch verschuldet sind. Es wäre wie- Koopman die Entwicklung mit Sorge.
vestoren geglaubt haben«, sagt der US- der eine Krisenspirale, die sich immer wei- »Das Coronavirus hat vor allem einen An-
Ökonom Nouriel Roubini. Mit drastischen ter verstärkt. Eine Krise wie bei Lehman, gebotsschock ausgelöst«, sagt er. Wenn Ar-
Folgen für die Finanzmärkte: Er glaubt, nur andersherum. beitskräfte zu Hause blieben, werde die
dass die globalen Aktienmärkte »in die- Die Bedrohung ist real. Die Weltwirt- Produktion beeinträchtigt. Außerdem ver-
sem Jahr um 30 bis 40 Prozent fallen«. schaft schwächelt, der bisherige Wachs- ursache die Bekämpfung der Epidemie
Noch bewegen sich die Kursrückgänge tumstreiber, die Globalisierung, stockt, das Kosten: im Gesundheitswesen zum Bei-
im Rahmen einer normalen, wenn auch Dopingmittel der niedrigen Zinsen wirkt spiel oder durch die Ausfälle in der Luft-
heftigen Korrektur, wie sie an den Börsen nicht mehr. Und zu alledem hat US-Präsi- fahrt. Und schließlich leide auch die Nach-
frage, weil die Leute weniger einkaufen,
Dez. Jan. Febr.
wenn sie zu Hause isoliert sind.
Kerosinpreis in Dollar je Tonne 2019 2020 1. bis 3. Woche
Goldpreis Solange das Virus auf China begrenzt
0 in Dollar je Feinunze war, hielt die WTO die Folgen der Epide-
600
Quelle: Quelle: Refinitiv Datastream mie für überschaubar. Inzwischen sei klar,
Refinitiv
Datastream »dass sich das Virus weiter ausbreitet und
–20% 1600
die wirtschaftlichen Folgen weit über Chi-
550 na hinausgehen«, sagt Koopman.
–40% Wie stark der Rückgang des Welthan-
Auto- dels ausfällt, hängt allerdings in erster Li-
1500
500
absatz nie von China ab. Die Volksrepublik ist
–60% in China nach den USA zur zweitgrößten Volkswirt-
jeweils gegen- schaft der Welt aufgestiegen. Sie ist heute
über dem 1400 gut viermal größer als 2003, als das Sars-
450 –80% Vorjahresmonat
Dez. Jan. Febr. Dez. Jan. Febr. virus das Land lähmte. Damals machte
2019 2020 Quelle: CPCA 2019 2020 Chinas Anteil an der globalen Wirtschaft
4,3 Prozent aus, heute liegt er bei gut

14
KAY NIETFELD / DPA
Im Kampf gegen das Virus gibt sich die Bundesregierung, hier Gesundheitsminister Jens Spahn
mit Mitarbeitern, entschlossen. Aber die wirtschaftlichen Folgen will sie erst einmal abwarten:
Für direkte Finanzspritzen an Not leidende Unternehmen sieht das Wirtschaftsministerium keinen Bedarf.

16 Prozent. Vor allem sind chinesische Un- mer und Körpertemperatur eintragen, so- bis hinunter zu den Nachbarschaftskomi-
ternehmen viel stärker vernetzt als früher. bald der Sicherheitsmann ihn mit dem In- tees unterschiedliche Maßnahmen erlas-
Nach der Finanzkrise von 2008 war es frarotthermometer abgescannt hat. Aber sen. »Die totale Atomisierung der Vor-
China, das die Weltwirtschaft aus der Kri- gerade ist ja Raucherpause, da ist dem schriften hat für uns zu einem Albtraum
se zog. Die deutsche Industrie, allen voran Dienst Genüge getan, wenn der Unifor- geführt«, sagt Jörg Wuttke, Präsident der
die Maschinenbauer und die Autoherstel- mierte den Vorbeigehenden das Thermo- EU-Handelskammer in China. »Die Wirt-
ler, profitierte besonders vom Aufstieg der meter bloß für eine Sekunde nachlässig schaft stottert extrem. Wir müssen jetzt
Chinesen. aufs Handgelenk richtet und sie dann erst mal die Synchronisierung wieder hin-
Dieser Treiber fällt nun aus, ein neuer durchwinkt. Dokumentiert wird nichts. kriegen.«
ist nicht in Sicht. Ob es zu einer Weltwirt- Chinas Hauptstadt kann sich nicht recht In einer am Donnerstag veröffentlichten
schaftskrise und einem Crash an den entscheiden, ob sie bei strengen Kontrol- Umfrage der EU-Handelskammer in Chi-
Märkten kommt, wird deshalb davon ab- len bleiben oder die Zügel allmählich lo- na, an der 577 ihrer Mitgliedsunternehmen
hängen, wie schnell China es schafft, das ckern soll. Die Menschen sollen konsumie- teilnahmen, gaben fast 90 Prozent an, die
Coronavirus zu besiegen. ren, aber irgendwie auch wieder nicht. Vie- Epidemie habe mittlere bis starke Auswir-
Mindestens so entscheidend wird sein, le Geschäfte in der Shoppingmall haben kungen auf ihre Geschäfte. Die Hälfte be-
wie stark andere Länder von dem Virus zwar geöffnet, die meisten jedoch nur von absichtigt, ihre Jahresziele herabzusetzen.
befallen werden und wie sie damit um- 11 bis 18 Uhr, weit weniger lange als in nor- Mitte Februar, eine Woche nach Ende
gehen; Länder wie Südkorea, Italien – und malen Zeiten. Die Haupteingänge der Flag- der extra verlängerten Neujahrsferien, war
Deutschland. ship-Stores von Apple und Uniqlo stehen erst rund ein Drittel der knapp 300 Mil-
offen, die Seitentüren sind zugesperrt. lionen Wanderarbeiter an ihren Arbeits-
An einem Nebeneingang zum noblen Drinnen lehnt das Personal gelangweilt an platz zurückgekehrt. Doch am Wochen-
Pekinger Einkaufszentrum Taikoo Li steht den Warentischen – es kommt eh kaum ende gab Staats- und Parteichef Xi Jinping
ein Uniformierter und zieht an seiner ein Kunde. die Losung aus, Gebiete mit geringen An-
Zigarette. Auf dem Tisch vor ihm liegt ein Die Wirtschaft beginnt sich zu norma- steckungsrisiken sollten »die volle Pro-
Clipboard mit einer Liste. Eigentlich soll lisieren, in Gang kommt sie nicht. Im duktion und das normale Leben wieder
jeder Besucher dort Namen, Telefonnum- Kampf gegen das Virus haben Instanzen aufnehmen«. In rund der Hälfte der chi-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 15


sind jeweils Schiffe, die bis zu 20 000 Con-
tainer aufnehmen können. Deswegen hat
man in Deutschland noch gar nicht ge-
merkt, dass China ein Problem hat, weil
de facto jetzt gerade noch die Schiffe an-
kommen, die vor dem Coronavirus los-
gefahren sind.«
Dass die Volksrepublik die Krise über-
winden wird, darin sind die beiden sich
dennoch einig. »Es ist schlimm, auch lang-
fristig, aber die Chinastory ist nicht vor-
bei«, sagt Wuttke. Es gebe noch genug
Nachfrage im System.
Wie schlimm die Weltwirtschaft betrof-
fen sein könnte, sei dagegen schwer abzu-
schätzen, sagt Ding. Eine globale Rezes-

ANDREA CANALI / EPA-EFE / REX


sion liege im Bereich des Möglichen:
»Schauen Sie sich die Reaktion der New
Yorker Börse an«, sagt er. »Internationale
Investoren sind nicht sonderlich rational.
Es könnte zu einer Panik kommen, zu
einer Überreaktion.«
Aus chinesischer Sicht stelle es sich so
dar, sagt Ding: »China hat ein gutes Bei-
Hamsterkäufer haben die Regale dieses Supermarkts bei Mailand geleert. spiel abgeliefert, wie man die öffentliche
Während sich die Italiener langsam an das Leben mit dem Virus gewöh- Meinung mobilisiert und dann die Ausbrei-
nen, kommen die Schreckensnachrichten zunehmend aus der Wirtschaft. tung der Pandemie kontrolliert. Aber wir
wissen nicht, ob andere Länder genauso
effektiv sein können.«
nesischen Kreise gebe es gar keine Covid- trum für Weltentwicklungsforschung des Länder wie Südkorea zum Beispiel.
19-Fälle. Staatsrats von China. Eine Alternative
Hubei ausgenommen, nimmt die Be- sehe er jedoch nicht, zumal er die Verschul- Ungewöhnlich ruhig ist es in Seoul, der
wegungsfreiheit allmählich wieder zu. dung als beherrschbar betrachte: »Chinas südkoreanischen Hauptstadt – und leer.
Mehrere Provinzen haben ihr Alarmlevel Wirtschaft wird sich erholen – wenn nicht Normalerweise drängen sich die Men-
gemäß Chinas vierstufigem System zur im nächsten Quartal, dann im Sommer.« schen in den U-Bahnen, sie schieben sich
Seuchenbekämpfung herabgesetzt, Lokal- Der 2016 verabschiedete Fünfjahresplan nachmittags durch Einkaufszonen und sit-
regierungen Einschränkungen gelockert. sehe bis 2020 ein jährliches Wachstum von zen bis spätabends in Cafés, während drau-
Unternehmen locken ihre Belegschaften 6,5 Prozent vor; da die Wirtschaft in den ßen die Leuchtreklamen blinken.
mit Boni oder haben Busse gechartert, um vergangenen Jahren aber stärker expan- Doch es sind keine normalen Zeiten in
sie zurück an den Arbeitsplatz zu holen. diert sei, könne das Land 2020 auch mit Südkorea, innerhalb einer Woche sind
Ende Februar hatten rund 60 Prozent einem Prozentpunkt weniger leben und mehr als 1600 neue Infektionen mit dem
der großen Konzerne die Produktion wie- seine Ziele erreichen. Ein massives Kon- Coronavirus bestätigt worden. Das Land
der angeschoben, unter den kleinen und junkturpaket, wie China es nach der Welt- ist im Panikmodus. »Die Angst vor dem
mittelgroßen Unternehmen waren es 30 finanzkrise auflegte, hält Ding weder für Virus verbreitet sich im ganzen Land und
Prozent. »Seit Montag ist zu spüren, dass wahrscheinlich noch für notwendig. sehr viel schneller als das Virus selbst«,
die Chinesen ihr Programm ausrollen«, EU-Handelskammerpräsident Wuttke schrieben Ökonomen der Citibank Anfang
sagt Wuttke. ist weniger optimistisch: »Welche Vorpro- der Woche.
Die Zentralregierung hat einige Steuern dukte kriegt man aus Europa? Da gibt es Die Menschen meiden den Kontakt mit
und Sozialabgaben temporär gemindert, ein riesengroßes Verschiffungsproblem. anderen – und die Geschäfte. Der Kon-
um finanzielle Engpässe bei den Unterneh- Wir haben hier Ausfälle von etwa vier Wo- sumklima-Index der koreanischen Zentral-
men zu lindern. Die chinesische Zentral- chen, wo nichts rausgegangen ist. Maersk bank ist im Vergleich zum Januar drastisch
bank hat die Zinsen gesenkt. Die sechs hat 68 Schiffe abgesagt, Cosco 69, und das gefallen. »Angesichts der Unsicherheit ist
größten Staatsbanken wurden instruiert,
mehr Not leidenden Betrieben Zugang zu
Hilfskrediten zu gewähren; mittlerweile Mehr Gewicht Chinas Anteil ...
stehen umgerechnet fast 105 Milliarden ... am ... an den ... an den
weltweiten weltweiten weltweiten 19,8 %
Euro zur Verfügung. Die meisten dieser
Maßnahmen laufen auf höhere Unterneh- Brutto- 16,3 % Exporten Ausgaben
mensschulden hinaus, die in China ohne- inlands- 13,1 % für
hin bereits beträchtlich sind – und dem produkt Tourismus
Ziel zuwider, Finanzrisiken zu mindern,
neben der Armutsbekämpfung und dem 5,8 %
Umweltschutz einer von Xi Jinpings »drei 4,3 % Quellen:
2,9 % IWF,
harten Kämpfen«. 1. bis 3. WTO,
Quartal UNWTO
»Auf mittlere Sicht werden wir wohl ei-
nen Anstieg des Schuldenniveaus sehen«, 2003 2019 2003 2019 2003 2018
fürchtet der Ökonom Ding Yifan vom Zen-

16
Titel

es sehr wahrscheinlich, dass Unternehmen zur Kenntnis nehmen, kommen zuneh- Auch der Einzelhandel in den Städten
Investitionen und Einstellungen verschie- mend Schreckensnachrichten aus der Wirt- leidet. In der Industrie mussten die ersten
ben«, sagt Choi Sangyup von der Wirt- schaft. Eine Branche nach der nächsten Fabriken geschlossen werden, nachdem
schaftsfakultät der Yonsei-Universität in meldet Gewinneinbrüche, stornierte Auf- sich Arbeiter mit dem Virus infiziert hat-
Seoul. träge, verschreckte Geschäftspartner in ten. Aus Angst vor einer Kettenreaktion
Viele Unternehmen haben in dem für aller Welt. appellierten Branchenverbände bereits an
seine rigide Arbeitskultur bekannten Land Besonders hart hat es den Tourismus die Unternehmen, die Produktion mög-
sogar die Kernarbeitszeit verändert, um getroffen. Venedig verscherbelt Hotelzim- lichst nicht zu unterbrechen.
die Ansteckung in öffentlichen Verkehrs- mer für 30 oder 40 Euro, trotzdem gingen Die Kritik am Krisenmanagement der
mitteln zu vermeiden. Andere haben für die Reservierungen um 40 Prozent zurück. Regierung wächst. Fabrikanten, Hoteliers
die gesamte Belegschaft Heimarbeit ange- Landesweit rechnet die Branche bis Ende und Einzelhändler sprechen von einem Pa-
ordnet. Der Mischkonzern Samsung muss- Mai mit über 20 Millionen weniger Gästen. nikeffekt, den das Kabinett erzeugt habe,
te seine Fabrik in Gumi, wo auch das falt- Ostern und Pfingsten haben die Touris- und von Maßnahmen, die als exzessiv
bare Galaxy Z Flip hergestellt wird, sogar mushochburgen Norditaliens schon verlo- wahrgenommen würden. Italien sei des-
für zwei Tage schließen. ren gegeben, jetzt bangen sie um die Re- halb weltweit quasi auf einer schwarzen
Sosehr das Virus die südkoreanische servierungen für die Sommerferien. Liste gelandet. Manager würden von Ge-
Wirtschaft beeinträchtigen wird: Die Fol-
gen für die deutsche Wirtschaft werden
wohl eher gering sein. »Die Importe
Deutschlands aus Südkorea machen etwa
ein Zehntel seiner Einfuhren aus China
aus und ähneln denen des Landes aus Dä-
nemark«, sagt Wirtschaftsprofessor Choi.
Die Versorgung der deutschen Hersteller
von Elektroautos mit Batterien südkorea-
nischer Unternehmen ist ohnehin unab-
hängig davon. Zwar beliefert der größte
koreanische Produzent LG Chem 13 der
20 wichtigsten Automarken der Welt, die
Batterien für die Autokonzerne aber kom-
men aus einem Werk in Polen.
Das Problem: Auch Europa rutscht all-
mählich in den Krisenmodus.

Brunello Cucinelli sitzt wie auch der milli-


ardenschwere Modekonzern, der seinen Na-
men trägt, in der umbrischen Kleinstadt So-
lomeo zwischen Florenz und Rom, weit ent-
fernt vom Epizentrum der Corona-Krise.
Trotzdem hat er Vorsichtsmaßnahmen
für seine tausend Mitarbeiter vor Ort er-
griffen. »In unseren Fabriken gehen die
Mitarbeiter jetzt in drei Schichten zum
Mittagessen, damit nicht so viele gleich-
zeitig in der Kantine sind«, sagt der Unter-
nehmer. »Wir arbeiten bei geöffneten Fens-
tern, und in Besprechungen achten wir auf
einen größeren Abstand zueinander.«
Große Bedenken hat er nicht. »Vor 10,
15 Tagen war ich noch besorgter. Dieses
Problem bekommen wir in den Griff.« Die
Erdbeben in seiner Region seien viel
schlimmer – »weil sie nicht vorhersehbar
sind und man nichts dagegen tun kann«.
Cucinelli, der seine Kaschmirmoden
von zahllosen Familienbetrieben im Um-
ANDREA PATTARO / AFP

feld seines Heimatorts fertigen lässt, rech-


net nur mit vorübergehenden Effekten.
»Unsere Firmen hier, in Italien, eure in
Deutschland und die anderen in Europa
werden ein bisschen weniger wachsen«,
erwartet er, »sonst passiert nichts, struk-
turelle Effekte wird es nicht geben.« Der Tourismus in Italien ist von der Corona-Krise besonders
Wenn er sich da nicht täuscht. Denn hart getroffen. Venedig verscherbelt Hotelzimmer für 30 oder 40 Euro pro
während sich die Italiener langsam an ei-
nen Alltag mit dem Virus gewöhnen und
Nacht, trotzdem gingen die Reservierungen um 40 Prozent zurück.
die neuesten Infiziertenzahlen routinierter

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 17


Nach dem zwischenzeitlichen Produk-
Vom Virus geschwächt … … von Angst getrieben tionsstopp fährt Volkswagen seine Werke
in der Volksrepublik nur schrittweise wie-
Kursverluste großer Dax-30-Unternehmen Kreditausfallversicherungen für euro- der hoch. Viele Betriebe laufen noch nicht
päische Unternehmen (Anstieg durch
mit voller Kapazität. Es fehlt an Personal,
Risikoaufschläge)
an Zulieferteilen, vor allem aber an der
0 55 Index-Basispunkte, ITRX Nachfrage. »Es nützt ja nichts, wenn wir
jetzt massenhaft Autos auf Halde pro-
duzieren«, sagt VW-Chinachef Stephan
Dax 30 Wöllenstein.
insgesamt 50 Auch außerhalb Chinas bekommt Volks-
–5%
wagen die Auswirkungen des Virus zu spü-
ren. Viele Zulieferbetriebe, die auch Teile
45
für die VW-Produktion in anderen Län-
–10% Volkswagen dern herstellen, standen bis vergangene
Lufthansa Woche still. Da der übliche Transport auf
Deutsche Bank
dem Schiffsweg mehrere Wochen dauert,
40 werden die Folgen des Produktionsstopps
–15% erst im März und April sichtbar werden.
Quelle: Refinitiv Datastream Quelle: Bloomberg
Um die dann drohenden Engpässe zu über-
14. Febr. 2020 27. Febr. 14. Febr. 2020 27. Febr. brücken, lässt VW wichtige Zulieferteile
per Luftfracht an die verschiedenen Volks-
wagen-Standorte außerhalb Chinas flie-
schäftsterminen im Ausland wieder aus- tern an, unbezahlten Urlaub zu nehmen, gen. »Wir sind vorsichtig optimistisch, dass
geladen. Und im Inland würden mittel- weil viele Flüge nach Asien ausfallen. Es es nicht zu einem Abriss der Lieferkette
oder süditalienische Firmenkunden bitten, gibt einen Einstellungsstopp. Ähnlich kommt«, sagt Wöllenstein.
bloß keine Techniker oder Berater aus agiert der Betreiber des Frankfurter Flug- All die Verwerfungen zeigen jedoch,
Norditalien zu schicken. Wenn sich der hafens, Fraport. wie stark die Industrie mittlerweile von
hysterische Ton in Rom nicht ändere, stür- Für die deutsche Autoindustrie bei- China abhängig ist. »Wir stoßen jetzt alle
ze das Land in eine Rezession. spielsweise ist China der mit Abstand an unsere Grenzen bei dem Versuch, uns
Dass ausgerechnet der reiche Norden wichtigste Absatzmarkt. Volkswagen ver- schnellstmöglich Alternativquellen zu er-
Italiens vom Virus befallen wurde, macht kauft dort mittlerweile fast 40 Prozent schließen«, sagt Ford-Deutschland-Chef
die Sache nicht besser. Die am stärksten seiner Fahrzeuge. Entsprechend schmerz- Gunnar Herrmann.
betroffenen Regionen Lombardei und haft dürfte sich der jüngste Absatzein- In diesem Ausmaß sei das bislang nie
Venetien produzieren etwa 40 Prozent bruch in der Jahresbilanz bemerkbar ma- nötig gewesen. Die Abhängigkeit von Chi-
der italienischen Exporte und rund ein chen. Der gesamte Autohandel ist in na könne aber auch einen Lerneffekt aus-
Drittel der Wirtschaftsleistung. Produk- weiten Teilen des Landes zum Erliegen lösen. Herrmann geht davon aus, dass die
tionsausfälle zwischen Venedig, Padua gekommen. Unternehmen sich künftig »bei den Lie-
und Mailand kann sich das Land nicht
lange leisten.
Carlo Cottarelli, Professor an der Wirt-
schaftsuniversität Bocconi in Mailand,
warnt trotzdem vor Alarmismus. »Norma-
lerweise haben solche Epidemien nur ei-
nen vorübergehenden Effekt auf die Wirt-
schaft«, sagt der ehemalige Direktor beim
Internationalen Währungsfonds.
Das wahre Problem bestehe darin, dass
das Covid-19-Virus Italien in einer ohnehin
schon geschwächten Lage treffe: »Wir ha-
ben seit 20 Jahren praktisch kein Wirt-
schaftswachstum, unsere Verschuldung ist
die zweithöchste im Euroraum«, sagt Cot-
tarelli. »Wenn die Epidemie jetzt zum zün-
denden Funken wird und die Stimmung
an den Finanzmärkten verändert, wird es
eine Kettenreaktion geben.« Mit unabseh-
baren Folgen für den Euroraum, auch für
Deutschland.

Die deutsche Wirtschaft ist bislang noch


vollauf damit beschäftigt zu analysieren,
welche Folgen der Ausbruch der Lungen- Die VW-Werke in China werden nur schrittweise wieder
krankheit Covid-19 in anderen Ländern hochgefahren. Vielerorts fehlt es an Personal, an Zulieferteilen.
auf ihr Geschäft hat. Manche Unterneh-
men haben bereits Konsequenzen gezo-
Vor allem aber fehlt es an der Nachfrage.
gen: Die Lufthansa bietet ihren Mitarbei-

18
Titel

feranten breiter und internationaler auf- Die Experten in den zuständigen Ber- hilfe niedriger Zinsen wiederbelebt, es da-
stellen.« liner Ministerien halten die psychologi- nach aber versäumt, die Zinsen wieder an-
Viel größere Sorgen machen dem Ford- schen Effekte, insbesondere für die Wirt- zuheben. Die amerikanische Federal Re-
Manager die Zustände in Europa. »Sollte schaft, für wesentlich gefährlicher als den serve hat sich immerhin etwas Spielraum
sich das Virus dort weiter ausbreiten, könn- Erreger selbst – und wollen die Ängste des- nach unten erarbeitet, ihr Leitzins liegt
te es quer durch die Industrie zu Produk- halb nicht befeuern. Am 12. Februar trafen aktuell bei 1,75 Prozent. Europas Leitzins
tionsstopps kommen«, so Herrmann, »das sich Vertreter des Wirtschafts- und Außen- verharrt seit Jahren bei null.
wäre für die Konjunktur sehr schmerz- ministeriums mit rund 50 Wirtschaftsver- Das wird vor allem dann gefährlich,
haft.« tretern. Die Beamten erinnerten daran, wenn das Euroland Italien in ernsthafte
Eine Epidemie in Deutschland wäre ein dass bei Produktionsausfällen infolge der Schwierigkeiten gerät. Kommissionsvize-
Härtetest für Großkonzerne wie Siemens, Corona-Krise ein altbewährtes Hilfsmittel präsident Valdis Dombrovskis wies vor-
Lufthansa, die Deutsche Post oder die bereitstehe: das Kurzarbeitergeld. sorglich darauf hin, dass es im Stabilitäts-
Bahn. Immerhin haben sie Pläne in der Erleichterte Voraussetzungen für diese und Wachstumspakt bereits Klauseln gebe,
Schublade, anders als viele Mittelständler, staatliche Unterstützung wurden jüngst die es den Mitgliedstaaten erlaubten, im
die schlecht vorbereitet sind. von der Koalition auf den Weg gebracht. unverschuldeten Krisenfall von den Defi-
»Wir schätzen, dass nur 20 bis 25 Pro- Theoretisch kann 24 Monate lang Geld zitregeln abzuweichen.
zent der deutschen Unternehmen sich mit fließen, damit Arbeiter zu Hause bleiben »Natürlich fallen Dinge im Zusammen-
dem Thema auseinandergesetzt haben«, und dennoch weiter entlohnt werden. Das hang mit dem Coronavirus unter diese
sagt Dirk-Matthias Rose, Arbeitsmedizi- Ministerium hat ein eigenes Monitoring Klausel«, sagte Dombrovskis. »Sobald es
ner an der Universitätsklinik Mainz. Ein ins Leben gerufen, welche Branchen wie die konkrete Nachfrage eines Mitglied-
Auslöser dafür sei die Vogelgrippe gewe- stark beeinträchtigt sind. staates gibt, sind wir offen, darüber zu
sen. »Doch seit 2009 hat in die Pläne si- Besonders anfällig sei ausgerechnet die reden.«
cher keiner mehr reingeschaut.« Pharmaindustrie, heißt es aus dem Wirt- Wirtschaftlich großen Schaden würden
Gerade kleinere, oft familiengeführte die Folgen des Corona-Ausbruches in
Unternehmen, die als »Hidden Cham- Europa insbesondere dann anrichten,
pion« auf den Weltmärkten aktiv sind, Leiden mit China wenn sich einzelne Mitgliedsländer ent-
dürften besonders gefährdet sein – und oft Prognose* zur Auswirkung von Corona: Rückgang schlössen, vorübergehend Grenzkontrol-
des Bruttoinlandsprodukts 2020, in Prozentpunkten
völlig planlos. Die Kernfrage bei der Vor- len einzuführen. Dies dürfen sie »als letz-
bereitung sei: Welche Bereiche muss ich Euro- Deutsch- tes Mittel«, wie es der Schengen-Grenz-
unbedingt am Laufen halten, und welche China Japan raum land USA Welt kodex formuliert, die EU-Kommission
Mitarbeiter brauche ich dafür? prüft dann, ob das Vorgehen verhältnis-
In den seltensten Fällen würden alle mäßig ist.
gebraucht. »Der Rest gehört nach Hause, –0,1 –0,1 Der grenzfreie Schengenraum ist das
ins Homeoffice oder in den Urlaub. Herz des europäischen Binnenmarkts.
Jede zusätzliche U-Bahn-Fahrt ist ein –0,2 –0,2 Kilometerlange Staus, etwa auf der Bren-
Risiko.« ner-Autobahn wären die Folge bei Kon-
–0,3 –0,3 *vom 12. Februar
Quelle: Deutsche Bank
trollen – mit weitreichenden Problemen
Die Lage ist unübersichtlich, sie ver- für die Lieferketten von Unternehmen. Zu-
ändert sich täglich. Wirtschaftliche Pro- dem ist umstritten, ob solche Kontrollen
gnosen gleichen einem Blick in die Glasku- schaftsministerium. Mehr als 80 Prozent durch Polizisten und medizinisches Perso-
gel. Was also kommt auf die Wirtschaft zu? aller Wirkstoffe stammen aus China und nal mehr wären als ein bisschen Show, da
Die Volkswirte der Deutschen Bank ha- Indien. Auch chemische Grundstoffe kom- Infizierte bis zu zwei Wochen lang keine
ben ihre 2020er-Wachstumsprognose für men häufig aus Asien. Weniger dramatisch Symptome zeigen.
Deutschland von 1,0 auf 0,7 Prozent re- ist die Situation in der Autoindustrie. Sie US-Ökonom Roubini hält diese Sorgen
duziert, ihre Kollegen aus dem Berliner bezieht viele Bauteile aus dem benachbar- für naiv, verlangt nach härteren Antwor-
Wirtschaftsministerium rechnen damit, ten Ausland. ten. Die Grenzen nach Italien müssten um-
dass das deutsche Bruttoinlandsprodukt Für direkte Finanzspritzen an Not lei- gehend geschlossen werden, wie 2016,
um 0,2 bis 0,5 Prozentpunkte weniger dende Unternehmen gebe es derzeit keinen nach der Flüchtlingskrise. Diese Krise gehe
wächst, wenn das Virus die Produktion in Bedarf, heißt es im Wirtschaftsministerium. noch tiefer, sagt er. »Die Situation ist viel
China noch den ganzen März hindurch Es sei aber möglich, ohnehin geplante Ent- schlimmer, als wenn noch einmal eine Mil-
behindert. lastungen für Unternehmen, etwa Abschrei- lion Flüchtlinge nach Europa kämen.«
Aber diese Berechnungen stammen bungserleichterungen, vorzuziehen. Sollte Und was rät Roubini den verunsicher-
noch aus der Zeit, bevor sich das Virus durch das Coronavirus die Nachfrage ein- ten Anlegern?
außerhalb Chinas ausbreitete. Je mehr brechen, ließe sich natürlich mit einem »Halten Sie Bares, und investieren Sie
Länder betroffen sind, je mehr Menschen Stimulus gegensteuern, heißt es im Haus in sichere Staatsanleihen, zum Beispiel
sich infizieren, desto größer ist die Gefahr, von Finanzminister Olaf Scholz (SPD). Bundesanleihen«, empfiehlt der Crash-
dass die Weltwirtschaft einem tiefen Ab- Doch die mangelnde Nachfrage dürfte Prophet. Dass die negative Renditen ha-
schwung entgegengleitet. Und »wenn wir nicht das Problem sein. Ökonomen spre- ben, stört ihn nicht. »Das bedeutet ja nur,
in eine globale Rezession rutschen, wer- chen von einem Angebotsschock, wenn dass die Kurse steigen und steigen«, sagt
den wir auch eine Finanzkrise haben«, pro- Unternehmen nicht liefern können, weil er, »damit können Sie eine Menge Geld
phezeit Krisenforscher Roubini. Die Schul- etwa die Arbeiter zu Hause bleiben müs- machen.«
den seien in den vergangenen Jahren ge- sen. Dagegen hilft kein Konjunkturpro- Tim Bartz, David Böcking, Georg Fahrion,
stiegen, der US-Immobilienmarkt gleiche gramm und auch kein billiges Geld der No- Simon Hage, Martin Hesse, Frank Hornig,
wie 2007 einer Blase. »Bislang waren das tenbanken. Alexander Jung, Armin Mahler, Juan
nur deshalb keine Zeitbomben, weil es Ohnehin haben die Notenbanken ihr Moreno, Martin U. Müller, Peter Müller,
Wachstum gab«, sagt der US-Ökonom. Pulver weitgehend verschossen. Nach der Katharina Peters, Gerald Traufetter
»Doch das ist jetzt vorbei.« Finanzkrise hatten sie die Wirtschaft mit-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 19


Deutschland

DPA
Trauer um Hanauer Opfer Als erste Tote des Attentats wurde am Montag Mercedes K. auf dem Neuen Friedhof in
Offenbach beigesetzt. Die 35-Jährige hinterlässt zwei Kinder. Sie wollte in der Arena Bar Pizza für ihre Familie
besorgen, als der Täter am vorvergangenen Mittwochabend das Feuer eröffnete. Er tötete elf Menschen, darunter sich
selbst. Der Generalbundesanwalt ermittelt wegen des Verdachts auf einen Terrorakt mit rassistischem Hintergrund.

Tempolimit gut fürs Klima


Straßenverkehr Neue Berechnungen stützen die Position der Bundesumweltministerin.

 Das Umweltbundesamt hat neue Schät- ziele nach dem Klimaschutzgesetz in den Die Emission von Treibhausgasen im
zungen, wie viel Treibhausgas durch ein nächsten Jahren deutlich verfehlen wird.« Straßenverkehr stagniert seit Jahren auf
generelles Tempolimit auf Autobahnen Der Verkehrssektor muss bis zum Jahr hohem Niveau, unter anderem weil
eingespart würde. Demnach würden bei 2030 jährlich 50 Millionen Tonnen CO immer mehr leistungsstarke Autos wie
²
einer Obergrenze von 130 Stundenkilome- einsparen. Die von Bundesverkehrsminis- etwa SUVs die Spritersparnis moderner
tern 1,9 Millionen Tonnen CO im Jahr ter Andreas Scheuer eingereichten Maß- Motoren auffressen. Die Bundesumwelt-
²
eingespart. Bei maximal 120 Stundenkilo- nahmen zur CO -Reduktion dürften die- ministerin fühlt sich durch die Zahlen
²
metern wären es jährlich 2,6 Millionen ses Ziel verfehlen, wie Gutachten des Bun- vom UBA in ihrer Forderung nach Einfüh-
Tonnen Kohlendioxid weniger, bei Tempo desumweltministeriums zeigen. Im Gegen- rung von Tempo 130 bestätigt. »Ein
100 sogar 5,4 Millionen Tonnen. »Ein satz zu Umweltministerin Svenja Schulze solches Tempolimit ist vernünftig, auch
Tempolimit auf Autobahnen ist weit- (SPD) lehnt Scheuer ein Tempolimit für den Klimaschutz«, sagt Schulze. »Es
gehend kostenlos und wirkt kurzfristig«, ab. Seine Partei, die CSU, führt eine Kam- ist in der Gesellschaft mehrheitsfähig.«
sagt der Präsident des Umweltbundesamts pagne gegen ein Limit auf Autobahnen Die Einsparung von 1,9 Millionen Ton-
(UBA), Dirk Messner. »Ohne die Einfüh- (»Tempo 130 – Nein Danke!«). Allerdings nen Kohlendioxid durch Tempo 130
rung eines Tempolimits befürchten wir, muss Scheuer noch alternative Maß- entspräche 1,2 Prozent aller Emissionen
dass der Verkehrssektor seine Emissions- nahmen zur CO -Reduktion vorlegen. des Straßenverkehrs im Jahr 2018. GT
²

20 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Restitution sozialismus »erheblich Vor- Markus Feldenkirchen Der gesunde Menschenverstand
schub« geleistet haben sollen,

Kreatives Täterraten
Vorteil was diese bestreiten. Die
Hohenzollern Aussichten der Hohenzollern
sind mäßig; das Bundesver-
 Georg Friedrich Prinz von waltungsgericht hat 2017 eine Der Reporter vor Ort erfüllt eine wichtige Aufgabe
Preußen, Chef der Hohenzol- Entschädigung in einem min- im Journalismus: Er berichtet, was er mit eigenen
lern, hat im Rechtsstreit mit derschweren Fall abgelehnt. Augen gesehen hat. Wenn er aber nichts sieht,
der öffentlichen Hand Zeit Allerdings sind die 1,2 Millio- wird er zur tragischen Figur, man könnte auch
gewonnen. Das Verwaltungs- nen Thema in den Vergleichs- sagen, zum Hanswurst. Besonders undankbar ist
gericht Potsdam hat seinem verhandlungen zwischen der Einsatz nach einem Attentat, wenn der Repor-
Antrag auf Fristverlängerung den Hohenzollern und Berlin, ter in irgendwelche Livesendungen geschaltet wird, die
für eine Stellungnahme bis Brandenburg sowie dem Nähe und Information suggerieren und doch meist nur hilflos
Mitte August stattgegeben. Es Bund über einige Tausend dahingestammelte Spekulationen liefern.
geht um Immobilien, die von Kunstwerke, die einst den Wie das konkret aussieht, konnte man am Montag zum Bei-
den Sowjets nach 1945 enteig- Hohenzollern gehörten. Gut spiel auf n-tv beobachten. Gerade war im hessischen Volkmar-
net wurden. Dafür stehen den möglich, dass Prinz von Preu- sen ein Auto in den Karnevalsumzug gefahren und hatte viele
Hohenzollern 1,2 Millionen ßen auf diesem Wege die Ent- Menschen verletzt. Mehr wusste man zum Zeitpunkt der
Euro zu. Brandenburg verwei- schädigungssumme einstreicht Schalte nicht. Trotzdem ging es gleich live nach Volkmarsen,
gert die Zahlung, weil die und das Verfahren vor August konkret: zur Alex. Am Ende blickte sie brav in die Kamera,
Hohenzollern dem National- ohne Urteil beendet wird. KLW während der Moderator im Studio ihr erzählte, was hinter ihr
los war. »Wir sehen hinter Ihnen auch Menschen, noch im Kos-
tüm, die natürlich bei der freiwilligen Feuerwehr vermutlich
engagiert sind und sich dort einbringen. Eh, ja. Wir sehen dort
Bundeskanzler Deutschen seien in der ersten auch einen Bauzaun, der jetzt aufgebaut wird, um eben dort
Volksschelte Hälfte des 20. Jahrhunderts die Rettungsmaßnahmen in keiner Form irgendwie zu stören.
Hochstapler gewesen. Nun Ja, ehm, Alex, ehm, vielen Dank erst mal für den Moment.«
 Kanzler Helmut Kohl (1930 müssten sie dagegen, so Kohl, Die Alex konnte nur nicken, weil sie die kostümierten Feuer-
bis 2017) war nicht zufrieden »Tiefstapler« sein. Auch miss- wehrleute am Bauzaun nicht sah. Der Nachrichtenwert der
mit seinem Volk. Das zeigt fiel ihm die Neigung, »geliebt Schalte war überschaubar. Aber immer-
der Vermerk eines Gesprächs werden« zu wollen. Das sei hin, man war live! Und immerhin rich-
mit einem US-amerikani- nicht möglich, wenn man
Nach Atten- tete die Alex keinen Schaden an.
schen Besucher im März wirtschaftlich so erfolgreich taten lauern Nach Attentaten bittet die Polizei
1989, den das Institut für Zeit- sei. Die Deutschen sollten Tausende regelmäßig darum, keine ungesicherten
geschichte in einer Dokumen- sich damit zufriedengeben,
tensammlung (De Gruyter dass »sie den Respekt der
AfD-Anhänger Meldungen zu verbreiten. Was sie mit
dieser Bitte verhindern möchte, illus-
Oldenbourg) jetzt veröffent- anderen« hätten. Unter Kanz- an ihren trierte »Bild Live« in der Attentatsnacht
licht. Danach klagte der lern hat Deutschenschelte Twitter- von Hanau geradezu vorbildlich. Dort
christdemokratische Regie- Tradition. Adenauer schimpf- spekulierten gleich zwei Reporter vor
rungschef, die Deutschen te einst, die Deutschen seien
Schleudern. Ort um die Wette, wie ein Zusammen-
müssten »Bescheidenheit ler- »entsetzlich dumm«; Helmut schnitt des Portals »Übermedien« doku-
nen«. Diese Tugend sei ihnen Schmidt (SPD) attestierte mentiert. »Ich habe aus relativ gut unterrichteten Quellen in
»nicht angeboren«. Sein Vor- ihnen die »Neigung zu Aufge- Hanau hier erfahren – aber ich muss dazusagen: es sind nur
gänger Konrad Adenauer regtheit, Gefühlsüberschwang Spekulationen – dass es sich bei dem Täterumfeld um Russen
(CDU) habe ihm gesagt, die und Überheblichkeit«. KLW handeln könnte«, erzählte der eine Reporter. »Es kann ja auch
sein, dass die Betreiber der Bars schlicht und ergreifend kein
Schutzgeld bezahlen wollten«, spekulierte der andere. »Was
glauben oder fühlen die Menschen vor Ort?«, hakte der Mode-
Nachgezählt
Behinderungen durch Drohnen rator später nach. »Glauben oder wissen kann man ja zu dieser
im deutschen Flugverkehr Stunde wohl kaum sagen. Aber was hörst du?«
»Es gab hier die Angst, dass es sich um einen rechtsextremen
Anschlag handeln könnte«, erklärte der erste Reporter. »Aber
die meisten Spekulationen, die ich bisher wahrnehmen konnte,
gehen eher in die Richtung, dass es sich um eine Milieutat han-
2015 meldeten die Piloten 2019 waren es deln könnte.« Wer sich am kreativen Täterraten beteiligt, sollte

14 125
wissen, dass Tausende AfD-Anhänger an ihren Twitter-Schleu-
dern lauern, in der Hoffnung, was Neues gegen Migranten
raushauen zu können.
Behinderungen Meldungen, Ich weiß nicht, welchen Stuss ich mir zusammengestammelt
durch Drohnen.
hätte, wenn ich nach einem Attentat in Hanau stünde und
gefragt würde, was die Menschen vor Ort denn so fühlen und
davon 110 im was den Täter getrieben haben könnte. Ich kann nur hoffen,
Großraum von
Flughäfen.
dass mich niemals jemand in eine solche Lage bringt.

Quelle: Deutsche Flugsicherung An dieser Stelle schreiben Markus Feldenkirchen und Alexander
Neubacher im Wechsel.

21
BKA schuldigte habe ein Bild von Adolf Hitler
Rechte Ausfälle gepostet, der mit den Händen ein Herz
formt, so die BKA-Sprecherin. Gegen
 Das Bundeskriminalamt (BKA) hat ihn habe man ein Entlassungsverfahren
drei Kommissaranwärter wegen rechts- eingeleitet. Die beiden anderen hätten
extremer Entgleisungen suspendiert. sich reumütig gezeigt. Deren »Fehlver-
Hintergrund ist ein WhatsApp-Chat. halten« werde das BKA nur disziplina-
Darin hätten die Anwärter im Oktober risch ahnden. Bereits im Sommer vori-
2019 über Kostüme für Halloween disku- gen Jahres gab es einen vergleichbaren
tiert, so eine Sprecherin des BKA. Einer Vorfall. Damals waren zwei Kommissar-
aus dem Trio habe vorgeschlagen, sich anwärter gemaßregelt worden. Sie hat-
als Attentäter von Halle zu verkleiden. ten sich bei einer Übung am Computer

MICHAEL TEWELDE / AFP


Dort hatte ein Rechtsextremer eine Sy- die Namen »Holocaust=fake« und
nagoge angegriffen und zwei Menschen »H1tler« gegeben. Einer der beiden sei
erschossen. Zur Idee, Wehrmachtsuni- inzwischen entlassen worden, so die Faki Mahamat, von der
formen zu tragen, soll ein Anwärter Sprecherin. »Das Bundeskriminalamt Leyen in Addis Abeba
gemeint haben: »Nur wenn wir original wird weiterhin konsequent gegen derar-
Armbinden benutzen.« Der Hauptbe- tiges Fehlverhalten vorgehen.« JDL, SMS
EU-Außenpolitik
Neustart mit Afrika
Pkw-Maut Düsseldorfer Anwaltskanzlei mit Exper-  Die EU will ihre Zusammenarbeit mit
Teures Nachspiel tise zu vergaberechtlichen Fragen beauf-
tragt. Zusätzlich beschäftigt das Ministe-
Afrika deutlich ausbauen, etwa in der
Umweltpolitik oder bei der Migration.
 Das Bundesverkehrsministerium bezif- rium als externe Sachverständige die Ber- Zur Digitalisierung heißt es im 16-sei-
fert die Kosten für die gescheiterte Pkw- liner Anwaltskanzlei Greenberg Traurig tigen Entwurf für eine neue Afrikastra-
Maut auf bislang mehr als 72 Millionen weiter, die den Vertrag mit den Mautbe- tegie, den die EU-Kommission kom-
Euro. Das geht aus einer Aufstellung treibern ausgehandelt hatte. Der Europäi- mende Woche vorstellen will: »Es wird
des Ministeriums von Andreas Scheuer sche Gerichtshof hatte im Juni die Pkw- geschätzt, dass eine zehnprozentige
(CSU) auf eine Anfrage der Grünen her- Maut als europarechtswidrig verboten. Steigerung der digitalen Abdeckung zu
vor. Größter Kostenpunkt sind externe Daraufhin hatte Scheuers Ministerium einer Steigerung von rund einem Pro-
Berater, diese schlagen mit fast 49 Millio- den Vertrag mit dem Konsortium ge- zent des afrikanischen Bruttoinlands-
nen Euro zu Buche. Darin nicht einge- kündigt. »Es ist einfach unglaublich, wie produkts führen würde.« Die EU will
schlossen sind Kosten für das anlaufende für ein leeres CSU-Wahlversprechen laut Entwurf von 2021 bis 2027 60 Mil-
Schiedsverfahren, bei dem es um die Steuergeld verpulvert wurde«, sagt liarden Euro an Garantien für nachhal-
Schadensersatzansprüche der Mautbetrei- Verkehrsexperte Stephan Kühn von den tige Investitionen vor allem in Afrika be-
berfirmen Eventim und Kapsch geht. Sie Grünen, der seine Partei im Parlamen- reitstellen. Die Migration nach Europa
fordern 560 Millionen Euro vom Bund. tarischen Untersuchungsausschuss zur werde weiterhin bedeutsam sein, heißt
Das Verkehrsministerium hat dazu eine Maut vertritt. GT, SVE es im Papier. Ziel sei, »eine gut organi-
sierte, reguläre und sichere Migration«
zu ermöglichen und dabei das Schmugg-
lerwesen »zu bekämpfen«. Die EU ver-
Chappattes Welt spricht zudem, »Menschen, die interna-
tionalen Schutz benötigen, in Europa
anzusiedeln«. Die Afrikanische Union
(AU) und die EU sollten gemeinsam für
Multilateralismus eintreten; vereint sei-
en sie der größte Stimmenblock in der
Uno. Am Donnerstag traf sich EU-Kom-
missionschefin Ursula von der Leyen im
äthiopischen Addis Abeba mit dem Vor-
sitzenden der AU-Kommission, Moussa
Faki Mahamat. Während der deutschen
EU-Ratspräsidentschaft im Oktober ist
ein EU-Afrika-Gipfel geplant.
Europaparlamentarier wollen genau
hinsehen, ob der neuen Strategie auch
Taten folgen. Seit Jahren verspreche die
EU Afrikapartnerschaft auf Augenhöhe,
sagt der grüne Entwicklungspolitiker
Erik Marquardt, »doch am Ende setzen
sich vor allem die europäischen Inte-
ressen durch«. Grünenaußenpolitikerin
Hannah Neumann fordert, die Men-
schenrechtslage in Afrika nicht aus den
Augen zu verlieren. MP

22
Suizidhilfe aber dazu, solche Anträge
Spahn blockiert pauschal abzulehnen, mit
dem Argument, die Erlaubnis
 Rechtsexperten fordern würde den Werten widerspre-
Bundesgesundheitsminister chen, auf denen Paragraf 217
Jens Spahn (CDU) auf, nach des Strafgesetzbuchs beruhe.
dem Urteil des Bundesver- Diesen Paragrafen – das Ver-
fassungsgerichts zur Suizid- bot der geschäftsmäßigen För-
assistenz das tödliche Mittel derung der Selbsttötung – hat
Natrium-Pentobarbital für das Bundesverfassungsgericht
sterbewillige Schwerstkranke nun gekippt. Dass Spahn jetzt

TIM WEGNER / DER SPIEGEL


freizugeben. »Nach diesem argumentiert, Karlsruhe habe
Urteil gibt es keinen Grund zugleich erklärt, dass es kei-
mehr, dieses für einen sanften nen »Anspruch« auf Hilfe zur
Suizid am besten geeignete Selbsttötung gebe, nennt
Mittel zu verweigern«, sagt Schellenberg »irreführend«.
der Münchner Medizinrecht- Darum gehe es gar nicht, son-
ler Wolfgang Putz, der einen dern um einen Anspruch auf
Arzt in Karlsruhe vertreten das bestwirksame Medika- Der Augenzeuge
hatte. Auch Ulrich Schellen- ment. Den habe das Leipziger
berg, ehemals Präsident des
Deutschen Anwaltvereins, for-
dert Spahn auf, »seine Blo-
Gericht bereits bestätigt.
Auch dass dazu in Karlsruhe
ein weiteres Verfahren anhän-
»Völlig alleingelassen«
ckadehaltung zu beenden«. gig ist, sei, anders als Spahn Ab diesem Wochenende gilt bundesweit die umstrittene
Schon 2017 hatte das Bundes- nahelegt, kein Grund zu war- Impfpflicht für Schülerinnen und Schüler: Sie müssen
verwaltungsgericht in Leipzig ten. Darin würde das Leip- den Schutz vor Masern nachweisen. Aber wie? Stefan
verlangt, dass unheilbare ziger Urteil gar nicht angegrif-
Wesselmann, Landesvorsitzender des Verbands
Kranke mit gravierenden Lei- fen, so die Experten. Er rech-
den nach einer Prüfung ihres ne damit, sagt Putz, dass die Bildung und Erziehung in Hessen und Leiter einer
Falls das Medikament bekom- Verfassungsrichter die Ab- Grundschule, ist fassungslos.
men dürften. Spahn drängte gabe des Mittels sogar noch
das zuständige Bundesinstitut erleichterten. HIP  »Am Sonntag tritt die Impfpflicht für alle neu angemeldeten
Schülerinnen und Schüler in Kraft. Wir werden allein bei
uns in Rödermark, einer der größten Grundschulen in Hessen,
in den nächsten Wochen rund 150 Anmeldungen haben.
Koalition Wehrbeauftragten nicht wie- In jedem einzelnen Fall müssen wir dann kontrollieren, ob der
der aufstellen will.« Bartels Impfschutz für Masern vollständig ist. Ich weiß zwar, wie der
Tauziehen um den mache seine Arbeit gut. »Die gelbe Impfausweis aussieht, aber uns Schulleitern hat niemand
Wehrbeauftragten Diskussion wäre beendet, gesagt, worauf wir in diesem Ausweis achten müssen. Uns
wenn die SPD Herrn Bartels hat überhaupt so gut wie keine Information erreicht. Ich habe
 In der Großen Koalition nominieren würde.« Die lediglich eine allgemeine Powerpoint-Präsentation des Kreises
gibt es Streit um den Wehr- Unionsfraktion könne jeder- bekommen, deren ursprüngliche Herkunft ich nicht kenne.
beauftragten. Grund dafür ist zeit aus ihren Reihen jeman- Immerhin taucht das Hessen-Logo darin auf – aber ein Erlass
das Zögern der Sozialdemo- den vorschlagen, so Wade- oder eine Anordnung ist das natürlich nicht.
kraten, den bisherigen Amts- phul. Das Vorschlagsrecht So ziemlich alle wichtigen Fragen bleiben offen: Wie klären
inhaber Hans-Peter Bartels wurde während der Koaliti- wir rechtssicher, ob ein Kind den Impfschutz hat? Wie viel Zeit
(SPD) erneut zu nominieren. onsverhandlungen der SPD geben wir zur Nachimpfung? Wie läuft das genaue Verfahren,
Für den Posten interessiert zugesprochen. Schriftlich wur- wenn kein Impfschutz vorliegt? Die Schulpflicht geht auf
sich der einflussreiche SPD- de dazu offenbar nichts fest- jeden Fall vor, aber was ist mit Nachmittagsangeboten unseres
Haushaltspolitiker Johannes gehalten, die handelnden Per- Betreuungsvereins? Darf ich Daten von nicht geimpften Kin-
Kahrs. Die Personalie werde sonen aufseiten der SPD sind dern dahin weitergeben? Oder müssen die Eltern den Impf-
wohl in einer der nächsten Sit- nicht mehr im Amt. Mögli- schutz noch einmal nachweisen? Außerdem muss ich als Schul-
zungswochen »aufgerufen«, cherweise wird sich daher der leiter ja auch noch kontrollieren, dass Erwachsene, die
heißt es in der SPD-Fraktion. Koalitionsausschuss im März regelmäßig in die Schule kommen, geimpft sind. Neben den
In der Unionsfraktion dage- mit dem Streit befassen. LYR 40 Beschäftigten betrifft das Inklusionsassistenten, ehren-
gen will man Bartels behalten amtlich arbeitende Eltern und viele andere.
und spricht dem Koalitions- Man muss es leider so sagen: Mit dem neuen Gesetz
partner das Recht ab, einen bekommen wir ab Sonntag enorme Zuständigkeiten, werden
neuen Kandidaten zu nomi- damit aber nicht zum ersten Mal völlig alleingelassen. Es
GREGOR FISCHER / PICTURE

nieren. »Das Vorschlagsrecht gibt kaum Informationen und keine Ressourcen für die neuen
ist mittlerweile strittig«, sagt Aufgaben. Für mich bleibt der Eindruck, dass da Arbeit
der CDU-Abgeordnete von oben nach unten verteilt wird: Ausbaden müssen es die
Johann Wadephul. »Ich finde hoch belasteten Schulleitungen. Wieder einmal zeigt sich,
es bemerkenswert, dass die dass die Politik überhaupt nicht weiß, welche Auswirkungen
SPD einen im Amt befindli- ihre Entscheidungen auf Schule hat.«
chen und hoch anerkannten Bartels Aufgezeichnet von Armin Himmelrath

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 23


So gesehen Diensthandys leitung »sichergestellt«, dass diese regis-
Löschen erlaubt triert würden. Allerdings wurde jüngst
Brennpunkt  Bundesminister können selbst entschei-
im Zuge der Berateraffäre im Verteidi-
gungsministerium bekannt, dass bei den
Apolda den, ob sie SMS-Nachrichten auf ihren
Diensthandys löschen oder zu den Akten
Diensthandys von Ex-Ministerin Ursula
von der Leyen (CDU) die Daten gelöscht
Merz preist Ostdeutschen geben. Das geht aus der Antwort der worden waren. Sie waren dadurch für
Kreuzberg als Beispiel an. Regierung auf eine Kleine Anfrage der den Untersuchungsausschuss im Bundes-
FDP-Fraktion hervor. Demnach »findet tag verloren. »Die Geschäftsordnung der
 Im Kampf um den CDU-Vorsitz droht eine Speicherung von SMS und Telefon- Bundesministerien und die Registratur-
Friedrich Merz mit schonungsloser kontakten außerhalb der Geräte mit richtlinie sind noch für das analoge Zeit-
Kritik die als sicher geltende Unterstüt- Blick auf den Daten- und Persönlichkeits- alter gemacht«, sagt der FDP-Innenexper-
zung ostdeutscher Parteiverbände zu schutz nicht statt«. Die Regierung beruft te Konstantin Kuhle. Seine Fraktion wird
verspielen. Mit den Worten »Das hier sich auf eine Richtlinie, wonach Minister einen Antrag stellen, dass in den Minis-
ist nicht Berlin-Kreuzberg« hielt der ihre Handys »auch privat« nutzen könn- terien eine »weisungsunabhängige Stelle«
Reformkandidat am Aschermittwoch ten. Falls »aktenrelevante digitale Infor- über die Archivierung von Daten
den Besuchern einer Veranstaltung in mationen« anfielen, würde von der Haus- entscheidet und nicht die Minister. SVE
dem thüringischen Städtchen Apolda
ihre eigene Rückständigkeit vor.
So harsch sie auch klingen mag – tat-
sächlich belegen zahlreiche Fakten die Windkraft
merzsche These: Apolda zählt etwa
22 000 Einwohner mit rückläufiger Ten- »Stromtransport verbraucht Strom«
denz, Kreuzberg hat heute siebenmal
so viele Bewohner und wächst. Aus THOMAS DASHUBER / AGENTUR FOCUS
Der österreichische zonen in Deutschland illegal wären.
Apolda stammt zwar die innovative Ökonom Gabriel Auch die EU lässt regionale Strommärkte
Hunderasse Dobermann, in Kreuzberg Felbermayr, 43, zu. Die skandinavischen Flächenländer
jedoch baute Kon- Präsident des haben mehrere Stromzonen, teilweise
»Kinder rad Zuse den ersten Instituts für Welt- sogar länderübergreifend.
und Hunde, funktionstüchtigen
Computer der Welt.
wirtschaft in Kiel,
über eine Regio-
SPIEGEL: Was läuft bei uns falsch?
Felbermayr: Die Verhältnisse auf dem
alles lärmt Kreuzberg gilt als nalisierung des deutschen Strommarkt verzerren die Rea-
durch- weltoffener kultu- Energiemarkts lität gleich doppelt. Einerseits ärgern sich
einander.« reller Schmelztiegel,
Apolda seit je als so- SPIEGEL: Herr Felbermayr, Schleswig-
die Menschen im Norden, dass die neuen
Hochspannungsleitungen, die ihren
zialer Brennpunkt: Holstein droht mit dem Ausstieg aus Windstrom abtransportieren, ihre Strom-
»Hier ist ein bös Nest und lärmig, und dem gemeinsamen deutschen Strom- rechnung verteuern. Denn die Netzent-
ich bin aus aller Stimmung. Kinder und markt, um Windenergie im Norden gelte werden regional umgelegt und sind
Hunde, alles lärmt durcheinander …«, direkt zu vermarkten. Sind Sie geistiger ein hoher Bestandteil am Gesamtpreis.
berichtete Johann Wolfgang von Goe- Pate dieser Idee? Die Menschen im Süden wiederum
the bereits 1779 unwillig aus Apolda, Felbermayr: Ich befürworte das, aber das haben keinen Anreiz, ihre Leitungen für
und feierwütige Studenten besangen liegt schon lange in der Luft. Würde der den Windstrom aus dem Norden aus-
den Ort wegen der dortigen Verfüg- Strom regional gehandelt und vertrieben, zubauen, da dies ihre Stromrechnung ver-
barkeit gesundheitsschädlicher Rauch- wäre er in Schleswig-Holstein nämlich teuern würde. Durch diese Verbilligung
waren: »Knaster, den gelben, hat uns billig und in Bayern, wo er knapp ist, teu- entstehen im Speckgürtel von München
Apolda präpariert!« er. Doch statt dass der Strom vor Ort etwa neue Parks für stromfressende Ser-
Mit den Worten »Das ist mitten in nutzbar gemacht wird, regeln wir Wind- ver – statt bei Hamburg.
Deutschland!« empörte sich Merz vor kraftanlagen im Norden ab und werfen SPIEGEL: Würde die Industrie auf
vollem Haus über die Zustände. Ein damit Strom weg. einem regionalisierten Strommarkt also
mutiges, wenngleich riskantes Signal SPIEGEL: Von 2015 bis 2019 haben Strom- nach Norden, zu den Stromproduzenten,
des Mannes, der seiner Partei und dem zahler rund 1,3 Milliarden Euro für soge- umziehen?
ganzen Land »Aufbruch und Erneue- nannten Geisterstrom bezahlt: für Strom, Felbermayr: Wenn wir überall gut aus-
rung« verspricht. Hoffentlich wird er den Windkraftbetreiber nicht einspeisen gebaute Leitungen hätten, würden
nicht missverstanden. Stefan Kuzmany durften, weil die Netze überlastet waren. verschiedene Märkte nicht zwingend ver-
Felbermayr: Um diesen »Wegwerfstrom« schieden hohe Strompreise bedeuten.
zu nutzen, muss er regional handelbar Denn dorthin, wo Strom knapp und
werden – und damit günstiger. Man müss- damit teuer wäre, würde dann Strom aus
te eine eigene Strombörse Nord schaffen. einem benachbarten Strommarkt fließen,
Das würde allerdings am Widerstand wo er gerade billig ist. Allerdings ist es
der Südländer, von Hessen bis Bayern, eine physikalische Tatsache, dass beim
scheitern. Transport von Strom immer Strom ver-
SPIEGEL: Deren Juristen können sich braucht wird. Deshalb ist es sehr oft
dabei auf die Verfassung berufen. volkswirtschaftlich sinnvoll, Strom dort
Felbermayr: Das Grundgesetz garantiert zur Produktion von energieintensiven
gleichwertige Lebensverhältnisse, ja. Gütern und Dienstleistungen einzuset-
Dort steht freilich nicht, dass Strompreis- zen, wo er reichlich vorhanden ist. AB

24 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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Denn das Schaltjahr schenkt uns allen einen zusätzlichen Tag. Und wir von McDonald’s verschenken an diesem 29. Februar
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© 2020 McDonald’s
Deutschland

NIKITA TERYOSHIN / DER SPIEGEL


Kulisse des Parteitags in Leipzig 2019: Schwerste Krise seit der Spendenaffäre

Die Reifeprüfung
CDU Friedrich Merz und Armin Laschet kämpfen um den Parteivorsitz und damit perspektivisch
um die Kanzlerschaft – der eine ist konservativ, der andere sieht sich
pragmatisch in der Mitte. Der Sieger könnte die Zukunft des Landes bestimmen.

E
s fängt an mit der Haltung. Damit, Armin Laschet hat in sein Büro in der Es deutet deshalb viel darauf hin, dass
wie sie dasitzen, wie sie ihren Düsseldorfer Staatskanzlei gebeten, er ist sich Ende April in Berlin alles zwischen
Körper positionieren, welche Wir- hier der Ministerpräsident. Er sitzt in ei- Friedrich Merz, 64, und Armin Laschet,
kung sie so erzielen. Wahrschein- nem leichten Sessel, der zu einer Sitzgrup- 59, entscheiden wird. Wer dort gewinnt,
lich sagt die Haltung schon etwas darü- pe gehört. Während des Gesprächs rutscht wird mit hoher Wahrscheinlichkeit Kanz-
ber aus, wie dieser Wahlkampf verlaufen er mal nach vorn auf die Kante, dann lehnt lerkandidat der Union, also von CDU und
wird. er sich zurück, dreht sich diesem Ge- CSU. Und dann womöglich Kanzler.
Friedrich Merz hat für das Interview ins sprächspartner zu, dann dem anderen, je Der SPIEGEL hat mit beiden, Merz und
Haus des CDU-Wirtschaftsrats in Berlin- nachdem, wer ihn angesprochen hat. Es Laschet, ein Gespräch geführt, jeweils ein-
Mitte gebeten, er ist hier Vizepräsident. ist die Haltung eines Mannes, der gut darin zeln, für die direkte Konfrontation war es
Er sitzt in einem Besprechungsraum an ei- ist, Menschen für sich einzunehmen. noch zu früh. Die Fragen an beide sind
nem massiven Holztisch. Während des Ge- Merz gegen Laschet, das ist die Lage, trotzdem ähnlich, stellenweise sind es die-
sprächs lässt er sich allmählich tiefer in sei- das wird die Auseinandersetzung. Ja, es selben. Es sind die Fragen, die sich aus der
nen Stuhl sinken, dann verschränkt er die gibt noch Norbert Röttgen, auch er kandi- Zeit ergeben: nach Gerechtigkeit, Öko-
Hände hinter dem Kopf und lässt sie dort, diert für den CDU-Vorsitz, er kann reden, logie, dem Verhältnis zu Angela Merkel.
minutenlang, die Ärmel des Sakkos rut- versteht viel von Außenpolitik, sieht gut Es geht darum, wie die beiden dem gras-
schen fast bis zu den Ellbogen hoch. Es ist aus. Am Ende aber entscheidet ein Partei- sierenden Rassismus begegnen, wie sie
die Haltung eines Mannes, der sich über- tag, und dort geht es um den Rückhalt in dieses Land in die Zukunft führen wollen.
legen fühlt. Der sich seiner Sache sicher der Partei, unter den Delegierten. Da sieht Und darum, wie sie auf den jeweils ande-
ist, sehr sicher. es für Röttgen bislang nicht so gut aus. ren blicken.

26 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Es ist kein normales politisches Umfeld, Spitzenpersonal gen, die diese Zeit prägen, anderswo ge-
in dem sich dieser Wettstreit abspielt. Die Gewählte Parteivorsitzende von CDU und SPD* macht werden, dass nicht einmal ein Pfei-
Zeiten sind besondere, das gilt für die Si- ler wie die Automobilindustrie in Zeiten
tuation der CDU, für die Lage des Landes, CDU: 8 SPD: 17 der Klimakrise noch sicher steht. Während
für die Welt. Freitag für Freitag Schülerinnen und Schü-
Die Partei erlebt die schwerste Krise seit seit 2019 ler auf die Straße gehen und das Klima
seit 2018 Saskia Esken
ihrer Spendenaffäre vor zwei Jahrzehnten. Annegret retten wollen, machen sich Facharbeiter
Schon lange, spätestens seit dem Höhe- und Norbert in Baden-Württemberg Sorgen, was aus
Kramp-Karrenbauer Walter-Borjans
punkt der Flüchtlingskrise 2015, haben in ihnen wird, wenn niemand mehr Verbren-
der Union ungelöste Konflikte geschwelt. 2018 bis 19 nungsmotoren kauft.
Die Ereignisse der vergangenen Wochen, Andrea Nahles Es gibt zudem eine Spaltung zwischen
vor allem der Tabubruch von Thüringen, 2017 bis 18 Stadt und Land, zwischen Jung und Alt,
wo die CDU mit den Stimmen der AfD Martin Schulz zwischen denen, die ein offenes, tolerantes
einen FDP-Ministerpräsidenten wählte, 2009 bis 17 Land wollen, und denen, die sich von zu
haben diese Konflikte endgültig ausbre- 2000 bis 18 viel Offenheit überfordert fühlen, die sich
Sigmar Gabriel
Angela
chen lassen. Und Parteichefin Annegret 2008 bis 09
wohler fühlen, wenn alles etwas enger ist.
Merkel
Kramp-Karrenbauer, die faktisch bereits Franz Müntefering Mit der AfD sitzt Rassismus jetzt in den
lange vorher gescheitert war, verkündete Parlamenten, Hemmschwellen sinken.
2006 bis 08
ihren Rückzug. Es könnte die Zeit für eine Volkspartei
Kurt Beck
Es war das Scheitern eines gewagten sein, der es gelingt, wieder so etwas wie
Modells: Angela Merkel war 2018 bereit, 2005 bis 06 einen gemeinsamen Nenner für diese Ge-
den Parteivorsitz abzugeben, wollte aber Matthias Platzeck sellschaft zu formulieren. Die SPD ist der-
1998 bis 2000
Kanzlerin bleiben und nahm in Kauf, dass 2004 bis 05 zeit dazu nicht in der Lage, weshalb die
Wolfgang Schäuble
Kramp-Karrenbauer damit immer das ent- Franz Müntefering Frage umso drängender ist, ob die CDU
scheidende Stück Autorität fehlen würde: 1999 bis 2004 es noch einmal vermag, trotz aller Verein-
jene Autorität, die nur die Exekutive ver- Gerhard Schröder zelung und Zerfaserung der Gesellschaft.
leihen kann. In einer Partei wie der CDU, Falls ja, könnte sie zu alter Stärke zurück-
1995 bis 99
die sich stets an der Macht orientiert, wog Oskar Lafontaine finden. Scheitert sie daran, hat auch sie
das besonders schwer. ihr Existenzrecht als Volkspartei verspielt.
Auch der nächste Parteichef wird bis 1993 bis 95 Das sind die Herausforderungen, denen
zur Bundestagswahl, also womöglich noch Rudolf Scharping sich die Konkurrenten stellen müssen.
anderthalb Jahre lang, mit diesem Dualis- 1991 bis 93 Kann Friedrich Merz, der stets in Gegen-
mus zurechtkommen müssen – was beson- Björn Engholm sätzen denkt, in Kategorien des Wettbe-
ders im Fall Merz, den mit Merkel eine 1973 bis 98 1987 bis 91 werbs, solch einen gesellschaftlichen Kon-
regelrecht obsessive Rivalität verbindet, Helmut Hans-Jochen Vogel sens formulieren? Vermag es Armin La-
nur schwer vorstellbar ist. Die Kanzlerin, Kohl schet, der zwar ein großes Bundesland
die sich aus diesem innerparteilichen Wahl- regiert, aber eben nur ein Bundesland?
kampf heraushalten will, wird dadurch Die wichtigen Fragen auf seiner bisherigen
jederzeit präsent sein. Sie schwebt über Ebene drehen sich darum, wie viele Lehrer
allem. und Polizisten man einstellt.
Das gilt auch für die programmatische 1964 bis 87 Angela Merkel musste sich mit der glo-
Diskussion. Merkel hat die Partei nach Willy Brandt balen Finanzkrise auseinandersetzen, mit
links gerückt, viele sagen: unkenntlich, be- der europäischen Schuldenkrise, der
liebig gemacht, entkernt. Die CDU war Flüchtlingskrise. Ihr Nachfolger im Kanz-
nie eine Partei, die sich in erster Linie über 1971 bis 73 leramt wird es gewiss nicht leichter haben,
ihr Programm definiert, doch am Ende der Rainer Barzel eher im Gegenteil.
Ära Merkel ist kaum noch etwas so, wie 1967 bis 71 Die liberale Demokratie ist seit einiger
es mal war. Kurt Georg Kiesinger Zeit in Bedrängnis, weltweit, und nun
Wer will die CDU sein? Mit welcher steht auch noch die Frage im Raum, ob sie
Ausrichtung kann sie als Volkspartei über- 1966 bis 67 mit ihren mühsamen, kleinteiligen Prozes-
leben? Das sind die Fragen, die diesen Ludwig Erhard sen in der Lage ist, der Klimakrise zu be-
Wahlkampf prägen werden. Merz will, gegnen. Da wirkt es erst mal ziemlich
auch wenn er das bestreitet, ein Stück zu- klein, wenn die CDU sich nun bis Ende
rück nach rechts. Laschet will jene Mitte April Zeit für die Frage nimmt, wer sie
verteidigen, die Merkel erobert hat. künftig anführen soll. Aber eigentlich ist
All dies spielt sich in einem Land ab, 1952 bis 63 das gar nicht so viel Zeit angesichts der
das seine Gewissheiten verloren hat. Viele Erich Ollenhauer Dimension der Aufgaben. Die Partei sollte
Jahrzehnte lang haben die Deutschen mit 1946 bis 66 diese Zeit allerdings auch wirklich für
dem Gestus der Überlegenheit auf ihre eu- Konrad Adenauer Klärungen nutzen, echte Klärungen.
ropäischen Nachbarländer und erst recht Merz, Laschet und Röttgen wollen sich
auf andere Weltgegenden geschaut. Mitt- Anfang der Woche zusammensetzen, um
lerweile machen sie im Ausland die Erfah- »das weitere Verfahren zu besprechen«,
rung, dass dort vieles besser funktioniert, wie es heißt. Es geht um die Spielregeln
Netzabdeckung, Verkehr, elektronische 1946 bis 52 für einen Wettstreit, dessen Ausgang das
Verwaltung. Kurt Schumacher Land auf Jahre prägen könnte.
Die Bürger spüren, dass ihr Land den Christoph Hickmann, Veit Medick
Anschluss verlieren könnte, dass Erfindun- *ohne kommissarischen Vorsitz

27
Deutschland

»Wie viel wollen wir denn


noch verlieren?«
SPIEGEL-Gespräch Friedrich Merz, 64, über seinen Plan für Deutschland, die Gefahr des
Rechtsextremismus, seine Fehde mit Angela Merkel und seine Schwächen

SPIEGEL: Herr Merz, Sie wollen CDU- können wir viele für uns gewinnen. Und müssen sie auch zwingend sein. Der Kon-
Vorsitzender und Kanzlerkandidat wer- die AfD ist bei vielen Wählerinnen und trollverlust an unseren Grenzen von 2015
den, also Angela Merkel beerben. Wie ist Wählern das Ventil für die Unzufrieden- und 2016 darf sich einfach nicht wieder-
Ihr Verhältnis zur Kanzlerin? heit mit uns, mit der Union. Das darf so holen – zu diesem Ergebnis ist ja auch
Merz: Gut. nicht bleiben. Ich bin fest davon überzeugt: die CDU unter dem Vorsitz von Annegret
SPIEGEL: Den Eindruck hatten wir bislang Wenn wir uns wieder klarer positionieren, Kramp-Karrenbauer im vorigen Jahr schon
nicht. Was war denn die größte Leistung wenn wir unsere Kernkompetenzen wie- gekommen.
von Frau Merkel? der besser formulieren, dann bekommen SPIEGEL: Wie wollen Sie dem grassieren-
Merz: 15, vielleicht sogar 16 Jahre lang wir von dort mehr zurück, als wir irgend- den Rassismus entgegentreten?
Kanzlerin dieses Landes zu sein. wo anders hin verlieren. Wie viel wollen Merz: Der offensichtlich zunehmende
SPIEGEL: Also keine inhaltliche Leistung? wir denn noch verlieren? Wir liegen ohne Fremdenhass in unserem Land ist eine He-
Merz: Doch, natürlich. Angela Merkel hat die CSU jetzt noch bei rund 22 Prozent. rausforderung für die ganze Gesellschaft.
mit ihrer Regierung in einer sehr schwieri- SPIEGEL: Also muss die CDU aus Ihrer Gerade in Deutschland müssen wir ganz
gen Lage 2008 und 2009 die Finanzkrise Sicht ein Stück nach rechts rücken? konsequent und wenn notwendig mit allen
bewältigt. Das wird im Rückblick wahr- Merz: Nein. Wir müssen das Fundament Mitteln des Rechtsstaates dagegen vorge-
scheinlich als eine der größten Leistungen der CDU wieder so verbreitern, dass alle hen. Aber juristische Schritte sind das eine,
ihrer Amtszeit bewertet werden. bürgerlichen Wählerinnen und Wähler bei viel wichtiger ist das gesellschaftliche Um-
SPIEGEL: Und ihre größte Fehlleistung? uns zu Hause sind: die sozialpolitisch feld. Da sind wir alle aufgerufen, ein tole-
Merz: Alles andere zu beurteilen sollten Engagierten, die Liberalen und die Wert- rantes und weltoffenes Klima in diesem
wir den Historikern überlassen. konservativen. Das waren immer die drei Land zu bewahren.
SPIEGEL: Nehmen wir an, Sie gewinnen großen und starken Wurzeln der CDU. SPIEGEL: Uns ist aufgefallen, dass Sie bei
die Wahl und werden CDU-Chef. Können SPIEGEL: Was hat diese Wähler in den ver- Ihren Auftritten häufig Rechtsextremismus
Sie verstehen, dass uns die Fantasie fehlt, gangenen Jahren verprellt? Etwa nur die und Linksextremismus quasi gleichsetzen.
wie Sie fast anderthalb Jahre lang mit einer Flüchtlingspolitik von Angela Merkel? Merz: Nein, ganz im Gegenteil. Es gibt
Kanzlerin Merkel auskommen sollen? Merz: Ganz sicher war das eine Ursache, Gemeinsamkeiten, aber es gibt auch erheb-
Merz: Kann ich verstehen, ja. ja. Dazu beigetragen haben aber auch gro- liche Unterschiede zwischen rechtsextre-
SPIEGEL: Wie wollen Sie das lösen? ße Teile der Europapolitik, speziell die mer und linksextremer Gewalt. Ja, wir
Merz: Wir sprechen gegebenenfalls nach Eurorettungspolitik. Das war ja auch die haben ein Problem mit wieder zunehmen-
meiner Wahl darüber, wie wir das machen. Gründungsgeschichte der AfD, bevor sie dem und gewaltbereitem Linksradikalis-
SPIEGEL: Sie sagen, Sie stünden für »Auf- zu großen Teilen rechtsradikal wurde. mus, aber die Sicherheitsbehörden haben
bruch und Erneuerung«. Vor zwei Jahr- Dazu kommt bis heute ein zu häufiges das zurzeit weitgehend im Griff. Aus dem
zehnten waren Sie allerdings schon Frak- Nachgeben gegenüber der SPD. Aber ich rechtsradikalen Spektrum hingegen haben
tionschef im Bundestag. Wo soll da, bitte, schaue nicht zurück. Wir treten jetzt in wir in den letzten Jahren rund 100 Mord-
die Erneuerung sein? eine neue Phase ein. opfer zu beklagen. Und das ist gerade in
Merz: Ich bitte Sie, machen Sie die Fähig- SPIEGEL: Klingt aber tatsächlich ziemlich Deutschland besonders furchtbar. Richard
keit zur Erneuerung am Lebensalter fest? rückwärtsgewandt. Sie wollen die Gren- von Weizsäcker hat als Bundespräsident,
Bernie Sanders ist in den USA zurzeit der zen schließen und die Europapolitik ent- bezogen auf den Nationalsozialismus, ein-
Held der Jugend, und er ist 14 Jahre und merkeln. Verstehen wir das richtig? mal sinngemäß gesagt, die heutige Gene-
einen Herzinfarkt älter ist als ich. Wir kön- Merz: Ich will zurück zur Disziplin im ration hat nicht die Verantwortung für das,
nen auch in Deutschland Leidenschaft und Euroraum, das stimmt. Ich will die immer was war. Aber sie hat die Verantwortung
Engagement in den politischen Diskurs zu- noch weiter steigende Verschuldung in dafür, was daraus wird.
rückbringen. Das ist intellektuell anstren- manchen Mitgliedstaaten nicht einfach hin- SPIEGEL: Sie meinen seine berühmte Rede
gend. Aber es muss sein, wenn wir wieder nehmen. Aber darin erschöpft sich doch von 1985, 40 Jahre nach Kriegsende.
echte Debatten führen wollen. nicht meine Europolitik. Ich will mehr Ge- Merz: Ja. Das war ein großer Satz. Wir
SPIEGEL: Ihr großes Versprechen ist es, die meinsamkeiten in Europa, und das heißt, stehen alle, ob wir wollen oder nicht, im
Wahlergebnisse der AfD zu halbieren. Wie dass wir mehr Souveränität mit anderen historischen Kontext dieses schrecklichen
wollen Sie das eigentlich hinkriegen? teilen. Deutschland überlebt nur in einem Teils unserer Geschichte. Und deswegen
Merz: Die größte Partei in Deutschland starken Europa, einem Europa, das auch finde ich, wir müssten da mehr differenzie-
ist die Partei der Nichtwähler. Von denen seine Außengrenzen besser schützt. Grenz- ren. Ich habe massive und grundsätzliche
kontrollen an den Binnengrenzen sind im- Vorbehalte gegen die Linkspartei, und es
Das Gespräch führten die Redakteure Christoph Hick- mer nur anlassbezogen zulässig, aber gibt viele gute Gründe für die CDU, eine
mann und Veit Medick in Berlin. wenn ein solcher Anlass besteht, dann Zusammenarbeit mit ihr auszuschließen.

28 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Merz: Das sagen vor allem diejenigen, die
mich nicht kennen.
SPIEGEL: Als Sie 2018 schon mal CDU-
Vorsitzender werden wollten, wurde eine
Begebenheit aus dem Jahr 2004 öffentlich.
Damals hatte ein Obdachloser Ihr Note-
book gefunden und es zurückgegeben.
Zum Dank haben Sie ihm Ihr Buch ge-
schenkt: »Nur wer sich ändert, wird beste-
hen. Vom Ende der Wohlstandsillusion –
Kursbestimmung für unsere Zukunft«.
War das etwa großzügig und empathisch?
Merz: Diese Geschichte ist im November
2018 im Feuilleton der »FAZ« veröffentlicht
worden, ohne dass der zuständige Redak-
teur es für nötig befunden hätte, einmal
bei mir nachzufragen, ob sie auch wirklich
stimmt. Und manchmal ist die halbe Wahr-
heit schlimmer als die ganze Unwahrheit.
SPIEGEL: Was stimmt denn?
Merz: Richtig ist, dass ich 2003 oder 2004
ein kleines elektronisches Adressverzeich-
nis am Berliner Ostbahnhof verloren habe.
In den damaligen Handys konnte man ja
kaum Adressen und Telefonnummern spei-
chern. Also hatten wir so kleine, aufklapp-
bare Organizer. Und ich weiß das noch
ganz genau: Ich musste telefonieren, und
dann habe ich das Telefon eingesteckt und
dieses elektronische Notizbuch stehen ge-
lassen, auf einem Treppenabsatz.
SPIEGEL: Und dann?
Merz: Ein oder zwei Tage später habe ich
den Organizer von der Bahnhofspolizei zu-
rückgebracht bekommen, und die hat mir
PETER RIGAUD / DER SPIEGEL

gesagt: Wir wissen, wer das gefunden hat.


Einen Namen wollten die Beamten mir aber
nicht nennen. Sie haben mir nur ausrichten
lassen: Bitte geben Sie dem Finder kein Geld,
sondern schreiben Sie ihm über uns ein paar
freundliche Zeilen, und legen Sie vielleicht
Christdemokrat Merz: »Die Grünen sind mir einfach zu rückwärtsgewandt« noch ein kleines Präsent dazu. Das habe ich
voller Dankbarkeit dann gemacht, und da-
mit war das Thema für mich erledigt. 14 Jah-
Aber der Rechtsradikalismus in Deutsch- beitszeit und Ruhestand noch einmal neu re später wird diese Geschichte ausgegraben
land hat eine ganz andere Qualität und justiert werden. Wir werden auch den Ren- und mit dem Hinweis verbunden, der Finder
eine ganz andere Dimension als jede an- tenversicherungsbeitrag nicht bei 20 Pro- sei ein Obdachloser gewesen. Einem Ob-
dere Form von politischem Radikalismus. zent und das Rentenniveau gleichzeitig bei dachlosen hätte ich ein solches Buch natür-
SPIEGEL: Soziale Gerechtigkeit, können 48 Prozent halten können. Es sei denn, wir lich nicht geschickt, das ist doch völlig klar.
Sie mit dem Begriff etwas anfangen? erhöhen den Bundeszuschuss auf 200 bis SPIEGEL: Trotzdem werden bestimmte
Merz: Zweifeln Sie ernsthaft daran? Soziale 250 Milliarden Euro. Dann ist das aber Eigenschaften immer wieder mit Ihnen
Gerechtigkeit ist ein Kernbestandteil unserer auch keine beitragsbezogene Rente mehr. verbunden: Eitelkeit, Ehrgeiz, Egoismus.
gesellschaftlichen und politischen Ordnung. SPIEGEL: Stünden unter Ihnen auch Pro- Das könnte ja eine Grundlage haben.
Wir haben mit unserem Sozialstaat ja auch jekte wie der Mindestlohn, die längere Merz: Natürlich versuchen meine Gegner,
sehr viel erreicht. Heute ist für mich Gene- Auszahlung des Arbeitslosengelds oder auch in der eigenen Partei, seit Jahren ein
rationengerechtigkeit die neue soziale Frage. der Kündigungsschutz zur Disposition? bestimmtes Bild von mir zu zeichnen. Das
Wir brauchen einen neuen Generationenver- Merz: Nein. Es mag Sie überraschen, aber stimmt aber mit der Wirklichkeit nicht
trag. Wir verschieben zu große Lasten der ich war schon vor Jahren ein Befürworter überein. Alle Leute, die mich kennen, fra-
Gegenwart auf die Schultern der nächsten eines gesetzlichen Mindestlohns. Ich bin gen immer wieder: Wie kommt das eigent-
Generation. Das muss eine Partei, die sich allerdings immer noch der Auffassung, lich, dass du in dieser Weise beschrieben
christlich-demokratisch nennt, bald ändern. dass über die Höhe die Tarifvertragspar- wirst? Auch von meinen Kollegen und Mit-
SPIEGEL: Das klingt wolkig. Die Rente mit teien vorentscheiden müssen. Und die The- arbeitern werden Sie so etwas nicht hören.
63 würden Sie wieder abschaffen? men Arbeitslosengeld und Kündigungs- SPIEGEL: Aber noch mal: Irgendwo muss
Merz: Die Rente mit 63 gilt ja nicht für alle, schutz stehen nicht auf der Tagesordnung. es doch herkommen.
sondern nur für bestimmte Altersgruppen SPIEGEL: Über Sie heißt es immer wieder, Merz: Allein meine Körpergröße ist natür-
mit mindestens 45 Beitragsjahren. Für die dass Ihre größte Schwäche der Umgang lich eine denkbare Projektionsfläche für
Zukunft muss das Verhältnis zwischen Ar- mit Menschen sei. Was sagen Sie dazu? solche Vorurteile. Ich schaue deshalb rein

29
Deutschland

physisch auf viele Menschen von oben, der Merz: Ich habe gelernt, dass ich noch mehr den der CDU, ich verstehe beide Welten,
Schritt hin zu »von oben herab« ist dann zuhören muss. Und vielleicht halte ich im- kann Menschen zusammenführen. Und
nur noch ein kleiner Spin. mer wieder Dinge für selbsterklärend, die ich denke, dass ich in der Lage bin, einen
SPIEGEL: Aber was die Parteispitze an- es nicht sind. sachlich orientierten, konturierten Wahl-
geht, kam eine sogenannte Teamlösung SPIEGEL: Sie halten es also für Ihre größte kampf zu führen, in dem politische Unter-
für Sie ja offenbar nicht infrage. Schwäche, dass Sie schlauer sind als die schiede wieder deutlich sichtbar werden.
Merz: Na langsam. Wenn in den vergan- meisten anderen? SPIEGEL: Was ist die größte Stärke Ihres
genen Tagen von »Teamlösung« die Rede Merz: Das macht ja richtig Spaß mit Ih- Konkurrenten Armin Laschet?
war, dann immer in dem Sinn, dass ich nen! Lassen Sie uns mal ernst bleiben. Die Merz: Er regiert das bevölkerungsreichste
doch bitte auf die Kandidatur für den Vor- Menschen sind angesichts der Lage in Bundesland sehr erfolgreich.
sitz verzichten möge. Team geht aber der Welt sehr verunsichert, und anders SPIEGEL: Und seine größte Schwäche?
auch unter meiner Führung. Für diese als die Politik- und Medienprofis wie wir Merz: Die kenne ich, aber darüber spreche
Variante habe ich bei den anderen Betei- sind sie in ihrem Alltag mit anderen ich nicht öffentlich.
ligten wenig Bereitschaft angetroffen. Dingen beschäftigt als mit Politik. Wir SPIEGEL: Damit zum letzten großen The-
Stattdessen hat man mich ständig gefragt, müssen mehr erklären, Sachzusammen- ma – Ökologie und Klimakrise.
ob ich mich nicht in ein Team einreihen hänge erläutern, Schlussfolgerungen plau- Merz: Das mag vielleicht in diesem Inter-
wolle, wobei immer im Unklaren geblie- sibel machen. view das letzte Thema sein, aber aus mei-
ben ist, wie ein solches Team denn ausse- SPIEGEL: Und Ihre größte Stärke? ner Sicht ist es derzeit, unterhalb der Ebe-
hen soll. Merz: Ich bringe Erfahrungen aus Politik ne von Krieg und Frieden, das politische
SPIEGEL: Was ist Ihre größte Schwäche? und Beruf mit in das Amt des Vorsitzen- Thema Nummer eins.

»Hier verändert sich alles –


nichts bleibt, wie es war«
SPIEGEL-Gespräch Armin Laschet, 59, über die Gefahr von rechts, NRW als Blaupause
für den Bund, den Poeten Robert Habeck und verschlampte Klausuren

SPIEGEL: Herr Laschet, Sie wollen CDU- was, was man anders hätte machen können. Ihr Konkurrent Friedrich Merz offenbar
Vorsitzender und Kanzlerkandidat wer- Aus heutiger Perspektive, wenn man sieht, auch nicht. Er wirft Ihnen vor, Sie wollten
den, also Angela Merkel beerben. Wie ist wie wir darum ringen, den CO -Ausstoß zu nur den Status quo verwalten.
²
Ihr Verhältnis zur Kanzlerin? reduzieren, war wohl die Reihenfolge falsch, Laschet: Es mangelt uns nicht an Analysen,
Laschet: Gut. erst aus der Kernenergie auszusteigen und aber wir brauchen Konzepte und Ideen für
SPIEGEL: Was war denn die größte Leis- dann aus der Kohle. Diese Entscheidung ist die Zukunft von Deutschland. Auf der
tung von Frau Merkel? aber nun unwiderruflich gefallen. Grundlage diskutiere ich gern darüber, was
Laschet: Zunächst mal lenkt sie als Regie- SPIEGEL: Sollte Merkel die volle Legis- richtig oder falsch für unser Land ist.
rungschefin in einer sehr langen Kanzler- laturperiode Kanzlerin bleiben? SPIEGEL: Zum Beispiel worüber?
schaft erfolgreich eine der größten Wirt- Laschet: Ja. Laschet: Wir brauchen auch im Bund eine
schaftsnationen. Die Menschen vertrauen SPIEGEL: Sie sagen, Sie würden alles tun, stärkere Politik für industrielle Arbeitsplät-
ihr. Und das seit bald 15 Jahren, eine Zeit- um einen Richtungswechsel der CDU zu ze, zur Entlastung des Mittelstands, für
spanne, die man nach Helmut Kohl nie verhindern. Aber reicht ein Weiter-so? Bürokratieabbau und Planungsbeschleu-
mehr für möglich gehalten hätte. Interna- Laschet: Es wird kein Weiter-so geben. nigung, technologische Lösungen beim Kli-
tional hat Angela Merkel in ihrer Kanzler- Nach der nächsten Bundestagswahl wird mawandel, bessere Aufstiegschancen und
schaft drei große Krisen bewältigen müs- eine völlig neue Bundesregierung gebildet, Nulltoleranz gegenüber Kriminellen. Das
sen: Erst kam die Weltfinanzkrise, daraus ohne Bundeskanzlerin Angela Merkel und ist meine tagtägliche Politik in Nordrhein-
folgend die europäische Schuldenkrise und in neuer Konstellation. Es liegen auch ganz Westfalen. Was will er anders machen?
dann 2015 die Flüchtlingskrise. Sie hat andere Aufgaben vor uns. Da ist der Wett- SPIEGEL: Herr Merz ist Ihnen zu wolkig?
Deutschland und Europa in dieser Zeit zu- bewerb mit den USA und China. Hier geht Laschet: Es reicht jedenfalls nicht, Proble-
sammengehalten, trotz aller Spannungen, es auch um die Frage: Welches Wertesys- me nur zu beschreiben. Wir brauchen Lö-
die es gab. Das ist eine immense Leistung. tem setzt sich in der Welt durch? Weitere sungen, konkrete Handlungskonzepte. Für
SPIEGEL: Und ihre größte Fehlleistung? Herausforderungen sind die künstliche In- mich zählen praktische Umsetzung und
Laschet: In einer langen Amtszeit mit un- telligenz, die Energiewirtschaft, die wir ge- reale Ergebnisse im Regierungshandeln.
terschiedlichen Regierungsbeteiligungen rade massiv umbauen und zukunftsfähig In diesem Wettbewerb um den Parteivor-
gibt es im Rückblick vermutlich immer et- gestalten. Schon hier verändert sich alles, sitz werden die Delegierten entscheiden,
nichts bleibt, wie es war. ob das, was ich hier in der Praxis tue und
* Das Gespräch führten die Redakteure Lukas Eberle, SPIEGEL: Sie beschreiben Herausforderun- leiste, der richtige Weg für das ganze Land
Christoph Hickmann und Veit Medick in Düsseldorf. gen, neue Antworten hören wir da nicht. und die Zukunft Deutschlands ist.

30 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


SPIEGEL: Also müsste sich die Politik bei Thunberg sogar schon positiv zur Nutzung SPIEGEL: Was stört Sie an den Grünen?
Greta Thunberg bedanken, die die Auf- der Kernenergie geäußert hat. Merz: Stören ist der falsche Ausdruck. Sie
merksamkeit auf das Thema gelenkt hat? SPIEGEL: Werben Sie für eine Renaissance sind mir einfach zu technikfeindlich und
Merz: Sie hat eine ganze junge Generation der Atomenergie? zu rückwärtsgewandt. Wir können nicht
aufgewühlt. Und auch ich bin bewegt, Merz: Nein, das tue ich ausdrücklich nicht, zurück zu einfachen und vorindustriellen
wenn ich sehe, wie sich ein junges Mäd- das Thema ist in Deutschland durch. Aber Strukturen. Deshalb müssen wir mit den
chen so engagiert. Aber man muss ihr auch vielleicht sehen wir in den kommenden Grünen darüber streiten, wie wir denn mit
widersprechen, wo es notwendig ist. Jahren technologische Entwicklungen, die einer vernünftigen Klimapolitik ein Indus-
SPIEGEL: Nämlich? ganz neue Chancen bieten. Es gibt hier in trieland bleiben können. An der deutschen
Merz: Ich widerspreche ihrer Behauptung, Berlin am Institut für Festkörper-Kernphy- Automobilindustrie zum Beispiel hängt je-
dass ihrer Generation die Jugend geraubt sik zum Beispiel die Entwicklung eines so- der siebte Arbeitsplatz in diesem Land.
worden sei. Diese Jugend hatte die beste genannten Dual-Fluid-Reaktors, der sogar Und da können wir den Verbrennungs-
Jugend, die es überhaupt jemals in diesem in der Lage wäre, abgebrannte Brennstäbe motor nicht im Jahr 2030 verbieten. Sorry,
Teil der Welt für eine Jugend gab. wiederzuverwenden, deren Halbwertszeit das ist in weniger als zehn Jahren. Ist das
SPIEGEL: Wie lässt sich die Klimakrise dann auf wenige Jahrzehnte reduziert wür- wirklich ernst gemeint? Mit allen Folgen
noch bewältigen? Müssen alle verzichten? de. Und ich rate uns, in allen diesen Fragen für Millionen Arbeitsplätze? Auf diese
Merz: Den Herausforderungen des Klima- technologieoffen zu sein und keine künst- Auseinandersetzung freue ich mich jetzt
wandels können wir nur mit modernster lichen Tabus zu errichten. Da muss die schon.
und neuester Technologie begegnen. Ich CDU zur Not auch in harte Auseinander- SPIEGEL: Herr Merz, wir danken Ihnen
meine mich zu erinnern, dass sich Greta setzungen mit den Grünen gehen. für dieses Gespräch.

SPIEGEL: Sie gelten als einer der Weg-


bereiter für Schwarz-Grün. Was haben die
Grünen gerade, was der CDU fehlt?
Laschet: Die Grünen stehen in den Umfra-
gen sehr gut da, auch weil sie als Team sym-
pathisch wirken, vor allem aber weil sie in-
haltlich in vielen Fragen relativ wenig ein-
bringen. Ohne Position erhalten sie eben
auch keinen Widerspruch. Die Grünen sind
nicht in Regierungsverantwortung, müssen
nicht konkret handeln und können sich so
zu jedem Thema, das sie besetzen wollen,
betont gefühlig äußern. Besonders beliebt
sind ja die philosophischen Betrachtungen
eines Poeten aus dem Norden. Das klingt
ganz gut, verliert aber bei genauem Zuhö-
ren oder Nachfragen schnell an Substanz.
SPIEGEL: Sie meinen Robert Habeck. Wie
kommen Sie gegen das grüne Hoch an?
Laschet: Im Bundestagswahlkampf sind
die Grünen gezwungen, endlich mal kon-
kret zu werden. Da wollen die Menschen
dann zum Beispiel wissen: Wie können
wir Industrieland bleiben? Wo kommt der
Strom her? Wie erhalten wir unsere Auto-
mobilindustrie als Schlüsselbranche? Wie
vertreten wir unsere Interessen in der
Welt? Ich höre da schon ein: Nicht so
schnell, da müssen wir erst mal die Inte-
ressen der Protestgruppen und Bürgerini-
tiativen berücksichtigen. Aber Politik ver-
langt Entscheidungen. Diese Sachdebatten
müssen wir führen.
SPIEGEL: Ein Thema, mit dem Sie die
CDU klar aufstellen wollen, ist der Kampf
MARCUS SIMAITIS / DER SPIEGEL

gegen rechts. Hat Ihre Partei die Gefahr


eines militanten, gewaltbereiten Rechts-
extremismus zu lange unterschätzt?
Laschet: Das ganze Land hat die Bedro-
hung unterschätzt. Zu Beginn des Jahr-
tausends ist der NSU mordend durch das
Land gezogen, und niemand hat wahrge-
Ministerpräsident Laschet: »Mein Vater war Bergmann« nommen, dass hier die politisch Rechten

31
Deutschland

am Werk waren. Stattdessen wurde über Laschet: Eine Gesellschaft darf nicht aus- schaftsministerin dazu zu lesen. Es war
Milieukriminalität spekuliert. Selbst nach einanderdriften. Das beschäftigt mich im eine Verkettung unglücklicher Umstände,
dem NSU haben wir alle die Brutalität der Hinblick auf die zunehmende Sprachlosig- auf allen Seiten wurden Konsequenzen ge-
Rechten immer noch unterschätzt. Mitt- keit zwischen Ost und West, Stadt und zogen, auch von mir.
lerweile, nach dem Mord an Walter Lüb- Land, Alt und Jung. Hier brauchen wir SPIEGEL: Wären Sie Kanzler, hätte eine
cke, den Morden in Halle, den entsetz- mehr Fairness im Umgang miteinander. Es solche Verkettung, wie Sie das nennen,
lichen Ereignissen in Hanau, müsste auch darf auch keinen zu großen Spalt zwischen allerdings viel schwerer wiegende Folgen.
der Letzte wach geworden sein. Arm und Reich, den sehr Wohlhabenden Laschet: Dann würde man mich sicher an
SPIEGEL: Was wollen Sie gegen diesen und denen, die von staatlicher Hilfe leben der Art messen, wie ich das Amt führe. So
rechten Terror tun? müssen, geben. Vor allem ist es sozial ge- wie man mich jetzt an meiner Amtsfüh-
Laschet: Hier brauchen wir unterschied- recht, wenn jedem Einzelnen der Aufstieg rung als Ministerpräsident misst.
liche Ansätze, ganzheitlich, auch gesamt- durch Bildung möglich ist, unabhängig von SPIEGEL: Was ist Ihre größte Schwäche?
gesellschaftlich. Es heißt, der Täter von der Herkunft der Eltern. Laschet: Für solche Diagnosen gibt es
Hanau sei psychisch krank gewesen. Aber SPIEGEL: Das berühmte sozialdemokrati- doch genug Journalisten.
davon abgesehen: Es gab immer schon psy- sche Aufstiegsversprechen. SPIEGEL: Und Ihre größte Stärke?
chisch kranke Menschen, auch psychisch Laschet: Das ist sozial gerecht, dient dem Laschet: Da gilt das Gleiche.
labile Täter. Niemand wird einfach rechts- Zusammenhalt. Ich bin ja selbst ein Bei- SPIEGEL: Was ist die größte Stärke Ihres
radikal. Die Gefahr für labile Menschen spiel dafür, quasi ein Produkt eines solchen Konkurrenten Friedrich Merz?
ist heute größer. Es herrscht in vielen Be- Aufstiegs. Mein Vater war Bergmann, und Laschet: Er kann Menschen begeistern.
reichen ein aggressives Grundklima, auf er hat durch den Kultusminister der CDU, Da, wo er hinkommt, sind die Säle voll.
das sich ein anfälliger Mensch dann schnel- Paul Mikat, die Chance gehabt, auf Lehrer Er spricht eine klare Sprache. Er ist ein
ler draufsetzt. Und dieses Klima von Hass umzusatteln. Seine vier Söhne haben dann Wirtschaftsexperte.
entsteht maßgeblich durch die Verrohung studiert. Das ist das, was ich sozial gerecht SPIEGEL: Und seine Schwächen?
der Sprache. Das geschieht, einerseits, im nenne. Diese Chancen müssen für alle gel- Laschet: Über Schwächen meiner Mit-
Netz, anonym. Und andererseits ganz of- ten, auch für Familien mit Zuwanderungs- bewerber spreche ich nicht.
fen im Deutschen Bundestag. geschichte. Auch Kinder, die vielleicht SPIEGEL: Müsste sich die Politik bei Greta
SPIEGEL: Sie meinen die AfD? Thunberg bedanken, die die Aufmerksam-
Laschet: Natürlich. Seitdem die AfD im keit auf die Klimakrise gelenkt hat?
Bundestag sitzt, gibt es in nahezu jeder Laschet: Greta Thunberg hat sicher einen
Plenarsitzung Beiträge, die das Klima ver- »Merz kann Menschen wichtigen Beitrag dazu geleistet, dass das
giften, die gegen Religionen und Kulturen, begeistern. Bei ihm sind Thema ernster genommen wird, medial,
gegen andere Menschen hetzen. Das gab aber auch in der gesamten Gesellschaft.
es früher in Deutschland nicht. Diese Hetze die Säle voll. Er spricht Das heißt aber nicht, dass wir Klimaschutz
hat die Maßstäbe verschoben. Wir müssen eine klare Sprache.« vor Greta nicht vorangetrieben hätten.
also den politischen Kampf gegen diese ge- Der Beschluss, eine Kommission zum Koh-
sellschaftlichen Klimavergifter aufnehmen leausstieg einzusetzen, wurde von mir und
und gleichzeitig die Polizei und den Ver- dem niedersächsischen Ministerpräsiden-
fassungsschutz stärken. Hier in Nordrhein- nicht so gut Deutsch sprechen, müssen die ten Stephan Weil durchgesetzt, im Koali-
Westfalen beobachten wir zum Beispiel gleichen Chancen haben. tionsvertrag 2018. Das war vor Greta.
stärker auch das Netz: Wer radikalisiert SPIEGEL: Die Große Koalition hat den SPIEGEL: Ist der Klimawandel aus Ihrer
sich? Und wie? Mindestlohn eingeführt und die Rente mit Sicht das politische Thema Nummer eins?
SPIEGEL: Friedrich Merz wirbt für sich mit 63. Voll auf Ihrer Linie, oder? Laschet: Es gibt natürlich nicht immer nur
dem Versprechen, zahlreiche Wähler von Laschet: Die Rente mit 63 habe ich immer das eine große Thema. Der Klimawandel
der AfD zurückzugewinnen. Haben Sie kritisch gesehen. Sie ist in einer Zeit des ist eine globale Herausforderung. Wenn
dafür auch ein Rezept? demografischen Wandels aus meiner Sicht Sie die Frage in einem Land im globalen
Laschet: Das ist jetzt wieder so ein theo- falsch, aber man kann nicht nach jedem Süden stellen würden, ist dort sicher
retisches Beispiel. Wähler holt man zurück, Regierungswechsel derartige Grundpfeiler die Frage der Ernährung, gar des Überle-
indem man überzeugende Politik macht, wieder auf den Kopf stellen. Die Men- bens, des Endes von Krieg, wichtiger. Des-
Probleme der Menschen löst. Hier in Nord- schen müssen sich darauf verlassen kön- halb müssen wir uns weiterhin um die
rhein-Westfalen liegt die AfD bei sieben nen, dass gerade in der Rentenpolitik über Bekämpfung von Armut bemühen und
Prozent. Und wenn wir mit unserem Kurs Jahrzehnte hinweg gedacht wird. darum, dass weltweit das Recht eingehal-
konsequent weitermachen, kriegen wir die SPIEGEL: Viele in der CDU sagen, dass ten wird.
auch noch unter fünf Prozent. Nicht mit Ihre Schwäche eine gewisse Gemütlichkeit SPIEGEL: Wie lässt sich die Klimakrise
Reden, sondern mit Handeln. sei, auch eine gewisse Schlampigkeit. noch bewältigen? Müssen alle verzichten?
SPIEGEL: Wie denn? Laschet: Wir arbeiten hier in Nordrhein- Laschet: Nur mit Verzicht wird es nicht
Laschet: Indem wir zum Beispiel mit un- Westfalen sehr präzise und mit klaren Ab- gelingen. Schauen wir noch mal in den
seren Talentschulen in den schwierigsten sprachen. Anders geht es auch gar nicht, Süden: Wenn dort das Lebensniveau steigt,
Vierteln die besten Schulen anbieten. ein solches Land zu führen. dann steigt dort auch der CO -Verbrauch.
²
Oder indem wir die Voraussetzungen da- SPIEGEL: Dann müssen wir Sie an eine Be- Ja, wir brauchen auch Verzicht, aber wir
für schaffen, dass neue Arbeitsplätze ent- gebenheit im Jahr 2014 erinnern. Damals brauchen vor allem technologische Lösun-
stehen. Und indem wir einen klaren Kurs kamen Ihnen als Dozent an der RWTH gen. Unser Ziel ist zum Beispiel, dass die
in der inneren Sicherheit fahren. Die fal- Aachen Klausuren von Studenten abhan- Stahlproduktion ohne CO -Ausstoß mög-
²
sche Antwort wäre es, AfD-Themen zu den. Sie erfanden dann im Nachhinein kur- lich wird. Grüner Stahl, daran arbeiten wir,
übernehmen und deren Sprache zu spre- zerhand die Noten. Kann man ruhig schla- das wäre ein großer Durchbruch.
chen. Das funktioniert nicht. fen, wenn so jemand im Kanzleramt ist? SPIEGEL: Herr Laschet, wir danken Ihnen
SPIEGEL: Was ist Ihre Vorstellung von Laschet: Ich empfehle, den ausführlichen für dieses Gespräch.
sozialer Gerechtigkeit? Abschlussbericht der damaligen Wissen-

32 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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Deutschland

Weiter so? Weiter so!


Hanau könnte für die vergleichsweise
Gemäßigten in der AfD eine Möglichkeit
sein, das Profil der Partei zu verändern,
weg von ganz rechts außen. Dazu müsste
sie ohne Wenn und Aber bekennen, dass
AfD Seit dem Terroranschlag von Hanau wird die Partei mehr denn Rassismus eine Bedrohung für die Gesell-
je für den Anstieg rechter Gewalt verantwortlich gemacht. Die schaft ist. Gibt es noch Vernünftige, die ei-
Gemäßigteren sind zu schwach, um die Richtung zu beeinflussen. nen neuen Ton finden? Oder behalten die
völkischen Kräfte die Oberhand?
Kurzzeitig schien es, als gäbe es eine

L iebe Freunde«, sagt Gottfried Curio,


»wir müssen auch ein paar ernstere
Töne anschlagen, dieser Tage, es hat
ein furchtbares Ereignis gegeben in Ha-
Curio ist der angekündigte Überra-
schungsgast, der Starredner des Tages. Der
Saal wartet ruhig auf die »ernsteren Töne«
zum Anschlag von Hanau, wo Tobias
neue Tonlage in der Partei. Am Sonntag,
vier Tage nach Hanau, veröffentlichten die
Parteichefs Tino Chrupalla und Jörg Meu-
then einen offenen Brief an die Mitglieder:
nau.« Der AfD-Bundestagsabgeordnete Rathjen zehn Menschen ermordet hat. »Die Tat von Hanau ist ein rassistisches
steht auf der Bühne im Donau-Gewerbe- Curio sagt: »Er war ein gefährlicher Psy- Verbrechen.« Sie sei »wie der Mord an
park im niederbayerischen Osterhofen, chopath, hat seinen Tötungsdrang, seine Walter Lübcke und die Morde von Halle
der Saal ist voll, die Humpen auf den blau- Wahnfantasien versucht zu rationalisieren eine Schande für Deutschland«. Die Partei
weiß gedeckten Tischen sind halb leer. Vor mit widerlichen rechtsextremistischen, ras- müsse sich fragen, »warum es unseren poli-
allem ältere Männer sitzen vor Curio, da- sistischen Parolen, aber das war ein wirk- tischen Gegnern gelingt, uns überhaupt
zwischen ein paar Frauen und ein junges lich Geisteskranker.« Seine Taten würden mit solch einem Verbrechen in Verbindung
Paar mit Baby. Ein Junge mit Anzug und vom politischen Gegner nun gegen die zu bringen«. Dieser Frage müsse man sich
Krawatte läuft auch durch den Saal. AfD verwendet. Die Opfer sollten nicht stellen, auch wenn es schwerfalle.
Es ist politischer Aschermittwoch der missbraucht werden, sagt Curio. Aber: Die Vorsitzenden lieferten allerdings
AfD, genau eine Woche nach dem ras- »Dieser Amoklauf der Lüge, der im Nach- keine Antwort auf diese Frage. Sie spra-
sistischen Anschlag von Hanau. Bisher hinein auch noch stattgefunden hat, das chen selbst in diesem Statement weiter
haben der Vizevorsitzende Stephan ist hier die größte Bedrohung für Deutsch- von »Ausländerhass« und »fremden Kul-
Brandner und die Abgeordnete Corinna land und seine Demokratie.« turen«, obwohl die Getöteten lange hier-
Miazga den Saal unterhalten, mit sexis- Applaus bricht aus, Männer rufen »Bra- zulande lebten. Sie beendeten das State-
tischen und homophoben Sprüchen, mit vo« oder johlen, Frauen pfeifen. Bundesvize ment mit der üblichen Litanei von Angrif-
Häme über Politiker anderer Parteien – Brandner sagt: »Tolle Rede, habe nichts da- fen auf die AfD. Und sie veröffentlichten
und einem »Dieser Bundespräsident muss ran auszusetzen.« Der Rassist also nur ein den Brief am Nachmittag der Hamburg-
weg, lieber heute als morgen!« in Rich- Geisteskranker, die wahren Opfer sind nicht Wahl, als aufgrund erster Prognosen klar
tung von Frank-Walter Steinmeier. Ap- die Toten und ihre Familien, sondern das wurde, dass es knapp werden würde mit
plaus, Gejohle. wahre Opfer ist die AfD, das sagt Curio hier. dem Einzug in die Bürgerschaft.

FELIX ZAHN / PHOTOTHEK.NET

AfD-Leute Meuthen, Gauland, Höcke im Oktober 2019 in Berlin: »Völlig richtig, was Ihr sagt«

34
War dieser neue Ton ernst gemeint?
Oder nur Taktik?
Hört man sich im Umfeld der Parteispit-
ze um, heißt es von den einen, es sei vor
allem Angst vor einer Beobachtung durch
den Verfassungsschutz, die seit einiger Zeit
von anderen Parteien gefordert wird. Die
AfD spürt mehr Druck denn je. Nach der
Ministerpräsidentenwahl in Erfurt und den
Morden von Hanau grenzen sich auch kon-
servative Politiker noch schärfer von ihr
ab. Dass AfD-Politiker offen Rassismus

THOMAS LOHNES / GETTY IMAGES


propagieren, gilt bei der politischen Kon-
kurrenz und großen Teilen der Öffentlich-
keit als eine der Ursachen für das Attentat.
Chrupalla, heißt es bei manchen, wolle
den Druck lindern, ohne wirklich hinter
seinen Aussagen zu stehen. Andere sagen,
der Brief sei ihm ein echtes Anliegen ge-
wesen, schließlich könne man nicht mit an- Trauerfeier für Anschlagsopfer in Hanau am Montag: Die Völkischen einhegen
deren Parteien arbeiten, wenn man nicht
miteinander spreche. Von Koalitionen mit
CDU und FDP brauchte man dann nicht Reaktionen führt und Chrupalla deshalb sind viele Funktionäre zum »Flügel« über-
mal zu träumen. Es solle ein Prozess an- schon als mutig gilt? gelaufen. Die etablierten »Flügelianer«
gestoßen werden. Das sei mutig von ihm, Nachdenken, sprachlich abrüsten, das nennen sie abfällig »Opportunisten«.
schließlich sei er noch recht frisch im Amt. will offensichtlich die Mehrheit in der AfD Wenn man dann aber Personen findet,
Meuthen, der im Duo mit Chrupalla ei- nicht. Von Austritten ist keine Rede, auch die über die »Pläne« reden wollen, erklä-
gentlich als der Gemäßigtere gilt, distan- nicht bei denen, die sich intern vom völki- ren sie erst einmal, dass man sie nicht na-
zierte sich in einer Telefonkonferenz des schen »Flügel« oder zumindest von Björn mentlich zitieren dürfe. »Wenn ich mit of-
Bundesvorstands am Dienstag von dem Höcke und seinem Stil abgrenzen. fener Lanze in die Schlacht ziehe, funktio-
Brief. Auch hatte er im Vorfeld versucht, Und das, obwohl Höcke und der »Flü- niert es nicht«, sagt ein Bundesvorstand.
ihn abzuschwächen, wollte vor allem nicht, gel« nach der Ministerpräsidentenwahl in »Ich habe keine Waffe in der Hand, um zu-
dass von einem »rassistischen Verbrechen« Thüringen mit noch mehr Selbstbewusst- zuschlagen.« Ein Parteiausschlussverfah-
gesprochen wird, wie der SPIEGEL von sein auftreten. Höcke hielt kürzlich eine ren gegen Höcke oder »Flügel«-Strippen-
mehreren Personen erfuhr, die an der Ent- Rede bei Pegida in Dresden. Obwohl er zieher Andreas Kalbitz habe keine Chan-
stehung des Briefs beteiligt waren. nicht als AfD-Vertreter mit Parteisymbo- cen, ist er sich sicher.
Meuthen bestätigt das auf Anfrage, sagt, len auftreten sollte, verwies er in seiner Stattdessen also freuen er und die ande-
er fand den Ausdruck »unglücklich, weil Rede mehrfach auf die Partei und seine ren sich über kleine Erfolge gegen den
unvollständig«. Er wolle nicht über sich le- anwesenden Kollegen. Folgen hatte das »Flügel«. Kalbitz habe in der internen Ar-
sen müssen, dass er seine Meinung geän- keine. Die Gemäßigteren beruhigen sich beitsaufteilung des Vorstandes nicht die
dert habe. Dem sei nicht so: »Es bleibt die damit, dass ihm das selbst schade. Zuständigkeit für die Bundesgeschäftsstel-
Tat eines Irren, wie ich anfangs twitterte.« Nach der für die AfD knappen Wahl in le übertragen bekommen. Auch habe man
Das heiße aber nicht, dass die Tat nicht die Hamburger Bürgerschaft verbreitete ein Ausschlussverfahren gegen jemanden
auch rassistisch motiviert gewesen sei. die Neue Rechte in der Zeitschrift »Sezes- gestoppt, den der »Flügel« habe loswerden
»Die Frage ist, was handlungsleitend war, sion« außerdem die These, dass das bür- wollen. An diesen Beispielen sehe man
und da bleibe ich bei meiner Annahme, gerliche Auftreten der Hamburger AfD doch, dass die Völkischen nicht die Mehr-
dass es die psychische Krankheit war.« Er und ihre »Lucke-Programmatik« das Pro- heit im Bundesvorstand hätten.
gibt auch zu, dass er Chrupalla vor der blem gewesen sei. Bernd Lucke war einer »Rechnen Sie nicht mit dem großen
Veröffentlichung warnte: »Der Brief wird der Gründer der AfD, eurokritisch und Wurf, den wird es nicht geben«, sagt der
erheblichen Unmut auslösen.« Dennoch wirtschaftsliberal, nicht so radikal wie die Vorstand. Ironischerweise hofft er auf den
stehe er gemeinsam mit ihm dazu. Partei heute. Damit habe man nicht nur Verfassungsschutz, den er sonst als partei-
Tatsächlich hat der Brief die AfD aufge- »auf ein falsches Pferd, sondern auf ein to- isch verteufelt: »Wenn Höcke und Kalbitz
wühlt, die Parteichefs werden von vielen tes« gesetzt. Dazu: Das Statement von und andere offiziell beobachtet werden,
Seiten angegriffen, nicht nur aus Thürin- Chrupalla und Meuthen sei »ein Schuss in kann man damit bestimmt etwas machen.«
gen von Björn Höcke. Die Galionsfigur den Ofen« gewesen, eine »Kapitulation In den offenen Kampf gegen die ganz
des völkischen »Flügels« soll zum Telefon vor dem Gegner«. Nicht nur Höcke teilte rechts außen traut sich keiner. Die wenigen,
gegriffen haben, um sich bei Parteivorde- den Text in sozialen Netzwerken, sondern die es taten, wurden auf dem Parteitag in
ren zu beschweren, heißt es. auch andere AfD-Politiker. Braunschweig abgestraft. Konsequenzen
Auch die Basis hat viel Unmut geäußert, Die im Vergleich Gemäßigteren reden ziehen auch die Abgewählten nicht. Statt-
bei den Landesverbänden ebenso wie im dagegen weiterhin die Macht des »Flügels« dessen erinnern alle an die Versuche der
Bund. Allein in der Geschäftsstelle gingen klein, sprechen davon, die Völkischen »ein- vorherigen Parteichefs Lucke und Frauke
einige Hundert E-Mails ein. Ein Sprecher hegen« zu können, es formiere sich Wi- Petry, die gegen die Radikalen scheiterten
sagt: Rund die Hälfte habe den Tenor: »völ- derstand, man habe Pläne. Aber welche? und in der Versenkung verschwanden. Das
lig richtig, was Ihr sagt«, die andere Hälfte Nach einer Antwort auf diese Frage Risiko will niemand eingehen.
frage kritisch: »Warum knickt Ihr ein?«. muss man lange suchen, auch weil die Dann lieber weiter so, ohne ernstere Tö-
Was aber heißt es für eine Partei, wenn Gruppe derjenigen, die man fragen kann, ne, selbst nach Hanau. Ann-Katrin Müller
eine etwas selbstkritische Frage zu diesen kleiner wird. In den vergangenen Monaten

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 35


Deutschland

Spitze der SPD. Ihren Sieg verdanken sie


einem Aufstand der Mitglieder gegen die
Parteielite, einer Sehnsucht nach einem
Neuanfang. Doch bislang wissen sie mit
ihrem Amt wenig anzufangen. Ein Kurs
ist kaum sichtbar.
Das Vakuum an der Spitze füllen der-
weil andere, Fraktionschef Rolf Mütze-
nich, 60, etwa und vor allem General-
sekretär Lars Klingbeil, 42. Eigentlich
soll ein Generalsekretär die Partei orga-
nisieren und den Vorsitzenden dienen.
Klingbeil hingegen prägt derzeit wie kein
zweiter Genosse das Erscheinungsbild
der SPD. Er attackiert CDU und FDP,
schwört die Partei auf Geschlossenheit
ein und gibt die Richtung vor. Während
Esken und Walter-Borjans erfolglos ihre
Rolle suchen, übernimmt der General-
sekretär die Führung. Das macht ihn zum
heimlichen Vorsitzenden.
Zu beobachten war das auch zu Beginn
der Woche, als CDU-Chefin Annegret

HANNES JUNG / DER SPIEGEL


Kramp-Karrenbauer heftig über die SPD
schimpfte. Die Vorwürfe, ihre Partei gren-
ze sich nicht klar von der AfD ab, seien
falsch. Es handle sich um eine »Diffamie-
rungs- und Schmutzkampagne«. Ziel des
Angriffs der CDU-Chefin waren nicht
etwa die beiden von der Doppelspitze,
Sozialdemokrat Klingbeil: Das Vakuum an der Spitze füllen sondern Klingbeil. Der SPD-Generalsekre-
tär solle seine Attacken beenden. Oder
»die Konsequenz ziehen und seine Partei
auffordern, diese Regierung zu verlassen«.

Der Generalvorsitzende Dass eine Parteivorsitzende sich so aus-


giebig mit dem Generalsekretär einer an-
deren Partei beschäftigt, ist selten. Im
Karrieren Während das Führungsduo blass bleibt und oft verspottet politischen Geschäft wird Wert auf Hie-
rarchie gelegt. Eigentlich hätte der Gene-
wird, setzt Generalsekretär Lars Klingbeil Akzente. ralsekretär der CDU auf Klingbeil reagie-
ren müssen.
An Esken und Walter-Borjans arbeitet

A ls Saskia Esken in Vilshofen auf die


Bühne steigt, ist die flammende
Aschermittwochsrede bereits gehal-
ten: von Natascha Kohnen, der baye-
sich der politische Gegner zurzeit seltener
ab. Nach ihrem überraschenden Sieg im
Mitgliederentscheid zogen sie unvorberei-
tet ins Willy-Brandt-Haus ein. Esken hatte
rischen SPD-Landesvorsitzenden. Sie bisher in den hinteren Regionen des Bun-
sprach kurz, mitreißend, die Stimme schon destags gesessen, die politische Karriere
mal vor dem Überschlag. Die Genossen von Walter-Borjans schien schon beendet
im Wolferstetter Keller folgten gespannt. zu sein. Nun sollten sie plötzlich die Nach-
Am Ende donnernder Applaus. folger von Kurt Schumacher, Willy Brandt
Nun also Esken, die Bundesvorsitzende oder Gerhard Schröder geben.
der SPD. Sie legt einen dicken Stapel Papier Doch sie hatten weder ein Team noch
auf das Pult. Alles ist vorformuliert, manche einen Plan. Den Parteitag Anfang Dezem-
Sätze sind mit grünem Leuchtstift markiert. ber überstanden sie noch ohne größere
Esken spricht eine Stunde lang, aber die Pannen. Doch spätestens zum Jahreswech-
HERMANN BREDEHORST / DER SPIEGEL

Rede nimmt niemals Fahrt auf, sie zerfasert, sel zeigte sich ihr Mangel an Professiona-
das Gemurmel im hinteren Teil des Saals lität und Erfahrung. Hektisch und unkoor-
schwillt an. Hinterher kann kaum ein Ge- diniert zündeten sie in Interviews ein wah-
nosse sagen, worüber Esken gesprochen res Feuerwerk an Vorstößen. Es ging um
hat. »Nichts hängen geblieben«, sagt Fran- Bodenwertzuwachssteuer, Cannabis-Frei-
cesco Abate, ein Landesvorstandsmitglied gabe, Tempolimit oder höhere Renten-
der Partei. »Mir fehlen die konkreten An- beiträge für Gutverdiener. Sie streuten so
sagen. Sie hat sich immer so gewendet.« Er viele Botschaften gleichzeitig, dass keine
macht eine Wellenbewegung mit der Hand. davon hängen blieb.
Knapp drei Monate stehen Saskia Esken Fraktionschef Mützenich Die anderen Genossen aus der Partei-
und Norbert Walter-Borjans nun an der Respekt über die Lager hinweg spitze reagierten entsetzt. Zu kleinteilig

36 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


sei das alles. Zudem hätten die Parteichefs anekdotisch beschreiben, wo sie zuletzt den Bundestagswahlkampf ziehen? Was
ihre Vorschläge zu Finanz- oder Sozialthe- gewesen seien und was sie dort erlebt hät- sind die Machtoptionen? Und vor allem:
men nicht mit den eigenen Ministern ab- ten. Scholz dagegen gebe Orientierung Wer wird Kanzlerkandidat?
gestimmt, heißt es aus den Häusern von und bereite die Fraktion strategisch auf Die beiden Vorsitzenden sagen, sie
Olaf Scholz und Hubertus Heil. wichtige Entscheidungen vor. selbst wollten nicht unbedingt antreten.
Auch über das Auftreten der beiden in Schwer tun sich die Abgeordneten vor Viele Sozialdemokraten, besonders in der
den Führungsgremien der Partei wird be- allem mit Esken. Sie habe sich in der Ver- Fraktion, wünschen sich trotz seiner Nie-
reits gelästert. Es wirke auf ihn, als wären gangenheit häufig gegen die Fraktion pro- derlage im Mitgliedervotum weiterhin
die beiden Gäste und nicht Leiter der Sit- filiert und gegen die Mehrheit gestimmt, Scholz. Ihn zu nominieren dürfte Esken
zungen, sagt einer, der regelmäßig an den heißt es. Das sei in Ordnung, wenn es aus und Walter-Borjans aber schwerfallen.
internen Runden teilnimmt. »Sie müssten inhaltlichen Gründen geschehe. Esken Wie sollen sie das ihren Anhängern erklä-
eigentlich die Vorgaben machen. Stattdes- habe aber häufig aus einer Position der ren, die aus der Gegnerschaft zu Scholz
sen lassen sie sich berieseln.« Das Wort er- moralischen Überlegenheit gehandelt. ihren größten Enthusiasmus bezogen?
griffen derweil andere. Neben Klingbeil Natürlich spürt Esken die Skepsis, die Gehandelt werden außerdem Arbeits-
vor allem Scholz und Heil. ihr entgegenschlägt. Aber sie findet, dass minister Hubertus Heil und Fraktionschef
Genervt sind manche Genossen auch die Fraktionskollegen sich jetzt halt mal Rolf Mützenich. Mützenich genießt über
davon, dass Esken ständig mit ihrem etwas umgewöhnen müssten, was ihre die Lager hinweg Respekt. Er stammt aus
Smartphone beschäftigt ist. Wer sich ihr neue Rolle angeht. Walter-Borjans er- der Parlamentarischen Linken, kann aber
emsiges Twitterverhalten ansieht, könnte scheint den Abgeordneten pragmatischer, auch mit Scholz und Klingbeil.

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tatsächlich den Eindruck gewinnen, Esken zugänglicher und entspannter. Vielleicht Heil und Mützenich wären für die Par-
wäre die Social-Media-Beauftragte der etwas zu entspannt. Das Credo von Sig- teichefs angenehmer. Doch wären sie auch
SPD, nicht deren Vorsitzende. mar Gabriel, wonach eine Partei geführt die richtigen Kandidaten für einen polari-
Klingbeil, seit Dezember 2017 General- werden wolle, sieht Walter-Borjans kri- sierten Wahlkampf in der Zeit nach Angela
sekretär, erhält dagegen viel Bestätigung tisch. Er will keiner sein, der draufhaut. Merkel? Schon für den Posten des Frak-
in diesen Tagen. Sie finde, die SPD habe »Wir haben die Führungskrise überwun- tionsvorsitzenden musste Mützenich über-
»einen ganz ausgezeichneten General- den«, sagt Esken auf der Bühne beim redet werden. Bei Heil klingen selbst jene
sekretär«, schreibt die sächsische Abge- politischen Aschermittwoch im nieder- Genossen, die seinen Namen ins Spiel brin-
ordnete Daniela Kolbe bei Twitter. Partei- bayerischen Vilshofen. Die Partei solle die gen, wenig begeistert. Sie bezweifeln, dass
vize Kevin Kühnert springt Klingbeil im Schuld für die schlechten Umfragewerte sich mit ihm Aufbruchsstimmung erzeu-
Gespräch mit der »Rheinischen Post« bei. nicht bei den anderen suchen, nicht bei gen ließe.
Die CDU grenze sich nicht klar von der den Medien und nicht bei den Wählern, Bleibt noch Klingbeil selbst. Bis vor
AfD ab, das sei »keine Erfindung von Lars so Esken, »und bitte auch nicht immer wie- Kurzem schien es undenkbar, dass der
Klingbeil, sondern eine Tatsache«. der bei unserem Spitzenpersonal«. Das Generalsekretär für die Kandidatur in-
Von den Auftritten der beiden Vorsit- langweile die Leute mittlerweile. frage kommen könnte. Doch nach den
zenden in der Bundestagsfraktion bleibe Doch die Führungskrise ist in Wahrheit vergangenen Wochen wollen führende
hingegen nichts hängen, kritisiert ein Ab- nicht überwunden. Die zwei an der Spitze Genossen auch dieses Szenario nicht
geordneter, der in der Fraktion schon meh- haben ein ernstes Autoritätsproblem. Da- mehr ausschließen.
rere Parteichefs erlebt hat. Die beiden Vor- bei stehen wichtige Entscheidungen an: Lydia Rosenfelder, Christian Teevs
sitzenden, so erzählt er, würden meist Mit welchem Programm will die SPD in

37
Deutschland

»Die wollten mich loswerden«


SPIEGEL-Gespräch Der ehemalige SPD-Vorsitzende Sigmar Gabriel, 60,
spricht über Demütigungen durch seine Partei, Gefahren für die Wirtschaft – und
rät Kevin Kühnert, erst mal arbeiten zu gehen.

SPIEGEL: Herr Gabriel, für wen haben Sie das große Problem der Migration bewäl- Gabriel: Die CDU scheint sich in dieser
Ihr neues Buch geschrieben? tigen. Hinsicht gerade zu »sozialdemokratisie-
Gabriel: Ich habe es in gewisser Weise für SPIEGEL: Was muss getan werden? ren«, was kein gutes Zeichen ist. Aber Sie
meine Kinder geschrieben*. Das kommen- Gabriel: Wir sollten tun, was die ganze haben schon recht: Während es bei den
de Jahrzehnt wird über vieles entscheiden. Welt von uns fordert: viel mehr investie- Konservativen zumindest in der Vergan-
Mich treibt wie viele Eltern um, wie wohl ren. Für mich war das beeindruckendste genheit immer darum ging zu regieren,
meine Töchter dann leben werden. Eine Foto des vorigen Jahres die Eröffnung des geht es in den politischen Parteien links
von ihnen wird dann gerade volljährig. Ich Pekinger Flughafens, geplant, gebaut, er- der Mitte viel zu oft ums Rechthaben. Und
neige wirklich nicht zur Dystopie, aber öffnet in vier Jahren. Wenn der Flughafen wenn man nicht recht bekommt, wird
jetzt denke ich doch oft: Mensch, was ist in Berlin je eröffnet wird, ist er am Tag schnell der »Wohlfahrtsausschuss« zusam-
hier im Land bloß los? der Eröffnung ein Architekturmuseum. mengerufen …
SPIEGEL: Sie sind kürzlich 60 geworden. Und das ist nur ein Beispiel von vielen. SPIEGEL: … jenes Gremium, das während
Gabriel: Ich gebe zu, dass das ein heftiger SPIEGEL: Demokratische Staaten sind also der Französischen Revolution entschied,
Einschnitt für mich war. Ich habe zum ers- weniger effektiv als Autokratien? wer unter die Guillotine kommt.
ten Mal ernsthaft über die Endlichkeit des Gabriel: Die Alternative kann doch nicht Gabriel: Gott sei Dank endet es heute
eigenen Lebens nachgedacht. Was ist, sein, entweder so langsam zu sein wie anders. Aber wir gehen untereinander
wenn ich nicht mehr da bin? Was ist das Deutschland oder so undemokratisch wie manchmal schlimmer miteinander um als
für ein Land, in dem meine Kinder leben China. Dazwischen gibt es viele Möglich- mit dem politischen Gegner.
werden, wenn sie so alt sind wie ich? keiten. Dafür müsste man aber den Mut SPIEGEL: Sie schreiben von böswilligen
SPIEGEL: Was macht Ihnen Sorgen? Sie haben, das deutsche Planungsrecht zu ver- und niederträchtigen Durchstechereien,
beschreiben Deutschland als lethargisches ändern. Für Vorhaben, bei denen das Ge- dass sich die »Demütigungsversuche«
Land, als Land in Trance … nach Ihrem Rücktritt fortgesetzt hätten.
Gabriel: Meine Sorge ist, dass wir, gerade Gabriel: Vermutlich können alle meine
weil wir hier verglichen mit vielen anderen Vorgänger und Nachfolger im Amt des
Teilen der Welt auf der berühmten »Insel »Die nächsten zehn SPD-Vorsitzenden davon ein Lied singen,
der Seligen« leben, nicht merken, wie dra- Jahre werden ent- und ich habe es ja verhältnismäßig lange
matisch sich alles verändert, was seit Jahr- ausgehalten. Aber es gab schon ein paar
zehnten unseren Erfolg ausgemacht hat. scheidend für Deutsch- Erfahrungen, wo ich dachte: Donnerwet-
Unser Erfolgsmodell, die exportorientierte land und Europa.« ter, so bist du mit deinem Vorgänger nicht
Wirtschaft, ist zur Achillesferse geworden umgegangen.
in einer Welt, die sich in Teilen entglobali- SPIEGEL: Parlamentspräsident Wolfgang
siert. Die Spannungen der Weltwirtschaft Schäuble und Bundespräsident Frank-
treffen uns mehr als alle anderen. Und meinwohl überwiegt, sollten wir die Wi- Walter Steinmeier haben Sie zum Ab-
noch viel mehr trifft uns, dass große Teile derspruchsmöglichkeiten einschränken. schied zu einem Gespräch eingeladen.
unserer industriellen Wertschöpfung auf Wir müssen in Deutschland wieder mehr Gabriel: Von meiner Fraktion habe ich im-
die Datenplattformen wandern – und die »Mensch ärgere dich nicht!« spielen statt merhin im Geschäftsgang ein Schreiben
beherrschen fünf amerikanische und dem- »Malefiz«. Der Schnellste muss gewinnen mit der Bitte erhalten, doch meine Nach-
nächst zehn chinesische Unternehmen. und nicht der, der allen anderen die meis- sendeadresse dazulassen. Ich fand das
Wenn wir nicht aufpassen, werden wir ten Steine in den Weg legt. irgendwie lustig und einen letzten Beleg
vom Industrialisierer der Welt zur verlän- SPIEGEL: In Ihrem Buch ist ein großes Ka- dafür, dass es Zeit ist zu gehen.
gerten Werkbank. pitel Ihrer Partei und dem Umgang der SPIEGEL: Sie beschreiben das Gefühl,
SPIEGEL: Wo braucht es mehr Mut? SPD mit ihrem Spitzenpersonal gewidmet. »häufig genug weder wirklich respektiert
Gabriel: Vor allem in der politischen Füh- Ist die SPD eine herzlose Partei? noch geachtet« worden zu sein.
rung. Sie muss Mut machen, statt sich Gabriel: Nein. Die SPD ist eine Partei mit Gabriel: Bei mir ist das noch relativ glimpf-
nur mit sich selbst zu beschäftigen. Die viel Herzblut und Leidenschaft. Ich ver- lich abgegangen. Aber denken Sie daran,
nächsten zehn Jahre werden entschei- danke es sozialdemokratischer Politik, welche Verletzungen Kurt Beck erlitten
dend, wenn es darum geht, welche Rolle dass ich etwas aus meinem Leben machen hat, wie sich Martin Schulz missbraucht
Deutschland und Europa in der Welt konnte. Nur weil das Ende dann etwas – gefühlt hat. Oder wie bis heute über Ger-
spielen. Ob wir noch eine deutsche nennen wir es »rustikal« war, darf man hard Schröder geredet wird. Manchmal
Autoindustrie haben, ob wir den Klima- doch nicht alles Gute vergessen, was vor- habe ich gedacht, dass in der SPD so viel
schutz schaffen, Europa zusammenhalten, her war. über Solidarität geredet wird, weil man sie
SPIEGEL: Aber die SPD geht schon gna- im politischen Alltag so oft vermisst.
* Sigmar Gabriel: »Mehr Mut! Aufbruch in ein neues denloser mit ihrem Spitzenpersonal um SPIEGEL: Was ist Ihr Anteil daran, dass
Jahrzehnt«. Herder; 336 Seiten; 25 Euro. als andere Parteien? die Partei Sie am Ende nicht mehr wollte?

38 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


SONJA OCH / DER SPIEGEL
Ex-Parteichef Gabriel in seinem Arbeitszimmer: »Es war eine ganz ungesunde Atmosphäre«

Gabriel: Ich bin auch kein einfacher mal auch eine Art von »Organisations- Spannungen wir in Deutschland zu rech-
Mensch, ich kann hart sein und unnach- stalinismus«. nen hatten. Die klare Mehrheit meiner da-
giebig. Ich fand mein ganzes politisches SPIEGEL: Sie sprechen von Säuberungen? maligen Mitstreiter war jedoch der Auffas-
Leben lang Klarheit in der Sache wichtiger, Gabriel: Vielleicht kennen Sie den Comic sung, dass »die richtige Haltung« jetzt das
als durch Unklarheit Zustimmung zu be- »Isnogud«, bei dem ein verschlagener Wichtigste sei. Heute sehen wir, dass die
kommen. Da habe ich ganz oft unter- Großwesir immer versucht, »Kalif anstelle »Haltung« allein noch keine Politik ist.
schätzt, dass die Art, wie ich in die Sache des Kalifen« zu werden. Aber dieser SPIEGEL: Sie wurden 2015 noch einmal
einsteige, auch viele Menschen verletzt. Drang, niemanden neben sich zu dulden, Parteivorsitzender, verzichteten dann aber
SPIEGEL: Das war Ihnen nicht bewusst? ist wirklich verheerend. Brandt, Wehner 2017 auf die Kanzlerkandidatur.
Die Partei sprach schon lange darüber … und Schmidt haben sich weiß Gott nicht Gabriel: Die Sehnsucht nach einem neuen
Gabriel: Ich erinnere mich an Gespräche gemocht, aber sie wussten: Erfolgreich sind Hoffnungsträger war mit Händen zu grei-
mit Hannelore Kraft, in denen sie mir sag- wir nur gemeinsam. Ein großer Teil des fen. Da habe ich gedacht, ich sei es meiner
te: Du hast ja recht, aber geht’s nicht einen aktuellen Erfolgs der Grünen hat damit zu Partei schuldig, diesem Willen nachzuge-
Gang niedriger? Es spricht viel dafür, dass tun, dass sie genau das mit ihrer gemein- ben und meine eigenen Ambitionen auf-
ich weit öfter hätte auf sie hören sollen. samen Führung ausstrahlen. Bei ihnen gibt zugeben. Ich war ja auch der Überzeu-
SPIEGEL: Waren Sie am Ende erleichtert? es derzeit diesen krassen Widerspruch zwi- gung, dass Martin Schulz bessere Chancen
Gabriel: Als ich nach fast acht Jahren als schen den öffentlich bekundeten Werten habe als ich.
Parteivorsitzender mein Amt an Martin des menschlichen Miteinanders und dem SPIEGEL: Ihnen fehlte das Zutrauen. Sie
Schulz übergab, fiel mir ein kleines Ge- innerparteilichen Umgang nicht. haben es nie getestet.
birge von der Seele. Es war inzwischen SPIEGEL: Sie schreiben, Sie hätten den Par- Gabriel: Sie reden genau wie Angela Mer-
einfach eine ganz ungesunde Atmosphäre. teivorsitz 2015 abgeben sollen. Warum? kel. Die wirft mir das auch immer vor. Sie
Sie wissen doch, wie in Berlin Politik Gabriel: Es gab schon hinreichend Kon- meint, es sei mein einziger Fehler gewesen,
gemacht wird. Politik kann das Beste flikte zwischen mir und denen in der SPD, nicht kandidiert zu haben. Sie glaubt, so-
und das Schlechteste im Menschen mobi- die die Große Koalition von Anfang an wohl die SPD als auch die CDU hätten
lisieren: großartiges Engagement, Ideen- partout nicht wollten. Wir hatten uns ein- dann ein besseres Ergebnis gehabt. Aber
reichtum, Leidenschaft, aber eben auch fach wund gerieben. Und dann kam noch damals hat die SPD kurz hintereinander
Ausgrenzungen, Boshaftigkeiten und die Flüchtlingsfrage. Natürlich war auch drei Landtagswahlen verloren. Spätestens
Falschheit, um selbst einen Zuwachs an ich für offene Grenzen, aber mir war da- nach der Niederlage in NRW hätten meine
Einfluss oder Macht zu gewinnen. Manch- mals schnell klar, mit welchen inneren innerparteilichen Gegner auch öffentlich

39
zum Angriff geblasen. In den Berliner Hin- Politik. Wir brauchen Leute, die es sich leis-
terzimmern hatten sie das ja schon getan. ten können, Nein zu sagen, weil sie im Zwei-
SPIEGEL: Sie wären vom Hof gejagt wor- fel ohne die Politik klarkommen.« Alles,
den wie Kurt Beck? was ich Kevin Kühnert sagen würde, hört
Gabriel: Garantiert. Das wollte ich mir sich irgendwie altväterlich an, und er wird
und der SPD ersparen. sich das verbitten. Aber hoffentlich hat er
SPIEGEL: Haben Sie Schulz überschätzt? Freunde, die ihm denselben Rat geben, den
Gabriel: Nein, aber ich habe etwas falsch ich damals bekam. Er könnte ja jederzeit
eingeschätzt. Wir alle waren damals der wiederkommen, wenn er sein Studium be-
Überzeugung, dass Schulz im Wahlkampf endet und ein paar Jahre gearbeitet hat.
nicht die Europakarte spielen sollte. Weil SPIEGEL: Jetzt erklären Sie sich doch nur
wir Angst hatten, die CDU würde ihn als selbst zum großen Vorbild.
Europafuzzi diffamieren. Wir haben Mar- Gabriel: Nein, denn früher hätte man so
tin Schulz seiner größten Stärke beraubt, etwas in der SPD nicht erklären müssen.
ihm die Glaubwürdigkeit genommen. Eine Partei der Arbeit sollte nicht von je-
Rückblickend eine wirklich große strate- mandem geführt werden, der in seinem
gische Fehlleistung. Berufsleben noch nicht angekommen ist.
SPIEGEL: Nach der Bundestagswahl 2017 Und besonders frei macht es in einer Par-
kam es zum Streit mit Ihrem langjährigen tei, wenn man zeigt, dass man einen Wahl-

DANIEL HOFER
Freund. Schulz wollte sich Ihren Job als kreis erobern kann, statt immer nur auf
Außenminister nehmen. Sind solche Mo- einen Listenplatz zu schielen.
mente in der Politik unvermeidbar? SPIEGEL: Kann die SPD mit Saskia Esken
Gabriel: Jeder, auch Martin Schulz und Jungsozialist Kühnert und Norbert Walter-Borjans wieder erfolg-
ich, wünscht sich sehr, dass man so etwas »Ein wirklich großes Talent« reicher werden?
vermeiden kann. Wir hätten beide klüger Gabriel: Wenn sie sich die Orientierung
sein können. Waren wir aber nicht. Viel eine Ausrede dafür hatten, warum sie nicht der Hamburger SPD zum Vorbild nehmen,
wichtiger war uns aber, dass wir uns aus- kandieren wollen. Fast so, als wäre der ja. Also keine Verengung auf die Sozial-
sprechen und Freunde geblieben sind. Das SPD-Vorsitz ein infiziertes Bettlaken. Man politik, sondern den Anspruch erheben,
gelingt selten in der Politik. kann ja Olaf Scholz fast dankbar sein, dass wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer und
SPIEGEL: Wer war denn wirklich schuld er schließlich den Mut hatte zu kandidieren. innerer Sicherheit und ökologischer Nach-
daran, dass Sie damals nicht Außenminis- Unfassbar fand ich, dass dann die gesamte haltigkeit zu verbinden.
ter bleiben durften? Schulz oder Olaf SPD-Führung nicht für den Verbleib in der SPIEGEL: Was qualifiziert Sie eigentlich
Scholz oder Andrea Nahles? Regierung und für den Kandidaten Scholz zum Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank?
Gabriel: Das war der Wille von Olaf gekämpft hat. Die Einzigen, die gekämpft Da muss man doch Bilanzen lesen können.
Scholz und Andrea Nahles. Die beiden wa- haben, waren die Jungsozialisten. Gabriel: Nicht nur das, sondern noch einiges
ren ja in Wahrheit die erste SPD-Doppel- SPIEGEL: Was sagt es über die SPD, dass mehr. Jedenfalls habe ich das in Erinnerung,
spitze. Parteivorsitzende dürfen so etwas der Juso-Chef einen solchen Einfluss hat, wenn ich an meine achtjährige Mitglied-
entscheiden. Beide haben meine Ausgren- dass er Kurs und Führung der Partei ent- schaft im Verwaltungsrat der KfW-Bank zu-
zung damals gewollt, um einen möglichen scheidend mitbestimmt? rückdenke, bei der ich immerhin fast vier
Konkurrenten von Anfang an loszuwer- Gabriel: Kevin Kühnert ist ohne Frage ein Jahre lang einer der Vorsitzenden war.
den. Ob solche Ausgrenzungsstrategien wirklich großes Talent. Er macht das hoch SPIEGEL: Sie haben die Banken in der Fi-
immer klug und im Interesse der ganzen professionell. Ob man ihn, der selbst mit nanzkrise für ihr asoziales Verhalten kriti-
Partei sind, ist eine andere Frage. 30 weder eine Berufsausbildung noch ein siert. Wie passt das dazu, dass Sie sich jetzt
SPIEGEL: Nach Ihrem Rückzug ist die SPD Studium abgeschlossen hat, gleich in Füh- von einer gut bezahlen lassen?
weiter abgesackt. Sie sprechen von »kol- rungsfunktionen einer Partei bringen soll- Gabriel: Die Kritik war nun wirklich be-
lektivem Führungsversagen«. Wer hat wie te, ist allerdings eine andere Frage. rechtigt. Aber nicht nur die staatliche Auf-
versagt? SPIEGEL: Warum eigentlich nicht? sicht ist weit besser geworden, sondern die
Gabriel: Die Verantwortung Einzelnen zu- Gabriel: Ich stand mal vor einer ähnlichen Deutsche Bank selbst auch. Ob die Bezah-
zuschieben ist unsinnig. Die Frage ist doch, Situation und wollte mein Studium abbre- lung als Aufsichtsrat der Deutschen Bank
warum alle in Richtung Abgrund laufen, chen. Zwei in meiner Heimatstadt populäre »gut« ist, darüber kann man unterschied-
obwohl die Stoppschilder unübersehbar Sozialdemokraten warnten mich dringend. licher Meinung sein. Ich hatte ja auch das
sind. In der SPD hat eine fatale themati- Ihr Argument war: »Wir brauchen in der Angebot, Präsident des Verbandes der Au-
sche Verengung auf die Sozialpolitik statt- SPD keine Leute, die abhängig sind von der tomobilindustrie zu werden. Dort wäre
gefunden. Weil es das einzige Feld ist, auf das Gehalt um ein Vielfaches größer. Das
dem sie sich noch sicher fühlt. Wir geben habe ich abgelehnt, weil ich nicht zum Lob-
immer mehr Milliarden aus, aber unsere byisten werden wollte, der an die Türen
Wahlergebnisse werden trotzdem immer im Regierungsviertel klopft, hinter denen
schlechter. Man kann die Wähler eben er selbst gesessen hat. Zugegeben bin ich
nicht kaufen. Sie wollen heute vor allem etwas stolz darauf, dass mir mein Über-
SONJA OCH / DER SPIEGEL

Orientierung nach innen und nach außen. gang in ein anderes Berufsleben allein ge-
SPIEGEL: Was haben Sie vom Mitglieder- lungen ist. Ich wollte nie einen Versor-
entscheid über den Parteivorsitz gehalten? gungsjob, den ich durch die Gnade eines
Gabriel: Am Anfang war es ganz schlimm, SPD-Regierungsmitglieds erhalte. Man
als alle Mitglieder der SPD-Führung irgend- muss es selbst schaffen. Das macht frei.
SPIEGEL: Herr Gabriel, wir danken Ihnen
* Markus Feldenkirchen und Christiane Hoffmann in Gabriel, SPIEGEL-Redakteure* für dieses Gespräch.
Gabriels Haus in Goslar. »Ich wollte nie einen Versorgungsjob«

40 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Gute Ernährung
ist einfach
Gesundes Essen und Fasten stärken
Darm, Immunsystem und Psyche.
Wie gute Ernährung im Alltag ganz Jetzt
einfach gelingt. im Handel
MICHAEL KOHLS / DER SPIEGEL
Schießstand Garlstorf: »Wer eine solche Tat vorbereitet, der findet auch eine Waffe«

Massive Front
Sicherheit Nach Attentaten und Amokläufen fordern Politiker schärfere Waffengesetze. Doch eine
mächtige Lobby sorgt dafür, dass Killer und Terroristen ganz legal an Waffen kommen können.

E
s war Johannes Rau, der als Bun- ter besaßen ihre Pistolen ganz legal. Denn Söder, assistiert: »Der Rechtsstaat wird
despräsident erschüttert auf Erfurt sowohl Steinhäuser als auch Rathjen wa- sich solcher Gewalt mit aller Härte und
schaute. Er könne »nicht in Worte ren Mitglieder in Schützenvereinen. Die Entschiedenheit entgegenstellen.« Doch
fassen, was wir in Deutschland jetzt Männer galten als derart vertrauenswür- dass nach den markigen Worten Taten fol-
empfinden«, sagte der SPD-Politiker. Der dig, dass sie Waffen besitzen durften, die gen, ist wieder nicht zu erwarten.
Schüler Robert Steinhäuser hatte 2002 im auch Spezialeinheiten der Polizei führen. Seit Jahrzehnten arbeitet der Gesetzge-
Gutenberg-Gymnasium 16 Menschen er- Bei Bluttaten wie in Erfurt, Bad Rei- ber am Waffenrecht. Die jüngste Novelle
schossen und ein ganzes Land erschüttert. chenhall, Winnenden, Rot am See, Halle tritt im September in Kraft. Wirklich harte
18 Jahre später steht Bundespräsident oder Hanau folgen den einfühlsamen Wor- Einschnitte aber konnte die starke Schüt-
Frank-Walter Steinmeier (SPD) nicht we- ten immer flammende Aufrufe, das Waf- zenlobby verhindern. Das war so – und
niger ergriffen in Hessen. »Was geschehen fenrecht zu verschärfen. Nach dem Mas- wird wohl so bleiben. Bis erneut ein Bun-
ist, was hier in Hanau geschehen ist, macht senmord in Erfurt bescheinigte sich Bun- despräsident traurig ist.
uns fassungslos. Es macht uns traurig. Es desinnenminister Otto Schily (SPD) eine Ein Eingriff in das Waffenrecht ist in
macht uns auch zornig.« »mustergültige Gesetzgebungsarbeit« im Deutschland immer auch ein Angriff auf
In Hanau hatte der 43-jährige Rassist Waffenrecht. Sie sollte künftige Amok- eine gut organisierte Gruppe. Es gibt mehr
Tobias Rathjen zehn Menschen hingerich- läufe verhindern, was sie nicht konnte, wie als 14 000 Schützenvereine. Der Deutsche
tet, anschließend erschoss er sich selbst. man heute weiß. Schützenbund zählt gut 1,3 Millionen Mit-
Zwei Taten, so monströs wie sinnlos. Jetzt erwägt Bundesinnenminister glieder – mehr als CDU, CSU und SPD
Morde, die auch deshalb nicht nur Stein- Horst Seehofer (CSU) eine weitere Ver- zusammen. Geht es ihnen an die Waffen,
meier zornig machen, weil sie eine beun- schärfung der Regeln. Sein Parteifreund, formiert sich heftige Gegenwehr. Seit 2015
ruhigende Gemeinsamkeit haben. Die Tä- der bayerische Ministerpräsident Markus listet die Unesco das deutsche Schützen-

42 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Deutschland

wesen sogar als immaterielles Kulturerbe. Markus H. häufig aktiv. Gut fünfmal, so ses beantragt und ohne Probleme bekom-
Es sei ein »wichtiger, historisch gewachse- stellte der Verein in den Anwesenheitslis- men. Im April 2014 ließ er sich eine Pistole
ner und lebendiger Teil der regionalen wie ten fest, hatte H. wohl seinen Kumpel Ernst eintragen, eine Sig Sauer 226, Kaliber 9
lokalen Identität«. Es gehe um Brauchtum zum Schießen mitgebracht. Womöglich Millimeter Luger. Mit dieser Waffe er-
und Tradition, heißt es. habe Ernst noch häufiger im Verein trai- schoss er sich schließlich nach seinem At-
Es stellt sich allerdings die Frage, ob niert, sagt der Vorstand der Schützenge- tentat. 2018 hatte Rathjen noch eine Klein-
man zur Pflege von Brauchtum und Tra- sellschaft. Es könne sein, dass er sich teils kaliberpistole gekauft, Marke Walther
dition tatsächlich halbautomatische Waf- unter falschem Namen eingetragen habe. PPQ M2, Kaliber .22.
fen braucht, die in kürzester Zeit Dutzen- Erstaunlich ist, dass der Wenige Wochen vor sei-

5,4 Mio.
de Menschen töten können und die es na- Ernst-Vertraute – der im nem Anschlag, es war der
türlich in der angeblich guten alten Zeit Lübcke-Mord als Beschul- 7. Februar, lieh sich Rathjen
gar nicht gab. Im Brockhaus von 1886 digter gilt – seit 2016 legal zudem legal bei einem Waf-
steht unter dem Stichwort »Schützenge- Schusswaffen kaufen und fenhändler in Hanau eine
sellschaften«, diese seien »der letzte Rest besitzen konnte, obwohl Waffen und Waffenteile Pistole vom Typ Ceska 75
wie Schalldämpfer
jener einst dem deutschen Bürger zuste- seine rechtsextreme Gesin- Shadow, Kaliber 9 Millime-
sind im Nationalen
henden allgemeinen Waffenfähigkeit«. Da- nung den Behörden seit Waffenregister erfasst. ter. Der Waffenhändler sag-
mals, als es keine funktionierende Polizei Jahren bekannt war. te dem SPIEGEL, er habe da-
gab, ging es um die Abwehr konkreter Ge-
fahren für jedermann.
Und heute? 5,4 Millionen Waffen befin-
H. hatte seit 2007 ver-
sucht, eine Waffenbesitz-
erlaubnis zu bekommen.
950000 mals keinen Grund gesehen,
dem späteren Massenmör-
der die Pistole nicht zu
den sich in Deutschland in Privatbesitz. Die Kasseler Ordnungs- Waffen- oder Waffenteilbesitzer geben. Rathjen sei »seriös
Zehn davon gehören dem Hamburger IT- behörde lehnte wegen sei- waren Ende 2019 im Nationalen gekleidet« gewesen, habe
Berater Matthias Uhlig. Auf einem Schieß- ner rechten Umtriebe ab. Waffenregister gemeldet. »völlig normal« gewirkt und
stand im niedersächsischen Garlstorf legt 2012 unternahm er einen Quelle: Bundesverwaltungsamt keinerlei verdächtige Bemer-
Stand: 31. Dezember 2019
er für gewöhnlich an. Auch an einem Mitt- neuen Versuch und scheiter- kungen gemacht. Auch die
wochnachmittag der vergangenen Woche. te wieder. H. klagte – und Papiere seien in Ordnung ge-
Neben ihm trainieren Jäger, Polizeibeamte gewann. Im März 2015 befand das Verwal- wesen. Die Ceska entdeckten Kriminal-
und Sportschützen. Uhlig richtet eine tungsgericht, die Behörde müsse eine Waf- beamte später in Rathjens Auto, zusammen
Pistole, Kaliber 9 Millimeter, auf eine Ziel- fenbesitzkarte ausstellen. Das Gericht mit Magazinen und Munition. In der Woh-
scheibe. »Für mich ist die Waffe ein Sport- habe zwar keinen Zweifel daran, dass er nung fanden die Beamten der Spurensiche-
gerät«, sagt der 59-Jährige. Der Mann sich bis 2009 im rechtsextremen Umfeld rung insgesamt 346 Patronen. An den Tat-
besitzt sechs Pistolen und vier Revolver. bewegt habe. Aber die Vorfälle lägen in- orten sammelten sie 52 Hülsen auf – so oft
Außerdem Gewehre. Er ist auch Jäger. zwischen mehr als fünf Jahre zurück. hatte der Täter mindestens abgedrückt.
»Schießen ist ein Sport wie jeder andere 2016 erhielt H. die Papiere, die ihn zum Hätte die Waffenbehörde die Chance ge-
auch«, sagt Uhlig. Denkt er an Hanau? legalen Waffenbesitzer machten. habt, Rathjen die Waffen zu verweigern oder
»Es ist entsetzlich, was da passiert ist, egal Auch der Attentäter von Hanau gehörte zu entziehen? Nein, sagt Verwaltungsspre-
ob es ein Sportschütze war oder ob er sich Schützenvereinen an, unter anderem dem cher Mewes: »Wir haben das jetzt noch ein-
die Waffe illegal besorgt hat.« in Bergen-Enkheim, Mitgliedsnummer mal alles eingehend geprüft. Aber wir haben
Neben ihm steht Rainer Wilhelm, eben- 698. Rathjen hatte als Sportschütze seine nichts gefunden, was wir versäumt hätten.«
falls Jäger und Sportschütze, der über ein Erlaubnis zum Waffenbesitz 2013 bei der Vor einem guten halben Jahr, im August
ähnliches Arsenal an Kurz- und Langwaf- Ordnungsbehörde des Main-Kinzig-Krei- 2019, ordnete der Landkreis noch eine rou-
fen verfügt: »Wenn so etwas in der Zeitung
steht, denken wieder alle, wir horten Waf-
fen, geben damit an und erschießen dann
Leute«, sagt Wilhelm.
»Wir machen alles mit, was wirklich der
Sicherheit dient«, so Uhlig. Doch vieles
sei Aktionismus. »Wer eine solche Tat vor-
bereitet, der findet eine Waffe, auch wenn
er keine legale hat«, sagt Uhlig. Dann baue
er sich eine mit einem 3-D-Drucker, neh-
me ein Messer oder ein Auto, um zu töten.
Immer wieder verweisen Freizeitschützen
auch darauf, dass mit legalen Waffen viel
weniger Straftaten begangen würden als
mit illegalen.
Die Argumente sind bekannt, doch zei-
gen die Taten der vergangenen Zeit, dass
sich unter Sportschützen manchmal auch
MICHAEL KOHLS / DER SPIEGEL

gefährliche Radikale tummeln. Im Juni


2019 wurde in Hessen der CDU-Politiker
Walter Lübcke erschossen. Der mutmaß-
liche Täter Stephan Ernst soll mit dem
Rechtsextremisten und Sportschützen
Markus H. trainiert haben.
Auf dem Schießstand der Schützenge-
sellschaft zu Grebenstein bei Kassel war Schützen Uhlig, Wilhelm: »Ein Sport wie jeder andere auch«

43
Wegen mangelnder Zuverlässigkeit habe
man ihm die Erlaubnis entzogen. »Wenn
es Hinweise auf psychische Auffälligkeiten
gibt, verpflichten wir den Waffenbesitzer,
ein fachärztliches Gutachten einzuholen.«
Die Frage ist bloß, ob Mitarbeiter der
Waffenbehörden tatsächlich während ihrer
kurzen Hausbesuche alle paar Jahre ne-
benbei noch psychische Erkrankungen er-
kennen können?
In Brüssel gab es daher Versuche, eine
generelle psychische Überprüfung im Waf-
fengesetz zu verankern. Schließlich regu-
liert die EU so ziemlich alles, von Glüh-
birnen bis zu Gefrierschränken. Schon im

STEFFEN ROTH / DER SPIEGEL


Mai 2008 hatte die EU eine Verschärfung
der Waffenrichtlinie angekündigt, doch es
geschah nichts. Bis Islamisten 2015 in Paris
130 Menschen erschossen.
Nur fünf Tage später entschieden die
EU-Staaten, die Regeln zu verschärfen.
Waffenlobbyistin Triebel: Flut an Protestmails Doch der Schwung verflog. Im Frühjahr
2017 einigte man sich auf eine Neufassung,
die einige Regeln straffte, allerdings auch
tinemäßige Überprüfung Rathjens an. zeige an die Bundesanwaltschaft, aus der viele Lücken ließ – nicht zuletzt wegen
Aber das war ein reiner Verwaltungsvor- seine kruden Verschwörungstheorien deut- der teils aggressiven Gegenwehr der Waf-
gang: Abfrage des Bundeszentralregisters, lich hervorgingen. Zudem versuchte er, fenträger. In sozialen Medien machten
der Staatsanwaltschaft und der örtlichen Kontakt zu Angela Merkel aufzunehmen. Lobbyisten massiv Front. Beamte der EU-
Polizeibehörde, ob etwas gegen Rathjen Doch niemand prüfte, ob der Mann Waf- Kommission berichteten von Drohungen
vorliege. Als dies nicht der Fall war, mach- fen besaß. Die Bundesanwaltschaft sagt, mit Gewalt.
te die Behörde einen Haken dran: Er durf- sie dürfe so etwas nur im Rahmen eines Die Waffenlobby hatte Erfolg: Jäger
te seine Waffen behalten. Strafverfahrens abfragen. Aber es sei kein und Sportschützen dürfen sich – sofern in
»Viele Bürger glauben, wir befragten Verfahren eingeleitet worden. den einzelnen EU-Staaten keine strenge-
die Antragsteller ganz gezielt oder unter- Die Schützen sehen den Staat in der ren Regeln gelten – auch weiterhin halb-
suchten sie sogar psychologisch«, sagt Me- Pflicht, nicht sich selbst. »Bei einem sol- automatische Pistolen und Gewehre
wes. Die Rechtslage sei leider eine andere: chen Schreiben müssen doch alle Warn- zulegen, die Massenmorde einfacher ma-
Wer die Karte beantrage, müsse nach gel- lampen angehen. Das ist einfach irre, chen, weil nicht nach jedem Schuss nach-
tendem Waffenrecht noch nicht einmal was da abgegangen ist«, sagt BDS-Chef geladen werden muss. Nicht einmal mit
persönlich vorsprechen. Bei über 25-Jäh- Gepperth. der Forderung nach einer Begrenzung der
rigen reiche es, einen Sachkundenachweis Doch was sich in der Theorie so leicht Magazinkapazitäten konnte sich Brüssel
und eine Bescheinigung des örtlichen sagt, ist in der Praxis längst nicht so durchsetzen. War ursprünglich von ma-
Schützenvereins einzuschicken und ein leicht. Volker Trunt ist ximal 6 Schuss die Rede,
ausgefülltes Formular dazuzulegen: Name, Chef der Waffenbehörde dürfen Pistolen nun weiter-
Anschrift und ein Kreuz bei »keine« auf im Landkreis Osnabrück.
Verstöße gegen das hin Magazine mit bis zu
die Frage, ob körperliche oder geistige Sechs Mitarbeiter auf drei Waffengesetz 20 Schuss, Gewehre mit
Mängel vorliegen. Stellen kümmern sich um in Deutschland 10 Schuss haben. So wird
Selbst wenn die Behörden einen Antrag- die 3100 Waffenbesitzer in 40104 es künftig auch in Deutsch-
steller als Radikalen kennen, kann es vor- der Region. land sein. Standardisierte
kommen, dass der Staat ihm eine Erlaub- Wer eine Waffe hat, 30 004 Psychotests, die Tobias
nis zum Waffenbesitz erteilt. Eine Anfrage muss sie in einem Stahl- Rathjen womöglich ge-
der Grünen im Bundestag ergab vergan- schrank wegschließen. Drit- stoppt hätten, standen
genes Jahr, dass 750 Rechtsextremisten te dürfen keinen Zugang ha- zwar im Entwurf der Richt-
Waffenbesitzkarten haben – und rund ben. Im Schnitt an zwei Ta- linie, flogen am Ende aber
500 Reichsbürger. Allesamt müssen sie gen im Monat sind Trunts wieder raus.
sich regelmäßig in Schützenvereinen tum- Leute unterwegs – sie ma- 2015 2018 Trotz ihres Erfolgs in
Quelle: Polizeiliche Kriminalstatistik
meln, wollen sie ihre Waffen nicht verlie- chen unangemeldete Kon- Brüssel kämpfen die Waf-
ren. »Ich bin dafür, dass die ihre Zuverläs- trollen. Etwa 10 bis 15 Pro- fenlobbyisten immer weiter.
sigkeitsbescheinigungen sofort verlieren«, zent der Waffenbesitzer in der Region Die Waffenhändlerin Katja Triebel weiß,
sagt Friedrich Gepperth, Präsident des werden pro Jahr überprüft. Umgekehrt wie man »den Politikern Beine macht«,
Bundes Deutscher Sportschützen (BDS). heißt das aber auch: Im Schnitt bekommt sie hat es oft genug getan. Erst vor wenigen
Da der Hanau-Attentäter Rathjen offen- jeder Waffenbesitzer nur einmal in sechs Monaten wieder, als sie sich über Horst
bar auch psychisch krank war, sehen die bis sieben Jahren Besuch von der Auf- Seehofer ärgerte. Der Innenminister hatte
Schützen eine Mitverantwortung für die sichtsbehörde. nach dem Terroranschlag von Halle auf ei-
Tat bei den Behörden. Rathjen hatte seine Um Problemfälle zu entdecken, sind ner Pressekonferenz am 30. Oktober eine
wirren Ansichten schon vor Jahren der Trunts Leute auf Hinweise angewiesen. Er geplante Verschärfung des Waffenrechts
Polizei bekannt gemacht. Und er schickte berichtet von einem Jäger, der im Streit verteidigt. Triebel hält davon gar nichts.
einige Wochen vor der Tat eine Strafan- mit seinem Waffenarsenal gedroht habe. Sie ist Inhaberin eines Waffengeschäfts in

44 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Deutschland

Berlin-Spandau, Mitglied der German


Rifle Association, Gründerin der Face-
Flexibel bleiben.
book-Gruppe »Waffenlobby« und selbst
ernannte »Bürgerrechtsaktivistin«. Also
Lesen Sie den SPIEGEL,
entwarf die 55-Jährige eine Postkarte an
das Bundesinnenministerium (BMI) und
die Fachpolitiker der Großen Koalition.
solange Sie möchten.
Eine schwarz-rot-golden bemalte Hand, Frei Haus.
die zwei Waffen abdeckt, darauf der
Spruch: »BMI trifft die falschen Ziele. Sag
Der SPIEGEL jede Woche direkt nach Hause
Nein zur Waffenrechtsänderung!« 4 % sparen.
Ihr Aufruf verbreitete sich schnell in den Für nur € 5,10 pro Ausgabe statt € 5,30 im Einzelkauf
sozialen Medien, tausendfach, wie sie sagt.
Massenhaft gingen im Bundestag Schrei- Ohne Risiko.
ben ein, einige Politiker befürchteten, die Jederzeit kündbar, Urlaubsservice möglich
Flut an Protestmails könnte ihre Server in
Vergünstigte Tickets.
die Knie zwingen.
Lobbypublikationen zielten auf die Für ausgewählte SPIEGEL-Veranstaltungen
Union, die sich lange Zeit als Partei des auf www.spiegel-live.de
Brauchtums inszeniert hatte. Der Gesetz-
entwurf aber zeige: »Die ›Schwarzen‹ sind
für Schützen nicht mehr von den totalitär
agierenden ›Grünen‹ unterscheidbar.« In-
nenminister Seehofer sei ein »Wendehals«,
hieß im «Deutschen Waffen Journal«.
Die Kampagne der Waffenlobby hatte Einfach jetzt anfordern:
in Teilen Erfolg: Ende vergangenen Jah-
res verständigte sich die Große Koalition
darauf, die geplante Verschärfung des
abo.spiegel.de/flexibel
Waffengesetzes abzuschwächen. Inzwi- oder telefonisch unter 040 3007-2700
schen, nach Hanau, sagt Triebel, sie sei
(Bitte Aktionsnummer angeben: SP-FLEX)
weiterhin gegen jede Verschärfung des
Rechts, fände aber einen runden Tisch
mit »Kriminologen, Psychologen und Keine
Risikoforschern« gut. Mindest-
Sebastian Fiedler, Chef des Bundes
Deutscher Kriminalbeamter, ärgert sich laufzeit
über den Einfluss der Waffenlobby. Statt
um Sicherheit sei es in der Debatte vor al-
lem um die vermeintlichen Bedürfnisse
von Schützen und Jägern gegangen.
Fiedler plädiert für einen professionel-
leren Umgang mit Schreiben psychisch
auffälliger Menschen. Bisher gebe es in
den Behörden keinen Mechanismus dafür.
»Hier klafft eine offenkundige Lücke«,
sagt Fiedler. Denkbar sei, »bei psychisch
auffälligen Petenten« eine Information an
das Bundesverwaltungsamt zu senden.
Dort wird das Nationale Waffenregister
geführt.
Jetzt, unter dem Eindruck von Hanau,
könnten Politiker das allgemeine Entset-
zen nutzen, um über die Lobby hinweg
Änderungen im Waffenrecht durchzuset-
zen. Das Zeitfenster ist klein, das Verges-
sen setzt schnell ein.
Am 4. März gibt es in Hanau eine Trauer-
feier für die Opfer des Attentats. Bundes-
präsident Steinmeier wird da wahrschein-
lich einfühlsame Worte finden.
Matthias Bartsch, Markus Becker,
Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl, Hubert Gude,
Martin Knobbe, Ansgar Siemens,
Andreas Ulrich, Wolf Wiedmann-Schmidt,
Steffen Winter

45
Deutschland

Knapp am
Nun prüfen die Beamten, ob es weitere schossen worden. Zuvor war er im Netz
Indizien für eine Tatbeteiligung Ernsts gibt. mit Hassbotschaften und Todesdrohun-
»Unser Mandant weist diese Vorwürfe em- gen überschüttet worden, weil er sich für

Kopf vorbei
pört zurück«, erklärte Ernsts Verteidiger, die Aufnahme von Flüchtlingen einge-
der Dresdner Rechtsanwalt und Kommu- setzt hatte.
nalpolitiker Frank Hannig. Er habe keine Der heute 46-jährige Ernst war 13 Tage
Kenntnis von dem Ermittlungsverfahren nach der Tat festgenommen worden und
Rechtsterrorismus Gegen Stephan und habe den Generalbundesanwalt auf- hatte ein Geständnis abgelegt. Mittlerweile
Ernst, den mutmaßlichen gefordert, ihn zu informieren. Sein Man- hat er es widerrufen und Markus H. des
dant sei »betrübt«, so Hannig, dass nun tödlichen Schusses beschuldigt, einen lang-
Mörder Walter Lübckes, wird in »jede Tat, die auf irgendeine Art und Weise jährigen Freund aus der rechtsextremen
einem weiteren Fall ermittelt. mit einem rechten, rechtsradikalen oder Szene. An der Tatwaffe wurden allerdings
Der Vorwurf: versuchter Mord. politischen Zusammenhang betrachtet nur Ernsts DNA-Spuren gefunden.
werden könnte, ihm in die Schuhe gescho- Ernst hatte die Ermittler mit seiner
ben werden soll«. Aussage zu einem Waffenversteck auf

D er Kasseler Geschichtslehrer S. hielt


sich in seiner Küche auf, an einem
frühen Donnerstagmorgen im Fe-
bruar 2003, als er einen Knall hörte. Er
Die Ermittlungen dauern an. Bislang
sind nach Informationen von SPIEGEL
und NDR aber keine weiteren bedeutsa-
men Verdachtsmomente dazugekommen.
dem Werksgelände seines Arbeitgebers
geführt. Unter Holzlatten und Erde lagen,
das geht aus Ermittlungsakten hervor,
blaue Müllsäcke. Darin fanden die Er-
spürte den Luftzug eines Geschosses, das Es läuft also ein weiteres Verfahren ge- mittler einen Revolver, eine weitere Kurz-
an seinem Kopf vorbeiflog, so schilderte gen Stephan Ernst, der nicht nur des Mor- waffe, eine Pumpgun, eine Maschinen-
er es später gegenüber einer Zeitung. Das des an Walter Lübcke verdächtigt wird, pistole und eine weitere Langwaffe. Bei
Projektil durchschlug die Fensterscheibe sondern auch des Mordversuchs an einem Ernst entdeckten sie nach Informationen
und ein Kunststoffrollo und bohrte sich in irakischen Asylbewerber, der 2016 von des SPIEGEL und des NDR zudem fünf
ein Küchenregal. Es verfehlte den damals hinten mit einem Messer attackiert und Schalldämpfer, ein Zielfernrohr sowie
48-Jährigen nur knapp. S. engagierte sich schwer verletzt worden war. Auch diesen 1394 Schuss Munition.
zu dieser Zeit gegen Rechtsextremismus, Vorwurf hat Ernst über seinen Anwalt Zudem konnten die Ermittler eine so-
er tut es bis heute. Er habe »den starken dementieren lassen. Bereits in den Acht- genannte Dashcam sicherstellen, eine klei-
Verdacht, dass es eine politisch motivierte ziger- und Neunzigerjahren war Ernst ne Kamera, die etwa an der Windschutz-
Tat« sei, sagte er damals. durch ausländerfeindliche Übergriffe auf- scheibe im Auto angebracht werden kann.
Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft gefallen; er ist mehrfach vorbestraft. Darauf sind Aufnahmen von Haus und
Kassel zu diesem Fall wurden ohne Ergeb- Der CDU-Politiker Lübcke war im Juni Auto des Mordopfers Lübcke gespeichert.
nis zu den Akten gelegt. Doch eine neue vergangenen Jahres auf der Veranda sei- Die Videos wurden gut zwei Jahre vor
Spur führt zu dem Neonazi Stephan Ernst, nes Hauses aus unmittelbarer Nähe er- der Tat aufgenommen – aus Ernsts Auto
dem mutmaßlichen Mörder des Kasseler heraus, einem VW Caddy.
Regierungspräsidenten Walter Lübcke. Weiterhin ungeklärt ist derweil die Fra-
Der Generalbundesanwalt hat daher im ge, wie die Mordwaffe in die Hände des
vergangenen November gegen Stephan Täters gelangte. Die Ermittler konnten
Ernst ein neues Verfahren wegen des Ver- den in Brasilien produzierten Revolver
dachts des versuchten Mordes eingeleitet. der Marke Rossi auf ein schweizerisches
Die Bundesanwaltschaft bestätigte auf An- Unternehmen zurückverfolgen, das mit
frage von SPIEGEL und NDR die Existenz Waffen handelte und heute nicht mehr
des Verfahrens, wollte sich zu Details aber besteht. 1987 hatte die Firma den Revolver
nicht äußern. importiert und anschließend laut Ermitt-
Eine Kasseler Staatsanwältin hatte den lungsakten an einen Schweizer verkauft.
Generalbundesanwalt auf den 16 Jahre Mitarbeiter des hessischen Landeskri-
alten Fall hingewiesen und gefragt, ob es minalamts haben den heutigen Rentner
eine Verbindung zu Ernst geben könnte. ausfindig gemacht und sich am Telefon
Der Rechtsextremist wohnte offenbar nur nach der Waffe erkundigt. Er soll bestä-
rund zehn Fahrminuten von S. entfernt. tigt haben, dass er die Waffe gekauft habe
Die Karlsruher Ermittler werteten ver- und sie noch besitze. Auf Nachfrage sei
schlüsselte Dokumente aus, die sie auf er sie suchen gegangen – und habe sie zu
Ernsts Computer sichergestellt hatten. seiner angeblichen Überraschung dann
Und sie wurden fündig: Sie entdeckten doch nicht gefunden.
einen Ordner mit Informationen zu zahl- Seine Töchter, die nun offenbar in
reichen Personen und ein Dossier über Kontakt mit der deutschen Polizei stehen,
den Geschichtslehrer. konnten zwar noch die Originalverpa-
Darin waren gemäß den Ermittlungs- ckung der Pistole finden, die Waffe aber
akten Name, Adresse und ein Foto des nicht. Sie wiesen die Ermittler darauf hin,
Opfers sowie Angaben zu dessen Engage- dass ihr Vater an Demenz leide. Die Er-
ment gegen Rechtsextremismus enthalten. mittler behalten sich vor, den Schweizer
Das Dokument soll im Jahr vor dem An- trotzdem zu vernehmen.
ULI DECK / DPA

schlag auf S. erstellt worden sein. Die Die Anklage im Mordfall Lübcke wird
hessischen Behörden haben den Lehrer in den kommenden Wochen erwartet.
und die Personen aus Ernsts Dateien be- Rafael Buschmann, Nicola Naber,
nachrichtigt, dass der Rechtsextremist In- Tatverdächtiger Ernst Christoph Winterbach, Michael Wulzinger
formationen über sie gesammelt hat. Name, Adresse und ein Foto des Opfers

46
lern im Herbst. Und auch über »harte« Zie-
le wie die Grünenpolitiker Robert Habeck
und Anton Hofreiter. Er selbst gebe sich
nur radikal, um mitzubekommen, was die
Truppe plane, so der Hinweisgeber. Einem
Bekannten erzählte Huth, er wolle als Spit-
zel Anschläge verhindern. Förmlich als
Vertrauensperson verpflichtet, wie zuletzt
berichtet wurde, haben die Behörden ihn
aber nicht.
Huth hat eine problematische Biografie,
um es vorsichtig auszudrücken: Er verbrach-
te viele Jahre im Gefängnis und im psychia-
trischen Maßregelvollzug, unter anderem
weil er einen Polizisten als Geisel genom-
men hatte. Zuletzt bezog er Hartz IV und
lebte in einer Einrichtung für Ex-Häftlinge
in Süddeutschland. Die Glaubwürdigkeit ei-
nes solchen Mannes ist nicht sehr hoch.
Das wissen auch die Ermittler. In einem
Vermerk hielten sie fest, dass sich viele
seiner Angaben nachweislich als wahr er-
wiesen hätten. Es könne aber auch nicht
ausgeschlossen werden, dass er manches

ULI DECK / DPA


übertrieben darstelle und Dinge verschwei-
ge, die ihn in einem schlechten Licht er-
scheinen ließen. Gutachter hätten ihm in
der Vergangenheit attestiert, dass er sich
Verdächtiger auf dem Weg zum Haftrichter in Karlsruhe: »Ein regelrechtes Massaker« mitunter manipulativ verhalte, um Auf-
merksamkeit zu bekommen.
Was von dem, was Huth den Behörden

Der 13. Mann erzählt hat, stimmt also? Was ist womög-
lich aufgebauscht? Wie entschlossen war
die mutmaßliche Terrorgruppe um »Teu-
tonico«? Und trug der Hinweisgeber Huth
Justiz Fahnder konnten Rechtsextremisten stoppen, die Anschläge auf vielleicht zu deren Radikalisierung bei?
Muslime und Politiker geplant haben sollen. Hinweise auf Um sich nicht auf die Behauptungen ei-
die Gruppe lieferte ein Geiselnehmer, der lange hinter Gittern saß. nes Straftäters verlassen zu müssen, griffen
das baden-württembergische Landeskri-
minalamt und der Generalbundesanwalt

E s war ein guter Bekannter der Ermitt-


ler, der an einem Sonntagmorgen ge-
gen elf Uhr auf einem Polizeirevier
in Baden-Württemberg erschien. Er hatte
rein«, berichtete Huth, »und entfacht ein
regelrechtes Massaker«.
Der Mann, der die angeblichen An-
schlagspläne so detailreich schilderte, ist
bereits vor Monaten zu großem Besteck:
Telefone wurden überwacht, E-Mails ab-
gefangen, Chats mitgelesen, Verdächtige
observiert.
Beunruhigendes zu berichten, denn er für die Behörden ein höchst schwieriger Die Fahnder der Ermittlungsgruppe
kam gerade von einem Rechtsextremisten- Fall. Einerseits rechnen sie Huth zum Kern »Valenz« konnten live beobachten, wie
Treffen in Ostwestfalen. Die Beamten er- der mutmaßlichen Terrorzelle, der soge- sich Radikale aus unterschiedlichen Mi-
warteten ihn schon zur Vernehmung. nannten Gruppe S. In abgefangenen Chat- lieus zusammenfanden. Rechtsextremisten
Stundenlang hätten sie in einem Haus nachrichten wütete er gegen Schwarze und aus Bürgerwehren und selbst ernannten
in Minden zusammengesessen, um Terror- schrieb, dass Muslime für ihn »ins Lager« »Freikorps« waren unter ihnen. Dazu
pläne zu schmieden, berichtete Maxi- gehörten. Andererseits lieferte er den Er- Reichsbürger, die glauben, dass das Deut-
milian Huth* den Beamten. Man habe mittlern Hinweise, die zur Zerschlagung sche Reich nie aufgehört habe zu exis-
über Angriffe auf Moscheen gesprochen, dieser Gruppe beitrugen. tieren. Aber auch bieder anmutende Fa-
vorzugsweise auf Gotteshäuser mit Ima- Es ist einige Monate her, da offenbarte milienväter und Handwerker, die keine
men aus der Türkei. Rücksicht auf Frauen sich Huth den Behörden, angeblich weil Sicherheitsbehörde auf dem Schirm hatte,
oder Kinder könne man keine nehmen, ihm die Kameraden zu gewalttätig gewor- schlossen sich an.
soll der Wortführer gesagt haben, ein den seien. Einige der Rechtsextremen hät- Es waren Wutbürger, die sich offenbar
Trödelhändler, in der Szene bekannt als ten über »weiche« Zielen wie Flüchtlings- in Wochenendterroristen verwandelten,
»Teutonico«. heime gesprochen, sagte Huth den Ermitt- angetrieben vom Hass auf Angela Merkel
Zwei der Männer, so Huth, hätten an- und ihre Flüchtlingspolitik. Auf einem
geboten, mit dem Motorrad nach Tsche- Gruppenbild posierten einige der Männer
chien zu fahren, um Pistolen der Marke vermummt, einer hielt zwei überkreuzte
Tokarew zu organisieren. Ein weiterer Ka- Telefone wurden über- Äxte. Mit dabei war Hinweisgeber Huth.
merad könne angeblich sogar Handgrana- wacht, E-Mails abgefan- In überwachten Gesprächen steigerten
ten beschaffen. »Man geht in die Moschee sich die Männer in Gewaltfantasien hinein.
gen, Chats mitgelesen, Am Telefon sprach einer der Rechtsextre-
* Name geändert. Verdächtige observiert. misten von denen »da oben« und meinte

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 47


Fünf Kilo Buch
wohl die Regierung. Dieses »Gesindel«
müsse man töten, genauso wie Bürgermeis-
ter und Polizisten – samt ihren Familien.
Der mutmaßliche Anführer der Truppe,
Werner S. alias »Teutonico«, kommentier-
te in einem Chat eine Rede von Bundes-
Kriminalität Vertreter drehen Senioren vorgeblich wertvolle
präsident Frank-Walter Steinmeier mit den Schriften an. Der Schaden geht in die Millionen.
Worten: »Dieser Hochverräter« werde
»bezahlen«. Dazu postete er ein Messer-
symbol. Vor dem letzten Treffen der Grup-
pe im nordrhein-westfälischen Minden
schrieb Werner S., man wolle den »Krieg«
besprechen. Wer das nicht verkrafte, habe
dort nichts verloren. Sein Verteidiger sagt,
es habe kein klar definiertes Anschlagsziel
gegeben, davon sei auch im Haftbefehl kei-
ne Rede.
Dass der ominöse Hinweisgeber wohl
nicht nur Märchen erzählt hat, zeigten
auch die bundesweiten Durchsuchungen
vor zwei Wochen. Das Haus in Minden sei
voller Äxte, hatte Huth der Polizei gesagt.
Auch eine Armbrust habe er dort gesehen.
Tatsächlich fanden die Ermittler genau die-
se Waffen – und noch einige mehr.
Bei Werner S. alias »Teutonico« stellten
die Beamten eine scharfe Pistole sicher.
Auch davon hatte Huth berichtet. Andern-
orts fanden die Kriminalisten selbst her-

BARBARA FRANKE
gestellte Handgranaten sowie ein Schrot-
gewehr Marke Eigenbau, wie es auch der
Attentäter von Halle verwendet hatte.
Die Beweise reichten schließlich für
Haftbefehle gegen insgesamt zwölf Rechts- Opferanwalt Schneider mit Faksimiles: »Wir müssen die alten Menschen warnen«
extremisten, ausgestellt vom Bundesge-
richtshof. Nur der 13. Mann der mutmaß-
lichen Terrorzelle, Maximilian Huth, sitzt
nicht in Untersuchungshaft, sein aktueller
Aufenthaltsort ist unbekannt.
Inzwischen hat ein weiterer Mann aus
A ls zwei Wachleute den Saal im Amts-
gericht Rheine betreten, ist klar, dass
gleich etwas Ungewöhnliches gesche-
hen wird. Die Vorsitzende des Schöffen-
Haken: Mal sollten die alten Leute erst
einmal teure Nachdrucke mittelalterlicher
Schriften kaufen. So könnten sie den Wie-
derverkaufswert ihrer Büchersammlung
dem mutmaßlichen Unterstützerkreis der gerichts verurteilt den Handelsvertreter steigern, hieß es. Mal sollten sie angebli-
Truppe ausgesagt. Als die Beamten ihn Carsten J. zu vier Jahren Gefängnis ohne chen Kaufinteressenten ihrer Sammlung,
nach seiner Festnahme befragten, druckste Bewährung. Es ist die schärfste Strafe, die die gerade leider nicht flüssig seien, zur
er erst herum. In der Gruppe sei viel ge- ein Amtsgericht verhängen kann. Dann ver- Überbrückung einen Kredit gewähren.
schwätzt worden. Eigentlich sei es darum kündet die Richterin, dass der Mercedes des Ein Mann aus Wuppertal gab Carsten J.
gegangen, sich Zufluchtsorte zu suchen für 48-Jährigen beschlagnahmt werde, seine sogar 150 000 Euro, weil dieser vorgab,
den »Tag X«. Mit den Waffen habe man Harley Davidson, sein Pferd und die 90000 ein Problem mit dem Finanzamt zu haben.
sich schützen wollen, vor ausländischen Euro, die er auf dem Konto hat. Schließlich Als »Sicherheit« erhielt der Mann ein paar
Clans, die irgendwann über die Deutschen lässt sie J. noch im Saal verhaften. Kisten mit alten Büchern. Tatsächlich war
herfallen würden. Was das Gericht im Dezember zu dem die Geschichte – wie die meisten anderen
Nach bohrenden Fragen der Ermittler harten Urteil veranlasste: Carsten J. hatte auch – frei erfunden.
räumte er jedoch ein, dass bei dem Treffen gemeinsam mit einem Helfer in 29 Fällen Es scheint eine verbreitete Masche zu
in Minden auch über Angriffe auf Mo- ältere Menschen aus Nordrhein-Westfalen sein, leichtgläubigen Senioren vorgeblich
scheen gesprochen worden sei. Man habe auf perfide Art um ihre Ersparnisse ge- wertvolle Nachdrucke als Wertanlage zu
eines der Gotteshäuser anzünden wollen, bracht. Im Prozess berichteten die Opfer verkaufen. Etliche Firmen mit klangvol-
damit die Muslime Deutschland verließen. über die Masche. Unangemeldet hätten die lem Namen und redegewandten Vertre-
Und ja, auch über mögliche Attacken mit Männer vor der Haustür gestanden und tern sind offenbar auf dem Feld unterwegs.
Schusswaffen sei gesprochen worden. sich als Bertelsmann-Vertreter ausgegeben. Dabei lässt sich nur schwer unterscheiden,
Aber damit wolle er nichts zu tun haben: Das war gelogen. Doch die Täter wuss- wem man vertrauen kann und wem nicht.
»Ich hätte keinen eliminiert.« ten, was ihre späteren Opfer früher bei Anwälte berichten von Hunderten ver-
Als es um die geplanten Moschee-An- Bertelsmann gekauft hatten. Sie boten nun zweifelten Senioren, die guten Glaubens
griffe ging, so glaubte er sich zu erinnern, an, diese Bücher zurückzukaufen oder ei- Tausende Euro investierten und nun auf
habe sich ein Mann besonders hervorge- nen Rückkauf zu vermitteln. Gebrauchte Büchern sitzen, die schön aussehen, aber
tan: Huth, der Hinweisgeber. alte Enzyklopädien seien heute gefragt, nur einen Bruchteil des gezahlten Preises
Julia Jüttner, Martin Knobbe, sagten sie den Opfern zufolge. wert sind. Der angerichtete Schaden dürfte
Wolf Wiedmann-Schmidt Die vermeintlich lukrativen Angebote in die Millionen gehen. Die eingeschalte-
der freundlichen Besucher hatten jedoch ten Juristen versuchen zumeist, die Kauf-

48
Deutschland

verträge zu widerrufen oder das Geschäft beschwerten sich, ihnen seien Faksimiles Nun sitzen sie bei ihren Anwälten Wolf-
rückabzuwickeln. Das Strafrecht müssen als Wertanlage verkauft worden. Es folg- gang Schneider und Patrick Droll in einer
die windigen Vertreter hingegen kaum ten Prozesse und negative Schlagzeilen. Bielefelder Kanzlei. »Wir haben solche Ge-
fürchten – dass Gerichte wie in Rheine 2014 stellte das Unternehmen den Di- schichten schon etliche Mal gehört«, sagt
durchgreifen, ist sehr selten. rektverkauf ein. 400 selbstständige Han- Schneider. In einer Übersicht hat der Jurist,
»Wir sind überzeugt, dass viele Senioren delsvertreter, die für das Tochterunterneh- der sonst vor allem Wirtschaftsverfahren
mit solch erfundenen Geschichten ge- men Inmediaone unterwegs waren, muss- führt, alle offenen Verfahren aufgelistet.
täuscht werden«, sagt Oliver Klau, im Lan- ten eine neue Beschäftigung finden. Das Die Schadenssumme beträgt demnach
deskriminalamt (LKA) Berlin zuständig Unternehmen, so heißt es heute im Um- 2,25 Millionen Euro, verursacht von elf
für Betrugsdelikte. »Aber es ist nicht ein- feld von Bertelsmann, habe versucht, die verschiedenen Anbietern.
fach, das so zu belegen, dass es für eine Betroffenen in anderen Branchen unter- »Das ist ein mieses Geschäft«, sagt
Anklage reicht. Oft steht Aussage gegen zubringen. Das misslang offenbar. Etliche Schneider, »wir müssen die alten Men-
Aussage.« Zudem seien viele Senioren Vertreter scheinen einfach weiterzuma- schen warnen.« Statt aber Polizei und
überfordert, gegen die Täter vorzugehen, chen. »Eine Gruppe von 20 bis 30 Leuten Staatsanwaltschaft einzuschalten, arbeitet
und erstatteten keine Strafanzeige. Daher ist auf eigene Rechnung nach wie vor aktiv, er diskret auf zivilrechtlichem Weg. »Den
komme es selten zu Strafverfahren. Das die kennen sich alle bestens«, sagt ein Geschädigten ist das Geld am wichtigs-
LKA habe aber gerade Ermittlungen gegen Manager, der anonym bleiben will. ten«, sagt er. »Was nutzt es ihnen, wenn
eine einschlägig bekannte Firma abge- Wie dreist die Verkäufer vorgehen, ein Vertreter tatsächlich strafrechtlich
schlossen und rechne damit, dass bald erfuhren Ingrid und Gerhard S. im Jahr verurteilt würde? Davon hätten sie ihr
Anklage erhoben werde, sagt Klau. 2017. Zunächst glaubten sie noch an einen Geld nicht wieder, und auch Kredite
In Rheine kam der Fall erst ins Rollen, Glücksfall, als zwei junge Männer an der liefen weiter.« Laut Schneider stehen
als eine Sparkasse wegen verdächtig ho- Tür klingelten. In den frühen Neunzigern die Chancen für seine Mandanten nicht
her Geldbewegungen auf dem Konto von hatte das Ehepaar S. eine Bertelsmann-Le- schlecht. Er hält die Verträge für Wucher,
Carsten J. einen Verdacht auf Geldwäsche xikothek gekauft, 24 blaue Bände. Später weil der Preis der Nachdrucke und der
meldete. Doch selbst vor Gericht konnten auch den Brockhaus. Seitdem verstaubten tatsächliche Wert in einem auffälligen
nicht alle Fragen geklärt werden, auch weil die Bücher im Regal. Missverhältnis stünden.
die Angeklagten beharrlich schwiegen, Dass diese Bücher alles andere als eine
etwa zu ihren Verbindungen zu Bertels- Wertanlage seien, sagt auch Balázs Jádi,
mann. Wieso verfügten die Männer über »Ein schlechtes Gefühl Abteilungsleiter Bücher im angesehenen
vertrauliche Kundeninformationen? hatte ich schon«, sagt Berliner Auktionshaus Jeschke van Vliet.
Der Gütersloher Konzern – der über das »Das Grundproblem dieses Geschäfts ist
Unternehmen Gruner + Jahr am SPIEGEL Ingrid S. Trotzdem unter- gerade der rapide Wertverlust«, so der Ex-
beteiligt ist – beteuert, nichts mit den Vor- schrieb das Paar erneut. perte. »Wenn Sie Glück haben, bekom-
fällen zu tun zu haben. Niemals seien Kun- men Sie bei einem Verkauf die Hälfte des
dendaten herausgegeben worden, heißt Ausgabenpreises, meist deutlich weniger.«
es. Im Gegenteil: In drei Rundschreiben Die Besucher boten an, die alten Bü- Manche Opfer landen irgendwann bei
seien ehemalige Kunden vor vermeint- cher zu versteigern. Allerdings müssten Kurt Rohze, Betreiber eines Antiquariats
lichen Mitarbeitern gewarnt worden, teilt die Bücher um ein Faksimile ergänzt wer- in Delmenhorst bei Bremen. Seit 30 Jah-
Bertelsmann mit. den. Im Angebot hatten die Männer als ren kauft und verkauft er die kunstvollen
Über viele Jahre hat die Firma mit ih- Nachdruck das »Gebetbuch für Kardinal Faksimiles. »Lange war das ein wunder-
rem Bücher-Klub und dem Verkauf teurer Albrecht von Brandenburg« zum Preis bares Geschäft für Buchliebhaber«, sagt
Nachschlagewerke prächtig verdient. Als von 4999 Euro. Von dem Werk, 1536/37 er. Inzwischen seien immer weniger Kun-
dieses Geschäft aber schrumpfte, brauchte verfasst, hatte das Paar noch nie gehört. den bereit, große Summen für Faksimiles
sie neue Produkte für ihre Vertreter. Ingrid S. ist Reinigungskraft, ihr Mann ar- auszugeben. Auch das Interesse von Mu-
Die Reproduktionen kostbarer Hand- beitete in einem Schlachthof. Alte Bücher seen und Bibliotheken habe nachgelassen.
schriften aus dem Mittelalter und frühneu- interessierten sie eigentlich nicht. Aber Neuerdings meldeten sich aber ältere
zeitlicher Drucke schienen perfekt geeig- die Aussicht, damit auf einer Versteige- Menschen, die ihre Nachdrucke zum Kauf
net. Sie werden aufwendig hergestellt, auf rung 42 500 Euro erzielen zu können, fan- anböten und auf das große Geld hofften.
teurem Papier gedruckt und manchmal den sie verlockend. »Am Telefon höre ich schon, dass es sich
sogar mit Gold oder Foliengold – gold- Das Ehepaar hat drei Kinder, ein Sohn nicht um Sammler handelt«, sagt Rohze.
bedrucktem Aluminium – dekoriert. Lieb- sitzt im Rollstuhl und ist arbeitslos. Gern »Ich sage dann meistens: ›Nehmen Sie erst
haber zahlen für limitierte Sammlerstücke wollten sie ihn unterstützen. Weil sie sich einmal Baldrian, bevor ich Ihnen die Wahr-
mehrere Tausend Euro. das teure Buch nicht leisten konnten, küm- heit erzähle.‹«
Bald versuchten sich Vertreter daran, merten sich die Vertreter gleich um einen Vor wenigen Tagen rief Heidrun L. aus
auch solchen Kunden die Werke schmack- Kredit. Sie sagten den Eheleuten, sie soll- Hoyerswerda an, Bertelsmann-Kundin seit
haft zu machen, die sich kaum je für la- ten sich schon einmal Gedanken machen, kurz nach der Wende. Elf Faksimiles ha-
teinische oder altdeutsche Schriften in- in welchem Gasthaus die Auktion am bes- ben ihr Vertreter unterschiedlicher Firmen
teressiert hatten. Ein Klassiker war die ten stattfinden könne. in den vergangenen vier Jahren verkauft,
»Merian Kupferbibel«, eine rund fünf Während die beiden auf die Versteige- zum »Wert eines guten Neuwagens«, wie
Kilogramm schwere Schwarte für 1700 Eu- rung warteten, stand ein anderer Vertreter sie berichtet. Der Antiquar sagte ihr, dass
ro. Für die Vertreter war der Verkauf lu- vor der Tür. Er erklärte ihnen, es fehlten er fünf der Werke bereits im Angebot
krativ, sie kassierten wegen der hohen weitere Werke in ihrer Sammlung. Er habe, für zusammen 855 Euro. Auch die
Preise satte Provisionen. schlug vor, diese über einen zusätzlichen angeblich heiß begehrte Bertelsmann-Le-
Für Bertelsmann hingegen entwickelte Kredit zu finanzieren. Dann gebe es auch xikothek steht bei ihm im Regal – 139 Euro
sich das Geschäft weniger erfreulich. Vor- einen höheren Gewinn. »Ein schlechtes für alle Bände.
schriften schränkten Haustürgeschäfte und Gefühl hatte ich schon«, sagt Ingrid S. Michael Fröhlingsdorf, Lea Hensen
die Nutzung von Adressen ein. Kunden Trotzdem unterschrieb das Paar erneut.

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 49


Reporter
Krisen
Gibt es eine
deutsche Angstlust,
Herr Bandelow?
SPIEGEL: Das Bundesamt für Bevölkerungs-
schutz hat die Bürger aufgerufen, Rezepte
für ein »Notfallkochbuch« einzureichen,
damit wir im Katastrophenfall nicht ver-
hungern. Was halten Sie davon?
Bandelow: Es gibt eine Lust an der Angst,
die damit bedient wird. Es erinnert mich
an den Abenteuergeist, der Menschen in
den Campingurlaub treibt. Die müssen
sich auch überlegen, wie sie überleben
können, ob sie einen Gas- oder Benzin-
kocher mitnehmen.
SPIEGEL: Warum macht es den Menschen
überhaupt Spaß, Angst zu haben?
Bandelow: Wenn wir Angst haben, wer-
den Endorphine ausgeschüttet: eine natür-
liche Schutzfunktion des Körpers, die zu
Schmerzfreiheit und Euphorie führt. En-
dorphine sorgen dafür, dass man während
eines Kampfes nicht aufgibt. Während
Familienalbum dem. Er liebte alle Tiere. Mein Vater wir zum Beispiel in der Achterbahn durch
schimpfte nie, er hatte ein großes die Kurven fliegen, schießen die Angst-
Schadenfreude, Herz. Er war vom ersten bis zum letz- hormone durch den Körper. Wenn wir die
ten Tag im Krieg gewesen. Viele Kurve überlebt haben, ist die Angst weg,
1960 Männer kehrten jähzornig und bitter aber die Endorphine sind noch im Blut.
heim, aber nicht mein Vater. Ich weiß SPIEGEL: Kann das den Deutschen helfen,
Friedemann Roeßler, 72: nicht, was er im Krieg gesehen hat. Er ihre schlechte Laune zu überwinden?
Für den Totalschaden unseres mint- hat mit uns nie darüber gesprochen. Bandelow: Es ist nicht unbedingt so, dass
grünen VW-Käfers war ein nervöses Es schien aber, als hätte er sich dazu Leute in guten Zeiten mehr Nervenkitzel
Kapuzineräffchen verantwortlich, entschlossen, jeden Tag zu genießen. benötigen als in Zeiten, in denen Angst
sein Name war Fritzi. Es war Ostern Man sieht es auf diesem Bild. Sein herrscht. Es gibt ja auch in Krisenländern
1960, und mein Vater, der auf dem Auto ist Schrott, doch er lächelt. Menschen, die Vergnügungen suchen, die
Foto vor dem kaputten Käfer steht, Auf der Fahrt schleckten wir das Va- mit Nervenkitzel verbunden sind.
unternahm eine Spazierfahrt ins nilleeis, Fritzi saß auf der Lehne des SPIEGEL: Wie erklären Sie sich das?
Lauenburgische mit meinem Bruder Beifahrersitzes. Da begann der Affe Bandelow: Ich war mal in einer Favela in
Gotthard, mir und dem Äffchen. Der mit seinem Eis auf die Sitze zu schlab- Rio de Janeiro. Da habe ich im Dreck eine
Unfall passierte kurz nachdem wir an bern. Wir versuchten, es ihm weg- Zeitung gefunden, die mich irritierte, weil
einem Krämerladen gehalten hatten, zunehmen, doch Fritzi tobte im In- dort großformatig die Leichen der letzten
wo mein Vater uns Vanilleeis am Stiel nenraum des Wagens. Mein Vater Morde in den Slums mit den fiesesten
spendierte. Eins für Gotthard, eins schaute nach hinten, dann fuhr er in Verletzungen abgebildet waren. Gerade
für mich und leider eins für Fritzi. den Graben. Wir blieben unverletzt. diese Menschen brauchen das wohl, um
Mein Vater hatte das Äffchen ge- Mein Vater starb viel später, an ei- ihre Ängste abbauen zu können.
schenkt bekommen. Es schlief nachts nem Novembertag 1990, nach einem SPIEGEL: Wie funktioniert das?
in einem Käfig, tagsüber lief es bei erfüllten Leben. An diesem Tag füt- Bandelow: Sie sind erleichtert, nicht betrof-
uns im Haus herum. Mein Vater war terte er die Graugänse am Seeufer fen zu sein. Deshalb wollen die Leute in
Biologielehrer. Wenn Kinder im Wald vor unserem Haus, wie üblich. Dann den Nachrichten auch immer von schreckli-
verletzte Tiere fanden, brachten sie hörte sein Herz auf zu schlagen. chen Katastrophen hören, in die sie selbst
die zu uns, wo mein Vater sie auf- Aufgezeichnet von Max Polonyi hätten geraten können. In diesem Moment
päppelte: einen kranken Fuchs, Igel, springt das Angstsystem an. Die Erleich-
wir beherbergten auch Zwergziegen, ‣ Sie haben auch ein Bild, zu dem Sie
terung darüber, dass einem nichts passiert
Pfauen und Gänse – und Fritzi. Der uns Ihre Geschichte erzählen möchten? ist, erzeugt ein Glücksgefühl. MAH
hat viel Schaden im Haus angerichtet. Schreiben Sie an:
Doch mein Vater liebte Fritzi trotz- familienalbum@spiegel.de Borwin Bandelow, 68, ist Angstforscher an
der Universität Göttingen.

50 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Knoblauch und faulen Eiern, ziemlich übel also. Aber was
Eine Meldung und ihre Geschichte
soll die Stadt tun, um den Geruch erträglich zu machen?

Schnüffelei
Anfang Januar trat der Stadtrat zusammen. Er entschied
sich mit vier zu einer Stimme dafür, ein Gerät anzuschaffen,
das sich »Nasal Ranger« nennt. Es war eine Entscheidung,
die wahrscheinlich nur durch die absolute Ohnmacht der
Stadt gegenüber den Pflanzern zu erklären ist.
Wie ein Ort in Michigan gegen den Der Nasal Ranger ist ein rüsselartiges Gerät, etwa einen
Geruch von Cannabis vorgeht halben Meter lang. Man hält es sich vor die Nase, um Ge-
ruchsbelästigungen aufzuspüren und zu messen. Es enthält
stufenweise verstellbare Luftfilter, mit deren Hilfe man fest-

W ann Bessemer zu stinken begann, weiß Bürgermeis-


ter Adam Zak nicht mehr genau, es kam irgendwie
schleichend. Aber alles fing damit an, dass die Re-
gierung von Michigan im November 2018 entschied, Mari-
stellen kann, wie intensiv ein Geruch tatsächlich ist. 2000 Dol-
lar kostet so ein Gerät, produziert und patentiert von der
Firma St. Croix Sensory, die davor warnt, dass unser tägliches
Leben ein »Ansturm von Gerüchen« sei, ein andauernder
huana im gesamten Bundesstaat zu legalisieren. Künftig durf- Überfall, und dass Gestank tödlich sein könne.
te es nicht mehr nur zu medizinischen Zwecken konsumiert Grundsätzlich, sagt Bürgermeister Zak am Telefon, sei der
werden, sondern auch einfach so, wenn man Lust dazu hat, Nasal Ranger gar keine schlechte Idee und nicht so absurd,
also zum »recreational use«. Damals wurde nicht nur Adam wie es für manchen klingen mag. Die Stadt müsste zunächst
Zak, sondern wahrscheinlich auch dem letzten Marihuana- eine »odor ordinance« erlassen, eine Verordnung über die
skeptiker in Bessemer klar, dass es selbst hier, in der alten Zulässigkeit von Gerüchen, aber das sei nach dem Stadtrecht
Minenstadt am Lake Superior, an manchen Ecken bald so in Michigan kein Problem, jede Gemeinde könne das eigen-
riechen würde wie damals in Haight-Ashbury, der Hochburg ständig tun. Dann könnten sich Vertreter der Stadt mit dem
der Hippies in San Francisco. Nasal Ranger vor Lüftungsausgänge der Häuser von Pflan-
Inzwischen ist Marihuana in Bessemer angekommen, ei- zern stellen und die Geruchsintensität messen. Man hätte so
nem Städtchen mit 1900 Einwohnern, in dem der Traum zumindest Zahlen, die das Problem beschreiben, nicht nur
vom Small-Town America weiterlebt. Die Stadtverordnete den Unmut der Leute. Würden dann die zulässigen Werte
Linda Nelson sagte: »Die City überschritten, könnte die
von Bessemer stinkt. Man Stadt die Cannabiskleinbau-
riecht Marihuana überall. Es ern dazu verpflichten, zum
gibt Leute, die nicht mehr in Beispiel Luftfilter einzusetzen,
ihrem Garten sitzen können, um die Abluftqualität ihres
weil der Gestank, der von Hauses zu verbessern.
ihrem Nachbarn kommt, so Aber will die Stadt das tat-
schlimm ist.« sächlich tun?
Was unbestritten ist: Jeder Was Bürgermeister Zak am
Bürger in Michigan, der älter meisten fürchtet, ist der Ver-
als 21 Jahre ist, darf laut Ge- waltungsaufwand, den seine
setz bis zu zwölf Cannabis- kleine Stadt bewältigen müss-
pflanzen besitzen – voraus- te, wenn plötzlich Hunderte
gesetzt, sie wachsen an einem Nachbarn gegeneinander kla-
Ort, der öffentlich nicht ein- gen würden. Im Stadtrat war
sehbar ist: in einem Gewächs- er deshalb der Einzige, der
haus beispielsweise, einem gegen die Anschaffung stimm-
Wohnhaus oder einer Woh- Geruchstester mit Nasal-Ranger-Gerät te, auch wenn er nicht grund-
nung. In Bessemer, wo die sätzlich Einwände gegen den
Einwohner durchschnittlich Nasal Ranger hat. Er würde
48,1 Jahre alt sind, also ziem- das Problem offenbar am
lich viele Erwachsene leben, liebsten aussitzen, auch um
sind das schnell mehrere Tau- der Stadt Kosten zu ersparen.
send Cannabispflanzen, die Von der Website Vice.com Aber das ist jetzt nicht
angebaut werden dürfen, nur mehr so leicht. Der Beschluss
für den Freizeitgebrauch. Hinzu kommen jene Pflanzen, die des Stadtrats kann nur durch ein abermaliges Mehrheits-
von »medical caregivers« für den medizinischen Gebrauch votum rückgängig gemacht werden, es laufen derzeit Bera-
gezogen werden dürfen, vor allem zur Schmerztherapie. Pro tungen mit Rechtsanwälten, um die juristischen Folgekosten
Patient sind zwölf Pflanzen erlaubt, jeder Betreuer darf bis abschätzen zu können. Aber die Vorfreude auf den Nasal
zu fünf Patienten haben – macht bis zu 72 Pflanzen für jeden, Ranger ist bei einigen offenbar groß. Ein Stadtangestellter
der eine Lizenz als »caregiver« besitzt. hat sich bereits als Freiwilliger für den Dienst am Nasal
Ganz schön viele Pflanzen sind das für eine kleine Stadt, Ranger gemeldet; er sei bereit, sich an dem Gerät schulen
was eigentlich kein Problem wäre, wenn Cannabispflanzen, zu lassen.
besonders während ihrer Blütezeit, nicht stark riechen und So weit will Bürgermeister Zak gar nicht denken. Er sieht
die Klimaanlagen den Geruch aus den Wohnzimmern Besse- noch ein anderes Problem: dass jemand eines Tages auf die
mers nicht in die Vorgärten und Gärten pusten würden – Idee kommen könnte, mit dem Nasal Ranger andere Gerüche
zum Ärger der Menschen, die dort beim Barbecue sitzen. messen zu lassen als den von Cannabispflanzen.
Die Stadtverwalterin Charly Loper sagt: »Die Blütezeit In Bessemer gibt es zum Beispiel eine Sperrholzfabrik, die
dauert sechs bis acht Wochen. Viele Leute beschreiben den Bessemer Plywood Corporation. Und wenn der Nasal Ranger
Geruch wie den eines Stinktiers. Er kann sehr stark sein.« erst einmal im Einsatz ist, könnte jemand vielleicht auf den
Stinktiersekret riecht wie eine Mischung aus Verwesung, Gedanken kommen, dass auch Sperrholz stinkt. Marc Hujer

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 51


Reporter

»Jede Schwäche, die


du zeigst, führt zu einer
Vergewaltigung«
SPIEGEL-Gespräch Der Deutsche Jens Söring, in den USA wegen Doppelmord verurteilt, saß
den größten Teil seines Lebens im Gefängnis. Im November 2019 kam er frei. Nun berichtet er
über die Haftzeit, den Geruch der Freiheit und über eine Tat, die sein Leben zerstörte.

E
ine Altbauwohnung in Hamburg dafür, dass sein Fall im Gedächtnis blieb, durchtrainiert und konzentriert. Er hat sich
Anfang Februar, hohe Decken, die Überschriften lauteten »Vergessen hin- ein paar Punkte aufgeschrieben, die ihm
moderne Kunst, vor dem Fens- ter Gittern« (»Süddeutsche Zeitung«) oder wichtig sind, seine »Agenda« liegt während
ter ein langer Holztisch: Jens »Lebend begraben« (ZDF), »Die Schöne des Gesprächs vor ihm auf dem Tisch. In
Söring, »Häftling 179212« und, je und der Sonderling« (»Tagesspiegel«) oder dem Interview soll es zunächst um die Tage
nach Sichtweise, »Justizopfer« oder »Ger- »Der Häftling mit den leeren Augen« nach der Freilassung gehen und dann um
man Monster«, empfängt hier, um darüber (»Westfälische Rundschau«). Auch SPIEGEL die Jahre in insgesamt sieben amerikani-
zu reden, wie man Jahrzehnte in amerika- ONLINE berichtete über den Fall. schen Gefängnissen. Am Ende werden wir
nischen Gefängnissen übersteht, wie sich Am 26. November 2019 wurde Söring auch auf die Tat zu sprechen kommen.
die Freiheit anfühlt, wie es für ihn jetzt wei- aus dem Gefängnis entlassen, nach 33 Jah- Sörings Medienberater und ein Rechts-
tergehen soll. Wo die Wohnung liegt, was ren, 6 Monaten und 27 Tagen. Am 17. De- anwalt sitzen mit am Tisch, beide achten
man vom Fenster aus sieht, wem sie gehört: zember landete er auf dem Flughafen in darauf, dass er mit seinen Äußerungen
All das soll bitte nicht genannt werden. Er Frankfurt am Main. Seine Freilassung er- nicht gegen seine Bewährungsauflagen ver-
lerne gerade wieder, was »Privatsphäre« folgte auf Bewährung. Sie ist kein Frei- stößt, dazu gehört auch »uniform and
bedeute und wie man sie schütze, sagt er. spruch. Söring bleibt rechtskräftig verur- good behaviour«, angepasstes und anstän-
Die Wohnung gehört einem von Sörings teilt. Alle Rechtsmittel sind ausgeschöpft. diges Verhalten.
»Unterstützern«, er hat Freunde in ganz Er darf nie wieder in die USA einreisen. Es ist das erste ausführliche Gespräch
Deutschland und in den USA, die sich über Im Hamburger Altbau kommt Söring, 53, mit deutschen Journalisten seit seiner Frei-
Jahre hinweg dafür eingesetzt haben, dass den SPIEGEL-Leuten auf der Treppe bis ins lassung. Es wird acht Stunden dauern, un-
Söring, mittlerweile 53 Jahre alt, aus der Erdgeschoss entgegen. Er trägt eine dunkle terbrochen nur von einer Mittagspause.
Haft entlassen wird. Hose und einen schwarzen Pullover, er ist
Am 30. März 1985 waren die Eltern sei- SPIEGEL: Herr Söring, Sie sind jetzt 52 Ta-
ner damaligen Freundin Elizabeth Hay- ge in Freiheit. Wie geht es Ihnen?
som in ihrem Haus in einem Vorort von Söring: Das waren die besten 52 Tage mei-
Lynchburg, Virginia, brutal ermordet nes Lebens. Ich bin so glücklich. Jeder Tag
worden. Nancy und Derek Haysoms Lei- ist stressig, weil alles so neu ist, aber gleich-
chen wiesen zahlreiche Stichwunden auf, zeitig einfach wunderwunderschön. Ganz
beide wurden beinahe enthauptet. Die Er- kleine Sachen sind sehr, sehr intensiv für
mittler bezeichneten den Tatort später als mich, weil ich sie in 33 ½ Jahren nicht er-
»Schlachthaus«. lebt habe. Wenn Regen auf die Erde fällt –
1990 wurde Söring, damals 23 Jahre alt, das riecht gut. Im Gefängnis durften wir
in Virginia angeklagt, das Ehepaar getötet bei Regen meistens nicht raus. Dort gibt
zu haben. In einem Indizienprozess ver- es nur Beton.
urteilte ihn der Richter zu zweimal lebens- SPIEGEL: Was ist noch schön?
langer Freiheitsstrafe. Elizabeth Haysom, Söring: Kleinigkeiten. Neben meinem Bett
PETER HÖNNEMANN / DER SPIEGEL

die Tochter der Ermordeten, war schon habe ich ein kleines Schild, darauf steht:
zuvor zu zweimal 45 Jahren Haft verurteilt »Ich muss gar nichts«. Ich habe fast mein
worden, wegen Anstiftung zum Mord. ganzes Leben unter der Kontrolle anderer
Während der Haft schrieb Söring meh- Menschen verbracht. Alles wird im Ge-
ROANOKE TIMES

rere Bücher, darunter einen Krimi, er stellte fängnis kontrolliert, auch wann man aufs
insgesamt 15 Anträge auf Entlassung. Deut- Klo geht. Man kann nie frei entscheiden.
sche Zeitungen und Fernsehsender sorgten Jetzt kann ich das. Ich habe einen Schlüs-
selbund mit einem Schlüssel, ich kann Tü-
Das Gespräch führten die Redakteure Sarah Heidi Prozessbericht 1990 ren aufmachen. Teilweise ist Freiheit noch
Engel, Hauke Goos und Simone Salden. »Ich bin unschuldig« schwierig. Im Restaurant muss man mir

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 53


Reporter

helfen, weil das Angebot so groß ist. Ich det. Er hat sich für mich gefreut und gesagt: Söring: Wir saßen in der drittletzten Reihe:
war bei Edeka. Die Auswahl ist obszön. »Wir stecken dich in die Krankenstation, bis ich am Fenster und zwei US-amerikani-
Braucht der Mensch wirklich so viele ver- dich die Einwanderungsbehörde abholt. sche Beamte neben mir. Wir haben uns
schiedene Sorten Mandarinen? Im Gefäng- Damit du nicht angegriffen wirst.« So ist übers Hantelstemmen unterhalten. Als wir
nis gibt’s ein Loch in der Wand, da schieben das im Gefängnis: Wenn jemandem etwas abgehoben sind, habe ich die ganze Zeit
sie den Teller durch. Da gibt’s keine Wahl. Gutes passiert, wird er sofort zum poten- aus dem Fenster geguckt, weil ich sehen
SPIEGEL: Wann haben Sie erfahren, dass ziellen Opfer. Aber als ich in den Trakt wollte, wie wir amerikanischen Boden ver-
Sie freikommen? zurückkam, haben sich alle gefreut. Sogar lassen. Ich hatte meinen Freunden immer
Söring: Am 25. November, gegen vier Uhr einer meiner Feinde ist zu mir gekommen gesagt: Wenn wir an Island vorbei sind,
am Nachmittag. Ich saß im Gemeinschafts- und hat mir ein Highfive gegeben – vermut- haben sie nicht mehr genug Sprit, um zu-
saal des Gefängnisses Buckingham: ein lich war er froh, dass ich endlich weg war. rück nach Amerika zu fliegen. Aber diesen
Trakt für 32 Mann, da haben sie 64 Mann SPIEGEL: Was haben Sie aus dem Gefäng- Augenblick habe ich verschlafen.
reingesteckt. Ich telefonierte gerade mit nis mitgenommen? SPIEGEL: Wo haben Sie Ihr erstes Weih-
einer deutschen Unterstützerin. Ein Wär- Söring: Ich durfte nur die Brille mitnehmen. nachtsfest nach der Freilassung verbracht?
ter kam rein und sagte: »Du musst jetzt Ich hatte seit 2015 einen Beutel in meinem Söring: Hier, in dieser Wohnung. Es war
sofort zum Kontrollzentrum gehen.« Spind, darin waren eine Zahnbürste, Zahn- sehr schön. Meine Freunde und Unterstüt-
SPIEGEL: Was erwartet einen da? pasta, Seife, Shampoo, Unterwäsche, eine zer aus Bitburg, Frankfurt und London wa-
Söring: Üblicherweise gibt es nur zwei Jeans, Hemd und Schuhe. Damit ich sofort ren da, wir haben alle zusammen gefeiert.
Möglichkeiten. Nummer eins: Man hat ge- loskann. Den musste ich dalassen. Sie ha- SPIEGEL: Was haben Sie sich für das neue
gen eine Regel verstoßen und kriegt den ben mir nicht mal meine Gefängnisuniform Jahr gewünscht?
Strafzettel ausgehändigt. Nummer zwei: gelassen. Im staatlichen Gefängnis in Vir- Söring: Nichts Spezielles. Meine Wünsche
Haftentlassung. Ich habe aufgehängt, ohne ginia trug ich Jeans und ein blaues Hemd. waren ja bereits in Erfüllung gegangen.
auf Wiedersehen zu sagen. Mein Antrag Stattdessen gaben sie mir eine Art Jumpsuit. Jetzt führe ich gewissermaßen meinen
auf Entlassung war am 24. August 2016 Und ein Paar Stiefel ohne Schnürsenkel. nächsten Kampf: hier in Deutschland an-
eingereicht worden. Je länger die Entschei- SPIEGEL: Am folgenden Tag durften Sie zukommen. Ich arbeite jetzt, um mich in
dung auf sich warten ließ, desto größer tatsächlich raus. die Gesellschaft zu integrieren und mir ein
wurde meine Hoffnung. Söring: Es gibt in den Gefängnissen in Vir- neues Leben aufzubauen.
SPIEGEL: Wo brachte der Wärter Sie hin? ginia eine Art Käfig, mit einem großen Tor
Söring: Es gibt in der Kontrollzentrale ei- Söring wurde 1966 als Sohn eines deut-
nen Raum, dort habe ich etwa 20 Minuten schen Konsularbeamten in Bangkok gebo-
gewartet. Ich fühlte, wie ich nervös wurde, Er flüsterte in mein ren. Seine Kindheit verbrachte er in Thai-
meine Beine begannen ein bisschen zu zit- land, auf Zypern, in Bonn und im US-Bun-
tern. Der Gefängnisdirektor führte mich
Ohr: »Was machst du, desstaat Georgia. Von einer Privatschule
dann in einen Konferenzraum. Dort saßen wenn ich dich jetzt in Atlanta wechselte er 1984 mit einem
die Vorsitzende und die Ermittlerin des Be- in meine Zelle zerre?« Hochbegabtenstipendium an die Univer-
währungsausschusses. Sie sagten: »Wir sind sity of Virginia. Damals gab es die DDR
hier, weil wir Ihnen bedingte Entlassung ge- noch, Helmut Kohl stand am Beginn seiner
währen. Aber keine Begnadigung.« »Paro- an jedem Ende. Da fuhr ein weißer Kombi Kanzlerschaft, die Türme des World Trade
le« also, kein »Pardon«. Ich war enttäuscht. rein. Die Wärter nahmen mir die Ketten Center waren die höchsten New Yorks.
SPIEGEL: Der Unterschied zwischen »Pa- ab, die Leute von der Einwanderungs- An der Universität lernte Söring die
role« und »Pardon« hat für Sie auch eine behörde legten mir die Bundesketten an, zwei Jahre ältere Kanadierin Elizabeth
finanzielle Bedeutung. Fuß- und Handschellen. Dann ging das hin- Haysom kennen. Die beiden verliebten sich
Söring: Wenn man in Virginia begnadigt tere Tor auf, und der Wagen fuhr rück- ineinander.
wird, kann man einen Antrag auf Haftent- wärts raus. Wir fuhren an dem Zaun vor- Erst Monate nach dem Mord an Derek
schädigung stellen. Das Parlament muss bei, mit dem Natodraht und dem Schild und Nancy Haysom gerieten ihre Tochter
dann darüber abstimmen. Mir hätten »Buckingham Correctional Center«. Die und Jens Söring in Verdacht. Als die ame-
1,4 Millionen Dollar zugestanden, das hat Sonne war inzwischen aufgegangen. Der rikanische Polizei Söring um Blutproben
mir mein Anwalt gesagt. Aber nun kann Wagen bog ab, und durch die Scheibe sah und Fingerabdrücke bat, verließ er flucht-
ich den Antrag nicht stellen. Mir war sofort ich, wie das Gefängnis, in dem ich die letz- artig die USA. Elizabeth Haysom folgte ihm
klar: Ich werde in Deutschland um meine ten zehn Jahre meines Lebens verbracht wenig später. Sie reisten durch Deutsch-
Existenz kämpfen müssen. hatte, immer kleiner wurde. land, Osteuropa und Thailand. Am 30.
SPIEGEL: Wurde die Entscheidung be- SPIEGEL: Haben Sie geweint? April 1986, mehr als ein Jahr nach der Tat,
gründet? Söring: Ich habe die Zeit im Gefängnis als wurden sie in London festgenommen, weil
Söring: Die Vorsitzende des Bewährungs- Krieg empfunden und mein Leben entspre- sie mit gefälschten Schecks bezahlt hatten.
ausschusses und der Gouverneur hatten chend geführt. Ich war 33 Jahre lang im In Virginia, sagt Söring, habe er anfangs
beide gesagt, mein Antrag auf Begnadi- Krieg – und ich habe gewonnen. In dem Mo- Psychologie studieren wollen, sich dann
gung sei »without merit«, unbegründet. ment war ich einfach glücklich. Geweint aber auch für Film und das Regieführen in-
Sie würden mich nur entlassen, weil ich habe ich erst im Flugzeug, als wir über Irland teressiert. Er hat sein Studium nie beendet
zur Tatzeit jung war, eine lange Strafe ab- waren. Auf dem Bildschirm, auf dem man und auch sonst keine Ausbildung gemacht.
gesessen und mich gut geführt hätte. Mei- die Flugroute verfolgt, kann man die Karte Im Gefängnis, sagt Söring, sei das nicht
ne weitere Inhaftierung würde nur hohe bewegen. Ich habe sie zum Genfer See hin möglich gewesen.
Kosten verursachen. bewegt, wo ich als Kind oft die Ferien ver-
SPIEGEL: Wie ging es weiter? bracht habe. Ich hatte in dem Moment das SPIEGEL: Wovon leben Sie aktuell?
Söring: Sie gaben mir ein Dokument mit Gefühl, dass ich zurückkomme auf einen Söring: Momentan von der Unterstützung
den Bewährungsauflagen, etwa zehn Exem- Kontinent, wo ich einmal glücklich war. meiner Freunde. Ich habe nur ein geringes
plare, die musste ich alle unterschreiben. SPIEGEL: Was haben Sie auf dem Flug nach Einkommen.
Und dann habe ich mit dem Direktor gere- Deutschland gemacht? SPIEGEL: Bekommen Sie Geld vom Staat?

54 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Söring: Habe ich noch nicht beantragt. Aus
Angst, dass mir das in bestimmten Medien
zum Vorwurf gemacht wird: Doppelmör-
der kriegt Stütze.
SPIEGEL: Können Sie inzwischen aus-
schlafen?
Söring: Das ist komisch. Ich war im Ge-
fängnis so diszipliniert, dass sich die ande-
ren Häftlinge darüber lustig gemacht ha-
ben. Ich bin um 21.30 Uhr ins Bett gegan-
gen, nach der letzten Zählung, und um
5.45 Uhr aufgewacht. Jeder Tag war struk-
turiert. Dann kam ich hier an, und meine
ganze Struktur war plötzlich weg. Inzwi-
schen habe ich die Weckerfunktion meines
iPhones entdeckt. Ich gehe morgens jog-
gen. Ich gehe im Dunkeln raus und laufe.
SPIEGEL: Gibt es Momente, in denen Sie
in Gefängnisroutinen zurückfallen?
Söring: Ich ertappe mich dabei, dass ich
manchmal immer noch wie ein Gefangener
denke. Neulich ging ein Mann hinter mir
her, ich habe das gespürt, der Mann war
zu nah dran. Ich wurde angespannt. Im Ge-
fängnis muss man ein Radar haben, beson-
ders nach hinten; alle Mithäftlinge sind
potenzielle Angreifer. Man muss das ent-
wickeln, sonst überlebt man nicht. Auf dem
Rückweg ging dann eine Schülerin vor mir.
Als sie stehen blieb, tat ich das auch. Das
ist noch so eine Sache im Gefängnis: Man
darf dem Vordermann nicht zu nah kom-
men, sonst geht dessen Radar los.
SPIEGEL: Wie riecht Freiheit?
Söring: Alles riecht hier draußen gut. Im
Gefängnis gibt es einen diffusen Gestank,
viele Leute waschen sich nicht regelmäßig.
Das tun sie auch zum eigenen Schutz. Sie
wollen ganz entsetzlich stinken, damit sie
nicht vergewaltigt werden. »Going viking«
nennt man das.
SPIEGEL: Funktioniert das?
Söring: Amerikanischer Strafvollzug ist viel
schrecklicher, als Sie sich das vorstellen kön-
nen. Ganz am Anfang meiner Haft habe ich
eine Vergewaltigung erlebt. Ein weißer In-
sasse kniete vor seinem schwarzen Zellen-
genossen, es kam zum Oralverkehr. Alle johl-
ten. Was soll man machen? Wir haben alle
zugeguckt. Erst dann habe ich gesehen, dass
ihm jemand ein Messer an den Hals hielt.
SPIEGEL: Sie selbst wurden auch beinahe
vergewaltigt?
Söring: Das war 1991. Ich kam aus der Du-
sche raus, und ein großer Schwarzer warf
mich gegen das Geländer und packte mich
in einem Doppelnelson, einem Ringergriff.
Der Tatort Ich konnte mich nicht bewegen. Ich hatte
nichts an, weil das Handtuch runtergefal-
Am 30. März 1985 werden Derek und Nancy Haysom, die Eltern von Elizabeth len war. Er drückte seinen Penis in meinen
Haysom, in ihrem Haus in einem Vorort von Lynchburg, Virginia, ermordet. Beide Rücken und flüsterte in mein Ohr: »Was
verlieren große Mengen Blut, ihre Leichen werden erst vier Tage später von einer machst du, wenn ich dich jetzt in meine
Nachbarin entdeckt. Weil Nancy Haysom nur einen Morgenmantel trägt, geht die Zelle zerre?« Ich habe geschrien, keine
Polizei davon aus, dass das Paar den Täter kannte. Einbruchsspuren werden Ahnung, was. Er hat mich losgelassen, und
nicht gefunden. ich bin weggelaufen, splitterfasernackt
in die Zelle rein, Tür zu. Ich habe mich
dann dazu entschlossen zu trainieren. Ich

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Reporter

wurde Fitnessfanatiker, um mich wehren SPIEGEL: Sie haben mehr als drei Jahrzehn- ist das Klo, hier das Waschbecken, hier der
zu können. te im Gefängnis verbracht. Fühlen Sie sich Spind. Das Bett, der Stuhl. Hier ist die Tür.
SPIEGEL: Wo haben Sie trainiert? wie 53? Selbst für einen Gefangenen ist das eng.
Söring: Neben dem Gebäude gab es einen Söring: In mancher Hinsicht fühle ich mich SPIEGEL: Sie hatten eine Einzelzelle, die
kleinen Sportplatz mit Hanteln. Es geht da- wie 153. Es ist sehr viel passiert, ich habe doppelt belegt war?
rum, sich durch Sport aus der Opfergruppe in meiner Haftzeit kaum ein ruhiges Jahr Söring: Das ist immer so.
herauszumanövrieren. 90 Prozent der Häft- gehabt. Deshalb dieses Gefühl, dass ich SPIEGEL: Haben Sie oben oder unten ge-
linge machen gar keinen Sport, 5 Prozent viel hinter mir habe: die Intensität der schlafen?
trainieren unregelmäßig. Die letzten 5 Pro- Kämpfe, die Gefahren, die da lauern. Ich Söring: Die letzten paar Jahre unten. Das
zent sind Fanatiker. Ich war von Anfang an habe ein schweres Leben gehabt. Ich fühle ist eine Machtfrage.
einer der Fanatiker. Die Leute, die andere mich manchmal sehr alt. In anderer Hin- SPIEGEL: Unten ist besser?
vergewaltigen, erpressen oder ausrauben sicht merke ich, dass ich immer noch Söring: Viele Jahre habe ich absichtlich
wollen, gucken sich an, wer sich am leichtes- 19 Jahre alt bin. Das betrifft besonders oben geschlafen. Dort ist man sicherer,
ten zum Opfer machen lässt. Die gehen nicht Frauen: wie man sie anspricht, wie man wenn jemand einen belästigen will. Irgend-
zu den 5 Prozent, die fanatisch Sport treiben sie kennenlernt. Das ist ein Thema, das wann wollte ich nicht mehr klettern.
– sondern zu den 90 Prozent der Häftlinge, ich noch nicht kapiert habe. SPIEGEL: Sie waren 19, als Sie ins Gefäng-
bei denen kein Widerstand zu erwarten ist. SPIEGEL: Waren Sie schon mal allein, seit- nis kamen. Sucht man sich jemanden, der
SPIEGEL: Sie konnten sich also schützen? dem Sie in Deutschland sind? einem sagt, wie es drinnen läuft?
Söring: Ich konnte es. Man muss immer Söring: Am Sonntag, dem 26. Januar, als Söring: So einen wie Morgan Freeman in
und zu allem Nein sagen. Jede Schwäche, ich in Frankfurt war. Da hatte ich einen frei- dem Film »Die Verurteilten«, der einem
die du zeigst, führt zu einer Vergewal- en Nachmittag. Das hatte ich so eingeplant. alles erklärt? Nein. Es gibt keinen Morgan
tigung. SPIEGEL: Was haben Sie gemacht? Freeman im Gefängnis. Ich hatte mal je-
SPIEGEL: Was wurde aus dem Mann, der Söring: Das sage ich Ihnen nicht. Eine der manden, mit dem ich mich drei Jahre lang
Ihnen in der Dusche aufgelauert hatte? Sachen, die man im Gefängnis nicht hat, viel unterhalten habe. Ich dachte, wir wä-
Söring: Ein paar Tage später lief ich zum ist Privatsphäre. Ein Gefängnis ist ein öf- ren Freunde. Von einem Tag auf den an-
Sportplatz. Dort sah ich ihn. Ich wusste: fentlicher Raum, die Wärter können jeder- deren hat er aufgehört, mit mir zu reden.
Wenn ich jetzt zurückgehe ins Gebäude, zeit in die Zelle reinkommen. Man ist im- Ich habe ihn gefragt: Warum? »Ich hatte
werden alle das sehen. Von da an werde mer einsam, aber niemals allein. Ich muss es satt zu warten«, hat er gesagt. »Ich woll-
ich das totale Opfer sein. Dann werde ich te dich vögeln, das ist nie passiert, jetzt su-
zur Knastnutte, dann werden mich alle ver- che ich mir einen anderen.«
gewaltigen. Ich musste zu ihm gehen. Wir »Alles Äußere wurde mir SPIEGEL: Wie findet man eine Überlebens-
waren die Einzigen da draußen. strategie?
SPIEGEL: Sie haben gemeinsam Sport ge-
weggenommen. Nur Söring: Als ich zum allerersten Mal in ein
macht? ein kleiner Kern ganz tief Gefängnis reinkam, in England, stand an
Söring: Normalerweise hätte ein Häftling drinnen hat überlebt.« der Wand ein Graffito: »Bronco likes little
in dieser Situation eine Hantel genommen white boys.« Es stellte sich heraus, dass
und dem anderen den Schädel eingeschla- Bronco ein Wärter war. Ich sagte damals
gen. Habe ich nicht gemacht. Ich wollte ein Gefühl dafür entwickeln, dass es etwas zu mir selbst: Sie können dir alles nehmen,
Hanteln stemmen. Beim Bankdrücken Privates gibt, das nur mir gehört. Ich übe aber nicht deine Menschlichkeit. Ich habe
braucht man einen, der einem hilft. Ich an Ihrer Frage gerade, etwas zurückzuhal- mich an diesen Satz geklammert im Laufe
habe ihm geholfen, er hat mir geholfen. Die ten, das nur mir gehört. der Jahre. Dann wurden es Jahrzehnte,
nächsten drei Jahre, alle zehn Tage etwa, und im Laufe der Zeit habe ich diesen Satz
haben wir zusammen trainiert. Söring war 23, als er in Virginia vor Gericht mit Bedeutung ausgefüllt. Alles Äußere
SPIEGEL: Sie haben dann noch einen an- stand: ein junger Deutscher mit sehr gro- wurde mir weggenommen. Nur ein kleiner
deren Weg gefunden, sich zu schützen? ßen, dicken Brillengläsern, der wenig sagte Kern ganz tief drinnen hat überlebt. Ich
Söring: Ich habe meine Situation analy- und sich Notizen machte. Sein Prozess war musste alles daransetzen, diesen kleinen
siert. Das eigentliche Problem bestand da- einer der ersten, die live im Fernsehen über- Kern zu bewahren.
rin, dass ich in der Hierarchie zu niedrig tragen wurden. Im Zuschauerraum saßen SPIEGEL: Was heißt das?
stand. Wenn ich jemandem Schutzgeld auch sein Vater und sein Bruder. Er sei un- Söring: Das entscheidende Erlebnis mei-
zahle, signalisiere ich, dass ich schwach sicher gewesen, sagt Söring. Immer wieder nes Lebens war die Sache mit der Todes-
bin. Ich habe dann zwei große Schwarze grinste er, vor allem wenn der Staatsanwalt strafe. Wir haben alle geglaubt, dass ich
angesprochen, die ganz oben in der Ge- ihn ins Kreuzverhör nahm. hingerichtet werden würde. Ich wollte trotz-
fängnishierarchie standen. Ich habe ihnen Elizabeth Haysom war bereits drei Jahre dem vor den Europäischen Gerichtshof für
erklärt, wie wir Geld verdienen können. zuvor wegen Anstiftung zum Mord ver- Menschenrechte gehen – und es hat funk-
Wir wollten Häftlingen Geld leihen, damit urteilt worden. Im Prozess gegen ihn trat tioniert. Damals habe ich gelernt: Solange
sie Zigaretten oder Lebensmittel kaufen sie als Zeugin auf. Söring habe ihre Eltern ich irgendeinen Weg finden kann weiter-
konnten. Ich erzählte ihnen ein wenig über getötet, sagte sie. zukämpfen, kämpfe ich.
Kreditwürdigkeit. Vor allen Dingen, sagte Im Gerichtssaal wurde auch aus Briefen SPIEGEL: Muss man wütend bleiben? Oder
ich, müssten sie aufhören, ihre Kunden zu zitiert, die Söring und Haysom einander sich zur Ruhe zwingen?
verprügeln. Das hatten sie bis dahin ge- geschrieben hatten. Sie hatten darin expli- Söring: Es gab eine Phase bis zum Jahr
macht. Fünf Jahre lang war ich im Kredit- zite sexuelle Anspielungen und Gewalt- 2000, wo ich mich in Selbsthass reinge-
geschäft. Unsere besten Kunden bekamen fantasien geteilt. steigert habe. Ich bin morgens aufgestan-
zu Weihnachten sogar ein kleines Ge- den und habe angefangen, mich zu hassen.
schenk. Die anderen Gefangenen haben SPIEGEL: Wie sah Ihre Zelle aus? Weil ich so dumm gewesen war, mich in
gesehen, dass ich gemeinsam mit den bei- Söring: (nimmt sich ein Blatt Papier und Elizabeth zu verlieben und mein Leben
den Geld verdiente. Das hat mich ge- zeichnet seine Zelle auf) 2,60 mal 3,30 Me- zu zerstören. Ich habe dann angefangen
schützt. ter. Hier sind die ganzen Rohre drin, da zu meditieren, das hat mein Leben geret-

56 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


tet. Und es hat mich vor dem Wahnsinn
bewahrt.
SPIEGEL: Was macht einen guten Mithäft-
ling aus?
Söring: Nicht schnarchen. Und er sollte
nicht versuchen, Sex mit mir haben zu wol-
len. Die meisten Gefangenen, die Sex mit
Männern haben, sind ja keine Homosexu-
ellen. Das sind heterosexuelle Männer, die
keine Frauen haben und aus der Not he-

DAN DOUGHTIE / PICTURE ALLIANCE / AP / DPA


raus homosexuellen Sex haben. Es gibt
Homosexuelle im Gefängnis. Die Jungs
sind total in Ordnung, ich habe da auch ei-
nige Freunde gehabt, die sind vollkommen
ungefährlich. Ich hatte auch schwer geis-
teskranke Zellenmitbewohner. Die sind
ein echtes Problem. 2004 hat sich mein
Zellenmitbewohner an meinem Bett er-
hängt. Da durfte ich mir den nächsten
dann aussuchen.
SPIEGEL: Worauf haben Sie geachtet?
Söring: Ich habe ihm gesagt: Pass auf,
Junge, ich bin nicht homosexuell. Wir ma-
chen das nicht. Offensichtlich hat er ge-
glaubt, ich würde das nicht ernst meinen,
es hat ihn beleidigt. Ich hatte seine Ehre
verletzt. Wir haben vier Jahre lang nicht
miteinander gesprochen.
SPIEGEL: Was sieht man durch das kleine
Fenster der Zelle?
Söring: Knast. Man sieht Knast. Das nächs-
te Gebäude, ein bisschen Stacheldraht. In
meinem Fall: den großen Dieselgenerator,
der anspringt, wenn mal wieder der Strom
ausfällt.
SPIEGEL: Was bekommt man in seiner Zel-
le von den anderen Gefangenen mit?
Söring: Alles. Deshalb ist eines ganz wich-
tig: Man muss sich mit dem Mitbewohner
arrangieren, dass er Kopfhörer benutzt,
wenn er Radio hört oder fernsieht. Sonst
kann das zu echten Konflikten führen. Es
gab Tote deswegen.
SPIEGEL: Hört man, was im Trakt los ist?
Söring: Man hört den ganzen Quatsch im
Gemeinschaftssaal. Es ist immer Lärm.
Überall hängen Fernsehgeräte unter der De-
cke. Das ist das, was ich zuletzt am meisten
gehasst habe am Gefängnisleben: den Lärm
der Fernseher. Vor allem die Footballspiele
am Wochenende: Immer wieder blasen die
Schiedsrichter in die Trillerpfeife. Im Ge-
fängnis kommen ständig die Wärter und
pfeifen, und dann muss ich mir auch noch
anhören, wie diese gottverdammten Refe-
rees ständig in die Trillerpfeife blasen.
SPIEGEL: Wie ist das Essen im Gefängnis?
Söring: Das Frühstück ist die einzige Mahl-
Der Prozess zeit, bei der es drei-, viermal in der Woche
etwas gibt, das man essen kann. Zwei hart
Im Juni 1990 wird Jens Söring in Virginia der Prozess gemacht. Seine frühere gekochte Eier und ein Stück Obst. Ansons-
Freundin Elizabeth Haysom, wegen Anstiftung zum Mord bereits zu zwei- ten gibt es meist Schlamm auf den Tellern,
mal 45 Jahren Haft verurteilt, tritt als Zeugin auf. Zu den Indizien, die Staats- das Zeug kann keiner essen, und Brot, das
anwalt James Updike anführt, gehört ein Sockenabdruck. Söring beteuert in den Händen zerfällt. Das Futter, das der
seine Unschuld, trotzdem verurteilt ihn das Gericht zu zweimal lebenslänglich. Hund der Familie bekommt, in deren Woh-
nung wir hier sitzen, ist besser. In den letz-
ten Jahren habe ich mich vor allem aus

57
Reporter

dem Gefängnisladen ernährt. Statt zu früh- Söring: Die habe ich erst Jahre später gese- Das war so überwältigend für mich. Ich
stücken, bin ich für zwei Stunden rausge- hen. Ich war an jenem Tag im Gefängnis in war einfach dankbar.
gangen, weil ich den Stress abbauen muss- Brunswick in der Bibliothek. Sie hatten SPIEGEL: Haben Sie Elizabeth Haysoms
te. Ich habe Hanteln gestemmt oder bin dort Computer, die nicht mit dem Internet Eltern kennengelernt?
gelaufen. Einen Tag neun bis zehn Meilen verbunden waren, ich habe dort mein erstes Söring: Ich habe sie einmal getroffen, 30
joggen, am anderen Tag 424 Klimmzüge, Buch abgetippt. Ein Gefangener lief herum bis 45 Minuten. Bei einem Mittagessen,
215 Beugestütze und dann Brusttraining und sagte: »Mensch, da sind irgendwelche sie wollten irgendwas besprechen. Ich hat-
und Schulterheben mit 80 Pfund. Flugzeuge in die Hochhäuser geflogen.« Ich te das Gefühl, dass sie mir gegenüber kri-
SPIEGEL: Wann verliert man die Scham, sagte: »Stör mich nicht, ich arbeite an mei- tisch eingestellt waren. Elizabeths bisheri-
mit einem Fremden die Zelle und die Toi- nem Buch. Erzähl mir den Scheiß später.« ge Freunde waren ziemlich schräge Typen
lette zu teilen? SPIEGEL: Haben Sie etwas im Gefängnis gewesen.
Söring: Das wird einem schnell egal. Man gelernt? SPIEGEL: Wie sind Sie auseinander-
muss ein bisschen üben, dann geht das. Es Söring: Ich dachte immer, das Gefängnis gegangen?
gibt im Gefängnis einen Ausdruck, der lau- wäre wie eine Insel im Fluss der Gesell- Söring: Positiv.
tet: »I’ve got to use the cell.« Dann weiß schaft. Und alle Strömungen, die es in einer SPIEGEL: Wie war das Verhältnis zu Ihren
man, dass der Zellenmitbewohner gerade Gesellschaft gibt, fließen um das Gefängnis eigenen Eltern?
ein bisschen Privatheit braucht. herum. Aber das stimmt so nicht. Vieles, Söring: Schwierig. Meine Mutter war Alko-
SPIEGEL: Was ist das Schlimmste am Ge- was sich später in der Gesellschaft durch- holikerin. Es kriselte immer zwischen mei-
fängnis? gesetzt hat, fing im Gefängnis an. Die Über- nen Eltern, ich war nicht glücklich zu Hause.
Söring: Die Sinnlosigkeit. Das ist das Aller- wachung zum Beispiel. Der Strafvollzug SPIEGEL: Haben Ihre Eltern wegen des Al-
schlimmste. Das, was die Menschen kaputt- ist so etwas wie das dunkle Herz Amerikas. kohols gestritten?
macht. Deshalb nehmen so viele Drogen. Diese ganzen Gedanken zu Rache und Stra- Söring: Ja. Das war ein Thema während
SPIEGEL: Stimmt es, dass Sie im Gefängnis fe und Gewalt, alles wichtige Themen der meiner ganzen Jugend. Es war ein fatales
erotische Kohlezeichnungen verkauft amerikanischen Kultur, konzentrieren sich Familienleben, es hat immer zu Stress ge-
haben? in der Justiz und im Strafvollzug. führt. Die Ehe war unglücklich. Meine Mut-
Söring: Eine kurze Phase. Der Versuch, SPIEGEL: Sie waren 18, als Sie sich in Eli- ter hat getrunken, mein Vater hat gebrüllt.
mich künstlerisch auszudrücken. zabeth Haysom verliebten. Wie würden SPIEGEL: Was war schlimmer?
SPIEGEL: Angeblich hatten Sie auch mal Sie den jungen Jens Söring beschreiben? Söring: Mit meiner Mutter hatte ich eher
Investmentfonds. Mitleid. Das Brüllen meines Vaters war
Söring: Gekauft mit dem Geld, das ich für mich schwer auszuhalten.
durch das Kreditgeschäft verdient habe. »Ich habe mich
Damals konnte man ein Depot noch auf
dem Postweg eröffnen. Meine beiden Part-
nicht zum Opfer Auch beide Opfer, Derek ebenso wie Nancy
Haysom, waren zum Zeitpunkt der Tat
ner fanden das toll – die dachten, mein machen lassen. alkoholisiert.
Gott, jetzt sind wir mit dem Deutschen bei
der echten Mafia.
Darauf bin ich stolz.« In der britischen Haft gestand Söring
mehrmals, im Haus der Haysoms gewesen
SPIEGEL: Und Sie haben im Gefängnis Tai- zu sein und die Eltern seiner Freundin ge-
Chi-Unterricht gegeben. Söring: Damals waren Teenager allgemein tötet zu haben: gegenüber den Ermittlern,
Söring: Ein Mitgefangener hat mir das bei- unglaublich unsicher und nervös. Bei mir vor zwei Psychiatern, die ihn untersuchten,
gebracht. Es war der einzige Tai-Chi-Kurs war das noch verstärkt, weil ich der Klas- sowie vor einem deutschen Staatsanwalt.
im ganzen Strafsystem in allen Staaten, so- senprimus war, ein Strebertyp, der alles Die Polizei sagte, Söring habe in seinen Ge-
weit ich weiß. Das ist sonst nirgendwo er- besser wusste und der alle anderen wissen ständnissen Wissen offenbart, das nur ein
laubt worden. lassen musste, dass er alles besser wusste. Tatbeteiligter gehabt haben könne. Söring
SPIEGEL: Sie haben in einem Ihrer Bücher Auf diese Weise wurde ich mit meiner Ner- behauptet, andere Details seines Geständ-
die Schönheit beschrieben, die entsteht, vosität fertig. Das kam als Arroganz rüber. nisses stimmten nicht mit den Befunden
wenn sich die Männer beim Tai-Chi im SPIEGEL: Sie kamen mit einem Stipendium am Tatort überein.
Gleichklang bewegen. an die Uni. Söring hatte vor dem Europäischen Ge-
Söring: Alles im Gefängnis ist so hässlich. Söring: In dem Studentenwohnheim leb- richtshof für Menschenrechte dagegen ge-
Schönheit sticht jedem sofort ins Auge. ten etwa 250, 300 Leute, alle hochbegabt. klagt, nach Virginia ausgeliefert zu werden,
Das ist wie eine kleine Explosion. Ich hatte sehr viele soziale Kontakte. Bis weil es dort die Todesstrafe gibt. Erst als
SPIEGEL: Haben Sie im Gefängnis Heirats- dahin war ich nie mit einem Mädchen zu- Virginia zusagte, im Falle einer Verurtei-
anträge bekommen? sammen gewesen. Elizabeth war zwei Jah- lung auf die Todesstrafe zu verzichten, wur-
Söring: Natürlich gab es ab und zu mal ro- re älter als ich. Sie war aus dem Internat de er an die USA ausgeliefert.
mantische Briefe. Auf der Grundlage, dass in Großbritannien ausgebüxt, hatte auch
ich unschuldig bin. lesbische Beziehungen gehabt. An der Uni SPIEGEL: Hat Ihre Familie während der
SPIEGEL: Entwickelt sich aus so einer Brief- war sie der Star. Ich hatte mir gar keine Haftzeit in Großbritannien und während
freundschaft mehr? Gedanken gemacht, dass sie irgendwie an des Prozesses zu Ihnen gestanden?
Söring: Ich habe mich in meiner gesamten mir interessiert sein könnte. Sie hatte so Söring: Natürlich.
33-jährigen Haftzeit einmal auf eine ro- viel erlebt. Sie schien mir wie ein Mentor SPIEGEL: Wann hat sich das geändert?
mantische Beziehung mit einer Frau ein- zu sein, der sich Zeit nimmt, um mir die Söring: 1997 starb meine Mutter. 2001 kam
gelassen, von Ende 2003 bis Anfang 2005. Welt zu erklären. es zu einem Zerwürfnis zwischen meinem
Sie hat mich besucht und anderthalb Jahre SPIEGEL: Warum, glauben Sie, hat sich Eli- Vater, meinem Bruder und mir. Seit 2001
lang gewartet, dass ich rauskomme. Dann zabeth Haysom in Sie verliebt? habe ich keinen Kontakt mehr.
hat sie die Geduld verloren. Söring: Mir kam der Gedanke gar nicht, SPIEGEL: Warum nicht?
SPIEGEL: Kennen Sie die Bilder, wie die dass sie in mich verliebt sein könnte, des- Söring: Mein Bruder und mein Vater ha-
Flugzeuge am 11. September 2001 ins halb war ich so schockiert. Ausgerechnet ben unter der Situation auch sehr gelitten,
World Trade Center fliegen? ich! Ich konnte mein Glück nicht fassen. und sie haben nun ein Recht auf Privat-

58 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


sphäre. Darum möchte ich nicht mehr
dazu sagen.
SPIEGEL: Zurück zu Nancy und Derek Hay-
som: Haben Sie die beiden getötet?
Söring: Absolutely not. Nein, überhaupt
nicht.
SPIEGEL: Wer war es dann?
Söring: Das weiß ich nicht. Ich war nicht
dabei. Die forensischen Beweismittel sa-
gen, dass mindestens zwei andere Männer
am Tatort waren. Das wissen wir von den
DNA-Spuren, das wissen wir aber auch
von den Schuhabdrücken. Es gibt kein ein-
ziges forensisches Beweismittel, das mich

QUELLE: YOUTUBE, CREDIT: ICE


mit dem Tatort verbindet.

Söring hat über seine Version der Ereignis-


se mehrere Bücher geschrieben. Er habe
Elizabeth schützen wollen, behauptete er
schon 1990 im Prozess. Vor Gericht erklärte
er damals, sie habe ihre Eltern getötet und
ihm die Details erzählt. Aus Liebe habe er

SHEPARD SHERBELL / CORBIS VIA GETTY IMAGES


ihr versprochen, die Schuld auf sich zu neh-
men und sie vor der Hinrichtung zu bewah-
ren. Als Sohn eines Vizekonsuls habe er da-
rauf gehofft, Immunität zu genießen, nach
Deutschland abgeschoben und dort zu
einer Jugendstrafe verurteilt zu werden.

SPIEGEL: Bevor wir über die Bedeutung der


DNA-Spuren sprechen, lassen Sie uns klä-
ren, was unstrittig ist. Am Tatort wurde Blut
der Gruppe 0 gefunden, das ist auch Ihre
Blutgruppe. (Söring nickt.) 45 Prozent der
amerikanischen Bevölkerung hatten damals
Blutgruppe 0. Das Blut der Gruppe 0 könn-
te von Ihnen stammen, muss es aber nicht.
Söring: So wurde es auch vor Gericht ge-
sagt. Derek Haysom hatte Blut der Blut-
gruppe A, Nancy hatte Blut der Blutgrup-
pe AB, Elizabeth hatte Blut der Blutgrup-
pe B. Der einzige Mensch, der mit dem
Fall zu tun hatte, im Gerichtssaal stand
und Blut der Blutgruppe 0 hat, war ich.
SPIEGEL: Ihre letzten Worte im Gerichts-
saal waren: »I’m innocent«, ich bin un-
schuldig. Das ist der Stand bis heute.
THE BRUNSWICK COUNTY DETENTION CENTER

(Söring nickt.)

2005 startete in Virginia ein Programm,


das alte Kriminalfälle mithilfe neuester
DNA-Methoden untersuchen sollte. 2009
war Sörings Fall an der Reihe. Die Aus-
gangslage war schlecht: Etliche Blutspuren
waren vernichtet worden oder unbrauch-
bar. An den übrigen wurde keine DNA ge-
funden, die Jens Söring zuzuordnen war.
Außerdem, sagt Söring, habe es am Tat-
Die Haft ort Schuhabdrücke gegeben, die nicht von
ihm stammen können. Auch das, argumen-
Zwei Beamte führen Söring nach fast 30 Jahren in amerikanischen Strafanstalten tiert er, deute darauf hin, dass Unbekannte
in die Abschiebehaft. Im Gefängnis hat er exzessiv Sport getrieben, Kontakte am Tatort gewesen seien.
zu Journalisten in Deutschland und den USA geknüpft und mehrere Bücher ver-
öffentlicht. Das Essen sei überall ungenießbar, sagt er. Am schwersten zu SPIEGEL: Was beweist die DNA-Überprü-
ertragen sei für ihn die Sinnlosigkeit gewesen. fung Ihrer Meinung nach?
Söring: Die Ergebnisse von 2009 beweisen
herzlich wenig. Die sagen nur, dass die

59
Söring: Ich denke, das wird ein schöner
Moment sein, wenn ich endlich mal halb-
wegs normal sein werde, wenn ich nicht
mehr so ein Sonderling bin. Eine Art Freak.
SPIEGEL: Sie schreiben im aktualisierten
Vorwort Ihres Buchs »Nicht schuldig«, Sie
würden gern eine Familie gründen, Vater
sein. Was würden Sie Ihrem Kind mit-
geben wollen? Worauf kommt es an im
Leben?
Söring: Nie aufzugeben. Immer weiter zu
kämpfen. Egal wie lange es dauert. Man
kann Unmögliches schaffen, wenn man
nicht aufgibt.
SPIEGEL: Sie haben vorhin gesagt, Sie
kennen sich nach mehr als 30 Jahren im
Gefängnis nicht besonders gut mit Frauen

MICHAEL PROBST / AP
aus.
Söring: Meine bisherige Erfahrung mit
Frauen ist, dass sie viel direkter sind als
früher. Nicht mehr so zurückhaltend. Sie
sagen einfach, was sie wollen.

In Freiheit Zeitgleich mit Söring wurde auch Elizabeth


Haysom auf Bewährung aus dem Gefäng-
Am 17. Dezember 2019 landet Jens Söring auf dem Flughafen in Frankfurt. nis entlassen. Ende Januar wurde die 55-
Zahlreiche Freunde warten auf ihn. Söring gibt eine kurze Pressekonferenz, Jährige in ihr Heimatland Kanada abge-
danach fliegt er weiter nach Hamburg. Er trägt noch seine Gefängnisbrille. schoben. Zu Sörings Bewährungsauflagen
gehört, dass er die Familienangehörigen
der Opfer nicht kontaktieren darf – und
damit auch Elizabeth Haysom nicht.
Blutproben, die man noch analysieren es in Deutschland eine ausgewogene Be-
konnte, nicht von mir stammen. Erst 2016 richterstattung gegeben hätte, wenn man SPIEGEL: Würden Sie Elizabeth gern noch
kam der entscheidende Moment: Es kam mich nicht öffentlich beschimpft hätte, einmal sehen?
heraus, dass die DNA, die gesichert wer- dann wäre es gut möglich, dass dieses In- Söring: Um Gottes willen, nein. Ich habe
den konnte, zwar im Blut der Blutgruppe terview hier nie stattgefunden hätte. Ich der Frau nichts zu sagen, sie hat mir nichts
0 gefunden wurde, aber nicht von mir sitze hier mit Ihnen, weil man mich öffent- zu sagen.
stammt. Also muss jemand am Tatort ge- lich auf den Titelseiten als Doppelmörder SPIEGEL: Wünschen Sie ihr etwas?
wesen sein und geblutet haben, der die beschimpft hat. Das ist rein juristisch kor- Söring: 33 Jahre Haft sind eine unglaublich
gleiche Blutgruppe hat wie ich. Ich bin da- rekt, aber es entspricht nicht der Wahrheit. brutale Strafe. Vor allen Dingen im ameri-
mit ausgeschlossen. SPIEGEL: Wenn Sie es nicht waren: Wer kanischen Strafvollzug. Auch Elizabeth hat
hat die beiden ermordet? ganz entsetzlich gelitten. Ich habe kein Be-
Söring beruft sich dabei auf zwei von Söring: Letztlich werden wir es nie wissen. dürfnis nach Rache.
seinem Anwalt beauftragte Gutachter. An- SPIEGEL: Ist das nicht schwer auszuhalten? SPIEGEL: Aber Sie werden immer damit
dere Experten äußern Zweifel an deren Söring: Ja. Aber es ist egal. Ich war nicht leben müssen, dass die Leute sich fragen:
Schlussfolgerungen. da. War er’s? Oder war er’s nicht?
SPIEGEL: Wie geht es für Sie jetzt weiter? Söring: Natürlich ist das schwierig. Aber
SPIEGEL: Theoretisch ist es möglich, dass Haben Sie sich Gedanken gemacht, wo Sie das ist die Konsequenz meiner Fehler, die
Sie am Tatort waren und trotzdem keine künftig leben wollen? ich gemacht habe, als ich 18 Jahre alt war.
DNA- oder Blutspuren von Ihnen gefun- Söring: Noch nicht. Ich bin immer noch Das ist meine Verantwortung, damit muss
den wurden. dabei, Pläne zu entwickeln. Ich weiß nicht, ich leben. Es wird immer Leute geben, die
Söring: Die Opfer hatten zahlreiche Stich- was ich mag, denn ich hatte jahrzehntelang glauben, dass Jens Söring schuldig ist. Aber
wunden, beide Kehlen waren bis zum Rü- gar keine Wahl. Präferenzen entwickeln ich bin stark genug, diesen Kampf weiter-
ckenmark durchtrennt – es gab offensicht- sich ja aus dem Leben heraus, wenn man zuführen. Ich fliehe nicht davor. Ich will
lich einen sehr harten und brutalen Kampf. Erfahrungen macht. mich nicht verstecken.
Es ist meiner Meinung nach nicht möglich, SPIEGEL: Womit wollen Sie Geld verdie- SPIEGEL: Wie blicken Sie auf Ihr Leben?
eine solche Tat zu begehen, ohne Spuren nen? Söring: Ich glaube, der Impuls, ein Leben
zu hinterlassen. Söring: Schriftstellerei ist eine Möglichkeit. retten zu wollen, war richtig. Wie ich es
SPIEGEL: Sie bestehen bis heute darauf, Es gibt Pläne für ein Buch über meine An- gemacht habe, war unglaublich schlecht.
dass Sie die Morde nicht begangen haben. kunft in Deutschland. Wie es sich anfühlt, Aber alles, was danach kam, darauf bin
Warum ist Ihnen das so wichtig? Sie sind nach 33 Jahren Haft: die ersten Schritte in ich stolz: Ich bin nicht an der Haft zugrun-
doch jetzt ein freier Mann? Freiheit, das erste Mal einkaufen, das erste de gegangen. Ich habe niemanden zum
Söring: Weil es die Wahrheit ist. Weil ich Mal allein sein. Opfer gemacht. Ich habe mich nicht zum
33 Jahre lang dafür gekämpft habe. Und SPIEGEL: Haben Sie Angst vor dem Mo- Opfer machen lassen. Ich bin zufrieden.
weil ich ein Recht darauf habe, dass man ment, an dem das Staunen vorbei ist? SPIEGEL: Herr Söring, wir danken Ihnen
meine Geschichte so versteht, wie sie wirk- Wenn das Neue, Unbekannte, Schöne All- für dieses Gespräch.
lich passiert ist. Ich war es nicht. Und wenn tag wird?

60 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Reporter

Geht aufs Haus


nen Sohn auf Händen getragen, er habe ihn großgezogen
und ihn Respekt vor den Menschen gelehrt. Als Cagac die
Nachrichten aus Hanau las, habe er gespürt, dass sein Sohn
in Gefahr sei, sagt Cagac. Er verbot ihm, künftig in Shisha-
Ortstermin Warum ein Imbissbesitzer aus Halle Bars zu gehen.
Gratisdöner verteilt Cagac sagt, das fleißigste Volk auf der Erde seien die Deut-
schen. In wenigen Jahrzehnten sei Deutschland eines der si-
chersten und reichsten Länder der Welt geworden. Aber jetzt,

H alle (Saale) am vergangenen Donnerstag, es ist der


zweite Donnerstag nach dem Anschlag von Hanau,
bei dem ein Mann neun fremde Menschen mit Migra-
tionshintergrund getötet hat – und seine Mutter. An diesem
sagt Cagac, habe sich etwas verändert. Das Land, das seine
Heimat geworden ist, sei gefährlich geworden.
Der NSU tötete seine Opfer in einer Änderungsschneiderei,
an einem Blumenstand, in Obst- und Gemüseläden, in einem
Donnerstag, das hat Izzet Cagac beschlossen, wird er den Schlüsseldienst, in einem Kiosk, in Dönerläden. Auch in Halle
Hallensern so viel Döner spendieren, wie sie essen können. und Hanau waren die Tatorte Dönerladen, Shisha-Bar, Kiosk.
Cagac, 42, schwarze Haare, schneidet mit einem langen Mes- Da seien die Ausländer, jeder wisse das, sagt Cagac. Es seien
ser Fleisch vom Spieß in seinem Imbiss »Kiez Kebabhaus« gute Orte, wo es leckeren Döner gebe, sagt Cagac. Deshalb
in der Oleariusstraße, direkt am Hallmarkt. sollen die Hallenser an diesem Tag in seinem »Kiez Kebab-
Cagac hat vorgesorgt. In seiner Kühlkammer hat er haus« Döner probieren.
800 Kilogramm Kalbfleisch eingelagert, je 10 Säcke Weiß- Ein Mann in einem Laden, der sein Leben ist. Er öffnet
kraut und Rotkohl, 3 Säcke Zwiebeln, 15 Kisten Eisbergsalat, seine Türen und verschenkt seine Ware. Die Leute sollen
je 10 Kisten Tomaten und Gurken, dazu 30 Kisten Brot im sehen, dass eine Dönerbude kein Feindesland ist. Sie sollen
Lager. Geschnippelt und geröstet, mit Kräuter- oder Cock- sehen, dass sie bei Izzet Cagac willkommen sind. Gratisdöner
tailsoße, bisschen scharf, macht »Pi mal Daumen 2000 Dö- gegen den Hass. Lahmacun für die Liebe. Wie weit ist es
nertaschen, vielleicht 2400«, schätzt Cagac, »noch mal 1300 eigentlich mit Deutschland gekommen, dass Menschen wie
Dürüm und 400 Lahma- Izzet Cagac das Gefühl
cun dazu, alles auf eigene haben, so etwas tun zu müs-
Rechnung«. sen, auch wenn es sie viel
Cagac will die Hallenser Geld und Arbeit kostet?
einladen, »wegen Hanau«, Cagac wurde in Iğdir
sagt er. »Sie sollen kom- geboren, an der türkisch-
men und sehen, dass wir armenischen Grenze, am
gute Leute sind.« Mit Fuß des Bergs Ararat. Mit
»wir« meint Cagac »die sieben Jahren kam er nach
Ausländer«, so sagt er das, Berlin, 1999 zog er nach
obwohl er einen deutschen Halle. Von den Häusern in
Pass besitzt. Er fährt sich Iğdir aus könne man den
durch den Bart. Man sehe mächtigen Berg in der Son-
es doch, sagt er, »schwarze ne sehen. In Halle regne es
Haare, dunkle Haut«. oft, und meistens sei es
Cagac kennt die Opfer kalt. Aber Halle, auch das
MAX POLONYI / DER SPIEGEL

von Hanau nicht. Aber sagt Cagac, sei seine Hei-


Cagac kennt den Terror. Er mat. Hier sei er zu Hause.
sagt, ihm gehörten zwei Er rede nicht gern über
Dönerläden in Halle, sie Politik, aber man dürfe
heißen »Kiez Kebabhaus« nicht nur den Deutschen
und »Kiez Döner«. die Schuld an der Situation
Am 9. Oktober betrat Wirt Cagac geben, sagt er. Die Situa-
der 27-jährige Deutsche tion, sagt er, sei so, dass
Stephan Balliett nach dem manche Deutsche Angst
Versuch, die Synagoge zu stürmen, den »Kiez Döner«. Er er- hätten, ihr Land nicht mehr wiederzuerkennen, und dass
schoss dort einen 20-Jährigen, der sich hinter einem Kühl- manche Ausländer sich nicht willkommen fühlten. Auch die
schrank versteckt hatte. Ausländer müssten sich anstrengen, damit es in der Gesell-
Wenn Cagac über den Anschlag von Halle redet, werden schaft funktioniere, sagt Cagac, der sich immer sehr ange-
seine Augen groß, den Attentäter nennt er nur »den Stephan«. strengt hat. Man müsse jetzt zusammenwachsen. Es sind die
Cagac sagt, er habe damals, im Oktober, nicht an Rassismus Worte eines Mannes, der sich rechtfertigen muss, hier zu
gedacht. Er sagt: »Der Stephan hat nie Liebe erfahren, darum sein, in seiner Heimat.
hat er das gemacht.« 40 Tage, sagt Cagac, habe er getrauert, Cagac steht am Spieß, die Hallenser stehen vor seinem Laden
wie es im Islam üblich ist. Er hat alles wieder aufgebaut. In bis zur Straße. »Hier essen oder mitnehmen?«, fragt Cagac.
den Wochen nach dem Anschlag habe er zwar wenig geschla- Er schneidet und schneidet, an diesem Donnerstag ver-
fen, aber Angst habe er nie gefühlt. Dann kam der 19. Februar. schenkt er sehr viele Döner. Um die Mittagszeit an die Schüler,
Als Cagac am Vormittag des 20. Februar auf sein Handy später an Bauarbeiter, an die Studenten. Ein paar werfen et-
schaute, las er, dass ein Deutscher in Hanau neun Menschen was Geld in die Spendenboxen, die Cagac für die Angehöri-
in einer Shisha-Bar, einem Café, in und vor einem Kiosk er- gen von Hanau aufgestellt hat. Er will ihnen das Geld per-
schossen hatte. Er dachte als Erstes an »den Stephan« und sönlich vorbeibringen. Cagac sagt: »Wir halten zusammen.«
an seinen eigenen Laden. Dann dachte er an seinen Sohn. Weißkraut, Rotkohl, Zwiebeln, Gurken, Tomaten, Salat-,
Cagac’ Sohn heißt Bahri und ist 18 Jahre alt. Bahri geht gern Cocktail- oder Kräutersoße, bisschen scharf? Cagac’ Lager
in Shisha-Bars, er trifft dort Freunde. Cagac sagt, er habe sei- leert sich. Spieß für Spieß. Bis alle satt sind. Max Polonyi

61
Wirtschaft

MARCO PROSCH / PORSCHE AG


Fertigung des Porsche Panamera in Leipzig

Fahnder durchsuchen Porsche-Büros


Dieselaffäre Staatsanwaltschaft Stuttgart weitet Ermittlungen auf insgesamt sieben Beschuldigte aus.
 Die Staatsanwaltschaft Stuttgart hat Manipulation von Dieselmotoren ver- Behörde kooperiert. Im Mai 2019 hatte
ihre Ermittlungen gegen Porsche-Mitar- wickelt gewesen zu sein. Die bisherigen die Staatsanwaltschaft bereits eine Geld-
beiter in der Dieselaffäre ausgeweitet. Am Beschuldigten hatten die Vorwürfe stets buße von 535 Millionen Euro gegen Por-
Mittwoch vergangener Woche durchsuch- bestritten. Bei den vier neuen Beschuldig- sche verhängt, weil der Autobauer seine
ten die Ermittler drei gewerbliche Stand- ten soll es sich um Motorenentwickler Aufsichtspflichten in einer Entwicklungs-
orte sowie drei Privatwohnungen von Por- handeln, die nicht dem Topmanagement abteilung verletzt habe. Der Sportwagen-
sche-Mitarbeitern. Gleichzeitig stieg die angehören. Die Staatsanwaltschaft erklärt, hersteller bestätigt, dass Ermittlungsbeam-
Zahl der Beschuldigten um vier auf ins- die Ermittlungen richteten sich ausschließ- te »Unterlagen in Geschäftsräumen der
gesamt sieben aktive und ehemalige Mit- lich gegen Einzelpersonen, nicht gegen Porsche AG an Standorten im Raum Stutt-
arbeiter. Ihnen wird vorgeworfen, in die das Unternehmen. Porsche habe mit der gart gesichtet und gesichert haben«. SH

Luftfahrt Tochter war im vergangenen schen dem PSV und der Con- wirtschaftlichen Lage ganz
Oktober unter ein Schutz- dor-Führung kommen. An oder teilweise« wieder rück-
Poker um Condor- schirmverfahren geflüchtet, dem Tag entscheiden die Gläu- übertragen werden können.
Betriebsrenten eine Art Insolvenz light, und biger, darunter auch der PSV, Bleibt die Condor-Führung
hatte sich so ihrer Betriebs- über den Insolvenzplan. Der hart, will der PSV am 12. März
 Der geplante Verkauf der rentenlast in Höhe von rund PSV besteht darauf, dass LOT Beschwerde einlegen und
Ferienfluglinie Condor an einer halben Milliarde Euro als neuer Eigner für die Pen- notfalls sogar das Landgericht
die polnische Fluggesellschaft entledigt. Für sie kommt jetzt sionszusagen an die Condor- Frankfurt anrufen. Bis das
LOT könnte sich verzögern. der Pensions-Sicherungs- Mitarbeiter geradesteht. Dabei Gericht entschieden hat, läge
Grund sind die Pensionsver- Verein (PSV) auf, der von allen beruft er sich auf das Betriebs- der Insolvenzplan erst einmal
pflichtungen der Firma gegen- deutschen Firmen finanziert rentengesetz. Es sieht vor, dass auf Eis. Ein Condor-Sprecher
über ihren knapp 5000 Mitar- wird. Am 12. März könnte es die Rentenzusagen »bei einer betont, der PSV werde ohne-
beitern. Die einstige Lufthansa- nun zu einem Showdown zwi- nachhaltigen Besserung der hin bevorzugt behandelt. DID

62 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Verbraucher nicht vollständig, zudem hät-
ten sie die Möglichkeit eines
Fragwürdige Widerrufs »kaum themati-
Billigkredite siert«. Die Vertragsformulare
seien inhaltlich »teilweise
 Wer im Möbel- oder Elek- rechtlich bedenklich«. Die Ver-
tronikmarkt ein neues Sofa braucherschützer fanden auch
oder ein neues Notebook per Verweise auf veraltete Preis-
Kredit finanziert, sollte vor- und Leistungsverzeichnisse,

BARCROFT MEDIA / GETTY IMAGES


sichtig sein. Der »Marktwäch- falsche Datenschutzerklärun-
ter Finanzen« der Verbrau- gen und Widerrufsbelehrungen
cherzentralen hat die Finan- und auch Darlehensverträge,
zierungsangebote von sechs »die den vorvertraglichen
Händlern untersucht und Informationen widersprachen«.
erhebliche Fehler bei der In mehreren Fällen sei eine Sanders
Beratung und in den Verträ- »Nullprozentfinanzierung«
gen gefunden. Grundlage nur möglich gewesen, wenn
der Untersuchung waren bun- zugleich ein Kreditkarten- US-Wahlkampf
desweit 91 Testkäufe, bezie- vertrag abgeschlossen wurde.
hungsweise Kundenbeob- Bei der Karte seien jedoch »Aggressive Form
achtungen. Nur in 25 Fällen nach einiger Zeit Zinsen fällig
gingen dabei die Berater die geworden. In manchen Fällen von Plutokratie«
Finanzierungsverträge Punkt sei so nicht sichergestellt
für Punkt mit dem Kunden gewesen, dass das gekaufte Der Berkeley- Zucman: Es stimmt, dass die

J. EDELSON / GETTY
durch. Die Verkäufer erklär- Produkt zinsfrei finanziert Ökonom Gabriel durchschnittlichen Stunden-
ten wesentliche Eckpunkte werden konnte. ASE Zucman, 33, gilt löhne zuletzt gestiegen sind.
als geistiger Während die unteren Schich-
Vater der radika- ten aber unter steigenden
len Steuerpläne Mieten, Schulgebühren und
Kohleausstieg zu nehmen und das Kohleaus- des demokratischen Präsident- Gesundheitsausgaben leiden,
stiegsgesetz »wenn nötig auch schaftsbewerbers Bernie haben die Wohlhabenden von
GroKo will Gesetz zu verändern«. So war in Sanders, der derzeit bei den Trumps Steuerreform profi-
nachbessern den Empfehlungen der Kohle- US-Vorwahlen führt. tiert. Was wir erleben, ist kein
Kommission nicht geplant, Aufschwung für die Unter-
 Die schwarz-rote Koalition den Betreibern nur bis 2027 SPIEGEL: Sie haben die Argu- schicht, sondern eine aggres-
plant Nachbesserungen am eine Entschädigungen zu zah- mente für Sanders’ Reichen- sive Form von Plutokratie.
Kohleausstiegsgesetz, das im len, wie Altmaiers Entwurf es steuern geliefert. Glauben SPIEGEL: Wie kommen Sie
vergangenen Monat vom nun vorsieht. SPD-Mann- Sie wirklich, dass die den US- darauf?
Bundeskabinett beschlossen Westphal befürchtet langwie- Bürgern zu vermitteln sind? Zucman: Seit Trumps Steuer-
worden war. Im Blick haben rige Schadensersatzprozesse, Zucman: Allerdings. Diese reform zahlen Milliardäre einen
die Parlamentarier dabei die insbesondere für Kraftwerke, Konzepte sind sogar äußerst geringeren Steuersatz als
Betreiber von Steinkohle- die erst vor wenigen Jahren populär, wie Umfragen bele- Durchschnittsverdiener, und
kraftwerken, die sich über eröffnet wurden, etwa das in gen. Es gibt eine große Sehn- die Schere zwischen Arm und
den Gesetzentwurf aus dem Lünen. »Investoren müssen sucht nach einer Politik, die Reich geht weiter auseinander.
Bundeswirtschaftsministeri- sich darauf verlassen können, der wachsenden Ungleichheit In den Fünfzigerjahren brachte
um beschwert hatten. Der dass durch politische Verände- in den Vereinigten Staaten die Unternehmensteuer in den
wirtschaftspolitische Sprecher rungen der Transformations- etwas entgegensetzt. USA ein siebenmal so hohes
der SPD, Bernd Westphal, prozess fair gestaltet wird«, SPIEGEL: Sanders könnte Aufkommen wie die Lohn-
fordert, deren Belange ernst sagt Westphal, der die in der aber auch die Mittelschicht zu steuer, heute ist es umgekehrt.
kommenden Woche starten- Trump treiben. SPIEGEL: Auch demokratisch
den Beratungen im Parlament Zucman: Sanders hat ein gesinnte Ökonomen warnen,
für die SPD leitet. Denkbar anderes Kalkül. Mit seinen dass Ihre Pläne das Wachs-
sei, die Umrüstung von Kohle- Forderungen nach höheren tum schwächen könnten.
kraftwerken auf den Betrieb Mindestlöhnen, einer allge- Zucman: Die Geschichte der
mit Gas stärker zu fördern. meinen Krankenversicherung USA legt eher den gegenteili-
Dies wäre für die Versorgung und dem Erlass von Studien- gen Schluss nahe. Nach dem
mit Strom und Fernwärme gebühren will er jene Wähler- Zweiten Weltkrieg lag der Steu-
wichtig, die Energiekonzerne schichten ansprechen, die ersatz für Spitzenverdienste
müssten allerdings »verläss- schon seit Jahren nicht mehr zwei Jahrzehnte lang bei 90
liche Anreize« bekommen, mitbestimmen: die Jungen, die Prozent, trotzdem wuchs die
MARIUS BECKER / DPA

damit sich ihre Investition Arbeiter, die Minderheiten. Wirtschaft schneller als heute.
lohne, so Westphal. Sein Das ist ein riesiges Potenzial. Ich sehe deshalb keinen Grund,
CDU-Kollege Joachim Pfeiffer SPIEGEL: Viele Experten warum die Wirtschaft unter
verfolgt ähnliche Ziele. verweisen auf Trumps gute moderaten Vermögensteuern,
»Meine Fraktion hat noch Wirtschaftszahlen, sogar für wie wir sie vorschlagen, zu-
Kohlekraftwerk in Lünen einigen Änderungsbedarf.« GT die unteren Schichten. sammenbrechen sollte. MSA

63
Wirtschaft

In Teslas Revier
Autoindustrie Im fünften Jahr nach Dieselgate bemüht sich Volkswagen um ein Comeback
in den USA. Dabei hilft ausgerechnet ein Milliardenprojekt, das als Strafe gedacht war.

D
as Testlabor versteckt sich in Der Fahrer des Chevrolets heißt Gio- Hier in Amerika hatte der Dieselbe-
einem Industriegebiet in Reston, vanni Palazzo und ist Chef des Großpro- trug begonnen. Hier hatten VW-Ingenieu-
Virginia, nahe dem Washingtoner jekts, dessen Name in schwarzen Lettern re schon im Jahr 2007 Betrugssoftware
Flughafen. In einer Wellblechhal- an der Rückwand der Halle prangt: »Elec- verbaut, um die Abgaswerte zu fälschen.
le sitzen vier Männer an Klapptischen und trify America«. »Wir wollen den Wechsel Um sicherzustellen, dass sich der Skandal
starren auf Laptops. Nichts scheint sie zum E-Auto so einfach wie möglich ma- nicht wiederholt, musste der Konzern
bei ihrer Arbeit zu stören; die Männer bli- chen«, sagt er, »Elektromobilität soll in hohe Entschädigungen zahlen. Nebenbei
cken nicht einmal auf, als das Rolltor am den USA endlich Realität werden.« soll er der E-Mobilität in den USA zum
Eingang hochfährt – und ein gelbes Elek- Nichts in der Halle deutet darauf hin, Durchbruch verhelfen.
troauto der US-Marke Chevrolet in die wer hinter dem Milliardenprojekt steckt. Ausgerechnet diese Strafarbeit könnte
Halle gleitet. Die US-Regierung, einer der Tech-Konzer- VW nun zum Comeback in den Staaten
Das E-Mobil hält vor einer Reihe von ne aus dem Silicon Valley? Nein, es ist ein verhelfen. Denn der einstige Abgassünder
weißen Metallpfeilern. Die Apparate strah- Autohersteller aus Deutschland: Volkswa- verkauft dort mittlerweile keine neuen Die-
len grünes Licht aus. An ihren Seiten bau- gen. Der Konzern verfolgt den Plan dis- selautos mehr, er setzt auf dem nach China
meln dicke, schwarze Kabel. Es sind Zapf- kret. Denn Electrify America ist für VW zweitgrößten Automarkt der Welt zuneh-
säulen für Elektroautos aller Fabrikate – kein Vorzeigeprojekt, sondern eine Straf- mend auf E-Mobilität, mit dem klaren Ziel,
egal ob Tesla, Porsche oder Chevrolet. Sie arbeit. Der Aufbau eines Ladenetzes ist zum globalen Marktführer aufzusteigen.
sollen später zu Tausenden aufgestellt Teil des rund 20 Milliarden Dollar teuren Das Ladenetz ist da ein zentrales Ver-
werden, auf Parkplätzen und an Auto- Vergleichs, den der VW-Konzern nach der kaufsargument. Die Stromtankstellen sind
bahnraststätten von der Ost- bis zur West- Dieselaffäre mit der US-Justiz abgeschlos- nämlich schon vorhanden, wenn VW seine
küste der USA, von Kanada bis Mexiko. sen hat. Elektroautos auf den Markt bringt. »Da-
mit befreien wir die Kunden von ihrer
Reichweitenangst«, sagt Scott Keogh, VW-
Neue Werte Mobile Zukunft Landeschef in den USA.
7

Die größten Autohersteller nach Börsenwert, Verkaufte E-Autos* auf dem US-Markt, Ohne den Zwang durch die US-Behör-
32

in Milliarden Euro in Tausend den hätte Volkswagen vermutlich nicht so


Stand: 27. Februar 2020 mehr als flott gehandelt. In Deutschland zögerten
200
53

die Autohersteller lange, eigenes Geld in


+ 500%
12

Ladenetze zu investieren. Bis sich BMW,


20

131 Daimler, Ford und VW im Herbst 2016


19

endlich dazu durchgerungen hatten, eige-


20

76 ne Stromtankstellen aufzustellen, hatte ein


44 42 US-Rivale bereits die Welt mit rund 5000
Ladesäulen überzogen: Tesla. Kein Her-
Toyota Tesla VW Honda Daimler * Tesla nur Batteriefahrzeuge,
steller verkauft derzeit vergleichbar viele
übrige Hersteller inkl.
438
Plug-in-Hybride E-Fahrzeuge; die eigene Infrastruktur hat
Tesla 58% sich für die Kalifornier ausgezahlt. Und
363 während es VW nie wirklich gelang, in den
323 USA Fuß zu fassen, dringt Tesla immer
tiefer in die Heimat der deutschen Auto-
213 industrie vor. In der neu geplanten Tesla-
Fabrik in Brandenburg sollen künftig jähr-
lich bis zu 500000 E-Autos vom Band rollen.
Schwächelnde Marktanteile der Tesla greift in Brandenburg an, VW in
Wolfsburger Virginia. Der Zweikampf zwischen dem
Pkw-Absatz der Marke VW
E-Mobil-Hersteller * größten Autobauer der Welt und dem in-
in den USA, in Tausend in den USA novativsten wird weltweit ausgetragen.
2019, in Prozent VW-Chef Herbert Diess, immer noch glo-
09 12 16 19 baler Marktführer bei klassischen Antrie-
ben, macht kein Geheimnis daraus, dass
Spätstarter Toyota er sich herausgefordert fühlt. Volkswagen
Sonstige Honda
Schnellladesäulen BMW Chevrolet 7,2 müsse »deutlich schneller werden«, for-
in den USA 2019 3,5 Nissan derte er seine Topmanager unlängst auf.
Electrify America 1812 3,8 6,5 Ansonsten werde der würdige Nachfolger
(VW-Tochterfirma) 3,8 4,2 des Käfers und des Golfs kein VW-Fahr-
Tesla 7426 zeug mehr sein, warnte Diess im internen
Quellen: Bloomberg, AFDC, Carsalesbase VW inkl. Audi und Porsche Redetext, sondern ein Tesla mit einer Mil-

64
STEPHEN VOSS / DER SPIEGEL
Electrify-America-Chef Palazzo

lion Einheiten pro Jahr. Es geht also um spitze hielt man das für ein unsicheres le sich »vom Diesel-Schmuddelkind zum
viel. Deshalb hat Diess dem VW-Konzern Geschäftsmodell, darum sollten sich lie- Elektro-Gorilla«, warnte das US-Fach-
einen radikalen Wandel verordnet. Er will ber die Energieversorger kümmern. Doch portal E&E News.
Tesla schlagen, um nicht vom E-Auto-Pio- schon bald beurteilte VW das anders. Mittlerweile hat sich die Stimmung ge-
nier abgehängt zu werden. 60 Milliarden Als im Herbst 2015 der Abgasbetrug dreht. Electrify America und Chargepoint
Euro sollen in Elektroautos und Digitali- aufflog, änderte sich Palazzos internes haben 2019 ihre Netze verbunden, mehr
sierung fließen – ein gigantisches Unter- Standing schlagartig. Der Italiener saß mit als 30 000 Ladepunkte können nun be-
fangen. am Tisch, als VW-Juristen den Milliarden- quem von Kunden beider Anbieter ge-
Die Aufholjagd kann nur gelingen, vergleich in den USA aushandelten, der nutzt werden. Auch zum VW-Rivalen
wenn der Konzern alle Weltmärkte mit den Konzern auch verpflichtet, zwei Mil- Tesla, dem Betreiber des derzeit größten
konkurrenzfähigen E-Modellen versorgt. liarden Dollar in ein landesweites Lade- Schnellladenetzes in den USA, pflegt Pa-
Dazu gehören auch die USA, wo die Mar- netz zu investieren. Mindestens bis Ende lazzo Kontakt. Man trifft sich, um gemein-
ke VW derzeit auf klägliche zwei Prozent 2026 muss VW das Netz aufbauen, betrei- sam Stromtankstellen zu planen und mit
Marktanteil kommt. ben und instandhalten. Behörden oder Versorgern zu verhandeln.
Jahrelang setzten die Car-Guys aus Im Sommer 2018 wurde Palazzo in die Die Wettbewerber eint das Interesse,
Wolfsburg auf Dieselautos als vermeint- USA versetzt, als Chef von Electrify Ame- ihre Ladeinfrastruktur möglichst zügig aus-
lich umweltfreundliche Motorisierung. rica, einer hundertprozentigen VW-Toch- zubauen. Doch während Tesla ein ge-
Der »Clean Diesel« sollte in Europa und ter. Nahe der US-Hauptstadt Washington, schlossenes Netz betreibt, das andere Mar-
Amerika Milliardenerlöse einspielen. Elek- D. C., rund 6600 Kilometer von Wolfsburg ken ausschließt, ist Electrify America zur
troautos hielten die Konzernstrategen für entfernt, hat er sich ein kleines E-Reich ge- Neutralität verpflichtet. Elektroautos aller
Nischenprodukte. Erst um das Jahr 2010 schaffen. In den Büros in Reston, unweit Hersteller dürfen die Schnellladesäulen be-
herum begannen sie, sich intensiver mit des Testlabors, arbeiten rund 80 Leute da- nutzen. Ein klarer Vorteil, sagt Palazzo:
E-Mobilität zu beschäftigen. Sie holten ran, das Ladenetz auszubauen. Sie suchen »Mit einem offenen Netz können wir viel
einen jungen Daimler-Manager aus Ita- Standorte, beantragen Baugenehmigun- mehr Nutzer gewinnen und ein stabiles
lien, der dort den Elektro-Smart auf den gen, verhandeln mit Behörden und Ener- Geschäftsmodell entwickeln.«
Markt gebracht hatte: Giovanni Palazzo gieversorgern. Viele kommen von Konkur- Die Zahl der aktuell rund 1800 Schnell-
sollte für VW Ideen entwickeln, wie man renten wie BMW, Ford oder Tesla. Nur je- ladesäulen soll sich bis Ende 2021 fast
mit E-Mobilität Geld verdienen konnte. der Zehnte kommt von Volkswagen. verdoppeln. Wenn Electrify America in
Doch in Wolfsburg hatte er anfangs einen Die räumliche und kulturelle Distanz diesem Tempo weitermacht, könnte das
schweren Stand. zur VW-Zentrale ist nötig, um Misstrauen Unternehmen bis Ende 2026 etwa 1600
Sein Vorschlag, ein eigenes Ladenetz abzubauen. Andere Netzanbieter wie Stationen mit mehr als 7000 Ladesäulen
aufzuziehen, um der E-Mobilität zum Chargepoint fürchteten zunächst, Electrify aufgestellt haben.
Durchbruch zu verhelfen, stieß damals im America werde sie mithilfe der VW-Mil- Längst verfolgt Palazzo eine Wachs-
Management auf Skepsis. In der Konzern- liarden ausbremsen. Volkswagen verwand- tumsstrategie, die über Amerika und das

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 65


raufhin fast ein Drittel der Verbraucher
an, die Marke komplett zu meiden. Im
Branchenschnitt liegt dieser Wert bei 8 bis
9 Prozent. Auch gut vier Jahre später ge-
hen immer noch 16 Prozent der Kunden
VW-Händlern bewusst aus dem Weg, sie
besuchen noch nicht einmal die Website.
Technisch betrachtet brauchte der Kon-
zern dringend neue, sauberere Antriebe.
Moralisch gesehen musste das Bösewicht-
Image weg. »Wer in den USA als Darth
Vader wahrgenommen wird«, sagt Keogh,
»kann keine Autos verkaufen.«
Unter dem Druck der Behörden bemüh-
te sich VW um Schadensbegrenzung. Etwa
tausend Leute waren damit beschäftigt, rund

JENS BÜTTNER / DPA


2,7 Millionen Anrufe erboster US-Kunden
entgegenzunehmen. Etwa 400 000 Be-
trugsdiesel nahm der Hersteller aus dem
Markt. Seither kämpft der Konzern um
VW-Vorstandsvorsitzender Diess: Kampf um Marktanteile und Sympathien Marktanteile und Sympathien.
VW hat die Modellpalette mittlerweile
um einige SUVs ergänzt. Deren Anteil an
Mandat der US-Justiz hinausgeht. Seit marke avancierte. Vom Farmer bis zum den Verkäufen stieg innerhalb weniger Jah-
2019 stellt die Schwesterfirma »Electrify Hippie, fast jeder habe damals einen Käfer re von knapp 15 Prozent auf mehr als 50
Canada« Ladesäulen auch im Nachbar- gefahren. Auch seine Eltern. »Wir alle ha- Prozent. Der Absatz hat sich etwas erholt,
land auf. Zudem sondiert Palazzo den Vor- ben eine Volkswagen-Geschichte«, sagt er. er liegt jedoch noch unter dem Niveau von
stoß in neue Märkte wie Südamerika. Die In den Neunzigern erlebte die Marke ei- 2014, dem Jahr vor Ausbruch der Diesel-
Namensrechte hat er sich bereits gesichert. nen zweiten kleinen Höhenflug mit den krise. Das endgültige Comeback soll »mit
Für die Expansion brauchte er jedoch Modellen Golf und Jetta. Doch dann ver- bezahlbaren E-Autos« (Keogh) gelingen.
mehr Geld. Das könnte von externen In- lor VW das Gespür für den US-Markt. Im- Das US-Werk in Chattanooga, Tennes-
vestoren kommen oder von VW selbst. mer mehr Amerikaner fuhren SUVs, und see, wird gerade um eine E-Fertigung er-
Der Konzern nutzt derzeit jede Chance, solche Sportgeländewagen hatte Volkswa- weitert. Rund tausend neue Arbeitsplätze
sich als E-Auto-Vorreiter zu profilieren. gen nicht rechtzeitig im Sortiment. sollen dort entstehen. Das ist zwar nur ein
Während VW in Deutschland bis heute be- Auch Pick-ups, eines der größten Wachs- Bruchteil dessen, was Tesla in Deutschland
streitet, gegen Gesetze verstoßen zu ha- tumssegmente in den USA, fehlten lange plant. US-Präsident Donald Trump war
ben, geben Diess und Co. in den USA den im Portfolio. Entsprechend schwach liefen dennoch begeistert, auf Twitter sprach er
reumütigen Dieselsünder. Sogar in Werbe- die Verkäufe, die US-Tochter rutschte in von einem »großen Sieg«.
spots. In ihnen sitzt ein VW-Designer zer- die roten Zahlen. Der Ärger in Wolfsburg Die amerikanische Justiz sieht ebenfalls
knirscht in einem düsteren Büro, im Hin- war groß, VW-Betriebsratschef Bernd Fortschritte. Im Sommer soll US-Aufpas-
tergrund verkünden Nachrichtensprecher Osterloh bezeichnete das USA-Geschäft ser Larry Thompson, der VW seit Mitte
»neue Details im wachsenden Skandal um als »Katastrophenveranstaltung«. 2017 überwacht, seinen Abschlussbericht
Volkswagen«. Plötzlich kommt dem De- Den letzten Rest an Sympathie verspiel- vorlegen. Ihm waren zuletzt keine groben
signer die rettende Idee: Er baut einen al- te Volkswagen im Herbst 2015, als der Die- Verstöße mehr aufgefallen. Die Chancen
ten VW-Bulli zum strahlenden E-Mobil selbetrug aufflog. In Befragungen gab da- scheinen gut, dass sein Mandat bald endet.
um. Der passende Claim: »In der Dunkel- Damit aus der geplanten Sanierung
heit haben wir das Licht gefunden.« (2020 soll VW in Nordamerika endlich
Scott Keogh, seit November 2018 USA- Teurer Betrug wieder Gewinn machen) auch eine Wachs-
Chef von VW, ist ein Marketingprofi. In Kosten des Dieselskandals für VW in den USA tumsstory wird, denken die Strategen in
den Vereinigten Staaten komme es gut an, 2016/17 insgesamt: rund 20,8 Mrd. Dollar Wolfsburg darüber nach, sich enger mit ei-
Reue zu zeigen und Wiedergutmachung nem US-Konzern zu verbünden. Mit Ford
anzubieten, sagt er. Wer wieder aufstehe, 2,0 Mrd. arbeitet VW bereits zusammen, etwa bei
wie der gestrauchelte Filmboxer Rocky, Verpflichtung zum Nutzfahrzeugen und autonomen Fahrsys-
der erhalte auch eine zweite Chance. »Wir Aufbau einer temen. In einigen Jahren, so die Idee,
bieten eine großartige Botschaft, und die Ladeinfrastruktur könnte die Allianz ausgeweitet werden.
für E-Mobilität zum
Amerikaner werden sie mögen.« Vergleich: Fast alles sei denkbar, auch, dass VW
Am Eingang der Amerikazentrale in VW- in Amerika künftig Pkw unter der Marke
Herndon bei Washington, 2200 Ferdinand rund 10 Mrd. Konzerngewinn Ford anbietet, heißt es. Der US-Konzern
Porsche Drive, hängt eine weiße Motor- Entschädigung weltweit könnte im Gegenzug Pick-ups für Volks-
haube. Darauf steht ein Satz, der fast wie für Kunden nach Steuern wagen bauen. Fords großes Händlernetz
ein Bibelvers klingt: »Ich verspreche, in 2014: böte sich für den Verkauf der gemeinsa-
all meinem Tun mit Ehrlichkeit, hohem 13,5 Mrd. men Fahrzeuge an. Es wäre die Kombina-
moralischem Charakter und ethischem Dollar tion deutscher Ingenieurskunst mit einer
8,8 Mrd.
Verhalten zu handeln.« Darunter finden sonstige Strafen, etablierten amerikanischen Marke.
sich Unterschriften von Mitarbeitern. Vergleichs- und Und eine ernste Herausforderung für
Keogh erzählt vom Amerika der späten Ausgleichszahlungen Tesla in dessen Revier. Simon Hage
Sechzigerjahre, als VW zunächst zur Kult-

66 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Wirtschaft

Tschüss,
Die Szenarien liegen so weit auseinan- Dumm nur, wenn die Warnungen ver-
der, weil sie von unterschiedlichen Annah- hallen. Denn schon im letzten Bericht von
men ausgehen, wie sich Demografie und 2016 war von drohenden Tragfähigkeits-

Überschuss
Wirtschaft entwickeln. Sinkt beispielswei- lücken die Rede – relativ wie absolut fielen
se die Arbeitslosigkeit oder arbeiten mehr sie damals allerdings noch geringer aus.
Frauen, kassiert der Staat mehr Steuern Die finanzpolitische Zögerlichkeit der
und muss weniger für Sozialleistungen Koalition hat die Probleme offensichtlich
Finanzen Die Regierung ausgeben. nicht gelöst, sondern verschärft, trotz Dau-
rechnet langfristig Von ausgeglichenen Etats, Überschüs- erwachstum, Rekordbeschäftigung und
sen gar muss die Republik laut der Pro- Überschüssen.
mit einer Finanzlücke von bis gnosen Abschied nehmen. Im schlechteren Scholz’ Fachleuten ist diese Erkenntnis
zu 140 Milliarden Euro. Fall dreht der Staatshaushalt bereits 2025 offenbar peinlich. Jedenfalls weisen sie in
Schon 2025 droht ein Defizit. ins Rote. Bis zum Jahr 2060 stiege das jähr- ihrem Bericht selbst nicht darauf hin: Der
liche Defizit auf fast 14 Prozent vom BIP, Vergleich zu früheren Projektionen, sonst
nach heutigen Maßstäben fast eine halbe üblich, fehlt diesmal.

D ie Zeiten der schwarzen Null nei-


gen sich dem Ende zu. Das offen-
bart der sogenannte Tragfähigkeits-
bericht, den Bundesfinanzminister Olaf
Billion Euro. In der günstigen Variante
dauert es drei Jahre länger bis zum Minus
in der Staatskasse. Das Defizit würde
2060 auf knapp fünf Prozent steigen.
Die Defizitkaskade, die dem Land be-
vorsteht, wirkt sich natürlich auch auf die
Schuldenstandquote aus. Sie gibt an, wie
hoch der Staat im Verhältnis zum BIP ver-
Scholz (SPD) in der kommenden Woche Alle paar Jahre soll der Finanzminister schuldet ist. Auch dort sieht es düster aus.
im Kabinett vorstellen will und dessen Ent- den Tragfähigkeitsbericht vorlegen. Dieses In der Negativvariante verdreifacht sich
wurf dem SPIEGEL vorliegt. In dem Papier Mal aber ließ das Werk ziemlich lange auf die Quote von derzeit rund 60 Prozent bis
werden zwei Szenarien durchgespielt, wie sich warten. Das liegt zum einen daran, 2060 auf mehr als 180 Prozent. In der
sich die öffentlichen Finanzen bis 2060 dass der Bericht unter Scholz deutlich um- Positivprognose steigt sie auf 75 Prozent.
entwickeln könnten. Beide Varianten ent- fangreicher ausfällt als unter seinen Vor- Vieles hängt auch davon ab, wie sich
halten dieselbe Botschaft: Die fetten Jahre gängern. Aber die Trödelei hat auch einen die Zinsen entwickeln. Sollte die aktuelle
sind vorbei. politischen Grund. Scholz und seine Leute Niedrigzinsphase noch bis 2060 anhalten,
Die entscheidende Größe in dem Be- wollten vermeiden, dass die düsteren Pro- würde der Schuldenstand mit 125 Prozent
richt ist die Tragfähigkeitslücke. Sie be- gnosen die schöne Nachricht vom Rekord- im Negativszenario immer noch hoch,
schreibt, wie viel Geld dem Staat ange- überschuss im Bundeshaushalt von 2019 aber deutlich niedriger liegen als befürch-
sichts des demografischen Wandels fehlt, überschatten. tet. Im günstigen Fall würde er sogar auf
um dauerhaft alle öffentlichen Aufgaben Denn die Botschaft seiner Fachleute ist 50 Prozent sinken. Wahrscheinlich ist die-
und den Schuldendienst leisten zu können. eindeutig: Es muss etwas geschehen. Die se Zinsprognose aber nicht.
Es geht um enorme Summen. öffentlichen Kassen präsentieren sich alles Scholz’ Leute schlagen vor, die Lücken
Im Positivszenario fehlen in den Kassen andere als zukunftsfest. in den Haushalten nicht auf einen Schlag
von Bund, Ländern, Gemeinden und So- Oder im Deutsch der Ministerialbüro- zu schließen, sondern schrittweise über
zialversicherungen 1,49 Prozent des Brut- kratie: »Mit dem Bericht zur Tragfähig- die nächsten fünf Jahre verteilt. Im Posi-
toinlandsprodukts (BIP) – ein Betrag von keit der öffentlichen Finanzen verfügt das tivszenario müsste die Regierung dann
rund 50 Milliarden Euro. In der Negativ- Bundesfinanzministerium über ein eta- Jahr für Jahr eine Summe von rund 10
berechnung fehlen gar 4,1 Prozent des BIP, bliertes Frühwarnsystem«, wie es in dem Milliarden Euro im Jahr aufbringen, im
rund 140 Milliarden Euro. Entwurf heißt. zweiten eine von knapp 30 Milliarden
Euro.
Die Regierung kann dazu entweder
Kaum zukunftsfest sparen, die Einnahmen verbessern oder
Geschätzte Entwicklung des gesamtstaatlichen Haushaltssaldos, in Prozent des Bruttoinlandsprodukts eine Mischung aus beidem beschließen.
Besonders wirksam wäre, wenn die Deut-
Variante T+ Variante T– schen später in Rente gingen.
Die segensreiche Wirkung eines sol-
0% chen Schritts auf die Staatsfinanzen liegt
auf der Hand. Wer länger arbeitet, zahlt
mehr Steuern und bezieht kürzer Rente –
das entlastet die öffentlichen Kassen. Ein
zusätzliches Jahr Lebensarbeitszeit ab
– 5%
–4,9 % 2037 würde die Lücke um 0,44 Prozent
vom BIP mindern, rechnet der Bericht
vor. Das wären rund 15 Milliarden Euro.
Das Problem für den Finanzminister
– 10%
Variante T– geht im Vergleich zu Variante T+ bleibt jedoch, dass seine Partei bislang
unter anderem von einer niedrigeren Geburtenziffer stets ausgeschlossen hat, das Rentenein-
und Zuwanderung sowie einer höheren Lebenserwartung trittsalter noch einmal zu erhöhen. Dass
und Erwerbslosen- und Arbeitslosenquote aus. ausgerechnet ein Bericht aus dem Hause
–13,8% des Sozialdemokraten Scholz die Wirk-
– 15% samkeit einer solch unpopulären Maßnah-
me hervorhebt, zeigt nur eines: wie ernst
Quelle: Bundesfinanzministerium es um die Staatsfinanzen steht.
Christian Reiermann
2020 2030 2040 2050 2060

67
Wirtschaft

»Die Hälfte lehnen wir ab«


Innovationen Der Präsident des Europäischen Patentamts, António Campinos, kontert den
Vorwurf, das Patentsystem sei zu teuer und behindere den technischen Fortschritt.

Das Europäische Patentamt (EPA) mit Sitz gang auf Wunsch auf zehn Tage oder sogar 20 Prozent von kleinen und mittleren
in München ist keine EU-Behörde, sondern eine Woche abzukürzen. Betrieben und der Rest von Universitäten
basiert auf einem Patentübereinkommen, SPIEGEL: Wie viele Patentgesuche lehnen und Forschungseinrichtungen.
das 38 Staaten unterzeichnet haben. Sein Sie ab? SPIEGEL: Was auch daran liegen kann, dass
Jahresetat von rund 2,5 Milliarden Euro Campinos: Im Durchschnitt der vergange- Konzerne mit großen Budgets und Rechts-
speist sich aus den Gebühren der Patent- nen Jahre lehnen wir knapp die Hälfte ab. abteilungen unfaire Vorteile haben. Man-
anmelder. Der Portugiese Campinos, 51, ist Etwa ein Drittel der Anmelder zieht den che kaufen ganze Portfolien an Patenten
seit Juli 2018 Präsident des Amts. Antrag zurück – vor allem wenn unsere auf. Wer heute in die Chipproduktion ein-
erste Einschätzung negativ ausfällt. Unsere steigen wollte, müsste erst mal Patente für
SPIEGEL: Herr Campinos, Patente wurden Anmeldungen sind zuletzt jeweils jährlich dreistellige Millionensummen lizenzieren.
erfunden, um das geistige Eigentum von um fast fünf Prozent auf neue Höchstwerte Campinos: Diese Sichtweise ist mir zu ein-
Erfindern zu schützen, ihre Investitionen gestiegen, 2018 waren es 174 000. seitig. Smartphones stecken voller Patente,
abzusichern und damit Innovation anzu- SPIEGEL: Viele Erfinder kritisieren aller- und doch gibt es eine Menge Hersteller.
kurbeln. Erfüllen sie diesen Zweck noch? dings die hohen Kosten. Sie sind erschwinglich, fast jeder hat eines
Campinos: Wir haben das von unserem Campinos: Für die erste Abfrage und Ein- in der Tasche.
Chefökonomen untersuchen lassen, die schätzung fallen rund 1500 Euro Amts- SPIEGEL: Dennoch nutzen viele Firmen
Zahlen sprechen für sich. Industrien, die gebühren an, bis zur Gewährung des Pa- Patente bloß, um mögliche Wettbewerber
in hohem Maß geistige Eigentumsrechte tents etwa 5000 Euro. in Schach zu halten, statt ihnen gegen
nutzen, stehen für 45 Prozent der EU-Wirt- SPIEGEL: Damit liegen Sie preislich weit Lizenzgebühren die Nutzung zu erlauben.
schaftsleistung, mehr als 80 Prozent aller oben. Eine Anmeldung beim Deutschen So wird Innovation eher verhindert als ge-
Exporte, und sie zahlen bis zu 47 Prozent Patent- und Markenamt ist deutlich güns- fördert.
höhere Löhne. tiger. Campinos: Es gibt diese ruhenden Patente,
SPIEGEL: Da reden wir über etablierte Un- Campinos: Die Kollegen vergeben aller- wie viele genau das sind, untersuchen wir
ternehmen. Doch taugt das in der Indus- dings auch nur ein Schutzrecht für den gerade. Nach der Finanzkrise haben aber
triegesellschaft gereifte Patentsystem für deutschen Markt, bei uns gilt es für bis zu auch große Konzerne ihr Patentportfolio
die neue digitale Wirtschaftswelt? Wie lan- 38 Mitgliedstaaten sowie für sechs weitere reduziert. Tausende unprofitable Patente
ge braucht ein Patentantrag bei Ihnen? Märkte. Wirklich hohe Kosten entstehen auf vielen Märkten zu besitzen – das geht
Campinos: Er durchläuft verschiedene sowieso erst, wenn Ihr europäisches Patent selbst bei den Großen ins Geld.
Stufen, insgesamt dauert es im Schnitt vier erteilt worden ist. Dann müssen Sie es SPIEGEL: Prominente Stimmen wie der
bis fünf Jahre, bis wir ein Patent formal meist mehrfach übersetzen lassen und jähr- Nobelpreisträger Joseph Stiglitz fordern
erteilen können. liche Gebühren bezahlen, um es zu erhal- eine grundlegende Reform des Patentsys-
SPIEGEL: Im Digitalzeitalter ist das eine ten. Häufig brauchen Sie auch Patent- tems, andere sogar seine Abschaffung.
Ewigkeit. Bis dahin sind Ideen doch längst anwälte. Und wenn es zum Streit kommt Campinos: Nicht das System an sich ist
kopiert oder technisch überholt. und die Sache vor Gericht geht, kostet das schlecht, es sind Einzelne, die es missbrau-
Campinos: In der wichtigen ersten Phase in manchen Staaten schnell eine halbe bis chen. Ich sehe keine ernsthafte Alternative
nach einer Anmeldung sind wir deshalb eine Million Euro. zum Patent, es gibt nichts Besseres. Un-
besonders schnell. Unsere Experten befra- SPIEGEL: Verständlich, dass das auf einige ternehmen, die über zehn Jahre ein neues
gen mit hauseigenen Suchmaschinen un- Tüftler abschreckend wirkt, oder? Molekül entwickeln und Hunderte Millio-
sere Datenbanken, ob das Beschriebene Campinos: Das Bild vom einsamen Erfin- nen dafür ausgeben, werden ihre Investi-
tatsächlich neu ist und sich nicht direkt aus der in seiner Garage, der einen Geistesblitz tionen immer absichern müssen. Das Pa-
dem Stand der Technik herleiten lässt – hat, ist weitverbreitet und sehr romantisch. tentsystem ermöglicht das.
ob es also wirklich erfinderisch ist. Zudem In der Realität kommen 70 Prozent un- SPIEGEL: Es gibt auch andere Methoden,
prüfen wir, ob es einen technischen Cha- serer Anmeldungen von Großkonzernen, sich zu schützen, etwa durch Urheber-
rakter hat und gewerblich anwendbar ist. rechte, Markenschutz oder Geschäfts-
Nach dieser Recherche bekommen Sie geheimnisse.
eine ausführliche erste Einschätzung. Erfindergeist Campinos: Sicher, aber wenn wir Patente
Wenn die positiv ausfällt, haben Sie eine Europäische Patentanmeldungen, 2018 Quelle: EPA abschaffen, werden wir in einer Welt voller

174 317
hohe Wahrscheinlichkeit, dass Ihr Patent Geschäftsgeheimnisse wie der Coca-Cola-
erteilt wird. Damit können Sie zu Banken Formel landen. Das wäre intransparent
und Wagniskapitalgebern gehen, um eine und innovationshemmend. Unsere Daten-
Finanzierung zu bekommen. 4,6 % mehr als im Vorjahr
bank EspaceNet ist kostenlos öffentlich
SPIEGEL: Was heißt besonders schnell? davon erhalten eine einsehbar. Sie umfasst 110 Millionen
etwa 50 % Patenterteilung
Campinos: Aktuell brauchen wir für die Patentdokumente, die per Knopfdruck in
erste Stufe im Schnitt etwas mehr als vier der Patentgesuche 31 Sprachen übersetzt werden können.
rund 70 % kommen von Großkonzernen
Monate, damit sind wir weltweit spitze. Das ist ein Schatz, der stets zugänglich
Unser US-Pendant braucht erheblich län- 4 bis 5 Jahre dauert die Prüfung
im Durchschnitt
bleibt. Niemand muss das Rad neu erfin-
ger. Mir reicht das aber nicht, ich möchte den. Innovatoren können auf der Arbeit
unseren Anmeldern anbieten, den Vor- rund 5000 € kostet die Patentgewährung ihrer Vorgänger aufbauen.

68
ROBERT BREMBECK / DER SPIEGEL
Behördenchef Campinos im Sitzungssaal des EPA: »Wir erteilen Patente nur an Menschen als Erfinder, nicht an Maschinen«

SPIEGEL: In der Tech-Branche haben man- Patentrecht kann aber auch hier eine Ba- Campinos: Nehmen Sie das autonome
che Firmen längst größere Forschungsetats lance zwischen den verschiedenen Interes- Fahren. Die Algorithmen, die es möglich
als viele Staaten. Kleine und mittlere Un- sen schaffen. machen, sind nicht patentierbar – sehr
ternehmen sind da doch völlig chancenlos. SPIEGEL: Ihr Amt hat allerdings schon wohl aber ihr Zusammenspiel mit den im
Campinos: Es gäbe für viele dieser Kritik- Hunderte solche Patente erteilt, für die Auto verbauten Chips und Sensoren. Also
punkte längst eine Lösung, das europäi- Anti-Matsch-Tomate beispielsweise oder den Erfindungen, die Autos zu autonomen
sche Einheitspatent. Damit würde ein ein- Verfahren zur Schweinezucht. Wahrnehmungen und Entscheidungen
heitliches Gericht geschaffen. Ein Großteil Campinos: Als Präsident bin ich unpartei- befähigen.
der bisherigen Kosten fiele weg, etwa für isch und halte mich an unsere Regeln. Da- SPIEGEL: Und was passiert, wenn künst-
Übersetzungen und Anwälte in jedem nach dürfen wir keine Patente für Lebe- liche Intelligenz Dinge erfindet?
Land. Bei einer vollen Laufzeit von 20 Jah- wesen ausstellen, wenn es im Kern um bio- Campinos: Einen solchen Fall hatten wir
ren würden die gesamten Gebühren bei logische Züchtungsverfahren geht – also gerade. In zwei Anmeldungen tauchte ein
etwa 35 000 Euro liegen, nicht mehr bei wenn etwa Samen gekreuzt werden. An- gewisser »Dabus« als Erfinder auf – eine
170 000 Euro wie bisher. Zudem sieht es ders sieht es für gentechnisch veränderte Maschine mit künstlicher Intelligenz. Wir
explizit Rabatte für kleinere Unternehmen Pflanzen und Tiere aus, wo die Erfindung haben beide Gesuche abgelehnt, denn wir
vor, die das Spiel bislang vielleicht nicht auf einem technischen Schritt beruht, etwa erteilen Patente nur an Menschen als Er-
ganz so gut beherrschen. Und es schafft auf einer transgenen Veränderung. Im Üb- finder, nicht an Maschinen. Es war unser
größere Anreize, Patente nicht zu horten, rigen können alle von uns erteilten euro- erster Fall dieser Art, aber es wird wohl
sondern an andere zu lizenzieren. päischen Patente juristisch angefochten nicht der letzte bleiben.
SPIEGEL: Warum gibt es dieses Einheits- werden – was in den von Ihnen genannten SPIEGEL: Haben Sie eine Lieblingserfin-
patent nicht längst? Fällen auch geschehen ist. Beide Patente dung?
Campinos: Vor zwei Jahren hatten wir den bestehen nicht mehr. Campinos: Ah, das ist nicht leicht. Ich ver-
Punkt erreicht, an dem das einheitliche Pa- SPIEGEL: Auf Software kann man bei rate Ihnen meine Lieblingserfinderin: Das
tent und das dazugehörende Gericht hätten Ihnen keine Patente anmelden, auf An- ist die Molekulargenetikerin Margarita
starten können. Leider ist in Deutschland wendungen der künstlichen Intelligenz (KI) Salas, die leider im November verstorben
eine Verfassungsbeschwerde dagegen an- hingegen schon. Können Sie das erklären? ist – kurz nachdem wir sie mit dem euro-
hängig, die von einem Patentanwalt ein- Campinos: Das mag verwirren, zugege- päischen Erfinderpreis für ihr Lebenswerk
gereicht wurde. Wir rechnen mit einer Ent- ben. Hinter KI stecken Algorithmen, deren ausgezeichnet haben. Sie hat einen Weg
scheidung noch im ersten Quartal. Software als solche wir nicht patentieren. gefunden, DNA-Spuren von Tatorten zu
SPIEGEL: Wie stehen Sie zu der hoch um- Auf die technischen Lösungen insgesamt, replizieren – sodass selbst die smartesten
strittenen Patentierung von Pflanzen und die auf künstlicher Intelligenz beruhen, er- Kriminellen heute anhand kleinster DNA-
anderen Lebewesen? teilen wir Patente – solange sie wirklich Spuren überführt werden können.
Campinos: Als Privatperson verstehe ich, neu und erfinderisch sind. Interview: Marcel Rosenbach
dass viele Vorbehalte dagegen haben. Das SPIEGEL: Was heißt das konkret?

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 69


Wirtschaft

Heimweg – während der Arbeitszeit wohl-

Abends daheim gemerkt. Ihm sei es allerdings immer lie-


ber, sagt Wirth, wenn er in einem Bahnhof
stoppen könne. »Ich setze mich in den
Pausenraum und warte dort auf einen Zug,
Arbeitszeit Mit dem Güterverkehr schreibt die Bahn seit Jahren der mich zurückbringt.« Das sei ange-
rote Zahlen. Das liegt auch an einer absurden Vorschrift. nehmer.
Bis zu 20-mal hielt ein Güterzug der
Deutschen Bahn zuletzt an, ehe er sein
Ziel endgültig erreichte. Und 80 Stunden
dauerte es im Durchschnitt, bis DB Cargo
eine Ladung zustellte.
Neben den Lokführern freut sich das
Taxigewerbe über die Regelung. 5,4 Mil-
lionen Euro soll DB Cargo allein 2017 da-
für ausgegeben haben, Lokomotivführer
zur Lok, zum nächsten Bahnhof oder nach
Hause zu kutschieren, berichtete die »Wirt-
schaftswoche«. Einzelne Fahrten für meh-
rere Hundert Euro seien nicht selten.
Intern murren die Bahn-Manager über
die Arbeitsverträge der Lokführer. Sie wür-
den ihnen lieber mehr Geld zahlen, damit
sie die Züge ohne ständige Unterbrechun-
gen rollen ließen. Aber die Gewerkschaf-
ten sperren sich gegen Änderungen.
Hinzu kommt: Lokführer werden über-

RALF HIRSCHBERGER / DPA


all händeringend gesucht, sie sind wert-
voll. Auch Wettbewerber halten sich an
den Tarifvertrag. Allerdings setzen sie
ihr Personal häufig effizienter ein. »Unse-
re Eisenbahnen praktizieren die Zwei-
Schicht-Symmetrie«, sagt Peter Westen-
DB-Güterlokomotive: »Wir haben immer dort Feierabend, wo wir angefangen haben« berger, Geschäftsführer vom Netzwerk
Europäischer Eisenbahnen. Darin sind
viele Unternehmen zusammengeschlos-

V on einem Arbeitnehmer wird ge-


meinhin erwartet, dass er in seiner
Arbeitszeit arbeitet. Im Falle eines
Lokführers hieße das, er müsste Lok fahren.
»Wir haben immer dort Feierabend, wo
wir angefangen haben«, sagt Ernst Wirth
aus Würzburg, einer von rund 4000 Lok-
führern der DB Cargo. Sein normaler Ar-
sen, die nicht zum DB-Konzern gehören.
Deren Lokführer bringen ihre Züge so nah
wie möglich an den Bestimmungsort und
fahren nach einer Pause oder Übernach-
Doch in den Lokomotiven der DB Cargo, beitstag läuft daher meist in Dritteln ab: tung einen anderen Güterzug zurück. Vie-
der Gütertransportsparte der Deutschen Lokomotive fahren, warten, Heimfahrt. le Unternehmen würden den Lokführern
Bahn, verbringen die Lokführer in der Re- Schichtsymmetrie heißt das. »Für den die Wahl lassen. Je flexibler sie seien,
gel nur gut ein Drittel ihrer Arbeitszeit. Viel Arbeitnehmer beginnt und endet die Ar- desto höher falle ihr Verdienst aus. »Fast
häufiger sitzen sie während der Dienstzeit beitszeit am Ort des Dienstbeginns«, steht alle Lokführer fahren lieber, als dass sie
in Wartehallen, Taxis oder in anderen im Tarifvertrag, den die Gewerkschaft der viel herumsitzen. Und es hilft unseren
Zügen, die sie wieder nach Hause bringen. Lokführer (GDL) für ihre Mitglieder aus- Unternehmen dabei, kundenorientierter
Der Grund: Die Bahn achtet darauf, dass gehandelt hat. Eine Bahn-Sprecherin be- zu arbeiten als die Konkurrenz«, so
jeder Lokführer rechtzeitig zum Feierabend stätigt die Praxis auf Anfrage. Westenberger.
wieder seinen Heimatbahnhof erreicht. So Die Auswirkungen sind erheblich. DB Cargo weiß um das Problem. Aus
will es der komfortable Tarifvertrag der Lo- »Wenn meine pünktliche Ankunft am Hei- der Not heraus muss das Unternehmen
komotivführer. Die schnelle oder gar pünkt- matbahnhof gefährdet ist, bleibt der Zug eilige Aufträge an Firmen vergeben, deren
liche Ankunft der Güterwaggons ist dabei eben stehen«, sagt Lokführer Wirth. Der Lokführer nicht nach einem Drittel der
offenbar von nachrangiger Bedeutung. Feierabend des Zugführers daheim ist Arbeitszeit die Arbeit einstellen. »In Ein-
Seit Jahren steckt DB Cargo tief in den wichtiger als die Lieferung der Ladung. zelfällen bedient sich DB Cargo Tochter-
roten Zahlen, Besserung ist nicht in Sicht. Zeichnet sich ein solches Katastrophen- unternehmen, die nicht an die Tarifver-
Besonders defizitär ist der sogenannte Ein- szenario ab, hält Wirth an. Er stellt den träge der GDL gebunden sind«, sagt eine
zelwagenverkehr. Dabei wird in einem Zug irgendwo ab, sichert ihn und wartet, Bahn-Sprecherin.
komplexen Rangierverfahren ein Zug aus bis ein anderer Lokführer kommt und Hohe Verluste, sinkende Leistung und
Waggons diverser Kunden zusammen- weiterfährt. Dann macht er sich auf den unflexible Lokführer machen DB Cargo
gestellt. Für 2019 rechnet man intern mit zu schaffen. Ein Zukunftskonzept ist in
300 Millionen Euro Verlust in dieser Spar- Arbeit, wie es heißt. Teil des Plans sind
te, für dieses Jahr sehen die Prognosen »Fast alle Lokführer vollautomatische Rangierloks – da braucht
kaum besser aus. Flexiblere Arbeitszeiten fahren lieber, als es dann keine Lokführer mehr.
der Lokführer könnten helfen, den Betrieb
zu modernisieren. Doch die Privilegien
dass sie viel herum- Andreas Ulrich
Mail: andreas.ulrich@spiegel.de
der Eisenbahner lassen das nicht zu. sitzen.«
70 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
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Wirtschaft

Pürierstäbe und Hackebeilchen. Der

Anarcho am Herd Marschbefehl lautet: gemeinsam anrüh-


ren gegen eine Lebensmittelindustrie, die
den Namen »Sterbemittelindustrie« ver-
diene.
Genuss Starkoch und Bauer Franz Keller propagiert Kochen als »Die Leute verrecken an falscher Ernäh-
Revolte gegen die »Sterbemittelindustrie«. Und erklärt, rung«, sagt Keller. »Wir werden immer
wie jeder in der eigenen Küche die Welt verbessern kann. fetter, aber unser Körper verhungert, weil
wir unsere Ernährung einer Nahrungsmit-
telbranche in die Hände gegeben haben,
ranz Keller ist Koch mit Leib, Seele immer noch fand die Seele keine Ruhe. die ganz grundsätzlich nach einer Maxime
F und Allesfressergebiss. Und was
Fleischverzehr betrifft, wahrlich kein
Romantiker. Aber ein großes Herz hat er
2010 übergab er das Restaurant seinem
Sohn und kaufte einen Bauernhof im Wies-
badener Hinterland. Der Koch wurde Bau-
handelt: Wir sparen am Produkt und ma-
ximieren den Profit.« Aus deren Fängen
könne man sich nur selbst herausschmo-
dann doch. er – aus Notwehr, wie er sagt. Er wollte ren, glaubt Keller. Der Schlachtruf des
Den ganzen Sommer lang beobachtete endlich die Fleischqualität produzieren, Herdrevoluzzers: Kochen ist Freiheit.
er, wie Olympus, sein geliebter Limousin- die er sich vorstellte. Mit Tieren, die ohne »Die Agrar- und Ernährungssysteme
Bulle, immer wackliger auf den Beinen Hast und möglichst natürlich heranwach- sind so was von kaputt, mit Reparieren ist
wurde. Keller fürchtete, dass der braune sen dürfen. da nichts mehr zu retten«, sagt Keller.
Koloss mit seinen 800 Kilogramm Lebend- Auf seinem Falkenhof grast eine Herde »Wir müssen den Sack vollkommen um-
gewicht eines Tages einfach liegen bleiben Limousin-Rinder – viele davon sind Nach- stülpen.«
würde. Er wusste, dass er den alternden kommen von Olympus. Buntgescheckte In einer Tour de Force beschreibt er
Stier rechtzeitig zum Schlachter bringen Bentheimer Schweine durchwühlen den den erbarmungswürdigen Zustand einer
musste, wenn das Fleisch nicht verschwen- Schlamm im großen Auslauf. Bei Keller heruntergekommenen Agrarbranche. »Wir
det sein sollte. dürfen sie fett werden und zwei Jahre alt. subventionieren mit unserer Art der in-
Am Tag bevor es ans Töten ging, stellte Die meisten ihrer Artgenossen enden nach dustrialisierten Landwirtschaft ein Sys-
Keller eine besonders attraktive Kuh zu wenigen Monaten Qualhaltung in einer tem, das die Umwelt zerstört, das Klima
Olympus in den Stall. Es war der letzte Schlachtfabrik – wenn sie es überhaupt schädigt, das Tierwohl missachtet und
Freundschaftsdienst eines Alphamänn- bis dahin schaffen: »Jedes fünfte Schwein die Menschen krank macht. Warum? Je-
chens für sein Alphatier. Abends dann lud aus der Intensivhaltung stirbt in Deutsch- des vierte Fleischprodukt aus der Mast-
er ihn samt seiner Sterbebegleiterin auf fabrik stammt inzwischen von einem
den Hänger und fuhr beide Tiere zum »Wir exportieren kranken Tier.«
wenige Kilometer entfernten Schlachter. Tierwohl-Label des Einzelhandels ver-
Olympus sollte morgens als Erster dran- unterirdisch schlechtes spottet Keller als weichgespülte PR-Kon-
kommen, noch bevor der Raum nach Blut Fleisch zu Billigpreisen strukte: »Da freut sich das Fabrikhuhn,
und Tod riechen würde. weil es statt zwei Dritteln eines DIN-A4-
Keller begleitete seinen Bullen auf dem in alle Welt.« Blattes jetzt die Fläche eines Smartphones
letzten Gang. Zutraulich lief Olympus hin- mehr Platz hat. Soll das ein Plus für mehr
ter ihm her. Bevor das Tier sich fürchten land während der Aufzucht«, sagt Keller, Tierwohl sein? Nein, ihr Lieben, so kom-
konnte, traf es der Bolzenschuss. »wir produzieren pro Jahr 13 Millionen men wir nicht weiter.«
Für Keller ist diese sanfte Art der Schweine, die ein qualvolles Leben haben, Vieles von dem, was die Regierung er-
Schlachtung das Mindeste, was man Lebe- für den Müll.« laubt, findet Keller nicht rechtens. Er gei-
wesen, die man isst, schuldig ist. Und der Keller ist keiner, der seine Meinung für ßelt den systematischen Einsatz von Anti-
ehemalige Sternekoch weiß, dass das sich behält. Ostern 2018 erschien der erste biotika in der Tiermast, die Zerstörung des
Fleisch viel besser schmeckt, wenn ein Tier Erfahrungsbericht des zornigen Küchen- Bodens und die Verschmutzung des Was-
nicht in Todesangst Adrenalin in jede Mus- meisters, das Buch »Vom Einfachen das sers durch Gülle aus Massentieranlagen.
kelfaser pumpt. Beste. Essen ist Politik oder warum ich Er empört sich über pestizidverseuchte
Der Ärger über die mangelnde Qualität Bauer werden musste, um den perfekten Monokulturen, in denen Insekten und
von Lebensmitteln plagt den Mann, der Genuss zu finden«. Die Abrechnung mit Feldvögel eingehen.
bei Kochlegende Paul Bocuse gelernt und der Lebensmittel- und Agrarindustrie wur- »Total meschugge« findet er die Aus-
später mit Eckart Witzigmann die Nou- de zum Bestseller – und Keller zum Wan- richtung der deutschen Landwirtschaft auf
velle Cuisine ins Sauerkraut-Deutschland derkoch. Der 70-Jährige reist seither von Exporte: »Wir importieren Futtermittel
importiert hat, schon seit seiner Zeit als einer Lesung zur nächsten, diskutiert über aus riesigen Monokulturen in fernen Län-
prominenter Küchenchef. Essbare Blatt- die Notwendigkeit einer Agrarwende, dern, um Tiermassen zu mästen, die wir
goldflocken zum Verzieren von Desserts über den Klimawandel und die Bedeutung dann als unterirdisch schlechtes Fleisch
zu bekommen war niemals ein Problem. von Artenvielfalt. Wo er auch spricht, fra- zu Billigpreisen in alle Welt exportieren«,
Aber Fleisch von ausgewachsenen, artge- gen ihn die Zuhörer, was sie persönlich tun sagt er. In einem Kreislauf des Wahnsinns
recht aufgezogenen und umsichtig ge- können, um die Zustände zu ändern. werde Fake-Food produziert, das, würden
schlachteten Tieren? Nahezu unmöglich, Also sagt er es ihnen: »Ab in die Küche! all die Folgekosten für Umwelt und Ge-
bis heute. Schon damals wurde ihm klar, Wie wir die Kontrolle über unsere Ernäh- sundheit mit eingerechnet, teurer sei als
dass irgendetwas gründlich schiefläuft, rung zurückgewinnen«, heißt sein neues Bioware.
auch in der Haute Cuisine. Buch, das kommende Woche auf den Markt Für ihn gibt es nur einen Weg heraus
Keller gab 1993 die Sterneküche auf und kommt*. Darin ruft Keller die Bürger zu aus der Misere: »Wir sollten uns darauf
eröffnete die »Adler Wirtschaft« in Hat- den Waffen: an die Messer und Schäler, besinnen, Qualitätsweltmeister zu werden
tenheim. Der gebürtige Freiburger wollte statt Exportweltmeister, und zwar in einem
von jetzt an nur noch gutes Essen servie- * Franz Keller: »Ab in die Küche!«. Westend; 240 Sei- umfassenden und nachhaltigen Sinn.«
ren ohne das ganze Sterne-Chichi. Doch ten; 24 Euro. Dazu müsste sich die Subventionspolitik

72 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


für die Bauern radikal von Masse auf Klas-
se umorientieren – ebenso wie das Verhal-
ten der Verbraucher. »Wir müssen wieder
lernen, Geld für gutes Essen auszugeben
statt für viel Essen«, sagt Keller. Das, da-
von ist er überzeugt, lerne man am besten
in der Küche.
Da brauche es neben dem Herd keine
Armada an Elektrogeräten. Ein paar ver-
nünftige Pfannen, Töpfe und Kochlöffel
plus einen Pürierstab seien im Grunde al-
les, was der Koch in der Geschmackswerk-
statt benötige. Auch das Geld für einen
Thermomix könne man sich getrost spa-
ren: »Das ist doch wie Kochen mit Navi«,
ätzt Keller. Wenn man alles nur zusam-
menschmeiße, bekomme man kein Gefühl
für Konsistenz und Sämigkeit, lerne keine
Warenkunde, kapiere nie, wann Eiweiß
ausflocke.
Kochen sei ein sinnlicher Akt voller
Kreativität, Neugierde, Lust, Improvisa-
tion, ein Gegengift zu industriellen Fertig-
gerichten voller Fett, Konservierungsmit-
teln und Geschmacksverstärkern.
Nie jedoch sollte man sich von Rezep-
ten einschränken oder gar einschüchtern
lassen. In vielen Kochbüchern und Fress-
magazinen sind die Fotos zu appetitlich,
um wahr zu sein: Nicht selten bestehen
die abgebildeten Gerichte aus eingefärb-
ter Spachtelmasse, Eiswürfel aus Plastik,
und das perfekt hingehauchte Salbeiblatt
ist von spezialisierten Foodstylisten mit
giftigem Kleber fixiert.
Wenn man versuche, diese Illusionen da-
heim nachzustellen, sei der Frust program-
miert. Dabei gehe es nicht um Perfektion.
Am Herd zu stehen sei ein anarchischer
Akt der Befreiung: »Selbst kochen heißt,
die Verantwortung über das eigene Leben
in die Hand zu nehmen.«
Dazu gehört für ihn auch, Hypes wie
dem aktuellen Trend um die südameri-
kanische Kultpflanze Quinoa oder Chia-
Samen nicht blind zu folgen. »Warum fres-
sen wir den Bolivianern ihr Quinoa weg,
wo es bei uns zu Hause Graupen gibt,
die nicht 10 000 Kilometer weit herange-
karrt werden müssen?«, fragt Keller und
schmeißt einen Beutel der heimischen Kör-
ner in einen Topf mit Wasser. Heute kocht
er Graupenrisotto mit einem kleinen Stück
Rippchen in Honigkruste, dazu gebackene
Grünkohlchips.
Als Küchenanarcho liebt er das Experi-
mentieren. Doch ein paar Wahrheiten blei-
ben unverrückbar. Etwa, dass die in Groß-
küchen beliebte festkochende Kartoffel
unbedingt verabscheut werden müsse. Die
FOTOS: ALEX KRAUS / LAIF

halte zwar stundenlang ihre Form, doch


ihr fehle die Stärke und dadurch der Ge-
schmack. »Festkochende Kartoffeln sind
nur für faule Köche erfunden worden.«
Wer mehligkochende nicht mag, solle es
lieber gleich lassen. Michaela Schießl
Landwirt Keller auf seiner Weide, beim Zubereiten: Graupen statt Quinoa

73
Ausland

COSTAS BALTAS / REUTERS


Heftige Schlachten lieferten sich Demonstranten und Polizisten diese Woche wegen eines geplanten Flüchtlingslagers
auf der griechischen Mittelmeerinsel Lesbos. Die Polizisten waren im Schutz der Dunkelheit angekommen, um
den Bau eines geschlossenen Lagers und Abschiebezentrums zu sichern. Doch die Inselbewohner wollen kein neues
Camp zulassen, sie protestierten teils gewaltsam und warfen Brandsätze auf das Eingangstor des Polizeistützpunkts.

Es mag Zufall gewesen sein, dass die Gewalt gerade dann aus-
Die Hassprediger brach, als US-Präsident Donald Trump zu Besuch war. Dass die
Lage eskalieren könnte, hatte sich allerdings abgezeichnet.
Analyse In Indien sind Hindus und Muslime Seit Monaten schürt die hindunationalistische BJP von Pre-
mier Narendra Modi Hass und Misstrauen gegen Muslime.
aufeinander losgegangen. Die Regierung trägt eine Die Regierung hat ein Staatsbürgerschaftsgesetz verabschiedet,
Mitschuld an den Ausschreitungen. das die Zugehörigkeit der rund 200 Millionen Muslime infrage
stellt, Indiens größter Minderheit. Modi unterstellte Demons-
 Drei Tage lang tobte in Delhi der Mob. Gewalttätige Männer tranten, die gegen das Gesetz protestieren, Lügen zu verbreiten.
zogen, bewaffnet mit Eisenstangen, Molotowcocktails und Ein Staatsminister forderte seine Anhänger auf: »Erschießt die
Pistolen, durch die Straßen. Nun sieht es im Nordosten der indi- Verräter!« Genau dieser Satz ist zum Slogan der Randalierer
schen Metropole fast so aus wie nach einem Krieg: Autos sind geworden. Als Auslöser für die Gewalt gilt zudem die Rede eines
verkohlt, Häuser beschädigt. Auf den Straßen liegen Steine. Der BJP-Politikers am Sonntag. Darin drohte er, dass sie losschlagen
Geruch von Rauch hängt in der Luft. würden, sobald Trump das Land verlassen habe.
Die Kämpfe waren hauptsächlich religiös motiviert. Muslime Hinzu kommt, dass Bürger in Indien oft leicht Zugang zu
und Hindus gingen aufeinander los, wobei zu den Opfern vor Waffen haben und die Polizei dem Gewaltausbruch großenteils
allem Muslime gehörten: Moscheen brannten, Journalisten freien Lauf ließ, sich mutmaßlich sogar an Verbrechen beteilig-
wurden zusammengeschlagen. Sie mussten sich als Hindus zu te. Indien ist ein Vielvölkerstaat. Menschen unterschiedlichen
erkennen geben, damit die Angreifer von ihnen abließen. Glaubens leben hier zusammen. Doch der soziale Frieden
Panische Bewohner verließen ihre Häuser. Mehr als 30 Men- ist fragil. Spannungen können jederzeit zu offenen Konflikten
schen starben bislang, mehr als 200 wurden verletzt. Es waren werden. Modis BJP tut derzeit alles dafür, dass genau das
die schlimmsten Ausschreitungen in der Stadt seit 1984. passiert. Laura Höflinger

74 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Cyberangriff was die EU-Staaten am 6. Fe- reich und Italien verhinderten nien den »russischen Cyber-
Zerstrittenes Europa bruar vom Auswärtigen Dienst demnach eine Schuldzuwei- angriff auf Georgien« – Polen,
der EU erfuhren. Die EU- sung. Der Vertreter Roms habe Estland, Lettland, Tschechien,
 Die USA und Großbritan- Kommission stritt sich laut vor der Rache Putins gewarnt. Dänemark sowie die Nieder-
nien haben die EU außenpoli- internen Dokumenten mit den Eine EU-Reaktion könnte »die lande schlossen sich ihnen
tisch vorgeführt. Mutmaßlich Mitgliedsländern um eine Beziehung zwischen EU und prompt an. Der EU-Außenbe-
russische Hacker hatten im gemeinsame Erklärung: Sie Drittstaaten beeinträchtigen«. auftragte Josep Borrell konnte
Oktober 2019 Tausende Web- konnten sich nicht über den Paris habe sogar eine Distan- tags darauf nur noch erklären,
sites der georgischen Regie- richtigen Zeitpunkt dafür eini- zierung verlangt: Die EU müs- dass die EU-Staaten »ihre
rung und mehrere TV-Sender gen und diskutierten, ob sie se klarstellen, dass sie sich die Besorgnis über den Cyberan-
lahmgelegt. Washington und Russland als Urheber des Erklärung aus Tiflis »nicht zu griff ausdrücken«. Dies unter-
London planten daraufhin Angriffs nennen sollten, wie eigen mache«. Am Donnerstag stützt die deutsche Regierung
zusammen mit den Georgiern die deutsche EU-Vertretung vergangener Woche verurteil- zwar, will aber auch keine
eine Verurteilung der Russen – nach Berlin kabelte. Frank- ten die USA und Großbritan- Schuld zuweisen. MBE

Kolumbien Regierung die Kontrolle ver- Frankreich umgekehrt. Es sind Versuche,


loren oder nie besessen; Dro- insbesondere der linken Par-
Morde im genhändlerbanden, abtrünni-
»Pistole tei »La France insoumise«,
Nationalpark ge Rebellen, die ihre Waffen auf der Brust« die Reform zu sabotieren.
nicht abgegeben haben, und SPIEGEL: Und wie geht es
 Umweltschützer leben rechtsradikale Paramilitärs Der französi- trotz der parlamentarischen

P. MATSAS / BRIDGEMAN
gefährlich in dem südamerika- nutzen das aus. Der Landkon- sche Politologe Blockade weiter?
nischen Land. Von Januar flikt ist neu aufgeflammt: Roland Cayrol, Cayrol: Es bleiben nicht viele
bis Anfang Februar wurden Indigene und Kleinbauern, 78, über die Möglichkeiten. Die Opposi-
laut Angaben der Hilfsorgani- die während des Bürgerkriegs geringen Aus- tionsparteien werden ihre
sation Indepaz mehr als ihre Ländereien aufgaben, sichten der Strategie nicht ändern. Inso-
30 Menschen ermordet, die sind auf ihre Parzellen Regierung, die fern wird die Regierung die
sich für die Bewahrung der zurückgekehrt oder haben im umstrittene Rentenreform Reform wohl per Dekret und
Menschenrechte und der Um- Rahmen des Friedensabkom- auf normalem Weg durch das nicht auf dem normalen
welt einsetzten. Im vergan- mens neue Grundstücke Parlament zu bringen Abstimmungsweg durch das
genen Jahr wurden nach erhalten. Die Regierung ist Parlament bringen müssen.
Angaben der Vereinten Natio- jedoch nicht in der Lage, ihre SPIEGEL: Herr Cayrol, seit Der Artikel 49.3 unserer Ver-
nen 107 Aktivisten ermordet, Rechte zu sichern. Hinzu zwei Wochen streiten die fassung erlaubt ihr das, ist
Kolumbien zählt damit zu kommt, dass illegale Holzfäl- Abgeordneten über die Geset- allerdings nicht sonderlich
den weltweit gefährlichsten ler und Goldsucher, die sich zesvorlagen zur Rentenre- beliebt, weil er als demokra-
Ländern für Aktivisten. Das während des Bürgerkriegs form. Die Opposition hat ins- tiefeindlich gilt.
jüngste Opfer war ein Ranger nicht in die oft von der Farc gesamt 41 768 Änderungsan- SPIEGEL: Was vor allem dem
des Nationalparks El Cocuy, kontrollierten Schutzgebiete träge eingebracht. Wie realis- Präsidenten Emmanuel
der seit zwei Jahren dort gear- wagten, jetzt verstärkt in die- tisch ist es, dass noch eine Macron schaden könnte, dem
beitet hatte. Die National- se Regionen strömen. Der Mehrheit zustande kommt? viele Franzosen ohnehin nach
parks und indigenen Schutz- Urwald war zu Zeiten des Cayrol: Die Frage ist eher, den wochenlangen Streiks
gebiete haben die Begehrlich- Bürgerkriegs weitgehend wie lange die Regierung die- unterstellen, er mache, was er
keit diverser bewaffneter unberührt, er birgt zahlreiche ser Blockadesituation wolle?
Gruppen geweckt, die seit Bodenschätze. Der bewaffne- zuschauen kann und will. Der Cayrol: Ich sehe den Schaden
dem Friedensabkommen zwi- te Konflikt habe die Zonen Parlamentspräsident hat aus- auf mehreren Ebenen. Das
schen der Regierung und der »in wahre Kriegsschauplätze« gerechnet, dass man noch Parlament würde beschädigt,
Guerilla Farc vor vier Jahren verwandelt, sagt Harold 150 Tage brauchen würde, auch die Opposition hätte
Aufwind verspüren. In vielen Ospino von der Umweltschutz- um im bisherigen Tempo alle keine glorreiche Rolle ge-
Gegenden des Landes hat die organisation FCDS. JGL vorliegenden Anträge zu spielt. Und Macron stünde
bearbeiten. Das wären fünf als jemand da, der die Demo-
Monate, selbst dann wäre kratie nicht respektiert. Aber
nicht garantiert, dass man mit viele Präsidenten vor ihm
allem durch ist. Die Regie- haben mithilfe des Artikels
rung will das Gesetz aber 49.3 regiert, Charles de Gaulle
noch vor den Kommunalwah- hat auf diese Weise die ato-
CHRISTIAN KOBER / PICTURE ALLIANCE

len Mitte März in erster mare Abschreckung durch


Lesung verabschieden. das Parlament gebracht. Ich
SPIEGEL: Was sind das für denke, die Regierung wird
Änderungsanträge? noch ein wenig abwarten, um
Cayrol: Es geht um tausend zu zeigen, dass sie überhaupt
unwichtige Kleinigkeiten, oft nicht anders handeln konnte,
um einzelne Wörter: Ein dass ihr die Pistole auf der
»ungefähr« soll da durch ein Brust saß. Und dann kommt
Nationalpark El Cocuy »genau« ersetzt werden oder das Dekret. BSA

75
Ausland

Der Scheckbuch-Demokrat
USA Mike Bloomberg dachte, der beschwerliche Weg zur Präsidentschaftskandidatur
ließe sich mit viel Geld und Werbung abkürzen. Jetzt aber holt ihn seine Vergangenheit ein.
Beim Super Tuesday wird sich zeigen, ob ein Milliardär die Wähler begeistern kann.

KEVIN LAMARQUE / REUTERS


Wahlkämpfer Bloomberg: »Ich habe die Erfahrung, die Mittel und die Erfolge«

M
illionen Amerikaner erlebten seines Verhaltens gegenüber Minderheiten Bloombergs Anhänger dagegen sehen
am Dienstagabend zwei Mike und Frauen attackierten. Seine Versuche, in ihm den erfolgreichen Geschäftsmann
Bloombergs. Der eine redete sich selbstironisch zu geben, scheiterten und langjährigen Bürgermeister von New
in schönen Worten darüber, kläglich. Zwischen dem echten Bloomberg York, der als Einziger das Format hat, es
wie er die Wunden heilen werde, die und dem aus der Werbung gab es nur eine mit Trump aufzunehmen. Oder wie
Donald Trump dem Land zugefügt habe. flüchtige Ähnlichkeit. Bloomberg auf der Bühne formulierte:
Es sprach ein Staatsmann, dem seine Zu- Wer ist der wahre Mike? Für seine Kon- »Ich habe die Erfahrung, ich habe die Mit-
hörer ergriffen lauschten. Das war in ei- kurrenten ist die Sache klar. Der linke Se- tel, und ich habe die Erfolge.«
nem Fernsehspot, der in einer Werbepause nator Bernie Sanders sieht in ihm einen Bloomberg ist bislang die unbekannte
der demokratischen Kandidatendebatte in weiteren Milliardär, der versucht, sich die Variable im Rennen um die Präsident-
South Carolina lief. Präsidentschaft zu erkaufen. Die ebenfalls schaftskandidatur der Demokraten. Er
Davor und danach gab es den leibhafti- zum linken Flügel gehörende Senatorin lässt die ersten vier Vorwahlen aus, bislang
gen Bloomberg zu sehen, einen hölzern Elizabeth Warren rief während der Debat- geben nur die Wählerbefragungen einen
und unnahbar wirkenden 78-Jährigen, den te: »Das Herz der demokratischen Partei Hinweis darauf, wie seine Chancen auf die
seine Mitbewerber auf der Bühne wegen wird ihm niemals vertrauen.« Nominierung stehen. Immerhin liegt er im

76
Mittel der landesweiten Umfragen nur Der Sohn eines jüdischen Immigranten Gut situiert
knapp hinter dem früheren Vizepräsiden- aus Polen arbeitete dort zunächst als Tra- Vermögen* der verbleibenden
ten Joe Biden auf dem dritten Platz. Wäh- der und Tech-Experte. Als ihn die Invest- US-Präsidentschaftsbewerber
rend Bidens Werte seit Wochen sinken, mentbank Salomon Brothers 1981 vor die
steigen Bloombergs an. Am kommenden Tür setzte, gründete er mit der Abfindung Michael Bloomberg
Dienstag, wenn Demokraten in 14 Bun- von zehn Millionen Dollar einen Finanz-
desstaaten ihren Favoriten wählen, darun-
ter in Kalifornien, Texas und Virginia, tritt
Bloomberg zum ersten Mal an. Es ist seine
informationsdienst. Bald stand auf fast
jedem Schreibtisch an der Wall Street ein
Bloomberg-Terminal, über das Kurse und
60 Mrd. $
Demokratisch
große Bewährungsprobe. News flimmerten. Mittlerweile ist Bloom-
Am Super Tuesday wird rund ein Drittel berg LP ein globaler Medienkonzern mit
Republikanisch
der Delegierten für den Nominierungs- Radio- und TV-Sendern, dem Ma-
parteitag der Demokraten gewählt. Bloom- gazin »Businessweek« und einer
berg muss es idealerweise schaffen, an Nachrichtenagentur mit 2700
Biden vorbeizuziehen und auf den zwei- Reportern und Analysten
ten Platz hinter Bernie Sanders zu kom- weltweit. Bloomberg besitzt
men, wenn er weiter im Rennen bleiben 88 Prozent des Unterneh-
möchte. An diesem Dienstag zeigt sich, ob mens, er hätte mit seinem
Bloombergs große Wette aufgeht: Kann Vermögen einen angeneh- Donald Trump
ein alter Milliardär, der als kühl bis arro- men Ruhestand verbrin-
gant gilt, die Herzen der demokratischen
Wähler erobern und schließlich gegen
Trump antreten?
gen können.
Die Frage ist: Warum
wirft sich jemand, der
1,7 Mrd.
fast alles hat, in die
Bloombergs Kalkül ist, das Land mit Wer- Schlammschlacht eines
bung zu fluten, bei den Vorwahlen mög- Wahlkampfs? »Bloomberg
lichst viele Delegiertenstimmen zu sam- wollte schon immer Präsi-
meln und dann auf dem Nominierungspar- dent werden«, sagt seine Bio-
teitag im Juli in einer Stichwahl unter den grafin Joyce Purnick. »Ich habe
verbliebenen Bewerbern zum Sieger des mit Leuten gesprochen, die erzähl-
moderaten Lagers gekürt zu werden, ge- ten, wie er bereits im College davon re-
wissermaßen als letzte Hoffnung gegen dete. Das war keine Hoffnung oder ein
den Sozialisten Bernie Sanders. Mehr als Traum. Das war eine Vorhersage«.
400 Millionen Dollar hat der achtreichs- Zunächst aber wurde er 2002
te Mann der USA nach Recherchen der Bürgermeister von New York.
»New York Times« bislang für Werbespots Seine zwölf Jahre im Amt
und Veranstaltungen ausgegeben, mehr standen im Zeichen der
als alle Mitbewerber zusammen. Sein Auf- Terroranschläge des 11. Sep-
stieg in den Umfragen ist vor allem mit tember. Bloomberg emp- Tom Steyer
Geld erkauft. fahl sich mit Law-and-
In mancher Hinsicht ähnelt Bloomberg
Donald Trump. Beide stammen nicht aus
dem Establishment der Partei, sondern
Order-Sprüchen als Nach-
folger des damals in der
Stadt als Helden verehr-
1,5 Mrd.
benutzen sie als Vehikel für die Karriere. ten Rudy Giuliani. Er trat
Trump hat Demokraten unterstützt, be- als Republikaner an, eine
vor er für die Republikaner kandidierte, Koalition aus konservativen
Bloomberg spendete an Republikaner und und moderaten Wählern hiev-
wechselte mehrfach die Partei. Erst seit te ihn ins Amt, dieselbe Wähler-
vergangenem Jahr ist er wieder Demokrat. gruppe, die Bloomberg auch heute
Beide verbreiten ihre Botschaften direkt wieder ansprechen will.
ans Volk, das erspart unangenehme Fragen Bloomberg computerisierte die Kom-
von Journalisten. Bloomberg sieht sich wie munalbürokratie und verwandelte das
Trump als Macher, der sich nicht von Kon- Milliardendefizit der Stadt in einen Über-
ventionen einhegen lässt. Und er besitzt schuss. Unter seiner Ägide sank die Mord- 70,2 William F. Weld
wie dieser einen Hang zum Autoritären. rate auf den Stand der Fünfzigerjahre. Mio.
Im Gegensatz zu Trump hat Bloomberg Gleichzeitig riss seine Politik soziale Grä-
sein Geld selbst erarbeitet, nicht ererbt. Er ben auf. Er säuberte zwar die Stadt, be-
unterstützte damit zahlreiche liberale Ini- handelte die Bürger aber oft wie Kinder. 11,1 Elizabeth Warren
tiativen und setzte sich unter anderem für Kritiker empfanden das als »freundlichen
schärfere Schusswaffengesetze und die Autoritarismus«. Berüchtigt waren seine 7,9 Joe Biden
gleichgeschlechtliche Ehe ein. Als Bürger- »Bloomberg Bans«: Rauchverbote in Knei-
2,3 Amy Klobuchar
meister von New York dehnte er zwar die pen, Verbot der Verwendung von Trans-
Regeln, setzte sich aber nicht über rechts- fettsäuren in Restaurants, Handyverbote 1,8 Bernie Sanders
staatliche Grundsätze hinweg. Anders als in Schulen. Er verbot sogar schwarze Teer-
Trump zählt Bloomberg zum New Yorker pappe auf Dächern. 0,6 Tulsi Gabbard
Establishment, was auch mit seiner Kar- Widerstand war zwecklos. »Er hörte
riere an der Wall Street zusammenhängt. einem nicht zu, er war stur«, erinnert sich 0,2 Pete
Buttigieg
DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
*geschätzter Maximalwert
Quellen: Forbes, OpenSecrets
77
Ausland

die frühere Stadtratssprecherin Melissa kampfstrategie. Auch seine Biografin hält von Trumps Machogehabe angewidert
Mark-Viverito, eine Puertoricanerin, die die Entschuldigung für unaufrichtig. »Ich sind. Ein Kandidat wie Bloomberg, dessen
Bloomberg gut kennt und oft mit ihm stritt. glaube nicht, dass er ›stop and frisk‹ für Sprüche über »Blowjobs« und schwangere
Er sei herablassend und arrogant gewesen, einen Fehler hält«, sagt Joyce Purnick. Frauen aktenkundig sind, passt schlecht
Kritik habe er abgewehrt. Gregory Meeks dagegen vertritt seit in die von der #MeToo-Debatte aufge-
Bloomberg verwandelte New York in 1998 einen New Yorker Wahlbezirk im peitschte Zeit. Bloomberg wirkt nicht nur
einen Spielplatz für Immobilienhaie, Mil- amerikanischen Repräsentantenhaus. Er wie ein Typ aus dem 20. Jahrhundert, er
liardäre und Investoren. Dank seiner Steu- geriet häufig mit Bloomberg aneinander, ist es auch.
er- und Subventionspolitik wuchsen Dut- als dieser Bürgermeister war, und ist doch Allerdings melden sich in der Partei
zende gesichtslose Glastürme in den Him- bereit, Bloomberg zu vergeben. »Er ist die Stimmen, die davor warnen, die alten Ge-
mel. Gleichzeitig stiegen die Mieten, vor Person, die meiner Meinung nach die bes- schichten allzu hoch zu hängen. »Wir kön-
allem ärmere Bürger wurden verdrängt. ten Chancen hat, Donald Trump zu schla- nen uns alle vorstellen, wie es vor 30 Jah-
Gegen eine Erhöhung des Mindestlohns gen«, sagt Meeks. ren an der Wall Street zuging«, sagt etwa
sperrte sich Bloomberg. Als das Ende sei- Muriel Browser, Bürgermeisterin von Wa-
ner zweiten, eigentlich letzten Amtszeit Er war einer der ersten Afroamerikaner, shington, D. C. Ihrer Partei müsse klar sein,
als Bürgermeister nahte, boxte er eine Ge- die Bloomberg offen unterstützten, aber dass sie den perfekten Kandidaten oder
setzesänderung durch, die ihm eine dritte er ist nicht der einzige. Der Bürgermeister die perfekte Kandidatin nicht finden wer-
Amtszeit ermöglichte. von Houston, Sylvester Turner, hat sich de, die sämtlichen Strömungen gefalle. Sie
Seine Fehler als Bürgermeister holen ebenfalls für Bloomberg als Kandidaten jedenfalls unterstützt Bloomberg.
ihn jetzt wieder ein, vor allem sein politi- ausgesprochen. »Er hat Fehler gemacht, Dessen Strategie setzt ohnehin darauf,
scher Sündenfall: Die »Stop and frisk«- aber seine Verdienste überwiegen.« konservative Wähler zu begeistern, nicht
Taktik, bei der in zwölf Jahren rund fünf Es bleibt ein Risiko für Demokraten, den linken Flügel der eigenen Partei. Dass
Millionen New Yorker ohne konkreten An- für den Milliardär zu werben, vor allem das funktionieren kann, lässt sich bei einer
lass von der Polizei angehalten und durch- weil immer neue Anschuldigungen gegen Wahlkampfveranstaltung in Norfolk, Vir-
sucht wurden. Beinahe 90 Prozent waren Bloomberg bekannt werden. Etliche frü- ginia, beobachten. Er sei ein Republikaner,
Schwarze oder Latinos. here Angestellte werfen ihm vor, eine frau- sagt der Begrüßungsredner. Aber diesmal
Bloomberg hatte die Politik von Giu- enfeindliche Arbeitsatmosphäre in seinem werde er Michael Bloomberg wählen.
liani übernommen und ausgeweitet. Er sah Unternehmen geschaffen und Frauen Der Redner heißt Richard Spencer, er
ärmere Viertel wie Crown Heights in schlechter als Männer behandelt zu haben. war Staatssekretär für die Marine, bis ihn
Brooklyn als Brutstätte der Kriminalität Einer Mitarbeiterin soll er, nachdem sie Donald Trump Ende November entließ,
und fand, dass Bürgerrechte in solchen Ge- von ihrer Schwangerschaft berichtet hatte, weil er sich kritisch über die Einmischung
genden zweitrangig seien. »Es war scho- gesagt haben: »Bring es um.« des Präsidenten in Kriegsverbrecher-
ckierend«, sagt Mark-Viverito. »Stop and Bloomberg bestritt die Behauptung un- verfahren geäußert hatte. Im Publikum sit-
frisk« habe die schlimmsten Vorurteile be- ter Eid. Die Frau wurde entlassen. In- zen Männer in dunklem Blazer und Frau-
stärkt. »Die Konsequenzen für alle Min- zwischen fordert Elizabeth Warren, ihr en mit Halstuch.
derheiten waren schrecklich.« Konkurrent solle sämtliche Frauen von Unter ihnen sind Wähler aus den repu-
Die Stadt drosselte das Programm erst, Verschwiegenheitserklärungen befreien, blikanischen Vorstädten. Sie haben dafür
als ein Gericht es 2013 für verfassungs- damit sie offen über ihren früheren Chef gesorgt, dass die Demokraten 2018 im Re-
widrig erklärte. Selbst da kritisierte Bloom- sprechen könnten. Für Bloomberg zeigt präsentantenhaus in Washington wieder
berg das Urteil noch als »gefährlich«. Kein sich, wie riskant und schwer steuerbar ein die Mehrheit haben. Was Bloomberg bei
Wunder, dass das Thema hochkochte, als Vorwahlkampf sein kann, in dem es für den Linken zum Nachteil gereicht, bringt
er in den Vorwahlkampf der Demokraten seine Mitbewerber ums politische Überle- ihm in Norfolk Punkte: sein Reichtum,
einstieg. Zwar entschuldigte er sich vor ben geht, nicht nur um Geld. seine altmodische, steife Art, seine patriar-
Kurzem für die Polizeitaktik. Viele Afro- Dazu kommt, dass die Demokraten jun- chalische Vorstellung von Politik. Er
amerikaner halten das aber für eine Wahl- ge Leute und Frauen anziehen wollen, die glaubt, seine Anziehungskraft auf Wech-
selwähler könne die Vorbehalte in der
Geldschlacht Michael Bloomberg eigenen Partei kompensieren.
kummulierte Ausgaben demokratischer Bewerber für ihre Präsidentschaftskampagne, Der Super Tuesday wird darüber ent-
in Mio. Dollar scheiden, ob Bloombergs Strategie erfolg-
reich ist. Falls Bernie Sanders bis zum Par-
Joe Pete Elizabeth Bernie Tom
teitag der Demokraten im Juni noch keine
Biden Buttigieg Warren Sanders Steyer
absolute Mehrheit der gewählten Delegier-
E R I N S C OT T / R E U T E R S ; DA N I E L AC K E R / R E U T E R S ; J O N AT H A N D R A K E / R E U T E R S

409 ten erreicht hat, entscheiden die Stimmen


der Superdelegierten. Das sind demokra-
tische Amtsträger und Parteifunktionäre,
AP ; B R E NN A N OR M AN / R EUT E R S; J ON ATH A N E R NST / R E UT ER S ;

die nicht an Wahlempfehlungen gebunden


254 sind. Sie zählen in ihrer Mehrheit zu den
Biden kandidiert ...Steyer seit ...und Gegnern von Sanders.
seit dem zweiten dem dritten... Bloomberg Bloomberg muss die Superdelegierten
Quartal 2019... seit dem auf seine Seite ziehen, nur wenn er das
117 vierten. schafft, könnte ihm der Coup gelingen.
76 91 Auf diese Art die Nominierung zu bekom-
63
men wäre ungewöhnlich. Aber das gilt
für Bloombergs gesamten Wahlkampf.
Q2 Q3 Q4 Es ist eine gigantische Wette.
2019 Ralf Neukirch, Marc Pitzke
Jan. 2020 Quellen: »New York Times«, Federal Election Commission

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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Ausland

Millionenbluff
Entwicklungshilfe Nach der Entdeckung eines angeblich riesigen Ölfelds im Regenwald versprachen
mehrere EU-Länder dem Präsidenten des Kongo viel Geld, wenn er die Umwelt
schont. Doch nun legen Recherchen nahe, dass der Kleptokrat den Fund nur vorgegaukelt hat.

Z
um 59. Unabhängigkeitstag der chen legen nahe, dass es sich bei dem Die Geschichte des angeblichen Ölfunds
Republik Kongo präsentierte Präsi- angeblichen Ölfund im Ngoki-Block um ist ein Lehrstück über die Schattenseiten
dent Denis Sassou-Nguesso seinen einen Bluff, mindestens aber um eine gro- der Entwicklungshilfe. Klamme Staaten
Landsleuten eine vermeintliche teske Übertreibung handelt. hängen wie Süchtige an der Nadel ihrer
Sensation. Eine kongolesische Ölfirma hat- Experten von Konzernen wie Total Geberländer und tun fast alles, um an noch
te nach eigenen Angaben im Norden des oder Shell haben das Ölvorkommen an mehr Geld zu kommen. Allzu oft landen
Landes ein Ölfeld mit 359 Millionen Barrel dieser Stelle bereits vor Jahren geprüft und die Hilfen aber nicht beim Volk, sondern
entdeckt. Die Ölproduktion des Kongo eine Ausbeutung mangels Wirtschaftlich- auf den Offshorekonten der herrschenden
könnte sich damit auf einen Schlag ver- keit verworfen. Dass nun eine kaum erfah- Klasse, wie jüngst eine Studie der Welt-
vierfachen. In seiner Rede im August 2019 rene Firma alle bisherigen Ergebnisse kom- bank nahelegte.
schwärmte der Präsident von der »Präsenz plett widerlegt, ist kaum zu glauben. Zu- Trotzdem geben Industrieländer weiter
qualitativ hochwertiger Ölvorkommen« mal deren Explorationsarbeiten nach nur Millionensummen, vor allem wenn es um
im sogenannten Ngoki-Block. einer Probebohrung abgebrochen wurden. den Klimaschutz geht. Die Bundesregierung
Dann kam Sassou-Nguesso auf die Um- Nach Ansicht von Fachleuten reicht eine kündigte im vergangenen September an,
welt zu sprechen. In den sumpfigen Böden Bohrung aber nicht aus, um die Qualität ihre Hilfen für Regenwälder um 250 Millio-
des Nordens sind rund 30 Milliarden Ton- eines Ölreservoirs seriös zu bestimmen. nen Euro aufzustocken. Bundeskanzlerin
nen Kohlenstoff gespeichert. Sein Land Hat Präsident Sassou-Nguesso den Angela Merkel erklärte am Rande des Uno-
wolle sich ja »in den Dienst der Mensch- Westen also genarrt, um Hilfsgelder zu Klimagipfels in New York: »Es ist sehr wich-
heit« stellen, um die Torfmoore zu schüt- erschleichen? tig, dass wir mit Blick auf die Erhaltung des
zen, beteuerte der Präsident. Aber der Vieles spricht dafür. Vor der Präsident- Regenwalds auch in Afrika alle Anstrengun-
Kongo habe auch ein »Recht auf Entwick- schaftswahl im kommenden Jahr steht gen fokussieren. Das ist dort genauso wich-
lung«. Und die angekündigten »Kompen- Sassou-Nguesso unter Druck. Zwar ist der tig wie in der Amazonasregion.« Da mag
sationen« ließen »auf sich warten«. sie recht haben, aber ob das Geld immer an
In anderen Worten: Entweder die Welt- den richtigen Stellen landet, ist fraglich –
gemeinschaft zahle dem Kongo mehr Geld Klamme Staaten hängen wie das Beispiel der Republik Kongo zeigt.
für den Umweltschutz oder er, der Präsi- wie Süchtige an der Das Land ist nicht zu verwechseln mit
dent, lasse in dem sensiblen Ökosystem der Demokratischen Republik Kongo,
nach Öl bohren. Nadel der Geberländer und dem großen Nachbarn auf der anderen Sei-
Sassou-Nguessos Drohung wirkte offen- tun fast alles für Geld. te des gleichnamigen Flusses. Die kleinere
bar. Wenige Wochen später empfing der Republik Kongo ist größter Erdölprodu-
französische Präsident Emmanuel Macron zent der zentralafrikanischen Wirtschafts-
den Kongolesen in Paris. Die beiden Kongo reich an Rohstoffen. Trotzdem hat gemeinschaft Cemac. Bis 2014 profitierte
Staatschefs unterzeichneten eine Absichts- der Staat Schulden in Milliardenhöhe an- das Land von hohen Ölpreisen auf dem
erklärung, die dem Kongo rund 60 Millio- gehäuft. Erst im Sommer 2019 hatte sich Weltmarkt. Der dann einsetzende Verfall
nen Euro europäische Hilfsgelder in Aus- die Regierung in Brazzaville mit dem In- stellte die Regierung der ehemaligen fran-
sicht stellte, darunter Mittel des Bundes- ternationalen Währungsfonds auf ein Kre- zösischen Kolonie vor Probleme. Gehälter
umweltministeriums. Mit dem Geld sollen ditprogramm über knapp 400 Millionen von Staatsbediensteten etwa konnten
unter anderem die Folgen der Ölförderung Euro geeinigt. nicht mehr pünktlich gezahlt werden.
für die Torfmoore »reduziert« werden. Die prekäre Finanzlage hat auch mit der Denis Sassou-Nguesso, 76 Jahre alt, re-
Sassou-Nguesso verspricht im Gegenzug, Selbstbedienungsmentalität des Präsiden- giert die Republik Kongo mit einer Unter-
das Ökosystem zu schützen. ten zu tun. Denis Sassou-Nguesso gilt als brechung seit 1979. Seine Prunksucht ist
Eine Win-win-Situation, könnte man notorischer Kleptokrat. Unter seiner Herr- legendär: Einmal soll er für 114 000 Euro
meinen, doch die Sache hat einen Haken: schaft haben sich im Land Korruption und ein paar Schuhe aus Krokodilleder gekauft
Den vermeintlichen Sensationsfund hat es Misswirtschaft breitgemacht. Vergangenen haben. Sein Sohn Denis-Christel, Spitzna-
so wohl nicht gegeben. Wie es aussieht, Sommer beschlagnahmte der Zwergstaat me »Kiki der Ölmann«, verprasste laut
hat sich Europa täuschen lassen. San Marino 19 Millionen Euro von pri- Global Witness beim Shoppen in Paris und
Der SPIEGEL hat gemeinsam mit dem vaten Konten des Präsidenten wegen des Dubai Zehntausende Euro, die wohl aus
europäischen Investigativnetzwerk EIC Verdachts der Geldwäsche. staatlichen Öleinnahmen stammten.
und der Nichtregierungsorganisation Glo- Die Präsidentenfamilie unterhält enge Während die Präsidentenfamilie im
bal Witness interne Unterlagen ausgewer- Beziehungen zum Chef jener Firma, die Überfluss lebt, leidet die Bevölkerung un-
tet; Reporter des SPIEGEL und des fran- den angeblichen Ölfund verkündete: ter Armut und Massenarbeitslosigkeit. In
zösischen Investigativportals Mediapart Claude Wilfrid Etoka. Der soll bei Ge- Brazzaville ragen nur wenige Hochhäuser
haben in Paris und der kongolesischen schäften mit der staatlichen Ölgesellschaft über die ärmlichen Viertel hinaus. Eines
Hauptstadt Brazzaville zudem mit zahl- des Kongo übervorteilt worden sein. So davon ist die Zentrale der staatlichen Öl-
reichen Insidern gesprochen. Die Recher- steht es in französischen Ermittlungsakten. gesellschaft SNPC: zwei versetzte Halb-

80
HAMILTON / REA / LAIF
WWW.LEDELTADELACUVETTE.COM
LEONARD PONGO / DER SPIEGEL

Geschäftsmann Etoka*, Präsident Macron mit Amtskollege Sassou-Nguesso 2017 in Paris, Ngoki-Bohranlage*: »Es sind Banditen«

kreise aus Glas und Stein, mit sauber ten. Sie ließen sich etwa die Ergebnisse Nur ein Mann ließ sich davon nicht ab-
gestutztem Rasen davor. Hier wird die von seismischen Untersuchungen vorlegen schrecken: der kongolesische Unterneh-
wichtigste Machtressource des Landes ver- und stellten eigene Berechnungen an. mer Wilfrid Etoka, 50, reichster Mann des
waltet – Öl. Präsidentensohn »Kiki« am- Doch am Ende sagten alle ab. Landes mit einem geschätzten Vermögen
tierte bis 2018 als Vizechef der Firma. Der französische Total-Konzern fürch- von einer halben Milliarde Dollar. Er stieg
Die SNPC war auch für die Vergabe der tete die »hohen Bohrkosten« und den zunächst mit 30 Prozent ein, drängte den
Schürfrechte im Ngoki-Block zuständig, »schwierigen Zugang« zu dem abgelegenen Araber aber bald ganz raus und wurde al-
wo jetzt angeblich die riesige Ölquelle ge- Gebiet. In einem Gesprächsprotokoll vom leiniger Chef der Firma Pepa, die im Ngo-
funden wurde. Ngoki bedeutet »Krokodil« Juli 2015 ist vermerkt: »Die Vorkommen ki-Block bohren durfte.
in der lokalen Lingala-Sprache; das Schürf- in dem Block sind zu klein.« Bei Shell Etoka hat einen beträchtlichen Teil sei-
gebiet liegt tief im Regenwald des Nordens, klang es ganz ähnlich. Der britisch-nieder- nes Vermögens durch Geschäfte mit Staats-
der bisher von der Ölindustrie noch ver- ländische Energiekonzern ließ im Januar firmen gemacht, auch der nationalen Öl-
schont geblieben war. 2016 wissen, am Ende habe man sich gegen gesellschaft SNPC. Dabei dürfte wohl
Im Jahr 2006 einigte sich SNPC mit das Investment entschieden, »aufgrund ei- kaum geschadet haben, dass Geschäfts-
einem arabischen Geschäftsmann auf die ner Kombination aus hohem Risiko und mann Etoka und Präsident Sassou-Ngues-
Ausbeutung des Ngoki-Blocks. Doch dem der bescheidenen Größe der Vorkommen«. so dem Mbochi-Stamm angehören. Ihre
Mann wuchs das Projekt über den Kopf. Die beteiligten Experten äußerten sogar Heimat liegt nicht weit vom Ngoki-Block
Seine Firma suchte bald nach Investoren, die Sorge, ob überhaupt noch Öl im Ngo- entfernt. Ein Neffe des Präsidenten wurde
die bei der Erschließung einsteigen sollten. ki-Block vorhanden sei: Die Vorkommen laut Global Witness zum Generaldirektor
Interne Unterlagen zeigen, dass die Öl- seien wohl schon zu Zeiten des Paläozoi- der Ölfirma Pepa bestellt, was Etoka auf
multis Shell und Total Interesse bekunde- kums entstanden, vor mehr als 400 Mil- Anfrage nicht bestreitet.
lionen Jahren. Das »Hauptrisiko« sei, dass Die Nähe Etokas zum Präsidentenclan
* Links: auf Werbetafel in Brazzaville; rechts unten: sich die Reservoirs längst auf natürliche hat auch das Interesse französischer
Foto von der Projektwebsite Ledeltadelacuvette.com. Weise entleert hätten. Ermittlungsrichter geweckt. Sie haben

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 81


Ausland

Sassou-Nguesso wegen des Verdachts auf Länder einzahlen sollen. Deutschland be- hätte sich auch deswegen monatelang
Korruption, Veruntreuung von Staats- teiligt sich am Aufbau, wie das Protokoll verzögert.
geldern und Geldwäsche im Visier. einer Vorbereitungssitzung zeigt. Laut Um- Als die Genehmigung am 31. Mai 2019
Bei der Durchsuchung eines Pariser weltministerium fließen dafür 550 000 auslief, waren die Arbeiten noch im Gange.
Autohauses fand die Polizei heraus, dass Euro. Machte aber nichts: Am 26. Juli erließ Prä-
Etoka im Jahr 2012, offenbar unter dem Sassou-Nguesso habe den Umweltfonds sident Sassou-Nguesso rückwirkend ein
fiktiven Namen »Pierre Etoka«, zwei gegründet, »um das Geld für sich zu neh- Dekret, das die Genehmigung für Ngoki
Landrover für zusammen 148 000 Euro men«, behauptete das Ex-Regierungsmit- »außerordentlich« um ein Jahr verlängerte.
gekauft hatte. Sie vermutet, dass die SUV glied gegenüber dem SPIEGEL. Reiche Im August 2019 endete die Tätigkeit von
»im Namen der Familie Sassou-Nguesso Staaten mit hohem Umweltbewusstsein SMP. Ob die Firma Öl gefunden hat und
und ihrer Verwandten« erworben wurden. seien die Zielgruppe. Der Ngoki-Block er- wenn ja, wie viel, will sie nicht sagen.
Etoka bestreitet die Vorwürfe. Die Wagen fülle dabei den Zweck, den Druck auf Doch selbst wenn – es wäre noch viel zu
seien für ihn bestimmt gewesen. Europa zu erhöhen, nach dem Motto: früh gewesen, um eine Aussage über die
Vor anderthalb Jahren beschlagnahm- »Wenn ihr uns kein Geld gebt, zerstören Qualität des Ölvorkommens zu treffen.
ten die Ermittler dann Dokumente bei der wir den Dschungel. Es sind Banditen.« »Eine Bohrung reicht nicht aus. Sie muss
Bank BNP Paribas, die weitere verdächti- durch zwei oder drei weitere Bohrungen
ge Geschäfte belegen. BNP hatte Etokas bestätigt werden«, sagt der französische
Firmen früher Kredite gewährt. Zuletzt Branchenkenner Xavier Houzel.
brach sie die Geschäftsbeziehungen zu Experten sprechen von sogenannten
dem Mann ab – wegen des »engen Freund- Produktionstests. Doch die gab es laut
schaftsverhältnisses zur Ehefrau des kon- SMP nicht. Die Firma wurde nach eigenen
golesischen Präsidenten«. Zudem seien die Angaben nicht voll bezahlt und hat eine
Gewinne von Etokas Geschäften mit der Klage gegen Etokas Ölgesellschaft einge-
staatlichen SNPC zu hoch gewesen. Etoka reicht. Sie fordert 4,5 Millionen Euro. Ein

SIMON LEWIS / UNIVERSITY LEEDS


dagegen behauptet, BNP hätte seine Kon- Gericht in Brazzaville hat die vorläufige
ten aufgrund von US-Sanktionen gegen Beschlagnahme des Firmenvermögens von
die Bank geschlossen. Etoka angeordnet. Etoka sagt dagegen auf
Die Bande zwischen Etoka und den Sas- Anfrage, er habe alle Rechnungen bezahlt.
sou-Nguessos dürften erklären, warum der Trotz all der Probleme verkündete der
Unternehmer in den Ngoki-Block inves- Unternehmer im August den angebli-
tierte. Ein ehemaliges hochrangiges Regie- chen Riesenfund im Ngoki-Block. Bis zu
rungsmitglied bezeichnete Etoka gegen- Moorgebiet im Kongo 983 000 Barrel am Tag ließen sich dort pro-
über dem SPIEGEL als »Strohmann« des Sensibles Ökosystem duzieren, behaupteten seine Leute. Es gehe
Präsidenten. darum, die »energiepolitische Unabhängig-
Vielleicht glaubten die beiden wirklich, keit des Kongo zu stärken«, sagte Etoka.
dass sich im Ngoki-Block Öl fördern lässt. In den vergangenen Wochen hat das
Torfmoor im
Wahrscheinlicher aber ist, dass sie den KAMERUN Kongobecken EIC Fragenkataloge an alle Beteiligten ge-
wahren Wert des Gebiets erkannten: die schickt. Die Zentralafrikanische Wald-
Lage im zweitgrößten Regenwald der Welt, D.R. initiative antwortete, ihr Geld werde von
für dessen Erhalt reichere Länder bereit KONGO den Vereinten Nationen nach den »höchs-
sind, viel Geld zu bezahlen. REP. ten internationalen Standards« verwaltet.
Im Jahr 2015 gründeten die EU, KONGO Probe- Das Bundesumweltministerium teilte
GABUN
Deutschland, Norwegen, Frankreich und bohrung mit, es unterstütze mit seinen Förderange-
Großbritannien mit sechs afrikanischen boten »keine Regierungsinstitutionen«.
Brazzaville
Ländern die sogenannte Zentralafrikani- AFRIKA
Präsident Sassou-Nguesso ließ die Frage
sche Waldinitiative. Sie soll helfen, den unbeantwortet, ob er den Ölfund nur auf-
Regenwald zu erhalten. Die Initiative be- gebauscht habe, um an die Entwicklungs-
zahlt die Nehmerländer unter anderem da- 250 km ANGOLA hilfe zu gelangen.
für, dass sie Rodungen stoppen. Auch die Die entlarvendste Antwort kam von
60 Millionen Euro, die Präsident Macron Wilfrid Etoka. Mit dem Recherchen kon-
voriges Jahr versprach, sollen über die frontiert, erklärte er, dass die maximale
Waldinitiative abgewickelt werden. Im Jahr 2018 schloss Etoka mit dem Fördermenge im Ngoki-Block wohl doch
Die Staaten verstärkten ihre Bemühun- französischen Dienstleister SMP Drilling nur 140 000 Barrel Öl am Tag betragen
gen, als Wissenschaftler vor einigen Jahren einen Vertrag über Explorationsarbeiten werde, mithin ein Siebtel der im Sommer
erstmals das Torfmoor im Kongobecken ab. Im Ngoki-Block wurde ein Bohrturm verkündeten Zahlen. Damit lieferte Etoka
vermaßen und dabei feststellten, dass dort errichtet, wie Videoaufnahmen auf der im Grunde den Beleg, dass die Meldung
rund 30 Milliarden Tonnen Kohlenstoff Website des Projekts zeigen. Etoka habe vom riesigen Ölfund im Ngoki-Block ein
gespeichert sind. versichert, die nötigen Mittel mithilfe des Schwindel war.
Sassou-Nguesso und Etoka dürfte spä- Präsidenten zu besorgen, sagte der Justiz- Das Projekt soll natürlich trotzdem
testens nach der Vermessung des Torfmoo- direktor der Firma, Christian Cottenceau, weitergehen. Etoka unterstrich, dass es
res klar geworden sein, auf welchem gegenüber Mediapart. sich bei dem Ölfund nicht um »irgendeine
Schatz sie da saßen. Der Ngoki-Block liegt Nach seinen Angaben wurde die erste Propaganda« handle, sondern um »ver-
am Rande des sensiblen Ökosystems. Bohrung ab März 2019 durchgeführt, lässliche Daten, die bald durch laufende
Der Präsident inszenierte sich nun plötz- unter schwierigsten Umständen. Die Ar- Produktionstests bestätigt werden«.
lich als Klimaschützer. Er legte 2017 einen beiter hätten lange Zeit nichts zu essen Sven Becker, Fritz Schaap
Umweltfonds (»Fonds bleu«) zum Schutz und keine Unterkünfte in dem unwirt- Mail: sven.becker@spiegel.de
des Kongobeckens auf, in den andere lichen Gebiet bekommen. Die Bohrung

82 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Ausland

eine gemeinsame Verhandlungsposition


der EU schmieden?
Barnier: Natürlich gibt es Differenzen, sie
rühren aus der unterschiedlichen Entfer-
nung zu Großbritannien her, der unter-
schiedlichen wirtschaftlichen Verflechtung
oder dem Grad der ideologischen Nähe.
Was aber alle EU-Mitglieder eint, ist das
Interesse an ihrer Wirtschaft – und damit
an der Integrität des Binnenmarkts.
SPIEGEL: Boris Johnson sagt, er strebe ein
Abkommen nach dem Vorbild des Frei-
handelsvertrags an, den die EU mit Ka-
nada geschlossen hat. Zuletzt drohte die
britische Regierung sogar damit, die Ge-
spräche abzubrechen, wenn hierzu bis

MATTHIAS JUNG / DER SPIEGEL


Juni keine Klarheit herrschen sollte …
Barnier: … ich sage immer: Bleibt ruhig
und verhandelt! Klar ist, dass angesichts
der roten Linien, die die Briten für ihr künf-
tiges Verhältnis zur EU gezogen haben, nur
ein Freihandelsabkommen in Betracht
kommt, wie wir es mit Kanada, Korea oder
Japan geschlossen haben. Aber jedes Ab-
kommen hat seine Eigenheiten, je nach

»Ich lasse mich nicht Vertragspartner. Zwischen Großbritannien


und Kanada gibt es beispielsweise den ent-
scheidenden Unterschied, dass Kanada
von Europa mehr als 5000 Kilometer ent-

über den Tisch ziehen« fernt ist, Dover aber nur 42 Kilometer von
Calais. Das hat Auswirkungen, auch auf
die Inhalte des Abkommens.
SPIEGEL: Das Handelsvolumen der EU
Europa Zum Start der neuen Gespräche mit den Briten macht
mit den Briten übersteigt das mit den Ka-
EU-Chefunterhändler Michel Barnier, 69, klar, wo die nadiern um ein Vielfaches, um einen wei-
roten Linien verlaufen und wie weit er Boris Johnson vertraut. teren Unterschied zu nennen ...
Barnier: ... dazu kommt: Als wir mit Ka-
nada verhandelten, ging es darum, sich ge-
SPIEGEL: Herr Barnier, am kommenden nenmarkt und Zollunion verlassen. Bis da- genseitig anzunähern, um künftig mög-
Montag startet der zweite Teil der Brexit- hin müssen wir mit einem einfachen Ab- lichst reibungslos Handel zu treiben. Mit
Gespräche. Werden diese Verhandlungen kommen fertig sein, dem Sockel, von dem den Briten ist es nun genau umgekehrt.
über das künftige Verhältnis der EU zu ich spreche. Darauf können wir in Zukunft Zum ersten Mal beginnen wir Handels-
den Briten einfacher oder schwieriger als aufbauen. gespräche mit einem Partner, mit dem wir
die über den Scheidungsvertrag, also das SPIEGEL: Die Verhandlungen könnten sehr eng verflochten sind, nämlich im
Austrittsabkommen? auch deswegen kompliziert werden, weil Binnenmarkt. Wir müssen nun nicht zu-
Barnier: General de Gaulle hat einmal die große Einigkeit, die die Europäer in sammenfinden, sondern ein Stück weit das
gesagt, wo ein Wille ist, da ist auch ein den vergangenen Monaten gezeigt haben, entflechten, was wir über Jahrzehnte ge-
Weg. Wir haben den Willen, zu einem sich aufzulösen scheint. Was können Sie meinsam aufgebaut haben. All das zeigt,
Abschluss zu kommen. Das galt bei den tun, um den Zusammenhalt zu festigen? Großbritannien wird ein spezieller Fall.
Scheidungsverhandlungen, und das gilt Barnier: Die Europäer bleiben zusammen. SPIEGEL: Eine wichtige Besonderheit ist
auch jetzt. Das Problem ist, dass wir nicht Das ist kein frommer Wunsch, sondern die Forderung der EU, dass die Briten sich
viel Zeit haben. Aber ich bin optimistisch, Realität. Soeben haben 27 Europaminister auch künftig an Regeln halten sollen, die
dass es reicht, um einen soliden Sockel mein Verhandlungsmandat einstimmig be- denen der Gemeinschaft ähneln, etwa
zu bauen. schlossen. Aber Einigkeit gibt es nicht ein- beim Arbeits- und Verbraucherschutz oder
SPIEGEL: Der Abschluss der Gespräche fach so. Vergangene Woche saß ich in Ber- bei Beihilfen. Warum sollten sich die Bri-
über das Austrittsabkommen musste wie- lin im Kabinett mit Frau Merkel und den ten darauf einlassen?
der und wieder verschoben werden, am mit dem Brexit befassten Bundesministern Barnier: Die EU und die Briten wollen
Ende erwiesen sich die Verhandlungen als zusammen, ähnliche Besuche führen mich künftig möglichst reibungslos Handel trei-
deutlich zäher als gedacht. Welches Bre- nach Paris oder Warschau. Ich höre mir ben. Null Zölle, null Tarife, das ist unser
xit-Drama erwartet uns diesmal? die Sorgen und Befindlichkeiten der Mit- Angebot. Dafür brauchen wir fairen Wett-
Barnier: Was diese Verhandlung jetzt glieder an. Das schafft Vertrauen. bewerb, also auf beiden Seiten Regeln und
schwieriger machen könnte, ist der Zeit- SPIEGEL: Mit Verlaub, die Bruchlinien Gesetze, die zusammenpassen. Die Briten
druck. Nicht weil wir das wollen, sondern zeichnen sich doch ab: Die Niederlande können sich als souveräne Nation dafür
weil Boris Johnson die Übergangsfrist, die sorgen sich um ihre Häfen, Deutschland entscheiden, dass bestimmte EU-Regeln
derzeit gilt, nicht über das Jahresende sorgt sich um die Autoindustrie und Frank- weiter gelten. Ich würde das begrüßen,
hinaus verlängern will. Das bedeutet: Am reich um den Zugang seiner Fischer zu bri- weil es gute Regeln sind. Aber sie können
Ende des Jahres wird Großbritannien Bin- tischen Gewässern. Wie wollen Sie daraus das gleiche Ergebnis – faire Wettbewerbs-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 83


Ausland

bedingungen – natürlich auch mit eigenen um Kontrollen bestimmter Güter oder Tie-
Gesetzen herstellen. re, wie es sie übrigens zum Teil schon vor
SPIEGEL: Noch mal: Ist es nicht gerade der dem Brexit gab. Dort steht viel mehr auf
Sinn des Brexits, der Kern des Projekts, dem Spiel. Es geht um Frieden und Stabi-
sich von den EU-Regeln zu befreien? lität auf der irischen Insel. Dafür sind die
Barnier: Das ist das gute Recht der Briten. EU, die britische und die irische Regierung
Der Zugang zu unserem Binnenmarkt gemeinsam verantwortlich.
mit mehr als 440 Millionen Menschen SPIEGEL: Johnson will seinen Wählern
wird aber künftig proportional davon zeigen, dass der Brexit ohne große Zumu-
abhängen, inwieweit es zwischen beiden tungen ein Erfolg wird. Muss die EU um-
Seiten fairen Wettbewerb gibt. Genauso gekehrt das Gegenteil beweisen, also für
haben wir es mit den Briten erst vor we- den Misserfolg des Brexits sorgen, und

TIM P. WHITBY / GETTY IMAGES


nigen Monaten in der politischen Erklä- sei es nur, um Populisten abzuschrecken,
rung beschlossen. Daran war auch Boris die gleichfalls vom Ausstieg aus der EU
Johnson beteiligt. Niemand kann von die- träumen?
ser Position der EU ernsthaft überrascht Barnier: Nein. Ich kenne dieses Argument,
sein. aber so werde ich nie an diese Verhand-
SPIEGEL: In einer Rede wies der britische lungen herangehen.
Premier Johnson zuletzt darauf hin, dass SPIEGEL: Aber was passiert, wenn die bri-
Frankreich zweimal so viel Geld für staat- Projektion an den Kreidefelsen von Dover tische Wirtschaft, womöglich angeheizt
liche Beihilfen ausgibt wie Großbritannien »Eine persönliche Verletzung« von Konjunkturspritzen nach dem Vorbild
und Deutschland sogar dreimal so viel. Trumps und der USA, künftig stärker
Woher nehmen Sie die Gewissheit, dass wächst als die der Eurozone? Wäre das
die Briten die EU-Regeln nach Wildwest- bewusst annehmen und ihrerseits ein biss- nicht Wasser auf die Mühlen all jener, die
manier unterbieten wollen? chen dynamischer werden? den Briten nacheifern wollen?
Barnier: Natürlich vergeben Franzosen Barnier: Wir sind nicht ängstlich, aber wir Barnier: Das glaube ich nicht. Ich drücke
und Deutsche staatliche Beihilfen, aber im sind auch nicht naiv. Wenn es um den Bin- dem Vereinigten Königreich den Daumen
Rahmen der gemeinsamen Regeln, die die nenmarkt geht, gibt es keine Kompromis- für seine Zukunft. Rechtspopulisten in der
EU setzt. Darum geht es: um fairen Wett- se. Der Binnenmarkt ist heute und in EU graben wir nicht dadurch das Wasser
bewerb. Ich versichere Ihnen, ich höre mir absehbarer Zukunft das wichtigste gemein- ab, dass wir den Briten keinen Erfolg gön-
genau an, was Boris Johnson und andere same Gut der 27 EU-Mitglieder. Der Bin- nen, sondern indem wir in der EU die rich-
Politiker in Großbritannien so sagen. Die nenmarkt ist der entscheidende Grund, tigen Lehren aus dem Brexit ziehen. Und
Idee eines »Singapur an der Themse«, also warum Donald Trump uns respektiert. es gibt durchaus Antworten.
einer wenig regulierten Konkurrenz vor Der Binnenmarkt ist der Grund, warum SPIEGEL: Bitte schön, erklären Sie uns:
unseren Küsten, stammt ja nicht von mir. Chinas Präsident Xi Jinping die EU ernst Warum haben 52 Prozent der Briten gegen
Keine Frage, es ist das gute Recht der Bri- nimmt – und, bislang jedenfalls, nicht un- den Verbleib in der EU gestimmt?
ten, diesen Weg zu gehen. Klar ist aber sere Außen- oder Verteidigungspolitik. Barnier: Dabei spielten sicher spezielle
auch, dass der Zugang zum Binnenmarkt SPIEGEL: Für den Erfolg von Verhandlun- britische Gründe eine Rolle. Aber es gab
davon abhängt, ob und inwieweit wir in gen ist gegenseitiges Vertrauen besonders auch eine Stimmung, die man so ähnlich
bestimmten Feldern auf einem vergleich- wichtig. Wie steht es darum bei Ihnen und in vielen EU-Ländern spürt: Die Men-
baren Regelniveau bleiben. Boris Johnson? Wie kommen Sie mit die- schen fühlen sich nicht ausreichend ge-
SPIEGEL: EU-Kommissionschefin Ursula sem Typen zurecht, der sich wie Donald schützt, in manchen Regionen haben sie
von der Leyen plant derzeit zahlreiche Trump ähnlich einem Schulhof-Rowdy keine Perspektiven, sie werden wütend.
neue Umweltgesetze, gerade in der Klima- verhält? Denken Sie an die Gelbwesten in Frank-
politik. Erwarten Sie, dass sich die Briten Barnier: Wir sind beide Politiker. Auf die- reich. Ich glaube zudem, dass die Briten
künftig ebenfalls daran halten? ser Grundlage verstehen und respektieren vor gut 30 Jahren, anders als die Deut-
Barnier: Darüber werden wir reden müs- wir uns. Ich bewundere die unglaublichen schen, einen Fehler gemacht haben, als
sen. Aber ich mache mir da keine allzu Energiereserven, die er in Verhandlungen sie die klassische Industrie weitgehend ab-
großen Sorgen. Wer die Briten kennt, abrufen kann. Johnson ist sehr clever, aber schrieben und alles auf Dienstleistungen
weiß, dass sie im Kampf gegen den Klima- er weiß auch, dass ich das Geschäft nicht setzten. Ohne Industrie geht es nicht.
wandel fortschrittlicher sind als so man- erst seit gestern mache und mich nicht SPIEGEL: Manchmal, so scheint es uns,
cher EU-Mitgliedstaat. Wenn wir nun auch über den Tisch ziehen lasse. schwingt bei Ihnen ein wenig Bitterkeit
in der EU ambitionierter werden, ergänzt SPIEGEL: Dennoch gibt es bereits Anzei- mit, wenn Sie über den Austritt der Briten
sich das gut. Moderner Handel sollte nach- chen dafür, dass die britische Regierung sprechen. Was haben Sie empfunden, als
haltiger Handel sein. Ich bin mir sicher, genau das versucht. Premier Johnson, so der Brexit nun Ende Januar tatsächlich
die Briten wollen einen Freihandelsver- heißt es in London, lasse Alternativen stattgefunden hat?
trag, der Qualität liefert – in der Umwelt-, zu den Kontrollen auf der britischen See Barnier: Für mich war das wie eine per-
aber auch in der Sozialpolitik und bei den prüfen, die für britische Güter gelten sol- sönliche Verletzung. Die erste Stimme,
Beihilfen. len, die nach Nordirland eingeführt wer- die ich jemals bei einer Wahl abgegeben
SPIEGEL: Wenn wir Ihnen so zuhören, den und zu denen sich die Briten vor habe, war ausgerechnet eine für den Bei-
Herr Barnier, dann haben wir den Eindruck, wenigen Monaten in Brüssel verpflichtet tritt Großbritanniens zur Europäischen
dass die EU mitunter sehr ängstlich auf das haben. Gemeinschaft. Dazu gab es 1972 in Frank-
Großbritannien blickt, das nach dem Brexit Barnier: Wenn wir ein Abkommen über reich ein Referendum. Ich habe mich für
entstehen könnte. Muss der größte Han- unser zukünftiges Verhältnis abschließen die Aufnahme der Briten eingesetzt – und
delsblock der Welt ein »Singapur an der wollen, brauchen wir von Anfang an Ver- ich hatte nie Grund, es zu bereuen.
Themse« wirklich fürchten – oder sollte die trauen und Respekt. Das sollte man nicht Interview: Markus Becker, Peter Müller
EU den neuen Wettbewerber nicht selbst- unterschätzen. In Irland geht es nicht nur

84 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Sehnsucht
nach Süden
Vom Donaudelta bis Sizilien:
Sechs Ziele, die uns magisch anziehen.
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genen Jahren war das Leben hier von Unsicherheit
Haid Haid
geprägt, gab es Angriffe. Dennoch wollten viele, anders

Tut was!
als in Europa oft angenommen, nicht von hier weg.
Viele Syrer haben sich jahrelang geweigert, Idlib zu
verlassen, selbst als es noch vergleichsweise einfach und
erschwinglich war, über die Türkei nach Europa zu
gelangen. So auch meine Familie aus der Stadt Atarib im
ländlichen Raum von Aleppo.
Essay Hunderttausende Flüchtlinge sitzen an
Jahrelang hatte ich sie bekniet, zu ihrer eigenen Sicher-
der Mauer zwischen der Türkei und Syrien heit in die Türkei zu ziehen – aber das stieß bei meinen
fest. Der Westen muss Diktator Assad stoppen. Eltern und drei meiner Schwestern auf taube Ohren.
Trotz meiner inständigen Bitten waren sie entschlossen
zu bleiben. Sie beharrten darauf: »Hier ist unser

W
Zuhause.«
ir hassen unser Land nicht, aber wenn wir blei- Erst vergangene Woche führten wir diese Auseinander-
ben, werden wir getötet.« Das sagte mir ein setzung noch einmal per Telefon, als klar war, dass das
Demonstrant in Idlib, im Nordwesten Syriens, Regime auf meine Heimatstadt vorrückte. Meine Ver-
vor Kurzem am Telefon. Er war einer von wandten weigerten sich immer noch. Aber die massiven
Hunderten Zivilisten, die sich jüngst an der türkischen und wahllosen Angriffe zwangen sie Stunden später, mit-
Grenze zu einer Kundgebung eingefunden hatten, um die ten in der Nacht um ihr Leben zu rennen.
Welt zu bewegen, sie zu erhören. Atarib ist nun zu einer Geisterstadt geworden, die Ein-
Auslöser der Proteste war die verstärkte Militäroffen- wohner hatten keine andere Wahl, als zu fliehen. Unter
sive durch das Regime von Syriens Diktator Baschar den Vertriebenen ist auch eine Familie, die bei meinen
al-Assad und seinem wichtigsten Unterstützer, Russland, Eltern Unterschlupf gefunden hatte: nach ihrer Flucht aus
auf die letzten syrischen Gebiete, die von der Opposition Ost-Ghuta, einem Vorort von Damaskus, der im Frühjahr
kontrolliert werden. 2018 auf ähnlich dramatische Art vom Assad-Regime
Das sind der Großteil der Provinz Idlib, Teile Aleppos zurückerobert wurde. Wie viele andere flohen sie von
und Latakias – ein Territorium, das von Tag zu Tag einem Ort zum anderen, weil es kaum noch Schutz gibt.
schrumpft. Durch die Offensive sind die mehr als drei Mil- Doch wohin sollen sie jetzt noch?
lionen Menschen, die dort leben, in Gefahr. Das Regime Wegen der Menschenrechtsverbrechen, die das Regime
und Russland greifen unentwegt aus der Luft an, setzen in vormaligen Oppositionsgebieten verübt, fällt es den
dabei auch Streumunition ein. Menschen schwer, etwaigen Versprechen oder Abkom-
Assad und der russische Präsident Wladimir Putin men, die ihren Schutz garantieren sollen, zu trauen.
greifen nicht nur an der eigentlichen Front an – sie »Hast du die Videos gesehen, in denen Assads Milizen in
attackieren auch Krankenhäuser und Rettungssanitäter, den Gegenden, wo sie jetzt gerade vorgerückt sind, die
Schulen, Märkte und Wohngebiete. Den Vereinten Natio- Gräber schänden? Wenn sie schon die Toten terrorisieren,
nen zufolge haben seit Dezember rund 900 000 Men- was soll dann diejenigen erwarten, die ihren letzten Atem-
schen die Flucht ergriffen – zusätzlich zu den 400 000, zug noch nicht getan haben?«, fragte mich der Mitarbei-
die seit April 2019 bereits vertrieben worden sind. Mehr ter einer Gesundheitsbehörde vor wenigen Tagen.
als 1700 Zivilisten sind seit vergangenem April ums Was die Lage noch schlimmer macht: Es gibt keine
Leben gekommen. Manche Beobachter vor Ort glauben, Lager, die dafür gerüstet wären, eine große Anzahl von
dass die tatsächliche Zahl sehr viel höher liegt. Menschen aufzunehmen. Die bestehenden Camps
Wieder und wieder fliehen zu sind bereits überfüllt, und wegen der Kämpfe dringt die
müssen ist für die meisten Menschen ohnehin knappe humanitäre Hilfe kaum noch durch.
in dieser dicht besiedelten Gegend Was dazu führt, dass Tausende unter freiem Himmel in
zur Normalität geworden. In Idlib Olivenhainen schlafen, ohne Schutz, ohne Zugang zu
haben mehr als eine Million Vertrie- Wasser oder medizinischer Versorgung. Täglich sterben
bene aus verschiedenen Regionen Babys und Kleinkinder, weil sie der schneidenden Kälte
Syriens Zuflucht gefunden. Alle hier ausgesetzt sind.
stehen jetzt vor demselben Problem: Trotz dieser humanitären Katastrophe schier unglaub-
dass es keine sichere Gegend in lichen Ausmaßes hat die Welt kaum etwas unternommen,
Syrien mehr gibt. um Russland oder das syrische Regime zu bewegen,
Haid, 36, stammt aus Da die Weltgemeinschaft ihrem die Kampfhandlungen einzustellen und die systematische
der Stadt Atarib im Nord- Leiden gleichgültig zusieht, haben Tötung von Zivilisten.
westen Syriens. Der Kon- Zivilisten im Großraum Idlib zu dem Fast alle, mit denen ich in Idlib spreche, erzählen mir
fliktforscher hat für das Uno- Marsch an die türkische Grenze auf- von ihrer wachsenden Wut, Enttäuschung, ja Verbitterung,
Flüchtlingshilfswerk in gerufen. Mit dieser Aktion wollen sie was die internationale Gemeinschaft, ihre Versprechen
Damaskus gearbeitet, ehe er der Türkei und westlichen Ländern und ihre Untätigkeit angeht. Die Welt erlaubt es dem
2012 selbst vor dem Krieg deutlich machen, was ihnen droht. Regime, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu begehen,
floh. Nach einer Station bei Wenn die ihrer Verantwortung, den ohne dafür zur Rechenschaft gezogen zu werden.
der Heinrich-Böll-Stiftung Massenmord in Idlib zu stoppen, »Assad ist damit davongekommen, dass er Chemie-
in Beirut arbeitet er heute nicht endlich nachkommen, werden waffen eingesetzt, eine halbe Million Menschen getötet
als Senior Fellow für Chat- zahllose Flüchtlinge versuchen, zu und die Hälfte der Syrer vertrieben hat«, sagte mir
ham House, die renom- ihnen zu drängen. ein 43 Jahre alter Lehrer, der jüngst aus Atarib geflohen
mierte britische Denkfabrik Die Situation in Idlib ist dramati- ist. »Deswegen denkt er noch nicht einmal darüber
in London. scher denn je. Schon in den vergan- nach, ob sein Angriff auf Idlib irgendwelche Folgen nach

86 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


MUHAMMED SAID / ANADOLU AGENCY / GETTY IMAGES
Zivilisten im zerstörten Idlib

sich ziehen könnte. Er weiß einfach, dass dies nicht aufrütteln, sodass diese endlich ihrer Verantwortung
geschehen wird.« gerecht wird.
Die Eingeschlossenen in dieser letzten Enklave sind Was heißt das? Das stärkste Mittel wäre militärische
sich bewusst, dass der Westen sich so sehr vor weiteren Abschreckung, um die Attacken zu stoppen. Die Nato,
Flüchtlingen fürchtet, dass er lieber wegschaut – egal eine Uno-Friedensmission, irgendeine Macht müsste
was Assad in Syrien anrichtet. der Türkei jetzt sofort militärisch beistehen. Deren Trup-
»Wenn der Westen nur darauf aus ist, uns innerhalb pen sind ja da, aber allein wagen sie es nicht, Assad und
Syriens zu halten, ungeschützt und egal wie gefährlich das Putin ernsthaft herauszufordern, schaffen es nicht.
für uns ist, werden wir ihm unser Leid auf eine Art und Vielleicht würde es auch schon genügen, wenn etwa
Weise vor Augen führen, die er versteht«, ist eine Dro- die Nato zumindest symbolisch Präsenz demonstrieren
hung, die ich in meinen täglichen Gesprächen mit Syrern würde. Irgendetwas, mehr als das völlige Nichtstun.
oft höre. »Sie sollen wenigstens zeigen, dass sie es versucht
haben«, sagte mir ein Retter, den ich in einem der Dörfer

S
erreichte. »Dass sie mehr tun, als nur diese immer glei-
o entstand auch das Motto des Protestmarsches: chen Statements abzugeben!« Es ist nicht viel, was die
»Von Idlib nach Berlin«. Es geht nicht darum, Menschen fordern: »Wir hoffen, die Angriffe werden ein-
illegal in großer Zahl in die Türkei zu gelangen – gestellt! Selbst wenn es darauf hinausläuft, dass wir in
zumindest jetzt noch nicht –, sondern darum einem endlosen Albtraum gefangen bleiben, aus dem kein
darzustellen, wie dringend Schutz und sichere Zufluchts- Ausweg sichtbar ist«, sagte Waleed al-Ahmed, ein huma-
orte gebraucht werden. nitärer Helfer in Idlib.
Das klingt vielleicht widersprüchlich, aber man muss Die Ironie der Situation ist, dass eine ungehinderte
sich die Verzweiflung vergegenwärtigen. Die Türken sind Fortsetzung der Angriffe genau das erreichen könnte, was
im Moment die einzige Hoffnung der Menschen in Idlib, der Westen fürchtet: eine Massenflucht in die Türkei –
weil sich der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan und von dort aus weiter. Die Menschen, die in Idlib fest-
gegen Assad stellt. stecken, sind in ihrer Not davon überzeugt, keine andere
Gleichzeitig sollen türkische Soldaten ohne Vorwar- Wahl mehr zu haben als die Flucht – selbst wenn das
nung auf Menschen schießen, die versuchen, über die heißt, die Mauer, den Stacheldraht an der türkischen
Grenze zu kommen. Ein junger Journalist, der es nicht Grenze, die Soldaten mit Schießbefehl zu überwinden.
überleben würde, Assads Soldaten in die Hände zu fallen, Ahmed Khalid Hassoun, einer der Organisatoren der
sagte mir unlängst wütend: »Als ob es nicht genug wäre, Kampagne, sagte mir: »Wenn man alles verliert, vor
vom Regime beschossen zu werden, feuern die türkischen allem die Hoffnung, ist die einzige Möglichkeit, alles aufs
Soldaten von der anderen Seite, sobald jemand versucht, Spiel zu setzen – auch das eigene Leben und das der
dorthin zu flüchten.« Familie. Um ein besseres, sichereres, würdigeres Leben
So hoffen die Organisatoren der Kampagne »Von Idlib zu haben. Oder dabei zu sterben, dass man es wenigstens
nach Berlin«, dass sie die internationale Gemeinschaft versucht.« I

87
Ausland

Jeremy macht
weiter
Israel Zum dritten Mal innerhalb eines Jahres wählt
das Volk einen Premier. Unterwegs
mit einem Politiker, der das Land noch weiter
nach rechts drängen möchte.

V
or einem Jahr standen wir schon minister Benjamin »Bibi« Netanyahu an.
einmal hier, in Beit Schemesch. Es vertritt die Interessen der Siedler, will
Es ist wieder dunkel und kühl das Rechtssystem reformieren und die be-
wie damals, und auch sonst hat setzten Gebiete im Westjordanland an-
sich nicht viel verändert. Jeremy Saltans nektieren. Die Yamina-Leute wollten Ne-
Rechtsbündnis Yamina steht in den Wahl- tanyahu nach rechts drängen, sagen sie.
umfragen bei acht Parlamentssitzen. Seine Aber im vergangenen Jahr schien es eher
Mutter ist wieder gekommen. Der Pre- so, als würden sie von ihm durch die Ge-
mierminister muss vielleicht ins Gefängnis. gend geschleift.
Es scheint immer noch keine Regierungs- Die Wahl am 2. März ist wie die beiden
mehrheiten zu geben, aber Saltan hat eine Wahlen zuvor vor allem eine Abstim-
neue Krawatte. mung über Netanyahus Schicksal. Der Mi-
Er wurde ganz in der Nähe groß, zwei nisterpräsident inszeniert sich als Staats-
Straßenecken weiter. Seine Mutter wohnt mann. Im Januar stand er an der Seite von
da immer noch. Ihr Sohn ist seit sechs Stun- US-Präsident Donald Trump in Washing-
den hier, um für Yamina eine Wahlkampf- ton, als dieser seinen »Deal des Jahrhun-
veranstaltung zu organisieren. Es ist die derts« präsentierte.
dritte Parlamentswahl in einem Jahr. Das 181 Seiten ist das Dokument lang, es
Werben wird nicht einfacher. sieht Tunnel und Brücken zwischen dem
Jeremy Saltan hat einen Saal gemietet Westjordanland und dem Gazastreifen vor,
und einen DJ, er hat Snacks gekauft, seine einen lebensfähigen Staat Palästina aber
Poster aufgestellt, er hat über die sozialen nicht.
Medien Einladungen an Freunde und Ver- Bislang war Netanyahu nicht in der
wandte geschickt. Seine Mutter hat ihm Lage, eine Regierung zu formen. Aber
geholfen. Sie steht vor der Tür und begrüßt auch sein Herausforderer Benny Gantz
jeden Gast einzeln. Sie heißt Anne, ist 61 von dem Mitte-Bündnis Blau-Weiß hat kei-
Jahre alt und stammt ursprünglich aus Sko- ne Mehrheit. Die eine Hälfte der vielen »Schön, dass Sie gekommen sind«, sagt
kie, dem jüdisch geprägten Vorort von Chi- israelischen Parteien will Bibi loswerden, Saltans Mutter zu einem jungen Mann.
cago, und wer die Zusammenhänge nicht die andere folgt ihm. »Ich bin ja auch siebenmal angerufen wor-
kennt, könnte denken, sie sei die Wahl- Beim zweiten Anlauf im vergangenen den«, sagt der Mann und nickt ihrem
kampfmanagerin. Herbst machte Saltan Wahlkampf an Sohn zu.
»Die Zimmermanns kommen nicht, Je- der Seite von Naftali Bennett. »Die Leute Im Saal sitzen inzwischen 50 Leute.
remy«, sagt sie. »Sie haben eine Hochzeit. sind echt müde«, sagte er schon damals. Es ist halb neun. Fünf Minuten später be-
Ist Rina Hollaender da?« – »Noch nicht«, Yamina bekam sieben Sitze, aber es ginnt Jeremy Saltan mit dem Warm-up.
sagt ihr Sohn. gab wieder keine Regierungsmehrheit. Saltan sagt, dass er beim letzten Mal mit
Um acht Uhr soll die Wahlkampfveran- Wenigstens wurde Bennett Verteidigungs- Ayelet Shaked hier gewesen sei, der ehe-
staltung beginnen, jetzt ist es fünf vor acht, minister. Übergangsweise. Alles in der maligen Justizministerin, die gern auch
und im Saal sitzen sechs Leute. Zusam- israelischen Politik wirkt mittlerweile pro- die künftige Justizministerin werden wür-
men mit Saltan wird heute Abend auch visorisch. de. Er habe damals, anschließend an ihren
der Yamina-Spitzenkandidat in Beit Sche- Unmittelbar nach der Wahl, am 17. März, Wahlkampfauftritt, noch Fragen der Bür-
mesch auftreten, Naftali Bennett, Mil- muss sich Netanyahu wegen Betrug, Be- ger seiner Heimatstadt beantwortet, bis
lionär, Verteidigungsminister, einer der stechlichkeit und Untreue vor Gericht ver- weit nach Mitternacht sei das gegangen.
bekanntesten Politiker des Landes. »Es antworten. Noch eine Abstimmung über Das wolle er heute wieder so halten. Er
kommen sowieso nur die Leute, die noch Bibi. Auch die dürfte sich hinziehen. Die sei für sie da.
nicht wissen, wen sie wählen sollen, Zeugenliste hat 333 Namen. Jemand gibt Zeichen, dass sich Naftali
Mom. Insofern ist es ein gutes Zeichen, Eigentlich war die Wahl für den 10. März Bennett dem Gebäude nähere. Der Star.
wenn wenig da sind«, sagt Saltan. Er sieht geplant, aber da ist Purim, der fröhlichste Der Yamina-DJ spielt den Jingle der Partei.
müde aus. jüdische Feiertag. Das passte nicht, das Es ist die Melodie des Liedes »Bella Ciao«.
Sein Bündnis strebt eine Koalition mit konnte man niemandem mehr zumuten. Laut einer Legende ein Klagelied der ita-
dem rechten Likud-Block von Premier- Das israelische Volk ist erschöpft. lienischen Reispflückerinnen gegen ihre

88
JONAS OPPERSKALSKI / DER SPIEGEL
Yamina-Politiker Saltan nahe Jerusalem: »Die Leute sind echt müde«

unwürdigen Arbeitsbedingungen, das spä- Tentakel bekämpft habe: die Hamas in sagt er. Sein Programm in drei Sätzen
ter zur antifaschistischen Partisanenhymne Gaza, die Hisbollah im Libanon. Der Kopf sei: Wir sichern unsere Grenzen. Wir ge-
wurde. Hannes Wader sang sie, Tom sitze in Iran. Gemeinsam mit seinen Freun- ben keinen Zentimeter Land an die Ara-
Waits, jetzt spielen sie die Melodie für Naf- den in den USA sorge er dafür, dass der ber ab. Wir schaffen ein wirtschaftlich star-
tali Bennett, der vor ein paar Tagen die Kopf des Kraken attackiert wird. Trumps kes Land.
Leiche eines mutmaßlichen Dschihadisten Deal ist Bennett allerdings nicht radikal Als er geht, leert sich der Saal sofort.
mit einer Planierraupe an der Grenze zum genug. Es kommt ihm zu oft der palästi- Saltan bietet noch einmal an, einzelne
Gazastreifen holen ließ, um sie in den nensische Staat vor und zu selten die is- Fragen zu beantworten wie beim letzten
Verhandlungen um gefallene israelische raelische Souveränität. Mal. Aber es gibt keine mehr. Die Leute
Soldaten zu benutzen. Bennett entdeckt einen ehemaligen haben wohl das Gefühl, alles gehört zu
Im italienischen Text heißt es: »Parti- Mitarbeiter seiner Hightechfirma im Publi- haben.
sanen, kommt, nehmt mich mit euch / kum und erzählt, wie sie das Unterneh- Ein paar Tage zuvor hat Saltan im
Denn ich fühle, der Tod ist nah«. Die isra- men für 145 Millionen Dollar verkauft Wohnzimmer seines Hauses in Mewas-
elischen Zeilen gehen so: »Von Gaza … hätten. Applaus. Fassungsloses Lächeln. seret Zion erläutert, wie sie die müden
zum Jordantal / Wir kehren heim und wäh- Bennett sagt, dass er jede Art von wirt- Israelis zur Wahl bringen. Seelenfänger
len Yamina / Wir geben ihr unsere ganze schaftlichen Monopolen brechen und die müssten am Wahltag vor den Lokalen ste-
Seele«. Macht der Gewerkschaften schwächen hen, den Leuten in die Augen schauen und
Verteidigungsminister Bennett redet werde, und bittet die anwesenden Jugend- sie daran erinnern, Yamina zu wählen. Sal-
von dem Kraken Iran. Er redet auf jedem lichen im Saal, nicht Jura zu studieren wie tan saß im hellen Wohnzimmer zwischen
Wahlkampfstopp von dem Kraken Iran. er, sondern Mathematik. den Spielsachen seiner drei Kinder und
In israelischen Wohnzimmern, Turnhallen, »Unsere Feinde leben vom Öl. Wir aber den Torabänden. Er wirkte gut gelaunt.
Synagogen. leben von Technologie, von unseren Ta- Ein bisschen wie ein Missionar.
Seine Krakengeschichte besagt, dass lenten. Das Öl geht irgendwann zu Ende Wie sein Chef Bennett trägt Saltan auch
Israel in der Vergangenheit immer nur und damit die Macht unserer Feinde«, bei der Arbeit Kippa. Wie Bennett ist er

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 89


Ausland

Mehrheiten allerdings sind nicht zu er-


kennen. Manche reden schon von vierten
Wahlen. Manche sagen, dass der ewig
wankelmütige Avigdor Lieberman von
Israel Beitenu sich diesmal für Benny
Gantz entscheiden werde. Gegen Netan-
yahu hat er sich bereits entschieden. Wahr-
scheinlich.
An einem der letzten Abende vor der
dritten Wahl erklärt Jeremy Saltan in
einem Wohnzimmer in Naharija sein Ver-
hältnis zu Bibi. Naharija ist eine Küsten-
stadt im Norden des Landes, dicht an der
Grenze zum Libanon. Im Wohnzimmer
sitzen etwa 20 Leute. Keiner ist jünger als
65. Die meisten waren schon bei Saltans
vorigem Besuch vor einem Jahr hier. Die
Fragen sind dieselben geblieben.

AMMAR AWAD / REUTERS


Alle haben Angst vor einer weiteren
Wahl. Ein Mann, der ursprünglich aus
England stammt, fragt, wie jemand ein
Land führen könne, der unter Anklage
stehe.
Netanyahu-Wahlplakat in Jerusalem: Die Zeugenliste hat 333 Namen »Ich hätte es auch gut gefunden, wenn
Netanyahu zurückgetreten wäre«, sagt
Jeremy Saltan. »Aber Bibi hat die überwäl-
Sohn säkularer amerikanischer Juden. Ein ukrainischer Jude aus Kriwoi Rog, tigende Unterstützung seiner Partei.«
Bennetts Eltern stammen aus Kalifornien, der für die Partei Israel Beitenu in der Er habe, sagt Saltan, bei seinen Wahl-
wo der Vater in der Bürgerrechtsbewegung Knesset sitzt, will vor allem beweisen, dass kampfauftritten den Wunsch der Leute ge-
aktiv war, er hat Sit-ins in einem Hotel in sie nicht nur die Interessen ehemaliger spürt, dass Naftali Bennett, sein Parteichef,
San Francisco veranstaltet, weil dort Sowjetbürger vertreten. das Land übernimmt. Aber erst dann,
Schwarze keinen Zutritt hatten. Die Likud-Vertreterin ist Veganerin, wenn Netanyahu nicht mehr da sei. Selbst
Irgendwann wurde er religiös, seine setzt sich für die Legalisierung von Can- seine Freunde bei den Linken und in der
Energie floss in die Erhaltung des Staates nabis und für Tierschutz ein. Und vertei- Mitte glaubten nicht mehr daran, Netan-
Israel. Saltans Vater war ein Ingenieur aus digt Netanyahu. yahu schlagen zu können.
Chicago, der in Buenos Aires geboren wur- Die Kandidatin von Blau-Weiß ist Toch- Die meisten Herausforderer, die jetzt
de und nie eine richtige Heimat hatte, be- ter eines kanadischen Bürgerrechtlers, hat antreten, haben unter Netanyahu gedient.
vor er israelischen Boden betrat. vier Kinder und sagt, sie könnten nicht Sie waren seine Minister, seine Stabs-
Jeremy Saltan kam in Israel an, als er mit den arabischen Parteien zusammen- und Bürochefs, seine Generäle. Jeder
elf war. Er wurde gehänselt und verprü- arbeiten, weil diese den jüdischen Staat kennt jeden.
gelt, weil er nicht gut Hebräisch sprach. nicht anerkennen. Jeremy Saltan redet Bei einer Fernsehdebatte mit sieben
Als er sich beim Direktor beschwerte, sag- über die Annexion des Jordantals. Parteien schrien sich die Teilnehmer
te der ihm: Du musst zurückschlagen, um Alle scheinen im Grunde dasselbe zu an, aber als die Kameras ausgingen, mach-
ein Israeli zu werden. wollen. Wenn man nach drei Stunden nach ten sie Witze und Selfies miteinander.
Mit 15 Jahren machte er seinen ersten Hause geht, weiß man nur noch, dass die Sie wirkten wie Geschäftsleute. Das ist
Wahlkampf. Er verteilte Aufkleber für Kandidaten ihr Land lieben, besser, stärker manchmal lustig und beruhigend. Und oft
Benny Begin, den Sohn des früheren Mi- und strahlender machen und gegen jeden ermüdend.
nisterpräsidenten, der eine rechte Partei Feind verteidigen wollen. Und natürlich Auch an diesem Abend in diesem Wohn-
mitgegründet hatte, weil er sich über die geht es immer um Benjamin Netanyahu. zimmer gelingt es Saltan nicht, die Aus-
Osloer Abkommen ärgerte. Ob es ein Leben nach ihm gibt. Ohne ihn. weglosigkeit zu vertreiben. Sie scheint
»Der Grund, warum wir hier sind und In den letzten Tagen vor der Wahl stei- eher zuzunehmen, je länger er redet.
nicht in Uganda, ist, dass hier unsere gen die Werte für Netanyahu und seinen Nach zwei Stunden geht ein pensionier-
Geschichte liegt«, sagt Saltan. Er ist Mitte Likud wieder. Die Analysten streiten sich, ter Professor, der erklärt hat, dass er seine
dreißig, hat zehn Jahre lang einen Come- woran es liegt. Vielleicht am Coronavirus. Miete nicht mehr bezahlen könne, obwohl
dy-Klub in Jerusalem betrieben und führt Vielleicht daran, dass aus Gaza wieder er Sprachunterricht gebe. Er wird wohl
heute einen populären Politikblog, ist aber mehrere Dutzend Raketen nach Israel flo- nicht mehr wählen. »Bitte geht wählen«,
auf einem sehr alten Weg. Dort scheinen gen, nachdem die israelische Armee einen ruft Saltan. »Ich würde mich freuen, wenn
inzwischen die meisten israelischen Politi- Dschihadisten getötet hatte. Vielleicht da- ihr für uns stimmt. Aber noch schlimmer,
ker zu wandeln. ran, dass sich Netanyahu in Hebron zeigte. als nicht für uns zu stimmen, ist, gar nicht
An einem Abend in Tel Aviv kommen Vielleicht daran, dass Bernie Sanders im zu stimmen.«
die Kandidaten aller großen Parteien nach- amerikanischen Wahlkampf ankündigte, Er redet in einem Schlussplädoyer über
einander in ein kleines Studio von Keep die US-Botschaft womöglich wieder aus Demokratie. Über grundsätzliches Vertrau-
Olim, einer gemeinnützigen Organisation Jerusalem abzuziehen, sollte er die Wahl en. Er redet gegen die Enttäuschung an
für Neuankömmlinge, um über Facebook gewinnen. Wahrscheinlich ist es von allem und die Müdigkeit. Gegen vierte Wahlen.
Wählerfragen zu beantworten. In drei ein bisschen. Gegen die untergehende Welt. Er fängt die
Stunden erlebt man das gesamte Parteien- Die Leute schließen sich um den kran- letzten Seelen. Alexander Osang
spektrum. ken König zusammen. Parlamentarische

90
Sport
Skurrile Dopingausreden
Tyler Hamilton, Dennis Mitchell, Sara Errani, Ivonne Kraft,
US-Radrennfahrer, US-Sprinter, bei italienische deutsche
bei dem 2004 dem 1998 ein Tennisspielerin, Mountainbike-
fremde Blutzellen zu hoher Testos- die 2017 positiv Fahrerin, bei
gefunden wurden: teronwert fest- auf das doping- der 2007 das
gestellt wurde: verschleiernde Asthmamittel
Letrozol getestet Fenoterol nach-
Dies liege an wurde: gewiesen wurde:
Stammzellen Kurz vor dem
Test habe er

REUTERS (2) / DPA PICTURE-ALLIANCE / IMAGO


seines noch
vor der Geburt viermal Sex Die Asthma-
verstorbenen mit seiner Frau spraydose
Zwillingsbruders. gehabt. »Es ihrer Mutter
war ihr Ge- Das Krebs- sei explodiert,
burtstag, sie medikament ihrer und sie selbst
hatte eine Mutter sei ihr ins habe dann
Belohnung Tortelliniwasser wohl das Mittel
verdient.« gefallen. eingeatmet.

Doping macht erfinderisch: Erklärungen von Sportlern, wie verbotene Substanzen in ihren Körper gelangten, sind
zum Teil obskur. Manche Mittel zur Leistungssteigerung machen offensichtlich vergesslich. Der britische Lang-
strecken-Olympiasieger Mo Farah trainierte beim umstrittenen und jüngst gesperrten Starcoach Alberto Salazar. Farah,
inzwischen zurückgetreten, soll dabei L-Carnitin gespritzt bekommen haben, was nur in einer geringen Menge
erlaubt ist. Jetzt kam in einer BBC-Dokumentation heraus, dass er die Einnahme zunächst mehrmals vehement ab-
gestritten hatte, kurz darauf aber zugab: »Tut mir leid, ich habe es damals genommen, ich dachte, ich hätte es nicht.«

Fragen als Antworten. »Wir wissen, dass


»Das Gehirn verändert sich« sich das Gehirn durch wiederholte Kopf-
bälle verändert, was aber an sich nicht
Gut zu wissen Ist es eine gute Idee, Kopfbälle im Fußball zu verbieten? schockierend ist, denn jedes lebende Gewe-
be reagiert auf einen chronischen Reiz.
 Der englische Fußballverband gab jüngst wie Alkoholkonsum, Medikamenten- Was wir noch nicht wissen, ist, ob und
bekannt, dass fortan Kinder im Grund- einnahme oder ungesunde Ernährung wenn ja, ab welcher Intensität es patholo-
schulalter keine Kopfbälle mehr trainieren nicht berücksichtigt worden. gisch wird.« Darüber hinaus gebe es große
dürfen, Jugendliche nur noch einge- Reinsberger leitet das Institut für Sport- individuelle Unterschiede. »Gehirn ist
schränkt. Es sei eine Präventivmaßnahme, medizin an der Universität Paderborn und nicht gleich Gehirn«, sagt Reinsberger.
um die Gefahr von Gehirnverletzungen forscht seit vielen Jahren zu Kopfverlet- In Deutschland empfiehlt der Deutsche
und entsprechenden Langzeitschäden zu zungen im Sport. Sein Resümee: Beim The- Fußball-Bund Kopfballtraining erst ab
minimieren, hieß es. ma Kopfbälle gibt es immer noch mehr dem 13. Lebensjahr, ein Verbot – wie
Die Entscheidung sorgte international auch in den USA bis zum 11. Lebensjahr –
für Schlagzeilen – und besorgte Eltern. gibt es bislang nicht.
Doch ist sie überhaupt angemessen? Reinsberger sieht in frühzeitigem, ad-
Für den Neurologen Claus Reinsberger, äquatem Training eher »einen zentralen
45, ist das Verbot ein »Schnellschuss, Schutzfaktor« vor Verletzungen. »Eine
für den es bislang keine wissenschaft- gut ausgebildete Nackenmuskulatur kann
KINZIE RIEHM / PLAINPICTURE / IMAGE SOURCE

lichen Belege gibt«. Die Entscheidung die Gefahr einer Gehirnerschütterung


des englischen Verbands fußt auf einer und ihre Folgen nachweislich reduzieren.»
Studie der Universität Glasgow aus Was das Maß beim Kopfballtraining
dem vergangenen Jahr, der zufolge Fuß- betrifft, rät der Experte zu gesundem
baller ein erhöhtes Risiko für Demenz Menschenverstand und ausreichend
und Alzheimer haben. Reinsberger: Pausen zwischen den Einheiten: »Am
»Dabei bleibt völlig unklar, warum das besten fragen Eltern nach dem Training
so ist. Kopfbälle sind nur eine mögliche nach. Klagt das Kind über Kopfbrum-
Erklärung.« Bei der Studie seien men oder Schwindel, war es eindeutig
zum Beispiel soziokulturelle Faktoren zu viel.« WIN

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TOBIAS SEEL / SNAPSHOT-PHOTOGRAPHY

Fans in Berlin während der WM 2006: Schwarze Wolke vor rot-goldener Sonne

Schweizer Endspurt
Fußball In wenigen Tagen beginnt der Prozess um das
WM-Sommermärchen 2006 und Franz Beckenbauers Millionenzahlung
nach Katar. Doch die prominenten Angeklagten schlagen Haken.

92
Sport

D
ie Fußball-WM 2006. Ein Land das Blitzlichtgewitter der Presse, die harte Die Ersten, die ermittelten, waren noch
im Rausch. Ein Sommer, der zur Erinnerung, dass ihr Lebenswerk beschä- deutsche Ankläger. Allerdings scheiterten
Legende wurde. Wenn Franz Be- digt ist, und ein Urteil, mit dem es mög- die Frankfurter Staatsanwälte 2018 mit
ckenbauer damals das pochende licherweise auch so bleibt. Ob einer sich ihrem Versuch, Niersbach, Schmidt und
Herz des »Sommermärchens« war, dann das antut? Zwanziger vor Gericht zu bringen. Das
war Theo Zwanziger, der geschäftsführen- Die Schweizer Anklage wirft der alten Landgericht lehnte eine Anklage wegen
de DFB-Präsident jener Tage, das kühle Funktionärsriege Betrug auf Kosten des Steuerhinterziehung ab; der DFB hatte die
Auge: Er hatte die Zahlen im Blick, die Ver- Verbandes vor – im Fall Niersbach Beihil- Millionen seinerzeit von der Steuer abge-
träge, den Apparat. Herz und Auge – sie fe. Die Herren vom DFB sollen 2005 aus setzt. Erst im August 2019 sah es das Ober-
haben das Sommermärchen in Schwarz- der Verbandskasse 6,7 Millionen Euro ge- landesgericht anders, ließ die Anklage
Rot-Gold möglich gemacht. nommen haben, um einen Kredit zu tilgen. doch noch zu.
Umso mehr sieht es nun aber so aus, als Den hatte WM-Organisationschef Becken- Inzwischen aber hatten die Schweizer
würde die Ironie des Schicksals das letzte bauer 2002 privat aufgenommen, um das ein Verfahren eröffnet, und sie waren
Kapitel bestimmen. Geld in einer Geheimoperation an den schneller fertig, weil die Zeit knapp wurde:
Am 9. März beginnt in der Schweiz der notorisch korrupten Fifa-Funktionär Mo- Wenn bis zum 27. April kein Urteil vor-
Prozess wegen der 6,7-Millionen-Euro- hamed Bin Hammam in Katar zu schicken. liegt, ist der Fall in der Schweiz verjährt.
Zahlung, die sich als schwarze Wolke vor Warum, das konnte bis heute nicht geklärt Die Frankfurter warten nun offenbar
die rot-goldene Sonne jenes Sommers ge- werden, auch die Schweizer knackten das erst mal ab, wie die Sache in Bellinzona
schoben hat. Beckenbauer hatte die Über- Rätsel nicht. ausgeht. Zwischen der Schweiz und
weisung an einen korrupten Funktionär Weil aber das Schlamassel 2005 kurz Deutschland gilt nämlich, dass keiner zwei-
in Katar veranlasst. Doch der Kaiser der vor der Heim-WM unter der Decke blei- mal wegen derselben Sache vor Gericht
Herzen wird auf der Anklagebank fehlen: stehen darf. »Komplizierte Rechtsfrage«,
ausgerechnet weil er ein schwaches Herz sagen die Frankfurter Ermittler, wenn man
hat; jede Aufregung könnte ihn das Leben sie darauf anspricht. Zwar sind die Vor-
kosten, sagen die Ärzte. Die Schweizer Er- würfe – Steuerhinterziehung in Deutsch-
mittler lassen seinen Fall verjähren, ohne land, Betrug in der Schweiz – nicht exakt
Anklage, das hat sich schon länger abge- gleich. Trotzdem gut möglich, dass es nach
zeichnet (SPIEGEL 31/2019). einem Schweizer Urteil in Frankfurt nichts
Nun wird, das ist so gut wie sicher, aber mehr zu verhandeln gibt. Und als wäre die
auch Zwanziger nicht im Bundesstraf- Lage damit nicht schon verzwickt genug:
gericht von Bellinzona auftauchen. Er hat Ein Schuldspruch aus der Schweiz würde
es – ja tatsächlich – an den Augen. Zwan- UWE ANSPACH / PICTURE ALLIANCE / DPA in Deutschland möglicherweise nicht voll-
ziger hat sich Mitte Februar operieren las- streckt werden. So sieht das zumindest die
sen; Netzhautablösung links, Netzhaut- Zwanziger-Seite.
loch rechts, grauer Star auf beiden Seiten. Frustrierte Fahnder, ein verkorkstes Ver-
Danach musste er noch ein paar Tage in fahren. Dass in dieser Lage ausgerechnet
der Frankfurter Uniklinik bleiben und seit- die Frage aller Fragen geklärt wird, damit
dem regelmäßig zur Nachsorge. Fliegen rechnet ohnehin keiner mehr – warum
darf er in den kommenden Wochen nicht, der Kaiser Millionen nach Katar schickte.
lesen soll er nicht, also auch keine Akten. Beckenbauers Version, er habe dem Fifa-
Dass er sich in so einem Zustand 600 Kilo- Idol Beckenbauer im September 2019 Mann Bin Hammam das Geld zahlen müs-
meter weit in einen Gerichtssaal kutschie- »Eventualiter Anstifter« sen, um sich im Gegenzug von der Fifa
ren lässt, ist nach Stand der Dinge ausge- 250 Millionen Franken Zuschuss für die
schlossen. ben sollte, kaschierten die Funktionäre die WM zu sichern, steht wacklig neben der
Die Probleme mit den Augen hat sein Rückzahlung des Kredits nach Ansicht der genauso schwachen Theorie, er habe mit
Anwalt dem Gericht inzwischen gemeldet. Ermittler mit einer Legende. Der DFB, so dem Geld eine Wiederwahl von Fifa-Chef
Ob die anderen deutschen Angeklagten, hieß es, beteilige sich mit 6,7 Millionen an Sepp Blatter unterstützt. Was die Ermittler
der damalige DFB-Generalsekretär Horst einer Kulturgala, die der Weltverband Fifa auch nicht ausschließen wollen: dass es
R. Schmidt und Ex-DFB-Präsident Wolf- zum WM-Auftakt veranstalten wollte. So darum ging, zwei Jahre nach dem WM-Zu-
gang Niersbach, sich in die Schweiz bemü- wurde das auch den eigenen Aufsehern schlag für Deutschland bestochene Wahl-
hen, ist ebenso fraglich. Schmidt war nach aufgetischt. männer zu bezahlen.
SPIEGEL-Informationen auch schon beim Das Geld floss dann auch tatsächlich Die Wahrheit kennen Bin Hammam –
Arzt und wird die Reise wohl von seinem an die Fifa nach Zürich. Von dort aber gut abgeschirmt in Katar – und Becken-
Gesundheitszustand abhängig machen. ging es noch am selben Tag weiter an bauer – gut beschützt von seinen Ärzten.
In die Schweiz zwingen kann die drei Beckenbauers Kreditgeber, den französi- Der Kaiser hat im vergangenen Jahr fünf
ohnehin niemand, deshalb hatte das Ge- schen Milliardär Robert Louis-Dreyfus. Atteste vorgelegt, von seinem Hausarzt
richt Zwanziger sogar freies Geleit zuge- Wegen der Umleitung über Zürich küm- und von einer Klinik. Demnach muss er
sichert – für den Prozess und nach dem mert sich heute die Schweizer Justiz um jede Aufregung vermeiden und schafft es
Urteil. Sonst hätte er nicht einmal darüber den Fall. Angeklagt ist auch der frühere auch nicht mehr, im Gericht einer Befra-
nachgedacht zu kommen, ganz egal, wie Fifa-Generalsekretär Urs Linsi. Er hatte gung mit wachem Verstand zu folgen. Aus-
es um seine Augen steht. Auch Schmidt dafür gesorgt, dass das Geld an Louis- sicht auf Besserung? Angeblich keine.
hat freies Geleit ausgehandelt, wie sein Dreyfus weiterlief. Zwanziger hat das angezweifelt, auch
Anwalt bestätigt. Bei Niersbach wird es Damit landet nun ein urdeutscher Skan- die Bundesanwälte wollten nicht kampf-
wohl das Gleiche sein, seine Anwältin sagt dal in einem Schweizer Gerichtssaal, und los aufgeben. Sie stellten im August ein
dazu nichts. auch diese Pointe passt: so verwirrend Rechtshilfeersuchen nach Österreich, wo
Alles, was die DFB-Honoratioren also nämlich die Geldströme vor der WM, so Beckenbauer lebt. Ein Amtsarzt sollte ihn
in der Schweiz zu fürchten hätten, wäre groß der juristische Wirrwarr heute. untersuchen, spätestens nach drei Mona-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 93


Sport

ten ein Gutachten vorlegen. Das Gutach-


ten gibt es bis heute nicht; nun wäre es we-
gen der Verjährung Ende April auch zu
spät. Und Zwanzigers Hinweis, dass sich
Beckenbauer noch im Juli 2019 in der
»Die rennen
Öffentlichkeit blicken ließ und gar nicht
so gebrechlich wirkte, machte auf das
Schweizer Gericht keinen großen Ein-
druck. Ein Prozess und ein öffentlicher
einfach los«
Auftritt, das könne man nun wirklich nicht Trends Skibergsteiger wollen den Massentourismus meiden –
vergleichen.
Für die Schweizer Ermittler ist Becken- viele der Enthusiasten unterschätzen jedoch
bauer bis heute der mögliche Drahtzieher die tödlichen Gefahren abseits der präparierten Pisten.
des Millionendeals, »eventualiter Anstif-
ter«. Schmidt, Zwanziger, Niersbach, Lin-

I
si – sie alle seien nur das Aufräumkom- m Skigebiet Ehrwalder Alm, unweit gen. 2019 kamen in Österreich 39 Men-
mando gewesen. Sie hätten beschlossen, der Zugspitze, ist in der Nähe einer schen beim Tourengehen oder beim so-
das Geld an Louis-Dreyfus zurückzuschaf- Piste ein Schneebrett abgegangen. genannten Freeriden abseits der Pisten
fen, das der Kaiser selbst nicht zurückzah- Der Bergretter Bernhard Lutnig, 52, ums Leben. Viele Opfer wurden von
len konnte oder wollte. Einziges Motiv des inspiziert die Stelle unterhalb einer Lift- Lawinen verschüttet. Die mit Abstand
Quartetts: die Bombe entschärfen. Des- station mit dem Fernglas. meisten Bergtoten in Österreich waren
halb müssen heute die deutschen Ange- Lutnig gehört zur Tiroler Lawinenkom- im vergangenen Jahr zwischen 51 und
klagten den Kopf für Beckenbauer hinhal- mission. Sie hat für diesen Samstag im 60 Jahre alt.
ten, auch wenn sie – wie der Kaiser – ihre Februar wegen der starken Schneefälle in Lutnig, ein kräftiger Mann mit wetter-
Unschuld beteuern. den Tagen zuvor die zweithöchste Warn- gegerbtem Gesicht, gehört seit mehr als
Zu Zwanzigers Verteidigungslinie ge- stufe herausgegeben. Es sei »saugefähr- 20 Jahren zur Bergrettung in Ehrwald. Wie
hört dabei ein Abkommen mit dem DFB lich« jetzt im Gelände, sagt Lutnig. die meisten seiner Kolleginnen und Kolle-
aus dem März 2019. Zwanziger will es so Aber die Sonne scheint. Es ist Wochen- gen macht er den Job ehrenamtlich. Sein
verstanden wissen, dass sich der DFB gar ende. Und in den Hängen unterhalb des Geld verdient Lutnig im Winter als Ski-
nicht geschädigt sieht, zumindest nicht von Vorderen Tajakopfes und der Sonnenspitze lehrer und Skitourenführer.
ihm. Tatsächlich steht in dem Papier, es lockt der Pulverschnee. Lutnig kann bereits Er lebt von der Sehnsucht der Men-
sei dem DFB und Zwanziger »ein Bedürf- die ersten Spuren der Skitourengeher sehen, schen nach den Bergen. Er bringt seine
nis, den Streit im Interesse des Fußballs die sich ihren Spaß nicht von einer kriti- Kunden sicher hinauf auf den Gipfel und
zu beenden und sich auf ein gemeinsames schen Lawinenlage verderben lassen wollen. wieder hinunter. Manchmal muss er sie
Vorgehen zu verständigen«. Die Zahl der Wintersportler, die sich enttäuschen, wenn eine geplante Tour
Weiter heißt es da: Wenn der DFB be- fern der Lifte ihren eigenen Weg auf den nicht zustande kommt, weil das Wetter es
schädigt sei, dann nur, weil Zwanzigers Gipfel suchen, nimmt in fast allen Regio- nicht zulässt. Oft zögen die Touristen dann
Nachfolger Niersbach falsch reagiert habe. nen der Alpen zu. Skibergsteigen ist ein auf eigene Faust los.
Nach ersten Hinweisen, dass die Bombe Trendsport, man ist in der Natur und nicht »Die Leute akzeptieren keine Grenzen«,
doch platzen könnte, habe er die Affäre bei den Massen auf den Pisten. sagt Lutnig, »sie meinen, alles müsse je-
nicht energisch aufgedeckt. Stattdessen Viele der Enthusiasten unterschätzen derzeit möglich sein.«
habe er im Juni 2015 »durch seine Ent- jedoch die tödlichen Gefahren in den Ber- Vor einigen Jahren traf er morgens an
scheidung, das Präsidium nicht unverzüg- der Talstadion der Ehrwalder Almbahn
lich über die Zahlung (von 2005 –Red.) zu zwei Tourengeher, die unterwegs waren
informieren, gegen die Satzung des DFB in die »Neue Welt«, eine der faszinierends-
verstoßen«. So habe am Ende nicht der ten Freeride-Abfahrten der Alpen. Aber
DFB, sondern der SPIEGEL die Affäre öf- auch eine der riskantesten. Sie führt vom
fentlich gemacht. Hätte Niersbach dagegen Gipfel des Schneefernerkopfes über bis
»transparent« aufgeklärt, hätte »Schaden zu 45 Grad steile Hänge hinunter Richtung
vom DFB und den der Strafverfolgung Ehrwald. Lutnig plauderte mit den Sport-
ausgesetzten Personen abgewendet wer- lern, sie tauschten Nummern aus. Er riet
den können«. Niersbach wollte dazu auf ab, er warnte, das Wetter werde um-
SPIEGEL-Anfrage nichts sagen. schlagen.
Alles gut mit dem DFB, so das Signal, Als er am Nachmittag nach der Arbeit
das Zwanziger sendet. Warum verfolge das sah, dass ihr Auto immer noch auf dem
Schweizer Gericht überhaupt noch einen Parkplatz der Talstation stand, rief er ei-
Fall, in dem der Verband geschädigt sein nen der Männer an und erreichte ihn – in
soll? Für Zwanziger ist die Anklage ein großer Not. Die beiden waren doch los-
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS

Machtmissbrauch der Schweizer Justiz, gezogen und in der Neuen Welt an einer
die sich an einem deutschen Fall vergrei- senkrechten Wand angekommen, die man
fe. Das Vorgehen sei »unverantwortlich«, hinabklettern muss, um anschließend auf
»absurd«. Um das zu erkennen, braucht Ski weiter ins Tal abfahren zu können.
Zwanziger nicht mal seine Augen. Das er- Die Sportler hatten für den Abstieg
kennt seiner Ansicht nach jeder Blinde. jedoch eine Stelle gewählt, für die das
Jürgen Dahlkamp, Gunther Latsch, Seil, das sie mitgenommen hatten, viel zu
Jörg Schmitt Skibergsteiger am Schneefernerkopf kurz war. Einer der Skiläufer baumelte
Eines der riskantesten Abenteuer bereits hilflos über dem Abgrund. Sein

94
WILFRIED FEDER / LOOKPHOTOS
Freerider bei »Neue Welt«-Abfahrt in den Alpen: »Über bis zu 45 Grad steile Hänge Richtung Ehrwald«

Partner schaffte es nicht, ihn wieder hoch- Stabilität einer Schneedecke auswirken. ihrem Smartphone eine Touren-App herun-
zuziehen. Er erkennt die Zonen, in denen sich Lawi- tergeladen, die ihnen die richtige Route fast
Lutnig gab Alarm. Nachdem ein Ver- nen oder Schneebretter besonders leicht metergenau anzeigt. Sie sind ausgestattet
such gescheitert war, die Tourengeher mit lösen können. mit Funktionsklamotten, mit Sendern, Son-
einem Hubschrauber zu bergen, machte Ende Januar bricht er auf zu einer kur- den und Lawinenschaufeln. Manche tragen
er sich mit drei Kollegen auf zu den Tou- zen Skitour Richtung Brandjoch. Im Zick- sogenannte Lawinen-Airbags mit sich, die
risten. Sie hievten den einen Skifahrer aus zackkurs arbeitet Lutnig sich den Hang verhindern sollen, dass man vom Schnee
der Wand. Anschließend seilte sich die ge- zum Grat hinauf. Der Himmel ist klar, es begraben wird. Das teure Equipment gibt
samte Gruppe ab. gilt die niedrigste Lawinenstufe. Gämsen ihnen ein Gefühl von Sicherheit.
Doch mittlerweile hatte der Schnee- jagen durch das nur mäßig verschneite Bergsportschulen und Alpenvereine bie-
sturm begonnen, eine Abfahrt ins Tal war Gelände. ten für Skibergsteiger unzählige Kurse an.
unmöglich geworden. Die Retter bauten Wenn das Wetter umschlägt, kann sich Sie sind gut besucht. Die Teilnehmer ler-
ein Biwak aus Schnee unter einem Fels- ein alpines Idyll innerhalb weniger Stun- nen, sich im Gelände zu orientieren. Ex-
überhang. Mehr als zwölf Stunden lang den in eine Todeszone verwandeln. Vor perten bringen ihnen bei, wie man einen
harrten die Helfer mit den Skibergsteigern gut einem Jahr wären unweit des Brand- Vermissten mit dem Lawinenverschütte-
bei minus 20 Grad in der Höhle aus. Von jochs fast drei Studenten umgekommen. tensuchgerät finden kann.
den Hängen über ihnen donnerten immer Ein Unwetter hatte sie überrascht. Sie ka- Denn im Ernstfall bleibt nicht viel Zeit.
wieder Lawinen herab. men im tiefen Schnee nicht mehr weiter Nach 15 Minuten sinkt die Überlebens-
Am nächsten Mittag mussten sie per Ski und mussten sich eine Schutzhöhle graben. chance für einen Verschütteten rapide ab.
runter vom Berg, aus Sorge, eine weitere Erst nach Stunden konnten die jungen Die ganze Ausbildung und Ausrüstung
Nacht bei der Kälte nicht zu überleben. Männer in einer waghalsigen Hubschrauber- hilft aber manchmal nichts, weil die Natur
»Wir hatten großes Glück«, sagt Lutnig, aktion geborgen werden. unberechenbar ist.
»hätte uns bei der Abfahrt eine weitere La- In Deutschland hat sich laut Alpenver- Vor einem Jahr wurden die Ehrwalder
wine überrascht, wäre das wohl übel aus- ein die Zahl der Tourengeher in den ver- Bergretter zu einem Notfall in die Ammer-
gegangen.« gangenen 15 Jahren mehr als verdoppelt gauer Alpen gerufen. Tourengeher aus
Lutnig stammt aus Ehrwald, er hat fast auf 600 000. Der Freizeitspaß hat Zulauf, Deutschland waren beim Abstieg von ei-
alle Gipfel im umliegenden Wetterstein- weil viele Wintersportler es satthaben, auf nem Gipfel in einem steilen Waldgebiet
gebiet und im Mieminger Gebirge bestie- überfüllten Pisten Ski zu laufen. von einer 200 Meter breiten Nassschnee-
gen und jede mit Ski befahrbare Berg- Die meisten Skibergsteiger verlassen sich lawine erfasst worden.
flanke bewältigt. Er weiß, wie sich wech- bei ihren Wanderungen nicht auf das Glück. Eigentlich gilt die Regel, dass Skiberg-
selnde Temperaturen und Winde auf die Sie haben Karten dabei und zusätzlich auf steiger im Wald ziemlich sicher sind. Dies-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 95


Sport

Die letzten
Zeugen von
Schneefernerkopf,
Freeride-Abfahrt 2875 m
»Neue Welt«

Auschwitz
nahe der Zugspitze
im Wettersteingebirge

Abseilstelle

PETER ALBERT / W W W.STEILE-WELT.DE


mal hatte sich jedoch eine Schneewalze die in der Dunkelheit kaum zu erkennen-
weit oberhalb der Baumgrenze gelöst und den Stahlseile gespannt sind, bilden sie für
war mit einer solchen Wucht herabge- abfahrende Skiläufer ein gefährliches Hin-
stürzt, dass Tannen und Fichten abknick- dernis. Es gab schon zahlreiche schwere
ten wie Mikadostäbchen. Zwei Touren- Unfälle.
geher wurden mitgerissen und kamen ums Vor einigen Wochen griff ein Skiberg-
Leben. Eines der Opfer war acht Meter steiger in einem Skigebiet bei Innsbruck
tief verschüttet worden. einen Raupenfahrer an und ohrfeigte ihn.
Wegen der Risiken im Gelände prakti- Der Fall machte Schlagzeilen. Es wird
zieren vor allem unerfahrene Tourengeher nun in Österreich darüber debattiert, in
ihren Sport lieber in den Skigebieten. Im allen Skigebieten Routen für Tourengeher
Gänsemarsch marschieren sie am Rand durch gesichertes Gelände auszuweisen,
der gesicherten Pisten den Berg hinauf. um sie von den regulären Pisten fernzu-
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag,
Um dem Rummel auf den Hütten und halten.
288 Seiten mit 60 Abb. · € 29,99 (D)
ISBN 978-3-421-04714-4 dem gefährlichen Gegenverkehr durch die Regina Poberschnigg, die Chefin der
Auch als E-Book erhältlich
normalen Skiläufer zu entgehen, starten Ehrwalder Bergrettung, sagt, die Einsätze
viele erst mit dem Aufstieg, wenn die Lifte hätten in den vergangenen Jahren deutlich
am Abend geschlossen haben. Mit Stirn- zugenommen. »Weil immer mehr Leute
lampen ausgestattet, wirken Sportler in in die Berge gehen, passiert eben auch
der Finsternis wie Glühwürmchen. mehr.«
Martin Rothballer, Betriebsleiter der Sie betreibt in Ehrwald eine Ski- und
SPIEGEL-Redakteure haben Ehrwalder Almbahn, nennt die Pistenwan- Bergsportschule. Ihre Mitarbeiter erleben
zwanzig Holocaust-Überlebende auf derer etwas verächtlich »Krabbler«. Sie neuerdings immer mehr Kunden, die
sind für ihn ein Ärgernis. Zum einen un- kaum Erfahrung haben mit Skitouren, sich
der ganzen Welt besucht, um sie terlaufen sie sein Geschäftsmodell, weil aber trotzdem die Steilabfahrt durch die
nach ihren Erfahrungen in der sie zwar die Infrastruktur nutzen, aber kei- Neue Welt zutrauen. »Die kommen frisch
ne Liftkarte kaufen. Bei ihren nächtlichen aus ihrem Büro und rennen einfach los,
Todesfabrik Auschwitz zu befragen. Abfahrten ramponieren die Sportler zu- egal wie das Wetter und die Lawinensitua-
Aus den Gesprächen entstanden dem die bereits für den nächsten Tag prä- tion ist. Ein Wahnsinn.«
parierten Hänge. Gerade die Unbedarften und Unver-
umfangreiche Protokolle über eine »Im Prinzip ist das Sachbeschädigung«, nünftigen wiegten sich in Sicherheit, weil
Zeit kaum vorstellbarer Ängste und schimpft Rothballer. Seine Mitarbeiter sie mit ihrem Handy ja jederzeit die Berg-
Leiden. Für die nachfolgenden sind angewiesen, die Skibergsteiger darauf rettung anrufen könnten, falls etwas pas-
hinzuweisen. »Aber wenn wir kommen, siere. »Wir sind für die eine Art Shuttle-
Generationen sind sie die letzten verstecken die sich im Wald.« service«, sagt Poberschnigg.
Zeitzeugen. Rothballer ist mit einem Schneemobil Vor einigen Wochen mussten die Ehr-
zu einer Liftstation hinaufgefahren. Er hat walder Bergretter ausrücken, um einen
dort beleuchtete Warnschilder aufstellen Tourengeher einzusammeln, der sich ver-
lassen, die darauf hinweisen, dass nachts irrt hatte. Als sie ihn gefunden hatten, be-
auf den Pisten Raupenfahrzeuge arbeiten. schwerte sich der Mann bei den Helfern,
Die Maschinen werden im steilen Gelände warum sie so lange gebraucht hätten.
mit Trossen gesichert, die an Verankerun- Gerhard Pfeil
gen am Pistenrand eingehängt sind. Wenn

96 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


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Wissen

BRISTOL ZOOLOGICAL SOCIETY /SWNS / ACTION PRESS


Da bist du ja! Für den westlichen Flachlandgorilla sind Wilderer in Teilen Äquatorialguineas eine existenzbedrohende
Gefahr. Um zu prüfen, wie groß die Bestände dort überhaupt noch sind, stellten Forscher der Bristol Zoological Society
Fotofallen im Regenwald auf. Damit sind ihnen jetzt Schnappschüsse von jungen, offenbar gut gedeihenden Gorillas
gelungen. Diese äußerst seltenen Bilder könnten nun, so hoffen die Experten, ein Schutzprojekt für die Tiere legitimieren.

Tabak, adieu Verkaufsstellen für Tabak massiv zu senken. Obwohl sie für die
Firmen wichtige Umsatzbringer sind, sollen Zigaretten bereits in
den kommenden Jahren aus allen Supermärkten und Tank-
Analyse Warum die Niederlande Zigaretten aus den stellen verschwinden. Das zuvor beschlossene Verbot aller Ziga-
rettenautomaten tritt schon Anfang 2022 in Kraft.
meisten Läden verbannen – und Deutschland nicht. Zigaretten sollen künftig nur noch in vergleichsweise dünn
gesäten Fachgeschäften zu kaufen sein. Im öffentlichen Raum
G Wer Zigaretten kaufen will, der hat es leicht in Deutschland. sinkt zudem die Zahl der Orte, an denen gequalmt werden darf;
Tabak gibt es am Kiosk, im Supermarkt, in der Drogerie, am ab April werden alle Bahnhöfe rauchfrei sein. Die Zigarette, das
Imbiss, an der Tankstelle und an circa 300 000 Automaten. ist so gewollt, soll die Aura des Alltäglichen, des Normalen und
Kaum ein anderes Produkt ist derart leicht verfügbar, 24 Stun- sozial Akzeptablen verlieren.
den am Tag, 365 Tage im Jahr. In Deutschland sind indes Verkaufsbeschränkungen für
Zigaretten töten in Deutschland mehr als 120 000 Menschen Zigaretten ein unpopuläres Thema. Im Bundestag haben Abge-
im Jahr, weltweit bringen sie jährlich über sieben Millionen Frau- ordnete der CDU, aber auch der SPD lange für das Gegenteil
en und Männer um. Die meisten Raucher möchten gern auf- gekämpft: dafür, dass Tabakwerbung auf Plakaten und im Kino
hören, sie schaffen es nur nicht – Tabak ist ein überaus starkes legal bleibt.
Suchtmittel. Und es lockt: an jeder Ecke. Kein anderer EU-Staat erlaubt der Tabakindustrie einen
Mit diesem Missstand machen zumindest die Niederlande derartigen Zugriff auf seine Bevölkerung. Und obwohl die
jetzt Schluss. Eine große Mehrheit im Haager Parlament hat die CDU/CSU-Bundestagsfraktion jüngst Besserung gelobte, ist
Regierung vergangene Woche dazu verpflichtet, die Zahl der das entsprechende Gesetz nicht in Sicht. Marco Evers

98 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Klimawandel Fußnote
Noch heißer
 Das Jahr 2020 wird »so gut
wie sicher« eines der zehn
weltweit wärmsten seit
46 000
Beginn der Temperaturauf- Jahre alt ist ein Vogelkadaver,
zeichnungen vor mehr als den eine Forscherin wegen
140 Jahren. Diese Vorhersage seines sehr guten Zustands

DANIEL BOCKWOLDT / DPA


treffen Klimaforscher um zunächst für ziemlich frischen
Karin Gleason von der US- Ursprungs gehalten hat. Tat-
Wetterbehörde NOAA. Sie sächlich aber lebte die ver-
gründen ihr Urteil auf den blichene Ohrenlerche zu Zei-
ungewöhnlichen Jahresbeginn: ten der Mammuts und der
Die globale Durchschnitts- Wollnashörner. Als das Weib-
temperatur lag im Januar 1,14 Sonnenbadende an der Elbe in Hamburg im Rekordsommer 2016 chen sein Leben im Nordosten
Grad Celsius über dem lang- Sibiriens aushauchte, wurde
jährigen Mittel, wodurch der de mit einer Wahrscheinlich- schen Met Office erwarten es rasch im schützenden Perma-
Monat zum wärmsten Januar keit von mehr als 98 Prozent hohe Temperaturen. Als Ursa- frost eingeschlossen. Wissen-
der Messgeschichte wurde. zu einem der fünf wärmsten che dafür geben sie den men- schaftler haben das Alter des
Aus ihren statistischen Analy- Jahre. Es besteht eine Chance schengemachten Klimawan- Federtiers jetzt mithilfe der
sen schließt Karin Gleason, von knapp 50 Prozent, dass del an: Die Menge an Kohlen- Radiokarbonmethode ermit-
dass ein heißer Verlauf für das dieses Jahr sogar den bisheri- dioxid in der Atmosphäre telt. Zwei heute lebende Unter-
restliche Jahr weitaus eher zu gen Rekordhalter – 2016 – als werde in diesem Jahr Werte arten der Ohrenlerche sind
erwarten ist als ein kühler. das heißeste überhaupt ablöst. erreichen wie seit vielen Mil- mit der Ahnin aus der Eiszeit
2020, so die Forscherin, wer- Auch Klimatologen des briti- lionen Jahren nicht. ME sehr eng verwandt.

Soziologie dem herausgefunden, dass die wohlzufühlen und zu vernet-

»Gute Zeiten für Nachbarschaften«


Menschen, die dort leben, zen, wenn die Unterschiede
weniger Vertrauen in ihre abnehmen. Insofern hat Segre-
Nachbarn haben und kaum gation in diesem Zusammen-
Sebastian Kur- gruppen organisieren oder Netzwerke aufbauen. So wird hang einen positiven Effekt.
tenbach, 32, Tauschangebote machen. eine Chance vertan, das Wohl- SPIEGEL: Stimmt es eigentlich,
Soziologe von Allein Nebenan.de hat schon befinden zu steigern. dass Nachbarschaften auf dem
der Fachhoch- mehr als eine Million Nutzer. SPIEGEL: Soziologen beklagen Land besser funktionieren als
WILFRIED GERHARZ

schule Münster, So wird das Internet immer oft die Segregation, also in der Stadt?
über die Frage, mehr zu einer Erweiterung der den Umstand, dass einzelne Kurtenbach: Das halte ich
ob in Zeiten Nachbarschaft – und ganz Stadtteile zunehmend von eher für eine Legende, die den
digitalen Dauer- bestimmt nicht zu deren Ende. Menschen aus dem gleichen ländlichen Raum verklärt.
kontakts per Chat und Face- SPIEGEL: Trifft das für alle Kulturkreis und der gleichen Allerdings haben wir in einer
book Nachbarn noch wichtig Bevölkerungsgruppen zu? Bildungs- und Einkommens- Studie herausgefunden, dass
sind Kurtenbach: Es sind vor allem schicht bewohnt werden. Nachbarschaften intensiver
Nachbarschaften der jungen Welchen Einfluss hat das auf sind, wenn es, wie auf dem
SPIEGEL: Herr Kurtenbach, urbanen Mittelschicht, die bis- die Qualität von Nachbar- Land, viele Eigentümer gibt.
kennen Sie Ihre Nachbarn? her von den Plattformen profi- schaften? Kaufen statt mieten kann also
Kurtenbach: Ja, sehr gut sogar. tieren. Eine digitale Vernet- Kurtenbach: Es fällt den Men- auch deswegen eine sinnvolle
Das Problem der wachsenden zung wäre aus unserer Sicht schen natürlich leichter, sich Entscheidung sein. GUI
Anonymität ist nicht so groß, aber besonders in Quartieren
wie oft unterstellt wird. Tat- mit hoher Armutsprägung
sächlich sind viele Menschen, sinnvoll, denn darüber lässt
die Tür an Tür leben, intensiv sich informelle Hilfe organisie-
miteinander vernetzt. Auch ren und die Lebensqualität
heute leben wir in guten Zei- steigern.
ten für Nachbarschaften. SPIEGEL: Sind Menschen in
SPIEGEL: Woran liegt das? funktionierenden Nachbar-
Daran, dass ständig online schaften zufriedener?
bestellte Pakete hin- und her- Kurtenbach: Ja, sogar gesün-
geschleppt werden? der, das ist in vielen Studien
INA FASSBENDER / AFP

Kurtenbach: Es liegt schon am nachgewiesen worden, und


Internet, aber entscheidender das ist auch unser Befund. Bei
sind die Plattformen für den einer breit angelegten Umfra-
nachbarschaftlichen Aus- ge in Köln-Chorweiler, einem
tausch, auf denen sich Men- Stadtteil mit vielen sozialen
schen zum Beispiel in Lauf- Problemen, haben wir außer- Wohnhaus in Köln-Chorweiler

99
Wissen

Es werde Sonne
Physik Mit neuen Reaktoren wollen millionenschwere US-Start-ups den alten Menschheitstraum
von der Fusionsenergie wahr machen. Die technischen Hürden sind enorm hoch.

D
er Mann, der in einer Fabrikhalle kein hoch radioaktiver Müll an, der für nisch für »der Weg«, kostet mindestens
das Feuer der Sterne entzünden Jahrmillionen irgendwo verbuddelt wer- 20 Milliarden Euro und liegt neun Jahre
möchte, verfolgt seinen Plan den muss. Stattdessen ist es möglich, Ab- hinter dem Zeitplan – die Projektleiter
wie eine Geheimoperation. Nein, fälle vor Ort zu verwahren, und die Strah- müssen auf die Befindlichkeiten von
sagt Robert Mumgaard, der Chef der Fir- lung ist nach wenigen Jahrzehnten weit- 35 Ländern Rücksicht nehmen, die das
ma Commonwealth Fusion Systems (CFS) gehend abgeklungen. Vorhaben bezahlen. Und wenn der Reak-
aus Cambridge bei Boston, die Werkstatt Fusionsreaktoren haben aber auch einen tor voraussichtlich im Jahr 2025 in Betrieb
dürfe man nicht betreten. Nicht einmal ein Nachteil: Noch hat keine Maschine es ge- geht, wird er keinen Strom erzeugen. Iter
kurzer Blick sei erlaubt. »Wir sind noch schafft, mehr Energie zu erzeugen, als man ist ein wissenschaftliches Experiment, eine
dabei, unsere Erfindungen zu schützen«, zum Betrieb in sie hineinstecken muss. Das Schablone für künftige Kraftwerke. Und:
fügt er hinzu. kontrollierte Sternenfeuer auf Erden funk- eine ewige Verheißung.
Das Einzige, was Mumgaard zu zeigen tioniert bislang nur in der Theorie. Commonwealth Fusion Systems möch-
bereit ist, wirkt unscheinbar: ein metal- te beweisen, dass es schneller geht. Das
lischer Streifen, breit wie eine Bandnudel Die Wende soll ein internationales Groß- Start-up ist das jüngste Mitglied einer
und fast so biegsam wie Papier. Er ist forschungsprojekt namens Iter bringen. Gruppe finanziell extrem gut ausgestatte-
der wichtigste Bestandteil seiner Maschine. Der riesige Reaktor wächst in der südfran- ter privater Fusionsunternehmen. Es gibt
Es handelt sich um einen neuartigen Hoch- zösischen Forschungsanlage Cadarache zwei Dutzend davon, vorwiegend in Nord-
temperatur-Supraleiter. Durch ihn fließt heran und wird einmal die Höhe eines
Strom ohne Widerstand, und zwar extrem zehnstöckigen Hauses haben. Iter, latei-
viel Strom. Mumgaards Ingenieure win-
den diese Streifen zu menschenhohen
Elektromagneten, den stärksten ihrer
Größe. Jede Magnetspule bestehe aus
500 Kilometer Supraleiter, und 18 Stück Gebändigtes Sternenfeuer
benötige er für seine Maschine, sagt Mum- Funktionsweise des Fusionsreaktors Sparc
gaard. Das ist alles, was sich ihm über seine
Wundermagneten entlocken lässt.
Macht eine Firma ein solches Geheim- In der Donut-förmigen Brennkammer werden
nis um sich, kann es zweierlei bedeuten: schwere Wasserstoffkerne, Deuterium und Tritium
Entweder hat sie etwas zu verbergen, genannt, auf 150 Millionen Grad Celsius erhitzt.
oder sie ist etwas Großem auf der Spur, Tritium und Deuterium bilden ein Plasma.
vielleicht sogar einem Menschheitstraum Ein Magnetfeld stabilisiert die Teilchen.
– wie dem von einer unerschöpflichen
Energiequelle.
Der Bau eines Fusionskraftwerks gehört
zu den kühnsten Unternehmungen der Die Kerne verschmelzen zu Helium.
Dabei setzen sie ein Neutron mit hoher
modernen Physik. Anders als in einem ge-
Energie frei.
wöhnlichen Kernkraftwerk werden Atom-
kerne in einem Fusionsreaktor nicht ge-
spalten, sondern verschmolzen – wie in
Sonnen. Dabei wird Wasserstoff in Helium Die Neutronen werden Deuterium
verwandelt, und eine enorme Menge Ener- in der Hülle des Reaktors
gie wird frei. Aus einem Gramm Brenn- abgebremst und erzeugen
material kann ein Fusionskraftwerk so viel dabei Wärme. Helium
Energie gewinnen wie ein herkömmliches
Kraftwerk aus elf Tonnen Kohle. Nur dass Tritium Neutron
der Reaktor dabei keine klimaschädlichen In der späteren Anwendung wird
Gase ausstößt. mit der Wärme wie in herkömm-
Fusionskraftwerke sind nicht darauf lichen Kraftwerken zunächst
angewiesen, dass Wind bläst oder die Wasserdampf erzeugt, über
Sonne scheint, und sie könnten Mega- Turbinen lässt sich anschließend
städte genauso mit Strom versorgen wie Strom produzieren.
die Schwerindustrie. Gegenüber der Kern-
spaltung haben sie zwei große Vorteile:
Die Reaktion kann nicht zu unkontrollier- 1 Gramm der Brennstoffe Tritium und Deuterium könnte bei einer Fusion
baren Kernschmelzen führen, und es fällt so viel Energie liefern wie die Verbrennung von 11 Tonnen Kohle.

100
amerika. Firmen wie TAE Technologies stehen, warum sich manche Erfindungen modulen wird das Neutron abgefangen
aus Kalifornien, die kanadische General durchsetzen und andere vergessen werden. und seine Energie in Wärme umgewandelt.
Fusion oder eben CFS aus Massachusetts »Eine Erfindung kann wissenschaftlich spit- Mit ihr lässt sich Wasser erhitzen, eine Tur-
haben ausgefeilte Pläne. Zum Teil haben ze sein und es dennoch zu nichts bringen«, bine antreiben.
sie schon Prototypen gebaut. Sie wollen sagt Mumgaard. Ein Start-up müsse von Kein Material der Welt hält aber
Fusionsenergie auf den Markt drücken Anfang an mitdenken, wie es sein Produkt 150 Millionen Grad aus – die Wand des
wie Tesla das Elektroauto oder SpaceX in großer Zahl produzieren könne und stets Reaktors ist deutlich kälter. Was wiederum
die Weltraumraketen. an Kapital komme. »Steht auf deinem Plan zur Folge hat, dass das Plasma abkühlt, so-
»Diese Start-ups sind überzeugt, dass an irgendeiner Stelle: ›Hier muss ein Wun- bald es die Wand berührt. Die Reaktion
sie die Fusion einen Riesenschritt voran- der geschehen‹, ist es kein guter Plan.« erlischt. Das hat zwar den Vorteil, dass im
bringen können«, sagt der Physiker Hart- Störfall die Reaktion nicht außer Kontrolle
mut Zohm vom Max-Planck-Institut für Mumgaards eigenes Konzept wurde von geraten kann. Es zeigt aber auch, warum
Plasmaphysik in Garching, das selbst an finanzmächtigen Investoren für solide die Unternehmung so knifflig ist: Physiker
Iter mitarbeitet. »Und sie setzen ihre Pläne befunden. In nur zwei Jahren hat CFS müssen ein Gefäß bauen, in dem Plasma
energisch um.« Robert Mumgaard von 115 Millionen Dollar eingesammelt, vor schwebt, ohne irgendetwas zu berühren,
CFS sagt: »Unser Antrieb ist der Klima- allem von Risikokapitalfirmen. Aber die gehalten etwa von den Feldern starker
wandel. Als eine von wenigen Lösungen technischen Probleme bleiben. Dazu ge- Magneten.
wird Fusionsenergie dem ungeheuren Aus- hört, dass ein Reaktor hohe Drücke erzeu- Wenn Robert Mumgaard erklären möch-
maß dieses Problems gerecht.« gen und ziemlich heiß werden muss, damit te, warum er fest an seine Idee glaubt,
Mumgaard, 36 Jahre alt und Chef von Atomkerne verschmelzen: 150 Millionen führt er durch eine Halle voller schrank-
etwa 50 Mitarbeitern, empfängt in einem Grad Celsius. In der Hitze lösen sich im großer Energiespeicher und ein Tor in
zweistöckigen Backsteinbau in Cambridge, Reaktor Elektronen und Atomkerne von- einer meterdicken Betonwand. Dahinter
den sich die Firma mit dem Fusionsfor- einander und bilden ein Gemisch, das sich verbirgt sich eine blassblau gestrichene
schungszentrum des Massachusetts Insti- Plasma nennt: ein dünnes, elektrisch gela- Riesentonne – das Vorbild für seine Son-
tute of Technology (MIT) teilt. Er trägt ei- denes Gas. Unter diesen Bedingungen ver- nenmaschine. Die Tonne heißt Alcator
nen weiten Pulli und ausgebeulte Jeans. wandeln sich zwei spezielle Wasserstoffker- C-Mod, der Reaktor ist ein Fossil der
Ihn faszinierten Bücher über Technikge- ne zu einem Heliumkern. Dabei entsteht Fusionsforschung.
schichte, erzählt Mumgaard. Er wolle ver- ein extrem energiereiches Neutron – das Jahrelang tüftelten Physiker des MIT
Teilchen der Sehnsucht für eine stromhung- an der Tonne herum. Mumgaard stieß
rige Menschheit. In speziellen Reaktor- 2008 dazu und war verantwortlich für ei-
nes der vielen Messinstrumente am Reak-
tor. Durch ein armdickes Rohr schoss er
Teilchen ins Plasma und vermaß das mag-
netische Feld. Gemeinsam gelang es den
Wissenschaftlern, die Plasmawolke immer
besser zu formen. Schließlich, am vorerst
letzten Betriebstag im Jahr 2016, stellte
Alcator C-Mod einen Rekord auf. Der Re-
Schutzwand aktor presste die Wolke mit einem Druck
aus besonders hitzebeständigem Material, z.B. zusammen, der mehr als zweimal so hoch
Beryllium. Sie schirmt den Rest des Reaktors von ist wie in der Atmosphäre auf Meereshöhe.
der Hitze ab. Das ist zwar verschwindend gering für das
Sterneninnere, für einen Fusionsreaktor
jedoch unerreicht. Vor allem aber konnte
Alcator C-Mod diesen Druck lange hal-
Spezielle Elektromagnete ten – zumindest auf der Zeitskala von
aus Hochtemperatur-Supraleitern pressen das Atomkernen: zwei Sekunden.
Plasma zusammen und sorgen so für die Alcator C-Mod gehört zu den sogenann-
Fusionsbedingungen. ten Tokamaks. Das Gefäß dieses Reaktor-
typs ähnelt einem überdimensionalen Do-
nut mit starken Magneten drum herum.
Blanket Elektromagnetische Wellen heizen die
soll im späteren Reaktor aus flüssigen Salzen Plasmateilchen auf, und die Magnete hal-
bestehen und die Wärme aus der Reaktion ten sie auf ihrer Bahn. Eine Sonne, einge-
abführen fasst von Magnetkraft.
Tokamaks sind die am weitesten ent-
wickelten Fusionsgefäße, jedoch längst
nicht die einzigen. So wird am Max-
Weitere Magnete halten das Plasma in Form. Planck-Institut für Plasmaphysik in Greifs-
wald ein sogenannter Stellarator erprobt;
laut theoretischen Vorhersagen könnte er
Stützen fangen die mechanischen effizienter laufen als ein Tokamak, doch
Kräfte auf die Magnete ab. sein Bau ist noch anspruchsvoller. Unab-
hängig vom Reaktortyp gestaltet sich der
letzte Schritt zum Sternenfeuer zum Ver-
zweifeln schwierig. Entweder erreichen
Plasma (heißes, dünnes Gasgemisch) aus schwerem Wasserstoff die Maschinen nicht den nötigen Druck

101
Wissen

oder – wie Alcator C-Mod – nicht die er- Website oder Firmenschild. Herausgekom-
forderliche Temperatur. men ist eine Maschine von der Länge zwei-
Das Problem: Plasma liegt niemals ru- er Busse. Sie schießt Plasmakringel von
hig. Ständig geraten seine elektrisch gela- beiden Seiten aufeinander, die sich in der
denen Teilchen in Turbulenzen, verlassen Mitte des Reaktors zu einer zigarrenför-
ihre Bahn und prallen gegen die vergleichs- migen Plasmawolke vereinen.
weise kalte Wand. Berechnungen zufolge Die Maschine habe ihre Ziele in puncto
bieten sich zwei Lösungen für dieses Pro- Hitze und Plasmadauer erreicht, teilt
blem an. Man kann den Donut entweder die Firma mit und sieht sich für die ge-
größer bauen, um den heißen Plasmakern plante nächste Generation auf einem
besser von der Wand abzuschirmen. Das sicheren Weg: »Unseren Annahmen zu-
ist der Weg von Iter. Oder man baut stär- folge steigt die Stabilität des Plasmas mit
kere Magneten, um das Plasma enger zu- der Temperatur.«
sammenzudrücken. Das ist der Weg von Der Physiker Hartmut Zohm ist mit den
Commonwealth Fusion Systems. Konzepten der nordamerikanischen Fir-
Unter Physikern gibt es einen verbrei- men vertraut – und hat ernste Zweifel. Sie
teten Witz, schon seit den Sechzigerjahren: hätten noch nicht bewiesen, dass sie das

KEN RICHARDSON / DER SPIEGEL


Fusionsenergie, lautet der, liege immer Plasma so gut beherrschen können wie der
drei Jahrzehnte in der Zukunft. Das US- Tokamak. »Dessen Vorsprung müssen sie
amerikanische Energieministerium stuft erst einmal aufholen«, sagt er. Die Pläne
Fusionsenergie weiterhin als Grundlagen- für Mumgaards Sparc-Reaktor hält Zohm
forschung ein, so wie die Suche nach dunk- für das Konzept, das am meisten ver-
ler Materie. In einem aktuellen Bericht des spricht. Der Weg zu einem späteren Kraft-
Bundeswirtschaftsministeriums zum The- werk ist für ihn aber noch voller Unwäg-
ma heißt es, Fusionsenergie werde »vo- Unternehmer Mumgaard am barkeiten. »Da sind viele Science-Fiction-
raussichtlich erst nach 2050 verfügbar« Reaktor Alcator C-Mod Elemente dabei, die man erst entwickeln
sein. Für das Ziel, bis zur Mitte des Jahr- »Hier muss ein Wunder geschehen« muss«, sagt er. »Ich bin skeptisch, ob alles
hunderts weitgehend CO -neutral zu wer- immer schnell und schneller geht.«
²
den, käme sie zu spät. klingt damit wie das englische Wort für Skepsis gehört nicht zu den Tugenden
»Funke«. Sparc soll eine Energierevolution von Start-ups, deshalb hat Robert Mum-
Die öffentliche Förderung von Fusions- entfachen. gaard längst ausrechnen lassen, welche
projekten halten Kritiker für Geldver- Fast alle privaten Fusionsunternehmen Leistung ein Kraftwerk auf der Basis der
schwendung. Die Grünen im Bundestag versprechen einen durchschlagenden Er- Sparc-Technologie bereitstellen könnte;
haben vor allem Iter im Visier, in das über folg im Laufe dieses Jahrzehnts. Anders man kam auf 200 Megawatt. Das ist etwa
die EU auch Millionen Euro aus Deutsch- als CFS verabschieden sie sich vom Toka- ein Siebtel der Leistung eines durchschnitt-
land fließen. Iter werde »immer mehr zum mak – vor allem von den Megamagneten. lichen Kernkraftwerks. Mumgaard sieht
Verpackungsschwindel«, weil es die Ener- So arbeitet die kanadische Firma General darin einen Vorteil: Sind Kernkraftwerke
giewende nicht vorantreibe. Das Geld ste- Fusion an einer Maschine, bei der 300 prä- heutzutage im Grunde extrem kostspielige
cke man besser in Ausbau und Erforschung zise getaktete Kolben auf eine Plasma- Einzelanfertigungen, könnten Fusions-
erneuerbarer Energien. kugel einhämmern. Dabei werden die kraftwerke, einmal entwickelt, in großer
Robert Mumgaard, der CFS-Chef, hält Wasserstoffkerne für weniger als eine Milli- Stückzahl industriell gefertigt werden.
wenig davon, die Kernfusion und erneu- sekunde so eng zusammengedrückt, dass Experten gehen davon aus, dass Fu-
erbare Energiequellen gegeneinander aus- sie miteinander verschmelzen. sionsenergie zwar teurer produziert wer-
zuspielen. Zumal sich »Megastädte wie Derzeit sucht die Firma nach einem Bau- den würde als Strom aus Kernkraft und
Seoul, Tokio oder Singapur niemals mit platz für einen Prototyp. Kanada sei im fossilen Brennstoffen, aber günstiger als
erneuerbarer Energie versorgen werden«, Gespräch, aber auch Großbritannien, sagt Solar- und Windenergie. Doch viele Fra-
glaubt er. Allein auf Sonne, Wasser und General-Fusion-Chef Christofer Mowry. gen sind offen: Wie lange hält der Reaktor
Wind zu setzen – das klingt für ihn naiv. »Wir haben die einzelnen Teile der Ma- der Hitze stand? Wie schnell wird die in-
Mumgaard und sein Team arbeiten an schine erfolgreich getestet«, sagt er, »in- nerste Wand durch die Neutronen radio-
den ersten Elektromagneten aus den Band- nerhalb der nächsten vier bis fünf Jahre aktiv oder spröde und muss ausgetauscht
nudelstreifen. Etwa doppelt so stark wie fügen wir alles zusammen.« werden? Vor allem aber: Wie wird das
die von Iter sollen sie werden. Die Kraft Von den Firmen finanziell am besten Kraftwerk aussehen? Wird es Plasma mit
erzeugt einen extremen mechanischen ausgestattet ist vielleicht das kalifornische Kolben zusammendrücken, mit Kanonen
Druck. »Niemand hat einen solchen Mag- Unternehmen TAE. Es residiert in Foothill aufeinander schießen oder mit Supermag-
neten je gebaut«, sagt Mumgaard. Ranch südöstlich von Los Angeles und hat neten zusammendrücken?
Der Bau seines Tokamaks soll im nächs- nach eigenen Angaben mehr als 700 Mil- Robert Mumgaard schrecken die Kon-
ten Jahr beginnen, er soll aus 18 Powermag- lionen Dollar an Kapital eingeworben. kurrenten nicht ab. »Fusionsenergie läuft
neten um ein Plasmagefäß von lediglich Viele Jahre lang operierten die Wissen- nicht Gefahr, dass zu viele Konzepte funk-
drei Meter Durchmesser bestehen – im Ver- schaftler weitgehend im Geheimen, ohne tionieren«, sagt er, »sondern dass am Ende
gleich zu Iter wird sein Reaktor ein Winz- keines funktioniert.«
ling, weshalb Mumgaard mit einer kurzen Es ist 70 Jahre her, dass Physiker erst-
Bauzeit rechnet. Im Jahr 2025 soll der Ver- mals eine winzige Sonne in ein Gefäß
suchsreaktor als erster das ersehnte Ergeb-
»Da ist viel Science- einzusperren versuchten. Die Sorge, dass
nis erzielen: mehr Energie zu erzeugen, als Fiction dabei – ich bin die Idee scheitern könnte, ist noch immer
man zum Betrieb reinpumpen muss. skeptisch, ob alles da. Martin Schlak
Mumgaards Wundermaschine trägt Mail: martin.schlak@spiegel.de
nicht zufällig die Abkürzung »Sparc« und immer schneller geht.«
102 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
Was sind die besten Bücher
des Frühjahrs?
Nächste Woche als Beilage: SPIEGEL BESTSELLER, das neue Kulturmagazin.
Alles Wichtige aus Literatur, Film und Musik.

LISA WASSMANN / DER SPIEGEL


Schriftsteller Grisham Schauspielerin Beer

Thrillerautor John Grisham im Interview – eine Leseprobe zugeben, keine Steuern gezahlt zu haben. Das verschafft
aus dem nächsten SPIEGEL BESTSELLER: ihm sicher eine gewisse Anziehungskraft.
SPIEGEL: Diese ganzen Intrigen und Skandale unter
SPIEGEL: In Ihrem neuen Roman »Die Wächter« sagt Ihr Trump, die ans Licht der Öffentlichkeit dringen – steckt da
Held, ein Anwalt: »Ich hatte Hunderte Mandanten, und auch ein Grisham-Thriller drin?
nach kurzer Zeit war ich an einem Punkt, an dem ich alle Grisham: Das Material wäre reichhaltig genug, na klar. Ich
für schuldig hielt.« Sie waren selbst Strafverteidiger. Wie habe eine Weile darüber nachgedacht. Bei Trump und all
gut können Sie Menschen einschätzen? den irren Geschichten habe ich allerdings das Gefühl, dass
Grisham: Es ist schwierig, nicht irgendwann jedem, der in es zu verrückt klingen würde.
die Kanzlei kommt, gefühllos, abgestumpft, zynisch und
zweifelnd gegenüberzustehen. Weitere Themen im nächsten
SPIEGEL: Ich frage deshalb, weil Sie 2016 sagten, dass SPIEGEL BESTSELLER
Donald Trump Ihnen keine Angst mache – im Gegenteil:  Hausbesuch beim Stockholmer
Als Kandidat der Republikaner sei er am einfachsten zu Krimiautor Arne Dahl
schlagen.  Der Pianist Igor Levit beantwortet den
Grisham: Das habe ich gesagt, mehrfach sogar. Vielleicht SPIEGEL-BESTSELLER-Fragebogen
auch einmal zu viel. Andererseits kann ich mich nicht erin-  Interview mit Schauspielerin
nern, wann ich mal bei einer Wahl richtiglag. Paula Beer
SPIEGEL: Lässt sich der Erfolg von Trump mit einer Faszi-  Kübra Gümüşays kluges Sachbuch
nation für Gauner erklären? über Sprache und Politik
Grisham: Wir neigen dazu, Verbrecher zu unseren Helden
zu machen. Trump hat auch etwas davon, er ist schamlos, SPIEGEL BESTSELLER erscheint viermal im Jahr als Beilage
wenn es um seine Laster geht. Er ist dreist genug, damit an- des SPIEGEL.

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Wissen

Orgien des Beleidigens


Linguistik Mehrkillova, Büntesrepüblük, Journalunken – die Rechten rüsten im Internet auch verbal auf.
Jetzt hat ein Sprachwissenschaftler den bizarren Schmähwortschatz untersucht.

W
urde je ein Mensch so innig Wie kommt eine solche Fülle an Be- Rom der Antike pflegten die Senatoren
geschmäht wie die Bundes- leidigungen zustande? Woher die Erfin- einander öffentlich wüst zu beleidigen,
kanzlerin? Es gibt Leute, die dungswut? nicht zuletzt um das Publikum auf ihre
nennen Angela Merkel be- Wer das verstehen will, muss sich die Seite zu ziehen. In dieser Tradition steht
harrlich Murksel, Mürkül oder Mehrkill Szene genauer ansehen. Sie besteht zu auch der moderne Battle-Rap, bei dem
(da sie angeblich beabsichtigt, das »deut- einem großen Teil aus Leuten, die wenig die Musiker ihre Kontrahenten mit aus-
sche Volk« auszurotten). Besonders ge- gemeinsam haben – außer dem Drang, getüfteltem Schmähgesang »dissen«.
hässige Eiferer versteigen sich zu Adol- andere niederzumachen. Im gehässigen Bei den Rechten hingegen geht es kaum
Abwerten, glaubt Scharloth, finde die um die Pflege einer Kunstform. Sie begnü-
Nordrhein-Wirdfallen neue Rechte überhaupt erst zusammen.
Wie es dabei zugeht, ist den einschlä-
gen sich auch nicht mit der schlichten Be-
leidigung, die nur Einzelne trifft – und in
Mürkül
Murksel Annekröt K*uffn*uckenp*ack gigen Kommentar-
spalten zu entneh-
der Regel nicht lange vorhält. Was die
Hassbürger mit der Sprache treiben, geht
Staats(ver)gewalt(igung) Müsülmün

ReGIERung
Kuscheljustiz men. »Dort spie-
len sich regelrechte
weit darüber hinaus. Sie setzen systema-
tisch ganze Gruppen herab.
fela Ferkel und Überbietungswett- Zu diesem Zweck schmähen die Leute
Schlimmerem. Fernsehvolk
GehirnpROTHese bewerbe ab«, sagt vom rechten Rand, wie es scheint, fast
Eine Stichpro- Scharloth. Der eine ohne Unterlass. Und sie sparen dabei
be im Internet förderte weit über tausend Schreiber nennt die Kanzlerin Mehrkill, kaum etwas aus: Es geht nicht nur gegen
solcher Schmähvokabeln allein für die der nächste erhöht auf Mehrkillova (in die- die gewählte Regierung (BRD-/DDR-Jun-
Kanzlerin zutage. sen Kreisen wird die EU auch beharrlich ta), die angeblich gezielt Flüchtlinge (Fi-
Die abgründige Sammlung verdankt EUdSSR genannt). Und wo es wieder mal ckificki-Fachkräfte) ins Land holt, um die
man dem Sprachwissenschaftler Joachim um die verhassten Gutmenschen geht, ist angestammte Bevölkerung
Scharloth; er hat sie auf Onlineplattformen von BestmenschInnen oder gar von Super- auszurotten. Es geht auch Bundesverarschu
zusammengetragen, wo AfD-Anhänger, gutüberhochleistungsbestmenschen™ die gegen den Islam, den Femi-
Rechtsradikale und sonstige Hassbürger Rede. Je bizarrer das Spottkonstrukt, desto nismus, die Justiz, die De- WeiberXInnen
verkehren. Das Publikum dort bringt es besser die Aussichten auf den Beifall der mokratie, kurz: das System.
offenbar kaum noch über sich, Merkel ein- Gleichgesinnten. Selbst das ominöse Volk,
fach beim Namen zu nennen. »Jeder will möglichst noch eins drauf- dessen Willen man doch zu repräsen-
Auch sonst zeigen die neuen Rechten, wie setzen«, sagt Scharloth, »noch radikaler tieren vorgibt, ist oft Gegenstand ver-
der Forscher herausgefunden hat, eine selt- beleidigen.« Es gehe darum, Beachtung zu ächtlicher Tiraden. Ein Sauvolk wird es
same Obsession für das Herumfrickeln an finden, sich als der Härtere zu zeigen. Die genannt, ein Hosenscheißervolk, eine
Wörtern. Sie schreiben gern vielsagend Herde von Schlafschlachtschafen.
ReGIERung und Büntesrepüblük, das Par- Wahlbeschiss So kann sich die neue Rechte als elitäre
Tätervolk Grabschylant
Hosenscheisservolk
Minderheit inszenieren, die alles längst
durchschaut hat, während die Massen
ALImentsempfänger
Fickificki-Fachkräfte erst noch aufgeklärt werden müssen. Im

Zionazi-Junta Multikultifickificki-Europakalifat MitgliedX*/_Innen


Nazischuldneurose

Regierige Lügenpressenschmierulant Schlafschlachtschafen Grün-Mültikülti


Rapefugee-Gutmenschen
KÖTERvolk
EUdSSR Blödmichelmassen
lament schmähen sie als Abnickerabgeord- SupergutüberhochleistungsbestmenschenTM
netenkloake, und bei den Medien sehen sie altgedienten Kampfbegriffe seien Jubelvolk
wahlweise Journalunken, Lügenpressen- dafür zu schlicht: »Einfach nur 2.0-Einheitsregierung
schmierulanten oder Presstituierte am Werk. mit Lügenpresse kann da keiner K(r)ampfkültürellen
Scharloth ist Professor für Germanistik mehr ankommen.«
an der Waseda-Universität in Tokio; mit Der Drang zum Eskalieren erinnert ein sprachlichen Furor gegen alles findet diese
den bizarren Auswüchsen der Hassrede in wenig an die Schimpfwortduelle, die sich Bewegung Form und Mitte. Sie sei, sagt
der Politik ist er schon länger befasst. Für Kinder gern liefern: »Du bist ein Pups- der Sprachforscher Scharloth, vor allem
sein Projekt untersuchte er 29 beliebte An- kackgemüse!« – »Und du ein Pipipups- eine »Schmähgemeinschaft«. Den Zusam-
laufstellen der Rechten im Internet – vom kackgemüse.« So geht es bekanntlich, un- menhalt stellt das gemeinsame Vokabular
Magazin »Tichys Einblick« bis hin zum ter Prusten und Kichern, mit Begeisterung her. Wortschöpfungen wie EUdSSR oder
extrem rechten Blog »PI-News«. Bei seinen hin und her. Multi-kulti-ficki-ficki-Europakalifat, für
Recherchen tat sich dem Forscher ein riesi- Auch Historiker kennen die Freude Uneingeweihte kaum verständlich, wirken
ger Fundus des Schmähens und Schimpfens am überdrehten Lästern. Es gebe gerade- nach innen wie Signale der Zugehörigkeit.
auf: Mehr als 25 000 verschiedene Voka- zu eine »Kunstform der rituellen Be- Die Sprache stellt ein »Wir« her, und
beln hatte Scharloth am Ende beisammen. schimpfung«, sagt Scharloth. Schon im auf der anderen Seite stehen »die ande-

106 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


ren«: die Fickilanten zum Beispiel, die tausch und Verbreitung. Das geht nur,
Migrassoren. Wer beständig mit solchen wenn die Bewegung in einem schrift-
Wörtern auf Zuwanderer zielt, will diese basierten Medium weit vernetzt ist.
Leute entwerten, entrechten und am Ende Jetzt ist das alles möglich, und so treibt
weghaben – egal wie. der Erfindergeist der neuen Rechten
Der Mechanismus ist schlicht, aber viel- die absonderlichsten Blüten. Sie über-
fach bewährt: Die Menschen werden auf dreht wohl auch deshalb penetrant ihr
rassistische Manier einer fiktiven Gruppe Schmähvokabular, weil sie noch nicht
zugeschlagen; sie seien doch alle gleich, agieren kann, wie sie will – in den Wör-
heißt es. Dann bekommt diese Gruppe in- tern steckt eine Art aufgestaute Hand-
fame Absichten angedichtet – bis im letz- lungsbereitschaft.
ten Schritt die Fanatiker behaupten, das Sprachforscher Scharloth wundert sich,
seien keine Menschen, sondern Schäd- »wie sehr ausgerechnet diese Leute die
linge, die es zu eliminieren gelte.

Stimmvieh-Doofies
Affgarnixtan 68er-Arschrichter
MitgliedX*/_Innen
POlitikern
Feminismusgeschwür JournagogenBülützkrügg
KamelbeglückerX*/_Innen
Jürüstün Wahlurnenkult

Schwanzlurch-Abgeordnete BRDDDR-Junta
D-Gutmenschen
»Ein solcher Ausschluss muss sprachlich Sprache verhunzen. Dabei ist ihnen doch
vorbereitet werden«, sagt Anatol Stefa- angeblich so sehr an der Reinheit des Deut-
nowitsch, Sprachwissenschaftler in Ber- schen gelegen«.
lin. Letztlich laufe es auf die Vernich- Gut möglich, dass im unaufhörlichen
tung der Geschmähten hinaus. Es müsse Verunstalten der Wörter schon der
nicht zwangsläufig so enden, aber damit Wunsch zum Vorschein kommt, etwas
fange es an. Aus Sicht des Forschers Ähnliches mit den Menschen anzustellen,
machen eingängige Voka- auf die man damit zielt – symbolische
ungsgericht beln das Schmähen öko- Gewalt an der Sprache nähme in gewis-
ser Weise die reale vorweg. Der
Presstituierte
C(haotisch) D(ebile) Eindruck drängt sich speziell bei
den Namen auf, an denen der
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RechtsextremWICHSexperten Hassbürger zugange ist. Sein Fu- Auch als E-Book und Hörbuch erhältlich
Al Waziristan Repüblük
ror richtet sich besonders gegen
ANALytikern U(ndemokraten) die Frauen in der Politik – von der In ihrem neuen Buch geben die
Grünenpolitikerin Claudia Roth,
Mülltikültüllütät nomisch und ef- deren Name etwa als Rot(z)h verballhornt SPIEGEL Journalisten
SPIEGEL-J ournalisteen Rafael Buschmann
fizient. »Durch wird, bis hin zur Bundeskanzlerin mit und Michael Wuulzinger wieder
sie werden Dinge sagbar, die man nicht ihren Aberhunderten von abfällig gemein- exklusive Einblicke in die zunehmend
mehr erklären muss. Und man kann sie ten Pseudonymen.
jederzeit wie beiläufig einfließen lassen, In früheren Kulturen war der Glaube mafiösen Strukturen im Spitzenfußball.
auch wenn es gerade um etwas anderes verbreitet, wer mit allerhand Simsalabim Dabei erzählen sie auch die Geschichte
geht.« den Namen eines Menschen beschwöre, des Whistleblowers, der die spekta-
Die Rechte pflegt nicht umsonst mit erlange auch Macht über ihn. So ganz kulären Enthüllungen möglich gemacht
Hingabe ihr Arsenal von Schmähwörtern. ist die Namensmagie nie verschwunden.
Etwas Ähnliches hat es bislang nicht ge- Die neue Rechte scheint ihr geradezu hat – und dafür nun im Gefängnis sitzt.
geben. Zwar bilden soziale Bewegungen verfallen zu sein. Sein Schicksal zeigt, wie gnadenlos
in der Regel einen Jargon aus – so wie Besonders die vormalige SPD-Vorsitzen- die Branche gegenn jeden vorgeht,
vorgeht der
beispielsweise die Spontis in den Siebzi- de hatte unter zwangsoriginellen Wort-
gern Bankfurt für Frankfurt sagten. Aber spielen zu leiden: »Sie glauben gar nicht«, ihr gefährlich werden kann ...
viel weiter ging das kaum. sagt der Sprachforscher Scharloth, »wie
Nicht einmal die Nazis kannten einen viele Namenswitze mit ›anal‹ über An-
solchen Reichtum abwertenden Vokabu- drea Nahles gemacht wurden.«
lars. Wenn sie hetzten und wüteten, griffen Die postpubertär verklemmte Narretei BAND 1
BA
sie dabei eher selten auf spezielle Schmäh- gehört offenbar zum Kernbestand des 3552 Seiten aktualisiert
wörter zurück. Schmähsystems. Die Hassbürger machen unnd erweitert 2018
Es gab damals eben noch kein Internet, auch da vor kaum einer Peinlichkeit halt. Brroschur
o · c 10,00 (D)
kein Facebook, keine Onlineplattformen. Von POlitikern ist in Scharloths Sammlung Aucch als E-Book und
Ein gemeinsames Wörterbuch der Ge- relativ häufig die Rede, von Rechtsextrem- Hörbuch erhältlich
hässigkeit setzt voraus, dass viele Men- WICHSexperten und ANALytikern.
schen zugleich daran arbeiten und es er- Das verrät auch einiges über Charakter
weitern können. Die einen steuern Ideen und Reifegrad der Urheber. Es spricht das
bei, andere greifen sie auf und spitzen sie öffentliche Klo. Manfred Dworschak
zu, und alle zusammen sorgen für Aus-

107 www.dva.de
Kultur

LOTHAR MILATZ / ARTO / KUNSTPALAST


Fotografie »Badezimmer« von Thomas Demand, 1997
(Nachbau der Badewanne, in der der tote Uwe Barschel lag),
Elfenbeinfigur »Frau, Haare waschend« von Yasumasa,
um 1900, Gemälde »Les Captifs« von Maurice Denis, 1907
THOMAS DEMAND, VG BILDKUNST, BONN 2020

CHRISTIAN DEVLEESCHAUWER

Körper und Macht


Kulturgeschichte In Baden-Baden widmet sich eine Ausstellung der Entwicklung des Bades.
 Wo passt eine Ausstellung übers Baden liche Badestuben sehr beliebt – und weil Waschen kamen wieder in Mode. Das
besser hin als nach Baden-Baden? Kom- sie nicht ausschließlich der Leibeshygiene wurde dem Pariser Arzt und Revolutionär
menden Samstag beginnt die Schau unter dienten, galten sie manchem Mönch als Jean-Paul Marat zum Verhängnis. Er
dem Titel »Körper. Blicke. Macht. Eine Sündenpfuhl. Vor allem Pestepidemien wurde am 13. Juli 1793 von einer politi-
Kulturgeschichte des Bades« in der Staat- führten dazu, dass große Teile der Bevöl- schen Gegnerin erstochen, als er zu Hause
lichen Kunsthalle des Kurorts. Sie setzt kerung dem Wasser misstrauten. Es ein Bad nahm – diverse Gemälde zeigen
in der Antike an, reicht bis in die Gegen- galt nun als unsauber, und wer es sich leis- ihn als Wasserleiche. Überhaupt inspirier-
wart und erinnert daran, dass Wasser in ten konnte, ersetzte es durch Parfüm. te das Thema des Bades und der Baden-
manchen Epochen eher zum Bierbrauen Die Nutzung von Seife verbreitete sich den die Künstler vieler Epochen. Oft war
als zur Körperpflege eingesetzt wurde. aufgrund der industriellen Herstellung es bloß ein Vorwand, nackte Körper
Noch im späten Mittelalter waren öffent- erst im 18. Jahrhundert, Wasser und darstellen zu dürfen. UK

108 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Jazz ihres neuen Albums »Life
Große Veteranin Goes On« ist Kammermusik
auf Basis des Blues: drei
 So alt, wie sie heute ist, 83 Instrumentalisten, neben
Jahre, hätte sie noch mit den Bley ihr Lebensgefährte, der
Großen des goldenen Jazz- Bassist Steve Swallow, sowie
zeitalters spielen können, Andy Sheppard am Saxofon,
damals, in den späten Fünfzi- vereint in gelassener Kön-
gern und frühen Sechzigern. nerschaft, in der Liebe zum
Aber Carla Bleys Zeit begann Spiel miteinander und zur
eigentlich erst, als Jazz nicht Melodie. Es ist ein wunderba-

CATERINA DI PERRI / ECM RECORDS


mehr supercool war, sondern res, leichtherzig stimmendes
schon eine Musik für Ken- Werk, getragen von Reue und
ner, die im Schatten des Rock Zuversicht. Die goldene Zeit
stand. Heute macht die Pia- des Jazz mag lange vorbei
nistin Jazz, der fast wie klassi- sein – aber diese Platte ver-
sche Sonaten aufgebaut ist – mittelt eine Ahnung davon:
in mehrsätzigen Kompositio- So ist das, wenn die Großen
nen. Das vierteilige Titelstück miteinander musizieren. SHA Bley

Malerei Sensation. Das eine wird Kino des britischen Filmemachers


Fieberndes Genie von der National Gallery in Edward Watts wurde daraus
London ausgeliehen, das
Herz in der eine mehrere Jahre umspan-
 Rom feiert von kommender andere von den Uffizien in Finsternis nende Chronik des massen-
Woche an den Renaissance- Florenz, dort allerdings ist haften Sterbens, der wachsen-
künstler Raffael mit einer der wissenschaftliche Beirat  Die junge Frau heißt Waad den Verzweiflung und der
spektakulären Schau – sollte gerade zurückgetreten, al-Kateab, sie kam nach nie versiegenden Hoffnung.
sich das Coronavirus nicht weil er mit dem Transport der Aleppo, um dort zu studie- Die Bilder blutiger und
weiter im Land ausbreiten, so- alten Tafel nicht einverstan- ren – und geriet in eine schwer versehrter Körper
dass die Museen schließen den war. In Rom – in der Aus- Revolution, die sich zu einem sind manchmal kaum zu
müssen. Raffael starb vor bald stellungshalle Scuderie del Krieg entwickelte. »Für ertragen. Doch Kateabs
500 Jahren, am 6. April 1520, Quirinale – hängen die Papst- Sama«, die oscarnominierte Entschluss, den Umständen
der 37-Jährige war einem mys- bilder also von Donnerstag Dokumentation der syrischen zum Trotz ihrer Tochter
teriösen Fieber erlegen. Seine an neben Darstellungen Journalistin Waad al-Kateab, Sama das Leben schenken,
Zeitgenossen verehrten ihn lieblicher Madonnen und erzählt von einer Heldin, gibt dem Film enorme Kraft.
als »Gott der Kunst«. Gleich auch neben dem freizügigen die inmitten der Kämpfe und Er wirkt wie ein heroischer
zwei Päpste hat er porträtiert, Porträt einer jungen Frau, Bombardements Mutter Akt des Widerstands gegen
Julius II. und Leo X., und von der spätere Raffael-Be- wird. Die Filmarbeit begann eine Welt, die unmensch-
in der Jubiläumsschau werden wunderer annahmen, sie als eine Art visuelles Tage- licher kaum sein könnte. Ein
beide Bildnisse erstmals zu- sei die Geliebte des Künstlers buch, gefilmt mit dem Smart- ebenso harter wie zartfüh-
sammen zu sehen sein, eine gewesen. UK phone. Mit Unterstützung lender Film. LOB

Literatur nitz mit Freundinnen gründet. weilig und konservativ zu auffällig geworden sind. Und
Einfach um für immer zusam- werden. Von solchen Leuten ist sie berichtet von der Stille und
Chemnitzer men zu sein, gemeinsam poli- die Welt ohnehin schon voll dem alltäglichen Kampf da-
Kämpferinnen tisch links zu bleiben, zu trin- genug. Irmschler erzählt vom nach. »Superbusen« ist auch
ken und zu feiern. Die Band Partyleben in Chemnitz, ein Roman über den Kampf
 Einfach mal die Welt verän- hilft dabei, nicht alt und lang- vor allem aber von der Politik. der Protagonistin mit sich
dern, Musik machen und Spaß Von den Nazis der Stadt, der selbst. Gisela entspricht nicht
haben. Dafür ist Gisela von Toleranz der Bürger gegenüber der Körpernorm, ist super-
Dresden nach Chemnitz gezo- den Rechtsextremen. Sie er- dick – und davon erzählt die-
gen. So ein Umzug ist für ech- zählt von den alltäglichen Be- ses eindrucksvolle Debüt
te Dresdner natürlich ein Ver- drohungen, denen erkennbar ebenfalls: über die Scham, das
rat. Von der Schönheit ins Linke und Menschen, die für Leiden, den nie endenden
verachtet Hässliche, das macht Ausländer gehalten werden, Spott, die Angst und die
man einfach nicht. Paula ausgesetzt sind. Staunend und Schwierigkeiten der Heldin,
Irmschler, 1989 in Dresden spöttisch beschreibt die selbst mit den besten Super-
geboren, »Titanic«-Redakteu- Autorin die Sekundenbesuche busen-Freundinnen über das
rin, hat ihren ersten Roman wohlmeinender Demons- Offensichtliche zu reden. VW
»Superbusen« genannt. So tranten, Musiker, Politiker in
PRIVAT

heißt auch die Band, die die der Stadt immer dann, wenn Paula Irmschler: »Superbusen«.
Romanheldin Gisela in Chem- Irmschler die Nazis der Stadt allzu Claassen; 320 Seiten; 20 Euro.

109
Kultur

Der Verrat
Literatur Ingo Schulze wurde in Dresden geboren und nach der Wende einer der erfolgreichsten
Schriftsteller des Landes. Hat er sich den Erfolg durch Verleugnung des Ostens
und seiner selbst erkauft? Sein neuer Roman ist ein Geständnis. Von Volker Weidermann

D
ieses Werk ist ein Angriff auf die de sich sowieso nichts ändern. Zu viel Kon- stände verlieren von einem Tag auf den
Etablierten. Ja, fehlt es denn da- takt mit der Ewigkeit kann den Blick auf anderen komplett ihren Wert. Erschüttert
ran?, möchte man fragen. Sind die Gelegenheiten des Jetzt schon trüben. sieht der Antiquar Bücherberge auf Müll-
diese Etablierten zurzeit nicht oh- Nach der sogenannten Wende geht es halden, die gesamte DDR-Produktion,
nehin von allen Seiten scharfen Angriffen mit Paulini und seiner Welt bergab. Die Klassiker, Dissidentenwerke, Neues, Altes:
ausgesetzt? Sind die Etablierten von einst Kunden bleiben aus, haben Besseres zu tun, Was eben noch ein wertvoller Schatz war,
nicht längst die Zittrigen von heute? Und als alte Bücher zu kaufen, und Paulinis Be- ist plötzlich Abfall, der von Müllbaggern
muss man in dieser Situation ihre sturm-
reife Festung noch bombardieren?
Doch das Interessante an »Die recht-
schaffenen Mörder«, dem neuen Roman
von Ingo Schulze, 57, der am 4. März er-
scheint, ist, dass hier von innen geschossen
wird: aus der Festung gegen die Mauern,
die das Innere und ihre etablierten Bewoh-
ner doch eigentlich schützen sollen. Es ist
ein Buch über den von Hass und Ressen-
timents beherrschten Osten Deutschlands,
aus der Perspektive von einem, der weg-
gegangen ist. Der seine Herkunftswelt hin-
ter sich gelassen hat, um im Westen Erfolg
zu haben. Und der sich jetzt fragt: Hat sein
Verrat, seine »Selbstentleibung« Ost, zu der
Situation, wie sie heute ist, beigetragen?

Es beginnt im Legendenton, mit der Be-


schreibung einer Welt, die lang schon un-
tergegangen ist: »Im Dresdner Stadtteil
Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der we-
gen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und
seiner geringen Neigung, sich von den Er-
wartungen seiner Zeit beeindrucken zu las-
sen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.«
Er heißt Paulini und ist ein geistiger Herr-
scher der alten DDR, eine Art Gegenkönig
zu der Draußenwelt, er scheidet in seinem
Antiquariat die geistigen Werte in bleiben-
de und vergängliche. Er ist der Herr des
Kanons, ein Bauherr der geistigen Grund-
lagen der Zeit und einer, der durch seine
literarischen Kenntnisse die alte Buchwelt
zum Leben zu erwecken vermag. Im Ge-
spräch mit den Besuchern seiner Welt.
Geld spielt in diesem Laden kaum eine
Rolle. Wertvolle Werke gibt er auch mal
für beinahe nichts ab, wenn der Kunde
ihm gefällt und wenig Geld hat.
Den Sommer und Herbst 1989 unter-
schätzt dieser Paulini dann jedoch. Er
macht bei den Demonstrationen nicht mit,
warnt, man dürfe den Machthabern nicht
ins offene Messer laufen, und weiß, es wür-

Ingo Schulze: »Die rechtschaffenen Mörder«. S. Fischer;


320 Seiten; 21 Euro.

110 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


zusammengeschoben wird. Der Mann, der von zweien trifft ihn ins Herz. Sie sind bei- men. Er heißt Schultze. Der Mittelteil des
eben noch auf dem festen Grund der Ewig- de höchst erfolgreiche Schriftsteller gewor- Romans wird von diesem Schultze in der
keit thronte, verliert den festen Boden unter den in der Zeit nach dem Mauerfall. Sie Ichperspektive erzählt. Und vielleicht ist
sich. Aus dem Haus im Dresdner Villen- haben Preise, Ruhm, Geld und Erfolg er- er sogar der Mann, der Paulini eines Tages
stadtteil Blasewitz muss er auch raus, er rungen, aber, so sieht es der Antiquar, um von einem Felsen stürzen wird. Warum?
zieht mit den geretteten Büchern aufs Land, den Preis des Vergessens. Um den Preis
wo die Elbeflut seinen Buchbestand bald der Verleugnung ihrer geistigen Herkunft, Wir klingeln beim echten Schulze, Ingo
weiter dezimiert. Seine Frau, erfährt er, hat Verleugnung von ihm, Paulini. Schulze ohne t. Er wohnt im westlichsten
ihn und seine Bücherfreunde jahrelang an Einer heißt Gräbendorf, ist Götterlieb- Westen Berlins, in einer Altbauwohnung
die Stasi verraten. Paulini – ein Hiob der ling des Feuilletons West. Bei den alljähr- am Lietzensee. Die Klingel unten ist ein
alten DDR. Man muss sich schon sehr eng lichen Empfängen der Villa Massimo, der ultramoderner Touchscreen, man muss die
mit der Ewigkeit verbunden wissen, um all Repräsentanz westdeutschen Dichterglan- Namen der Bewohner alphabetisch herun-
diese Schicksalsschläge zu verkraften. zes in Italien, führt er sich auf wie ein Au- terscrollen, bis man bei S angelangt ist.
Am tiefsten aber, so erzählt es der Ro- ßenminister des Geistes. Der Schriftsteller »Ja, ja, peinlich diese Klingel«, sagt der
man, trifft ihn der Verrat. Verrat seiner al- Durs Grünbein dürfte das Vorbild dieser Schriftsteller bei der Begrüßung. Müsse er
ten Kunden, der Menschen, denen er einst Figur sein. Der andere, etwas weniger ar- sich jedes Mal aufs Neue für entschuldigen.
geistiger Führer ins Bücherreich gewesen riviert und abgehoben, aber nicht weniger Er lebt in einem herrlichen Altbau, große
ist, denen er die lebendige Welt der Lite- ostflüchtig und selbstverleugnend, trägt Wohnküche, langer Holztisch, Fenster-
ratur eröffnet hatte. Besonders der Verrat im Buch einen weniger verhüllenden Na- front auf den See hinaus. Unten ein kleiner
Garten mit Pavillon am See, der Sturm der
letzten Tage hat große Äste von den Bäu-
men gerissen, jetzt liegen sie, zu einer klei-
nen Barrikade gestapelt, aufeinander.
Ingo Schulze ist ein freundlicher, offener
Mann mit einem weichen Gesicht, runder
Brille, die Locken kurz geschnitten, er for-
muliert langsam und etwas umständlich.
Verliert während eines Satzes öfter mal
den Faden. Er beginnt das Gespräch mit
dem etwas irritierenden Satz: »Selbstver-
ständlich steh ich zu dem Buch und habe
da jeden Satz geschrieben, aber …« Was
ist denn das? Wir haben doch noch gar
nicht angefangen? Sind wir mit unserem
besonders kritischen Gesicht gekommen?
Schulze fährt fort: »Es gab noch kein Buch
von mir, bei dem es mir so schwerfiel, drü-
ber zu reden.« Im weiteren Verlauf des
Gesprächs wird Schulze immer wieder sa-
gen: »Aha, so sehen Sie das?« und »Sehen
Sie, das hab ich noch gar nicht kapiert.«
Vor allem ist er sehr daran interessiert, sei-
ner Romanfigur Schultze den Mord an sei-
ner Hauptfigur Paulini anzuhängen – der
im Buch gewaltsam zu Tode kommt, ohne
dass der Täter explizit genannt wird –,
während wir Leser den Mann für harmlos
und zu einem Mord nicht fähig halten.
Ingo Schulze ist seit vielen Jahren der
vielleicht beliebteste Ost-Erklärer des Wes-
tens. Während der Wendetage gründete er
im thüringischen Altenburg eine Zeitung,
ging 1993 im Auftrag eines Unternehmers
nach Sankt Petersburg, um dort ein Anzei-
genblatt zu gründen, kam zurück und
schrieb sein erstes Buch, das gleich das
Glück im Titel führte: »33 Augenblicke des
Glücks«. Einen großen Erfolg feierte er
dann mit den 1998 erschienenen Geschich-
ten aus der ostdeutschen Provinz, »Simple
FABIAN ZAPATKA / DER SPIEGEL

Storys«, ein fantastisches Buch, lakonisch,


cool, selbstironisch. Als besondere Qualität
des Bandes führt Wikipedia heute noch das

Autor Schulze (r.), Redakteur Weidermann


»Lesen Sie doch mal hier«

111
Fehlen jedweder Nachwendeweinerlichkeit Und das ist alles nicht aus der Perspek-
an. Endlich also einer, der nicht jammert. tive eines Uwe Tellkamp geschrieben, der
Der beschreibt, staunt, großartig schreiben in seinem Erfolgsroman »Der Turm« eine
kann und Erfolg hat im neuen Land. ganz ähnliche, luftabgeschlossene höhere
Nach seiner Rückkehr aus Sankt Peters- Herkunftswelt entwarf und der in seiner
burg zog er nach Berlin, hat seitdem fast 1000-seitigen Fortsetzung womöglich –
ununterbrochen im Westen gelebt. Er fügt das legen die politischen Äußerungen Tell-
hinzu: »Der Verlag, die Zeitungsrezensio- kamps und die bekannten ersten Passagen
nen, die Lesungen, das war alles Westen. nahe – eine rechtsextreme und ausländer-
Erst bei einem Interview 1998 sagte mir ein feindliche Gesinnung der gefallenen Hel-
Journalist von der ›Süddeutschen Zeitung‹: den als folgerichtige Konsequenz der West-
›Sie müssen mir das nicht alles erklären, ich dominanz beschreiben wird.
bin auch aus dem Osten.‹ Da merkte ich Ein solcher entschuldigender Fatalismus

WALTRAUD GRUBITZSCH / DPA / PA


zum ersten Mal, dass ich ganz selbstver- der Geschichte liegt Ingo Schulze fern. Er
ständlich immer einen West-Gesprächspart- will es sich nur nicht zu einfach machen.
ner voraussetzte und mich auch so verhielt.« Er sitzt jetzt hier an seinem Tisch in der
Das neue Buch schwankt zwischen den Wohnung am See und sagt: »Ich wollte na-
Welten, erzählt auf unsicherem Grund, das türlich was viel Kritischeres über das
ist seine große Qualität. Es besteht aus drei Rechtsaußen schreiben und merkte plötz-
Teilen. Der erste ist eine Beschwörung der lich – da kommen wir Etablierten ja viel
alten Bücherwelt. Vorbild für den gewähl- mehr in den Blickpunkt.« Und er fügt hin-
ten Ton war, so Schulze, die fantastische Entsorgte DDR-Bücher 1991 zu: »So ein Etablierter bin ich natürlich
Legende von Joseph Roth »Der Korallen- Zerstörung der geistigen Grundlagen auch. Es ist durchaus auch eine Auseinan-
händler« über einen Juden am Rand der dersetzung mit mir und meiner Rolle.«
Donaumonarchie, Liebhaber und Verkäu- gen das Erfolgswürstchen Schultze und für
fer jener herrlichen Unterwasserwesen. den verlorenen Antiquar. Das bekommt In den ersten beiden Teilen gelingt Schul-
Bis ein anderer Händler künstliche Koral- beiden nicht gut, von der herrlichen Gold- ze das großartig. Die Legende des Bücher-
len verkauft. Billiger und makelloser. Na- steinaussicht in der Sächsischen Schweiz reichs im ersten, der schwankende Schult-
türlich kaufen alle nur noch die tollen stürzen sie in den Tod. War es Mord? Hat ze im zweiten. Der abschließende dritte
Kunstkorallen. Eine Welt stürzt ein. der rechtschaffene Schultze die beiden ge- Teil ist der schwächste. Das liegt daran,
Die DDR als untergehende Buchlegen- stoßen? Aus Eifersucht? Oder um seine ei- dass ihm die Selbstbezichtigung in letzter
de also. Schulze beschreibt dieses von der gene peinliche Herkunftswelt endgültig Konsequenz nicht gelingt. Es sind sehr
Außenwelt hermetisch abgeschlossene, eli- zum Verstummen zu bringen? komische Szenen, wie jetzt der Autor an
täre Buchstabenreich beschwörend genau. Wer auch immer der Mörder war – falls seinem Tisch den Kritiker von der Schuld
Ein verführerisches Land im Land, wo es überhaupt ein Mord gewesen ist: Ingo seines Alter Ego zu überzeugen versucht.
man sich, von Büchern beschützt, für die Schulze hat in seinem neuen Roman einen »Lesen Sie doch mal hier.« »Dort, das ist
Ewigkeit einrichten konnte. Das Draußen Rechtsextremen zum Opfer gemacht. Op- doch ein Indiz. Was macht der Schultze
war klein und egal. fer der Verhältnisse, Opfer des Verrats der denn zur Tatzeit bitte in der Sächsischen
Der zweite Teil ist aus der Sicht dieses angepassten Superwestler, Opfer einer Li- Schweiz?« Und schließlich: »Ich denke
Schultze geschrieben. Er hat Erfolg im Wes- teratur, die die eigene Herkunft vergessen schon, dass er ein Mörder ist.«
ten und vergisst Paulini. Hat deshalb auch hat. Muss das sein? Brauchen wir in diesen Das denken wir leider nicht. Wir müs-
ein schlechtes Gewissen, das er auffängt, in- Tagen wirklich einen verständnisvollen sen den verdächtigen Selbstverleugner
dem er einen ehrenvollen Festvortrag über Mitleidsroman für Rechtsextreme? Ist Schultze in diesem Indizienprozess frei-
ihn hält. Da kann Paulini sich doch freuen. nicht Entschlossenheit gegen rechte Idio- sprechen. Der Mann mit dem »t« im Na-
Der große Schultze, der den kleinen Buch- ten gefragt? Die Antwort ist natürlich: ja. men ist einfach ein etwas zu gutmütiger,
händler auch im Erfolg nicht vergessen hat. Trotzdem ist es erstens literarisch im- selbstgenügsamer, harmloser Herr, als
mer interessant, sich seiner eigenen Sache dass er die verlorenen Ostler da von der
Aber da kommt Lisa ins Spiel. Sie ist mit nicht ganz sicher zu sein, Fragen zu stellen, Goldsteinaussicht wirklich hinabstürzen
beiden liiert, zunächst geblendet vom West- wo die Welt von allen Seiten mit klaren würde. Wahrscheinlich sind die beiden
erfolgstypen Schultze, doch je länger es Antworten umstellt ist. Zweitens ist es ein- selbst gesprungen – oder ein Nazi hat sie
währt, desto härter rechnet sie mit ihm ab. fach eindrucksvoll, die Geschichte der Wie- hinabgestoßen.
Wirft ihm Verrat am Osten vor, Selbstent- dervereinigung noch einmal als eine Ge- Ingo Schulze will seinem literarischen
leibung, Ostentleibung. Schultze fragt sich: schichte der Zerstörung der geistigen Spiegelbild einen Mord in die Schuhe
»Machte ich Konzessionen? Oder merkte Grundlagen einer Welt darzustellen, von schieben, will ihn und sich selbst schuldi-
ich das schon nicht mehr? War ich für Lisa einem Tag auf den anderen. Das Bild der ger machen, als sie beide wohl sind. Es
einer jener Hampelmänner, von denen sie Büchermüllberge, die Geschichte eines scheint, als kennte er vielleicht sein Werk
sprach, die überall und immer verfügbar Mannes, der einfach den Boden unter den und sich selbst nicht wirklich genau. Für
waren, wenn sie nur einen Zipfel Öffent- Füßen verliert. Wo er eben noch auf den die Leser aber ist dieses Schwanken, sind
lichkeit ergattern konnten, die ganz auto- Werken der Ewigkeit stand. diese Fragen, diese Zweifel, Selbstzweifel
matisch, wenn sie sprachen, sich an ein Pu- und auch die Irrtümer ein Glück. Erzählt
blikum im Westen wandten?« dieses Werk doch nicht nur von den fata-
Lisa hat, in der Perspektive des Romans, len blinden Flecken der deutschen Ge-
ziemlich recht. Schultze hat Paulini und Wahrscheinlich sind die schichte der vergangenen 30 Jahre, son-
dessen Welt verraten. Und Paulini driftet beiden selbst gesprun- dern auch von der Selbstbezichtigung,
ab ins Ressentiment, gegen Ausländer, ge- dem Schwanken und der Schwäche derer,
gen die ganze neue Welt da draußen. Ein
gen – oder ein Nazi die eigentlich kämpfen müssten.
Rechtsextremer. Lisa entscheidet sich ge- hat sie hinabgestoßen.
112 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Pascal Mercier 1 (2) Jonathan Franzen


Das Gewicht der Worte Hanser; 26 Euro Wann hören wir auf, uns
etwas vorzumachen? Rowohlt; 8 Euro
2 (2) Delia Owens Der Gesang
der Flusskrebse Hanserblau; 22 Euro
2 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass
C. Bertelsmann; 20 Euro
3 (4) Saša Stanišić 3 (3) Stephen Hawking Kurze Antworten
Herkunft Luchterhand; 22 Euro
auf große Fragen Klett-Cotta; 20 Euro

4 (3) Lisa Taddeo 4 (8) Kübra Gümüșay


Three Women. Drei Frauen Piper; 22 Euro Sprache und Sein Hanser Berlin; 18 Euro

5 (7) Monika Helfer 5 (5) Peter Wohlleben


Die Bagage Hanser; 19 Euro Das geheime Band zwischen
Mensch und Natur Ludwig; 22 Euro
6 (5) Sebastian Fitzek
Das Geschenk Droemer; 22,99 Euro
6 (12) Ajahn Brahm
Der Elefant, der das Glück vergaß
Lotos; 16,99 Euro

Das neue
7 (9) Susanne Fröhlich
Ausgemustert Knaur; 16,99 Euro 7 (–) Walter Kohl Welche Zukunft
8 (8) George Saunders
Fuchs 8 Luchterhand; 12 Euro 8 (6)
wollen wir? Herder; 24 Euro

Marc Friedrich / Matthias Weik


Kulturmagazin
Der größte Crash aller Zeiten
9 (6) Lucinda Riley Eichborn; 20 Euro
Die Sonnenschwester Goldmann; 22 Euro
9 (–) Patrik Svensson
10 (10) Sigrid Nunez Das Evangelium der Aale Hanser; 22 Euro Themen im März:
Der Freund Aufbau; 20 Euro
10 (4) Umberto Eco
11 (11) Jussi Adler-Olsen
Der ewige Faschismus Hanser; 10 Euro Delia Owens
Opfer 2117 dtv; 24 Euro 11 (13) Doris Dörrie hat mit »Der Gesang der
Leben, schreiben, atmen Diogenes; 18 Euro
12 (12) Ildikó von Kürthy Flusskrebse« den großen
Es wird Zeit Wunderlich; 20 Euro 12 (7) Gerhard Wisnewski Überraschungserfolg der
verheimlicht – vertuscht –
13 (15) Bov Bjerg vergessen 2020 Kopp; 14,99 Euro vergangenen Monate
Serpentinen Claassen; 22 Euro
geschrieben. Ein Treffen
13 (15) Vincent Klink Ein Bauch
14 (17) Christian Baron lustwandelt durch Wien Ullstein; 24 Euro
in North Carolina.
Ein Mann seiner Klasse Claassen; 20 Euro
14 (11) Peter Maffay
Hier und Jetzt
Arne Dahl
Lübbe; 20 Euro
15 (13) Dror Mishani
Drei Diogenes; 24 Euro 15 (14) Michelle Obama
Becoming Goldmann; 26 Euro
liefert ein psychologisches
16 (18) Ingrid Noll Kammerspiel mit viel Gewalt:
In Liebe Dein Karl Diogenes; 24 Euro 16 (9) Edward Snowden
Permanent Record S. Fischer; 22 Euro »Vier durch vier« – Hausbe-
17 (–) Håkan Nesser such in Stockholm.
Der Choreograph 17 (–) Marcel Reif
Auswärtsspiel
btb; 20 Euro
echtEMF; 18 Euro
Paula Beer
Der schwedische Kriminal- spielt im Kinofilm »Undine«
schriftsteller schickt eine Der bekannte Fußball-
Frau und einen Mann in ein reporter erzählt von den ein mythisches Wasser-
schönsten Sportreisen
einsames Ferienhaus,
seines Lebens, ungewöhn- wesen. Ein Interview über
wo sie bald gruselige Eigen-
heiten offenbaren. lichen Begegnungen Leidenschaften – in der Liebe
und Orten zum Feiern.
18 (–) Jojo Moyes Wie ein Leuchten
und im Beruf.
18 (–) Rüdiger Safranski
in tiefer Nacht Wunderlich; 24 Euro
Hölderlin Hanser; 28 Euro
Bildnachweise: Kai Bublitz
19 (14) Katja Oskamp Marzahn, 19 (–) Jan Caeyers
mon amour Hanser Berlin; 16 Euro Beethoven C. H. Beck; 25 Euro
Nächste Woche als
20 (–) Ursula Poznanski 20 (17) Margot Käßmann Freundschaft,
Erebos 2 Loewe; 19,95 Euro die uns im Leben trägt bene; 18,99 Euro Beilage im SPIEGEL
113
Kultur

Battle-Rap mit Marcel Proust


Pop Der Berliner Friedrich Kautz ist der erfolgreichste Außenseiter im deutschen Hip-Hop.
Er beherrscht die Codes dieser Musik – setzt aber eigene Fußnoten.

P
rinz Pi und Prinz Porno teilen xis, einer Anwaltskanzlei oder bei Gold- Songs zu schreiben, und nahm mit 19 Jah-
sich eine Altbauwohnung mit man Sachs. Ein Rapper, der eher Banker ren sein erstes Rap-Album auf (Auflage:
hohen Decken, drei Balkonen geworden wäre, als Banken auszurauben, zwölf Stück), als Prinz Porno. Damals
und drei Parkplätzen. Vor der warum kommt der so gut an? sei es ihm darum gegangen, durchs Schrei-
Wohnung, tiefer Berliner Westen, sind Kautz ist Sohn einer Buchhalterin und ben Wut abzulassen: »Auf dem Blatt, da
die Passanten auf den Bürgersteigen rar eines Zollbeamten, zu dessen Beruf es konnte ich als Sieger vom Platz gehen und
gesät, im Treppenhaus knarzen die Die- gehört habe, sichergestellte Drogen zu zeigen, was ich kann.«
len, als machten sie Werbung für Heime- untersuchen, erzählt Kautz. Er wurde in Doch erst mit der Zahl Pi im Namen,
ligkeit, und in der Wohnung hängen die Charlottenburg geboren und besuchte als Prinz Pi, wurde Kautz berühmt: mit
Fotos an den sauber gestriche- gerappten Coming-of-Age-Sto-
nen Wänden gerade. rys, irgendwo zwischen Pa-
Prinz Pi und Prinz Porno thos, Tristesse und Sozialkri-
sind Rapper. tik. »Die Generation, für die
Sie sind ein und dieselbe ein Roman wie J. D. Salingers
Person. ›Fänger im Roggen‹ alles war,
Friedrich Kautz, 40, der stirbt jetzt aus«, sagt Kautz.
Mann hinter den Pseudo- »Dafür gibt es heute viele Leu-
nymen, empfängt an der Tür, te, die sagen: ›Dieser Song, der
hinter ihm her tapst Sgt. Pep- beschreibt mein Leben in drei
per, Kautz’ Hund. Der Hund Minuten.‹«
davor hieß Penny Lane. Ein Antrieb für Kautz, als
Kautz, der die Beatles, den Prinz Pi aufzutreten, sei es
Schriftsteller Bret Easton Ellis, gewesen, an Jugendliche ran-
aber auch den Rapper Biggie zukommen, die ein Schrift-
Smalls mag, ist einer der er- steller mit seinen Büchern
folgreichsten Hip-Hop-Künst- nicht erreiche. Zudem habe
ler Deutschlands. Seit Jahren er in der deutschen Literatur
landen seine Alben in den Top Bücher wie »American Psy-
Ten, drei davon standen auf cho« von Bret Easton Ellis
Platz eins. vermisst und sich die Aufgabe
Jüngst hat er zeitgleich zwei gestellt, diese Lücke zu füllen.
neue Alben veröffentlicht, ei- Mit Rap.
nes als Prinz Pi, eines als Prinz »Wahre Legenden« heißt
Porno: zusammen 91 Minuten das neue Album von Prinz Pi.
MUSTAFAH ABDULAZIZ / DER SPIEGEL

Musik, Spielfilmlänge, ein küh- Fürs Cover hat er sich im


nes Unterfangen in einer Zeit, Wohnzimmer fotografieren
in der die ersten Sekunden lassen, ein paar Meter von
eines Songs darüber entschei- dem waldgrünen Sofa entfernt:
den können, ob man ihn in mit Sgt. Pepper im Arm, in ei-
die Playlist packt oder über- ner Ästhetik, die an einen pri-
springt. vaten Schnappschuss erinnert,
Kautz hat sich selbst mal vor einem Plakat, das Jean
als »Quereinsteiger« im Deutschrapper Kautz Cocteau gestaltet hat.
Deutschrap verortet. »Ich bin »Dieser Song beschreibt mein Leben in drei Minuten« Zur Schnappschussästhetik
nicht der Typ«, sagt er jetzt, passt irgendwie, dass Kautz
»der keine andere Option ge- auf dem Album einen Blick
habt hätte, als Kokaindealer zu werden ein Gymnasium in Steglitz, über das er zurück wirft, um das Hier und Jetzt ein-
oder Rapper, der übers Kokaindealen später sagte, das Einzige, was ihm dort zuordnen. Er rappt darüber, wie er früher
rappt.« Er hat sich auf ein waldgrünes geholfen habe, sei »das Gedanken- verletzt worden sei und wie er heute lie-
Sofa im Wohnzimmer gesetzt, auf einer gebäude des Humanismus und das Stu- be. Darüber, wie er und die Gesellschaft
Fensterbank liegt ein »Familien-Freizeit- dium der griechischen und lateinischen sich gewandelt hätten: »Die Götter, die
Guide«, auf dem Tisch vor ihm liegt Schriften im Original« gewesen. Ovids nennen wir jetzt Marken / Wir beten, in-
»Sprache und Sein«, ein aktuelles Sach- »Metamorphosen« stehen, gut zerlesen, dem wir bezahlen.«
buch darüber, wie Sprache das Denken im vollen Bücherregal seines Arbeits- Zum Hündchen im Arm passt irgend-
formt. Kautz trinkt Cappuccino, und das zimmers, das fast eine ganze Wand ein- wie, dass Kautz auf »Wahre Legenden«
Koks könnte kaum weiter weg wirken. nimmt. der hypermaskulinen Art einiger seiner
Wenn er heute nicht im Musikbusiness Irgendwann gesellte sich Tupac zu gerade so populären Kollegen entsagt:
wäre, sagt er, dann wohl in einer Arztpra- Ovid. Kautz begann in der Abiphase, Er rappt über seine Schwächen, über die

114 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


»On-off-Dauerfreundin Melancholie«.
Trost sieht er im »Schlafen zu zweit auf
der Couch in Schweden im Bootshaus«,
Das Beste
vom SPIEGEL
beim »Backen an Weihnacht« und wohl
kaum im »Wodka-E, um die Sorgen zu
ersaufen«, wie es in einem Hit der sehr
erfolgreichen Rapper Capital Bra und Sam-
ra heißt.
»Mit Abstand« heißt das neue Album Ausgewählt von unseren Leserinnen
von Prinz Porno. Und der ist, wie damals,
als Kautz zur Schule ging, weiterhin wü- und Lesern: die wichtigsten Reportagen,
tend. »Ihr nennt alle Frauen Huren in den
Songs«, rappt er anderen Rappern entge- Porträts und Analysen der letzten
gen, »und genau deswegen habt ihr auch
Huren bekommen.« Monate – gebündelt in einem Heft.
Prangert Prinz Pi auf »Wahre Legen-
den« den Konsum an, ernennt Prinz Porno
sich auf »Mit Abstand« zwar mal zum
»König vom KaDeWe«, aber auch dann
tauchen bei ihm Luxusmarken nicht als
Statussymbole auf, im Gegenteil: »Im
Mittelmeer ertrinken viele Menschen am
Jetzt im
Tag / Wieso hängt man sich dann noch ’ne
neue Fendi an ’n Arm / Als es gespendet
Handel
zu haben.«
Woanders rappt er, in ihm ruhe ein
Vesuv, der seine Zeit nur so suche wie
Swann bei Proust. Battlerap von einem,
der Ovid und Marcel Proust im Bücher-
regal stehen hat.
Kautz schafft mit seinem Mix aus Prinz
Porno und Prinz Pi eine Art Werkschau,
die klarmacht, dass in jedem Menschen
mehrere Ichs stecken, die, in der Summe,
auch widersprüchlich wirken können.
Außerdem würdigt er, mit der Veröf-
fentlichung zweier Alben im selben Mo-
ment, die Langstrecke in kurzatmigen
Zeiten.
Das zeigt, wie vielschichtig Deutschrap
inzwischen ist; dass diese Musik viele Zwi-
schentöne kennt; dass es eine Form ist, in
die viele Inhalte passen. Rap kann, aber
muss nicht von der »Straße« berichten,
Frauen müssen darin nicht als »Bitches«
vorkommen und Männer nicht nur wirken,
als sammelten sie Einträge in der Polizei-
akte wie andere Bonuspunkte an der
Supermarktkasse.
Was guter Rap schon viel eher muss:
Authentizität verkörpern. Und das tut er
bei Kautz, der zwar auch bildungsbürger-
liche Fußnoten setzt, vor allem aber die
klassischen Codes des Hip-Hops beherrscht
und bedient.
Und doch ändert das nichts daran, dass
er am Ende eine Art Außenseiter bleibt.
Zum Beispiel wenn er über die Eintönig-
keit von Kolleginnen und Kollegen spricht,
die alle in dieselbe Gucci-Boutique gingen,
die gleichen Uhren trügen und das gleiche
Auto führen, Mercedes-AMG.
Was fährt er denn?
»Ein paar Ferraris«, sagt Kautz. »Aber
ebenso gern Fahrrad.« Jurek Skrobala
Twitter: @skrobala

115
ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL
HERBERT HOFFMANN / BPK
ULLSTEIN BILD

Wissenschaftler Simms, Diktator Hitler 1936, amerikanischer Soldat mit Hitler-Büste 1945
»Ein Arrangement über die Aufteilung der Welt«

116
Kultur

»Hitler marschierte nach


Osten, weil er den
Westen im Blick hatte«
SPIEGEL-Gespräch Der Historiker Brendan Simms zeichnet in einer kontroversen Biografie
ein neues Bild von Adolf Hitler. Dessen Hauptfeinde seien das britische Empire
und die USA gewesen – nicht die Sowjetunion. Daraus erkläre sich sogar der Holocaust.

Das Verständnis von Hitler und seiner Simms: Die Furcht vor dem Kommunis- nationale Kapitalismus bleibt. Den Bol-
Ideologie ist durch seinen Rassenwahn, mus war sehr ausgeprägt, das zu bestreiten schewismus betrachtet er nur als Virus,
den Vernichtungskrieg im Osten und den wäre absurd. Meine These lautet aber, dass dessen Ausbreitung Deutschlands natio-
Holocaust geprägt. In einer Biografie, die sie seinem Hass auf den globalen Kapita- nale Wirtschaftskraft zertrümmern  und
nun auf Deutsch erscheint, bricht der Ire lismus und seiner Furcht vor der anglo- damit reif für die Übernahme durch die
Simms, 52, mit vielen verbreiteten Ansich- amerikanischen Macht nachgeordnet war. Kräfte des internationalen Kapitalismus
ten über die Intentionen und Antriebskräfte Sein politischer Orientierungspunkt am machen würde.
des Diktators. Simms ist Professor für Ende des Ersten Weltkriegs war nicht die SPIEGEL: Der Bolschewismus ist für ihn
Geschichte der internationalen Beziehun- Russische Revolution, sondern die Nieder- ein Instrument des internationalen Kapi-
gen in Cambridge. lage gegen die westlichen Alliierten und talismus? Das klingt ziemlich verquer.
die Mächte des internationalen Kapitalis- Simms: Nicht, wenn Sie seiner Logik fol-
SPIEGEL: Mr Simms, über Adolf Hitler, mus, die von Großbritannien und Amerika gen und seine Prämissen verstehen, wobei
das »Dritte Reich« und den Zweiten Welt- verkörpert wurden. Auch seine ersten do- ich betonen möchte, dass man sich als His-
krieg gibt es unzählige Veröffentlichungen. kumentierten antisemitischen Ausfälle aus toriker in seine Gedankenwelt versetzen
Was hat Sie bewogen, dieser langen Liste dem Sommer 1919 entspringen eindeutig muss, um sie deuten zu können, ohne sie
einen weiteren Titel hinzuzufügen? seiner Haltung zum Kapitalismus, nicht zu übernehmen oder sich von ihr anste-
Simms: Alle diese Werke haben entschei- zum Bolschewismus. cken zu lassen. Dann stoßen Sie auf sein
dende Beiträge zu unserem Verständnis SPIEGEL: Sein Antisemitismus hatte weni- Argument, dass der internationale Kapi-
von Hitler geleistet. Sie sind Produkte ger eine antikommunistische als eine anti- talismus und Angloamerika alle möglichen
ihrer Zeit, sie spiegeln unterschiedliche kapitalistische Stoßrichtung? Mittel nutzten – die Gewerkschaften, den
Ansätze und wissenschaftliche Trends Simms: Hitler wurde zum Feind der Ju- Liberalismus, die Demokratie, den Mar-
wider –  Totalitarismusforschung, Sozial- den, bevor er zum Gegner der Russischen xismus, die Sozialdemokratie und den Bol-
geschichte, Kultur und Psychologie. Ich Revolution wurde. Und er war zum Geg- schewismus –, um die nationale Volkswirt-
glaube jedoch, dass all diesen Studien, so ner Großbritanniens und der Vereinigten schaft Deutschlands zu zerstören.
bedeutend sie sind, zwei oder drei wichti- Staaten von Amerika geworden, bevor er SPIEGEL: Machen Sie da aus Hitler einen
ge Dimensionen fehlen. zum Judenfeind wurde. Tatsächlich wurde der ersten Globalisierungskritiker?
SPIEGEL: Was haben sie übersehen? er zum großen Teil wegen seines Hasses Simms: Noch einmal: Ich will Hitler nicht
Simms: Vor allem Hitlers überaus heftige auf die kapitalistischen, angloamerikani- rechtfertigen. Aber sein gesamtes Denken
Gegnerschaft zum internationalen Kapita- schen Gegner Deutschlands zum Antise- und die Politik des »Dritten Reichs« waren
lismus. Und dann seine beharrliche Aus- miten. Es ist entscheidend, die kausale Ver- im Wesentlichen eine Reaktion auf die
einandersetzung mit den Briten und den knüpfung richtig zu verstehen. enorme globale Macht des britischen Em-
Amerikanern, mit der deutschen Auswan- SPIEGEL: Hitler hatte den Ersten Welt- pire und der Vereinigten Staaten.
derung nach Amerika, mit dem Rassen- krieg im Westen mitgemacht, wo den SPIEGEL: Sein Verhältnis zu Großbritan-
kampf nicht allein gegen die Juden oder Deutschen britische und am Ende auch nien und den USA war durch Furcht und
die Slawen, sondern mit den Angelsachsen. amerikanische Soldaten gegenüberstan- Bewunderung geprägt. Warum?
Dazu seine höchst zwiespältige Haltung den. Aber hat er danach, in den Wirren Simms: Bewunderung und Respekt ent-
zum deutschen Volk. der ersten Nachkriegsjahre, die rote Ge- sprangen seinen Erfahrungen im Krieg.
SPIEGEL: Wollen Sie behaupten, dass Hit- fahr nicht als viel bedrohlicher angesehen? Hitler kam immer wieder auf die Zähigkeit
lers Hauptaugenmerk gar nicht, wie weit- Simms: Wenn man Hitlers politisches der Briten zu sprechen, wie er sie an der
hin angenommen, dem Bolschewismus, Weltbild in seiner Entstehung und Ent- Front erlebt hatte. Die Kämpfe im Osten
der Sowjetunion und den Juden galt? wicklung durch die Zwanziger- und Drei- berührten sein Bewusstsein dagegen zu
ßigerjahre und auch noch durch den dieser Zeit kaum. Hinzu kam die Be-
Brendan Simms: »Hitler. Eine globale Biographie«.
von ihm angezettelten Krieg verfolgt, gegnung mit amerikanischen Soldaten
Aus dem Englischen von Klaus-Dieter Schmidt. DVA; dann ergibt sich eindeutig, dass der im Sommer 1918, frischen Truppen, die
1056 Seiten; 44 Euro. Erscheint am 9. März. Hauptfeind Angloamerika und der inter- hoch motiviert gegen erschöpfte Deutsche

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 117


Kultur

antraten. Darunter befanden sich auch der angloamerikanischen Welt eine so ein-
Deutschstämmige. Hitler schilderte in spä- drucksvolle Stärke zuschreiben, wenn er
teren Reden wiederholt, wie dieses Aha- sie zugleich für jüdisch beherrscht hielt?
Erlebnis ihm die Augen geöffnet habe: Das Simms: Daraus ergibt sich wirklich ein lo-
Reich sei über Jahrhunderte durch die Aus- gisches Problem. Er assoziierte Juden als
wanderung seiner besten rassischen Ele- angebliche Regenten der Börse so eng mit

ANDREA ARTZ / DER SPIEGEL


mente ausgehöhlt worden. dem angloamerikanischen Kapitalismus,
SPIEGEL: Armutsflüchtlinge würde man dass er an ein symbiotisches Verhältnis
diese Emigranten heute nennen. glaubte. Wenn Briten und Amerikaner so
Simms: Diesen meist jungen Männern, die stark und rassisch wertvoll waren, wie er
ein besseres Leben in der Ferne suchen, meinte, warum hatten sie sich dann nicht
schreibt man auch in der aktuellen Migra- von den Juden befreit? Der sogenannte
tionsdebatte oft eine besondere Dynamik Simms (r.) beim SPIEGEL-Gespräch* Rassenkampf, auf den er sich bezog, war
zu. Hitler sah damals zwei Mächte mit »Präventivschlag gegen Amerika« für ihn auch, und sogar in erster Linie, eine
scheinbar unbegrenzten natürlichen und Konfrontation zwischen Deutschen und
ökonomischen Ressourcen, die in ihren Angelsachsen. Diese bildeten für ihn die
territorialen Weiten, im amerikanischen Simms: Mit Kriegsbeginn drehte er dann eigentliche Herrenrasse, zu der das deut-
Westen, in Kanada, Australien und Neu- immer größere Runden, nicht aus Gier und sche Volk erst durch ein soziales, ökono-
seeland, Millionen Menschen deutscher Größenwahn, wie er es sah, sondern aus misches und eugenisches Verbesserungs-
Herkunft aufnahmen, sie zu guten Neu- Notwendigkeit. Aber zunächst ging es ihm programm erhoben werden musste. Die
bürgern machten und nunmehr gegen ihr um Gleichrangigkeit. Dafür reichte es aller- Faszination durch Angloamerika bestärkte
Ursprungsland einsetzten. dings nicht, die Grenzen von 1914 wieder- Hitler in seiner Einschätzung der rassi-
SPIEGEL: Die Vorstellung vom fehlenden herzustellen, es brauchte mehr. Er meinte, schen Unzulänglichkeit der Deutschen.
»Lebensraum« hatte Ihrer Meinung nach Deutschland müsse Weltmacht sein, oder es SPIEGEL: Zog Hitler bei seinen Expansions-
hier ihren Grund? werde gar nichts sein. Die Bedingung dafür plänen eine Analogie zur Eroberung des
Simms: Hitler entwickelte seine Weltan- sah er im Raumgewinn. Briten und Ameri- amerikanischen Westens?
schauung und seine Geopolitik als Gegen- kaner hatten bewiesen, dass sie das Reich Simms: Er fand die schiere Weite Nord-
entwurf nicht zu den Bolschewiki im rück- mit ihrer Blockadepolitik niederringen konn- amerikas überwältigend. Die Zukunft
ständigen Russland, sondern zu Anglo- ten. Damit bedrohten sie, wie er meinte, die gehörte seiner Ansicht nach den Riesenstaa-
amerika als Inbegriff der Modernität. Überlebensfähigkeit der Deutschen. Der er- ten; er sprach bewundernd vom amerika-
SPIEGEL: Er sah demzufolge in der Sowjet- oberte Raum im Osten sollte die strategische nischen Koloss mit seinen enormen Reich-
union die Beute, die er sich holen wollte, Tiefe bringen und die Versorgung sichern. tümern. Als Hauptgrund für die Stärke der
und weniger die Gefahr, der er mit einem SPIEGEL: Fürchten Sie nicht, dem Irrsinn USA hatte er die Demografie ausgemacht,
Präventivkrieg zuvorkommen wollte? im Nachhinein einen Anstrich von ratio- da der Kontinent durch »nordische« Ele-
Simms: Er missachtete die Sowjetunion naler Realpolitik zu verpassen? mente erschlossen worden sei. Pläne wur-
weitgehend und unterschätzte ihre Stärke. Simms: Ich würde Hitlers Weltbild nicht den entworfen, um diese angeblich wert-
Diese Fehleinschätzung sollte sich später rational nennen, das war es offensichtlich vollen rassischen Elemente zurückzuholen
im Krieg aus begreiflichen Gründen än- nicht, wohl aber kohärent, wenn man von oder gegen deutsche Juden auszutauschen.
dern. Aber die absoluten Gegner, wie er seinen Prämissen ausgeht. Hitler stand ja vor dem Paradox, dass sei-
sagte, waren für ihn Großbritannien, Ame- SPIEGEL: Ist es nicht gefährlich, nach einem ne Eroberungen für ein »Volk ohne Raum«
rika und der internationale Kapitalismus. scheinbar wahren Kern in dieser Ideologie zu einem »Raum ohne Volk« führten.
SPIEGEL: Nicht die Juden? zu suchen und so, ohne es zu wollen, rechts- SPIEGEL: Dieser Raum war nicht men-
Simms: Hitlers Antisemitismus entsteht extremes Gedankengut zu befeuern? schenleer.
nicht in seiner Zeit als junger Mann in Simms: Es geht nicht darum, nach einem Simms: Hitler war überzeugt, dass man
Wien, höchstwahrscheinlich auch nicht vermeintlich wahren Kern in Hitlers Den- den Boden germanisieren könne, nicht die
während des Kriegs, sondern danach. Die ken zu suchen. Viel wichtiger ist es heraus- Menschen. Er schwankte gelegentlich et-
Juden sind in Hitlers Augen die Agenten zuarbeiten, was er wollte –  die deutsche was zwischen dem britischen und dem
des Großkapitals, das die Kriegsführung Herrschaft über Europa und die Aufwertung amerikanischen Modell der Kolonisierung:
der Alliierten finanzierte und Deutsch- des deutschen Volks zu einer Herrenrasse. unterworfene Rassen wie in Indien oder
lands Wirtschaft strangulierte. Damit wer- SPIEGEL: Auch damals existierte bereits Besiedlung des gewaltsam geräumten Ter-
den sie in seiner Analyse zur zentralen Par- eine alternative Idee zu dem Streben nach ritoriums wie in Nordamerika? Letzterem
tei im feindlichen Bündnis. Deshalb redet Hegemonie: Paneuropa oder eine europäi- gab er eindeutig den Vorzug. Notgedrun-
er von den Amerikanern und den Juden sche Integration. gen wurde im Verlauf des Kriegs dennoch
in nahezu austauschbaren Begriffen. Simms: Hitler verachtete den Gedanken, ein Assimilationsprogramm ins Werk ge-
SPIEGEL: Was waren Hitlers Ziele? die Rettung für Deutschland in der euro- setzt, mit dem Teile der slawischen Bevöl-
Simms: Ihm schwebte ursprünglich eine päischen Integration zu suchen. Ein freies kerung »eingedeutscht« werden sollten.
Art globale Parität vor, eine Aufteilung der Paneuropa würde in seinen Augen immer Die Logik von Krieg und Expansion trieb
Welt, in der Deutschland Kontinental- nur eine Allianz von Klein- und Randstaa- ihn dazu, den Konflikt immer weiter aus-
europa beherrschen und genug Raum ge- ten bleiben. Es wäre nicht stark genug, um zudehnen, bis er in der Niederlage gegen
winnen würde, um sich als ebenbürtige sich gegen die wirklich Großen wie die die Angelsachsen endete.
Weltmacht gegenüber den Angelsachsen USA zu behaupten – solange es nicht un- SPIEGEL: Sie stellen damit die zentrale
behaupten zu können. Deshalb war der ter deutscher Vorherrschaft stünde. militärische Bedeutung des Kampfs gegen
Feldzug im Osten in seiner Planung zwin- SPIEGEL: Zeigt sich hier nicht ein funda- die Sowjetunion infrage. Hatte aber nicht
gend, während er einen Konflikt im Wes- mentaler Widerspruch? Wie konnte Hitler die Rote Armee den größten Anteil am
ten, wenn möglich, vermeiden wollte. Sieg über das »Dritte Reich«?
SPIEGEL: Ein Griff nach der Weltmacht, * Mit dem Redakteur Romain Leick in Simms’ Büro Simms: Hitler marschierte nach Osten,
aber nicht der Weltherrschaft? in Cambridge. während und weil er den Westen im Blick

118 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Programm
hatte. Die USA beteiligten sich mit dem
Hilfsprogramm für die Briten schon seit
März 1941 am Kampf gegen Deutschland.
Obwohl sie erst Ende 1941 in den Krieg
eintraten. Der Angriff auf die Sowjetunion
wurde für Hitler dringlicher denn je, um
die britische Blockade zu brechen und sich
die Ressourcen im Osten zu sichern. All
das sollte es ermöglichen, die Machtprobe
mit der angloamerikanischen Koalition
nicht zu gewinnen, aber zu überstehen.
SPIEGEL: Wie das? Die Niederlagen setz-
ten im Osten ein, Stalingrad gilt als die
Wende. Es dauerte, bis die Westalliierten
die zweite Front eröffneten.
Simms: Im Osten kämpften Millionenhee-

SPIEGEL TV
re, aber es kam mehr auf die Maschinen-
als auf die Mannschaftsstärke an. Entschei-
dend war die Produktionsschlacht. Und Klimawandelskeptikerin Seibt
wenn Sie deren Zahlen betrachten – Flug-
zeuge, U-Boote, Munition, V-Waffen –, so
stellen Sie fest, dass der Hauptanteil dem SPIEGEL TV SPIEGEL TV REPORTAGE
Kampf gegen die Angloamerikaner galt. MONTAG, 2. 3., 23.15 – 0.00 UHR, RTL DIENSTAG, 3. 3., 23.10 – 0.15 UHR, SAT.1
SPIEGEL: Und die Panzerschlachten im
Osten? Die Wut der Klimaleugner Notruf Frankfurt –
Simms: Panzer machten nur einen gerin- Beim Klimawandel scheiden sich die Keine Atempause für die
gen Anteil der deutschen Waffenproduk- Geister: Die einen glauben der Wis- Rettungssanitäter
tion aus. Hitler führte ab 1941 zwei Ver- senschaft, die anderen abstrusen Christoph Grüne und Fraz Ahmad
nichtungskriege, den einen gegen die Verschwörungstheorien – wie Naomi sind Sanitäter auf einem Rettungs-
Sowjetunion, den anderen, der schon viel Seibt, selbst ernannte »Anti-Greta«. wagen in Frankfurt. Es gibt Tage,
früher begonnen hatte, gegen Angloame- an denen sie zwischen Bahnunfall,
rika und das von ihm so genannte Welt- Lost auf Lesbos Drogenüberdosis und blutiger
judentum, der zum Völkermord eskalierte. Auf der griechischen Insel eskaliert Messerstecherei nur wenige Augen-
SPIEGEL: Kann es sein, dass Sie durch eine der Konflikt zwischen Flüchtlingen blicke zum Verschnaufen haben.
sehr britische Lupe auf den Zweiten Welt- und Einheimischen. Ein Fulltime-Job für die Männer vom
krieg blicken? Arbeiter-Samariter-Bund.
Simms: Aber Hitler selbst interpretierte die Unschuldig im Gefängnis?
Welt in einer anglozentrischen Perspektive! Seit neun Jahren ist der angebliche
Er hatte diese Macht im Ersten Weltkrieg Doppelmörder Andreas Darsow in
fürchten und bewundern gelernt. Lange Haft, aber er bestreitet, die Tat be- SPIEGEL TV WISSEN
hoffte er, ein Arrangement über die Auftei- gangen zu haben. MITTWOCH, 4. 3., 17.45 – 20.15 UHR, SKY
lung der Welt mit ihr erreichen zu können. und bei allen führenden Kabelnetzbetreibern
Er übersah, dass die Briten niemals zulassen
würden, dass eine Macht – ob Deutschland
oder eine andere – den europäischen Kon- SPIEGEL GESCHICHTE
tinent dominierte. Sein Vorbild und sein DIENSTAG, 3. 3., 20.15 – 21.05 UHR, SKY
Feindbild war Angloamerika. Sein Projekt

ENTERTAINMENT ONE
des »Dritten Reichs« war seine Antwort auf Lügen, die Geschichte
die Vorherrschaft der Briten, der Amerika- schrieben – Der Fall Madoff
ner und des globalen Kapitalismus. Mindestens 50 Milliarden Euro Scha-
SPIEGEL: Und der Holocaust? den, Tausende Opfer und ein Betrü-
Simms: Der Holocaust war untrennbar ger, der zu 150 Jahren Haft verurteilt Hoverboarder auf Wolkenkratzer
verbunden mit der Feindschaft gegenüber wurde. Das ist die Bilanz des Krimi-
der globalen Hochfinanz, die im und nach nalfalls um Bernard Madoff. Nach elf
dem Ersten Weltkrieg in seinen Augen Jahren in Haft hofft er nun, vorzeitig Der Clip-Check –
Deutschland ausgehungert und geknechtet entlassen zu werden. Echt oder Fake
hatte. Der Holocaust war in seiner pa- Mit der wachsenden Videoclipflut
GETTY / NY DAILY NEWS ARCHIVE

ranoiden Vorstellung von der Macht auf YouTube wachsen Zweifel,


des »Weltjudentums« ein Präventivschlag ob das, was die User in einem
gegen Roosevelts Amerika, das er als atemberaubenden Tempo austau-
dessen vermeintliches Instrument sah. schen, wirklich echt ist oder ob
Wer nicht über Hitlers Antikapitalismus getrickst wurde. Die sechsteilige
reden möchte, sollte über seinen Anti- Serie analysiert spektakuläre
semitismus schweigen. Videoclips und kommt zu über-
SPIEGEL: Mr Simms, wir danken Ihnen Finanzbetrüger Madoff raschenden Ergebnissen.
für dieses Gespräch.

119
Kultur

Schwarzer Panther
Rassismus Er ist der wichtigste afroamerikanische Intellektuelle, seine Essays durchleuchten
die Diskriminierung in den USA. Nun erscheint Ta-Nehisi Coates’ erster
Roman »Der Wassertänzer«: Er beschreibt den Alltag der Sklaverei. Von Philipp Oehmke

I
m vergangenen Sommer ist Ta-Nehisi eindringlicher Warnbrief Ta-Nehisi Coates’ die Rede war, die junge schwarze Männer
Coates nach Washington ins Kapitol an seinen damals 14-jährigen Sohn, wurde erschossen hatten. Das hatten sie wohl
gereist, um vor dem Abgeordneten- ein Bestseller und ist heute das Referenz- schon immer getan, bloß gab es nun auf
haus auszusagen. Es ging um das dokument für Schwarze wie Weiße, die einmal Videos davon. Michael Brown in
Gesetzesvorhaben H. R. 40, Reparationen ein Gefühl dafür bekommen wollen, wie Ferguson, Trayvon Martin in Florida,
für afroamerikanische Bürger. Coates hat- sehr sich ein schwarzes Leben von einem Tamir Rice in Cleveland, Freddie Gray in
te sich ein weißes Hemd und ein tailliertes weißen in den USA unterscheidet. Es ge- Baltimore.
graues Sakko angezogen, aber die obers- hört vielleicht zu den prägendsten Erfah- Es war jedenfalls eine ziemlich große
ten beiden Knöpfe des Hemdes offen rungen für einen Europäer, der für einige Lücke, die von Baldwin, in die Ta-Nehisi
gelassen. Jahre in die USA kommt, wenn er in sei- Coates da reinsollte.
Am Tag zuvor hatte ihm der umtriebige nen ersten Wochen feststellt, wie tief der Er misst einen Meter zweiundneunzig
Mehrheitsführer im Senat, Mitch McCon- Rassismus in jeder Form bis in die banals- und hat eine kompakte Statur. Es ist ein
nell, schon entgegengerufen, er verstehe ten Alltagsvorgänge verwoben ist: an der Montagmorgen Mitte Februar, gerade wird
nicht ganz, was der Quatsch mit Reparatio- Supermarktkasse, auf dem Amt, in der es 7.25 Uhr. Coates stapft durch die Kälte
nen solle, er halte das alles »für keine gute U-Bahn, auf dem Kinderspielplatz. am Cooper Square auf dem Weg zu einem
Idee«. Die Sklaverei sei jetzt schließlich seit Erstaunlich, dass gemessen an seiner Gebäude der New York University, wo er
150 Jahren vorbei, und die Leute, die damals Omnipräsenz und Schwere nicht viel Journalismusstudenten gutes Schreiben
dafür verantwortlich waren, seien alle tot. mehr über dieses Problem geschrieben beibringen soll. Er trägt eine schwarze Dau-
Außerdem habe man in dieser Sache bereits und nachgedacht wurde. Vielleicht konn- nenjacke von Moncler, einer Luxusmarke,
»einen Bürgerkrieg geführt, bahnbrechende ten die Amerikaner nach all den Jahrhun- die sonst eher von wohlhabenden Skifah-
Bürgerrechte verabschiedet und einen afro- derten und Jahrzehnten auch schlicht rern von Kitzbühel bis Aspen getragen
amerikanischen Präsidenten gewählt«. Und nicht mehr. Vielleicht hatten sie resigniert. wird. Coates kopiert damit das Modecredo
jetzt noch Reparationen? C’mon. So wie Leute irgendwann aufhören, sich der Rapszene: Marken, die mit weißem
Gegen den Republikaner McConnell über die Verspätung der Bahn aufzuregen, Wohlstand und Macht assoziiert werden,
hatten die Befürworter des Gesetzesvor- so lassen sie es vielleicht auch irgendwann zu besetzen und umzucodieren.
habens für Reparationen, hauptsächlich mit dem Rassismus. Es änderte sich ja Coates’ Seminar beginnt um halb zehn.
Angehörige der Demokratischen Partei, doch nichts. Dieser Termin um 7.25 Uhr war der einzi-
ihren besten Mann geschickt: Ta-Nehisi Ab Mitte der Zehnerjahre wurde es so- ge, den er innerhalb der nächsten Wochen
Coates. Er gilt, zumindest in progressiven gar eher wieder schlechter, als in den Nach- frei hatte, und er sieht abgekämpft aus,
Kreisen, als wichtigster lebender afroame- richten alle paar Wochen von Polizisten eine Erkältung. Seine Assistentin hatte vor-
rikanischer Denker. gewarnt: »Ta-Nehisi has a cold.«
Als er 2015 ein kleines Büchlein mit Er ist trotzdem gekommen, um über sei-
dem Titel »Zwischen mir und der Welt« nen ersten Roman zu sprechen. Er sagt, er
fertig hatte, bat Coates seinen Verlag, habe ihn lange vor seinem Erfolg »Zwischen
der schwarzen Literaturnobelpreisträgerin mir und der Welt« begonnen. Der Roman
Toni Morrison die Fahnen seines Buchs zu ist, wenn man so will, das »Was bisher ge-
schicken. Coates kannte Morrison nicht, schah« zu Coates’ essayistischem Werk.
aber er bewunderte sie. Nach einigen Ta- Ging es in Letzterem um die Gegenwär-
gen schrieb Morrison zurück: »Ich habe tigkeit schwarzen Lebens, behandelt »Der
mich schon lange gefragt, wer die intellek- Wassertänzer« die Ursünde, auf der alles
tuelle Lücke schließen könnte, die mich beruht: jene Sklavenhaltung, für die Coates
geplagt hat, seit James Baldwin gestorben in dem wegweisenden Essay »The Case
ist: Ganz klar ist das Ta-Nehisi Coates.« for Reparations« von 2014 Wiedergut-
Baldwin ist 1987 gestorben, die Lücke machungszahlungen gefordert hat, für
war also schon ziemlich lange da. Und weil die er im Sommer 2019 vor dem Senat
Baldwin, der in den Fünfziger- und Sech- gesprochen hatte.
zigerjahren richtungsweisende Abhand- Die Sklavenhaltung wurde 1865 nach
lungen dazu schrieb, was es bedeutete, dem Ende des Sezessionskriegs abge-
schwarz in Amerika zu sein, war es auch schafft, also tatsächlich schon vor langer
eine ziemliche große Lücke. Zeit. Doch darauf folgten weitere 100 Jah-
Doch Morrison hatte sich nicht ge- re, bis 1965, in denen die sogenannten
täuscht. »Zwischen mir und der Welt«, ein Jim-Crow-Gesetze Afroamerikaner zu Bür-
DPA / PA

gern zweiter Klasse machten. 1965 ist nun


Ta-Nehisi Coates: »Der Wassertänzer«. Aus dem Ame-
wiederum noch nicht so lange her, da gab
rikanischen von Bernhard Robben. Blessing; 544 Sei- Marvel-Comic es zum Beispiel die Beatles schon. Die Ab-
ten; 24 Euro. Liebe, Betrug, Verrat, Action schaffung der Gesetze war ein epochales

120
als wir bisher in Freiheit leben. Die Skla-
verei hat die Geburtsjahre dieser Nation
definiert und war immer an die Institutio-
nen des Wohlstands geknüpft. Es wäre
merkwürdig, wenn das keine Spuren hin-
terlassen hätte. Es wäre verrückt anzuneh-
men, dass die Sklaverei zwar stattgefun-
den, aber nichts damit zu tun hat, dass die
betroffene Bevölkerungsgruppe sich heute
am unteren Ende nahezu jeder sozioöko-
nomischen Kategorie wiederfindet.«
Coates sagt, er habe als junger Mann
selbst hart daran arbeiten müssen zu ver-
stehen, warum das im Einzelnen so ist, er
habe viel dafür lesen und denken müssen.
Intuitiv aber habe er die Zusammenhänge
schon immer befürchtet.
»Jeder fühlt es in seinen Knochen. Ich
habe als Kind früh erkannt, dass mein Vier-
tel irgendwie gefährlicher ist. Dass die
Menschen um mich herum ärmer sind.
Und die Schulen beides, ärmer und gefähr-
licher. Doch dann schaltest du das Fernse-
hen an, und du siehst: Die meisten Ameri-
kaner leben gar nicht so. Das bist nur du!«
Ta-Nehisi Coates ist auf der Westside
von Baltimore aufgewachsen, in einer Ge-
gend, die seit der Sozio-Drogenhandels-
Serie »The Wire« eine gewissen Reputa-
tion hat, mit ihren Straßen voller zugena-
gelter Häuser, 13-jähriger Corner Boys, die
Heroin an die Eltern verkaufen, und den
Polizisten, die wissen, dass sie mit ihren
Festnahmen nie etwas verändern werden.
Coates’ Vater war bei den Black Panthers
und hat mit vier Frauen sieben Kinder ge-
zeugt, Ta-Nehisis Mutter, eine Lehrerin,
war die letzte in der Reihe. Über all das
hat Coates 2008 in einer Art Coming-of-
Age-Buch berichtet, in »The Beautiful
Struggle«.
VINCENT TULLO / DER SPIEGEL

»Und dann merkst du, das trifft nicht


nur auf dich und deine Leute in West
Baltimore zu, sondern das gibt es auch in
Chicago oder New York. Überall, wo
schwarze Menschen sind, da ist dein Vier-
tel, deine Hood, da ist die Armut. Und
Autor Coates: »Die Sklaverei hat die Geburtsjahre dieser Nation definiert« dann fängst du an, dich zu fragen, warum.
Du beginnst nachzudenken und zu lesen.
Und ziemlich schnell kommst du zur Ge-
Ereignis, danach passierte allerdings nicht liche Leben in einer Stadt wie New York schichte der Sklaverei.«
mehr viel. Das Land schien froh, dieses Ka- ziehen, für Schwarze wie auch für Weiße. Deswegen hat Coates gleich nach »The
pitel endlich hinter sich zu haben. Malcolm »Yeah, man«, sagt Coates. Beautiful Struggle« mit einem Roman über
X wurde umgebracht, Martin Luther King Er hat uns hochgeführt in die menschen- die Sklaverei begonnen, er wusste sonst
erschossen, Polizisten misshandelten oder leere Bibliothek des Instituts. Wir sitzen nicht, wohin mit all dem Herausgefunde-
töteten weiterhin Afroamerikaner und am Fenster und blicken über New Yorks nen und Gelesenen über seine Vorfahren
wurden anschließend oft freigesprochen, East Village. Coates’ Stimme hat einen und ihr Leben als Sklaven. Er hat mehr
manchmal, wie 1992 in Los Angeles, kam warmen Klang und holpert in schläfrigem als zehn Jahre gebraucht für das Buch.
es danach zu Ausschreitungen. Allein Soul- Rhythmus vor sich hin wie die des Rappers Aber er konnte auch, als er anfing zu
musik und später Gangsta-Rap erinnerten Jay-Z. schreiben, nicht ahnen, dass er als Essayist
an alte und aktuelle Gräuel. »Yeah, man. Versklavung ist die Grund- berühmt sein würde, wenn der Roman
Als Deutscher, der sich mit dem Holo- lage von Amerika. Punkt. Wenn du herauskäme.
caust auseinanderzusetzen hatte, wunder- schwarz bist, ist dir das sonnenklar. Ich Das Verblüffende ist: Der Roman klingt
te man sich in den USA immer, dass es in wurde 1975 geboren, 110 Jahre nach Ab- tatsächlich völlig anders als Coates’ essay-
all den Jahrzehnten seit 1965 kaum Fort- schaffung der Sklaverei. Meine Vorfahren istische Texte. Während in Letzteren As-
schritt gegeben hatte und sich die Spuren in diesem Land haben aber zuvor 250 Jah- soziationen und Paradoxien ins Fliegen
von Rassismus weiterhin durch das täg- re in Versklavung gelebt, also viel länger, kommen, ist der Roman stilistisch und er-

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 121


che Geschichten sie sich erzählten. Wenn
man Coates darüber reden hört an diesem
frühen Morgen in New York, dann klingt
die Überforderung, die all das für den Au-
tor bedeutet hat, immer noch mit.
Der Plot nimmt dann viele Wendungen,
es gibt Liebe, Betrug, Verrat, Action und
Gewalt und sogar Übernatürliches, »weil
schwarze Leute sich immer Geschichten
von Magie erzählt haben«, sagt Coates,
und an diesen Stellen merkt man, dass
er eben nicht nur kluge Essays für das
weiße Establishment schreiben kann,

GRANGER, NYC / ULLSTEIN BILD


sondern für Marvel auch »Black Panther«-
Comics verfasst.
Auch im Roman nutzt Coates fantasti-
sche Motive. Es stellt sich etwa heraus,
dass Hiram sich selbst und manchmal auch
andere teleportieren kann. Der Treibstoff
dafür sind Erinnerungen, die irgendwie
Befreite Sklaven in Virginia um 1862: »Weiße haben sich in die Familien hineinvergewaltigt« mit seiner Mutter zu tun haben, und die
Macht des Narrativen, da natürlich die His-
torie der Sklaverei vor allem durch münd-
zählerisch eindimensionaler, sein Sound die bezahlte Gewalt der »low whites« si- lich übertragene Erzählungen besteht.
pendelt sich irgendwo zwischen Stephen chern, einer weißen aggressiven Unter- Hiram gelingt es, den Fesseln zu entflie-
King und dem magischen Realismus von schicht, wie man sie heute von Trump- hen, er schließt sich der Underground Rail-
Salman Rushdie ein. Wahlkampfveranstaltungen kennt. road an, dem klandestinen Widerstand,
»Der Wassertänzer« erzählt von dem Interessant ist, wie Coates die Durch- und trifft auf reale historische Personen
Jungen und später jungen Mann Hiram lässigkeit eines vermeintlich hermetischen wie Harriet Tubman, die legendäre Frei-
Walker, der auf einer Tabakplantage in Vir- Systems beschreibt, wie die Grenzen ver- heitskämpferin.
ginia in die Sklaverei hineingeboren wird, schwimmen, nicht nur wenn der Vater Als Ta-Nehisi Coates diesen Roman
seine Mutter ist Sklavin, sein Vater der heimlich seinen Sklavensohn in die Herr- nach zehn Jahren Arbeit schließlich fertig
Plantagenbesitzer. Hiram ist das Ergebnis schaftsgemächer lässt oder ihn durch einen hatte, ist er zu der Kongressanhörung
einer Vergewaltigung. Eines der ersten Privatlehrer fördern lässt. Man hätte er- nach Washington gefahren. Er war jetzt
Dinge, die Coates über Sklaverei gelernt warten können, dass der Autor, der Repa- bereit, noch einmal über Reparationen
hatte, war, dass Sklaverei neben all den rationen für Afroamerikaner fordert, das zu reden. Früher war er öfter mal bei Oba-
anderen furchtbaren Dingen auch vor al- Sklavereisystem deutlicher schwarz-weiß ma im Weißen Haus zu Hintergrund-
lem eins war: eine einzige große Massen- zeichnet. gesprächen mit Intellektuellen eingeladen,
vergewaltigung. Es bedeutete, keine Kon- Doch Coates entscheidet sich für die beim ersten Besuch fand er sich selbst
trolle über seinen Körper zu haben. Grauzonen, für die Details, die vermeint- zu unterwürfig. Beim zweiten Mal kam
Coates sagt: »Fast alle schwarzen Men- lichen Kleinigkeiten, die am Ende die wah- er zu spät und von Regen durchnässt an.
schen in diesem Land, deren Stammbaum ren Furchtbarkeiten sind. Als Hiram am Doch er begann, dem Präsidenten und
auf Versklavung zurückgeht, haben irgend- Ende noch einmal an den Ort seines Skla- dessen Credo, mit der Zeit werde für Afro-
wo so einen weißen Vater. Die DNA eines vendaseins zurückkehrt, auf die Plantage amerikaner alles besser, zu widerspre-
durchschnittlichen Afroamerikaners ist zu des Vaters, die immer mehr zerfällt, be- chen. Unter den anderen (weißen) Jour-
20 Prozent europäisch. Die Weißen haben schleicht ihn fast so etwas wie Wehmut, nalisten im Raum habe dann ein Raunen
sich in unsere Familien hineinvergewaltigt. als er feststellt, dass der Angestelltentrakt eingesetzt, so erzählte es Coates danach:
Meine eigene DNA ist zwischen 15 und 25 des Anwesens verwaist ist und die meisten »Oh Gott, jetzt streiten sich die beiden
Prozent weiß.« Sklaven nicht mehr da sind. ›black dudes‹.«
Der Plantagenbesitzer verkauft Hirams Coates hat, wie er erzählt, obsessiv re- Dieses Mal in Washington bei der Kon-
Mutter, als Hiram noch klein ist, und der cherchiert über das alltägliche Zusammen- gressanhörung hatten sie ihm einen ande-
Schock löscht alle Erinnerungen an die leben von Sklaven und Herren, er konzen- ren »black dude« gegenübergesetzt, den
Mutter. Ansonsten aber funktioniert Hi- triert sich weniger auf die gut dokumen- gescheiten Studenten Coleman Hughes,
rams Gehirn außergewöhnlich gut, er ist tierten Grausamkeiten von physischer ebenfalls Afroamerikaner, der Repara-
hochbegabt und kann sich alles merken, Gewalt und Freiheitsentzug, sondern auf tionen »für einen moralischen und politi-
was er einmal sieht. Sein Halbbruder, der die Probleme von Familie und Alltag: wie schen Fehler« hält. Außerdem hätten ame-
legitime eheliche Sohn des Vaters, hinge- das System familiäre Bindungen zerstörte; rikanische Sozialwissenschaftler und His-
gen ist ein verwöhnter Hänger, und der wie schwer es war, Liebe zu finden, aber toriker in den vergangenen 50 Jahren wohl
Vater wünscht sich heimlich, die Hautfar- auch, was Sklaven zu essen hatten und wel- zu keinem Thema mehr veröffentlicht als
ben wären umgekehrt verteilt. zur Rassendiskriminierung.
Es sind die letzten Tage bevor der Bür- Nicht überraschend, sagt Ta-Nehisi
gerkrieg ausbricht, das System der Verskla- Coates. Nur was da drinstehe, sei eben
vung scheint erschöpft, es herrschen De- Coates war öfter im Wei- überhaupt nicht durchgedrungen zu den
kadenz, Verwahrlosung und Verzweiflung, ßen Haus und begann, Menschen. Als er im Zug nach Hause fuhr,
die Tabakfelder sind übererntet, die Sitten wusste er, dass es doch gut war, den Ro-
verroht, die herrschende weiße Klasse
Obama und dessen Credo man geschrieben zu haben.
kann ihre Macht nur noch mühsam durch zu widersprechen.
122 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020
Kultur

Umgang mit dem eigenen Leib; im Lauf der Aufführung

Waldfeen auf dem kamen auch diverse Körperflüssigkeiten zum Einsatz. »Die
Horrorfilme der Siebzigerjahre, zum Beispiel ›Suspiria‹ von
Dario Argento, sind für meine Arbeit bis heute wichtig, aber

Kriegspfad auch die Filme von Quentin Tarantino«, sagt Holzinger. »Alle
meine Shows haben ein cinematografisches Moment.«
»Tanz« aber ist zunächst eine fast liebevolle Beschäftigung
mit der Balletttradition des 19. Jahrhunderts. Die engelsglei-
Theaterkritik Die Choreografin Florentina chen Tanzschülerinnen und die auf einem Besen reitende
Holzinger gastiert mit ihrer Stuntkünstlerin spielen in einer modernen Version des be-
rabiaten Performance »Tanz« in Berlin. rühmten Balletts »La Sylphide« mit, das im Jahr 1832 in Paris
uraufgeführt wurde. Die Regisseurin sagt: »Die Tradition des
klassischen Tanzes interessiert mich wirklich, wegen der per-

E s beginnt mit einer nackten Primaballerina. Die berühm-


te 78-jährige Tänzerin Beatrice »Trixie« Cordua hält
eine Ballettstunde ab und gebietet ihren fünf Schülerin-
nen, die artig am Balken die Beinmuskeln straffen und die
fekten Bühnenillusion und der totalen Disziplinierung des
Körpers.« Andererseits findet sie: »Das Ballett ist eine durch
und durch patriarchalische Veranstaltung.« Den Ballettschuh
nennt sie einen »ultimativen Phallus«.
Hüften biegen, sich gleichfalls nach und nach ihrer Kleidung Dementsprechend verwandelt sich »Tanz« mehr und mehr
zu entledigen. Zwei Stunden später endet die Show in einer in ein bizarres, hinreißendes Dekonstruktionsspektakel. Die
brutalen Stuntnummer: In Großaufnahme sehen die Zuschau- Primaballerina Cordua zum Beispiel erweist sich als sexuell
er auf zwei Leinwänden, wie einer Frau auf der Bühne glän- übergriffige Zuchtmeisterin, die lüstern die Genitalien ihrer
zende Metallhaken durch vorher präparierte Löcher in die Schülerinnen inspiziert. Statt zarter Klaviermusik dröhnen
Haut zwischen den Schulterblättern ge-
trieben werden – und wenig später wird
die tapfere Darstellerin an den Haken
meterhoch in die Luft gehievt. Dort rei-
tet sie unbekleidet auf einem Besen.
»Die Beziehung des romantischen Bal-
letts zur Pornografie und zur Showwelt
von Las Vegas ist offensichtlich«, behaup-
tet die Choreografin und Regisseurin Flo-
rentina Holzinger. »In allen Fällen geht
es um männliche Inszenierungen des
weiblichen Körpers.« Holzingers Show
»Tanz«, die vor ein paar Monaten in
Wien uraufgeführt wurde und von Don-
nerstag an in Berlin zu sehen sein wird,
zeigt elf meist nackte Performerinnen
bei spektakulären und oft verblüffend ro-
hen Aktionen. Empfohlen ist das Zuse-
hen nur für erwachsene Besucherinnen

EVA WURDINGER
und Besucher, in der Ankündigung der
Berliner Sophiensäle heißt es: »In eini-
gen Szenen kommen selbstverletzende
Handlungen zur Darstellung, die auf Mitwirkende in Holzinger-Stück »Tanz«: Verblüffend rohe Aktionen
manche Zuschauer*innen eine verstören-
de Wirkung haben könnten.« Während
der Vorstellung schweben zwei Crossmotorräder am Bühnen- plötzlich Rockgitarren. Die gerade noch zum schwerelosen
himmel, die auch bestiegen werden. Man blickt auf grellrotes Schweben auf ihren Fußspitzen dressierten Performerinnen
Theaterblut und sieht den Darstellerinnen bei der Exkursion schwingen nun an Seilen kreuz und quer im Raum, prallen
in einen Gruselwald zu, während der die Geburt einer Ratte aufeinander und stürzen auch mal übel auf den Boden. Irgend-
aus einem Menschenleib vorgeführt wird. »Das Publikum soll- wann unterbricht Florentina Holzinger die Show und stellt
te nie wissen, was als Nächstes kommt«, sagt die Regisseurin. sich selbst an die Bühnenrampe, um, natürlich nackt, unter fa-
Die Österreicherin Holzinger, 33, ist in der Bühnenwelt ein denscheinigen Vorwänden Geldscheine im Publikum einzu-
junger Star. René Pollesch, der im Sommer 2021 als neuer sammeln – ihre Art des Spotts über die historisch verbürgte
Chef der Berliner Volksbühne antritt, hat sie als Hausregis- Praxis, dass sich früher in der Pariser Ballettwelt männliche
seurin engagiert. Ihre Produktionen mit Namen wie »Apollon« Sponsoren im dafür berüchtigten Foyer de la Danse vor der
oder »Stick« werden in vielen Städten Europas und in New Vorstellung an Balletttänzerinnen heranwanzen durften.
York gezeigt. Holzinger selbst fing vergleichsweise spät als »Tanz« ist feministische Demonstration, Zirkus und auf-
Teenagerin mit dem Tanzen an und studierte in Amsterdam gekratztes Schocktheater in einem. Wiederholt wandern wäh-
an der School for New Dance Development Choreografie. rend der Aufführung Zuschauer aus dem Saal, weil sie offen-
In der Theaterwelt bekannt wurde Holzinger mit einer kundig von der Radau- und Verausgabungskunst der Dar-
Show, die sie 2011 mit ihrem zeitweiligen Lebenspartner Vin- stellerinnen überfordert sind. Die Regisseurin findet das nicht
cent Riebeek unter dem Titel »Kein Applaus für Scheiße« schlimm. »Ich will unterhalten, aber ich erzähle auch von
herausbrachte. Schon damals staunten Kritikerinnen und Kri- sehr ernsten Themen«, sagt sie. »Die Zuschauer sollen Spaß
tiker über die Vermischung von Kunst und privatestem Be- haben. Aber es ist auch okay, wenn sie in Ohnmacht fallen
kenntnis sowie über die Experimentierwut der Performer im oder abhauen.« Wolfgang Höbel

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Nachrufe
Dmitri Jasow, 95 Mathematikerin berechne-
Drei Tage sind es, die aus te für US-Astronauten wie
dem langen Leben des Dmi- Alan Shepard und John
tri Jasow herausstechen. Glenn unter anderem die
Geboren 1924, zweimal ver- Flugbahnen. Weil sie dies
wundet im Großen Vater- ohne elektronische Hilfe tat,
ländischen Krieg gegen die wurde sie zusammen mit
Deutschen, war Jasow ein einigen anderen Kollegin-
typischer Vertreter der nen bei der Nasa als »Com-
sowjetischen Militärmacht. puter« bezeichnet. Kathe-
Es war sein Pech, dass er als rine Johnson gehörte zu
letzter Verteidigungsminis- einem Team von sehr schlau-
ter der Sowjetunion den en Frauen, die in den Fünf-
Niedergang dieser Macht ziger- und Sechzigerjahren
mitansehen und mitverwal- in der Flugforschungsabtei-
ten musste. Am 19. August lung der Nasa arbeiteten.

AMR DALSH / REUTERS


1991 schloss er sich dem Sie waren so etwas wie die
Staatsstreich gegen Präsi-
dent Michail Gorbatschow
an, orderte Truppen und
Panzer in die Moskauer
Innenstadt. Aber angesichts
Hosni Mubarak, 91 des hartnäckigen Wider-
Eigentlich wurde er nur zufällig Ägyptens Präsident. Er stands der Demonstranten
hatte eine Laufbahn in der Luftwaffe eingeschlagen und scheute er vor dem Einsatz
wurde deren Oberbefehlshaber. Zwei Jahre nach dem Jom- von Gewalt zurück und
Kippur-Krieg 1973, in dem eine Koalition arabischer Staa- ließ die Truppen nach drei
ten unter der Führung Ägyptens und Syriens Israel überfiel, Tagen abziehen. Jasow

SHUTTERSTOCK EDITORIAL
machte ihn der damalige Präsident Anwar el-Sadat zu sei- bereute den Putsch später
nem Vize. Nach dessen Ermordung 1981 durch Fundamen- öffentlich als »Dumm-
talisten, die Sadats Friedensschluss mit Israel ablehnten, heit« – und verbrachte den-
wurde Hosni Mubarak Präsident – und blieb es 30 Jahre noch anderthalb Jahre in
lang. Er regierte mithilfe von Notstandsgesetzen, die viele Untersuchungshaft. Er wur-
Rechte massiv einschränkten. Seine Regentschaft schien de nicht verurteilt, später
eine Phase der Stabilität zu sein: International hielt er am sogar rehabilitiert und unter
Frieden mit Israel und der Freundschaft mit Washington Präsident Wladimir Putin Bodenkontrolle der Toll-
fest. Gleichzeitig empfanden viele Ägypter es als Phase der mehrfach ausgezeichnet. kühnheit, ohne sie wäre das
Stagnation. Dazu kamen Repression und Korruption. Als Raumfahrtprogramm der
Mubarak seinen Sohn als Nachfolger in Stellung bringen Amerikaner womöglich
wollte, zog er den Unmut mancher Generäle auf sich und nicht so erfolgreich gewesen.
trat 2011 nach Massenprotesten zurück. Der öffentliche Johnson war schwarz und
Druck sorgte dafür, dass ihm der Prozess gemacht wurde. eine Frau, doppelter Nach-
Rund 800 Menschen waren 2011 während der Proteste teil in einer Zeit der Rassen-
gegen ihn von Sicherheitskräften getötet worden. 2012 wur- trennung und voremanzi-
de er zu lebenslanger Haft verurteilt. Nachdem Ägypten patorischen Rollenbilder.
2013 zur autoritären Herrschaft zurückkehrte, wurde Wie sie sich durchsetzte, da-
er jedoch von den schwersten Vorwürfen freigesprochen. von erzählte 2016 der oscar-
Hosni Mubarak starb am 25. Februar in Kairo. RAS nominierte Film »Hidden
Figures – Unerkannte
Heldinnen«, der Johnson
Mike Hughes, 64 und ihre Mitstreiterinnen
IMAGO IMAGES

Er war Draufgänger von Beruf und setzte sich in selbst als Pionierinnen feiert. Ein
gebaute Raketen, in denen er Hunderte Meter in die Höhe Jahr zuvor hatte US-Präsi-
schoss. Der Ex-Rennfahrer wollte Rekorde aufstellen und dent Barack Obama ihr
ging dafür nahezu jedes Risiko ein. 2002 gelang ihm mit die Presidential Medal of
einer drei Tonnen schweren Stretchlimousine ein Sprung Dmitri Jasow, der letzte Freedom verliehen, eine
über 30 Meter – was ihm einen Eintrag ins Guinnessbuch Marschall der Sowjetunion, der höchsten zivilen Aus-
der Rekorde einbrachte. Mike Hughes behauptete, der starb am 25. Februar in zeichnungen. Im August
Überzeugung zu sein, dass die Erde »die Form einer Fris- Moskau. ESC 2018 wurde auf dem Gelän-
beescheibe« habe. Den Beweis dafür musste er schuldig de der West Virginia State
bleiben, schaffte es mit einem seiner Fluggeräte aber Katherine Johnson, 101 University eine lebensgroße
immerhin auf eine Höhe von rund 600 Metern. Bei dem Sie trug maßgeblich dazu Statue für sie eingeweiht –
Versuch, 1500 Meter zu erreichen, den er für eine TV-Sen- bei, dass die ersten Männer ein großer, später Triumph.
dung mit dem Titel »Homemade Astronauts« aufzeichnen durchs All fliegen konnten Katherine Johnson starb
ließ, stürzte er nun in der kalifornischen Wüste ab. Mike und am Ende wieder lebend am 24. Februar in Newport
Hughes starb am 21. Februar in der Nähe von Barstow. LOB auf der Erde landeten. Die News, Virginia. LOB

DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020 125


Personalien

Star im
Kampfmodus
G US-Präsident Donald Trump ist im Dauer-
wahlkampf für seine zweite Amtszeit.
Hillary Clinton, 72, gescheiterte Präsident-
schaftskandidatin der Demokraten, kämpft
dagegen um ihren Platz in den Geschichts-
büchern, sogar in Deutschland. »Wenn
nicht jetzt, wann dann?«, fragte die ehema-
lige amerikanische Außenministerin, als
sie Anfang dieser Woche auf der Berlinale
die Dokumentation »Hillary« vorstellte.
Routiniert wie ein Hollywoodstar, lächelte
und winkte Clinton für Fans und Fotografen.
Bei einem Podiumsgespräch im Haus
der Berliner Festspiele versuchte sie, das
Reizwort »Trump« zu vermeiden, was
ihr nicht immer gelang. »Hillary«-Regisseu-
rin Nanette Burstein, die gemeinsam mit
der Politikerin in Berlin auftrat, konzentriert
sich in ihrem Filmporträt nicht nur auf
Clintons Wahlniederlage 2016. Vielmehr

RONALD WITTEK / EPA-EFE / REX


zeichnet sie in der vierteiligen Dokumen-
tation das Bild einer starken Frau, die ihrer
Zeit fast immer zu weit voraus war (Aus-
strahlung vom 8. März an auf Sky). Die
immer noch ziemlich mächtige Hillary Clin-
ton will die Deutungshoheit über ihr Leben
nicht ihren Feinden überlassen. MWO

Glitzerschuhe U. S. Supreme Court ist, bei


der Verleihung des Woman
ten Stimmen des liberalen
Amerika gilt, wurde bislang
statt Robe of Leadership Award in der vornehmlich in strenger
legendären Washingtoner schwarzer Robe abgelichtet.
G Die legendäre amerikani- Library of Congress allen im Das Richterpult verwehrt
sche Richterin Ruth Bader Saal mit ihren mit Glitzer- normalerweise den Blick
Ginsburg, 86, Vorkämpferin steinen besetzten Schuhen auf die Füße – die Richterin
für Frauenrechte und hart- die Schau. Fotos von ihr ist allerdings schon lange
näckige Gegnerin von Präsi- wurden auf Instagram sofort bekannt für den Schmuck,
dent Donald Trump, glänzte ein Hit. Die nur 1,55 Meter mit dem sie sich im Gerichts-
unlängst in einer ganz an- große Ginsburg, die aus saal zeigt. Justitia mag blind
deren Rolle: als Stilikone. einem Arbeiterviertel in sein, Ruth Bader Ginsberg
Mitte Februar stahl Ginsburg, Brooklyn, New York, stammt hat aber wohl nichts dagegen
die seit 1993 Richterin am und als eine der kraftvolls- aufzufallen. LOB

126 DER SPIEGEL Nr. 10 / 29. 2. 2020


Die Königin »The Crown« Queen Eliza-
beth II. spielen wird, in
Klare Kante
hasst Lärm einem Gespräch mit der gegen rechts
Programmzeitschrift »Radio
G Die britische Schauspiele- Times«. Zuschauer, die G Mit seinem weißen Bart
rin Imelda Staunton, 64, während der Aufführung und seinem rollenden R ist
kann ziemlich ungemütlich eines Stücks oder der Vor- Peter Harry Carstensen, 72,
werden, wenn sie ins Kino führung eines Films Snacks so etwas wie der Landes-

CARSTEN REHDER / PICTURE ALLIANCE


oder Theater geht und zu sich nähmen oder zum großvater von Schleswig-
Sitznachbarn laute Geräu- Smartphone griffen, würde Holstein. Jetzt wird der
sche machen. Das bekannte sie rigoros zurechtweisen. Ministerpräsident a. D.
die gebürtige Londonerin, »Keiner kommt mehr das neue Amt des Landes-
die in der fünften und letz- fünf Minuten ohne Essen beauftragten für jüdisches
ten Staffel der TV-Serie aus«, stellt Staunton ge- Leben und gegen Antisemi-
nervt fest. »Und die tismus übernehmen. Der
Getränke! Plastik- kantige Christdemokrat,
becher fallen in stil- eigentlich Landwirtschafts-
len Momenten auf experte, war zwar noch nie Glauben zu gewinnen.« To-
den Boden.« Auch in Israel und Yad Vashem. leranz sei etwas Gutes, rei-
ihre Schauspieler- Am neuen Ehrenamt liegt che aber nicht. »Das Zusam-
kollegen nimmt sie ihm aber viel. »Wir haben menleben mit Juden muss
von der Kritik nicht die Lufthoheit über den selbstverständlich sein.« An
aus. Manche von Stammtischen anderen über- vielen Juden bewundere er
ihnen würden zur lassen«, sagt der Unions- Fröhlichkeit und Intelligenz,
Unzeit zum Smart- mann, »wir müssen bei je- auf jüdische Deutsche wie
phone greifen, sogar dem Gespräch den Mut Albert Einstein oder Stefan
nachdem sie gerade haben, gegen unanständig Heym sei er stolz. Persönlich
eine emotionale rechte Sprüche anzugehen.« freut ihn die Anteilnahme
Szene gespielt hät- In seiner Heimat Nordstrand, seiner Familie. Tochter Anja,
ten. Im Theater einer Halbinsel in der Nord- eine Keramikerin, lebt im
und im Kino sollten see, habe es schon im 17. Jahr- sächsischen Görlitz. »Als sie
MAURITIUS IMAGES

sich laut Staunton hundert Glaubensfreiheit mir per E-Mail zum neuen
alle um deutlich gegeben. »Das war aber ein Amt gratulierte, klang sie
mehr Konzentration gönnerisches Dulden, um stolzer als 2005, als ich Mi-
bemühen. LOB Arbeitskräfte mit fremdem nisterpräsident wurde.« AB

Arbeitswütige Diva neuves Gesundheit kund:


»Meine Mutter raucht wie
G Dem französischen Film- ein Schlot und schläft nur
star Catherine Deneuve, 76, drei Stunden pro Tag. Sie ist
hat die französische Ausgabe überhaupt nicht vernünftig.«
der Zeitschrift »Vanity Fair« Im »Vanity Fair«-Gespräch
gerade ein ganzes Heft gewid- erklärt Deneuve, was sie
met. Untertitel: »Un mythe antreibt. Sie habe in ihrem
français« – ein französischer Leben immer alles gleich-
Mythos. Laut der Redaktion zeitig gemacht, Filme gedreht
ist es als langer Liebesbrief und ihre Kinder aufgezogen.
an die große Schauspielerin Es liege nun einmal nicht in
gedacht. Die Lektüre soll sie ihrem Charakter, sich mit
von ihren Gesundheitspro- der Vergangenheit oder der
blemen ablenken. Deneuve Zukunft zu befassen: »Ich
hatte der Zeitschrift wenige lebe ausschließlich in der
Wochen vor ihrem Schlagan- Gegenwart.« Sie sehe darin
fall im letzten November ein eine Art Flucht vor der Melan-
Interview gewährt, das jetzt cholie, die sie belaste und
nachzulesen ist. Die Familie der sie nie richtig entkommen