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Marcel Van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller - Warum Philosophie - Historische, Systematische Und Gesellschaftliche Positionen-Walter de Gruyter (2011) PDF
Marcel Van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller - Warum Philosophie - Historische, Systematische Und Gesellschaftliche Positionen-Walter de Gruyter (2011) PDF
Herausgegeben von
Marcel van Ackeren
Theo Kobusch
Jörn Müller
De Gruyter
ISBN 978-3-11-022375-0
e-ISBN 978-3-11-022376-7
I. PROBLEMSTELLUNG
Marcel van Ackeren, Jörn Müller
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen einer philosophischen
und sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17
Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“
I. Das Thema
Der erste Beitrag von MARCEL VAN ACKEREN und JÖRN MÜLLER in Teil I
hat die Funktion, eine Art „Problemaufriss“ zu liefern und die wesentli-
chen philosophischen und sozialen Dimensionen der Frage nach dem Wa-
rum der Philosophie freizulegen, wie sie auch für die nachfolgenden Bei-
träge in grundlegender Weise relevant sind. Dabei wird u. a. versucht, dem
oft übersehenen inneren Zusammenhang der beiden Fragen nachzuspüren,
was Philosophie ist und warum sie eigentlich betrieben werden sollte.
Ausgehend von einer Bestandsaufnahme des fragmentierten Selbstver-
ständnisses der Philosophie in der Gegenwart wird ein Neuansatz vorge-
schlagen, in dem Philosophieren als eine inhärent teleologisch-funktionale
Tätigkeit gedeutet wird, deren Begriffsgehalt gar nicht unabhängig von der
Frage nach ihrem Wozu bzw. Warum geklärt werden kann. Als hermeneu-
tischer Passepartout für die Klärung dieser Frage wird die Auslotung des
Verhältnisses von Theorie und Praxis angeregt, das von der Antike bis in
die Gegenwart immer wieder den philosophischen Diskurs befeuert hat.
4 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
Von hier aus lässt sich dann auch die „von außen“ gestellte Frage nach
dem Warum der Philosophie und nicht zuletzt nach ihrem Nutzen im enge-
ren Sinne des Wortes fruchtbar thematisieren.
In Teil II des Bandes werden zuerst die historischen und dann die sys-
tematischen Bestimmungsversuche, also gewissermaßen die innerphiloso-
phische Perspektive in Geschichte und Gegenwart konturiert.
ADA NESCHKE-HENTSCHKE zeigt in ihrem Beitrag auf, dass in der
klassischen griechischen Antike wesentlich eine anthropologische Fundie-
rung der Philosophie angenommen wird. Aristoteles hat bekanntlich im
ersten Satz seiner Metaphysik das natürliche Wissensstreben als Charakte-
ristikum des Menschen akzentuiert; wie Neschke für Platon nachweist, ist
die Frage nach dem Wesen des Menschen hierbei von Anfang an wesent-
lich praktisch motiviert, nämlich als Frage nach dem Guten des Menschen
in Form von Leben und Handeln. Diese Frage ist zwar kein Privileg des
Philosophen, sondern allen Menschen eingeschrieben, aber die besondere
und alleinige Kompetenz der Philosophie, die Platon ihr in Gestalt der
Dialektik dafür zuschreibt, liegt gerade darin, diese Frage allgemeingültig
über die Erkenntnis der Idee des Guten beantworten zu können. Dabei
gerät der Ausgang vom Leben und der bleibende Sitz in ihm für die philo-
sophische Tätigkeit nie aus dem Blick: Die menschliche Praxis geht der
Theorie voraus und stellt für diese zugleich auch wieder die zentrale Ziel-
dimension dar, insofern Philosophie letztlich durch vernünftige Reflexion
zum gelingenden Leben (eudaimonia) auf individueller wie gesellschaftli-
cher Ebene befähigt. Der systematische Ursprungsort der Philosophie ist
somit das Leben selbst.
Mit besonderem Blick auf die mittelalterliche Philosophie diskutiert
JOHN MARENBON die Problematik, aus welchen Gründen man „alte“ Texte
als Philosoph überhaupt noch studieren sollte, und wirft damit letztlich die
Frage auf: „Warum noch Geschichte der Philosophie?“ Er stellt verschie-
dene Strategien vor, mit denen die Legitimation philosophiehistorischer
Lehre und Forschung regelmäßig betrieben wird, und prüft diese kritisch.
Sein eigener Vorschlag besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit
historischen Texten erst grundlegend deutlich macht, was Philosophie als
Spektrum menschlicher Tätigkeiten ist bzw. sein kann, die zwar durch
keinen klar umrissenen Begriff vereinigt sind, wohl aber gewisse Famili-
enähnlichkeiten aufweisen. Für die mittelalterliche Epoche betont er, dass
trotz aller Überlappungen mit theologischen Fragestellungen ein philoso-
phischer Kernbestand ausweisbar ist, der eine Auseinandersetzung mit den
Texten unter philosophischem Gesichtspunkt weiterhin fruchtbar erschei-
nen lässt.
In ähnlicher Weise fragt LUDWIG SIEP nach der Rechtfertigung für die
Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie der Neuzeit. Er sieht
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 5
sophie sich weder an die Methoden oder ontologischen Vorgaben der Na-
turwissenschaften anzupassen hat noch von deren empirischen Befunden
gänzlich abstrahieren sollte. Da es der Philosophie sowohl eso- als auch
exoterisch schadet, wenn sie sich der Herausforderung durch die Lebens-
wissenschaften nicht stellt und den an sie gesellschaftlich herangetragenen
Auftrag der Orientierung nicht übernimmt, plädiert er für eine aktive Ein-
mischung der Philosophie, die zwar nicht aus dem Gestus des überlegenen
Experten, wohl aber auf Augenhöhe mit den wissenschaftlichen Spezialis-
ten erfolgen sollte.
Unmittelbare lebenspraktische Relevanz scheint die Philosophie
schließlich dort zu besitzen, wo man ihr eine Funktion der „Lebenshilfe“
zuschreibt. Dies ist vor dem Hintergrund, dass sich etwa die antike Philo-
sophie als Lebensform bzw. Lebenskunst verstand, zwar eine in ihrer eige-
nen Geschichte angelegte Möglichkeit, wird aber gerade in der modernen
und gegenwärtigen Philosophie eher argwöhnisch beäugt. WILHELM
SCHMID prüft die Potenziale der Philosophie in diesem Bereich und kommt
zu dem Ergebnis, dass der Philosophie weiterhin sinnvoll die Rolle zuge-
sprochen werden kann, Menschen bei der Klärung von Lebensfragen und
damit bei ihrer individuellen Lebensorientierung zu helfen. Eine zentrale
Rolle spielt dabei das außerakademische philosophische (sokratische) Ge-
spräch, in dem eine Klärung von Sinndimensionen wie auch von grundle-
genden Begriffen geleistet wird: Auf diese Weise unterstützt Philosophie
die Strukturierung des „logischen“ bzw. geistigen Raums, in dem die ei-
genständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Individuum
sein Leben dann neu orientieren kann. Philosophie ist dabei nicht normativ,
sondern stets beratend tätig, und im günstigsten Fall führt dieser Bera-
tungs- und Klärungsprozess auf Seiten der Gesprächspartner zur Entwick-
lung einer autonomen Lebensphilosophie, also zu einer reflektierten Auf-
fassung vom eigenen Leben.
Die von Schmid entwickelte Auffassung knüpft an seine Philosophie
der Lebenskunst an, die er im Anschluss an Michel Foucaults Spätwerk
entwickelt hat. Beide rekurrieren hierbei auf antike Vorläufer, insbesonde-
re die Stoa. Wie THEO KOBUSCH in seinem Beitrag zeigt, sind die Diffe-
renzen zwischen antiker und moderner philosophischer Lebenskunst aber
doch größer, als sowohl ihre gegenwärtigen Vertreter als auch deren sich
zunehmend zu Wort meldenden Kritiker wahrnehmen. Die moderne Vari-
ante der Philosophie als Lebensform, die wesentlich an Nietzsche an-
knüpft, sieht die philosophische Lebenskunst in einer Art ästhetischen
„creatio ex nihilo“, also einer Selbsterfindung bzw. -erschaffung im Voll-
sinne des Wortes: das Leben als Kunstwerk. Demgegenüber betont die in
der hellenistischen und christlichen Philosophie ausgebildete Philosophie
der Lebenskunst die Idee einer moralischen Selbsttransformation, die das
8 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
Der Frage, welchen Nutzen die Philosophie in der modernen Welt ha-
ben kann, ist der Beitrag von JÜRGEN MITTELSTRAß gewidmet. Er betont
die Potenziale, die eine als voraussetzungslose, begründungsorientierte
Form des Denkens verstandene Philosophie für eine ansonsten von (wis-
senschaftlichen und politischen) Tunnelblicken geprägte Gesellschaft bie-
tet. Gerade weil sich in der modernen Welt wissenschaftliche, gesell-
schaftliche und politische Problemlagen in einer vielfältigen Weise
überkreuzen, die ihre Lösung durch einen partikularisierten Sachverstand
unmöglich erscheinen lässt (wie Mittelstraß es am Beispiel der Debatte
über das Klonen aufzeigt), bedarf es der Philosophie als einer vernunftori-
entierten Orientierungsinstanz, z. B. im klugen Umgang mit technischen
und wissenschaftlichen Entwicklungen. Da Orientierungsprobleme aber
stets auch begriffliche Schwierigkeiten involvieren, muss die Philosophie
gerade dort in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit dringen,
wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein mit ge-
wohnten und akzeptierten Überzeugungen schon zufriedengegeben hat.
Neben dieser aufklärerischen Funktion ist die Philosophie als Bildungs-
form auch geeignet, den der modernen Universität zugrundeliegenden
Gedanken der „Bildung durch Wissenschaft“ selbst wieder nachhaltig zum
Tragen zu bringen.
MARTIN THOMÉ stellt der Philosophie aus der Sicht der Wissenschafts-
förderung folgende Diagnose: Da Wissenschaft häufig über ihren Nutzen
für die Lösung aktueller drängender Probleme definiert wird, die Philoso-
phie aber vordergründig keinen Nutzen erbringt, droht ihre Bedeutung im
Wissenschaftssystem ins Hintertreffen zu geraten. Die Philosophie dürfe
auf diese Situation nun weder mit dem krampfhaften Versuch reagieren,
doch noch ihre volkswirtschaftliche Utilität auszuweisen, noch solle sie
ihre ‚Nutzlosigkeit‘ als Kriterium für ihre Schutzwürdigkeit ins Feld füh-
ren. Sie müsse sich vielmehr darauf besinnen, dass ihre Rolle im Wissen-
schaftssystem darin besteht, das ‚fragende Denken‘ als ihr Proprium zu
kultivieren und dem wissenschaftlichen Denken den Horizont des Fragens
offenzuhalten: Gerade weil der Wissenschaftsbetrieb heutzutage wesent-
lich als eine Art „Antwortmaschine“ mit immer enger abgestecktem Be-
deutungsumfang strukturiert ist, liegt der Beitrag der Philosophie nicht in
der Lieferung der besseren, abschließenderen und endgültigeren Antwor-
ten, sondern im Herausfinden und Formulieren der richtigen und guten
(und d. h. wesentlich der wissenschaftlich und gesellschaftlich weiterfüh-
renden, neue Horizonte eröffnenden) Fragen. Als Instanz für die Formulie-
rung von „Fragen, die alle brauchen“ kann sie zukünftig wieder eine maß-
gebliche Rolle im gegenwärtigen Wissenschaftssystem spielen.
Obwohl Sokrates bekanntlich in der platonischen Apologie (33a) be-
tonte, dass er eigentlich nie jemandes Lehrer gewesen sei, ist die Philoso-
10 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller
phie doch seit ihren Anfängen auf das Engste mit dem Bildungs- und Er-
ziehungsbereich verknüpft. KLAUS DRAKEN widmet sich in seinem Beitrag
der Bedeutung der Philosophie für den Schulunterricht, mit besonderem
Blick auf die methodischen und didaktischen Vorgaben des Kernlehrplans
für das 2007 an nordrhein-westfälischen Schulen für die Sekundarstufe I
(Klassen 5–10) zusätzlich zum Philosophieunterricht der Oberstufe einge-
führte Fach „Praktische Philosophie“: Dieses ist auf die nicht weltanschau-
lich bzw. religiös gebundene, argumentativ-diskursive Behandlung von
Sinn- und Wertfragen verpflichtet. Methodisch steht dabei die Praxis des
dialogischen Philosophierens im sokratischen Stil im Vordergrund, das den
Schülern dazu verhelfen kann, sich Kompetenzen zu Problemlösungen in
variablen Situationen anzueignen – in Zeiten eines tiefgreifenden Wandels
der medialen Kommunikations- und Wissenskultur eine äußerst nachhalti-
ge Aufgabe. Draken sieht im schulischen Philosophieunterricht deshalb
auch das Potenzial, dass die Schüler im Rahmen sinngebender Reflexion
„durch Philosophieren zu einer autonomen Persönlichkeit“ werden. Er
reflektiert dabei aber auch den in den letzten Jahren vollzogenen Wandel
an den Schulen selbst, in der Fachdidaktik sowie in der Lehrausbildung
(Stichwort: polyvalenter Master of Education) und die sich daraus erge-
benden Problemstellungen und Herausforderungen.
Eine weitere Perspektive auf die Bedeutung der Philosophie für den
Bildungsbereich präsentiert LUTZ MÖLLER aus Sicht der UNESCO, also
der innerhalb der Vereinten Nationen für den Bereich Bildung, Wissen-
schaft und Kultur zuständigen Organisation: Er erläutert den Aufgabenbe-
reich der nationalen UNESCO-Kommissionen sowie ihre Beziehung zur
Philosophie, wobei ein gewisses Spannungsverhältnis sichtbar wird: Der
prinzipiellen Anerkennung der selbstzweckhaften Freiheit der Philosophie
als Wissenschaft steht in vielen Verlautbarungen und konkreten Projekten
auch immer wieder das Anliegen gegenüber, die Philosophie direkt in den
Dienst der Gesellschaft und der Ziele der Vereinten Nationen zu stellen,
indem sie auf die Legitimation von Demokratie, Menschenrechten und
einer „Kultur des Friedens“ verpflichtet wird. Möller reflektiert kritisch die
hier sichtbar werdende Tendenz, die Philosophie als eine Art „intellektuelle
Agentur des UN-Systems“ für eine Rechtfertigung heranzuziehen, die nicht
wirklich in ihrem Feld liegt. Das politische Bildungsziel der UNESCO, die
Förderung von unabhängigem und kritischem Denken als Gegengewicht zu
fundamentalistischen Weltsichten, könne nur durch eine „authentische“ und
d. h. nicht-instrumentalisierte Philosophie erreicht werden: Deren mögliche
Aufgabe in diesem Kontext sieht Möller in der grundlegenden Klärung von
Konzepten wie „Frieden“, „Dialog“ oder „Nachhaltigkeit“, die in der Poli-
tik der Vereinten Nationen eine zentrale Rolle spielen, ohne dabei doch
wirklich hinreichend „durchdacht“ zu sein. Sein Beitrag schließt mit einer
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 11
Für wertvolle redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung dieses Bandes möch-
ten wir uns herzlich bei Eike Brock und Thomas Grote bedanken.
Grußwort
Roland Bernecker
Redemanuskript des Grußworts, mit dem die Tagung „Warum (noch) Philosophie?
Historische, systematische und gesellschaftliche Perspektiven“, die vom 24.–26. No-
vember 2008 an der Universität Bonn stattfand, eröffnet wurde.
14 Roland Bernecker
Glaubt man dem Feuilleton, muss es den Philosophen angst und bange
sein: Sie sind, wie Thomas Assheuer es unzweideutig formuliert hat, ge-
meinsam mit den anderen Geisteswissenschaften1 in einen „brutalen Über-
lebenskampf“ verstrickt, der sich einem nachhaltigen Verlust lange Zeit
unangefochtener gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten verdankt: „Es
ist eben nicht mehr selbstverständlich, dass Philosophen, Altertumswis-
senschaftler, Kunsthistoriker und Germanisten selbstverständlich sind.“2
Auch wenn das Jahr 2007 zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ausgeru-
fen worden ist: Vorüber sind offenbar die halkyonischen Tage, in denen
man zumindest meinte, nach außen keine Rechenschaft über das eigene
Tun geben zu müssen, weil dessen intrinsische Sinnhaftigkeit nicht ernst-
haft bestritten schien. Die strukturelle Neukoppelung der Wissenschaften
und Universitäten, bei der sie von ihrer früheren Anbindung an politische
Institutionen sukzessiv gelöst und zunehmend im Feld von Markt und
Wirtschaft neu verortet werden, erzeugt auf jeden Fall für die Geisteswis-
senschaften einen hohen Legitimationsdruck: Im Rahmen breiter Diskus-
sionen über die Effizienz von Ressourcenallokation und Gelderverteilung
ist das Überleben einzelner Institute und Fachbereiche elementar in Frage
gestellt, wie die jüngsten Entwicklungen gezeigt haben.
Nicht nur, aber gerade auch für die Philosophie als akademische Dis-
ziplin erhebt sich deshalb die Frage nach ihrer Existenzberechtigung: „Wa-
rum noch Philosophie?“ Diese Frage weist nun bei näherer Betrachtung
mehrere Relevanzebenen auf:
1
Vgl. Keisinger 2003.
2
Assheuer 2004.
18 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
(a) Die aktuelle Relevanz: Zum einen ist die Frage vor dem Hintergrund
der oben dargestellten Situation natürlich ein aktueller Fingerzeig in
Richtung der akademischen Philosophie, also eine Aufforderung an die
philosophischen Institute und Lehrstühle, einen Sinn oder Nutzen
nachzuweisen, der die finanzielle Subventionierung seitens der Gesell-
schaft legitim erscheinen lässt. Damit ist letztlich danach gefragt, wel-
che genuinen Leistungen für die Philosophie nach der Sektoralisierung
der Wissenschaften in der Neuzeit und Moderne eigentlich noch übrig
bleiben. Ist sie nur noch eine Residualwissenschaft, eine Restewissen-
schaft,3 der es bleibt Inkompetenz zu kompensieren?4 Was ist Philoso-
phie überhaupt bzw. was kann sie unter gegenwärtigen Bedingungen
noch sein?
(b) Die grundsätzliche Relevanz: Hinter dieser für den gesamten geistes-
wissenschaftlichen Sektor im Zuge der Ökonomisierung der Bildung
sichtbar gewordenen Problematik verbirgt sich jedoch eine Fragwür-
digkeit der Philosophie als ganzer (und eben nicht bloß als akademi-
scher Disziplin), welche sie von ihren Anfängen an begleitet hat: Wa-
rum brauchen wir die Philosophie überhaupt? Diese Frage kann
sowohl vor dem Hintergrund individueller als auch gesellschaftlicher
Bedürfnisse bzw. Anforderungen formuliert werden. Jeder Versuch,
von philosophischer Seite aus hier eine überzeugende Antwort zu ge-
ben, setzt jedoch eine Klärung dessen voraus, was hier eigentlich mit
„Philosophie“ gemeint ist. Jeder hat eine mehr oder minder klare Vor-
stellung von dem, was Historiker und Germanisten tun, aber als Philo-
soph schallt einem des Öfteren coram publico die Frage entgegen:
„Was machst Du denn als Philosoph eigentlich?“ Diese Frage zielt
nicht auf ein „Spezialgebiet“ innerhalb der philosophischen For-
schung, das man bedient, sondern auf die Tätigkeit als ganze.
(c) Die historische Relevanz: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass
diese Frage nach ihrem „Warum“ die Philosophie von ihren Anfängen
an begleitet hat. Dies betrifft zum einen den stets virulenten Vorwurf,
die Philosophie produziere bloß „nutzloses Wissen“ – ein Topos, der
sich nicht erst der jüngsten Vergangenheit verdankt, sondern der be-
reits zum Bildungsgut der Antike gehörte. Zum anderen liegt diese
historische Relevanz auch darin, dass die Philosophen selbst, seit es
sie gibt, immer auch darüber nachgedacht haben, warum sie über-
haupt philosophieren und ob die Philosophie einen Nutzen hat.5
3
Vgl. Lohmann/Schmidt 1998, 8.
4
Vgl. Marquard 1976.
5
Die philosophische Überlieferung im Abendland beginnt mit zwei Berichten über
den ersten Philosophen Thales, die beide Aspekte widerspiegeln. Einerseits war er
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 19
Die drei Aspekte zeigen, dass die Philosophie (a) einem wachsendem äu-
ßeren Legitimitätsdruck ausgesetzt ist. Die Frage „Warum Philosophie?“
ist jedoch keine ärgerliche Frage, die eigentlich nicht zum Kanon der phi-
losophischen Fragen gehört, und erst durch eine äußerlich bedingte Krise
aufgekommen ist.6 Denn sie fragt zugleich (b) nach dem, was Philosophie
überhaupt ist bzw. unter den Bedingungen der Moderne noch sein kann.
Und (c) zeigt die Frage, dass es zumindest eine historische Kontinuität
gibt, die eben vielleicht spezifisch philosophisch ist: Im Gegensatz zu an-
deren Disziplinen gehört das Fragen nach der Sinnhaftigkeit des eigenen
Tuns zum festen Bestand der kanonischen Fragen, und zwar seit es philo-
sophische Fragen gibt.
Die elementarste Frage, von deren Klärung alle weiteren Diskussionen
über Sinn und Nutzen, über individuelle und gesellschaftliche Legitimation
der Philosophie abzuhängen scheint, lautet dabei ebenso einfach wie un-
vermeidlich: „Was ist Philosophie?“ Was die gegenwärtige Philosophie
hier als Antwort zu bieten hat, soll nachfolgend erst einmal kritisch gesich-
tet werden.
Von der Philosophie lässt sich gegenwärtig vor allem sagen, dass sie im
Plural auftritt, und zwar in Gestalt zahlreicher „Bindestrich-Philosophien“:
Kulturphilosophie, Rechtsphilosophie, Naturphilosophie, Politische Philo-
sophie, Moralphilosophie, etc. Dies ist nun weniger ein Indiz für den brei-
ten Anspruch der Philosophie als ganzer, sondern eher ein Zeichen der
gegenwärtigen Arbeitsteiligkeit, die auch in der Philosophie massiv Einzug
gehalten hat, und zwar nicht zuletzt im Bereich der professionellen akade-
mischen Philosophie: Viele verstehen sich eben nur noch als Experten für
eine bestimmte Art von Philosophie, die mehr oder weniger säuberlich von
ihren anderen Teilbereichen oder Disziplinen getrennt ist.
Aber wenn man hier von Disziplinen oder Teilbereichen spricht, unter-
stellt man damit doch implizit, dass für alle diese spezifischen Differenzen
noch eine nächsthöhere Gattung existiert, die sie umfasst. Diese Frage nach
der Einheit der Philosophie stellt sich gerade vor dem Hintergrund der sich
immer weiter vertiefenden Arbeitsteiligkeit der Philosophen umso dringli-
cher: Liegt den verschiedenen Verwaltungseinheiten, den Instituten, For-
schungsbereichen und Lehrstühlen für Philosophie wirklich noch ein Be-
griff von Philosophie zugrunde? Oder gibt es nur eine Pluralität von
Philosophien, die unterschiedliche Ziele verfolgen?7 Und was ist mit den
diversen Formen außerakademischen Philosophierens, den philosophischen
Praxen und Zirkeln, sowohl für sich als auch in ihrem Verhältnis zum pro-
fessionellen „Betrieb“ betrachtet?
Auch mit Blick auf die Geschichte der Philosophie stellt sich die Frage
nach ihrer inhaltlichen Bestimmung. Aus vielen Themenfeldern, welche
die Philosophie zu ihrem Gegenstandsbereich zählte, hat sie sich zugunsten
diverser Einzelwissenschaften zurückgezogen. So behandelt der Hauptteil
des Corpus Aristotelicum Themen, die in den aktuellen systematischen
Debatten der Philosophie keinen Stellenwert mehr haben.8 Ähnliches gilt
natürlich für andere, heute eigenständige Disziplinen wie Astronomie oder
Psychologie. Dass dieser Prozess der Geburt von Einzelwissenschaften aus
dem Schoße der Philosophie schon abgeschlossen ist, muss nicht per se
angenommen werden, aber weitere Entwicklungen in diesem Bereich wür-
den zwar das kontinuierliche Innovationspotential der Philosophie betonen,
aber tendenziell ihren eigenen, genuinen Arbeitskreis weiter einengen und
damit die Problematik eher verschärfen.
Angesichts der historisch erfolgten Einengung des Aufgabenfeldes
und der heutigen Arbeitsteilung bleibt die Frage: „Was ist Philosophie?“ –
7
„Wer in der inneren Vielfalt ‚der‘ Philosophie einen ‚Skandal‘ sieht, unterschiebt
ihr dogmatisch einen einzigen Zweck.“ (Lenk 1974, 10)
8
Den biologischen Schriften fällt mit mehr als 300 Bekkerseiten allein schon vom
Umfange her das größte Gewicht innerhalb des Corpus Aristotelicum zu. So ist z. B.
das Zentralwerk der aristotelischen Biologie, die Historia animalium (153 Seiten in
der Edition von I. Bekker), umfangreicher als die noch in der heutigen Aristoteles-
Diskussion dominanten Schriften, z. B. die Metaphysik (114 Bekker-Seiten) oder
auch die Politik (91 Bekker-Seiten)
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 21
9
Vgl. Zimmerli 1978 sowie neuerdings die Beiträge von Stekeler-Weithofer/Tetens
2010.
10
Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998), Eintrag „Philosophie“, 498 f.
Zum Selbstverständnis der verschiedenen philosophischen Strömungen und Rich-
tungen des 20. Jahrhunderts vgl. Salamun 52009.
11
Vgl. Ulfig 1992, Eintrag „Philosophie“, 319–322. Einen historischen Überblick, aus
dem die Tendenz zur Theoretisierung gut hervorgeht, findet sich bei Sandkühler
1990 und besonders ausführlich ders. 1999.
12
Vgl. Hügli/Lübcke 1992, 491 f.
22 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
daran, dass es außerhalb von und ohne Menschen keine Philosophie gibt.
Dies gilt auch für ein Philosophiekonzept, dem zufolge es nur um den
Wahrheitswert von Sätzen geht. Sowohl die Referenzobjekte philosophi-
scher Sätze und deren Wahrheitswert können vielleicht objektiv und unab-
hängig von Menschen bestehen. Aber Philosophie als Tätigkeit – soweit
Sätze für sie konstitutiv sind – ist nur mit und durch den Menschen existent.
Denn einerseits betreiben, so weit wir wissen, Tiere keine Philosophie (und
Götter auch nicht, weil sie die Weisheit schon haben, nach welcher der
Philosoph als Liebhaber der Weisheit strebt); zum anderen gab es die Philo-
sophie nicht, bevor es den Menschen gab, und es gibt sie auch heute nicht
unabhängig von uns, wie es Naturphänomene unabhängig vom Menschen
gibt. Ferner gilt, dass die für die Philosophie charakteristischen Urteile in
sprachlicher Form vorliegen und es also für das Erkennen dieser sprachli-
chen Ausdrücke als Philosophie Menschen geben muss, die diese Sprache
verstehen. Die sprachlichen Zeichen werden erst zur Philosophie, wenn
jemand ihre Bedeutung verstehend nachvollzieht.
Insgesamt lassen sich die gängigen Philosophiedefinitionen primär da-
durch charakterisieren, dass sie Philosophie in Analogie zu anderen Wis-
senschaften (die ja auch genuine Betätigungen des Menschen als Men-
schen sind) über (a) Gegenstand und/oder (b) Methode zu bestimmen
versuchen. Beide Kriterien zeigen sich allerdings entweder hinsichtlich
ihrer Trennschärfe nach außen oder bezüglich ihrer Inklusionskraft nach
innen als problematische Orientierungsgrößen. Durch die neuzeitliche
Sektoralisierung der Wissenschaften scheint es kaum noch Gegenstände zu
geben, auf welche die Philosophie einen Alleinanspruch erheben kann,
weshalb der Philosophie dann meist ein auf die Gesamtheit der Welt aus-
gerichteter „Totalitätsanspruch“ zugeschrieben wird: „Während wissen-
schaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu
wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der
Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen
angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wis-
senschaftliche Erkenntnis.“13 Doch das genau ist auch der Anspruch ande-
rer „Welterklärungssysteme“, etwa der Religionen, so dass auch hier keine
Monopolstellung der Philosophie beansprucht bzw. nachgewiesen werden
kann. Natürlich kann hier durch eine Kombination der genannten Momente
eine gewisse Abgrenzung erreicht werden, etwa in dem Sinne, dass die
Philosophie das Ganze der Welt ausschließlich mit den Mitteln der Ver-
nunft (und d. h. nicht zuletzt: unter Verzicht auf jegliche Form von supra-
naturaler göttlicher Offenbarung) zu erfassen versucht. Doch der Verweis
13
Jaspers 21957, 9 f.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 23
14
Vgl. hierzu exemplarisch die Analysen bei Welsch 1996.
15
Vgl. Platon, Theaitetos 155d.
16
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 980a 21.
24 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
17
Vgl. hierzu van Ackeren 2003.
18
Bereits die Existenz der oben (vgl. Anm. 5) erwähnten protreptischen (Werbe-)Schrif-
ten und dann die Virulenz der Kritik am nutzlosen Wissen im Hellenismus belegen,
dass die Philosophen in der Antike sich sowohl intern als auch außerakademisch in-
tensiv damit beschäftigt haben.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 25
19
Vgl. exemplarisch Cicero, De finibus bonorum et malorum V 86: „Omnis auctoritas
philosophiae consistit in beata vita comparanda; beate enim vivendi cupiditate in-
censi omnes sumus.“ Diese Telos-Formel ist auch noch bei Augustinus lebendig;
vgl. De civitate Dei XIX 1: „Da es aber für den Menschen keine andere Ursache
zum Philosophieren gibt außer die, dass er glückselig wird, und was ihn dazu
macht, eben das Endgut ist, bleibt als Ursache des Philosophierens nichts außer die-
sem Endgut. Was daher das höchste Gut nicht verfolgt, ist nicht philosophische
Denkweise zu nennen.“
26 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
Auf der Basis der oben vorgetragenen Überlegungen läge es nahe, die Frage
nach der Bestimmung der Philosophie einfach direkt unter dem „Warum“-
Aspekt zu stellen. Doch sowohl in historischer als auch in systematischer
Perspektive könnte sich ein solcher „head-on-approach“ als weniger ertrag-
reich erweisen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte:
Zum einen finden sich selten Antworten, die auf die verschiedenen ge-
nannten Aspekte eingehen; meist findet man eher eine begriffliche Engfüh-
rung der Problematik in Richtung von Fragen wie: „Woher kommt die
Philosophie?“ oder „Was (bzw. wem) nützt die Philosophie?“ Viele histo-
rische und auch gegenwärtige Debatten leiden darunter, dass sie in gewis-
ser Weise hinken, weil sie die Frage „Warum Philosophie?“ nicht in ihrer
ganzen Bedeutungsbreite in den Blick bekommen.
Zum anderen zeigt sich in begriffs- und problemgeschichtlicher Per-
spektive, dass diese Frage seltener explizit gestellt wird, als man vermuten
könnte. Dabei ist auch keineswegs immer gewährleistet, dass die Proble-
matik als ein integraler Bestandteil des eigenen Philosophierens begriffen
wird: Zwar sind die vorhandenen Antworten je nach philosophischer Cou-
leur deutlich eingefärbt, aber sie nehmen meist keine wirkliche Systemstel-
le im Ganzen ein und tragen deshalb allzu oft Manifest-Charakter.
Ein Weg, diese Schwierigkeiten zu überwinden, bestünde darin, sich
der Frage indirekt über die Untersuchung eines begriffs- bzw. problemge-
schichtlichen Zusammenhangs zu nähern, der auch die heutige Diskussion
noch zu befruchten verspricht, nämlich im Blick auf das Begriffspaar von
„Theorie“ und „Praxis“, das letztlich ein der Philosophie selbst entsprun-
gener Topos ist. Wie langlebig und durchgängig präsent das Spannungs-
verhältnis dieser beiden Termini in der Philosophie ist, zeigt sich bereits
daran, dass über den ersten Philosophen Thales sowohl die Anekdote er-
zählt wird, er sei lächerlicherweise wegen seiner Betrachtung in einen
Brunnen gefallen, aber zugleich berichtet wird, er habe aufgrund derselben
Betrachtungen einen großen (auch finanziellen) Nutzen haben können.20
Schon wegen dieser historischen Persistenz bietet sich das Begriffspaar
von Theorie und Praxis als hermeneutischer Schlüssel an; es bietet insge-
samt als Angelpunkt der Betrachtung folgende systematische Vorteile:
(1) Der Langlebigkeit dieser Konzepte korrespondiert eine vielschichtige
Begriffsgeschichte, die immer wieder bemerkenswerte Überkreuzun-
gen deutlich macht:
20
Siehe oben, Anm. 5. Vgl. hierzu auch Blumenberg 1987.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 27
– Antike wie moderne Positionen treffen sich oft auf dem Boden der
Vorstellung, dass Philosophie im Sinne einer Tätigkeit zu begrei-
fen ist: Dies verbindet in gewisser Weise so weit auseinander lie-
gende Denker wie Platon,21 Aristoteles22 und Wittgenstein23, und
in Heideggers Brief über den Humanismus findet sich das schöne
Diktum: „Das Denken handelt, indem es denkt.“24 Die hellenisti-
schen Philosophenschulen betonen den praktischen Aspekt der
Philosophie, indem sie als „Lebenskunst“ beschrieben wird,25 und
auch in der heutigen philosophischen Landschaft ist diese Idee
kraftvoll wiederbelebt worden.26 Hinzu kommt, dass die Suche
nach theoretischer Erkenntnis in der Neuzeit (etwa bei F. Bacon)
häufig dem praktischen Ziel der Naturbeherrschung dient. Die Bei-
spiele ließen sich beliebig vermehren. Philosophie hat also nicht
nur, wie in der Ethik bzw. Moralphilosophie, Praxis zum Gegen-
stand, sondern sie wird ebenso häufig als Praxis begriffen.
– Doch mindestens ebenso oft wird Philosophie sowohl in der
Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung als „Theorie“ bestimmt
– je nach Standpunkt mit pejorativen Untertönen oder im emphati-
schen Duktus. Darin äußert sich aber zugleich auch ein Anspruch,
der sich auf die Philosophie als ein theoretisches Unterfangen bzw.
Projekt richtet, nämlich die Idee eines umfassenden und tiefgrei-
fenden Verständnisses der Welt in toto. Demzufolge geht es um
die Betrachtung der Welt und ihrer substanziellen Strukturen von
einer höheren Warte aus. Dass Theorie das Medium des Philoso-
phen ist, dürfte auch noch heute relativ unstrittig sein, was philo-
sophische Theorie im einzelnen ist (oder z. B. angesichts der Er-
kenntnisse der modernen Wissenschaften noch sein kann), bietet
hingegen durchaus Anlass zu Kontroversen.
– Auch das Verhältnis von Theorie und Praxis ist ein seit der Antike
bis zur Frankfurter Schule höchst umstrittener philosophischer
Dauerbrenner. Dies betrifft nicht zuletzt das Verhältnis von Leben
und Lehre: Wird Philosophie (wie in der Antike) als „Lebens-
form“ betrachtet, erscheint eine Trennung dieser beiden Größen
künstlich.27 Für Heraklit etwa ist Weisheit „Wahres sagen und es
21
Vgl. Platon, Apologie 29c.
22
Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 6, 1048b 18–34, wo das Denken (phronein bzw.
noein) als energeia charakterisiert wird.
23
Wittgenstein 1922, § 4.112: „Philosophy is not a doctrine, but an activity.“
24
Heidegger 1976, 145.
25
Vgl. Horn 1998.
26
Vgl. Schmid 1998.
27
Vgl. hierzu die richtungsweisenden Arbeiten von Pierre Hadot, z. B. ders. 2002.
28 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
28
DK 22 B 112.
29
Kant 1980, 12.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 29
Die Frage nach dem Nutzen der Philosophie ist von besonderem Interesse,
weil sich hier Selbst- und Fremdverständnis der Philosophie berühren.
Zum einen wird von manchen Fachvertretern (z. B. H. Lübbe30) argumen-
tiert, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie eine ärgerliche
Frage sei, weil diese Frage selber nicht zum Kanon der philosophischen
Themen gehöre und erst durch eine (philosophie-)historisch bedingte Legi-
timitätskrise aufgekommen sei.31 Weil die Frage demnach „von außen“ –
und historisch-sozial bedingt32 – an die Philosophie herangetragen werde,
störe sie das eigentliche in diesem Sinne nicht rechenschaftspflichtige Ge-
schäft der Philosophie.33 Ganz in diesem Sinne dekretiert etwa B. Russell
ein unmissverständliches Postulat der „Nutzenfreiheit“ der Philosophie:
„Thus utility does not belong to philosophy“.34 Im Rekurs auf die Histori-
zität von Philosophiebestimmungen hat R. Bubner jedoch darauf hingewie-
sen, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie schon immer ein Teil
derselben, zumindest der antiken Philosophie, gewesen ist und dass sich
die Frage „Wozu Philosophie?“ nur im Rückgriff auf die Geschichte der
Philosophie beantworten lässt.35 Es fragt sich, ob etwa die Herausgeber
großer Gesamtdarstellungen der Philosophie Lübbes Position zumindest
implizit teilen, wenn Sie den Nutzen von Philosophie explizit keinen Raum
in einer Darstellung des Faches einräumen.36
30
Lübbes Position ist vor dem Hintergrund der großen Studie Der Prozeß der theore-
tischen Neugier in Blumenbergs Legitimität der Neuzeit zu sehen. Ganz abgesehen
von der Tatsache, dass Blumenbergs Ausführungen zur theoretischen Neugier bei
den einzelnen Autoren in der Antike unbedingt zu überprüfen sind, ist bemerkens-
wert, dass er selbst der Ansicht ist, Philosophie bestehe in eben jener theoretischen
Neugier. Für Blumenberg beschreibt der erste Satz der aristotelischen Metaphysik,
dem zu Folge die Menschen von Natur aus nach Wissen streben, die Grundstim-
mung der Antike, die sich damit gegen die Sokratische „Verengung des Blickes“
und „Relativierung des Universums des Seienden“ durch die Ethik wendet.
31
In diesem Sinne ist die Frage auch radikalisiert worden: Wozu noch Philosophie?
Vgl. hierzu Baumgartner/Höffe 52009.
32
Zu diesem Zusammenhang siehe besonders Brandner 1992.
33
Vgl. Lübbe 1978.
34
Russell 1993, 2.
35
Vgl. hierzu Bubner 1978. Bubners These wird bestätigt durch den Umstand, dass in
der modernen Diskussion der Frage immer wieder Bezüge zur antiken Philosophie
vorkommen. Vgl. auch Birnbacher 1996 und Lenk 52009.
36
Ein Beispiel unter vielen hierfür ist Bunin/Tsui 1996.
30 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
Philosophen thematisieren nun nicht nur fachintern, warum sie ihre Tä-
tigkeit ausüben, sondern diese Selbstverständigung dient teilweise auch der
Außendarstellung,37 die ebenfalls schon immer ein Teil des philosophi-
schen Geschäfts war: Dies zeigt die bis in die Antike zurückreichende
Tradition der protreptischen Schriften sehr deutlich. Im Gegenzug wird die
Philosophie natürlich auch von Nicht-Philosophen mit zahlreichen Erwar-
tungshaltungen konfrontiert:
(a) Dies geschieht seitens anderer akademischer Fächer, wenn der Philo-
sophie die Funktion einer Meta-Disziplin zugesprochen wird, die wis-
senschaftsübergreifend etwa die Frage, was Wissen und Wissenschaft
in toto ausmacht, behandelt.38 In diesem Verständnis rückt die Klärung
grundlegender epistemologischer Fragen in den Vordergrund, ganz im
Sinne der Kantischen Frage: „Was kann ich wissen?“: Es dreht sich
letztlich um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen mensch-
licher Erkenntnisfähigkeit überhaupt, um ein Wissen vom Wissen. Phi-
losophie setzt damit bei der Klärung dessen an, was die anderen Dis-
ziplinen schon vor und in aller wissenschaftlichen Betätigung implizit
oder explizit voraussetzen. Die Eule der Minerva beginnt hier ihren
Flug also schon vor dem Morgengrauen.
Eine alternative Möglichkeit entlang dieser Linie des Philosophiever-
ständnisses besteht darin, ihre Arbeit gerade dort beginnen zu lassen, wo
die anderen Disziplinen ihre Erkenntnisbemühungen mangels eigener
Kompetenzansprüche weitgehend einstellen: Philosophie hat dann die
Funktion, aus den fragmentierten Einzelerkenntnissen und -theorien der
verschiedenen Wissenschaften ein kohärentes Ganzes im Sinne einer
metadisziplinären Gesamtdeutung herauszudestillieren. Damit wird die
Philosophie letztlich zu einer „reaktiven Disziplin“ (J. Habermas), wel-
che die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu integrieren versucht.
Hier beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst nach Einbruch der
Abenddämmerung.
(b) Hinzu kommen die Erwartungshaltungen von politischer und gesell-
schaftlicher Seite, so etwa von Ministerien, die im Rahmen von Stu-
dienordnungen der Philosophie bestimmte Bildungsaufgaben zuschrei-
ben. Bildungspolitisch wird ihr dann z. B. die Vermittlung von
Schlüsselqualifikationen, wie etwa die Fähigkeit zu analytischem Den-
ken oder zu kritischer Argumentation zugewiesen; auch bei der Ver-
mittlung säkularer Werte, wie etwa der Menschen- und Bürgerrechte,
37
Vgl. Girndt 1996.
38
Vgl. Kambartel 1978.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 31
39
Vgl. zu diesen drei wirtschaftlichen Funktionen der Philosophie als Wissenschaft
Jansen 2001.
40
Vgl. hierzu die Überlegungen bei Malter 1988, bes. 32.
41
Die Geschichte des Begriffs „Nutzen“ ist noch nicht geschrieben worden. Schlag-
lichter, die auf einen ähnlichen, aber engeren Zusammenhang verweisen, liefert van
Ackeren 2005, vgl. bes. 53–64.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 33
die Frage nach dem Nutzen der Philosophie auf die Philosophie (und ihre
Geschichte) selbst, denn der Nutzen ist eine ihre zentralen Kategorien, die
sich auf sie selbst applizieren lässt.
Eine interdisziplinär orientierte, fachübergreifende Diskussion über die
Rolle der Philosophie lässt sich somit kaum führen, ohne dieser „Warum-
Frage“ nachhaltig auf den Grund zu gehen. Dabei bietet es sich – wie oben
dargestellt – an, die Überlegungen auf ein Begriffspaar zu konzentrieren,
das die verschiedenen Aspekte der „Warum“-Fragestellung umklammert:
Theorie und Praxis. Sowohl in der Philosophie als auch außerhalb ihrer
selbst sind dies eben zwei zentrale Kategorien, unter denen ihr Wirken
jederzeit betrachtet und bewertet worden ist – und auch immer noch wird.
Deshalb sollte man ihnen sowohl historisch als auch systematisch unter
folgenden Fragestellungen nachgehen:
Wie wurden diese beiden Begriffe für sich und im Verhältnis zueinan-
der in verschiedenen Phasen der Philosophie bestimmt – und wie fällt im
Vergleich dazu heute ihre Verortung aus? Dabei geht es in systematischer
Sicht auch darum, die Wahrnehmungen des heutigen Philosophiebetriebs
sowohl von innen als auch von außen (d. h. aus der Sicht anderer Disziplinen
und in der Perspektive politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher
Kräfte) zu bestimmen: Wird Philosophie überhaupt noch als eine aktuell
oder potenziell praktische Disziplin verstanden? Oder wird sie bloß noch als
eine auf Grund ihres unterstellten wirklichkeitsfremden oder weltvergesse-
nen Theoretisierens weitgehend verzichtbare „Elfenbeinturm“-Beschäfti-
gung wahrgenommen? Ist die Flucht in die „selige Apathie“ reiner, d. h.
zweck- und nutzloser Theorie nicht vielleicht sogar eine relativ „junge“
Strategie der Philosophie, die vorher über Jahrhunderte hinweg gerade ihren
praktischen Nutzen herausgestellt hatte? 42
Ausgehend von der Klärung dieser Fragen lässt sich dann auch im in-
terdisziplinären Gespräch mit Aussicht auf Erfolg thematisieren, wie sich
vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse die zukünftige Rolle
der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft gestalten kann und sollte.
Die nachfolgenden Texte des Bandes sind als ein Beitrag zu dieser für die
Philosophie zunehmend „überlebenswichtigen“ Debatte zu verstehen.
42
Vgl. hierzu von Müller 2004.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 35
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36 Marcel van Ackeren, Jörn Müller
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II.
Philosophische Positionen: Die Innenperspektive
Warum Philosophie?
Die Antwort Platons im Licht der Differenz
von Theorie und Praxis
Ada Neschke-Hentschke
Vorbemerkung
Die folgenden Zeilen wollen die Frage „Warum Philosophie?“ aus einem
anthropologischen Horizont heraus beantworten; denn Philosophie ist ein
eminent menschliches Spezifikum und lässt sich als solches nur in Hin-
blick auf das organische Wesen Mensch und nicht auf die körperlose res
cogitans als ein nur denkendes abstraktes Subjekt erkennen. Ausgang bil-
det die aristotelische Anthropologie, die im 20. Jahrhundert ein reiches
Echo gefunden hat.1 Sie dient jedoch nur der Vorbereitung, um den syste-
matischen Ort der Philosophie, der ihr „Warum“ erkennen lässt, aufzu-
zeigen. Die Hauptuntersuchung dagegen hat zum Ziel, die systematische
These vom Ort und „Warum der Philosophie“ mit Hilfe der wenig behan-
delten Anthropologie Platons historisch zu bekräftigen.2 In diesem Bereich
Platonischen Denkens geht es um den praktischen Philosophen, der Platon
vom Anfang bis zum Ende seiner Tätigkeit und gerade hier gewesen ist –
untrügliches Zeichen ist die Existenz der Nomoi.3 Es soll aber gezeigt wer-
den, dass ohne eine dialektische Ontologie, d.i. ohne das „echte“ Philoso-
phieren (to; gnhsivw~ filosofei`n, vgl. Politeia V, 473 d2; Phädrus 266 b2),
das praktische Denken nicht zum Ziel kommen kann –, dass echte Praxis
auf das Wissen und daher die Philosophie angewiesen ist.
1
Vgl. Gutschker 2002.
2
Dazu stützen wir uns ausschließlich auf die platonischen Texte in eigener Überset-
zung und Untersuchungen, die zum Thema beigetragen haben; auf eine kritische
Auseinandersetzung mit der Forschung ist aus Platzgründen verzichtet. Über deren
Stand informieren Erler 2007 und Horn/Müller/Söder 2009.
3
Vgl. Hentschke 1971.
40 Ada Neschke-Hentschke
4
Vgl. Arendt 1960, 18–23 (zu ihr Gutschker 2000, 143–183); Bubner 1976, 66–90.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 41
handlung“ werden: eujzwiva ti~ kai; eujpraxiva (EN I, 1098 b21–22). Es ist
für Aristoteles ausgeschlossen zu denken, die Natur habe den Menschen so
stiefmütterlich behandelt, dass sein Streben nach einem Bestzustand seiner
selbst nicht zur Erfüllung kommen könnte (vgl. EN I 1094 a18 ff.). Für eine
freundliche Natur spricht nämlich die besondere Ausstattung, die sie dem
Menschen mitgegeben hat, das sprachverfasste Denken (lovgo~, vgl. EN I,
1097 b23–1098 a20). Unter dem „Denken“ begreift Aristoteles die Fähig-
keit, Gegenstände und Prozesse, innere wie die eigene Seele und äußere wie
die Welt, durch innere Repräsentation gegenwärtig und dank des Logos
definieren und beurteilen zu können. Mit dieser Ausstattung versehen befin-
det sich der Mensch, im Unterschied zum Tier, in der Lage, nicht dem Ge-
schehen des Lebens, das ihn umfängt und ihm gleichsam im Rücken steht,
ausgeliefert zu sein, sondern es als Ganzes denkend vor sich stellen und
analysieren zu können, um dann erkenntnisgeleitet dem Lebensgeschehen
die gewünschte Richtung zu geben. Diese, das eigene Leben thematisie-
rende Leistung des Denkens steht nun genau vor den Aufgaben, deren
Lösung Aristoteles der Praktischen Philosophie zuweist und die er selbst in
seinen Schriften zu diesem Thema, in seinen Ethik- und Politiktraktaten,
entwickelt hat. Bezeichnenderweise gibt er diesem Bereich seines Den-
kens, neben den Namen der praktischen oder politischen Philosophie, auch
den der „Philosophie der menschlichen Dinge“ (EN X, 1181 b15).
An der aristotelischen Durchführung der Philosophie des Menschen,
die durch seine beschreibende Anthropologie in De anima ergänzt werden
muss, zeigt sich mit Deutlichkeit, dass die Lebenspraxis eine eminent „the-
oretische“ Problematik enthält, der nur mit größtem Scharfsinn und breiter
intellektueller Phantasie zu Leibe gerückt werden kann. Denn es geht um
die grundlegende Frage, was denn das Gute, nach dem alle Lebewesen
streben, im Falle des Menschen sei. Hier steht das Denken vor einem opa-
ken Gegenstand, dem es nur dank so großer analytischer Kraft, wie sie
Aristoteles an den Tag legt, gerecht werden kann. Jedoch darf die entwi-
ckelte Technizität des aristotelischen Diskurses nicht vergessen machen,
dass Aristoteles eine Grundfrage jedes menschlichen Lebens stellt, die
Frage, was ist der Gegenstand und das Ziel des bzw. meines Lebens? Aris-
toteles formuliert diese Frage im Sinne seiner Auffassung des Lebens als
Tätigkeitsform der Praxis, indem er nach deren inneren Objekt (e[[rgon)
fragt, das den spezifischen Lebensvollzug des Menschen ausmacht (vgl.
EN I, 1097 b24–1098 a20). Dem Menschen ist dieses Objekt nicht immer
schon vorgegeben. Deshalb spricht die moderne Anthropologie seit Herder
von der Weltoffenheit des Menschen.5 Letztere bildet den Boden, auf wel-
5
Vgl. Gehlen 1993, 33 ff., Lorenz 1973, 291 ff.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 43
chem die Frage nach dem Objekt und Ziel des Lebens gedeihen kann. So-
mit ist es die Offenheit als die Eigenart des menschlichen Lebens, welche
den Ursprung der Philosophie ausmacht; denn das Leben ist dem Men-
schen gegeben, seine Bestimmung und Gestaltung sind ihm aufgegeben.
Die Reflexion auf diese Aufgabe bildet den systematischen Ursprung der
Philosophie. Dieser fällt jedoch nicht zufällig, sondern, dank der gleich
bleibenden offenen Natur des Menschen, auch notwendig mit ihrem histo-
rischen Anfang zusammen. Blickt man nämlich tief in die Vergangenheit
unserer Kultur hinab, wurde anfänglich solche Reflexion narrativ durch
den Mythos geleistet. Seit dessen Ablösung durch das argumentierende
Denken bei Sokrates gibt sich diese Reflexion den Namen der „Liebe zur
Weisheit“ – filo-sofiva (Apol. 28 e5).6
Wenn die Frage „Warum Philosophie?“ einen Zweifel über die Exis-
tenzberechtigung der Philosophie ausdrücken soll, so kann einen solchen
nur hegen, wer sich nicht darüber im klaren ist, dass der spezifische
menschliche Lebensvollzug von keiner „teleonomen“7 Natur festgelegt ist,
sondern dem Menschen selber in die Hand gegeben wird, und dass seine
Bewältigung nur durch Reflexion erfolgen kann. Solche Reflexion, wenn
sie lebensgestaltend wirken soll, muss sich eines konsequenten Denkens
bedienen. Von einem solchen liefert Aristoteles ein bis heute nachden-
kenswertes Modell. Doch hat er, wie zu zeigen ist, dieses Modell nicht
erfunden. Vielmehr erweist er sich als genialer Erbe eines Vermächtnisses,
das ihm Platon übergeben hatte.
6
„filosofou`ntav me dei` zh`n.“
7
Vgl. Lorenz 1973, 93–115.
8
„oJ dæ ajnexevtasto~ bivo~ ouj biwtov~.“
44 Ada Neschke-Hentschke
9
Zu dieser Bewegung vgl. Fischer 2008, Neschke/Sepp 2008.
10
Vgl. Gehlen 1993, 29–65.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 45
„Dazu soll man alles übrige Wissen links liegen lassen und sich nur um das
Wissen kümmern, wenn immer man imstande ist, kennen zu lernen und heraus-
zufinden, wer uns fähig und kundig macht, das gute und das schlechte Leben
zu unterscheiden und jeweils das bessere aus den zur Wahl stehenden aus-
zuwählen.“ (Politeia X, 618 c1–c6).
Alles menschliche Leben muss diesen Worten zufolge als selbst gewähltes
und daher zu verantwortendes verstanden werden; daher ist nur ein Gegen-
stand des Wissens (mavqhma) wert, gewusst zu sein: was das Leben gut und
schlecht macht. Wie der Fortgang des Textes zeigt, besteht dieses Wissen in
der Frage des Dialektikers nach dem Wesen und Wert der Dinge (tiv ejstin;)
in dem Maße, als sie die moralische Person bewahren oder vernichten (vgl.
Politeia X, 618 c6–619 b1). Von dieser moralischen Person handelte das
ganze vorangehende Gespräch, da Platon die Frage nach der „Gerechtig-
keit“ gestellt und sie durch eine Beschreibung der gerechten Seele beant-
11
Die „Entdeckung der Person“ (Kobusch 2 1997, 23 ff.) findet nicht erst im Mittelal-
ter, sondern in Platons ‚Seelenlehre‘ statt, da Platon unter dem Sachverhalt der ver-
nunftbegabten Seele bereits einen Begriff der moralischen Person entwickelt.
46 Ada Neschke-Hentschke
wortet hatte; diese Gerechtigkeit äußert sich als innere und äußere Praxis.12
Allerdings entwickelt Platon in diesem Kontext die Frage des Handelns
nicht weiter; er fragt nicht, inwiefern die gerechte Person bei ihrem Han-
deln des Wissens bedarf bzw. auf welches Wissen sie sich stützt.
Um diese Verbindung aus ihren philosophischen Gründen zu verstehen,
muss man an das Platonische Textcorpus drei Fragen stellen. Zunächst, was
versteht Platon unter Handlung (pra`xi~) und inwiefern ist der Handlung
selber ein Wissen eingeschrieben? Weiterhin, um welche Form des Wissens
handelt es sich dabei? Und schließlich, da das Leben Handeln und Wissen
umgreift, warum handelt denn der Mensch überhaupt, statt sich auf die
Verfolgung des Wissens zu konzentrieren – wie es Aristoteles in der Form
des „Theoretischen Bios“ empfohlen und Plotin praktiziert hat?13
12
Politeia IV 443 c9–c10: „[…] hJ dikaiosuvnh ajllæ ouj peri; th;n e[xw pra`xin tw`n
auJtou` ajlla; peri; th;n ejntó~ [sc. pra`xin].“ [Hervorh. A. N.-H.]
13
Platon gilt vielen Interpreten fälschlich als Vertreter des „theoretischen Lebens“
(ausdrücklich Festugière 1935).
14
Vgl. EN III, 1113 a 15–1113 b2. Aristoteles diskutiert hier die im Gorgias vertrete-
ne Handlungstheorie kritisch. Es muss sich um eine innerakademische Diskussion
handeln.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 47
handelt es sich um das Ziel, den eigenen Körper gesund zu erhalten. Platon
unterscheidet somit den Inhalt einer Handlung von ihrer Zielsetzung. Doch
vertritt Platon darüber hinaus die These, dass alle Zielsetzungen auf ein
einziges Prinzip zurückgeführt werden können, dem er den Namen eines
„Guten“ (ajgaqovvn) zuweist; ist doch die Gesundheit in unserem Beispiel das
„Gute des Körpers“. Wir gehen spazieren, um gesund zu bleiben; denn wir
halten die Gesundheit für ein bestimmtes Gutes (ajgaqovn ti), nämlich das
Gut des Körpers. Allgemein gesprochen ist daher Handlung zweckrationa-
les Verhalten, dem als Orientierungspunkt und Motor der Wille zugrunde
liegt, sich ein „Gutes“ zu verschaffen.
In diesem „Guten“ aber verbirgt sich ein kapitales Problem, wie aus
dem Gespräch mit dem Sophisten Polos im Dialog Gorgias (vgl. 468 e 6–
481 b5) deutlich wird. In der Tat, wie dieses handlungsorientierende Gute
zu bestimmen sei, bildet den Anlass der Konflikte zwischen den Men-
schen; denn was jeder als Gutes annimmt, das prägt auch sein Verhalten
und bewirkt, dass, im Falle eines Gegensatzes, die Partner feindlich auf-
einander prallen. Im Gorgias entsteht gemäß der platonischen Dialogregie
der Konflikt um das Gute dadurch, dass das Gute des rhetorisch-poli-
tischen und des philosophischen Bios miteinander in Konflikt geraten.
Dieser Konflikt geht von der Tatsache aus, dass Platons Interpretation
zufolge allem Handeln das Urteil zugrunde liegt, das im Handeln anzustre-
bende Ziel sei ein „Gut“. Der Konflikt entsteht aus der inhaltlichen Be-
stimmung dieses jeweiligen Guten, letztere wiederum aus der Verfahrens-
weise, wie das Urteil zustande kam: kann es doch auf Grund bloßer
Meinung (dovxa) gefällt werden – letztere gründet sich ausschließlich auf
Erfahrung oder Routine (ejmpeiriva) – oder die Frucht echten Wissens sein
(ejpisthvmh/tevcnh, vgl. Gorgias 463 b4; 465 a3). Wer das echte Wissen
besitzt, kann, wie Platon in der Politeia lehrt,15 bloß „Gemeintes“ als nur
Scheinhaftes (doxastovn, Politeia V, 497 d8) verwerfen und tut dies in der
Regel um der Wahrheit willen, also aus einem epistemischen Grund. Im
Fall des Guten aber gibt es, wie Platon im gleichen Dialog betont, einen
tieferen Grund, das nur scheinbare Gute zu verwerfen:
„Bei der Gerechtigkeit und den sittlichen Werten dürften wohl viele Menschen
den blossen Schein wählen; im Fall der Güter begnügt sich niemand damit,
den blossen Schein zu besitzen, sondern sucht nach dem Sein.“ (Politeia VI,
505 d5–d9)16
15
Vgl. Politeia V, 475 d1–478 e6.
16
„[…] wJ~ divkaia me;n kai; kala; polloi; a]n e{loionto ta; dokou`nta, […] ajgaqa; de;
oujdeni; e[ti ajrkei` ta; dokou`nta kta`sqai, ajlla; ta; o[nta zhtou`sin […].“
48 Ada Neschke-Hentschke
Wenn es also wahr ist, dass der Mensch im Handeln immer nur ein echtes
Gutes anstrebt, dann muss, sokratisch-platonischer Auffassung zufolge, die
Wahrheitsfrage gestellt und ein Wissen vom Guten gesucht werden. An-
dernfalls kommt das Handeln nicht zu seinem inneren Ziel. In der Tat, die
paradoxe These, welche der platonische Sokrates im Gorgias vertritt, be-
hauptet, dass der Mensch ohne das Wissen des echten Guten gar nicht Herr
seiner Handlungen ist; im strengen Sinne handelt er gar nicht, da sein Wil-
le (bouvlhsi~), der dieses Gute will, nicht das erreicht, was er bezweckt hat.
Um überhaupt im echten Sinne handeln zu können, muss das Gute gewusst
werden.17
Handlung im prägnanten Sinn besitzt somit einen intrinsischen Wis-
sens- bzw. Theoriebedarf. Platon benutzt zwar den Ausdruck der Theorie in
diesem Kontext nicht, wohl aber den des Fachwissens (tevcnh) und des „Re-
de-Stehen-Könnens“ (lovgon e[cein tinov~), d. h. die Kraft des Arguments, ein
Wissen auch darzulegen (vgl. Gorgias 464 b2–465 a7). Das Wissen der
Handlungsziele muss ein Wissen vom Guten sein; sein Wissenscharakter
zeigt sich daran, dass der Wissende sein Wissen begründen kann. Um wel-
ches „Gute“ es dabei dem platonischen Sokrates im Dialog Gorgias geht,
wird erst später im Verlauf der Diskussion deutlich, wo Sokrates das Argu-
ment des echten Guten entwickelt: Es handelt sich hier allein um das echte
Gutsein der eigenen Person, d. h. um das, was Platon den „Bestzustand“
(ajrethv) der Seele nennt (vgl. Gorgias 505 b4–d4). Dabei wird umfassende-
re Theorie, dass der Name des Guten das jeweilige Gutsein aller realen Din-
ge bezeichnen kann, im Gorgias nur angedeutet (vgl. 503 d5–504 d4).18
Der Theoriebedarf der Handlung erschöpft sich jedoch nicht in der
Frage nach dem gewussten und begründbaren Ziel. Wie es im Dialog Kra-
tylos unterstrichen wird, besitzt auch die materiale Verwirklichung des
Ziels in einer bestimmten, inhaltlich fixierten Weise ihre ihr eigentümliche
Richtigkeit, m.a.W. die instrumentell-materielle Seite des Handelns unter-
liegt der immanenten Sachgerechtigkeit der Dinge. Man kann z. B. falsch
und richtig schneiden, sowohl im konkreten Sinne – so das Beispiel im
Kratylos (387 a1–b1) – wie im übertragenen Sinn – so im Phädrus (265
e1–266 b1); denn der Philosoph als Dialektiker kann die objektive Ord-
nung der Dinge in ihren tatsächlichen Einteilungen „trennend“ reproduzie-
ren oder diese Ordnung verfälschen.
Daraus geht hervor, dass im platonischen Begriff der Praxis zwei Stel-
len enthalten sind, die deren Bedarf an Wissen bzw. Theorie anzeigen: Wer
auf menschliche Weise handeln will, muss sich Rechenschaft über seine
17
Eine Rekonstruktion des Arguments in Neschke-Hentschke 2007, 151–168.
18
Dazu Krämer 1959, 57–83.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 49
19
Im Kratylos 424 c5–425 b7 wird dieses Verfahren am Namensgeber illustriert.
20
Vgl. Gorgias 503 e5 ff. Zur Struktur der Demiurgie Neschke-Hentschke 2000, IX–
XXVII.
21
Zur Konstruktion der Nomoi zuletzt Schöpsdau 1994, 93–109.
22
Vollendet gerecht und gut ist erst der, welcher andere gerecht und gut macht, vgl.
Politeia V, 500 d4–d9; Nomoi V, 730 d6–e3: „[…] kai; o{sa a[lla ajgaqav ti~
kevkthtai dunata; mh; movnon aujto;n e[cein kai; a[lloi~ metadidovnai.“ [Hervorh.
A. N.-H.]
50 Ada Neschke-Hentschke
23
Zum Sein als „Kraft“ – duvnami~ – vgl. Sophistes 247 e4: „oJrivzein ta; o[nta wJ~ e[sti
oujk a[llo ti plh;n duvnami~.“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 51
24
Zur Analogie als Rationalitätstyp Gloy 1999.
25
Vgl. in Politeia VII, 505 a7–511 d5 die Analogien in Sonnen- und Liniengleichnis,
in Politeia II–IV die Analogie Seele/Polis.
26
Vgl. Bärthlein 1957 und Tornau 2007. Noch bei Plotin sind homonyme Verhältnisse
analoge Verhältnisse.
52 Ada Neschke-Hentschke
27
„qeo;~ oujdamh`/ oujdamw`~ a[diko~ ajllæ wJ~ oi|ovn te dikaiovtato~.“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 53
ge, die das Prädikat „gut“ tragen können (vgl. Politeia VII, 534 b8–d1).
Diese Zusammenschau verdankt sich, wie gezeigt, der Analogie der ver-
schiedenen Dinge innerhalb eines Seinsbereiches, aber auch der Seinsbe-
reiche untereinander, wie die Analogie der drei Vernunftwesen zeigte. Das
Gute an sich, rein zu denken, muss dann von allen Anwendungen absehen,
muss ohne das „Gute eines jeweiligen Wesens (oujsiva)“ zu sein, als ein
eigenes Wesen, als Idee, gedacht werden. Dazu bedarf es einer besonderen
Anstrengung des Denkens, da hier das die Wesensfrage stellende Denken
(tiv ejstin;) auch nach der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit fragt: Was
macht wesentlich Soseiendes (oujsiva) und sein Denken (noei`n) aus, was ist
deren „Grundlage“ (uJpovqesi~)? Der Weg zum „Guten selbst“ besteht dar-
in, das Denken auf eine Metaebene zu heben, die jenseits der Frage nach
dem Wesen des Besonderen liegt und doch dieses qua dessen Bedingung
zu begreifen vermag. Den aristotelischen Zeugnissen zu Platons inneraka-
demischen Lehren zufolge hat Platon in einem auf pythagoreischen Ge-
dankengut aufbauenden und wiederum analogischen Abstraktionsschritt
die Idee des Guten über die metaphysischen Zahlen gestellt und mit der
Grenze bzw. Einheit identifiziert, der er ein Gegenteil, das Schlechte und
das Viele, das als Unbegrenztes zwischen Gross und Klein schwankt, ge-
genübergestellt (vgl. Metaph. I, 987 b18 ff.).28 Das Gute bzw. Eine wurde
darüber hinaus abermals dank der Analogie29 mit dem göttlichen Geist in
Parallele gesetzt, d. h. dem Einen als Prinzip der metaphysischen Zahlen
korrespondiert der göttliche Geist in Bezug auf das Ganze der Ideenwelt;
dieser ist mit dem „die Ideen umfassenden vollendeten Lebewesen“ im
Timaios (30 c4–d1) gemeint, gehören doch Leben, Denken und Bewegung
zum Ganzen der Ideenordnung hinzu (vgl. Sophistes 248 e6–249 a2) und
ist doch das „Wesen“ des Denkens „Bewegung“ (vgl. Sophistes 248 e6;
Nomoi X, 898 a8).30 Da nun hinter das Gute bzw. Eine als Bedingung des
wesentlichen Soseins der Dinge nicht mehr zurückgegangen werden kann,
es also selber keiner Unterlage (uJJpovqesi~) bedarf, ist es ein ajn-upovqeton
und als solches Prinzip. Zugleich, da ihm das jeweilige Soseiende (e{n
e{kaston), die denkbare Idee, seine Erkennbarkeit und der es fassende
Geist seine Erkenntniskraft verdanken, ist das Gute zugleich Prinzip und
Medium der Erkenntnis. Erst im Rahmen einer so spekulativen Universal-
28
Zur Rekonstruktion vgl. Krämer 1959, 380 ff. und Gaiser 1963.
29
Vgl. Aristoteles, De an. I, 2, 404b21–b24: Analogisch entsprechend sind: „Einheit,
Zweiheit, Dreiheit, Vierheit“ mit „Punkt, Linie, Fläche, Körper“ mit: „Geist, Er-
kenntnis, Meinung und Wahrnehmung.“
30
Dem „Einem“ bzw. „Geist“ sind jeweils analogisch Vielheit bzw. Ungeistiges
gegenübergestellt. Damit entging Platon der Aporie des Parmenides und Sophistes,
dass ein absolut Eines nicht gedacht noch gesagt werden kann.
54 Ada Neschke-Hentschke
31
Deren philosophische Qualität ist gemäß den Maßstäben der aristotelisch-klassischen
Logik (vgl. dazu Gloy 1999, 218–224), die das Analogiedenken weitgehend verab-
schiedet hat, äußerst zweifelhaft. Zum aktuellen Analogiedenken ebd., 234–243.
32
„nou`n dæ` au\ cwri;ß yuch`~ aJduvnaton paragenevsqai tw/.“
33
Politeia, V, 491 d1–492 a5. Platon illustriert diese Plastizität des Menschen mittels
der Verfallsgeschichte der Verfassungen in Politeia VIII und IX. Die bekannte
eminente Bedeutung der frühkindlichen und späteren Erziehung in den platonischen
Staatsentwürfen resultiert aus dieser Anthropologie. Zur Erziehung bei Platon vgl.
Cleary 2003.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 55
34
Politeia IV, 443 d4
35
aJrmoniva: Politeia IV, 430 e4; Phädon 93 e6; Symposion 187 b4; Kratylos 405 d1;
Timaios 37 a1. sumfwniva: Nomoi II,653 b6, 649 e3, III 689 d5, d7. ejmmelhv~: Criti-
as 106 b4, 121 c1. ajnarmostiva: Phädon 93 e6; Politeia III, 401 a6. diafwniva (auch
ajmousiva): Nomoi III, 689 a7; 691 a7. plhmmevleia: Nomoi III, 689 b7; 691 a7.
Dank ihrer plastischen Aussagekraft wird musikalische Analogie bevorzugt in den
Nomoi gebraucht. Es gilt: Nomoi II, 653 b6: „au{th ejsq’ hJ sumfwniva sumpa`sa me;n
ajreth.v“ (III, 659 e3; III, 689 d5; d7) [Hervorh. A. N.-H.].
56 Ada Neschke-Hentschke
„[…] Was die Unkenntnis betrifft, inwiefern denn eigentlich das Gerechte und
Schöne gut sind, so werden die Bürger der Stadt keinen sehr wertvollen Wäch-
ter besitzen, der diese Unwissenheit besitzt […].“
„[…] Und erst dann wird die Stadt vollendet geordnet sein, wenn über sie ein
solcher Wächter die Aufsicht führt, der dieses Wissen besitzt (ejpisthvmwn).“
(Politeia VI, 506 a4–506 b1).39
36
„[…] pantavpasin e{na genovmenon ejk pollw`n.“ [Hervorh. A. N.-H.]
37
Vgl. Arends 1984.
38
„ejpei; o{ti ge hJ tou` ajgaqou` ijdeva mevgiston mavqhma, pollavkiß ajkhvkoa~, h|/ dh; kai;
divkaia kai; ta\lla proscrhsavmena crhvsima kai; wjfevlima givgnetai.“
39
„Oi\mai gou`n divkaia kai; kala; ajgnoouvmena oJph`/ pote ajgaqav ejstin, ouj pollou`
tino~ a[xion fuvlaka kekth`sqai a]n eJautw`n tovn tou`to ajgnoou`nta […]. Oujkou`n
hJmi`n hJ politeiva televw~ kekosmhvsetai ejpei; toiou`to~ auJth;n eJpiskoph`/ fuvlax oJ
touvtwn ejpisthvmwn […].“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 57
40
Noch die Gesetzeswächter der Nomoi werden in diesem Wissen geschult (vgl.
Nomoi XII, 964 b8–965 e8).
41
Zeuge ist auch die diesbezügliche Kritik des Aristoteles, vgl. EN I, 1095 a26–a28;
1096 b14–1097 a 15.
58 Ada Neschke-Hentschke
„Was eine jede Seele verfolgt und um dessen willen sie alles tut, wobei sie
vermutet, dass es etwas Bestimmtes sei, aber ohne Antwort bleibt und nicht
hinreichend erfassen kann, was sein Wesen ist noch sich auf eine feste Über-
zeugung stützen kann wie bei den anderen Dingen, mit der Folge, dass sie
auch bei den übrigen Dingen versäumt, was ihr heilsam wäre […]“ (Politeia
VI, 505 d11–e4).44
42
Vgl. oben, Teil I.1.
43
Vgl. oben, Teil I.3.
44
„o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei, ajpomanteuomevnh ti
ei\nai, ajporou`sa de; kai; oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejsti;n oujde; pivstei
crhvsasqaiv monivmw// oi|a/ kai; peri; ta\lla, dia; tou`to de; ajpotugcavnei kai; tw`n
a[llwn ei [ti o[felo~ h\n […].“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 59
Das Gute als der höchste Gegenstand, von dem der Mensch durch Lernen
ein Wissen erwerben kann (to; mevgiston mavqhma) ist, diesen Worten zufol-
ge, zugleich das allgemeine, das jeden Menschen treibende Ziel seiner
yuchv; letztere betreffend unterstreicht Platon, dass sie zwar von Natur auf
die Bahn des Guten gesetzt, dass ihr aber ein eingeborenes Wissen versagt
wurde, worin denn ihr Gutes besteht; der Mensch muss erst lernen, was
ihm frommt (o[felo~),45 was für ihn gut ist, indem er nach dem Wesen des
Guten (tiv pote ejsti;n to; ajgaqo;n;) fragt. Platons Aussage, dass die Frage
nach dem Guten dem Lebewesen Menschen grundsätzlich eingeschrieben
ist, zeigt, dass sie somit kein Privileg des Philosophen ist. So ist zu fragen,
woher denn diese Ausrichtung auf das Gute im Menschen herrührt und ob
sie an den Phänomenen nachweisbar ist.
Auf solche Phänomene macht nun die Seherin Diotima in Platons Sym-
posion den wissensdurstigen Sokrates aufmerksam; es geht ihr darum zu
beweisen, dass „ohne Einschränkung gilt, dass sich alle Menschen nach
dem Guten sehnen“ (Symposion 206 a3–a4).46 Daher führt ihre Erklärung,
im Unterschied zu der enigmatisch bleibenden Bemerkung des Sokrates
der Politeia, eine Stufe näher an die menschliche Natur heran; Diotima
nämlich weiß, was die Menschen dazu bringt, im Handeln etwas zu verfol-
gen (diwvkein, vgl. Politeia VI, 505 d11). Dahinter steht die Gewalt der
Sehnsucht, des e[rw~. Dieser Eros ist ein Dämon, ein Zwischenwesen, da er
zwischen dem bloß Menschlich/Sterblichen und Göttlich/Unsterblichen
vermittelt. Das bedeutet für den sterblichen Menschen, insofern er immer
vom Eros besessen ist, dass er über sich hinaus dank seines Gutwerdens an
der Unsterblichkeit teilhaben will (vgl. Symposion 211 d8–212 a7). Platon
verankert somit im Symposion das „Verfolgen eines Zieles“ (diwvkein), das
sich in vielfältigen Handlungen äußert, in einer die menschliche Seele
beherrschenden halb transzendenten Kraft, dem Eros. Von ihm heißt es:
„Für jede Begierde nach den Gütern und dem Glück ist für jeden Menschen der
Eros die Ursache, der größte und listige Dämon“ (Symposion 205 d2–d3).47
Von dieser Kraft werden, wie die lange Rede der Diotima zeigt, alle Men-
schen empirisch nachweisbar bewegt;48 sie differenzieren sich aber da-
durch, auf welche Weise sie ihre Sehnsucht zu erfüllen suchen.
45
Zur besonderen Bedeutung von o[felo~ vgl. die Analyse von Wieland 1984, 165 ff.
46
„ou{tw~ aJplou`n ejsti levgein o{ti oiJ a[nqrwpoi tajgaqou` ejrw`sin.“
47
„Pa`sa hJ tw`n ajgaqw`n ejpiqumiva kai; tou` eujdaimonei`n oJ mevgistov~ te kai; dolero;~
e[rw~ panti;.“
48
Symposion 207 a7–a9: „[…] oujk aijsqavnh/ wJ~ deinw`~ diativqentai ta; qhriva […].“
[Hervorh. A. N.-H.] Diotima belehrt Sokrates durch den empirischen Tiervergleich
über das Verhalten der Menschen.
60 Ada Neschke-Hentschke
49
Vgl. oben, Anm. 44: „o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei
[…].“
50
„[…] w{ste to; pa`n aujto; auJtw`/ sundedevsqai […].“
51
„ajgaqa; de; oujdeni; ajrkei` ta;; dokou`nta, ajlla;; ta;; o[nta zhtou`sin.“ [Hervorh. A. N.-H.]
52
Vgl. oben, Anm. 46: […] oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejstivn […].“[Hervorh.
A. N.-H.]
53
Politeia VI, 505 d8: kta`sqai; Symposion 206 a11–a12: „to; ajgaqo;n auJtw`/ ajei; ei\nai.“
[Hervorh. A. N.-H.]
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 61
c5–c7). Somit findet das Streben des lebendigen Wesens Mensch nicht
schon in der Erkenntnis des Guten seine Erfüllung, sondern erst dann,
wenn sich der Mensch dem erkannten höchsten Guten handelnd angegli-
chen hat. Letzteres besitzt die Glückseligkeit (eujdaimoniva, vgl. Symposion
205 a1–a8), ist es doch dank seiner überlegenen Macht, Gutes zu stiften,
dasjenige, dem die Glückseligkeit am meisten zukommt:[…] „to; eujdaimo-
nevstaton tou` o[nto~ […]“ (Politeia VII, 526 e3–e4).
Platons Erkenntnis- und Handlungslehre verbindet sich somit mit einer
beide umfassenden Konzeption des Lebewesens Mensch als einer Seh-
nens- und Strebensnatur, auf deren Grundlage allein die Frage nach dem
Ort und der Funktion der Theorie, d. h. der wahren Philosophie als Dialek-
tik und Erkenntnis des Guten, beantwortet werden kann und darf. Da diese
„Theorie“ keineswegs Selbstzweck ist, sondern im Dienst des Lebens
steht, um die rechte Lebenswahl zu treffen, heißt sie bei Platon nicht, wie
bei Aristoteles „Betrachtung“ (qewriva, vgl. EN I, 3, 1096 a4; Politik, VII,
14, 1333 a25), sondern frovnhsi~, nou`~ bzw. filosofiva: Klugheit, Ver-
nunft bzw. Streben nach Weisheit.54 Die Frage „Warum Philosophie?“
findet ihre Antwort darin, dass die Philosophie die Klugheit bzw. Weisheit
zu erwerben verhilft, die der Mensch bedarf, um die Glückseligkeit zu
erreichen, die zu erlangen dem Lebewesen Mensch dank seines Strebens
nach Selbstverwirklichung eingeschrieben ist. Philosophie hat somit die
Rolle der „Grammatik des Lebens“.55 Genau an diesen Zusammenhang
von Leben (yuchv, zwhv) Streben (e[rw~, o[rexi~) und Gutem (ajgaqovn, euj-
daimoniva) bei Platon konnte die praktische Philosophie des Aristoteles
anknüpfen. Wie eingangs gezeigt, hat Aristoteles es allerdings verstanden,
die Frage nach dem Guten des Menschen so zu stellen, dass bereits eine
Regionalontologie, die Philosophie vom Sein des Menschen, die Antwort
bereitstellen konnte.56
54
Platon gebraucht häufig das Verb qewrei`n zur Bezeichnung des Erkennens und
Betrachtens, jedoch weniger häufig das Verbalsubstantiv. Zur prioritären Verwen-
dung von frovnhsi~, nou`~ und filosofiva vgl. das Lexikon von des Places 21970
und den Index von Brandwood 1976.
55
Vgl. oben, Teil I.1.
56
Grundlage ist sein anderes Verständnis der Mathematik und des Einen (vgl. Aristo-
teles, Metaph. IX, 1052 a15–1052 b2).
62 Ada Neschke-Hentschke
Literatur
1. Quellen
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—, De anima, ed. W.D. Ross, Oxford 1956 (= De an.).
—, Politica, ed. W.D. Ross, Oxford 1962 (= Pol.).
—, Metaphysica, ed. W. Jaeger, Oxford 1957 (= Metaph.).
—, Fragmenta selecta, ed. W.D. Ross, Oxford 1955 (= Fragm.).
Kant, I., Über den Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für
die Praxis (1793), in: ders, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. v. W. Weischedel,
Darmstadt, 127–172.
Platon, Opera omnia, ed. J. Burnet, 5 Bde., Oxford 1900–1907.
—, Nomoi (Gesetze). Buch I–III. Übersetzung und Kommentar von K. Schöpsdau.
(Platon, Werke IX, 2, Göttingen 1994 (= Schöpsdau 1994).
2. Forschungsliteratur
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Bärthlein, K., 1957: Der Analogiebegriff bei den griechischen Mathematikern und bei
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Brandwood, L., 1976: A Word Index to Plato, Leeds.
Bubner, R., 1976: Handlung, Sprache und Vernunft, Frankfurt/M.
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Erler, M., 2007: Platon (Grundriss der Geschichte der Philosophie. Die Antike, Bd. 2/2),
Basel.
Festugière, A, 1935: Contemplation et vie contemplative selon Platon, Paris [21950].
Fischer, J., 2008: Philosophische Anthropologie, Freiburg.
Gaiser, K., 1963: Platons ungeschriebene Lehre, Stuttgart [21965].
Gehlen, A., 1993: Der Mensch, in: ders., Gesamtausgabe, Bd. 3/1, hg. v. K.S. Rehberg,
Frankfurt/M.
Gloy, K., 1999: Kalkulierte Absurdität – Die Logik des Analogiedenkens, in: dies.
(Hg.), Rationalitätstypen, Freiburg, 213–243.
Gutschker, T., 2002: Aristotelische Diskurse. Aristoteles in der politischen Philosophie
des 20. Jahrhunderts, Stuttgart.
Hentschke (=Neschke), A., 1971: Politik und Philosophie bei Platon und Aristoteles.
Frankfurt/M. [22004].
Horn, C./Müller, J./Söder, J. (Hg.), 2009: Platon-Handbuch. Leben-Werk-Wirkung,
Stuttgart.
Kobusch, T., 21997: Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und modernes
Menschenbild, Darmstadt.
Krämer, H.J., 1959: Arete bei Platon und Aristoteles. Zum Wesen und zur Geschichte
der platonischen Ontologie, Heidelberg.
Lorenz, K., 1973: Die Rückseite des Spiegels, München/Zürich.
Neschke, A./Sepp, H.R. (Hg.), 2008: Philosophische Anthropologie. Ursprünge und
Aufgaben, Nordhausen.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 63
Neschke-Hentschke, A., 2000: Der Platonische Timaios als Manifest der Platonischen
Demiurgie, in: A. Neschke-Hentschke (Hg.), Le Timée de Platon. Contributions à
l’histoire de sa réception/Platos Timaios. Beiträge zu seiner Rezeptionsgeschichte,
Leuven/Paris, IX–XXVII.
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die politische Theorie des Abendlandes, in: M. van Ackeren/O.F. Summerell (Hg.),
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Places, E. des, 1964: Platon. Œuvres complètes XIV: Lexique de la langue philosophi-
que et religieuse de Platon, 2 Bde., Paris [21970].
Tornau, C., 2007: Art. „Analogie“, in: C. Schäfer (Hg.), Platon-Lexikon, Darmstadt,
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Wieland, W., 1982: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen [21999].
Why Study Medieval Philosophy?
John Marenbon
1
I have deliberately kept the annotation sparse. For those wishing to investigate
further into the methodological questions about medieval philosophy, see Aertsen
and Speer 1998, 19–68; Cameron/Marenbon 2011; Flasch 1987; de Libera 1991,
2000; Marenbon 2000; Rosemann 1999 and, for references to the older literature,
Marenbon 1987, 214 f.
66 John Marenbon
which does not have such a connection, I shall use the description ‘anti-
quated philosophy’. Where past philosophy is not antiquated, no special
justification needs to be sought for studying it, because it clearly needs to
be studied as part of studying and practising contemporary, living phi-
losophy. By contrast, when it is antiquated, then studying it needs special
justification, beyond whatever justification there is for studying philoso-
phy itself.
Most historians of philosophy, and many philosophers themselves, will
object to the label ‘antiquated philosophy’. ‘Antiquated’ carries the impli-
cation of no longer being of value. A computer is antiquated when it can
no longer function with up-to-date programs, a custom is antiquated when
it serves no purpose in the modern world, but can philosophy be anti-
quated? Yet it is not a description that should be lightly dismissed. We
speak of ‘antiquated medicine’ and ‘antiquated physics’, and we do not
expect today’s doctors or physicists to devote professional time to them. If
there is a difference to be made in this respect between these subjects and
philosophy, it needs to be described and argued for. Indeed, this is pre-
cisely what is done by some of the justifications for studying antiquated
philosophy – they try to show that, in one way or another, even if philoso-
phy of the past lacks a connection with philosophy now, it remains valu-
able. The pejorative implication in the expression ‘antiquated philosophy’
is useful precisely because it points out the burden is on those who study it
to provide a justification of this sort or another.
It is easy to be lulled into a false security by the fact that even the most
analytical Department of Philosophy include in their undergraduate courses
a few great texts of philosophy from the past, including some that are,
arguably, antiquated. Since everyone agrees that such texts should be read,
there must be some reason to read them – so it is tempting to think. But
maybe they are there on the syllabuses just because no one has thought to
remove them, or because philosophers think, quite irrationally, that a show
of historical knowledge gives weight to their ideas.
For those whose special interest is medieval philosophy, the need to
find a justification is particularly pressing, because so much of it is anti-
quated. Writers from the Middle Ages like Anselm, Aquinas and Scotus do
provide the points of departure for some parts of contemporary work in
philosophy of religion, and so there are a few aspects of their thinking that
are not antiquated – but just a few.
Here, then, are six types of justification for studying antiquated philoso-
phy. They certainly do not cover the whole range of possible justifications,
nor all the positions different writers take. But much of the debate about this
area relies on a version of one or another or a combination of these views –
Why Study Medieval Philosophy? 67
as, indeed, will a sixth type of justification, my own, which borrows some-
thing from most of these positions, but also offers something new.
not tied to the dualism of mind and body.” (Striker 1996, xiii2) But medie-
val non-dualist theories are so different from contemporary ones in their
basis – even with regard to where any distinction between mind and body
might be drawn – that it is hard to say how they can be used by philoso-
phers now; and they do not in fact seem to have been used. Anyway, are
new philosophical insights so difficult to come by that it makes sense to
learn some difficult ancient language, spend years searching around in
neglected – usually justly neglected texts – in the hope, one day, of un-
earthing an original thought that had been forgotten and might, in some
way, be of interest to philosophers now? Would it not be simpler just to sit
down and think about the contemporary problems?
2
As part of a brief but multi-faceted justification. Striker also mentions “epistemol-
ogy, where empiricism, at least in the Anglophone tradition, seems to have reached
the status of an obvious fact rather than a philosophical theory.” Here the sort of
contribution which Striker has in mind for antiquated philosophy seems not to be so
much directly providing ideas or arguments, but showing how a whole area can be
envisaged otherwise – on which, see below, (f) Making the Familiar Strange.
Why Study Medieval Philosophy? 69
Kenny is putting with characteristic force and clarity a view that is often
held, though not fully articulated, as a reason for studying some philosophy
3
See Normore 1990. I am following Normore roughly here, dropping his idiosyn-
cratic labeling of the philosopher’s approach to past philosophy as ‘doxology’.
70 John Marenbon
of the past. Kenny combines the idea, as an exponent of this ‘Great Minds’
view is well advised to do, with a rejection of progress in philosophy in
any normal sense of the word. There are non-philosophical matters, such as
truths in the natural sciences, where we now know more than people in the
past, but ‘philosophical progress is largely progress in coming to terms
with, in understanding and interpreting, the thoughts of the great philoso-
phers of the past.’
Even if it is accepted, this line of justification does not justify studying
lots of what historians of philosophy (especially medieval philosophy) do
actually study – for instance, an anonymous commentary on Aristotle’s
Categories from the twelfth century, patched together from the teaching of
various uninspired, mediocre, imitative logicians, or the ruminations of an
uninspired disciple of Scotus. Moreover, the view that philosophical pro-
gress consists in a dialogue with past thinkers does not seem to reflect
accurately how work goes on in most of the specialized areas of analytic
philosophy, where so much of the debate concentrates on attacking, ex-
tending or qualifying the most recent contributions to it. True, texts by
philosophers of the past have often been the starting-points for these de-
bates, but then these texts are precisely those which are not labelled here as
‘antiquated’. (Very few of them are from the Middle Ages).
Although this view is not, then, entirely credible, it contains two very
interesting suggestions. First, it proposes a somewhat aesthetic approach to
philosophy, in which a work of philosophy is valued not because of the
number of conclusions it proposes that we are likely to find well-
established and wish to accept, but because of how well, how deeply and
broadly, it goes about the task of thinking philosophically. Secondly, this
view addresses itself, apparently, to philosophers, or would-be philoso-
phers, but it does not promise them direct answers to their questions or
contributions to their discussions from the philosophers of the past. Rather,
it says that people need to read the great philosophers (who are few, and
most of them antiquated) in order to see how philosophy is done at its best.
Studying philosophy from the past makes a contribution to doing philoso-
phy now, but an indirect, second-order one.
This view has something in common with the last one; both see works
of philosophy in quasi-aesthetic terms. In one way, this approach has much
to recommend it. The Republic or the Meditations, we might want to say,
are books everyone should read, just as they should read the Iliad and King
Lear, or they will remain ignorant of what human culture has achieved. But
this parallel is not quite exact. The discrepancy is brought out if one asks
whether, by the same token, everyone should read Aristotle’s Prior Ana-
lytics or Scotus’s Ordinatio: as philosophy, these works are equally great
or greater, but they could never have a large public, because of their com-
plexity and technicality. If their value is to be considered aesthetic, it will
be more like that of the aesthetic value of a mathematical proof, evident
only to the eyes of highly-trained practitioners of a specialized discipline.
4
See Williams 1978, 1993, 2006.
5
In a planned general essay on the history of philosophy, for which Williams made
notes, he would have written, according to his friend Adrian Moore (Williams
2006, ix–x): “The contribution [of the history of philosophy to philosophy J.M.]
was not, as philosophers in the analytic tradition used to think, to indicate voices of
yore which could be heard as participating in contemporary debates: precisely not.
It was to indicate voices of yore which could not be heard as participating in con-
temporary debates, and which thereby called into question whatever assumptions
made contemporary debates possible.”
72 John Marenbon
become like another voice in the contemporary debate. Indeed, it goes fur-
ther and sets aside the view that antiquated philosophy helps philosophers to
answer first-order philosophical questions; rather, it is of the greatest value
in answering a central second-order question. It shares with the ‘Historical’
Approach the view that the past of philosophy needs to be approached and
appreciated as history, but it rejects the idea that it is part of an ordinary
intellectual historian’s purview. Philosophy is, indeed, included within the
field discussed by intellectual historians, but, writing for a general audience,
and usually themselves without specialized philosophical training, they can
only treat philosophy from the outside; just as they might treat music, but
can do so only externally, and not in the manner of an historian of music,
writing for a technically qualified audience. There is, then, a division of
labour, but not the one envisaged in the Division of Labour view. The intel-
lectual historians do just that – intellectual history, even when they are writ-
ing about philosophy. But, because they are not entering into specialized
philosophical questions, they have the great advantage of being able to write
for the wide audience of those with a general interest in history and intellec-
tual matters. The historian of philosophy is, no less than them, a genuine
historian, of philosophy. But his or her audience will be much smaller.
The Great Philosophers approach can also fit with this conception of
the history of philosophy, since one of the reasons for philosophers to read
the classics is to understand the nature of their subject. But, more impor-
tantly, it and the Philosophy as Literature approach can provide a valuable
alternative way of justifying antiquated philosophy to a different and
wider audience. The aesthetic justification for reading antiquated philoso-
phy is a way of claiming a role for some outstanding texts of philosophy
from the past within the broad run of cultural life, whereas my justifica-
tion is for history of philosophy conceived as a specialized discipline
within philosophy.
There are, then, three different, justifiable ways of studying antiquated
philosophy:
(i) As a specialized historical discipline within philosophy, designed to
help philosophers understand their subject better and answer second-
order questions about it.
(ii) Within more widely accessible intellectual history, along with other
intellectual phenomena, by intellectual historians.
(iii) As part of general education, in the form of reading and introductory
commentary of great philosophical texts from the past.
My special concern is with (i), which alone grounds the history of philoso-
phy as an individual academic discipline. But (i), (ii) and (iii) are inter-
connected. Research and writing in (i) fructifies work in (ii) and (iii).
74 John Marenbon
rist and the Last Judgement. As a result, a great deal of the discussion will
fall outside the range of even a broad-minded philosopher’s interests.
Such an objection does not take account, however, of the complexity
of the relations between a historian and his or her subject-matter on the one
hand, and audience on the other. All history writing is partial: historians
cannot but reflect their own interests and framework of ideas, and the audi-
ence and purpose for which they are writing, in choosing their evidence
and interpreting it.6 Each account aims to be true, but there are many dif-
ferent true accounts of the same area to be written. Historians of philoso-
phy are writing for philosophers, and so it is their duty to focus on those
areas of the material which are of present philosophical interest (even
though the antiquated texts will rarely discuss exactly the questions now at
issue). They are, then, justified in studying works like Aquinas’s Summa
theologiae or Scotus’s Ordinatio, which are written as theology, and
choosing just those parts of philosophical interest, although they certainly
need to give enough attention to the theological and other context to be
able fully to understand the author’s train of thought.
The links between medieval philosophy and religion might be taken,
however, in a quite different sense. To some Christians (the case seems
different, for various reasons, for Muslims and Jews with regard to their
traditions of medieval philosophy) studying the philosophy of medieval
Christian Europe is not in need of the sort of justification I have been try-
ing to make for antiquated philosophy in general, because it, rather than
any of the more recent schools of philosophy, seems to provide a sophisti-
cated and, at least in large part rational, way of thinking which supports
Christian doctrine.
Believers would be ill-advised to use medieval philosophy for this pur-
pose. In the Middle Ages (and, in fact, for a much longer period) there
existed a widely-held set of presuppositions, metaphysical and moral,
which made it seem plausible that many (though not all) aspects of Chris-
tian doctrine could be defended by philosophical reasoning as important
general truths about the world. These presuppositions are no longer gener-
ally accepted, and without them the philosophical arguments by which
earlier thinkers bolstered Christianity are usually found to fail. Religious
believers can, indeed, turn to various areas of contemporary philosophy to
find well-considered, serious arguments to show that their outlook is no
less rational than that of those who reject religious belief. But antiquated
philosophy is a very weak ally for them in a present battle.
6
For a beautiful exposition of a theory along these lines, which has greatly influ-
enced my thinking, see Williams 2002, 233–269.
76 John Marenbon
The idea of a Middle Ages, as is well known, was introduced into history by
Renaissance writers who wished to separate themselves from their immedi-
ate past and so strengthen their links with Antiquity. The early historians of
philosophy, to some extent at least, followed this period division, and it had
become fully established by the time of nineteenth-century historians of
philosophy, such as Victor Cousin and Barthélémy Hauréau. Neo-scholas-
ticism gave an added reason to consider medieval philosophy as a discrete
period. The influence of neo-scholasticism passed, and styles of treating the
history of philosophy changed, but the label ‘medieval philosophy’, and the
idea that there it names a distinct subject-area constituted by philosophy
from the eighth century (with perhaps the addition of some earlier Christian
authors such as Augustine and Boethius) to c. 1500 (or perhaps later: see
below), has persisted.7 Publishers ask for Histories of Medieval Philosophy;
jobs are advertised in the area and universities run courses in medieval phi-
losophy (or, more often, candidates are turned away from jobs because they
are perceived as medievalists and, in the UK almost universally, universities
do not run a course precisely on the area which is considered medieval phi-
losophy). Specialists in philosophy from c. 500/600/700–c. 1500 have made
for themselves an apparently well-identified enclave, and all together in it
they stand – or, more usually, fall.
But why accept the standard chronological division as a useful one?
Even if in political, economic and cultural history, the Middle Ages forms
a coherent unit of study, rather than a convenient administrative division –
and that is far from certain, there is no reason to expect that the history of
philosophy should best be divided up in the same way. Moreover, once the
accepted division begins to be scrutinized, it starts to seem less clear and
coherent than at first sight. As regards the Latin tradition: if we begin with
Augustine, at the end of the fourth century, on what grounds should we
exclude Proclus, Simplicius and the other late ancient Greek pagan writ-
ers? And, at the other end, it is usual to include thinkers like Suárez
(d. 1617, well into Descartes’ lifetime) within medieval philosophy, whilst
excluding, for instance, Ficino (d. 1499). And, although regarded from the
perspective of Latin tradition, the Arabic tradition is often considered to
end with Averroes, from a more properly Islamic perspective there is no
reason not to include Mulla Sadra (d. 1636) or indeed later seventeenth and
7
On the historiography of medieval philosophy, see Imbach/Maierù 1991 and, espe-
cially for neo-scholasticism in the nineteenth century, Inglis 1998.
Why Study Medieval Philosophy? 77
Literature
Aertsen, J.A./Speer, A. (eds.), 1998: Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea
Mediaevalia 26), Berlin/New York.
Cameron, M./Marenbon, J. (eds.), 2011: Methods and Methodologies in Medieval
Logic (Investigating Medieval Philosophy 2), Leiden/Boston.
Flasch, K., 1987: Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt.
8
I have tried to give a little more detail to these arguments in Marenbon 2007: see
esp. 2–4, 249 ff.
9
I am very grateful to Marcel van Ackeren for his very valuable advice and criticism
when I was composing this paper for the conference.
78 John Marenbon
Imbach, R./Maierù, A. (eds.), 1991: Gli studi di filosofia medievale fra otto e nove-
cento. Contributo a un bilancio storiografico (Studi e testi 179), Rome.
Inglis, J., 1998: Spheres of Philosophical Inquiry and the Historiography of Medieval
Philosophy (Brill’s Studies in Intellectual History 81), Leiden/Boston/Cologne.
Kenny, A.J., 1993: Aquinas on Mind, London/New York.
de Libera, A., 2000: Archéologie et reconstruction. Sur la méthode en histoire de la phi-
losophie médiévale, in: Un siècle de philosophie, 1900–2000 (Folio essais), Paris,
552–587.
Marenbon, J., 1987: Later Medieval Philosophy (1150–1350). An Introduction, Lon-
don/New York.
—, 2000: What is medieval philosophy?, in: J. Marenbon, Aristotelian Logic, Platon-
ism, and the Context of Early Medieval Philosophy in the West, Ashgate, 128–140.
—, 2007: Medieval Philosophy. An historical and philosophical introduction, Lon-
don/New York.
Rosemann, P. W., 1999: Understanding Scholastic Thought with Foucault, New York.
Striker, G., 1996: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, Cambridge.
Williams, B.A., 1978: Descartes. The project of pure enquiry, Harmondsworth.
—, 1993: Shame and Necessity (Sather Classical Lectures 57), Berkeley/Los Angeles.
—, 2002: Truth and Truthfulness, Princeton/New Jersey.
—, 2006: The Sense of the Past. Essays in the history of philosophy, ed. by M. Burn-
yeat, Princeton/New Jersey/Oxford.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit?
Ludwig Siep
I.
Seit vielen Jahren halte ich Vorlesungen über die praktische Philosophie
der Neuzeit in mehreren Folgen.1 Darin werden die zentralen Texte der
Ethik und der politischen Philosophie (Rechtsphilosophie, Staatsphiloso-
phie etc.) von Hobbes – nach einem Vorspiel mit der Gegenüberstellung
von Thomas und Machiavelli – über viele Stationen bis ins 19. Jahrhundert
interpretiert, kritisiert und auch auf gegenwärtige Fragestellungen bezogen.
Natürlich hält man Vorlesungen nicht nur für die Studenten, sondern auch,
um in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten voranzukommen. Wa-
rum halte ich es für wichtig, diese Texte zu interpretieren und zu verstehen,
die Studenten damit vertraut zu machen und Beiträge für die wissenschaft-
liche und öffentliche „community“ zu schreiben? Wie rechtfertige ich das
nicht nur vor dem „Steuerzahler“, sondern auch vor der wissenschaftlichen
Öffentlichkeit (wie in diesem Buch), aber auch vor mir selber? Rechtferti-
gung gibt es ja nicht nur, wie man heute oft verkürzend sagt, vor anderen
und der Öffentlichkeit, sondern auch vor sich selbst. Warum also quäle ich
mich mit Kommentaren? Warum befrage ich Texte des 17.–19. Jahrhun-
derts unter aktuellen Gesichtspunkten wie Menschenrechten, soziale Ge-
rechtigkeit, Gewaltenteilung, gerechtfertigter Krieg etc.? Solche Fragen zu
stellen, ist nicht nur „Gewissenserforschung“ (möchte ich etwa nur gerne
zu schönen Vortragsreisen eingeladen werden, ein sicheres Gehalt be-
kommen, anerkannt werden?), sondern auch Teil des sinnvollen oder er-
füllten Lebens (lohnt sich das für mich und andere? Gibt es nichts Wichti-
geres zu tun?).
1
Die Probleme historischer und philosophiehistorischer Epocheneinteilungen können
hier nicht erörtert werden. In der Philosophiegeschichte gilt heute in der Regel das
17. Jahrhundert als Beginn der neuzeitlichen Philosophie. „René Descartes ist in der
Tat der wahre Anfänger der modernen Philosophie“, heißt es schon in Hegels Vor-
lesungen zur Geschichte der Philosophie (Hegel 1976b). Hegel lässt den Abschnitt
Neuere Philosophie allerdings mit einem Abschnitt über Bacon und Böhme begin-
nen. Weltgeschichtlich ist für ihn die Reformation der Beginn der Neuzeit.
80 Ludwig Siep
2
Trotz der Überlieferungsprobleme und der neuplatonischen Überarbeitung durch
Jamblichos gibt der Protreptikos eine Ahnung von der Rechtfertigung der Philoso-
phie bei Aristoteles und im Platonismus. Vgl. Aristoteles 1969. Zu den Problemen
der Rekonstruktion vgl. Flashar 1983, 279 f. Ein Beispiel der Hochschätzung für die
vita contemplativa in der Renaissance – trotz Rehabilitierung des „bürgerlichen Le-
bens“ – ist Palmieri 1982.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 81
3
D. h. vor der Industrialisierung im Oikos, dem Haus als Produktionsstätte und Ort
der Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses, die später getrennt wurden.
82 Ludwig Siep
sche Philosophie. Selbst wenn wir aus ihrer Geschichte gar nichts für heu-
tige Probleme lernen könnten, wäre schon das Verständnis für die Ent-
wicklung des Denkens in sich wertvoll und sinnvoll. Das gilt im Übrigen
natürlich für alle Wissenschaften, in denen es so etwas wie „Grundlagen-
forschung“ gibt, deren Nutzen für Technik, Medizin, wirtschaftliche Pro-
duktion, Geldverdienen oder Regierungskunst zweifelhaft oder unent-
schieden ist. Das Interesse an Wissenschaft als Quelle von Einsichten und
Ausübung einer spezifisch menschlichen Kompetenz hat nicht nachgelas-
sen und wird nach wie vor anerkannt. Ein Beispiel aus einem ganz aktuel-
len Anwendungskontext: Bei der Debatte um das Stammzellgesetz hat der
Deutsche Bundestag den Erwerb von Grundlagenwissen über die frühen
Entwicklungsphasen menschlichen Lebens als einen so hochrangigen
Zweck anerkannt, dass er gegen eine nicht ganz auszuschließende indirekte
Schwächung des Lebensschutzes abgewogen werden kann.4 Eine solche
mögliche Schwächung wurde im Import von Zellen nach Deutschland
gesehen, die in anderen Ländern legal durch Zerstörung befruchteter Eizel-
len hergestellt worden waren – ein Import, der im Prinzip verboten ist, aber
doch ausnahmsweise erlaubt werden kann, unter anderem eben zum Er-
werb hochrangigen Grundlagenwissens.
Obwohl ich also die von „praktischem“ und sozialem Nutzen unab-
hängige Erkenntnis auch für die praktische Philosophie für gerechtfertigt
halte – was hier natürlich nur angedeutet wurde – hat die Beschäftigung
mit ihr auch einen Nutzen für das Wissen von und den Umgang mit heuti-
gen sozialen Normen und Institutionen. Eine gewisse Art von „Orientie-
rungshilfe“ in solchen Fragen ist ihr nicht abzusprechen. Das müsste natür-
lich noch viel genauer erörtert werden.5
Gerade wegen dieses „Praxisbezuges“ liegt in der Beschäftigung mit
der Geschichte der praktischen Philosophie ein besonderes Problem bzw.
eine Gefahr: Man kann die vergangenen Texte, Argumente und Intentionen
unzulässig aktualisieren oder aber übermäßig historisieren. Es ist ein wenig
wie bei der Interpretation des Verhaltens von Tieren. Da man sich nicht „in
sie hineinversetzen“ kann, deutet man es entweder voreilig anthropomorph
(die „Moral“ der Tiere, neuerdings sogar bis zu angeblich religiösen oder
prä-religiösen Einstellungen) oder im Gegenteil als gänzlich menschenfern
4
Forschungsarbeiten an importierten embryonalen Stammzellen dürfen nach § 5, 1
des Stammzellgesetzes (StZG) nur ausnahmsweise durchgeführt werden, wenn sie
„hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im
Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kennt-
nisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfah-
ren zur Anwendung bei Menschen dienen.“ (BGBl 2002, 2278)
5
Vgl. zur Orientierung durch Philosophie auch Mohr 2008.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 83
6
Vgl. Luhmann 1997, Teil I, 289 (Anm. 179); Teil II, 893 f., 1025.
7
Vgl. Borkenau 1934, Macpherson 1967.
84 Ludwig Siep
II.
(A) Die neuzeitliche praktische Philosophie geht davon aus, dass jede
Freiheitsbeschränkung, vor allem die eines Staates mit zwangsbewehrten
Gesetzen, vor jedem Individuum gerechtfertigt werden muss. Es genügt
nicht zu sagen, dass die Herrschaft der Monarchen von Gott kommt (ob-
wohl sich Philosophen wie Robert Filmer8 auch dafür gute Argumente
ausgedacht haben), oder dass die Hierarchie der sozialen Stände einer gott-
gewollten Naturordnung entspricht. Zumindest seit Hobbes (1579–1688)
gilt, dass jeder Mensch die gleichen Ansprüche gegenüber seinen Mitmen-
schen hat und dass man ihm zeigen muss, dass es gute Gründe für ihn gibt,
auf einige davon zugunsten einer Gesellschaftsordnung zu verzichten. Das
bedeutet keine faktische Gründung oder Neugründung des Staates, sondern
die Angabe von Gründen dafür, dass es richtig ist, im Staat zu leben – und
natürlich, in welchem Staat. Bei Hobbes ist das entscheidende Argument
für das Leben im Staat, dass es einem erspart, ständig mit gewaltsamen
Übergriffen anderer rechnen und für deren Verhinderung vorsorgen zu
müssen. Wenn dazu jeder ständig gezwungen wird, bleibt das soziale Le-
8
Filmers Patriarcha, die zwischen 1645 und 1650 entstand, wurde seit Mitte der
1670er Jahre zur Verteidigung der paternalistisch-absolutistischen Monarchie der
Stuarts, vor allem des katholischen Zweiges, benutzt. Bekanntlich ist sie der An-
griffspunkt für die „liberalen“ Theorien von Locke, Sidney und anderen. Vgl. So-
merville 1991 und Laslett 1970, 67–78.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 85
ben auf einem nahezu „tierisch“ unzivilisierten Niveau – nicht einmal die-
jenige Arbeitsteilung ist möglich, die nach Aristoteles schon im Dorf er-
reicht werden kann.
Wenn man also zu einer solchen Rechteübertragung nicht gegen gute
Gründe gezwungen werden muss, kann man sie sich in Form eines Vertra-
ges vorstellen. Es geschieht den Vertragspartnern dabei kein Unrecht (vo-
lenti non fit injuria). Allerdings – und hier liegt der entscheidende Punkt
der Weiterentwicklung, aber auch der Streit der Hobbes-Interpreten – kann
man vom Ausgangspunkt eines an Freiheit, Selbsterhaltung und angeneh-
mem Leben interessierten Individuums aus eigentlich nicht sagen, dass es
auf alle seine Rechte verzichten würde. Hobbes spricht daher in einigen
Versionen seiner Theorie, vor allem im Leviathan9, auch von Rechten, auf
die man im Staatsvertrag nicht verzichten könne.
Allerdings gibt es eine Reihe von Ambiguitäten in Hobbes’ Gedanken-
gang. Zum einen betreffen seine Beispiele fast ausschließlich die Lebens-
erhaltung, und da ist das Nicht-verpflichtet-Sein zugleich ein Nicht-Können,
denn das Streben nach Selbsterhaltung beherrscht den Menschen wie die
Schwerkraft die natürlichen Körper.10 Darüber hinaus reicht nur das Recht
auf Verweigerung belastender Aussagen gegen sich selber und das Recht,
Verträge mit dem Staat einzuklagen, wenn man sich auf bestehende Geset-
ze berufen kann. Hobbes fährt aber an dieser Stelle fort:
„Fordert oder beschlagnahmt der Staat aber etwas auf Grund seiner Gewalt, so
ist dies kein gesetzmäßiges Verfahren, denn alles, was er kraft seiner Gewalt
tut, geschieht auf Grund der Autorität jedes Untertanen, und wer ein Verfahren
gegen den Souverän in Gang setzt, setzt es folglich gegen sich selbst in Gang.“
(Hobbes 1984, 170 f.)
Der Grund für diese Überlegung ist Hobbes’ Argument, durch den Gesell-
schaftsvertrag werde der Souverän von den Vertragsschließenden zu allen
künftigen Handlungen autorisiert, er sei dabei Sachwalter des Willens aller.
Diese universale Autorisierung, die jeder dem Souverän im Staatsvertrag
erteilt, macht nicht nur jedes positive Gesetz, sondern auch jeden außerge-
setzlichen Akt zum eigenen Willen jedes Bürgers. Der Souverän kann sich
also rechtens seinen eigenen Gesetzen jederzeit entziehen. Bei der Beru-
fung auf solche Klagerechte haben wir es also – ähnlich wie bei Hobbes’
rudimentärem Widerstandsrecht, von dem noch die Rede sein wird – allen-
falls mit einem für die Gültigkeit der positiven Normen folgenlosen Kon-
9
Skinner 2008, 110.
10
Auch da ist Hobbes nicht ganz konsequent, weil man im Kampf um Ehre auch sein
Leben riskieren kann.
86 Ludwig Siep
11
Locke 2007, 203f., 232–240, 308–310.
12
Vgl. Spinoza 1994, Kap. 20. Spinozas weitgehende Gleichsetzung von Recht und
Macht hindert ihn aber daran, daraus Abwehrrechte gegen eine mögliche staatliche
Übermacht abzuleiten. Zur Theorie der Grundrechte bei Locke vgl. Laukötter/Siep
2010.
13
„Die wahre und heilbringende Religion liegt in der inneren Gewissheit des Urteils,
ohne die nichts für Gott annehmbar sein kann.“ (Locke 1996, 15) Zum grundrecht-
lichen Status der Religionsfreiheit vgl. Locke 2007, § 209.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 87
Eine außerstaatliche Autorität lässt Locke aber zu, nämlich die göttli-
che. Sie ist der Richter bei Konflikten zwischen den Bürgern und den
staatlichen Gewalten, vor allem der Exekutive, aber u. U. auch der ihr
übergeordneten Legislative. Bei dauerhaften, verbreiteten und schweren
Eingriffen in die Grundrechte der Bürger ohne Aussicht auf eine verfas-
sungsmäßige Hilfe ist die Anrufung des göttlichen Richters im Wider-
standskampf gerechtfertigt. An die Stelle des Papstes tritt also das (protes-
tantische) Gewissen und sein „appeal to heaven“.
Dass Locke den göttlichen Richter wieder in Anspruch nehmen kann,14
liegt an seiner philosophisch begründeten Gottesidee. Bei der Skizze seines
Gottesbeweises greift er dabei auf den cartesischen Ansatz der Evidenz aus
der subjektiven Reflexion (Selbstbewusstsein, Gewissen) zurück. Die un-
bezweifelbare, aber nicht selbst hervorgebrachte endliche Subjektivität
erfordert einen unendlichen geistigen Urheber, denn aus Materie kann
Denken nicht entstehen. Diesem Urheber ist der Mensch zu eigen, sonst
aber niemandem außer sich selbst. Zur Selbstverfügung gehört das grund-
sätzlich „rechtlich Meine“, die Grundrechte auf Leben und körperliche
Integrität, Freiheit des Gewissens und der religiösen Überzeugung sowie
das mit den eigenen Kräften ohne Schädigung anderer Erworbene (Eigen-
tum im engeren Sinne).
Lockes Konzeption des zum Schutz dieser Rechte notwendigen und
durch sie legitimierbaren Staates schließt anders als bei Hobbes Gewalten-
teilung, Primat der Legislative, Mehrheitsprinzip und eben das Recht zum
Widerstand gegen schwere Verletzungen der Grundrechte ein. Das „demo-
kratische“ Element der Volkssouveränität und der Mehrheitsherrschaft ist
freilich bei Spinoza deutlicher entwickelt. Mehrheitsherrschaft ist für Spi-
noza dem Zustand der natürlichen Freiheit am nächsten und führt durch die
gemeinsame Beratung und die Marginalisierung extremer Auffassungen in
ihr auch zu besseren Resultaten. Das Widerstandsrecht ist bei Spinoza aber
in hobbesscher Tradition „unterentwickelt“.15
14
Damit soll nicht impliziert sein, dass Hobbes Atheist war – eine unter den Zeitge-
nossen und in der Forschung bis heute umstrittene Frage. Aber Gott als Urheber des
Naturrechts kann bei Hobbes nicht wie bei Locke gegen das Recht des Staates zur
Geltung gebracht („angerufen“) werden.
15
Auch für Spinoza gibt es kein Natur- oder Gewohnheitsrecht, das eine Berufung
gegen den Souverän rechtfertigte. Zwar hat der Staat neben der Gewaltlosigkeit
die Freiheit zum Zweck (Spinoza 1994, 301), und die Unterdrückung wird zu sei-
ner Schwächung führen. Spinoza trennt aber scharf die erlaubte Meinungsäuße-
rung vom verbotenen Aufruf zum Widerstand oder widergesetzlichen Handlungen
(ebd. 302 f.).
88 Ludwig Siep
„Dies ist denn auch die allgemeine Praxis und der allgemeine Grundsatz der
Menschen. Keine Nation, die Mittel der Abwehr besaß, hat je das grausame
Wüten eines Tyrannen ertragen, oder ist wegen ihres Widerstandes getadelt
worden […] und nur die gewaltsamste Verdrehung des gesunden Menschen-
verstandes kann uns dazu führen, sie zu verdammen […]. Die Regierung ist
nur eine menschliche Erfindung zum Besten der Gesellschaft. Wo die Tyran-
nei des Herrschenden dies Interesse ausschaltet, da zerstört sie auch die natür-
liche Verpflichtung zum Gehorsam.“ (Hume 1978, 304 f.)
Man muss also nicht erst Gott anrufen, sondern es genügt die hinreichend
weit verbreitete Überzeugung der schwerwiegenden und anders nicht ab-
zuwehrenden Eingriffe in die Rechte und grundlegenden Interessen der
Menschen.
Die deutsche Gesetzgebung hat an diese Überzeugung bekanntlich erst
im Jahre 1968 angeknüpft und den Notstandsparagraphen 29, 4 ins Grund-
gesetz eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu be-
seitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere
Abhilfe unmöglich ist.“ Es ist klar, dass dies ein besonderes Recht ist,
dessen Anwendungsfall nicht im Vorhinein genau zu bestimmen ist und
dessen Durchsetzung ein Staat in einer Verfassungskrise oder Revolution
nicht garantieren kann. Aber zum einen kann es durchaus Rechtsfolgen
haben, weil es die dadurch gerechtfertigten widergesetzlichen Handlungen
der (späteren) staatlichen Pflicht zur Strafverfolgung entzieht.16 Zum ande-
ren ist auch ein Recht von Bedeutung, über dessen Anwendung letztlich
16
Vgl. dazu K.-P. Sommermanns Kommentar zu Art. 20,4. (Sommermann 2005,
Rdn. 339, (S. 144) sowie 331 u. 332 (Verweis auf höchstrichterliche Urteile)). Vgl.
auch Murswiek 2009 Rdn. 173, S. 834: „Das Recht zum Widerstand hat die Wir-
kung, andernfalls verbotenes Verhalten zu rechtfertigen.“ (mit Verweis auf Isensee
1969, 87 ff.)
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 89
Es ist auch die deutsche philosophische Tradition, die an dieser Enge mit-
gewirkt hat.18 Auch Kant hat an der Hobbesschen Tradition festgehalten,
dass ein staatlich sanktionierter Rechtszustand jeder Art von Bürgerkrieg
vorzuziehen sei und für das Urteil über die Tyrannis keine rechtmäßige
Instanz denkbar sei („Quis judicabit?“). Er begründet diese Position mit
einem Widerspruch im Begriff eines vom rechtsetzenden Souverän autori-
sierten Rechtes gegen ihn selber. Gegen eine einmal etablierte Rechtsord-
nung ist kein Widerstand denkbar:
„Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es also keinen recht-
mäßigen Widerstand des Volkes; denn nur durch Unterwerfung unter seinen
allgemein=gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich.“
(Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 320)
Weder ein einzelner noch das ganze Volk können sich dagegen auf das
Naturrecht oder das Gewissen berufen:
17
Vgl. GG, Art. 19.
18
Vgl. Mandt 1974.
19
Dass „Kants Widerstandsverbot ausdrücklich auch angesichts extremster Rechts-
verstöße durch die herrschende Autorität Geltung beansprucht“, betont zu Recht
und mit vielen Belegen Zotta 2000, 221.
90 Ludwig Siep
Für den einzelnen Bürger gilt das ebenso, denn da der „Herrscher im Staat
gegen den Unterthan lauter Rechte“, aber „keine (Zwangs)Pflichten“ hat,
darf dieser auch den Handlungen des „Regenten“ gegen die Gesetze „kei-
nen Widerstand entgegensetzen“. (ebd., 319) Schließlich steht auch einer
Staatsgewalt wie etwa dem Parlament, ein solches Recht nicht zu, denn es
kann
„selbst in der Constitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt
im Staat möglich machte, sich im Fall der Übertretung der Constitutional-
gesetze durch den obersten Befehlshaber ihm zu widersetzen, mithin ihn
einzuschränken“ (ebd.).
Für Kant ist ein Zustand, in dem die staatliche Autorität nicht uneinge-
schränkt respektiert wird,20 nicht wie für Hobbes einfach ein Übel, sondern
widervernünftig, weil die Vernunft schlechthin das Leben unter gemein-
samen willkür-beschränkenden Gesetzen fordert. Aber zum einen ist die
Frage, ob solche rationalistischen Ja/Nein-Entscheidungen zwischen Herr-
schaft des Rechts und Herrschaft der privaten Willkür den seit der Antike
diskutierten Fällen der Tyrannis wirklich gerecht werden – zumal im Lich-
te des Staatstotalitarismus und -terrorismus des 20. Jahrhunderts.21 Und
zum anderen ist es selbst innerhalb des Kantischen Denkens nicht grund-
sätzlich zwingend, nicht nur die staatliche Rechtsordnung generell, sondern
20
Das heißt nicht, dass eine theoretische Kritik ohne Absicht auf Widerstand („werk-
tätig vernünfteln“, Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 318) bei Kant nicht zuläs-
sig wäre. Sie ist von Philosophen als „freien Rechtslehrern“ (Kant, Der Streit der
Fakultäten, AA VII, 89) sogar gefordert, wie Kant in verschiedenen Schriften (vgl.
Kant, Zum ewigen Frieden, AA VII, 368 f.; Kant, Was ist Aufklärung, AA VIII,
37 f.) entwickelt. Dass er dabei allerdings kaum an Öffentlichkeit im modernen Sin-
ne denkt, zeigt die Bemerkung im Streit der Fakultäten, nach der die „Stimme“ der
Philosophen „nicht vertraulich an das Volk (welches davon und von ihren Schriften
wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet“ und
dieser „ihr rechtliches Bedürfnis zu beherzigen angefleht wird“ (Kant, Der Streit
der Fakultäten, AA VII, 89).
21
Die Versuche, das NS-Regime als einen rechtlichen Naturzustand zu klassifizieren,
gegen den das kantische Widerstandsverbot nicht greife, widerlegt treffend Zotta
2000, 218–221. Wohl gibt es bei Kant ein Recht und eine Pflicht, unsittliche Befeh-
le des Staates nicht auszuführen („was […] dem inneren Moralischen widerstreite“)
(Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 371), vgl. Kant, Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 99 Anm., sowie Henrich 1967, 25 ff. Dass
gegen den Zwang des Staates, des eigenen oder eines fremden, zu radikal unsittli-
chen Handlungen auch ein Recht zum Widerstand oder zum Verteidigungskrieg zu
rechtfertigen wäre, scheint Kant – vor dem Zeitalter des Totalitarismus – aber of-
fenbar noch undenkbar.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 91
22
Vgl. Kants Äußerungen zum Naturrecht bzw. zum angeborenen Recht in der Einlei-
tung in die Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 f.
23
Zur Neuplatonischen Vereinigungsphilosophie bei Hegel vgl. Henrich 1971; Jamme
1983.
24
Der Ausdruck „kranker Staat“ bezieht sich möglicherweise auf eine Stelle bei Groti-
us: „Ein kranker Körper bleibt immer ein Körper und ein Staat bleibt ein Staat, auch
wenn er schwer erkrankt ist“ (Grotius 1950, 440). Damit will Grotius die völkerrecht-
liche Verantwortung auch ungerechter oder tyrannischer Staaten festhalten. Er zitiert
im gleichen Abschnitt aber auch Aristides und Aristoteles, nach denen ein ungesetz-
licher Staat „aufhöre“ bzw. „untergehe“. Vgl. Aristoteles 2005 (1309 b 22 ff.), wo die
Parallele zum menschlichen Körper ja gerade vor der „Abweichung ins Übermaß“
warnen soll. Vom Recht auch „verunarteter“ bzw. „mit großen Mängeln und groben
Fehlern“ versehener Verfassungen spricht dagegen auch Kant (vgl. Metaphysik der
Sitten, AA, VI, 372 u. 353. Vgl. dazu auch Zotta 2000, 221).
92 Ludwig Siep
(B) Mein zweites Beispiel für die Relevanz der praktischen Philosophie der
Neuzeit für Gegenwartsprobleme betrifft die Theorie des gerechten Krie-
ges. Dabei geht es bekanntlich nicht um „heilige“ Kriege oder solche um
der Verwirklichung der vollkommenen Gerechtigkeit, sondern um Gründe,
unter denen Kriege als geringeres Übel (minus malum) und letztes Mittel
(ultima ratio) zur Erhaltung der Rechte der Menschen und Völker gerecht-
fertigt werden können.29 Seit dem Ende der großen Staatenkriege und dem
Zuwachs neuer Formen „asymmetrischer Kriege“, von Befreiungskriegen
25
Vgl. Siep 2008, 427–431.
26
Vgl. Schmidt am Busch/Zurn 2009.
27
Vgl. dazu Siep 2009.
28
Vgl. dazu in Bezug auf Hegel Siep 2010.
29
Zur Kontroverse über die Theorie des gerechten Krieges in der neueren Philosophie
vgl. auch Merker 2003. Skeptisch zur Gegenwartsrelevanz der Theorie des gerecht-
fertigten Krieges Kleemeier 2003.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 93
über humanitäre Interventionen bis zum „Krieg gegen den Terror“, wird
sichtbar, dass die ältere Tradition des Nachdenkens über die Rechtferti-
gung von Kriegen in mancher Hinsicht „hochaktuell“ ist. Das liegt auch
daran, dass der Begriff des Krieges seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts zunehmend auf die Kriege zwischen souveränen Staaten einge-
schränkt wurde. Deren Verrechtlichung hat zwischen dem Westfälischen
Frieden von 1648 und den völkerrechtlichen Gewaltverboten der Vereinten
Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg sicher erhebliche Fortschritte ge-
macht – wenngleich die Kriege selber durch die moderne Waffentechnik
an Schrecken und Opferzahl ständig zugenommen haben.30
Der ältere Begriff des Krieges, lat. bellum, ist deutlich umfassender als
der eines Krieges zwischen Staaten, der durch legitimierte Armeen ausge-
führt wird.31 Schon Hobbes’ Begriff des „bellum omnium“ im Naturzustand
(der für ihn zwischen den Völkern andauert) meint nicht nur gewaltsame
Auseinandersetzungen, sondern generell die ständige Gewaltbereitschaft
(„Kalter Krieg“). Hugo Grotius unterscheidet Kriege zwischen Staaten
(bellum publicum) und zwischen Privatleuten untereinander (bellum priva-
tum). Staaten können aber auch mit privaten Individuen und Gruppen, z. B.
Räuberbanden, in Konflikten stehen, die Krieg (bellum) genannt werden.
Die beiden in der Gegenwart besonders diskutierten Fälle, die humanitäre
Intervention32 in souveränen Staaten und die Abwehr von Anschlägen vom
fremden Staatsgebiet aus, gehören für ihn zum Krieg und können u. U.
gerechtfertigt sein.
Eingriffe zum Schutz der anderen sind nach Grotius nicht nur für Ver-
wandte und Landsleute geboten, denn „wenn andere Bande fehlen, so ge-
nügt die gemeinsame Menschennatur“ (Grotius 1950, 130). Dieses „Recht,
die menschliche Gesellschaft durch Strafen zu schützen“, ist durch die
Einrichtung der Staaten von den Individuen auf diese übergegangen. Es
verleiht den Staaten bzw. ihren legitimen Oberhäuptern das Recht, „nicht
nur wegen des gegen sie und ihre Untertanen begangenen Unrechts […],
sondern auch wegen Taten, die eigentlich nicht sie selber treffen, aber in
30
Völkerrechtler konstatieren eine Entwicklung vom Verbot des Angriffskriegs zum
allgemeinen Gewaltverbot, das allerdings keineswegs einschränkungslos gültig ist
(vgl. Bothe 2007, 592–612). Vorreiter in der Entwicklung waren vor allem seit dem
19. Jh. die Kodifizierungen des jus in bello (vgl. ebd., 629). Vgl. dazu auch Kleemeier
2003, die aber von einer Unvereinbarkeit des jus ad bellum und des jus in bello im ge-
genwärtigen Völkerrecht ausgeht (bes. 26 f.).
31
Zur Geschichte philosophischer Theorien des Krieges vgl. auch Kleemeier 2002.
32
Zur philosophischen Diskussion des Problems der humanitären Intervention vgl.
auch Hinsch/Janssen 2006, sowie Schmücker 2005. Kritisch zum Begriff „humani-
täre Intervention“ Quante 2003, 8.
94 Ludwig Siep
„Da jedoch die Staaten es nicht zu gestatten pflegen, dass der andere Staat be-
waffnet in ihr Gebiet zur Vollstreckung solcher Strafen einrückt, dies auch be-
denklich ist, so folgt, dass der Staat, in dem der Verbrecher sich aufhält, nach
erlangter Kenntnis entweder selbst auf Verlangen ihn angemessen strafen oder
ihn dem verletzten Staat zur Entscheidung überlassen muss“ (ebd., 368 f.).
33
So der Titel einer von einer UN-Arbeitsgruppe ausgearbeiteten und vom Sicher-
heitsrat informell gebilligten Stellungnahme zur Verpflichtung, Opfer von Tyrannei
in fremden Staaten zu schützen. Vgl. International Commission on Intervention and
State Sovereignty 2001.
34
Vgl. dazu Hinsch/Janssen 2006.
35
Vgl. Grotius 1950, 408. Vgl. dazu jetzt Laukötter 2010.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 95
36
Vgl. die UN-Sicherheitsratsresolution 1378.
96 Ludwig Siep
37
Vgl. Rousseaus Auszug und Kritik des „Projet de paix perpetuelle“ des Abbé de St.
Pierre (Rousseau 1985), sowie Kant, Zum ewigen Frieden.
38
Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA, VI, 350: „Man kann einen solchen Verein
einiger (! LS) Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staaten-
kongreß nennen“. Vorbild ist die „Versammlung der Generalstaaten im Haag“ in
der ersten Hälfte des 18. Jh.s. Vgl. Pinzani 1999, Karakus/Siep 2006 sowie Hoesch
2012.
39
„Weil aber bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite
Landstriche die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden
Gliedes endlich unmöglich werden muss“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI,
350).
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 97
40
Kant lässt ja auch nach einem Krieg keinerlei Gerichtsverfahren über Kriegsschuld-
fragen zu, weil es keinen Richter oberhalb der Völker gibt (Kant, Metaphysik der
Sitten, AA, VI, 348 f.).
41
Vgl. dazu den 5. Präliminarartikel der Schrift Zum Ewigen Frieden, in dem Kant die
„Gesetzlosigkeit“ in einem anderen Staat im Blick hat. Diese stellt aber keine
Rechtsverletzung des ersteren dar und ein Eingriff ohne eine solche würde „die Auto-
nomie aller Staaten“ gefährden (Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 346).
98 Ludwig Siep
42
Vgl. Siep 2003, 17.
43
Man denke auch an den mehrdeutigen Sprachgebrauch deutscher Politiker im Um-
gang mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr (der allerdings wohl auch ver-
sicherungsrechtliche Gründe hat).
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 99
III.
Die beiden Beispiele sollten zeigen, dass die Beschäftigung mit der Ge-
schichte der praktischen Philosophie neues Licht auf gegenwärtige Prob-
leme werfen kann, auch wenn die Verschiedenheit der Zeiten und ihrer
Denker nicht eingeebnet oder die Texte unzulässig aktualisiert werden. Die
Denkgeschichte zeigt, dass die Probleme der Gegenwart oft durch Eng-
pässe des Denkens verschärft werden, bei deren Überwindung nicht nur
Visionen neuer Horizonte, sondern auch Erinnerungen an vergangene
Konstellationen helfen können. Vor den Zukunftsvisionen hat die prob-
lemorientierte und systematisch interessierte Erinnerung an die Vergan-
genheit zwei Vorzüge: Zum einen klärt sie über unsere eigene Vorge-
schichte, die Gründe für unsere historische und geistige „Situation“ auf.
Zum anderen hat sie es mit Argumenten und Theorien zu tun, die in Bezug
auf wiederkehrende und bis heute nicht vollständig gelöste individuelle
und soziale Konflikte entwickelt wurden und einen Teil des Instrumentari-
ums unserer Problembearbeitungen darstellen. Wenn man der Sprache
unserer philosophischen Tradition nicht so viel an ideologischer und zeit-
bezogen funktionaler Beschränkung zusprechen mag wie systemtheoreti-
sche Kritiker der alteuropäischen Begrifflichkeit,44 dann muss man sich
zwar dessen bewusst sein, dass keine Philosophie über den Horizont ihrer
Zeit hinauskommen kann oder außerhalb des Flusses der Kulturgeschichte
steht. Aber man wird doch ein Potential an Argumenten, Begriffen und
Erfahrungen entdecken können, das in der einseitigen Fokussierung auf
zeitgenössische Theorien oft vergessen wird oder unausgeschöpft bleibt.
Die Menschheit hat, gerade in Europa, auch durch Renaissancen und
„Klassizismen“ immer wieder einen Sprung nach vorne getan. Das beweist
die Geschichte der Erneuerung des antiken Republikanismus mit seiner
politischen Mitbestimmung und Gemeinwohlorientierung. Sie hat aller-
dings auch mit der Idee der Rückgewinnung vergangener Größe oft falsche
Wege eingeschlagen, wie nicht nur, aber besonders, die deutsche Ge-
schichte seit der nationalen Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts und
44
Vgl. Anm. 6.
100 Ludwig Siep
45
Erhebliche Beschränkung der Bürgerrechte gibt es für Frauen und abhängig Arbei-
tende bekanntlich auch noch bei Kant und im Deutschen Idealismus. Vgl. dazu Siep
2007.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 101
46
Die oft skandalös unterlassene oder verspätete Rehabilitierung von Widerstands-
handlungen in Deutschland bezeugt, dass ein Widerstandsrecht nicht nur symbo-
lisch ist, sondern auch Rechtsfolgen haben kann bzw. sollte (vgl. Anm. 16).
47
Vgl. Siep 2005.
48
Zu einer Aktualisierung dieser Gedanken Lockes in Bezug auf das Problem der
internationalen Arzneimittelgerechtigkeit vgl. Risse 2008.
102 Ludwig Siep
Literatur
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Bundesgesetzblatt 2002, Teil I, Nr. 42, 2277–2280.
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auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ed. v. E. Moldenhauer u. K.M.
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(Theorie Werkausgabe), auf der Grundlage der Werke von 1832–1845 neu ediert v.
E. Moldenhauer u. K.M. Michel, Bd. 20, Frankfurt/M.
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erscheint in: Kant-Studien.
Hume, D., 1978: Ein Traktat über die menschliche Natur, Bd. 2, hg. v. R. Brandt, Ham-
burg.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 103
Ansgar Beckermann
Wer die Frage „Warum Philosophie?“ stellt, muss sich darüber im Klaren
sein, dass „Philosophie“ bis ca. 1800 in etwa dasselbe bedeutete wie „Wis-
senschaft“. Wenn in der Antike die Frage „Warum Philosophie?“ gestellt
wurde, bedeutete sie also: Welchen Sinn hat es, nach wissenschaftlicher
Erkenntnis über die Welt zu suchen? Auch das ist eine interessante Frage.
Die antike Skepsis kann man z. B. so verstehen, dass sie dem Versuch, auf
wissenschaftliche Weise Erkenntnis über die Welt zu gewinnen, grundsätz-
lich misstraut.1 Wenn wir aber heute nach Sinn und Zweck der Philosophie
fragen, ist offenbar anderes gemeint. Im 19. und 20. Jahrhundert haben
sich einzelne Bereiche dessen, was früher „Philosophie“ genannt wurde –
auch institutionell – verselbständigt. Zunächst betraf dies die Naturwissen-
schaften Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, deren Fragen zuvor
unter dem Etikett „philosophia naturalis“ behandelt wurden. Es folgten die
Geistes- und Sozialwissenschaften. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun-
derts wurde auch die Psychologie zur Einzelwissenschaft. Am Ende dieses
Prozesses gibt es nicht mehr die Wissenschaft (=Philosophie), sondern eine
Vielzahl von Einzelwissenschaften, die sich mit unterschiedlichen Aspek-
ten der Wirklichkeit befassen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Tat-
sache, dass um 1800 das Wort „Philosophie“ eine neue Bedeutung erhält.
Es ist nicht mehr gleichbedeutend mit „Wissenschaft“, sondern beginnt, für
ein Fach neben anderen zu stehen. Und damit stellt sich die Frage nach
dem Zweck und der Legitimation von Philosophie neu: Brauchen wir ne-
ben Mathematik und den empirischen Wissenschaften noch eine andere
Art der rationalen Erkenntnisgewinnung? Gibt es Erkenntnisse, die nicht
mit mathematischen oder empirisch-wissenschaftlichen Mitteln gewonnen
werden können? Hat die Philosophie neben den etablierten Wissenschaften
eine eigene Legitimation?
Spätestens gegen Ende der frühen Neuzeit hat sich die Auffassung
durchgesetzt, dass sich Philosophie – oder vielleicht besser: Metaphysik –
von den anderen Wissenschaften (außer der Mathematik) dadurch unter-
1
Vgl. Schupp 2003, 378f.
106 Ansgar Beckermann
Substanz der Welt bilden einfache Gegenstände, die auf verschiedene Wei-
sen miteinander verbunden sein können. Mögliche Verbindungen sind
mögliche Sachverhalte. Verbindungen, die tatsächlich bestehen – bestehen-
de Sachverhalte –, sind Tatsachen. „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsa-
chen […].“ (Tractatus 1.1), „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte
ist die Welt.“ (ebd., 2.04). Wie kann man über diese Welt sprechen? Offen-
bar, so Wittgenstein, nur, indem man sie abbildet. Gegenstände werden
durch Namen bezeichnet, und ein möglicher Sachverhalt – eine mögliche
Verbindung von Gegenständen – wird sprachlich dadurch ausgedrückt, dass
man diese Namen auf genau dieselbe Weise verbindet, in der die Gegen-
stände im Sachverhalt verbunden sind. Sätze, die auf diese Weise einen
möglichen Sachverhalt ausdrücken, nennt Wittgenstein „Elementarsätze“.
Sie sind wahr, wenn der Sachverhalt, den sie ausdrücken, besteht, falsch,
wenn er nicht besteht. Elementarsätze können mit Hilfe von wahrheitsfunk-
tionalen Satzoperatoren – letzten Endes genügt sogar einer (der Scheffer-
Strich) – zu komplexen Sätzen zusammengefügt werden. Aber außer Ele-
mentarsätzen und komplexen Sätzen gibt es keine anderen sinnvollen Sätze.
Sie machen die Gesamtheit aller sinnvollen Sätze aus. Damit ist klar, dass
es neben den empirischen Wissenschaften keinen eigenen Bereich der Phi-
losophie geben kann. Denn jeder Elementarsatz kann falsch sein. Es gibt
also keine a priori wahren Sätze – außer Tautologien und Kontradiktionen;
und diese Grenzfälle komplexer Sätze sind keine sinnvollen, sondern sinn-
lose Sätze, da sie nichts über die Welt sagen. Die Position Wittgensteins ist
letztlich also noch radikaler als die Humes. Für ihn gibt es nicht nur keine
a priori wahren Aussagen über die Welt. Vielmehr sind in seinen Augen
alle Aussagen, die nicht-empirische, philosophische Fragen betreffen, strikt
unsinnig. Sinnvoll reden kann man nur über Probleme, die empirisch-
wissenschaftlich angegangen werden können. Philosophische Fragen lassen
sich nicht einmal formulieren. „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen
wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch
gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben
dies ist die Antwort“ (Tractatus 6.52). Wir „fühlen“, dass es philosophische
Fragen gibt; aber tatsächlich gibt es sie nicht. Philosophische Fragen ver-
schwinden, sie lösen sich auf, wenn man erkennt, dass man sie gar nicht
stellen kann. „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Ver-
schwinden dieses Problems“ (ebd., 6.521).
„Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als
was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit
Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Me-
taphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in sei-
nen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“ (ebd., 6.53).
108 Ansgar Beckermann
hen“, in dem etwa ein Schmetterling aus einer Raupe hervorgeht. Aber
dies, so werden wir belehrt, sei nicht der gemeinte Sinn. Das Wort „her-
vorgehen“ solle hier nicht die Bedeutung eines Zeitfolge- und Bedin-
gungsverhältnisses haben, die das Wort gewöhnlich hat. Es wird aber für
keine andere Bedeutung ein Kriterium angegeben. Folglich existiert die
angeblich „metaphysische“ Bedeutung, die das Wort im Unterschied zu
jener empirischen Bedeutung hier haben soll, überhaupt nicht (vgl. ebd.,
225). Diese Diagnose steht offenbar in engem Zusammenhang mit dem
empiristischen Sinnkriterium, das den Kern der Sprachphilosophie des
Wiener Kreises ausmacht. Dieser lässt sich in den folgenden vier Thesen
zusammenfassen:
1. Es gibt nur zwei Arten sinnvoller Sätze – analytische und empirische
Sätze.
2. Analytische Sätze sind wahr oder falsch allein aufgrund der Bedeutung
der in ihnen vorkommenden Ausdrücke; ihre Wahrheit oder Falschheit
ist also unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist bzw. welche Er-
fahrungen wir machen (Bsp.: „Alle Junggesellen sind unverheiratet“).
3. Der Sinn eines empirischen Satzes besteht in den möglichen Erfahrun-
gen, die diesen Satz verifizieren würden.
4. Sätze, die nicht analytisch sind und für die es keine möglichen Erfah-
rungen gibt, die sie verifizieren würden, sind sinnlos.
Mit diesen Thesen hängt eine weitere eng zusammen:
5. Alle Begriffe müssen sich mit Hilfe von Erfahrungsbegriffen definie-
ren lassen.
Sätze wie „Das Nichts selbst nichtet“2 sind nach Carnap im zweiten Sinne
sinnlos. Wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ die Antwort erhält
„Draußen ist ein Mann“, dann kann man sinnvoll weiter fragen „Was ist
mit diesem Mann?“. Wer aber auf die Antwort „Draußen ist nichts“ weiter
fragt „Was ist mit diesem Nichts?“, der hat einfach nicht begriffen, dass
die beiden Sätze „Draußen ist ein Mann“ und „Draußen ist nichts“ sich in
ihrer logischen Struktur grundsätzlich unterscheiden. Der erste Satz hat die
logische Form „x(x ist draußen und x ist ein Mann)“; der zweite dagegen
die logische Form „x(x ist draußen)“. Und wenn man auf die Frage
„Was ist draußen?“ eine Antwort dieser Form bekommt, dann gibt es
schlicht kein x, bzgl. dessen man fragen könnte „Was ist mit diesem x?“.
Mit Hilfe dieser beiden Argumentationsfiguren meint Carnap, die Sinnlo-
sigkeit aller Metaphysik nachweisen zu können. Der Streit um den Unter-
schied zwischen Realismus und Idealismus, um die Realität der Außenwelt
2
Heidegger 1929, 34.
110 Ansgar Beckermann
Vergleichen wir diese Auffassung noch einmal mit der Humes. Wittgen-
stein ist ebenso wie Hume der Meinung, dass sich Philosophie von den
empirischen Wissenschaften durch ihren a priori Charakter unterscheidet.
Und er ist sich mit Hume einig, dass sich philosophisch, d. h. a priori, kei-
ne Erkenntnisse über die Welt gewinnen lassen. Allerdings kann Wittgen-
stein zufolge die Philosophie trotzdem etwas leisten; sie kann uns darüber
aufklären, wie wir über die Welt reden. Und da philosophische Probleme
seiner Meinung nach im Wesentlichen auf sprachlichen Missverständnis-
sen beruhen, kann Philosophie uns auf diese Weise auch bei der Lösung
philosophischer Probleme helfen – nicht, indem sie uns Antworten auf
philosophische Fragen gibt, sondern indem sie uns klar macht, dass diese
Fragen selbst nur darauf beruhen, dass wir uns über die grammatischen
Regeln unserer Sprache täuschen.
Allgemein unterscheidet man zwei Zweige der Analytischen Philoso-
phie – den formalsprachlichen Zweig, der seine Wurzeln im Wiener Kreis
hat, und den normalsprachlichen Zweig, der auf den späten Wittgenstein
zurückgeht. Zumindest, was den formalsprachlichen Zweig der Analyti-
schen Philosophie angeht, muss man feststellen, dass sich dessen Philoso-
phieverständnis Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich verändert. Ein Grund
dafür war das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums. Schon Popper
hatte sich geweigert, von einem „Sinnkriterium“ zu sprechen, und vorge-
Philosophie als analytische Philosophie 111
gen enthält nur Ausdrücke, die sich auf Sinnesdaten und anderen phäno-
menale „Gegenstände“ beziehen. Grundsätzlich, so Carnap, seien wir in
der Wahl unserer Sprache frei. Es gebe keine richtigen oder falschen
Sprachen; Sprachen könnten sich für die Beschreibung und Erklärung der
Welt nur als mehr oder weniger nützlich erweisen. Deshalb sei die Wahl
einer Sprache eine externe, eine pragmatische Frage, die man so oder so
beantworten könne. Dagegen seien, wenn man sich einmal für die Ding-
Sprache entschieden habe, Fragen wie „Steht die Uhr auf dem Tisch?“
oder „Gibt es Einhörner?“ interne Fragen, die sich mit empirischen Mit-
teln beantworten ließen.
Gegen diese Auffassung argumentierte Quine mit folgender Überle-
gung. Wissenschaftliche Aussagen lassen sich nicht einzeln an der Erfah-
rung überprüfen. Wenn eine Theorie T voraussagt, dass unter bestimmten
Bedingungen in einem Draht ein Strom von 2 Ampere fließt, lässt sich dies
ja nicht durch bloßes Hinschauen überprüfen. Vielmehr muss ein Ampe-
remeter benutzt werden, das die Stromstärke in dem fraglichen Draht
misst. Wenn dieses Amperemeter nicht 2, sondern sagen wir 3 anzeigt,
heißt das dann, dass T falsch sein muss? Nicht unbedingt; denn es könnte
auch sein, dass die Annahmen A, die der Konstruktion des Amperemeters
zugrunde lagen, falsch sind oder dass dieses Messinstrument schlicht nicht
richtig funktioniert. Die Beobachtung zeigt nur, dass die Konjunktion von
T, A und der Aussage „Dieses Messinstrument funktioniert einwandfrei“
nicht wahr sein kann. Aber welche dieser drei Aussagen falsch sind, lässt
sich aus dem Messergebnis nicht ableiten. Wenn wir uns entschließen, eine
oder mehrere dieser Aussagen aufzugeben, ist daher auch dies eine prag-
matische Entscheidung, die durch unsere Erfahrung nicht erzwungen wird.
Quines Pointe: Die Unterscheidung zwischen internen und externen, zwi-
schen pragmatischen und durch Beobachtung entscheidbaren Fragen lässt
sich nicht aufrecht erhalten. Und diese Auffassung führt wie das Scheitern
des empiristischen Sinnkriteriums zu der Einsicht, dass es zwischen tradi-
tioneller Philosophie und Wissenschaft keine klare Grenze gibt.
Dies gilt umso mehr, als die gerade angeführte Überlegung Quine zu-
folge auch zeigt, dass die Unterscheidung zwischen analytischen und
synthetischen Aussagen nicht haltbar ist. Analytische Aussagen sind da-
durch charakterisiert, dass sich ihre Wahrheit schon aus der Bedeutung
der in ihnen enthaltenen Ausdrücke ergibt; solche Aussagen sind also
wahr, ganz unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist. Und weil das
so ist, sind sie aufgrund von Erfahrungen nicht revidierbar. Wenn jedoch
niemals einzelne Sätze, sondern letzten Endes immer das ganze Netz
unserer Überzeugungen an unseren Erfahrungen überprüft wird und wenn
wir deshalb in gewisser Weise frei sind, zu entscheiden, welche Aussagen
wir aufgeben, falls das Netz unserer Überzeugungen nicht zu unseren
Philosophie als analytische Philosophie 113
3
Letzten Endes kommt Quine zu der Überzeugung, dass es keinen Unterschied
zwischen empirischen und nicht empirischen Wissenschaften gibt. Alle Annah-
men – auch die philosophischen – müssen sich dem Test durch Erfahrung stellen,
und alle können an der Erfahrung scheitern. Darauf komme ich gleich noch ein-
mal zurück.
114 Ansgar Beckermann
„Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See
umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Be-
standteilen neu errichten zu können.“ (Neurath 1932/3, 206)
In der Erkenntnistheorie können wir – wie auch sonst – zunächst gar nicht
anders, als den uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismethoden (Wahr-
nehmung, Wissenschaft) weitgehend zu vertrauen. Auf dieser Grundlage
gelangen wir dann allerdings zu Ergebnissen, die es uns erlauben, die Ver-
lässlichkeit dieser Mittel selbst besser zu durchschauen.
In der Analytischen Philosophie gibt es eine ganze Reihe von Philoso-
phinnen und Philosophen, die diese Auffassung von Philosophie attraktiv
finden; aber es gibt auch viele, die Philosophie ganz anders sehen. Neuer-
dings gibt es sogar eine Strömung, die explizit an die Tradition des Ratio-
nalismus anschließt. Rationalisten vertreten die Auffassung, dass man
a priori nicht nur formales Wissen im Bereich der analytischen Aussagen,
sondern auch inhaltliches Wissen über die Welt gewinnen kann.4 Descartes
4
Vgl. Nimtz 2009.
116 Ansgar Beckermann
5
Vgl. Hume 1973, Erstes Buch, Teil III, Abschnitt 3.
6
Man denke nur an den Titel von Spinozas Hauptwerk Ethica ordine geometrico
demonstrata.
7
Euklid 1997, 3.
Philosophie als analytische Philosophie 117
te hat man versucht, zu zeigen, dass sich dieses Axiom aus den anderen
ableiten lässt bzw. dass sich ein Widerspruch ergibt, wenn man es durch
seine Negation ersetzt. Aber alle Versuche, dieses sogenannte „Parallelen-
problem“ zu lösen, scheiterten. Gauß erkannte schließlich die Unlösbarkeit
des Problems. Aber erst Lobatschewski veröffentlichte 1826 eine neue – die
später so genannte „hyperbolische“ – Geometrie, in der alle Axiome Eu-
klids gelten außer dem Parallelenaxiom.8 Auf dieser Grundlage entwickel-
ten sich die nicht-euklidischen Geometrien, bei denen das Parallelenaxiom
entweder ganz wegfällt oder durch andere Axiome ersetzt wird, wobei zum
Teil auch noch andere Axiome der euklidischen Geometrie in Mitleiden-
schaft gezogen werden. Die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien war
für die Grundannahmen des Rationalismus ein schwerer Schlag. Denn sie
zeigte, auf welch wackligen Füßen die Annahme steht, es gebe nicht-
analytische erste Prinzipien, deren Wahrheit intuitiv eingesehen werden
kann. Für die Mathematik selbst bewirkte sie ein völliges Umdenken im
Hinblick auf den Begriff des Axioms. Axiome sind in der Mathematik heu-
te nicht mehr unumstößliche erste Prinzipien, deren Wahrheit man intuitiv
einsehen kann, sondern Setzungen oder Annahmen. Angenommen A, B
und C sind der Fall, was lässt sich aus diesen Annahmen deduktiv ableiten?
Trotz der Probleme, die sich aus der Kritik Humes und der Entdeckung
nicht-euklidischer Geometrien für die Grundannahmen des Rationalismus
ergaben, setzen auch in der Analytischen Philosophie einige – wie etwa
George Bealer – inzwischen wieder auf die Methode der Intuition.9 Intuition
ist in ihren Augen z. B. eine verlässliche Methode, wenn es um Einsichten in
das geht, was möglich und notwendig ist. Allerdings gehen Vertreter dieser
Theorie heute nicht mehr davon aus, dass Intuition 100% verlässlich ist. Sie
sehen sie vielmehr in Analogie zur Sinneswahrnehmung. Sinneswahrneh-
mung ist zwar im Allgemeinen zuverlässig; aber das schließt nicht aus, dass
es im Einzelfall rational sein kann, Wahrnehmungsurteile im Hinblick auf
widersprechende Erfahrungen und Überlegungen zu revidieren. Warum
sollen wir glauben, dass neben der Wahrnehmung auch die Intuition in der
Regel zu wahren Überzeugungen führt? BonJour etwa hat argumentiert, dass
nicht-formale a priori Erkenntnis eine Voraussetzung dafür sei, dass wir
empirisches Wissen erwerben können.10 Und andere betonen die Unver-
zichtbarkeit und intuitive Offensichtlichkeit z. B. mathematischer Wahrhei-
ten.11 Gerade auch angesichts des Schicksals der euklidischen Geometrie
finden diese Argumente aber keineswegs allgemeine Zustimmung. Es stellt
8
Fast zeitgleich kam Janos Bolyai zu ähnlichen Resultaten.
9
Vgl. z. B. Bealer 2000.
10
BonJour 1998.
11
Nimtz 2009, 220f.
118 Ansgar Beckermann
sich z. B. ja auch die Frage, wie denn ein Vermögen wie die Intuition evolu-
tionär entstanden sein könnte? Und schließlich: Ist Philosophie wirklich
darauf angewiesen, dass es inhaltliche a priori Erkenntnisse gibt? Diese
Frage lässt sich in meinen Augen nicht allgemein beantworten. Vielmehr
muss man sich die verschiedenen Felder der Philosophie – die Erkenntnis-
theorie, die Sprachphilosophie, die Philosophie des Geistes, die Moralphilo-
sophie, die Politische und die Sozialphilosophie – genau ansehen und unter-
suchen, mit welcher Art von Argumenten man in diesen verschiedenen
Feldern versucht, zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen. Ich will mich hier
auf die Religionsphilosophie beschränken und zu klären versuchen, wie in
der (analytischen) Philosophie für bestimmte Positionen argumentiert wird.
Als Beispiel soll die zentrale Frage der Religionsphilosophie dienen: Gibt
es einen (christlichen verstandenen) Gott?
Auch diese Frage hielten frühere Vertreter der Analytischen Philoso-
phie für sinnlos, weil sie keinen empirischen Gehalt hat. Antony Flew
beginnt seinen Beitrag zu dem berühmten Symposium Theology and Falsi-
fication mit einer Parabel:
„Once upon a time two explorers came upon a clearing in the jungle. In the
clearing were growing many flowers and many weeds. One explorer says,
‚some gardener must tend this plot.‘ The other disagrees, ‚There is no
gardener.‘ So they pitch their tents and set a watch. No gardener is ever seen.
‚But perhaps he is an invisible gardener.‘ So they set up a barbed-wire fence.
They electrify it. They patrol with bloodhounds. (For they remember how
H.G. Wells’s The Invisible Man could be both smelt and touched though he
could not be seen.) But no shrieks ever suggest that some intruder has received
a shock. No movements of the wire ever betray an invisible climber. The
bloodhounds never give cry. Yet still the Believer is not convinced. ‚But there
is a gardener, invisible, intangible, insensible to electric shocks, a gardener
who has no scent and makes no sound, a gardener who comes secretly to look
after the garden which he loves.‘ At last the Skeptic despairs, ‚But what
remains of your original assertion? Just how does what you call an invisible,
intangible, eternally elusive gardener differ from an imaginary gardener or
even from no gardener at all?‘“ (Flew 1955, 96)
Am Schluss dieses Beitrags stellt Flew die Frage: „Gibt es irgendeine be-
obachtbare Tatsache, die gegen die Existenz Gottes sprechen würde, oder
dagegen, dass Gott uns liebt?“ Für ihn scheint klar, dass eine Aussage nur
dann einen kognitiven Gehalt hat, wenn sie mit mindestens einer beobacht-
baren Tatsache unvereinbar ist. Falls das bei den Aussagen „Gott existiert“
und „Gott liebt seine Geschöpfe“ nicht der Fall ist, sind diese Aussagen
tatsächlich sinnlos.
Nach dem Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums findet man eine
solche Argumentation heute kaum noch. Trotzdem ist sie interessant. Denn
Philosophie als analytische Philosophie 119
sie zeigt, inwiefern sich die These der Existenz Gottes von manch anderen
Hypothesen unterscheidet, über die mit normalen empirisch-wissenschaft-
lichen Mitteln entschieden werden kann. Aus dieser Hypothese lassen sich
nämlich offenbar keine Aussagen ableiten, bei denen man durch Beobach-
tung entscheiden könnte, ob sie zutreffen oder nicht. Jedenfalls kenne ich
keinen, der die folgenden oder ähnliche Aussagen akzeptieren würde:
„Wenn Gott existiert, werden Gebete unter bestimmten (nachprüfbaren)
Umständen erhört“, „Wenn Gott existiert, sterben keine Kinder qualvoll an
unheilbaren Krankheiten“ oder „Wenn Gott existiert, werden Verbrecher
zumindest daran gehindert, besonders grausame Straftaten zu begehen“.
Wie kann man sich dann aber der Beantwortung der Frage, ob es einen Gott
gibt, überhaupt rational nähern? Letztlich steht die Analytische Philosophie
hier ganz in der Tradition der klassischen Philosophie von den Vorsokrati-
kern bis Kant. Auch sie diskutiert die herkömmlichen Gottesbeweise, die
Frage, inwieweit religiöse Erfahrungen die Existenz Gottes wahrscheinlich
machen, und die Frage, ob die Existenz des Übels gegen die Existenz eines
christlich verstandenen Gottes spricht.
Bei den traditionellen Gottesbeweisen geht es um Folgendes: Ist der
Begriff Gottes so geartet, dass die Behauptung „Gott existiert nicht“ einen
Widerspruch beinhaltet (ontologischer Gottesbeweis)? Kann man aus der
Existenz der kontingenten Welt auf die Existenz einer ersten Ursache oder
eines notwendigen Wesens schließen (kosmologischer Gottesbeweis)?
Kann man aus der Existenz natürlicher zweckmäßiger Wesen in dieser
Welt auf die Existenz eines intelligenten Urhebers schließen (teleologi-
scher Gottesbeweis)?
Bekanntlich hat Kant gegen den ontologischen Gottesbeweis zwei
Einwände erhoben:
1. Wenn man bei einem identischen Urteil das Subjekt beibehält, aber das
Prädikat aufhebt, entsteht ein Widerspruch; wenn man aber Subjekt
und Prädikat zugleich aufhebt, ergibt sich kein Widerspruch.
2. Existenz ist kein reales Prädikat.
Freges Analyse der Existenz kann als eine große Hilfe verstanden werden,
diese Einwände besser zu verstehen. Frege bestreitet, dass man von Ein-
zeldingen sagen könne, sie existierten oder sie existierten nicht; Existenz
ist in seinen Augen ein Begriff zweiter Stufe, d. h., ein Begriff, den man
nicht auf Gegenstände, sondern nur auf Begriffe anwenden kann. Die logi-
sche Form von Existenzaussagen sei nicht „Ea“, sondern „xFx“. Zu sagen
„Es gibt Einhörner“ heiße also nichts anderes, als zu sagen „Der Begriff
Einhorn ist erfüllt“. Kant scheint etwas ganz Ähnliches im Sinn gehabt zu
haben. Denn Freges Analyse hat zwei Konsequenzen, die sehr gut zu Kants
Argumentation passen: (1) Aussagen der Form „xFx“ beinhalten nie
120 Ansgar Beckermann
einen Widerspruch,12 und (2) Existenz ist kein Merkmal, das man zur De-
finition eines Begriffes verwenden könnte. Allerdings zeigt die Kritik an
Frege auch Schwächen der Einwände Kants. Die Fragen „Hat Shakespeare
wirklich existiert oder sind seine Stücke von einer anderen Person ge-
schrieben worden, die nur den Namen ‚Shakespeare‘ benutzt hat?“ und
„Gibt es den Yeti wirklich oder handelt es sich hier nur um eine Legende?“
scheinen völlig in Ordnung; aber in diesen Fragen geht es doch offenkun-
dig um die Existenz einzelner Personen oder Dinge und nicht darum, ob
ein Begriff erfüllt ist oder nicht. Freges These, Existenz sei ein Begriff
zweiter Stufe, ist also keineswegs selbstverständlich. Außerdem scheint es
auch völlig legitim, den Begriff Zentaur so zu definieren: „Zentauren sind
Fabelwesen mit einem Pferdekörper und dem Oberkörper eines Men-
schen“. Das Entscheidende ist hier der Ausdruck „Fabelwesen“; denn et-
was ist nur dann ein Fabelwesen, wenn es in Wirklichkeit nicht existiert.
Mit anderen Worten: Nichtexistenz kann offenbar Teil der Definition eines
Begriffes sein. Warum dann aber nicht auch Existenz? Ich kann diesen
Problemen hier nicht weiter nachgehen. Aber so viel scheint doch klar: Bei
der Analyse des ontologischen Gottesbeweises geht es nicht um intuitive
Erkenntnisse a priori, sondern um ein angemessenes Verständnis des Be-
griffs Existenz und insbesondere um die Frage, ob Aussagen der Form
„xFx“ überhaupt einen Widerspruch beinhalten können.
Die traditionelle Diskussion um den kosmologischen Gottesbeweis
dreht sich um drei Fragen – die Frage, ob es einen unendlichen Regress
von Ursachen geben kann, die Frage, ob die Existenz kontingenter Dinge
die Existenz notwendiger Wesen voraussetzt, und schließlich die Frage, ob
es tatsächlich für alles einen Grund/eine Ursache geben muss. Thomas von
Aquin argumentiert in seinem dritten Weg13: Alles, was kontingent ist,
kann auch nicht sein; was nicht sein kann, ist auch einmal nicht; wenn alles
kontingent wäre, gäbe es also einen Zeitpunkt, zu dem gar nichts existier-
te;14 das aber ist unmöglich; denn wenn zu einem Zeitpunkt gar nichts
existiert, dann existiert auch später nichts (was nicht der Fall ist), weil
etwas nur anfangen kann zu existieren, wenn es von etwas in die Existenz
gebracht wird, das schon existiert. Man sieht hier klar, wie Thomas – eben-
so wie später Clarke und Leibniz – von der Existenz kontingenter Dinge
auf die Existenz zumindest eines notwendigen Wesens schließt; und der
Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist das Prinzip vom zureichen-
den Grund in der Form „Nichts beginnt zu existieren, was nicht von etwas
12
Hier muss man allerdings Prädikate wie „x=x“ ausnehmen.
13
Thomas von Aquin 1996, 56f.
14
Dieser Schritt ist wohl unzulässig.
Philosophie als analytische Philosophie 121
in die Existenz gebracht wird, das schon existiert“. Dieses Prinzip galt
lange Zeit für so selbstverständlich, dass man sich kaum vorstellen konnte,
wie man daran zweifeln kann. Erst Hume stellte, wie wir schon gesehen
haben, zwei Dinge klar: Das Prinzip ist nicht analytisch wahr, und alle
bisherigen Versuche, das Prinzip zu beweisen, sind unzulänglich. Wenn
das Prinzip vom zureichenden Grund wahr ist, kann es sich also bestenfalls
um eine empirische Wahrheit handeln.15 Doch der Glaube, dass es sich hier
um einen empirisch wahren Satz handelt, ist durch die Quantenphysik
ebenfalls stark erschüttert worden. Es hat lange gedauert, bevor dies allge-
mein akzeptiert wurde, aber heute gehen wir davon aus, dass es z. B. für
den Zeitpunkt, zu dem ein Radiumatom zerfällt, weder einen Grund noch
eine Ursache gibt. Radium hat eine Halbwertszeit von 1602 Jahren, d. h.,
von einer bestimmten Menge von Radiumatomen wird in dieser Zeit die
Hälfte zerfallen sein. Aber von einem einzelnen Radiumatom können wir
nicht nur nicht sagen, wann genau es zerfallen wird; dies ist vielmehr ob-
jektiv unbestimmt. Für diesen Zeitpunkt gibt es nach allem, was wir wis-
sen, weder einen Grund noch eine Ursache. Das Standardmodell der Kos-
mologie lehrt uns, dass unser Weltall vor ca. 13,7 Milliarden Jahren im
sogenannten Urknall entstanden ist. Bis zum 18. Jahrhundert wäre jeder
davon überzeugt gewesen, dass es für dieses Ereignis einen Grund/eine
Ursache gegeben haben muss. Heute sind die meisten in diesem Punkt
wohl agnostisch. Kann sein, dass es einen Grund oder eine Ursache gab;
vielleicht ist der Urknall aber auch einfach so passiert – ohne jeden Grund
und ohne jede Ursache. Was bedeutet das für die Frage des a priori in der
Philosophie? Die traditionellen Versionen des kosmologischen Gottesbe-
weises beruhen alle darauf, dass das Prinzip vom zureichenden Grund
wahr ist, und dass man die Wahrheit dieses Prinzips a priori intuitiv einse-
hen kann. Die heutige Kritik dagegen bestreitet nicht nur die intuitive Ein-
sichtigkeit, sondern sogar die Wahrheit des Prinzips. Fortschritt ergibt sich
hier also nicht durch neue intuitive Einsichten a priori, sondern genau
dadurch, dass man die Möglichkeit solcher Einsichten bestreitet.
Beim teleologischen Gottesbeweis liegen die Dinge methodologisch
wieder ganz anders. Ausgangspunkt ist hier die unbestrittene Tatsache,
dass in der Welt zweckmäßige Dinge (z. B. Lebewesen) existieren – kom-
plexe Dinge, deren Teile so aufeinander abgestimmt sind und so interagie-
ren, dass ein vorteilhafter Effekt entsteht. Die Frage ist: Woher kommen
diese Dinge, was ist ihre Ursache? Neben den natürlichen zweckmäßigen
15
Kants Versuch zu zeigen, dass es sich um eine synthetische Wahrheit a priori han-
delt, von der man beweisen kann, dass sie wenigstens in der Erscheinungswelt gilt,
muss wohl auch als gescheitert betracht werden.
122 Ansgar Beckermann
16
Hume 1981, Teil 10 und 11.
17
Vgl. z. B. den zentralen Text Paley 1809.
Philosophie als analytische Philosophie 123
che Erklärung der Entstehung des Lebens aussehen kann. Natürlich gibt es
auch an Darwins Vorschlag Kritik. Vertreter des Intelligent Design etwa
behaupten, dass es in manchen Lebewesen Strukturen gibt, die unmöglich
auf evolutionäre Weise entstanden sein können (Stichwort: irreduzible
Komplexität). Diese Auffassung ist ihrerseits bestritten worden,18 aber sie
hat doch einige hochinteressante wissenschaftstheoretische Fragen aufge-
worfen: Ist Wissenschaft darauf festgelegt, immer nur nach natürlichen
Erklärungen zu suchen? Oder gibt es Umstände, in denen natürliche Phä-
nomene auf das Einwirken nicht-natürlicher Ursachen zurückgeführt wer-
den dürfen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Annahme nicht-
natürlicher Ursachen immer als ad hoc-Hypothese abgelehnt werden muss?
Ich beende hier den Überblick über die philosophische Diskussion der
klassischen Gottesbeweise, um zu einem kurzen Fazit zu kommen. Es soll-
te aber klar sein, dass mit diesem Überblick bestenfalls ein Anfang ge-
macht wurde. Wer wissen will, wie (analytische) Philosophie funktioniert,
kann das nur herausfinden, in dem er untersucht, wie Philosophinnen und
Philosophen in den einzelnen Bereichen der Philosophie – Erkenntnis-
theorie, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes,
Religionsphilosophie, Moralphilosophie, Politische und Sozialphilosophie
– tatsächlich vorgehen. Trotzdem: Was kann man allein schon aus der
Betrachtung der philosophischen Diskussion der Gottesbeweise über die
Philosophie erfahren? Zunächst einmal: Die These, dass es einen (christ-
lich verstandenen) Gott gibt, ist sicher eine These über die Beschaffenheit
der Welt. Wie kann man herausfinden, ob diese These zutrifft? Da offenbar
viele annehmen, dass aus ihr keine beobachtbaren Fakten folgen, läuft die
klassische Methodologie der empirischen Wissenschaften ins Leere. Ist
deshalb rationalistische Intuition die einzige verbleibende Alternative? Der
ontologische Gottesbeweis geht einen anderen Weg. Befürworter dieses
Beweises argumentieren, dass zum Begriff des denkbar vollkommensten
Wesens auch die Existenz gehört und dass daher der Satz „Das denkbar
vollkommenste Wesen existiert nicht“ einen Widerspruch darstellt. Kriti-
ker des Beweises verweisen dagegen darauf, dass der Begriff der Existenz
so geartet ist, dass eine Aussage der Form „xFx“ niemals widersprüch-
lich sein kann. Hier geht es also zentral um den Begriff der Existenz; und
der kann wohl kaum durch rationalistische Intuition geklärt werden. Der
kosmologische Gottesbeweis beruht im Wesentlichen auf der Idee, dass es
keine kontingenten Wesen ohne notwendige Wesen geben kann. Und diese
Annahme lässt sich nur begründen, wenn man das Prinzip vom zureichen-
den Grund für intuitiv einsichtig hält. Zweifel daran unterminieren den
18
Einen Einstieg in die Debatte liefern Dembski/Ruse 2007.
124 Ansgar Beckermann
Literatur
Bealer, G., 2000: A Theory of the A Priori, in: Pacific Philosophical Quarterly 81, 1–30.
BonJour, L., 1998: In Defense of Pure Reason, Cambridge.
Carnap, R., 1928a: Scheinprobleme in der Philosophie, Berlin-Schlachtensee. [Wieder-
abgedruckt in: R. Carnap, Scheinprobleme in der Philosophie und andere metaphy-
sikkritische Schriften, hg. von T. Mormann, Hamburg 2005.]
—, 1928b: Der logische Aufbau der Welt, Berlin-Schlachtensee.
—, 1931: Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, in: Er-
kenntnis 2, 219–241.
—, 1950: Empiricism and Ontology, in: Revue Internationale de Philosophie 4, 20–40.
Carnap, R./Hahn, H./Neurath, O., 1929: Wissenschaftliche Weltauffassung – der Wie-
ner Kreis, Wien.
Dembski, W.A./Ruse, M. (Hg.), 2007: Debating Design. From Darwin to DNA, Cam-
bridge.
Philosophie als analytische Philosophie 125
In diesem Kapitel werden wir die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll
eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit
welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben?
– anhand des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Einzelwis-
senschaften erörtern. Ein solches Unternehmen sieht sich zunächst mit drei
Problemen konfrontiert, die wir im ersten Abschnitt besprechen. In den
darauf folgenden Abschnitten stellen wir dann einige neuere Ansätze dazu
vor, wie die Philosophie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften
auffassen kann und was dieses Verhältnis für die Gründe und Ziele des
Philosophierens bedeuten kann. Schließlich werden wir im letzten Ab-
schnitt unsere eigene Auffassung davon darlegen, wie sich die Philosophie
zu den Einzelwissenschaften verhalten sollte.
Während die Einzelwissenschaften positives Wissen über die Beschaf-
fenheit der Welt hervorbringen wollen, hat die Philosophie unserer Auffas-
sung nach u. a. die Aufgabe, das von den Einzelwissenschaften hervorge-
brachte Wissen kritisch zu reflektieren. Eine solche Tätigkeit kann für die
Einzelwissenschaften zwei verschiedene Arten von Ergebnissen haben.
Zum einen kann die kritische Reflexion von positivem wissenschaftlichem
Wissen zur Klärung der darin gebrauchten Begriffe oder der darin be-
schriebenen Sachverhalten führen, so dass man ein tieferes Verständnis
dieser Begriffe oder Sachverhalte gewinnt. In diesem Modus kann die
Philosophie als eine Fortführung der Arbeit der Einzelwissenschaften ver-
standen werden, indem sie zur Vertiefung und Interpretation des einzelwis-
senschaftlichen Wissens beitragen kann. Zum anderen kann eine solche
Tätigkeit auch zu einer Destruktion der involvierten Begriffe oder Sach-
verhalte führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende
Sache als unhaltbar herausstellt. Hier kann die Philosophie als Kritik der
Wissenschaften verstanden werden, indem sie Probleme im einzelwissen-
schaftlichen Wissen aufzeigt und damit die Wissenschaften herausfordert,
bestimmte Fragestellungen erneut zu untersuchen.
128 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
altem, überholtem Gedankengut – und damit lediglich darin, dass die Philo-
sophie die Sachen entsorgt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte.
Wir möchten in diesem Beitrag jedoch keine Rechtfertigung der Philo-
sophie gegenüber Herausforderungen wie den oben angedeuteten liefern,
da wir der Meinung sind, dass die Philosophie eine solche Rechtfertigung
gar nicht benötigt. Die Philosophie ist, obwohl sie keine empirische For-
schung betreibt, dennoch eine eigenständige Disziplin, die ihren eigenen
Fragestellungen nachgeht, ihre eigenen Phänomene untersucht und ihre
eigenen Theorien entwirft, so wie die Physik, die Biologie, die Soziologie,
die Geschichtswissenschaft usw. es auch tun. Die Ziele der Philosophie
leiten sich nicht primär aus dem Verhältnis von Philosophie und den ande-
ren Wissenschaften ab; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Bandes
erörtert. In diesem Beitrag werden wir lediglich einen kleinen Teil dieser
Thematik ansprechen und versuchen zu klären, was die Philosophie in
Bezug auf die anderen Wissenschaften leisten kann. Dabei werden wir
nicht voraussetzen, dass diese Leistung für die anderen Wissenschaften
von unmittelbarem Nutzen bezüglich deren Erkenntnisziele ist.
Ein zweites Problem ist folgendes: Wenn die Philosophie wie oben be-
schrieben eine eigenständige Disziplin ist, weshalb sollte man dann über-
haupt erwarten, dass man mehr Klarheit über die Gründe und Ziele der
Philosophieausübung erlangen kann, indem man das Verhältnis der Philo-
sophie zu anderen Wissenschaften betrachtet? Die Frage Warum sollte
überhaupt Physik betrieben werden? wird ja üblicherweise auch nicht
dadurch beantwortet, dass wir uns ansehen, wie die Physik sich zur Biolo-
gie und zur Soziologie verhält. (Und sie wird schon gar nicht dadurch be-
handelt, dass gefragt wird, auf welcher Weise die Physik für diese Wissen-
schaften von Nutzen sein könnte!)
Unsere Antwort auf diese Frage ist wissenschaftshistorisch. Die Philo-
sophie darf einen Anspruch darauf erheben, die Mutter aller Wissenschaf-
ten genannt zu werden, da viele der heutigen selbständigen Einzelwissen-
schaften im Laufe der Geschichte aus der Philosophie hervorgegangen
sind. So haben sich die Physik und die Chemie zur Zeit der wissenschaftli-
chen Revolution von der (Natur-)Philosophie abgelöst, so ist die Psycholo-
gie im 19. Jh. endgültig ihren eigenen Weg gegangen und so sehen wir
heute, wie sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft
etabliert. Ursprünglich rein philosophische Fragen werden dadurch zu
einzelwissenschaftlichen Fragen, zumindest zum Teil. So wird beispiels-
weise die Frage nach dem freien Willen, eine klassische Frage der Philoso-
phie, heute auch in den Kognitionswissenschaften behandelt. In dieser
Perspektive würde sich die Philosophie als der Restbereich verstehen müs-
sen, die sich mit den Fragen befasst, die übrig geblieben sind, nachdem
sich die Einzelwissenschaften von ihrem Ursprung abgelöst haben. Eine
130 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
1
Vgl. auch Hansson 2008, 476–477 und Rosenberg/McShea 2008, 1–3.
2
Für die gegenwärtige Diskussion im deutschsprachigen Raum, vgl. z. B. Singer
2003, Geyer 2004.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 131
Innerhalb des Teilbereichs der Philosophie, der sich explizit mit den ver-
schiedenen Einzelwissenschaften befasst, der Wissenschaftsphilosophie,
können die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik unterschieden
werden. Diese Unterscheidung entspricht natürlich der allgemeineren Un-
terscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Jeder dieser
beiden Bereiche hat einen allgemeinen Teil und mehrere spezielle Teile
(die speziellen Wissenschaftstheorien bzw. -ethiken). Die allgemeine Wis-
senschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Wissenschaft eigent-
lich ist und wie sie funktioniert. Die speziellen Wissenschaftstheorien, wie
z. B. die gegenwärtig weltweit etablierten Spezialgebiete Philosophie der
Physik, Philosophie der Biologie, Philosophie der Chemie oder Philoso-
phie der Wirtschaftswissenschaften, untersuchen, wie die Einzelwissen-
schaften in ihrer Spezifizität funktionieren, was ihre zentralen Begriffe
genau bedeuten und wie ihre Theorien genau zu analysieren sind.3 So wird
z. B. untersucht, wie Ökonomen typischerweise argumentieren, welche
Elemente in den Erklärungen der Evolutionsbiologie involviert sind, auf
welcher Grundlage in der Chemie Atome und Substanzen klassifiziert
werden, was der Genbegriff in den verschiedenen Bereichen der Biologie
3
Für einen ausgezeichneten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung
in der Philosophie der Biologie siehe Krohs/Toepfer 2005. Für die Philosophie der
Physik ist beispielsweise Mittelstaedt 1976 ein Klassiker.
132 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
4
Zur allgemeinen Wissenschaftstheorie siehe den Beitrag von Rainer Enskat in
diesem Band. Eine Erörterung der Frage, wie sich die Ethik zu den anderen Wis-
senschaften verhält bzw. verhalten sollte, kann hier nicht vorgenommen werden,
weil dies einen eigenen Beitrag erfordern würde. Für allgemeine Einführungen in
das Themenfeld der Wissenschaftsethik siehe u. a. Nida-Rümelin 1996 oder Hoy-
ningen-Huene/Tarkian 2010.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 133
Kraft usw.) und auf welche Weise diese Eigenschaften in der Produktion
wissenschaftlichen Wissens realisiert werden: „Wissenschaftler häufen
Erkenntnis auf Erkenntnis, Wissenschaftsphilosophen legen auseinander,
was die wesentlichen Eigenschaften dessen sind, was dort aufeinander
gehäuft wird“ (ebd., 20). Zum anderen soll die Wissenschaftstheorie dar-
über hinaus auch in epistemischer Hinsicht bewerten, indem „die Verfah-
ren, die in der Wissenschaft zur Einschätzung von Geltungsansprüchen
herangezogen werden […] auf ihren Zusammenhang mit den Erkenntnis-
zielen der Wissenschaft untersucht“ werden (ebd.).
Auch der Wissenschaftsphilosoph John Losee hob in seinem klassi-
schen Lehrbuch A Historical Introduction to the Philosophy of Science die
normative Aufgabe der Wissenschaftstheorie hervor. Nach Losee gibt es
mindestens vier unterschiedliche Auffassungen davon, was das Hauptziel
der Wissenschaftsphilosophie sei (vgl. Losee 1980, 1 f.). Einer Auffassung
nach besteht wissenschaftsphilosophische Arbeit darin, übergreifende
Weltbilder zu entwerfen, die auf dem von den Einzelwissenschaften pro-
duzierten Wissen aufbauen und dieses in ein kohärentes Weltbild syntheti-
sieren. Dies ist eine metaphysische Zielsetzung, die auf die Arbeit der Ein-
zelwissenschaften aufbaut und diese weiterführt. Gegenwärtige Vertreter
dieser Sichtweise sind z. B. der Wissenschaftsphilosoph James Ladyman
und der Ökonom und Philosoph Don Ross (vgl. Ladyman/Ross 2007).
Den drei anderen von Losee unterschiedenen Auffassungen nach ist
die Arbeit, die die Wissenschaftsphilosophie leisten kann, eher epistemo-
logischer als metaphysischer Natur. Der zweiten Auffassung nach ist die
Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, die (oftmals verschwiegenen)
Grundannahmen, die wissenschaftlicher Arbeit unterliegen können, expli-
zit zu machen. Beispielsweise denke man an die Annahme, dass es in der
Natur selbst Regelmäßigkeiten gibt, die die Wissenschaft entdecken und
beschreiben kann. Der dritten Auffassung nach ist Wissenschaftsphiloso-
phie wesentlich Begriffsanalyse, d. h., ihr Ziel ist, die zentralen Begriffe
wissenschaftlicher Theorien auf ihre Bedeutung zu prüfen und ggf. vorlie-
gende Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ans Licht zu bringen. Eine vierte
Auffassung der Zielsetzung der Wissenschaftsphilosophie (die Auffassung,
die Losee selbst vertritt) ist die, dass Wissenschaftsphilosophie wesentlich
darin besteht „darüber nachzudenken, wie Wissenschaft betrieben werden
sollte“ (Losee 1980, 2 f.). Zwar beinhaltet die wissenschaftsphilosophische
Arbeit in dieser letzten Auffassung auch die Explikation wissenschaftlicher
Grundannahmen und die Klärung zentraler wissenschaftlicher Begriffe;
jedoch ist dabei primär das normative Ziel der Analyse und Verbesserung
der wissenschaftlichen Methodik im Blick.
Ein Problem für eine sich selbst als normativ verstehende Wissen-
schaftsphilosophie ist jedoch, dass bisher alle Versuche, eine einigermaßen
134 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
5
Daher auch Feyerabends Behauptung, dass „es nur einen Grundsatz gibt, der sich
unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertre-
ten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes“ (ebd., 32). Die Allgemeingültigkeit
dieses Grundsatzes ist durch seine vollkommene Leere erkauft (siehe hierzu Hoy-
ningen-Huene 1997)!
6
Eine Gesamtübersicht der Wimsatt’schen Vision für die Wissenschaftsphilosophie
findet sich in Wimsatt 2007; eine gute Zusammenfassung gibt Griesemer 2010.
7
Wimsatt vergleicht oft sowohl die Natur als auch den Menschen mit einem Bastler
(„a backwoods mechanic and used parts dealer“), der beim Entwerfen von Lösun-
gen für neue Probleme sich etwas Brauchbares aus den in seinem Schuppen herum-
liegenden Einzelteilen zusammenbastelt. Der Vergleich der Natur (oder spezifi-
scher: der Evolution) mit einem Bastler geht auf den Biologen und Nobelpreisträger
François Jacob zurück (vgl. Jacob 1977; 1994, 34).
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 135
der Welt mit den Mitteln, die gerade greifbar sind. Dies charakterisiere die
Wissenschaft viel treffender als das traditionelle wissenschaftsphilosophi-
sche Bild eines auf maximale Effizienz hin organisierten, durchrationali-
sierten Unternehmens.8 Wissenschaftler suchen meistens nicht nach der
wirklich optimalen Forschungsmethodik oder der wirklich optimalen He-
rangehensweise, um ein bestimmtes Problem zu lösen – wie in der Wissen-
schaftstheorie verbreitete Idealbilder von Wissenschaft es oft suggerieren.
Vielmehr benutzen sie Methoden und Herangehensweisen, die zufälliger-
weise gerade am Ort vorhanden sind, die ihre Brauchbarkeit in anderen
Forschungskontexten bewiesen haben oder die bestimmte Praxisvorteile
versprechen. Dazu gehört z. B., dass sie weniger umständlich als eigentlich
besser geeignete Methoden sind, aber trotzdem gut genug sind oder einen
schnelleren Erfolg versprechen, dafür aber vielleicht eine etwas höheren
Fehlerquote haben. Dazu kommen ad hoc Anpassungen von Methoden und
Herangehensweisen – je nach Bedarf.
Dementsprechend, so argumentiert Wimsatt, kann eine sinnvolle nor-
mative Wissenschaftstheorie nicht die Form eines Systems von rein rational
begründeten methodologischen Vorgaben für die Wissenschaft annehmen,
sondern muss auf empirische Studien der verschiedenen Vorgehensweisen
in den Einzelwissenschaften beruhen. Wimsatts Vision der Wissenschafts-
philosophie beinhaltet also eine sehr wissenschaftsnahe Weise des Philoso-
phierens über Wissenschaft, die versucht zu verstehen, wie Wissenschaft
tatsächlich funktioniert. Die Wissenschaftsphilosophie sollte nach Wimsatt
herausfinden, welche Methoden, Heuristiken, Strategien, Herangehenswei-
sen usw. in welchen Forschungskontexten ihre Effektivität bewiesen haben.
Statt aus einer Außenperspektive methodologische Vorgaben für die
Wissenschaften zu formulieren, sollten Wissenschaftsphilosophen also
versuchen, die Wissenschaften von innen heraus zu verstehen (vgl. Wim-
satt 2007, 27). Das erlangte Verständnis davon, wie die Wissenschafts-
praxis in ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit funktioniert, kann letztendlich
in den Wissenschaftsbetrieb zurückfließen und damit einen Beitrag zu
seiner Verbesserung leisten. Letzteres ist für Wimsatt ein explizites Ziel
der Wissenschaftsphilosophie: „Eine adäquate Wissenschaftsphilosophie
sollte normative Kraft haben. Sie sollte uns helfen, Wissenschaft zu betrei-
ben oder, wahrscheinlicher, uns helfen Fehlerquellen zu finden und zu
vermeiden […]“ (ebd., 26; unsere Übersetzung). Diese Zielsetzung kann
8
In Kontrast zu diesem Bild, das oftmals stark idealisiert ist und auf philosophischen
„Spielzeugbeispielen“ basiert, ist Wimsatt auf der Suche nach einer „realistischen“
Wissenschaftsphilosophie – d. h. einer Wissenschaftsphilosophie, die von realen
Menschen in realen Situationen in realer Zeit betrieben werden kann (vgl. Wimsatt
2007, 5).
136 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
„Ich schlage vor, dass wir Wissenschaftsphilosophie als ein Arbeitsgebiet auf-
fassen, worin wir wissenschaftliche Fragen untersuchen, die gegenwärtig nicht
in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Diese Fragen könnten von den
Wissenschaften angegangen werden, sie werden jedoch von ihnen ignoriert in
Folge der Notwendigkeit zur Spezialisierung.“ (ders. 1999, 415 f.; unsere Über-
setzung, Hervorhebung im Original).
9
Chang stützt seine Ideen hier auf die Arbeit des Wissenschaftshistorikers und -philo-
sophen Thomas Kuhn, der in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti-
onen (Kuhn 1970) schon darauf hingewiesen hatte, dass in einer Einzelwissenschaft
in Perioden der sog. Normalwissenschaft ein Paradigma als der unbezweifelte Hin-
tergrund für die Forschung angenommen wird. Siehe dazu auch Hoyningen-Huene
1993, 175–179.
10
Für Chang ist dies nur eine, aber nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaftsge-
schichte und Wissenschaftsphilosophie. Die klassischen Aufgaben der Wissen-
schaftsphilosophie – zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und die Methodo-
logie der Wissenschaften zu analysieren und ggf. zu verbessern – bleiben nach wie
vor bestehen. Diese beiden Aufgabenbereiche nennt Chang „deskriptive“ und „par-
tizipative“ Wissenschaftsphilosophie (vgl. Chang 1999) und benutzt den Terminus
„partizipative Wissenschaftsphilosophie“ also in einer anderen Bedeutung, als wir
ihn hier gebrauchen.
138 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
„Die wahre philosophische Fakultät der Universität der Zukunft wird […] die
Gruppe von philosophisch denkenden Männern in allen Fachbereichen sein,
die, jeder auf seine Weise, über die ultimativen Fragen nachdenken. […] Das
philosophische Institut sollte für den gesamten Lehrkörper die Sammelstelle
sein für die verschiedenen Theorien und Probleme, die in den verschiedenen
11
Es ist jedoch fraglich, ob die Philosophie positives Wissen über die Welt liefern
kann und es überhaupt ein Ziel der Philosophie sein kann, solches Wissen bereitzu-
stellen. Siehe dazu den letzten Abschnitt unseres Beitrags.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 139
Die gegenwärtige Philosophie der Biologie ist ein gutes Beispiel für inter-
disziplinäre Wissenschaftsphilosophie, wie sie die genannten Autoren an-
visieren. Zwar fassen manche Philosophen der Biologie ihr Fach in der
traditionellen Weise auf als ausgerichtet auf „Fragen, die aus der biologi-
schen Wissenschaft hervorgehen, aber die Biologie selbst (noch) nicht
beantworten kann, sowie auf Fragen, die sich darauf beziehen, weshalb die
Biologie eigentlich nicht in der Lage ist, diese ersteren Fragen zu beant-
worten“ (Rosenberg/McShea 2008, 3; unsere Übersetzung). Jedoch sind
auch viele Philosophen der Biologie der Meinung, dass ihr Fach sich ein
ambitionierteres Ziel setzen sollte. Zum einen könnte die Philosophie der
Biologie z. B. versuchen, Biologen dabei zu helfen, ihre Fragestellungen
schärfer zu formulieren, indem sie die genaue Bedeutung der in diesen
Fragen zentralen Begriffe klärt. Zum anderen könnte neben dem Ziel, zur
Klärung spezifisch biologischer Fragen beizutragen, die Philosophie der
Biologie sich als Ziel setzen, einen Beitrag zur Klärung klassischer Fragen
der Philosophie zu leisten, nämlich indem sie relevante Erkenntnissen aus
der biologischen Wissenschaft aufgreift und auf philosophische Probleme
anwendet (vgl. Pradeu 2011). Die Philosophie der Biologie könnte in die-
ser Weise eine vermittelnde Rolle zwischen der Philosophie und den bio-
logischen Wissenschaften spielen. Sie würde ein Arbeitsbereich sein, in
dem Philosophen und Biologen gemeinsam versuchen, sowohl spezifisch
biologische Fragen als auch klassische Fragen der Philosophie zu klären.
Sie könnte so Ergebnisse erzielen, die Philosophen oder Biologen im Al-
leingang nicht erreichen könnten.
In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Philosophie der Bio-
logie genau in dieser Richtung entwickelt. In einem Übersichtsartikel aus
dem Jahre 1969 bemängelte der Philosoph der Biologie David Hull den
damaligen Stand der Forschung in seinem Fachgebiet wie folgt:
„Was die Philosophie der Biologie nicht ist? Es muss zugegeben werden, dass
bis jetzt weder sie besonders relevant für die Biologie, noch die Biologie be-
sonders relevant für sie ist.“ (Hull 1969, 179; unsere Übersetzung).
12
Der Autor des Artikels, William Adams Brown, war Professor für systematische
Theologie am Union Theological Seminary, New York City. Obwohl Brown weder
eine prominente Persönlichkeit in der Philosophiegeschichte ist noch gegenwärtig
diskutiert wird, haben wir dieses Zitat aufgenommen, da es den Gedanken, dass die
Philosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und sich
daher als interdisziplinäres Unternehmen auffassen soll, klar darstellt.
140 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
Hull wies darauf hin, dass Philosophen der Biologie bislang ihre Möglich-
keiten, biologisches Wissen in philosophische Diskussionen einzubringen
und umgekehrt durch philosophische Arbeit einen Beitrag zur Lösung
biologischer Probleme zu liefern, kaum wahrgenommen haben und dass
sich diese Situation baldmöglichst ändern sollte (vgl. auch ders. 1998,
77 ff.). In späteren Übersichtsartikeln vermerkt Hull (ders. 1998; 2002)
jedoch eine deutliche Veränderung im Arbeitsmodus der Philosophie der
Biologie: Professionelle Philosophen und professionelle Biologen haben
angefangen, mehr und mehr zusammenzuarbeiten: Kooperation zwischen
den beiden Fachgebieten ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Entspre-
chend findet man mittlerweile regelmäßig Veröffentlichungen auf dem
Gebiet der Philosophie der Biologie und der Biologie selbst, die von Philo-
sophen und Biologen gemeinsam verfasst worden sind.13
13
Einige Beispiele sind: Kummer/Dasser/Hoyningen-Huene 1990, Griffiths/Gray
1994, Sober/Wilson 1994; 1998, Ariew/Lewontin 2004, Reydon/Hemerik 2005,
Rosenberg/McShea 2008, Assis/Brigandt 2009.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 141
ein Begriff oder ein Sachverhalt ist, der eigentlich wohlbekannt und ver-
traut ist. So war die analytische Wissenschaftstheorie beispielsweise lange
mit der Frage beschäftigt, was eigentlich eine wissenschaftliche Erklärung
ist. Natürlich gehört das Geben wissenschaftlicher Erklärungen zum Alltag
der Wissenschaften, aber die Frage nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung eigentlich ist, bricht aus diesem Alltag aus, indem sie etwas in
Frage stellt, was in diesem Alltag als verstanden und geläufig vorausge-
setzt wird. Grob gesprochen sind philosophische Fragen nun um so radika-
ler, je größer und gewichtiger der in Frage gestellte Bereich ist. So ist etwa
die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Wissens
eine radikalere Fragestellung als die nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung ist, weil die letztere Frage in ersterer enthalten ist. Noch radika-
ler ist beispielsweise die Frage nach der Möglichkeit von Wissen über-
haupt, und vielleicht noch radikaler die kritische Frage nach der Existenz
oder Existenzweise von Gegenständen (die möglicherweise Objekte des
Wissens werden können).
Akzeptiert man die verschiedenen Grade von Radikalität philosophi-
scher Fragen, so ergibt sich eine Konsequenz für die philosophische Aus-
einandersetzung. In einer potentiell fruchtbaren philosophischen Ausei-
nandersetzung müssen sich die Gesprächspartner des angestrebten Niveaus
der philosophischen Radikalität bewusst sein und es explizit machen, weil
sonst die eine Partei möglicherweise etwas stillschweigend als unproble-
matisch voraussetzt, was die andere Partei gerade in Frage stellt. Unter
diesen Umständen müssen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden.
(3) Die typisch philosophische Infragestellung etwa eines Begriffs oder
eines (vermeintlichen) Sachverhalts kann grundsätzlich zwei verschiedene
Ergebnisse haben. Sie kann einmal zu einer Klärung des entsprechenden
Begriffs oder Sachverhalts führen, so dass man ein tieferes Verständnis des
Begriffs oder des Sachverhalts gewinnt. Sie kann aber auch zu einer De-
struktion des Begriffs bzw. Sachverhalts führen, weil sich bei der genaue-
ren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. So stell-
ten sich beispielsweise für Kant sowohl die rationalistische als auch die
empiristische Tradition als unhaltbar heraus. Als Beispiel einer ziemlich
erfolgreichen philosophischen Klärung kann der Begriff der logischen
Folgerung dienen. Diese Klärung war so erfolgreich, das die daraus entste-
henden Konsense die Bildung der Logik als einer eigenständigen wissen-
schaftlichen (mathematischen) Disziplin ermöglicht haben.
(4) Für die Philosophie ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption
von Fortschritt als für die Einzelwissenschaften. Für die Einzelwissenschaf-
ten ist der Fortschritt primär an die Zunahme positiven Wissens gebunden.
Wie genau diese Zunahme zu charakterisieren ist, ob man hier in einem
strengen Sinn von Wissen sprechen kann u. ä., dies sind ihrerseits schwierige
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 143
Literatur
Ariew, A./Lewontin, R.C., 2004: The confusions of fitness, in: British Journal for the
Philosophy of Science 55, 347–363.
Assis, L.C.S./Brigandt, I., 2009: Homology: homeostatic property cluster kinds in
systematics and evolution, in: Evolutionary Biology 36, 248–255.
Brown, W.A., 1921: The future of philosophy as a university study, in: Journal of Phi-
losophy 18, 673–682.
Carrier, M., 2007: Wege der Wissenschaftsphilosophie im 20. Jahrhundert, in: A. Bar-
tels/M. Stöckler (Hg.), Wissenschaftstheorie: Ein Studienbuch, Paderborn, 15–44.
Chang, H., 1999: History and philosophy of science as a continuation of science by
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Geyer, C. (Hg.), 2004: Hirnforschung und Willensfreiheit: Zur Deutung der neuesten
Experimente, Frankfurt/M.
Griesemer, J., 2010: Philosophy and tinkering, in: Biology and Philosophy [im Druck].
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 145
Rainer Enskat
I.
II.
Im Vergleich mit der Spannweite der Problemstellungen und mit der Tie-
fenschärfe der Problembehandlung, die sich in Deutschland in repräsenta-
tiver Weise in Wolfgang Stegmüllers monumentalem Werk Probleme und
Resultate der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie (vgl.
Stegmüller, 1969 ff.) zeigen, mutet das Werk Quines mit seinem philoso-
phischen Suffizienzanspruch – und zwar ganz unbeschadet seiner internen
Strenge und Fruchtbarkeit – wie eine exotische Pflanze an, die zwar in
ihrer natürlichen Umgebung schon längst ausgestorben wäre, aber in einem
Philosophie und Wissenschaftstheorie 149
III.
Ein einfaches, aber deswegen besonders instruktives Beispiel bildet Du-
hems Analyse von Descartes’ Forschungen zu den Phänomenen des Lichts.
Descartes’ Metaphysik des Lichts wird nach Duhems Kriterium von dessen
These über die instantane Ausbreitung des Lichts und von den Erörterun-
gen der Brechungsphänomene des Lichts gebildet, die er aus dieser Instan-
tanität zu erklären sucht. Die Demarkationslinie zwischen Metaphysik und
Physik kommt bei Duhem indessen dadurch im Fall von Descartes’ For-
schungen ans Licht, dass die Zuhilfenahme dieser Metaphysik weder hin-
reichend noch nötig ist, um das gesetzförmige Verhalten des Lichts beim
Übergang von einem Medium in ein anderes zu erklären (vgl. ebd., 40).
Man hat daher gelegentlich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass
Duhems Theorie in diesem Punkt eine wichtige Form der Verwandtschaft
mit Poppers berühmtem Abgrenzungskriterium der empirischen Falsifi-
zierbarkeit zeigt (vgl. Schäfer, 1998, XVII* f.). Doch gerade deswegen ist
es umso wichtiger, auf die funktionalen Unterschiede dieser beiden Krite-
rien zu achten. Denn ihre Anwendung kann unter Umständen zu ganz ver-
schiedenen Grenzziehungen zwischen Physik und Metaphysik führen. Bei-
spielsweise im Fall von Descartes’ Theorie des Lichts erweist sich Poppers
Kriterium als liberaler als Duhems Kriterium. Denn die These Descartes’,
dass sich das Licht instantan fortpflanze, die nach Duhems Kriterium zur
Metaphysik gehört, ist empirisch überprüfbar und im Zuge der Entdeckung
der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit durch den dänischen Physiker
Rømer im Sinne von Poppers Kriterium falsifiziert worden (vgl. Duhem
1998, 40). Dieser Teil von Descartes’ Lichttheorie gehört insofern durchaus
nicht zur Metaphysik, sondern zur empirisch arbeitenden Physik.
Daher ist es wichtig zu beachten, dass die Tragweite solcher Abgren-
zungskriterien gespalten ist. Denn mit jedem derartigen Kriterium ist nun
einmal der Anspruch auf eine Beurteilungskompetenz verbunden, in deren
Obhut diagnostiziert werden können soll, was Metaphysik und was empiri-
sche Wissenschaft ist und was nicht. Darüber hinaus wird aber auch der ganz
und gar nicht triviale Anspruch erhoben, dass es die Wissenschaftstheorie ist,
die im Besitz dieser Beurteilungskompetenz sei. Doch nichts wäre verfehl-
ter, als diesen Anspruch uneingeschränkt zu akzeptieren. In der Theorie der
empirischen Wissenschaften ist der Name der Metaphysik ein ganz und gar
nichtssagender Name für eine Residualkategorie von Sätzen, für deren Ana-
lyse sie sich aus systematischen Gründen nicht zu interessieren braucht.
Zwar gelangt die Wissenschaftstheorie in der Regel erst durch eine sorgfälti-
ge Mikroanalyse von paradigmatischen Sätzen zu dem Ergebnis, dass es sich
um nicht-empirische nicht-wissenschaftliche und insofern um metaphysi-
sche Sätze handele. Ihr analytisches Interesse widmet die Wissenschafts-
theorie den metaphysischen Sätzen indessen ausschließlich mit dem Ziel, die
Philosophie und Wissenschaftstheorie 151
Gründe zu klären, aus denen sie berechtigt ist, sich nicht weiter für sie zu
interessieren. Doch die einschlägigen Abgrenzungskriterien enthalten nicht
die geringsten Informationen oder sonstigen Orientierungshilfen, durch die
man irgendwelchen spezifischen Gründen auf die Spur kommen könnte, aus
denen man berechtigt sein könnte, solchen Sätzen und ihren nicht-empiri-
schen Begründungen das Interesse zu widmen, aus dem sie durch Metaphy-
siker erarbeitet werden. Die Wissenschaftstheorie ist von solchen spezifi-
schen Aspekten, Kriterien und Gründen leer und für solche Aspekte, Gründe
und Kriterien blind. Die Wissenschaftstheorie hat keine spezifische Beurtei-
lungskompetenz für die Metaphysik. Die Metaphysik hat daher aber auch
keinerlei ernstzunehmende Gründe, solche Abgrenzungskriterien uneinge-
schränkt zu akzeptieren. In der Regel wird sie durch ein solches Abgren-
zungskriterium auf eine unter mehreren möglichen empiristischen Selbst-
deutungen der empirischen Wissenschaft aufmerksam gemacht. Doch wie
die Geschichte der Wissenschaftstheorie gezeigt hat, sind diese Abgren-
zungskriterien – und damit der Status der empirischen Wissenschaft – nicht
weniger strittig als der Status der Metaphysik. Wenn die Metaphysik aus der
Geschichte der empiristischen Abgrenzungskriterien irgendetwas lernen
kann, dann allenfalls – aber immerhin – dies, dass sie gut beraten ist, wenn
sie sich um Kriterien zur Abgrenzung gegen die empirische Wissenschaft
mit demselben Maß an methodischer und formaler Sorgfalt und Strenge
bemüht wie sie inzwischen für die besten wissenschaftstheoretischen Bemü-
hungen um eine Klärung empiristischer Abgrenzungskriterien selbstver-
ständlich sind.
IV.
Indessen kann man an einem in doppelter Hinsicht anspruchsvollen und
dennoch relativ einfachen Beispiel erläutern, wie Wissenschaftstheorie und
Metaphysik sogar dann dazu verurteilt sind, aneinander vorbeizureden,
wenn die Wissenschaftstheorie auf ihrem höchsten Niveau die Metaphysik
auf deren höchstem Niveau ernstzunehmen versucht. Das Beispiel möge
der von Wolfgang Stegmüller 1967/68 unternommene Versuch abgeben,
Kants Metaphysik der Erfahrung einer rationalen Rekonstruktion zu unter-
ziehen (vgl. Stegmüller 1974, 1–61).1 Es gibt keine andere Arbeit eines
1
Ich lasse hier den naheliegenden Vorbehalt auf sich beruhen, dass Kant selbst diese
Theorie im Sinne seiner eigenen Disziplinensystematik gerade nicht als eine Meta-
physik auffasst, sondern als unentbehrlichen Teil einer kritischen Propädeutik zur
Metaphysik (vgl. Kant 1976, A 841, B 869). Diese Theorie ist nach Kants Kriterien
allenfalls in dem schwächeren und unspezifischen Sinne eine Metaphysik, dass
auch sie eine nicht-empirische, apriorische Theorie ist (vgl. ebd.).
152 Rainer Enskat
Welt, in der wir leben und in der die Physik ihren Forschungen nachgeht,
erfüllt sind oder nicht, ist eine Frage, zu der die Transzendentalphiloso-
phie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln grundsätzlich gar nicht
Stellung nehmen kann, weil es sich dabei um eine in methodischer Hin-
sicht rein empirische Frage handelt. Bei alledem bleibt bei Stegmüller der
Umstand gänzlich ausgeblendet, dass in Kants transzendentalen Erörte-
rungen noch einem ganz anderen Typus von Bedingungen der Möglich-
keit der Erfahrung eine zentrale Rolle zufällt – den kognitiven „(Fähigkei-
ten oder Vermögen), die die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
enthalten“ (Kant 1976, A 94).2
Kant hat also entgegen anders lautenden Einschätzungen eine Ontolo-
gie weder intendiert noch ausgearbeitet noch sich in eine Ontologie verirrt.
Er sieht vielmehr die Möglichkeit der Erfahrung – also die Möglichkeit,
etwas über eine von uns unabhängig existierende Welt zu lernen – u. a.
auch von den Bedingungen abhängen, dass diese Welt kausale Züge hat
und von etwas Beharrlichem durchdrungen ist. Doch damit zeigt sich, dass
der Versuch der Wissenschaftstheorie, mit einer ontologischen Fundamen-
talphilosophie Kants ins Gespräch zu kommen, schon vor dem Beginn
eines solchen Gesprächs zum Scheitern verurteilt ist, weil es eine solche
ontologische Fundamentalphilosophie Kants nicht gibt. Es ist angesichts
dieses Versuchs von Stegmüller, Kants nicht-ontologische Transzendental-
philosophie in eine ontologische Wissenschaftsphilosophie zu transformie-
ren, allerdings auch nicht sonderlich überraschend, dass Quine mit seiner
ontologisch orientierten Konzeption einer auf Wissenschaftsphilosophie
eingeschränkten Philosophie der Autor ist, auf dessen Arbeiten Stegmüller
in dieser Abhandlung am häufigsten Bezug nimmt.
V.
2
Vgl. hierzu zuletzt den eindringlichen und erhellenden Kommentar von Wolfgang
Carl (vgl. Carl 1992).
Philosophie und Wissenschaftstheorie 155
zu entwerfen – also von den Begriffen, den Sätzen, den Satzgefügen und
den Theorien, zu denen Wissenschaftler durch ihre Arbeit gelangen. Da der
wissenschaftliche Fortschritt stets ein Schritt ist – abgesehen von den un-
zähligen Zwischenritten, die ihm vorangehen und zu ihm beitragen –,
durch den man über eine schon zur Verfügung stehende bewährte Theorie
hinausgeht und zu einer neuen, noch leistungsfähigeren Theorie gelangt,
musste man zunächst lernen, die Binnenstrukturen solcher Theorien so zu
analysieren, dass man in jedem konkreten Einzelfall zuverlässig alle Kom-
ponenten identifizieren kann, die einerseits in der alten Theorie für eine
Überwindung durch den Fortschritt in Frage kommen und die andererseits
in der neuen Theorie in der umgekehrten Richtung für diese Überwindung
in Frage kommen. Um also Theorienvergleiche durchführen zu können,
wenn man wenigstens paradigmatische Fortschrittsbedingungen analysie-
ren wollte, musste man Vergleichsstandards erarbeiten. Diese Standards
mussten aber auch so ausfallen, dass sie invariant gegenüber beliebig ver-
schiedenen konkreten in der Geschichte der Wissenschaften erarbeiteten
Theorien sind. Und für die Erarbeitung solcher invarianten Standards er-
öffnete ebenso offensichtlich weder die Metaphysik noch irgendeine ande-
re Spezialdisziplin der Philosophie, sondern ausschließlich eine rein forma-
le Disziplin, also die Formale Logik einen aussichtsreichen Weg.
Man macht sich inzwischen kaum noch klar, mit welcher völligen Hilf-
losigkeit die Philosophie – aber eben auch noch Wissenschaftstheoretiker
wie Duhem – in dieser Situation vor der Aufgabe standen, einen neutralen
Analyse- und Beurteilungsstandard für die Binnenstruktur wissenschaftli-
cher Theorien zu entwickeln. Denn wie man inzwischen längst weiß, ist an
der wichtigsten Leistung einer wissenschaftlichen Theorie, an der Erklä-
rung von individuellen Erfahrungstatsachen mit Hilfe eines Gesetzes je-
denfalls auch eine Ableitung im strengen und engen Sinne des logischen
Folgerungsbegriffs beteiligt. Doch gerade diese logische Teilstruktur einer
jeden derartigen Erklärung war für alle Wissenschaftler und Wissen-
schaftstheoretiker bis ins erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein
undurchdringliches Rätsel. Denn keines der logischen Systeme oder Quasi-
Systeme, die seit der Aristotelischen Syllogistik bis ins letzte Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts entwickelt worden waren, bot Kriterien und
Methoden an, mit deren Hilfe sich diese elementare logische Teilstruktur
befriedigend hätte durchsichtig machen lassen. Dies ist bekanntlich erst
möglich geworden, seit es Gottlob Frege ab dem letzten Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts mit Hilfe einer Vielzahl von ingeniösen formalen
Einsichten und Kunstgriffen gelungen war, der Formalen Logik und ihren
Anwendungen ein völlig neues und buchstäblich unerschöpfliches For-
schungsfeld zu eröffnen. Von hier aus wurde die logische Transparenz von
Erklärungen einzelner Erfahrungstatsachen aus empirisch bewährten uni-
156 Rainer Enskat
VI.
Aus dieser Aporie sind die Beziehungen zwischen Philosophie und Wis-
senschaftstheorie nicht ohne tiefe Wandlungen hervorgegangen. Der wich-
tigste theoretische Pilot-Beitrag zu diesen Wandlungen stammt aus dem
Buch des amerikanischen Physikers und Wissenschaftstheoretikers Joseph
Sneed The Logical Structure of Mathematical Physics (vgl. Sneed 1971).
Sneeds Untersuchungen zielen darauf, unter dem neuen Leitwort einer
Philosophie und Wissenschaftstheorie 157
3
Unter den zahlreichen Beiträgen von Wolfgang Stegmüller zur konstruktiven Aus-
arbeitung von Sneeds Ansatz vgl. vor allem die die wichtigsten Motive, Methoden,
Ziele und Überlegenheiten dieses Ansatzes plausibel machende Darstellung in
Stegmüller 1986, 468 f.
158 Rainer Enskat
4
Aus guten Gründen hat Wolfgang Stegmüller (1979) darauf aufmerksam gemacht,
dass in dieser Trias der Faktor des „Geflechts von Dispositionen …, d. h. von er-
worbenen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten“ (123) unbedingt berücksichtigt
werden sollte, ohne deren Zuhilfenahme auch kein Forscher, Wissenschaftler oder
Gelehrter auch nur einen einzigen noch so elementarer Schritt auf seinem jeweili-
gen Untersuchungsfeld tun könnte. Diese mehr oder weniger komplexen, im Kern
methodischen und technischen Fähigkeiten sind indessen ausschließlich kognitiv
strukturiert, weil sie das mehr oder weniger komplexe methodisch-technische
Know-how der wissenschaftlichen Tätigkeit bilden. Dieses Know-how ist indessen
sowohl im Blick auf den mathematischen Strukturkern wie im Blick auf das Be-
griffsnetz wie auch im Blick auf die intendierten Anwendungen einer (physikali-
schen) Theorie vonnöten. Es bildet aber auch den konstitutiven Wissenskern des
konventionellerweise sog. propositionalen Wissens. Denn propositional strukturier-
te Dokumente oder Sprechakte können auch von Personen hervorgebracht werden,
die – wie z. B. wissenschaftliche Laien – zu den propositionalen Gehalten solcher
Dokumente oder Sprechakte nicht die geringsten authentischen kognitiven Bezie-
hungen unterhalten – auch dann nicht, wenn diese Gehalte wahr sind. Erst in dem
Maß, in dem sie sich durch authentische Arbeit auf den einschlägigen Untersu-
chungsfeldern das sachgemäße methodisch-technische Know-how aneignen, mit
dessen Hilfe diese propositionalen Gehalte ursprünglich erworben worden sind,
werden sie zu Kandidaten für Inhaber eines Wissens um diese Gehalte. Kurz: Wis-
sen ist nicht proposition-abhängig, sondern person- und know-how-abhängig; ohne
sachgemäßes und authentisches, methodisch-technisches Know-how gibt es auch
kein sog. propositionales Wissen; vgl. hierzu ausführlich Enskat 2005.
Philosophie und Wissenschaftstheorie 159
VII.
Es ist vielleicht kein Zufall, dass fast in demselben Jahr, in dem Joseph
Sneed der Wissenschaftstheorie einen Weg aus der Befangenheit in dem
Irrationalitätsverdacht von Thomas Kuhns Buch über Die Struktur wissen-
schaftlicher Revolutionen gewiesen hat, das Programm einer Reha-
bilitierung der Praktischen Philosophie (vgl. Riedel 1971) publiziert wur-
de. Das zu Recht berühmt gewordene, von Manfred Riedel herausgegebene
zweibändige Sammelwerk unter diesem Titel enthielt denn auch eine Ab-
teilung zu dem Thema Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie
(vgl. ebd., 489–534). Friedrich Kambartel (vgl. ebd., 489–503) und Wolf-
gang Wieland (vgl. ebd., 505–534) erörtern hier unter verschiedenen As-
pekten Aufgaben, deren sich diese beiden Disziplinen überhaupt in einer
gemeinsamen Anstrengung und mit berechtigter Aussicht auf Erfolg an-
nehmen können, aber auch Aufgaben, wie sie im letzten Drittel des zwan-
zigsten Jahrhunderts darauf warten, von ihnen bearbeitet zu werden.
Es dürfte unstrittig sein, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor
die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn es um die Frage geht, welchen
praktischen Zielen ihre Resultate vernünftigerweise dienstbar gemacht wer-
den können. Die Antworten, die bisher vorgeschlagen worden sind, leiden
unter bestimmten systematischen Mängeln. Am prominentesten ist zu-
mindest in der deutschsprachigen Diskussion das 1963 zuerst von Joachim
Ritter (vgl. Ritter 1974, 105–140) konzipierte und später von Odo Marquard
(vgl. Marquard 1985) elaborierte und popularisierte Kompensationsmodell
geworden. Nach diesem Modell haben die Geisteswissenschaften – also die
philologischen, die literaturwissenschaftlichen und die historischen Dis-
ziplinen – die Aufgabe, den Menschen der wissenschaftlich-technischen
Zivilisation möglichst authentische Dokumente, Denkmäler und Symbole
der Vorgeschichte dieser Zivilisation mit dem Ziel zugänglich zu machen,
dass sie sich durch eine imaginative und emotionale Vertiefung in diese
Vorgeschichte für die Folgelasten dieser Zivilisation entschädigen können.
Der offenkundige psychotherapeutische Kern dieses Modells hat aller-
dings einen für ein praktisches Modell entscheidenden Nachteil, auf den
übrigens Erhard Scheibe hingewiesen hat: Es lässt in der Wirklichkeit, für
160 Rainer Enskat
naturwüchsigen Gegebenheiten auf, die sich mit den jeweils zur Verfügung
stehenden technischen Mitteln zu Nutzenressourcen umfunktionieren lie-
ßen. Die Indizien mehren sich, die darauf hinweisen, dass die Menschen
ihre Techniken zur Behandlung natürlicher Gegebenheiten niemals anders
als zur maximal möglichen Nutzung dieser Gegebenheiten verwendet ha-
ben – also in Formen, die früher oder später in lokale, in regionale und in
territoriale Dimensionen von Raubbau, Übernutzung und Verwahrlosung
ausarten mussten. Die überwältigende Mehrzahl der Menschen der bisheri-
gen Geschichte unterhielt höchstwahrscheinlich alles andere als Einstellun-
gen der Hegung, der Schonung und der Beschaulichkeit zur Natur, sondern
Einstellungen eines kurzsichtigen nutzenegoistischen Interventionismus’.
Vor diesem Hintergrund besteht der allerdings entscheidende Nachteil
von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodells trotz seiner kognitiven bzw.
epistemischen Zielrichtung darin, dass es gerade das kognitive Potential
der modernen Naturwissenschaft so gründlich verkennt, wie es gründlicher
gar nicht möglich ist. Denn eine systematische Hegung und Schonung der
Natur ist überhaupt nur mit Hilfe der unablässigen Fortschritte dieser Na-
turwissenschaft möglich. Erst wenn man über gut bewährte Hypothesen
über gesetzmäßige Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen
und Prozessen verfügt, kann man auch hinreichend zuverlässige Prognosen
über die Zustandsänderungen und Prozesse entwickeln, die durch techni-
sche Interventionen in vorfindliche natürliche Zustände und Prozesse
wahrscheinlich ausgelöst werden. Und erst wenn man über solche Progno-
sen verfügt, kann man solche Konsequenzen von technischen Interven-
tionen mit allen in Frage kommenden utilitaristischen Modellen bewerten.
Aber erst wenn man über hinreichend zuverlässige Bewertungen des rela-
tiven Nutzens, des relativen Schadens bzw. der relativen Harmlosigkeit
solcher Konsequenzen verfügt, kann man auch beurteilen, ob die beteilig-
ten natürlichen Zustände und Prozesse von einer Intervention verschont
bleiben sollten, weil die technischen Interventionsoptionen Zustands- bzw.
Prozessänderungen auslösen würden, die mehr oder weniger langfristig mit
Unzuträglichkeiten für Menschen verbunden wären. Kurz: Eine von Ein-
sicht und Erkenntnis geleitete Schonung und Hegung der Natur – also eine
Überwindung der Entfremdung von der Natur – ist überhaupt nur auf der
kognitiven oder epistemischen Basis der Fortschritte der modernen Natur-
wissenschaften möglich.5
Der Fehler von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodell liegt also offen-
sichtlich darin, dass er irrtümlich meint, die Erkenntnisse der modernen
Naturwissenschaft seien in ebenso schicksalhafter wie verhängnisvoller
5
Vgl. hierzu die ausgewogenen Überlegungen von Lothar Schäfer (Schäfer 1993).
162 Rainer Enskat
VIII.
Es kann unter diesen Umständen fast so scheinen, als wenn es sich bei den
Geisteswissenschaften um eine Wissenschaftsgruppe handelt, deren Resul-
tate ähnlich müßig sind, wie es z. B. eine lyrische Dichtung zu sein scheint,
die im siebenten vorchristlichen Jahrhundert auf einer großen griechischen
Insel verfaßt worden ist. Doch der Schein trügt. Die Versuche, die Wissen-
schaftstheorie und die Praktische Philosophie zu einer Verständigung über
eine sog. praktische Relevanz der Geisteswissenschaften zu bringen, die der
internen Struktur der Geisteswissenschaften Rechnung trägt, leiden unter
einem gemeinsamen Fehler: Sie versäumen es von Anfang an, die wirklich
elementaren Fragen zu stellen, mit deren Hilfe man sich einen Zugang zu
dieser praktischen Relevanz eröffnen kann. Stattdessen suchen sie Zuflucht
bei diagnostischen und therapeutischen Hilfsmitteln wie einem Kompensa-
tionsmodell oder einem Entfremdungs- bzw. Anti-Entfremdungsmodell, die
Philosophie und Wissenschaftstheorie 163
6
Die kognitiven Tugenden der Urteilskraft bilden einen systematischen Brennpunkt
in meinem Buch (Enskat 2008); eine vorzügliche Erörterung der intrinsischen Ver-
bindung von Tugend und Wissen in der Gestalt der kognitiven Tugenden bietet mit
Blick auf den ursprünglichen Kontext ihrer Entdeckung bei Platon das Buch von
van Ackeren 2001.
164 Rainer Enskat
IX.
7
Insofern – aber auch nur insofern – trifft Heidegger einen entscheidenden Punkt,
wenn er in seiner Analyse der kognitiven Ursprünge der Wissenschaft betont, dass
„der Aufweis der existentialen Genesis der Wissenschaft bei der Charakteristik
der Umsicht einsetzen müsse […]“ (ebd., 358). Die existentiale Genese der Wis-
senschaft auch aus der Vorsicht, die zur Kultivierung von Methoden zur Gewin-
nung von immer leistungsfähigeren Prognosen führt, bleibt bei Heidegger indes-
sen ausgeblendet. Das ist umso bemerkenswerter als in seiner existentialen
Analyse der Zeitlichkeit des Daseins durch das „Sichvorweg“ des Daseins im
Modus der Sorge (vgl. ebd., 236 f.) die Zukunft des Daseins ebenso eine dieses
Dasein umfassende und durchdringende Dimension der Zeit bildet wie die Ge-
genwart, in der sich die Um-stände der Um-welt finden, denen die Um-sicht des
Daseins gilt (vgl. ebd., 72 f.).
Philosophie und Wissenschaftstheorie 165
kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen ebenso seit unvordenkli-
chen Zeiten diejenigen unter den jeweils mehr oder weniger wahrscheinli-
chen Handlungskonsequenzen zu ermitteln und praktisch zu gewichten
suchen, durch die andere Menschen in ihrem Wahrnehmungshorizont so
betroffen sind, dass Grad und Art dieser Betroffenheiten ihr Urteil über die
jeweilige Handlungspräferenz modifizieren. Das wichtigste Medium dieser
Betroffenheiten bilden im alltäglichen Leben die Traditionen, also die
Konventionen, die Sitten und die Gebräuche in den Lebensformen der
Menschen. In diesem Medium empfangen die Menschen ihre allermeisten
und wichtigsten praktischen und technischen Orientierungshilfen über die
Handlungs- und Verhaltensmuster, die sich in den durchschnittlichen Situ-
ationen des alltäglichen Lebens schon hinreichend lange bewährt haben.
Die kognitive Tugend der Rücksicht gilt daher den Zumutungen, die den
Menschen unter Umständen sowohl durch die banalsten wie durch die
komplexesten Interventionen in die Lebensformen angesonnen werden
können, die sie im Medium von Traditionen praktizieren. Doch keine ande-
re Wissenschaftsgruppe als die der Geisteswissenschaften ist es, die uns
seit nunmehr rund zweihundert Jahren geradezu planmäßig immer mehr
die Augen dafür öffnet, in welchem Maß sowohl die Zumutbarkeiten wie
die Unzumutbarkeiten von Interventionen in Lebensformen von Menschen
von Traditionen abhängen. Dieses Maß hängt immer offenkundiger in so
komplizierten und tief verwurzelten Formen mit unserer gemeinsamen
geschichtlichen Vergangenheit zusammen, dass es auch nur durch die
planmäßige Arbeit der Geisteswissenschaften – also der philologischen,
der literaturwissenschaftlichen und der historiographischen Disziplinen –
ausgelotet und differenziert werden kann.
Die wissenschaftsbasierte technische und ökonomische Dauerrevolu-
tionierung der praktischen Lebenswelt, die mit der Industriellen Revolution
in der Mitte des 18. Jahrhunderts angefangen hat, wird nicht zufällig von
dem zuerst bei Vico dokumentierten Bewusstsein begleitet, dass nunmehr
auch die geschichtliche Dimension der Traditionen einer neuen wissen-
schaftlichen Wachsamkeit bedarf – eben der Wachsamkeit, durch die spä-
ter sog. Geisteswissenschaften. Traditionen sind nun einmal keine müßigen
Medien zur lebensfernen Überlieferung von veralteten Ausdrucksformen
menschlichen Lebens. Traditionen haben für das Zusammenleben der
Menschen eine analoge Funktion wie Experimente für die naturwissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Natur: Experimente sind die einzi-
gen und daher die wichtigsten technischen Bewährungsproben für Hypo-
thesen über Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen und
Prozessen; Traditionen bilden hingegen die einzigen und daher auch die
wichtigsten geschichtlichen Bewährungsproben für die praktischen Le-
bensformen der Menschen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um soziale
166 Rainer Enskat
X.
8
Zur traditionsbildenden Behandlung dieser Trias der kognitiven Tugenden der
Urteilskraft in der Geschichte von Philosophie und Theologie vgl. die instruktive
Übersicht von Kobusch 2001.
Philosophie und Wissenschaftstheorie 167
reflexive Hüterin und Anwältin der praktischen Urteilskraft. Aus der philo-
sophischen Arbeit in dieser thematischen Tradition und aus der philosophi-
schen Auseinandersetzung mit dieser Tradition kann daher jede Gegenwart
– nicht nur unsere aktuelle Gegenwart – mindestens so viel und so Wichti-
ges über die kognitiven und die normativen Voraussetzungen ihrer Praxis
lernen wie aus irgendeiner Wissenschaftstheorie oder aus irgendeiner posi-
tiven Wissenschaft.
Literatur
van Ackeren, M., 2001: Das Wissen vom Guten. Bedeutung und Kontinuität des Tu-
gendwissens in Platons Dialogen, Amsterdam/Philadelphia.
Carl, W., 1992: Die transzendentale Deduktion der Kategorien in der ersten Auflage der
Kritik der reinen Vernunft. Ein Kommentar, Frankfurt/M., 1992.
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—, 1928b: Der logische Aufbau der Welt, Berlin.
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Die Aufgabe der Philosophie in
den Lebenswissenschaften
Michael Quante
I. Einleitung
Bevor ich mich der Aufgabe stelle, über die Aufgabe der Philosophie in
den Lebenswissenschaften zu reflektieren, möchte ich kurz auf die überge-
ordnete Leitfrage dieses Bandes „Warum noch Philosophie?“ eingehen und
einige wenige einleitende Bemerkungen zum Ziel und Aufbau meines
Beitrags voranschicken.
Warum stellen wir uns die Frage „Warum noch Philosophie?“ gegen-
wärtig überhaupt? Prima facie leuchtet es ein, dass eine Konferenz, die
anlässlich des UNESCO-Welttags der Philosophie durchgeführt wird, sich
dieser Frage widmet. Suchte man nach einer Definition der Philosophie, die
in historischer und systematischer Hinsicht eine Chance hätte, als Minimal-
konsens akzeptiert zu werden, dann wäre vermutlich der Vorschlag, das
Wesen der Philosophie bestehe in Selbsterkenntnis der Philosophie durch
ihre Selbstreflexion, recht aussichtsreich. Weniger wohlwollend ließe sich
diese Leitfrage aber auch auf andere Weise verstehen: Warum ist Philoso-
phie eigentlich noch existent?1 Wofür ist sie unverzichtbar und notwendig
oder zumindest hilfreich? Weshalb ist sie nicht längst abgelöst: von empi-
risch fundierter Gesellschaftstheorie, wissenschaftlich informierter Anthro-
pologie oder solider historischer Forschung? Ist Philosophie vielleicht nur
ein kulturelles Relikt, ein erbaulicher Anachronismus und – in ihrer univer-
1
Dies ähnelt dann der Frage, die zum Teil den Überlegungen von Jürgen Habermas
zum Nichtverschwinden bzw. Wiedererstarken der Religionen zugrunde liegt.
172 Michael Quante
Berechtigt ist der Hinweis, man müsse auf den subtilen semantischen Un-
terschied zwischen „Warum noch Philosophie?“ und „Wozu noch Philoso-
phie?“ achten2; auch die Nachfrage, ob mit der Einschätzung, das Fach sei
personell ausgezehrt, nur auf die verbesserungswürdige Stellensituation an
deutschen Universitäten hingewiesen werden soll, drängt sich auf, da man
diese Bemerkung des Berichterstatters auch als Ruf nach neuen Genies
oder großen Geistern verstehen – oder missverstehen (?) – könnte. Unbe-
streitbar sollte es, dies ein weiterer berechtigter Hinweis, auch der FAZ
zwischenzeitlich nicht entgangen sein, dass die heutigen Fragen auch auf
Philosophinnen zukommen; oder gilt für diese aus Sicht des Bericht-
erstatters etwa, dass sie ihre Fragen erfinden?
Trotz dieser zumindest missverständlichen Bemerkungen enthält die
soeben zitierte Passage aus dem Kongressbericht der FAZ zwei für die
Fragestellung meines Beitrags relevante Behauptungen: Zum einen wird
konstatiert, dass die Philosophie der Phase der Selbstinfragestellung ent-
ronnen sei; und zum anderen wird behauptet, dass es gerade der Kontext
der Lebenswissenschaften sei, durch den Philosophie ihr neues (altes?)
Selbstbewusstsein zurück gewonnen und einen festen Platz im gesell-
schaftlich-politischen Leben wiedererlangt habe. Damit stellt sich, wenn
diese Diagnose der FAZ zutreffend ist, die Frage, ob die Leitfrage „Warum
noch Philosophie?“ nicht einen Rückfall in soeben überwundene Krisen-
zeiten der Philosophie darstellt.
Um hier klarer zu sehen, ist es wichtig, sich eine mögliche Zwiespäl-
tigkeit der Frage nach dem Warum der Philosophie zu vergegenwärtigen.
Ihre Ambivalenz verdankt sich der Tatsache, dass der sich in der Frage
ausdrückende Zweifel von unterschiedlicher Art sein kann.
2
Vgl. dazu den Beitrag von Marcel van Ackeren und Jörn Müller in diesem Band.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 173
Wenn die Selbstreflexion von der Art des existentiellen Zweifels ist,
dann haben wir es mit einer Selbstinfragestellung der Philosophie zu tun,
die sich der Unverzichtbarkeit, der Sinnhaftigkeit oder auch der Möglich-
keit, ihre selbst formulierten Ansprüche zu erfüllen, nicht mehr sicher ist.
Die daraus resultierende Selbstthematisierung stellt weniger, wie der Be-
richterstatter der FAZ möglicherweise suggerieren wollte, eine narzissti-
sche Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung dar; und sicher ist dieses
Phänomen auch nicht durch den Hinweis zu erklären, der Philosophie seien
halt, vielleicht verursacht durch den Mangel an ‚großen Köpfen‘, die The-
men ausgegangen, so dass ihr nur noch das Gerede über sich selbst in den
Sinn komme. Die auf einem existentiellen Zweifel beruhende Selbstthema-
tisierung ist vielmehr eine Weise, mit einer Identitätskrise, d. h. einem Riss
im Selbstverständnis umzugehen. Es liegt nahe, dass eine derart auf sich
und ihre Grundlagen zurückgeworfene Disziplin wenig Potenzial hat, auf
die Fragen und Kooperationsangebote anderer Disziplinen einzugehen.
Die Dominanz dieser Art von Selbstzweifel ist also als Krisensymptom
zu verstehen; daraus ist aber nicht der voreilige Schluss zu ziehen, dass
eine gut ‚funktionierende‘ Philosophie von dieser Form des Zweifels gänz-
lich frei wäre (bzw. sein sollte). Es gehört vielmehr zur Verfasstheit der
Philosophie (und zu ihrer spezifischen Differenz gegenüber anderen For-
men epistemischer Einstellungen zur Welt), dass ein existenzieller diszi-
plinärer (!) Zweifel für sie konstitutiv ist. Dies muss sich nicht aus einer
persönlichen existentiellen Form des Selbstzweifels der philosophierenden
Person herleiten, sondern kann auch auf die rein disziplinäre Ebene be-
schränkt sein. Die Philosophie gerät jedenfalls, wenn sie diese Dimension,
man könnte von einer für sie konstitutiven Fragilität der eigenen Grundla-
gen sprechen, ihres eigenen Tuns ausblendet, verdrängt oder meint, über-
wunden zu haben, regelmäßig in die Gefahr entweder des szientistischen
Positivismus oder der antiliberalen Ideologie.
Von dem gerade erwähnten existentiellen Zweifel, der das Philoso-
phieren in seinen Grundfesten konstituiert und zugleich beunruhigt, ist ein
methodologischer Zweifel im Sinne der Explikation der eigenen Rolle als
Moment der Selbstverständigung zu unterscheiden. Eine solche Bewusst-
machung und für andere, auch über die eigene Disziplin hinaus vermittel-
bare Darstellung des eigenen Selbstverständnisses (hinsichtlich der Funk-
tion, der Ansprüche und der Standards) gehört, wenn nicht sogar zur
Wissenschaftlichkeit überhaupt, so doch zumindest zum Wesen der Philo-
sophie. Der methodologische Zweifel lässt sich aber, das ist an dieser Stel-
le wichtig zu betonen, durchführen, ohne dass damit ein existentieller
Zweifel am eigenen Tun oder dem eigenen Selbstverständnis der Philoso-
phie einhergeht. Es liegt auf der Hand, dass eine Disziplin dann, wenn sie
sich in einen Dialog mit anderen Disziplinen begibt oder den Bereich der
174 Michael Quante
3
Um dem an dieser Stelle nahe liegenden Vorwurf der Naivität gleich zu begegnen:
Das soeben Gesagte impliziert nicht die Behauptung, dass man in einem innerdis-
ziplinären philosophischen Kontext auf diese Art der Selbstverständigung verzich-
ten kann, weil es hier einen ‚Goldstandard‘ gebe.
4
Dies schließt weder aus, dass es in Gesellschaft und Politik, in den Lebenswissen-
schaften und der Philosophie selbst auch Stimmen gibt, die diese Relevanz oder die
Tauglichkeit der Philosophie in diesen Kontexten bestreiten. In manchen Zirkeln
der Geisteswissenschaften und in weiten Teilen der Gesellschaftswissenschaften,
man denke nur an die diversen Postmodernismen einerseits oder die von einer
Luhmannschen Systemtheorie geprägte Soziologie andererseits, dürfte dies sogar
die vorherrschende Meinung sein. Aus philosophischer Sicht liegt allerdings der
Verdacht nahe, dass diese Einschätzung aus unaufgeklärten philosophischen Resi-
duen der sich als Alternative zur Philosophie begreifenden Ansätze entspringt.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 175
5
Es geht in diesem Abschnitt um die dialektische Bewegung zwischen philosophi-
schen Gestalten, die als Stereotypen fungieren. Damit sind also keine individuellen
philosophischen Positionen gemeint, auf die im Folgenden entsprechend auch nicht
verwiesen wird; vielmehr ist damit zu rechnen, dass keine individuell vertretene
Position genau diesen Stereotypen entspricht. Der damit einhergehende Effekt, dass
sich vermutlich kein Leser von diesen Stereotypen selbst angesprochen fühlt, sie
dagegen aber anderen Philosophen zuordnen kann, ist zwar nicht im engeren Sinne
beabsichtigt, wohl aber wissentlich in Kauf genommen.
6
Dabei kann es sich um metaethische, epistemologische, methodologische, wissen-
schaftstheoretische oder auch ganz allgemein metaphilosophische Annahmen han-
deln.
176 Michael Quante
7
Ein schlagendes Beispiel für diese Tendenz waren in den letzten Jahren die in die-
sem Sinne (!) aufgeklärten Attacken auf die Willensfreiheit, die bis zur Forderung
nach einer Entideologisierung und Umgestaltung des Strafrechts gingen.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 177
8
Im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich liegen die Dinge häufig
etwas anders. Auch wenn die Philosophie weder eine Sozial- oder Gesellschafts-
noch eine Geisteswissenschaft ist, führt ihre scheinbare größere Nähe zu diesen
Disziplinen doch dazu, dass es auf der methodologischen Ebene ein stärkeres Ab-
grenzungsbedürfnis gibt. Dafür kommt es dann auf der inhaltlichen Ebene häufig zu
kurzschlüssigen Allianzen: So gelten z. B. den Ökonomen regelmäßig solche Philo-
sophen als ‚groß‘, die mit ihnen bestimmte inhaltliche Positionen – z. B. in Bezug
auf die Unverzichtbarkeit liberaler Märkte oder die Unantastbarkeit des Privat-
eigentums – teilen. Die geteilte ‚Wahrheit‘ der Weltanschauung ersetzt dabei gerne
einmal die Qualität der Argumentation.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 179
Bevor ich mich der dritten Tendenz zuwende, seien drei Anmerkungen
zur Vermeidung möglicher Missverständnisse eingefügt: Erstens spricht
nichts dagegen, sondern (aus Sicht des Faches) alles dafür, den Preis der
Philosophie hoch zu halten, solange die Würde der Philosophie dabei nicht
beschädigt wird. Damit ist zweitens gesagt, dass die Philosophie, wenn sie
sich in die Felder der Lebenswissenschaften begibt, nicht notwendig schei-
tern, d. h. ihre Würde verlieren muss. Schließlich möchte ich drittens dar-
auf hinweisen, dass es zusätzlich zu den oben genannten ‚Zwängen‘ und
‚Versuchungen‘ noch einen weiteren Punkt gibt, der ein Abgleiten in bloße
Akzeptanzbeschaffungsforschung befördern kann. Wenn die Philosophie
ihre Aufgaben im Bereich der Lebenswissenschaften ernst nimmt, dann
wird sie immer auch berücksichtigen müssen, welche normativen Forde-
rungen in einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext eine realistische
Chance auf Umsetzung haben. Dies ist ohne Zweifel ein schmaler Grat (ich
komme darauf im letzten Abschnitt dieses Beitrags noch einmal zurück).
II.3. Selbstmarginalisation
Die beiden soeben beschriebenen Tendenzen stellen keine lediglich hypo-
thetischen Gefährdungslagen dar. Vielmehr gibt es Entwicklungen in der
gegenwärtigen Philosophie, die zu einer kritischen Selbstreflexion berech-
tigten Anlass geben, die über eine bloße methodologische Selbstverständi-
gung hinausgehen müssen. Die dritte Tendenz, die ich jetzt kurz skizzieren
möchte, reagiert auf derartige Fehlentwicklungen explizit normativ und
versteht die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften als
sittliche Mission, betreibt diese jedoch auf eine Weise, die zur Selbstmargi-
nalisation der Philosophie führt. Dabei lassen sich grob drei Varianten der
Philosophie, die auf die beiden soeben beschriebenen Formen der Selbst-
aufgabe der Philosophie mit der Aufgabe der sittlichen Mission in den
Lebenswissenschaften antworten, unterscheiden:
(a) die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff,
(b) die ‚schöne‘ Seele,
(c) die Diktatur der reinen Moralität.
(a) Die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff treten Philosophinnen und Philoso-
phen sowohl im Bereich der Philosophie des Geistes, besonders gerne im
Bereich der Philosophie der personalen Identität, als auch im Bereich der
Ethik in den Lebenswissenschaften an. Nicht nur als Radikalkur gegen die
diversen Versuchungen, der Welt verwertbares Wissen zur Verfügung zu
stellen, sondern auch als Sicherheitsmaßnahme, die der Philosophie einen
eigenständigen Gegenstandsbereich bewahren soll, der vor der feindlichen
Übernahme durch die empirischen Wissenschaften generell und ein für alle
mal gefeit ist, zieht sich die Philosophie auf das Prinzipielle zurück, das
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 181
9
Für eine Analyse solcher konstitutiv unaufrichtigen Gestalten des Bewusstseins sei
hier neben Hegels Phänomenologie des Geistes auf die Arbeiten Bruno Bauers oder
Jean-Paul Sartres verwiesen.
184 Michael Quante
Zuerst einmal ist es wichtig, dass sich die Philosophie den anderen
Disziplinen auf Augenhöhe und mit Augenmaß zuwendet. Ersteres bedeu-
tet, dass sie in den Dialog im Bewusstsein der (methodologischen und
begründungstheoretischen) Eigenständigkeit unter klarer Einforderung der
prinzipiellen argumentativen Gleichberechtigung eintritt. Dies erfordert die
permanente Ausübung ihrer konstitutiven Fähigkeit zur kritischen Reflexi-
on der disziplinenübergreifenden Kooperation und zur kritischen Selbstre-
flexion ihrer eigenen Rolle dabei.10
Augenmaß ist von Nöten, um die Fragestellungen der anderen Diszip-
linen zu erkennen und in ihrem Eigenrecht anzuerkennen. Angesichts der
Faszination des Konkreten, seien es Kausalerklärungen, konkrete Daten
oder auch Visualisierungen von Gehirnprozessen, ist die Philosophie auf-
gefordert, sich die philosophische Relevanz dieser Daten klar zu machen
und genau zu bestimmen, welchen Beitrag die einzelnen Disziplinen zur
jeweiligen Problemstellung beizutragen haben. Um Missverständnisse und
Reibungsverluste durch Kompetenzstreitigkeiten oder soziale Konflikte zu
vermeiden, ist es an dieser Stelle unerlässlich, zwischen einer horizontalen
und einer vertikalen Form interdisziplinärer Kooperation zu unterscheiden.
Ersterer ist das Ideal der Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer auf
allen Ebenen eingeschrieben; letztere akzeptiert, dass je nach Problemdefi-
nition bestimmte Disziplinen die Fragestellungen oder Beweisziele vorge-
ben, also eine arbeitsteilige Struktur vorliegt.11
Dabei muss sie, immer wieder und aufs Neue, auf der Relevanz ihres
philosophischen Beitrags bestehen, auch wenn dieser in der Regel, man
denke an Begriffsklärungen und die Unterscheidung von Argumenta-
tionsarten oder -ebenen, quer zu den methodologischen Vorgaben und
Üblichkeiten der meisten anderen Disziplinen steht. Das Beharren auf dem
Unterschied zwischen deskriptiv-prognostischen und normativen Aussagen
oder der Relevanz begrifflicher Klärungen auch in Kontexten empirischer
Fragestellungen erfordert dabei ebenfalls Augenmaß (und Geduld auf allen
Seiten). Es liegt auf der Hand, dass die Philosophie dies nur umsetzen
kann, wenn sie über ein klares Bewusstsein ihrer eigenen Kompetenz qua
Philosophie verfügt.
Wo aber bleibt, so wird man vermutlich an dieser Stelle einwenden
wollen, in diesem Geschäft die Moral? Bei vielen, wenn auch nicht allen
Fragestellungen, die durch die Lebenswissenschaften aufgeworfen werden,
10
Gerade in dieser Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und zur kritischen Refle-
xion der interdisziplinären (oder auch transdisziplinären) Kooperation ist ein genui-
ner Beitrag der Philosophie zu verorten.
11
Ich habe diese Unterscheidung an anderer Stelle ausführlicher erörtert; vgl. hierzu
Quante 2002.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 185
12
Als Beispiel für letzteres verweise ich auf die unterschiedlichen Ebenen von Vertei-
lungsfragen im Gesundheitssystem, die einen überaus differenzierten Gebrauch des
Gerechtigkeitsbegriffs verlangt; ersteres erfordert z. B., die in gesellschaftlichen
Kontexten vorfindliche oder zu erwartende Konnotation von Termini mit zu beden-
ken (Beispiele sind etwa „Euthanasie“, „Humanexperiment“, „verbrauchende Em-
bryonenforschung“ oder „Zwangssterilisation“).
13
Denkt man an die rechtsphilosophischen Eskapaden mancher Hirnforscher oder die
neoliberalen Schnellschüsse mancher Ökonomen beim Versuch der Abwicklung
des Sozialstaats, so wird man nicht sagen wollen, dass dies eine irrelevante oder
leichte Aufgabe ist.
14
Und selbstverständlich feit die Philosophie, genauso wenig wie irgendeine andere
wissenschaftliche Disziplin, vor der Gefahr, sich korrumpieren zu lassen.
186 Michael Quante
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und Gesetzesfolgenabschätzung, Tübingen, 175–193.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein?
Wilhelm Schmid
Hat die Philosophie etwas mit dem Leben zu tun? Diese Frage stellen Men-
schen zuweilen, wenn sie mit den Überlegungen zu einer Philosophie der
Lebenskunst konfrontiert sind. Das also ist das Bild, das Philosophen von
ihrer Disziplin erzeugt haben; es ist nicht zu beurteilen, nur zur Kenntnis zu
nehmen. Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? Da sind es
wohl viele Philosophen selbst, die offen ablehnend oder diplomatisch aus-
weichend reagieren. „Hilfe für das Leben“: Das erscheint ihnen suspekt,
und nicht nur ihnen, sondern vielen Intellektuellen überhaupt. Es sind diese
Hoffnungen, die Intellektuelle in Furcht und Schrecken versetzen: Die Su-
che nach „Lebenshilfe“ einer wachsenden Zahl von Menschen trifft auf das
Entsetzen der Gebildeten, die nichts damit zu tun haben wollen.
Woher die Heftigkeit der Nachfrage, warum die Entschiedenheit der
Verweigerung? Die Nachfrage rührt her von all denen, die sich in ihrer
Lebensbewältigung auf sich selbst gestellt sehen, eine Folge der verlorenen
Tradition, Konvention, Religion, die bis ins Detail des Alltags hinein defi-
nieren konnten, wie zu leben ist. Praktisches Lebenwissen wird in der Mo-
derne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation
weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen.
So findet sich das Individuum allein in seinem begrenzten Lebenshorizont
wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens
bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe
zu bekommen sei. Die Situation wird verschärft von Ängsten und der Emp-
findung von Schwäche angesichts der Komplexität moderner Gesellschaf-
ten und der stets neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Tech-
nik, auf die nicht von vornherein schon Antworten bereitstehen.
Dieser Beitrag erschien erstmals in: V. Steenblock (Hg.), Philosophisches Lese-
buch. Von den Vorsokratikern bis heute (Reclam-UB 18496), Stuttgart 2009, 437–
448. Wir danken dem Herausgeber sowie dem Reclam-Verlag für die Genehmigung
des Wiederabdrucks.
188 Wilhelm Schmid
mancher Psychotherapie wieder entdeckt wird. Erst recht ist die Sorge um
eine „Heilung der Seele“ (psychƝs iatreía) nicht zwangsläufig ein Fall für
die Psychiatrie.
Die Philosophie „behandelt“ nicht, sie trägt vielmehr zu einer Klärung von
Lebensfragen bei. Die Klärung geschieht mithilfe der Philosophie, nicht
etwa durch sie. Der Klärungsprozess zielt nicht darauf, definitive Klarheit
zu erreichen, sondern diejenige operative Klarheit, die das Leben wieder
ermöglicht. Das philosophische Angebot zur Klärung, seit Sokrates ein
Angebot zum Gespräch, besteht in einer Art von Geburtshilfe, maieutikƝ,
um das je eigene Denken hervorzubringen. Es ermöglicht den Gesprächs-
partnern, jeweils für sich selbst die Orientierung zu gewinnen, die im Di-
ckicht des alltäglich gelebten Lebens verloren gegangen oder noch nie
gefunden worden ist. Der Philosoph kann der Gesprächspartner in diesem
Lebensgespräch sein, unabhängig davon, ob das Gespräch real (gespro-
chen) oder imaginär (gedacht) geschieht. Die Stärke der Philosophie liegt
dabei in der Tat eher in ihrer Schwäche: keine letztgültige Klärung erden-
schwerer Fragen, keine absolute Klarheit über Leben und Welt erlangen zu
können – Tausende von Anläufen dazu in Tausenden von Jahren haben
dies jedenfalls nicht erbracht. Gerade diese Schwäche lässt den Raum der
Philosophie so attraktiv erscheinen: Sie offeriert den Raum zur Erörterung
all der Fragen, die andernorts keinen Platz finden; sie vermittelt die Erfah-
rung, dass es Fragen gibt, die kaum jemals definitiv zu beantworten sind;
sie regt die Einsicht an, dass die Lebenskunst wohl zu einem guten Teil
darin besteht, sich mit diesem Stand der Dinge zu bescheiden. Das Ge-
spräch aber zu verweigern, treibt Menschen erst in die Arme derer, die
fragwürdige Formen von „Lebenshilfe“ anbieten und Verklärung an die
Stelle von Klärung setzen.
Wie dieses Gespräch unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt
sich im Experiment erproben. Was meinen Beitrag dazu angeht, versuche
ich seit 1998 in regelmäßiger Arbeit an einem Krankenhaus in der Nähe
von Zürich einige Arbeit zu leisten: in Vorträgen, Seminaren, Arbeitsgrup-
pen, vor allem aber Gesprächen, nicht nur mit den Patienten, sondern auch
mit den Mitarbeitern und Ärzten. Was geschieht in diesen Gesprächen?
Erwartet wird etwas Spektakuläres. Aber es sind in aller Regel unspektaku-
läre Gespräche, und es ist beinahe unerheblich, was ihr Inhalt ist. Das blo-
ße Faktum des Gesprächs scheint bereits wichtig zu sein, um zu entlasten,
zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären, zu bereinigen, zu befreien. Der
„Trost der Philosophie“ besteht wohl in einer Erweiterung des Horizonts,
190 Wilhelm Schmid
um den Raum der Möglichkeiten des Denkens zu erschließen und auf diese
Weise die Möglichkeiten des Lebens besser zu sehen. Was viele suchen, ist
das Gespräch über das Leben, aus dem Bedürfnis heraus, sich mehr Klar-
heit über das eigene Leben und „das Leben“ überhaupt zu verschaffen. Es
bedarf keiner physiologischen oder psychologischen Pathologie, um Fra-
gen an das Leben zu haben, die in der Situation des Krankenhauses jedoch
mehr kulminieren als irgendwo sonst, und für die doch gewöhnlich kaum
jemand als Gesprächspartner zur Verfügung steht.
Eine andere Art von Arbeit ist die als Gastdozent an der Staatlichen
Universität in Tiflis in Georgien (seit 1997). Die Frage liegt nahe: Wie
kommen Menschen in einem Land mit 60 Prozent Arbeitslosigkeit und ohne
nennenswerte Sozialleistungen auf die Idee, Philosophie, also die brotlose
Kunst par excellence, zu studieren? Aber die Antwort ist einfach: Um ihr
Leben besser zu verstehen und möglicherweise darauf Einfluss zu nehmen;
nicht nur auf das individuelle, sondern mehr noch auf das gesellschaftliche
Leben, von dem das individuelle wiederum abhängig ist. Eine Modernisie-
rung erscheint unumgänglich, wenn die Lebensverhältnisse jemals verbes-
sert werden sollen. Aber was ist Moderne? Von vornherein muss sie hier den
beharrenden Kräften Rechnung tragen; sie hat eine Antwort zu suchen auf
den Umstand, dass die Menschen in Georgien massenhaft in die orthodoxe
Kirche zurückströmen, die eine radikale Anti-Moderne vertritt. Wichtig ist,
darüber nachzudenken – und wir tun das anhand der Analyse von Texten der
frühen christlichen Kirchenväter –, was Religion denn ist, um sie nicht
umstandslos mit einem starren System von Dogmen zu verwechseln, viel-
mehr mithilfe hermeneutischen Verstehens und einer freieren Religiosität
die Brücke zu bauen, die eine Modernisierung ermöglicht. Und auch die
Schwächen der Moderne und mögliche Antworten darauf kommen von
vornherein in den Blick, vorzugsweise anhand der frühen Kritik der Moder-
ne bei den deutschen Frühromantikern; die Verehrung für deutsche Roman-
tik ist in Georgien ohnehin groß.
Das sind nur Beispiele. An vielen Orten ist heute eine andere Art des Phi-
losophierens im Entstehen begriffen: Viele Philosophen gründen eine „phi-
losophische Praxis“, überall gibt es „philosophische Cafés“, im Bereich der
kritischen Journalistik oder der ethischen Unternehmensberatung sind zahl-
lose Philosophen tätig. Es hätte nun jedoch keinen Sinn, die im Entstehen
begriffene freie Philosophie gegen die akademisch gebundene auszuspielen.
Zweifellos muss es eine akademische Philosophie geben, auch eine Philoso-
phie als „l’art pour l’art“, vor allem eine, die die solide historische und sys-
tematische akademische Ausbildung des philosophischen Nachwuchses
sicherstellen kann. Die Brücke zu den verschiedensten Bereichen der Praxis
zu schlagen, ist dagegen die natürliche Aufgabe einer freien Philosophie, um
auf die Nachfrage nach einer Reflexion des Lebens zu antworten.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 191
Von Bedeutung für die bewusste Lebensführung sind letztlich vor allem
begriffliche, also terminologische Aspekte. Ins Blickfeld kommt die Arbeit
des „Geistes“, des nous: neben der Prägung von Begriffen für das, was an
Erfahrungen zu machen ist, auch die Klärung von Begriffen, mit denen
hantiert wird, als verstünden sie sich von selbst, wie etwa „Leben“,
„Kunst“, „Selbst“, „Glück“, „Sinn“ ... Begriffe können in die Irre führen,
sie können krank machen und man kann gesunden an ihnen, je nach ihrer
Definition. In Begriffen steckt, über das bloße Wort hinaus, ein Vorver-
ständnis, ein Konzept, eine Vorstellung, eine Idee, was eine Sache ist oder
sein soll und welche Bedeutung ihr zukommt. Entscheidender als die Rea-
lität kann diese Idee sein, die von ihr im Umlauf ist, ja die Idee kann ur-
sächlich für die Realität sein, etwa im Falle einer Revolution. Oft ist es die
192 Wilhelm Schmid
Droht damit nicht Beliebigkeit? Sind Begriffe nicht dazu da, eine Re-
alität möglichst genau wiederzugeben? Zweifellos, aber sie halten sich
nicht daran. Sinnvoll erscheint, jede Begriffsbildung an den Kriterien von
Plausibilität und Evidenz, Nachvollziehbarkeit und Offensichtlichkeit zu
messen, aber auch in diesen Kriterien bleiben subjektive Sichtweisen wirk-
sam. So kommt es, dass unter einem Begriff wie „Leben“, jeder Verallge-
meinerung zum Trotz, kaum zwei Menschen genau dasselbe verstehen.
Nur das Wort bleibt dasselbe und täuscht über die unterschiedlichen Be-
deutungen gänzlich hinweg. Missverständnisse und Enttäuschungen sind
zu beklagen, könnten jedoch zum Anlass genommen werden, eine Klärung
des je eigenen Begriffs in der Auseinandersetzung mit anderen und vor
allem mit sich selbst vorzunehmen. „Einen Begriff von etwas zu haben“,
heißt dann soviel wie: eine bewusste Auffassung von einer Sache und ihrer
Bedeutung gewonnen zu haben und diese Sache von anderen unterscheiden
zu können. Etwas wird fassbarer, „greifbarer“ auf diese Weise: Ein Begriff
vereinfacht das Vielfältige und macht es handhabbar, wenn auch zwangs-
läufig um den Preis der Kritik, dem Vielfältigen nicht gerecht zu werden.
Sich klarer zu werden über den eigenen Begriff etwa des Lebens, ihn für
sich selbst zu definieren, ermöglicht, diese Definition anderen mitteilen zu
können, um sich über unterschiedliche Auffassungen zu verständigen,
sofern es um Verständigung gehen soll.
Die Klärung von Begriffen und die Verständigung darüber mit sich
selbst und anderen ist eine Schulung der Aufmerksamkeit und Selbstauf-
merksamkeit, trägt zur Klärung des Selbst und seines Verhältnisses zur
Welt bei und dient auf diese Weise der Orientierung des Lebens. Ein Forum
für diese Klärung bietet, da Begriffe das Handwerkszeug der Philosophen
sind, traditionell die Philosophie, auch wenn der Zweck der Klärung im
Verlaufe des Prozesses gelegentlich aus den Augen verloren wird. Medizin,
Psychologie, Soziologie, Biologie haben die somatischen, psychischen,
sozialen, ökologischen Strukturen des Menschseins im Blick, die Philoso-
phie aber die Strukturen des Denkens, durch die all die Begriffe definiert
sind, die ihrerseits das Menschsein prägen. Begriffe sind geformte Gedan-
ken, und Gedanken „erzeugen den Menschen“, so Bettina von Arnim in
ihrem Roman Die Günderode (1840). Philosophie kann dabei behilflich
sein, die „objektive“, heteronome Definition eines Begriffes ausfindig zu
machen, sie für sich selbst zu prüfen und gegebenenfalls „subjektiv“, auto-
nom zu modifizieren oder neu zu fassen. So wird das Selbst zum Souverän
seiner Begrifflichkeit. Es käme darauf an, die Logik der Begrifflichkeit
überhaupt und einzelner Begriffe im Besonderen zu studieren, um sie sich
anzueignen und ein bewusstes Verhältnis dazu zu gewinnen. Was zualler-
erst im Geistigen geschieht, eröffnet Bewegungsspielräume fürs Leben,
Anderes wird denkbar und lässt sich in Begriffen konzipieren. Ebenso geht
194 Wilhelm Schmid
es jedoch darum, das Denken offen zu halten für die Erfahrungen der Exis-
tenz, um diese auf die Begriffe zurückwirken zu lassen, Bedingung einer
Begrifflichkeit, die den Phänomenen des Lebens nahe bleibt. Die Be-
grifflichkeit stets im Auge zu behalten, wird in der philosophisch inspirier-
ten Lebenskunst zur Aufgabe des einzelnen Selbst, die über der vordring-
lich erscheinenden Alltäglichkeit allzu leicht vernachlässigt wird.
Resultat der Klärung und Beratung kann sein, eine Philosophie zu haben.
Im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, in der Wirtschaft, in der
Politik ist zuweilen unbedacht davon die Rede, dass man „eine Philosophie
habe“. Gemeint sind damit meist Einsichten und, darauf aufruhend, Grund-
sätze, die für wesentlich erachtet werden und denen in der alltäglichen
Praxis zu folgen versucht wird. In der philosophischen Lebenskunst wird
eine durchdachte Angelegenheit, eine „Lebensphilosophie“ daraus, eine
bewusste, überlegte eigene Auffassung vom Leben, von seinen Eigentüm-
lichkeiten, seinen Möglichkeiten; eine Auffassung davon, worauf es im
Leben ankommt, was wichtig ist und was als „schön“ erscheint. Der reflek-
tierte Prozess der Klärung erlaubt, Grundüberzeugungen zu gewinnen, die
nicht einfach nur behauptet werden, sondern aus der philosophischen
Grundfrage hervorgehen, was denn „eigentlich“ wesentlich ist. Die Philo-
sophie liegt in der Grundhaltung, die fürs Leben gewählt wird; und sollte
sie auch zunächst durch Erziehung und Kultur vorgegeben sein, so ist sie
doch zu überdenken, um zu entscheiden, ob sie beibehalten oder verändert
werden soll. Eine Philosophie zu haben heißt nicht etwa, „die Wahrheit“,
sehr wohl aber eine Lebenswahrheit für sich gefunden und formuliert zu
haben, die gut genug begründet erscheint, um das ganze Leben darauf zu
bauen: Lässt sich ohne eine solche Lebenswahrheit überhaupt leben?
Hilfreich auf dem Weg zur eigenen Lebensphilosophie ist eine freie, in-
stitutionell nicht gebundene Philosophie, die sich wie zu sokratischen Zeiten
in ständiger Tuchfühlung zum individuellen und gesellschaftlichen Leben
bewegt. Sie vermittelt Anstöße und Anregungen, wie sie die Geschichte der
Philosophie reichlich bereit hält, philosophische Lebensentwürfe, die im
Laufe der Zeit aus der Besorgnis und dem Nachdenken über das Leben ent-
standen sind. Man hat es nicht mit „toten Texten“ zu tun, wenn man diese
alten Denker neu liest, die mit allzu moderner Geste als „überholt“ abgetan
werden. Schon ihre zeitliche Ferne ermöglicht den distanzierten Blick auf
die Aktualität und das eigene Selbst und erleichtert die Besinnung auf den
„Sinn“, die Zusammenhänge der Lebensphänomene, und ihre Bedeutung,
ihre Gewichtigkeit. Aus guten Gründen hat die philosophía als „Liebe zur
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 195
Weisheit“, als Verlangen nach Kenntnis des Wesentlichen fürs Leben die
Zeiten überdauert. Einzelne Grundzüge antiker Philosophien lassen sich
wieder aufgreifen, um der eigenen Lebenskunst Konturen zu verleihen: eine
ausgeprägte Liebe zum Schönen aus der Philosophie Platons, eine nie er-
lahmende Bereitschaft zur Reflexion aus der Schule des Aristoteles, eine
bemerkenswerte Freimütigkeit aus dem Kynismus des Diogenes, eine wäh-
lerische Genussfähigkeit aus dem Garten Epikurs eine nachhaltige Skepsis
aus der Tradition Pyrrhons, eine unzerstörbare Unerschütterlichkeit aus
dem Stoizismus etwa Senecas, ergänzt vielleicht durch die immer neue Be-
reitschaft zum Wagnis, zum Versuch aus der Essayistik eines Montaigne,
der im 16. Jahrhundert die antike Philosophie in ihrem ganzen Reichtum an
Lebensweisheit wieder entdeckt hat. Dies alles durchzogen von der Philoso-
phie der Selbstsorge, des gekonnten Umgangs mit sich selbst, der zur
Grundlage des Umgangs mit anderen und einer Sorge um sie wird; denn es
ist augenfällig, dass das Bemühen um diese doppelte Sorge die meisten
philosophischen Schulen in der Antike charakterisiert. Das könnte für das
intellektuelle und philosophische Selbstverständnis in einer anderen Mo-
derne wieder von Bedeutung sein.
Literatur
Wilhelm Schmid:
– Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998. (112009).
– Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2000.
– Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst,
Frankfurt a.M. 2004.
– Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste
im Leben ist, Frankfurt a.M. 2007 (82009).
– Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen, Berlin 2010.
Philosophie als Lebensform
Theo Kobusch
Die akademische Zunft der Philosophie wird mit der Zeit nicht umhin
kommen, jene Form der Philosophie wieder ernst zu nehmen, die das anti-
ke und frühmittelalterliche Denken schlechthin bestimmte, die auch im
Mittelalter parallel zur theoretisch abstrakten Form der Philosophie, wenn-
gleich in ihrem Schatten, präsent war und die schließlich in großen reprä-
sentativen Figuren der Philosophiegeschichte, wie z. B. Montaigne, Pascal,
Maine de Biran, Nietzsche und Heidegger bis in unsere Tage überlebte:
Die Philosophie als Lebensform oder Lebenskunst, die zugleich eine „Le-
benshilfe“ ist. Der Gedanke der Lebenshilfe stammt von Platon. Er macht
bewusst, wie weit sich die traditionell akademische Philosophie inzwi-
schen vom Leben entfernt hat. R. Shusterman wird schon recht haben,
wenn er vermutet, dass die Idee von Philosophie als einer Selbsthilfe im
Sinne der Lebenskunst bei den meisten Berufsphilosophen „ein abschätzi-
ges Feixen“ (Shusterman 2001, 4) hervorrufen wird. Doch ungeachtet des-
sen sollte sie als das wahrgenommen werden, was sie inzwischen wieder
geworden ist: ein Allgemeines, dem auf den Grund gegangen werden
muss. Die Philosophie der Lebenskunst hat sich, das Erbe Nietzsches und
Heideggers übernehmend, in Gegensatz zur traditionellen Metaphysik und
zur wissenschaftsbeflissenen Philosophie unserer Tage gesetzt. Sie ist be-
sonders im Werk zweier Autoren präsent, nämlich im Werk Foucaults auf
der französischen Seite und in den zahlreichen Arbeiten Wilhelm Schmids
auf der deutschsprachigen Seite.
Seit einiger Zeit ist es üblich geworden, die Philosophie im Sinne des aka-
demischen theoretischen Betriebs und die Philosophie, verstanden als Le-
benskunst oder Lebensform, auseinanderzuhalten. Im Hintergrund stehen
Dieser Beitrag wurde erstmals unter dem Titel „Apologie der Lebensform“ in der
Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Heft 34.1, 2009, S. 99–115) veröffentlicht.
Wir danken Tilman Borsche für die Genehmigung des Wiederabdrucks.
198 Theo Kobusch
die Werke von P. Hadot und M. Foucault, die sich in gleicher Weise auf
die antike Philosophie zurückbeziehen. Während jedoch die in dieser Hin-
sicht einschlägige Erstlingsarbeit Hadots Exercices spirituelles im Deut-
schen als Philosophie als Lebensform übersetzt wurde, hat sich gleichzei-
tig, wohl wegen der entsprechenden Werke W. Schmids, der dabei dem
Kunstbegriff Foucaults folgt, für diese Art des Philosophierens auch der
Titel „Lebenskunst“ durchgesetzt. Doch obwohl auch die moderne Le-
benskunst vielfach Bezug nimmt auf die antike Philosophie, handelt es sich
um zwei verschiedene Denkwelten.
Die Philosophie der Lebenskunst ist jüngst einer eingehenden Kritik
unterzogen worden, die das gesamte gedankliche Gebäude zum Einsturz zu
bringen bestrebt ist (vgl. Kersting/Langbehn 2007). Sie hat dabei ausdrück-
lich auch die antike und mittelalterliche Philosophie, soweit sie in den
grundlegenden Darstellungen von P. Hadot berücksichtigt sind, mit einbe-
zogen: „Hadot ist sicherlich der entschiedenste Verfechter der Lebens-
kunst“ (Kersting 2007, 28). Doch steht gerade die Einheitlichkeit der Tra-
dition der Lebenskunstphilosophie zur Debatte. Die moderne Kritik der
Lebenskunst trifft, so sucht der folgende Beitrag zu zeigen, nur die Ent-
wicklung der Philosophie nach Nietzsche und nicht, obwohl dieser an die
antike Philosophie anzuknüpfen sucht, die Philosophie der Antike und des
Mittelalters. Es ist daher notwendig, zwischen der modernen Lebenskunst
und der antiken Lebensform, die man auch, mit guten Gründen, Lebens-
praxis nennen könnte, zu unterscheiden. Mit der Lebenskunst verbinden
wir ein artifizielles Modell, mit der Lebensform im Sinne Hadots ein prak-
tisches (vgl. Hadot 1999; 2002).
Der Hauptvorwurf an die Adresse der Lebenskunst ist die Ästhetisie-
rung des Lebens. An die Stelle der Vernunftautonomie Kants tritt in der
Lebenskunst, die sich dabei von Gedanken Nietzsches leiten lässt, „eine
ästhetische Autonomie, die an der Wohlgestaltetheit des Lebens Wohlge-
fallen findet“, die W. Kersting zurückführt bis zur „Lebenskunst der helle-
nistischen Philosophie“ (Kersting 2007, 18). Am deutlichsten ist die Ästhe-
tisierung des Lebens, wie die Kritik gut nachvollziehbar darstellt, bei
Foucault zu bemerken. Die Ästhetik der Existenz löst die religiös begrün-
dete Ethik der Griechen ab. Das Leben wird zum Kunstwerk. Die Lebens-
kunst ist die poietische Kunst des Lebens. Die Kritik hält dagegen: „Vor
allem ist es abwegig, den Umgang mit dem ‚Eigenleben‘ des Lebens nur in
der Form der poietischen Selbstbeziehung, also der Selbsterfindung oder
Selbstherstellung vorzusehen“ (Thomä 2007, 251). Doch die Foucault-
Epigonen gehen noch einen Schritt weiter: Das Selbstverhältnis ist selbst
als etwas Spielerisches zu denken. J. Früchtl knüpft an Foucaults „Ästhetik
der Existenz“ die Konzeption der „spielerischen Selbstbeherrschung“, in
der das Subjekt sich in ein „spielerisch-zwangloses Verhältnis“ zu sich
Philosophie als Lebensform 199
selbst setzt, eine dritte Stufe der Wertungen, die der Autor ausdrücklich
auch „Ethik“ nennt (vgl. Früchtl 1998). Spätestens hier weiß man nicht
mehr, was dieser Begriff noch besagt im Unterschied zu dem der Ästhetik.
Hier verschwimmen Beliebigkeit und Notwendigkeit.
Tatsächlich ist das ästhetische Modell auch nicht geeignet, die Wirklich-
keit der antiken Gedankenwelt zu erfassen. Vielmehr handelt es sich um eine
moderne Umdeutung des alten Begriffs der „technê tou biou“, wenn er in
einem poietischen Sinne aufgefasst wird. Denn ursprünglich meint der grie-
chische Begriff nichts anderes als die sittliche Selbstformung des Subjekts.
Das Leben erscheint in diesem Zusammenhang als etwas dem Menschen
Innerliches, nicht Äußerliches. Gerade an der Stelle, wo wörtlich das Leben
als Gegenstand der Lebenskunst bezeichnet wird, nämlich bei Epiktet, – so
dass die moderne Lebenskunst auf den ersten Blick bestätigt zu werden
scheint – wird das Leben doch als das dem Menschen Innere und somit seiner
sittlichen Freiheit Anheimgegebene begriffen.1 Die „Kunst des Lebens“ ist
hier gleichbedeutend mit der Übung der Wahrheit, mit der Einübung in die
„kalokagathia“.2 Die Tugend selbst kann in diesem Sinne die Kunst des gan-
zen Lebens genannt werden.3 Strabo, der Geograph, ist das Sprachrohr einer
ganzen Epoche, wenn er es als die Sache der Philosophie bezeichnet, sich um
die Lebenskunst und das Glück zu kümmern.4 Die Lebenskunst nimmt, wie
J. Sellars richtig sagt, den sokratischen Gedanken der Selbstsorge bzw. der
Sorge um die Seele wieder auf (vgl. Sellars 2007, 95 f.) Sokrates soll auf die
Frage, was Wissen sei, geantwortet haben: Sorge um die Seele.5 Das Wissen
der Lebenskunst, das steht für griechische Ohren fest, ist weder ein artifi-
ziell-ästhetisches noch ein abstrakt-theoretisches Wissen. Es ist das Wissen
der Sorge um sein Selbst.6 Aristoteles bezeichnet es im Unterschied zum
Herstellungswissen als das praktische Wissen. Es drückt ein praktisches
Selbstverhältnis aus, das sich nach den Vorstellungen der gesamten antiken
Philosophie, der platonischen wie der aristotelischen, der stoischen wie der
epikureischen und nicht zuletzt auch der christlichen Philosophie in ver-
schiedenen geistigen, intellektuellen wie auch imaginativen Übungen äu-
ßert. Zu den wichtigsten gehören die Übungen der Aufmerksamkeit. Es war
1
Vgl. Epiktet, Dissertationes I 15, 2. Siehe dazu Sellars 2007, 95.
2
Vgl. Maximus, Dialexeis 16, 3 e1: Toàto ¹ diatrib», toàto ¹ scol», ¢lhqe…aj
melšth, kaˆ tšcnh b…ou kaˆ ·èmh lÒgou, kaˆ paraskeu¾ yucÁj, kaˆ ¥skhsij
kalokagaq…aj.
3
Philo, Legum allegoriarum I 57: Ólou g¦r toà b…ou ™stˆ tšcnh ¹ ¢ret», […].
4
Vgl. Strabo, Geographica I 1, 1.
5
Vgl. Stobaeus, Anthologium II 31, 79: Swkr£thj ™rwthqe…j, t… ™pist»mh,
œfh· ™pimšleia yucÁj.
6
Vgl. auch Jamblich, Protrepticus 38, 21: dÁlon Óti kaˆ perˆ yuc¾n kaˆ t¦j
yucÁj ¢ret£j ™st… tij ™pimšleia kaˆ tšcnh [...].
200 Theo Kobusch
besonders die Stoa, die die philosophische Haltung einheitlich als die Auf-
merksamkeit auf sich selbst aufgefasst hat. Die Aufmerksamkeit ist eine
Bewusstseinshaltung, die ständige Übung der Anspannung des Bewusst-
seins. Sie ist von der Sorge um das Selbst bestimmt, aber zugleich verschafft
sie dem in diesem Sinne Philosophierenden die Freiheit von den Sorgen
dieser Welt (¢merimn…a).7 Durch die Aufmerksamkeit wird dem Subjekt
bewusst, wie es um es selbst steht im Ganzen des Kosmos. Deswegen sind
schon der platonische Timaios, die stoische Physik und die christlichen
Genesis- und Ecclesiastes- Kommentare Formen der – wie P. Hadot es nennt
– „gelebten Physik“. Durch die Aufmerksamkeit auf sich selbst erlangt das
Subjekt aber auch das Bewusstsein vom Stellenwert seiner Gedanken und
sprachlichen Äußerungen. Nicht zuletzt aber hat sie auch eine moralische
Bedeutung. Denn durch die Aufmerksamkeit achtet das Subjekt auf die
Reinheit seines Willens und seiner Absicht, es ist in diesem Sinne wachsam
auf sich bedacht. Die Selbstbewahrung solcher Art nennt die gesamte antike
Philosophie, die christliche eingeschlossen, die Hut oder Wachsamkeit, mit
der der Philosophierende um sein Inneres besorgt ist. Die moralische Selbst-
aufmerksamkeit ist somit die Sorge um den eigenen Willenszustand. Sie
sucht nach allen Seiten die moralischen Gefahren vom Subjekt abzuwenden.
Solches besorgendes Umsehen, das nicht mit dem sorgenfreien Umher-
schauen des Theoretikers verwechselt werden darf, heißt nach dem stoisch-
christlichen Philosophieverständnis die „Umsicht“. Die Umsicht ist das von
der Sorge um sich selbst getriebene Wahrnehmen des Nützlichen und Schäd-
lichen, die praktische Form des dem Philosophen eigenen Sehens, die in der
antiken, in der antik-christlichen und der mittelalterlichen Philosophie, be-
sonders in der Mystik, bis hin zu Heidegger immer von der Theorie-Konzep-
tion der aristotelischen Tradition unterschieden wurde.8
7
So heißt es etwa bei Clemens von Alexandria, Stromata II 20, 120: DiÒ moi doke‹ Ð
qe‹oj nÒmoj ¢nagka…wj tÕn fÒbon ™part©n, †n' eÙlabeˆv kaˆ prosocÍ t¾n
¢merimn…an Ð filÒsofoj kt»shta… te kaˆ thr»sV, ¢di£ptwtÒj te kaˆ
¢nam£rthtoj ™n p©si diamšnwn.
8
Zu den Termini technici der Aufmerksamkeit und der Umsicht vgl. Kobusch 2000;
2001. Neben den dort genannten Belegstellen vgl. auch Ephraem Syrus, In illud: At-
tende tibi ipsi 6, Bd. II, 160: PrÒsece oân seautù, ¢gaphtš: m¾ ¢mšlei tÁj ˜autoà
swthr…aj: […]; ders., Sermo asceticus, Bd. I, 162: `O dä prosšcwn ˜autù, ›xin
¢gaq¾n ¢nalabèn, ebd., 152: PrÒsece dä seautù, m» pote e„j ·vqum…an ™kdèsVj
sautÒn. (Ps.)-Johannes Chrysostomus, Epistula ad monachos 128: PrÒsece
seautÕn kaˆ pantacÒqen seautÕn periskšptou. Macarius, Sermones 1, 3, 5,
p. 261: ¢ll¦ met¦ p£shj n»yewj kaˆ prosocÁj kaˆ mer…mnhj ¢gaqÁj t¾n œreu-
nan kaˆ prosoc¾n toà noà ˜k£stote mšn, m£lista dä ™n tÍ proseucÍ poie‹sqai
spoud£swmen (Mit aller Nüchternheit und Aufmerksamkeit und guter Sorge wollen
wir uns bemühen, die Forschung und Achtung des Geistes zwar eigentlich immer, be-
sonders aber während des Gebetes durchzuführen).
Philosophie als Lebensform 201
Die Selbstaufmerksamkeit ist in der Antike selbst schon als die prakti-
sche Form des an Sokrates gerichteten pythischen Spruches „Erkenne Dich
selbst“ und damit des Themas der Selbsterkenntnis verstanden worden.9
Die christliche Philosophie hat ausdrücklich dem pythischen Spruch eine
praktische Nuance abgewonnen. In der praktischen Selbsterkenntnis prüft
sich die Seele in einer Gewissensprüfung, ob sie eine gute oder böse Dis-
position hat und ob ihr Handeln ihrem Charakter als Bild Gottes entspricht
oder nicht.10 Die besorgende Umsicht bezieht sich insbesondere auf das
Gewissen und wird so zum prüfenden Blick.11
Der praktische Charakter der Selbstaufmerksamkeit wird noch deutli-
cher erkennbar, wenn man bedenkt, dass das so verstandene gnîqi seautȩn,
dessen zweifache Übersetzung „nosce te ipsum“ und „scito te ipsum“ Am-
brosius ausdrücklich akzeptiert, den geistigen Hintergrund der Abaelard-
schen Ethik mit dem Titel Scito te ipsum darstellt.12
Was darüber hinaus für die antike und frühmittelalterliche Philosophie
im Zusammenhang der Aufmerksamkeit, d. h. der um das Selbst besorgten
Erkenntnis typisch und prägend ist, das ist die Tatsache, dass auch die
Phantasie in die Dienste dieser praktischen Selbsterkenntnis gestellt wird.
Besonders die Stoiker, aber auch weite Kreise der christlichen Philosophie
haben die Funktion der Phantasie darin gesehen, dem menschlichen Leben
den Charakter des Als-Ob zu verleihen. Nach dieser Vorstellung wird die
Wahrheit des Lebens offenbar, wenn in imaginativen Übungen ein Blick
von außen auf es möglich wird. Die wahre philosophische Haltung besteht
darin, sich immer die gesamte condition humaine „vor Augen zu halten“
und alles, was meistens geschieht, im Geist zu antizipieren. Der philoso-
phische Mensch hat so seine Freunde, „als ob“ er sie eines Tages verlieren
werde, und er verliert sie, „als ob“ er sie noch hätte. Das Leben im Als-Ob
ist ein Leben unter ständigem Vorbehalt, unter ständiger Prüfung. In diesen
Zusammenhang gehört auch die imaginative Übung, sich und sein Tun den
9
Zur Verbindung von Selbsterkenntnis und Aufmerksamkeit auf sich selbst vgl. auch
Clemens von Alexandria, Stromata II 15, 71, 3 (Anm. 14), p. 151: safšsteron dä
tÕ `gnîqi sautÕn` paregguîn Ð MwusÁj lšgei poll£kij `prÒsece seautù`.
10
Vgl. Origenes, In Canticum Canticorum II 5, 1–40.
11
Vgl. z. B. Laktanz, Divinae Institutiones VI 13, 1, p. 532: „circumspice conscien-
tiam tuam et quantum potes, medere vulneribus.“ Siehe auch Cassiodor, Expositio
psalmorum 10, 6, 106, p. 115: „sed unusquisque circumspiciat conscientiam suam,
de qua nouit solum dominum ferre iudicium.“
12
Vgl. Ambrosius, Expositio Psalmi 118, 2, 13, p. 27: „tibi ergo adtende ibi, ubi
potiorem esse te nosti. nosce te ipsum, quod Apollini Pythio adsignant gentiles uiri,
[…]“; ebd. 118, 10, 10, p. 208: „nosce te ipsum, homo; tuae animae dicitur in Can-
ticis: nisi cognoueris te formosam in mulieribus“; und Exameron VI 7, 42, p. 233:
„Tibi igitur adtende, te ipsum scito […].“
202 Theo Kobusch
13
Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen XII, 21.
14
F. Nietzsche, KSA 9, 361.
Philosophie als Lebensform 203
15
Zur stoischen Selbstaneignung vgl. auch Schmid 1999, 393.
16
Vgl. z. B. Galen, De placitis Hippocratis et Platonis V 5, 16: e„ g¦r m¾ ta‹j
fwna‹j, ¢ll¦ tÍ ge dun£mei tîn legomšnwn Ðmologe‹n œoiken Ð CrÚsippoj
æj œstin o„ke…ws…j tš tij ¹m‹n kaˆ ¢llotr…wsij fÚsei prÕj ›kaston tîn
e„rhmšnwn. Siehe außerdem Clemens von Alexandria, Stromata IV 13, 94: o‰ män
di¦ t¾n o„ke…wsin, o‰ dä di¦ t¾n ¢pallotr…wsin t¾n ™k proairšsewj prosa-
goreuqšntej·
204 Theo Kobusch
17
Vgl. Plotin, Enneade I 6, 9; Meister Eckhart, Von dem edlen Menschen, DW V, 17–
24, 113. Zu Eckharts Lebemeister-Begriff vgl. Kobusch 2005.
18
Shusterman 2001, 31 erkennt freilich gerade in dem Bildhauergleichnis Plotins das
„ästhetische Modell“. Doch gilt es, den Schönheitsbegriff der modernen ästheti-
schen Existenz von der griechischen „Kalokagathia“ zu unterscheiden. Vgl. dazu
Kersting 2007, 28.
Philosophie als Lebensform 205
Schließlich ist da der berühmte Blick des Selbst von außen auf sich
selbst. B. Williams hat in einem berühmten Buch Shame and Necessity das
griechische Denken überhaupt als eine Schamkultur bezeichnet. Nach
dieser Konzeption ist die Scham eine Antizipation eines Gefühls, das ent-
steht, wenn man sich von jemandem beobachtet weiß. Genauer gesagt
handelt es sich um die Vorstellung eines idealisierten, gewissermaßen
nicht beteiligten Beobachters von außen, eines „generalized other“ (vgl.
Williams 1993). W. Schmid hat das Thema des Blicks von außen – be-
rechtigterweise – insbesondere mit der stoischen Philosophie in Zusam-
menhang gebracht. Er hat aber zugleich diesen Blick im ästhetischen Sin-
ne umgedeutet, indem er ihn als die – dem Blick der Ironie sehr verwandte
– Abstandnahme von dem „Ernst des Faktischen“ begreift (vgl. Schmid
1999, 256; 376; 394). Die Kritik an der Lebenskunst hat ihn in enge Ver-
bindung mit der Idee der Selbsterschaffung gebracht. Falsch sei es, so sagt
sie, das menschliche Leben als eine Selbsterschaffung aus dauerhafter
Außenperspektive auszulegen und ihm von außen seine Qualitätsvorstel-
lungen aufprägen zu wollen. Doch scheint weder die eine noch die andere
Deutung der griechischen Konzeption des Blicks von außen gerecht wer-
den zu können. Er ist weder, was B. Williams unterstellt, ein verobjekti-
vierender Blick, der die Wahrheit des in seiner Situation verflochtenen
Selbst quasi theoretisch aufscheinen lassen könnte, noch ist er die ästheti-
sche Abstandnahme, die erst eine Selbsterschaffung ermöglichte. Der
Blick von außen, die Perspektive eines idealisierten oder auch konkreten
Anderen gehört vielmehr auch in den Zusammenhang des weiter oben
schon berührten Themas des Lebens im Als-Ob. Lebe, als ob Du von ei-
nem solchen Anderen beobachtet würdest – das ist die griechische Maxi-
me. Der Blick von außen ist also in Wahrheit der Blick der Sorge auf das
Selbst. Es ist ein Abstand nehmender Blick, der gewissermaßen mehr sieht
und in umfassenderem Sinne besorgt sein kann als das in der konkreten
Lebenssituation verwobene Selbst.
19
Seneca, Epistula 94, 4: „Philosophia, inquit, dividitur in haec, scientiam et habitum
animi; nam qui didicit et facienda ac vitanda percepit nondum sapiens est nisi in ea
quae didicit animus eius transfiguratus est.“
20
Vgl. z. B. Clemens von Alexandria, Stromata II 22, 133; Eusebius, Praeparatio
Evangelica XII 29, 15; Theodoret, Graecarum affectionum curatio XII 21, 6.
21
Vgl. z. B. Gregor von Nyssa, De perfectione christiana, 213. Siehe dazu Kobusch
2006a, 68 f.
22
Gregor von Nyssa, De vita Moysis II, 34, u. 56. Vgl. auch ders., In Ecclesiasten 6, 318.
23
Zu diesem Aspekt vgl. die Belege in Kobusch 2000, 483.
208 Theo Kobusch
der wahren Gottheit, das sie selbst ursprünglich ist, schaut und in der Nach-
ahmung „jenes wird, was jener ist“.24 Auf diese Weise kann von einer
„Verwandlung“ oder „Veränderung des Lebens“ durch die Philosophie
gesprochen werden.25 Wenn Gregor gefragt wird, was das Christentum,
also das Christsein sei, so antwortet er bezeichnenderweise: „Homoiôsis
theô“.26 Die Verähnlichung mit Gott besteht aber in der moralischen Rein-
heit, Leidenschaftslosigkeit und der „Entfremdung“ gegenüber allem Bö-
sen. Sie ist es, wodurch das Leben „geformt“ wird.27
Es ist zwar eine durch den Willen des Menschen bewirkte Selbsttrans-
formation, um die es sich hier handelt, aber sie ist nach Gregor trotzdem
nicht eigentlich ein Werk der menschlichen Schöpferkraft, denn in der sog.
ersten Schöpfung wurde schon der menschlichen Natur die Ähnlichkeit mit
dem Göttlichen verliehen, so dass die sittliche Gottverähnlichung die Ak-
tualisierung einer ursprünglichen Verwandtschaft darstellt.28 Was Gregor
durch diese dogmatische Lehre sagen will, liegt auf der Hand: Die aktuelle
Natur des Menschen, das, wozu der Mensch sich jeweils macht, hat schon
eine Geschichte. Die Gestaltung des Selbst, die in gewisser Weise eine
Selbsterschaffung ist, ist keine creatio ex nihilo, sondern die Formung
eines schon Vorliegenden.
Gregors Lehre von der Selbsttransformation der Seele als einer prak-
tisch-metaphysischen Tätigkeit, die auch in gewissem Sinne eine Selbster-
schaffung genannt werden kann, gehört in das Umfeld der neuplatonischen
Vergöttlichungslehren, aus dem sie zugleich hervorragt. Sie ist, ohne dass
sie im Mittelalter völlig vernachlässigt würde, in der Renaissancezeit, be-
sonders bei Giovanni Pico della Mirandola wiederaufgenommen worden.
Schelling und Schopenhauer haben die Grundidee aufgegriffen und erläu-
tert, inwiefern der Wille sein „eigener Schöpfer und sein eigenes Ge-
schöpf“ sein kann. J.-P. Sartre hat in diesem Sinne es als das erste Prinzip
des Existentialismus bezeichnet, dass der Mensch nichts anderes ist, als
wozu er sich macht.29 Gerade vor dem Hintergrund dieses existenzialisti-
schen Grundgedankens wird der Anspruch der ästhetischen Theorien
M. Foucaults und der „Lebenskunst“ einerseits und der Selbsterschaffungs-
24
Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum or., 2, 68.
25
Gregor von Nyssa, In diem luminum, 238: tÍ metabolÍ toà b…ou […]. Vgl. auch
ders., Canticum Canticorum or., 7, 223.
26
Gregor von Nyssa, De creatione hominis, 33.
27
Vgl. Gregor von Nyssa, De hominis opificio, PG 44, 137.
28
Vgl. Gregor von Nyssa, De virginitate, 300.
29
Zur Geschichte der Selbsterschaffungsidee von den Kirchenvätern bis zur biologi-
schen Selbsterschaffung im Rahmen des transhumanen Denkens der Hypermoderne
vgl. T. Kobusch 2006b.
Philosophie als Lebensform 209
lehre R. Rortys andererseits, die beide auf ihre Weise der Philosophie
Nietzsches folgen, deutlich. Während Sartre in der Geworfenheit oder
Faktizität des menschlichen Daseins seine Kontingenz sieht, wird entwe-
der, wie die Kritik an der Lebenskunst herausstellt, alles Kontingente und
Zufällige in der Theorie an die Seite gedrückt oder, wie bei Rorty, lediglich
als idiosynkratische Bedürfniskumulation begriffen.30 Zweifellos stellen
die Selbsterschaffungslehren Foucaults und Rortys noch einmal eine Stei-
gerung gegenüber Sartres Idee der schöpferischen Existenz dar: „Indem
sich beide Nietzsches Diktum aneignen, sich selber zum Kunstwerk zu
machen, verfechten sie das philosophische Leben als radikale originelle
Selbsterschaffung“ (Shusterman 2001, 8).
Und doch relativieren sich diese radikalen Selbsterschaffungslehren,
die nicht nur, wie im Falle von Foucault und Rorty, das Leben als ein im
Sinne des avantgardistischen Künstlers oder Baudelaireschen Dichters
radikal neu zu Schaffendes begreifen, sondern auch, wenngleich im An-
schluss an Nietzsche, die eigene Theorie für ein ganz Neues halten.
R. Shusterman, der Pragmatist, hat gezeigt, dass die Selbsterschaffung des
Baudelaireschen Dandy oder des ironischen Ästheten ebenso von öffentli-
chen Zwängen eines vorgegebenen Ethos bestimmt ist wie andere individu-
elle Handlungen auch. Er hat sie sogar als die philosophische Widerspiege-
lung des Warenkonsums unserer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft
entlarvt, insofern sich die Anbetung des Neuen auf höherer Ebene vollzieht
(vgl. Shusterman 1994, 239).
Auch die philosophischen Ansprüche dieser Theorien relativieren sich
mit Blick auf die Geschichte. Außer dem Anspruch auf Neuheit ist kaum
etwas an ihnen wirklich neu. Zieht man die lange Tradition der Lehre von
der Selbstverursachung mit in Betracht, so schrumpft ihre Originalität noch
mehr (vgl. Kobusch 2002b). Sie sind in ihrer Substanz alte Ethik und
Theologie, denen das Mäntelchen des „Ästhetischen“ umgehängt wurde.
Selbst jenes von Shusterman ausgemachte einheitliche Dewey-Wittgen-
stein-Foucault-Modell (vgl. Shusterman 2001, 87), nach dem die Trans-
formation des Selbst in einem ständigen Wachstum, in stetigem Fortschritt,
in unaufhörlicher Selbsterweiterung und Selbsttranszendierung besteht,
erscheint doch, auch wenn die Autoren sich auf Nietzsche berufen, als
jener auf den Boden geholte metaphysische Gemeinplatz, den wir gerade
wieder von dem großen Kirchenvater Gregor von Nyssa kennen. Seine
These war, dass das menschliche Glück, auch das jenseitige, in einem im-
merwährenden Wachsen und Fortschreiten, im Immer-tiefer-eindringen in
30
Zur Kritik an Rortys Kontingenzbegriff vgl. Shusterman 2001, 106.
210 Theo Kobusch
die Gottheit besteht. Die These war ganz neu, aber Gregor wusste, im Un-
terschied zu den postmodernen Neuerern, dass die Wahrheit das Alte ist.
31
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 42, DW II, 306.
Philosophie als Lebensform 211
seiner selbst so wenig achtet wie eines tausend Meilen Entfernten.32 Der
gelassene Mensch achtet somit nicht auf sich selbst.33 Doch, so wird man
fragen müssen, verträgt sich das denn mit dem Grundgedanken aller Le-
bensformphilosophie, nämlich mit dem Gedanken der Sorge um sich
selbst? Die Frage führt hin zum Grundgedanken einer Dialektik, die das
ganze Werk Meister Eckharts, ja der Mystik insgesamt bestimmt. Je mehr
die philosophische Vernunft sich aus Sorge um das wahre Selbst zu sich
selbst hinwendet, je stärker sie aus diesem Grund die Achtung und Auf-
merksamkeit auf sich selbst intensiviert, je angestrengter sie die Konzentra-
tion auf sich durchführt, um so gelassener wird sie, d. h. um so mehr lässt
sie sich los, um so weniger achtet sie auf sich, um so mehr vergisst sie sich
selbst. Die besorgte Hinwendung zum eigentlichen Selbst macht die indivi-
duellen Neigungen und partikulären Triebe des kontingenten Selbst verges-
sen. Die Gelassenheit ist so die Verwirklichung der Selbstsorge. Sie ist kein
augenblickhaftes Erlebnis, sondern eine geistige Übung, durch die das
menschliche Bewusstsein die Transformation seiner selbst vollzieht. Der
gelassene Mensch ist der in der Gelassenheit geübte Mensch.34 Die Gelas-
senheit gehört zum Reigen jener geistigen Übungen, die, wie zum Beispiel
das Durchbrechen, der mystische Tod, die Gottesgeburt oder die Selbstver-
gessenheit, die Ichwerdung, d. h. die Gottwerdung des Menschen fördern.
Diese Elemente der Eckhartschen Philosophie sind aber nicht die
Merkmale eines Einzelgängers, sondern konstitutive Elemente des mysti-
schen Denkens aller Zeiten. H. Seuse und J. Tauler haben sie übernommen.
Meister Eckhart hat in diesem Sinne zwischen dem Lesemeister und dem
Lebemeister unterschieden. Der Lesemeister – dem nach scholastischem
Brauch eine bestimmte Funktion im akademischen Leben zukam – steht
bei Eckhart für den lebensfernen, abstrakt-theoretischen Denker, der Le-
bemeister dagegen ist der Philosoph der Lebenspraxis, der in geistigen
Übungen sein Selbst gottwürdig formen kann.
Es ist somit die Mystik, die im Mittelalter als die legitime Erbin der anti-
ken Lebensformphilosophie anzusehen ist. Sie ist es auch später im Wesent-
lichen, die neben einer immer stärker auftrumpfenden abstrakt-theoretischen
32
Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 201 ff. Dem Sinn nach ähnlich: Ebd. 198:
Vünde ich mich einen ougenblik in disem wesene, ich ahtete als wênic ûf mich sel-
ben als eines mistwürmelîns.
33
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 28, DW II, 61. Zum neuplatonischen Hintergrund
vgl. Kobusch 1986. Bei Plotin, Enn. III 8, 9, 30 ist vom „Zurückweichen“ und
„Sich-lassen“ des Geistes die Rede (oŒon e„j toÙp…sw ¢nacwre‹n kaˆ oŒon
˜autÕn ¢fšnta…)
34
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 203; Werke I, 879, 959 ff.
212 Theo Kobusch
Philosophie das antike Bewusstsein von der dem Leben verpflichteten Philo-
sophie wachgehalten hat.
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Philosophie als Lebensform 213
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III.
Gesellschaftliche Positionen: Die Außenperspektive
Die deliberative Gesellschaft:
ein Brückenschlag von der philosophischen Reflexion
zur politischen Konstitution
Christoph Böhr
In jenem Augenblick, in dem ein Mensch beginnt, die Nähe anderer Men-
schen zu suchen und es darauf anlegt, anderen Menschen in deren Blick-
feld zu erscheinen, beginnt die Geschichte einer Beziehung, die bis zu
seinem Lebensende andauert und tagtäglich an Vielschichtigkeit gewinnt:
nämlich die Lebensgeschichte des Menschen als Austritt aus seiner Sub-
jektivität und dem damit einhergehenden Eintritt in die Intersubjektivität,
die sich später zur Interpersonalität entfaltet. Dieser Aufbruch kommt je-
doch keinem Abschied gleich: Der Mensch gibt seine Subjektivität nicht
218 Christoph Böhr
auf wie jemand, der Haus und Hof verlässt. Lebenslang bleibt sie der Ort,
an dem er zu Hause ist. Aber er tritt, als Bewohner dieses Hauses, hinaus
in den größeren Raum, der seine Subjektivität umschließt: die Agora. Die-
ser die eigene Subjektivität bergende Raum ist nichts anderes als die frem-
de Subjektivität der Anderen. So konstituiert sich Intersubjektivität, wie
immer sie im Einzelnen beschaffen sein mag, als jener Raum, in dem ein
Mensch lebt – als Forum des Politischen.
Wenn nun der Mensch – sei es am Anfang seines Lebens noch unbe-
wusst, sei es später bewusst und willentlich – in den seine Subjektivität
umgebenden größeren Raum der Intersubjektivität eintritt, entdeckt er die
Vielschichtigkeit der Wechselbeziehungen, in die er sich freiwillig begibt
oder in die er unfreiwillig einbezogen wird. Eine Spielart des Intersubjek-
tivismus nennen wir Interaktion: als eine Weise – neben anderen Formen –
der Gestaltung von Kommunikation, mit der wir die Art unserer Bewälti-
gung von Intersubjektivität bezeichnen.
Tritt der Mensch in eine Interaktion ein – hier verstanden als die hand-
lungsbezogene Form der Entfaltung und Gestaltung von Intersubjektivität
und deren Bewältigung durch Kommunikation – und handelt er im Bezugs-
feld zu anderen Menschen, bedarf es bestimmter Regeln, die sein Handeln –
wie sich später zeigen wird: unter der Bedingung von Wechselseitigkeit –
leiten. In einer Interaktion stellt sich allen Beteiligten auf Schritt und Tritt die
Frage, wie der Abgleich zwischen den eigenen Erwartungen und den Er-
wartungen des Gegenübers geregelt werden kann – und wie in gelingender
Weise ein Ausgleich zwischen eigenen und fremden Absichten vorzuneh-
men ist. Denn wenn jemand sich weigert, nach einem solchen Ausgleich zu
suchen, wird ihn eine Ausgrenzung treffen, die ihn aus dem Raum der
Intersubjektivität vertreibt, den zu betreten er sich gerade entschlossen
hatte. Also sucht er den Ausgleich – und um ihn nicht von Fall zu Fall
wagen zu müssen, sucht er nach Regeln, die sein Handeln in die Richtung
des gesuchten schiedlichen und auskömmlichen Miteinanders lenken.
Wer setzt diese Regeln in Kraft? Und wer zwingt sie solchen Mitspie-
lern auf, die nicht daran denken, nach Regeln zu handeln? Und welche
Mittel stehen zur Verfügung, um Regeln jene Geltung zu verschaffen, die
eine Handlungsleitung allererst zur Regel macht? Doch nur die eine und
einzige Gewalt, die wir mehr oder weniger bereit sind, über unseren Kopf
hinweg schalten und walten zu lassen: die staatliche, genauer: die politi-
sche Gewalt.
Politik ist die ihrem Anspruch nach verbindliche Organisation von
Gewalt in einem allgemeinen und in einem besonderen Sinn. Sie aktuali-
siert eine Potenz, die wir gemeinhin Macht nennen. Unter Macht verstehen
wir nichts anderes als die Potentialität einer fallweise zu aktualisierenden
Gewalt. Das Telos, dem Macht und Gewalt unterliegen, ist nicht einfach zu
Die deliberative Gesellschaft 219
1
Für den Gegenentwurf, mit dem Herrscher und Beherrschte in unterschiedliche
Ordnungen gestellt werden, steht am Beginn des neuzeitlichen Denkens die Theorie
von Niccolò Machiavelli, der Abstand nahm von der Überzeugung, dass Herrscher
und Beherrschte – bei unterschiedlichen Rechten – sich in ein- und denselben Ord-
nungsrahmen einer ihnen gleichermaßen vorgegebenen Wahrheit einzufügen haben;
Sternberger 1978, 159 ff., hier bes. 193, nennt Machiavelli den Begründer des zwei-
ten, neuzeitlichen, von ihm dämonologisch genannten Begriffs von Politik – nach
dem klassischen politologischen und vor dem modernen eschatologischen.
220 Christoph Böhr
2
Thomas Hobbes erlebte zu seiner Zeit das Verhältnis von Glaube und Vernunft –
Wahrheit und Gesetz – als einen Dualismus, der seiner Meinung nach schnurstracks
in den politischen Bellizismus führt, und setzte an die Stelle dieses Dualismus ein
neues monistisches Prinzip, den Machtspruch. Dabei übersah er allerdings, dass die
Verbannung des Glaubens aus der staatlichen Sphäre eine Leere entstehen lässt, die
regelmäßig schon bald durch einen anderen Glauben, schlimmstenfalls durch einen
Aberglauben, gefüllt wird; vgl. dazu Böhr 2009a, 74 ff., hier 88 f.
Die deliberative Gesellschaft 223
3
Zum philosophischen Motiv des Prinzips der Reziprozität vgl. Sepp 2009, 449 ff.,
hier 460: „Im gelingenden Ausgleich übersteigen wir uns wechselseitig, und diese
Übersteigung ist nur dann wirklich, wenn ihr ein metaphysisches Begehren zugrun-
de liegt: die Lösung vom Verhaftetsein an das Eigene ebenso wie die Einsicht, das
Andere (und das Eigene) nie ausloten und nie wirklich haben zu können.“ In die-
sem Sinn baut Reziprozität eine Brücke über die Differenz von Subjektivität und
Intersubjektivität.
224 Christoph Böhr
Das hat weitreichende Folgen. Bevor darüber zu sprechen sein wird, bedarf
es noch eines kurzen Blicks auf die grundlegende Bedeutung des Subjekts,
das aller politischen Konstitution vorausgeht. In dieser phänomenalen Evi-
denz erkennt die freiheitliche Gesellschaft ihre eigene, die ihr unmittelbar
zugehörige und sie beatmende Wahrheit. Deren Entfaltung spannt den
Rahmen der freiheitlichen Gesellschaft auf. In ihr gibt es nichts, was unter
den Bedingungen der Freiheit nicht der Verfügbarkeit preisgegeben wäre –
außer dem, was die Freiheit als Freiheit begründet. Was also begründet die
freiheitliche Gesellschaft, das nicht preisgegeben werden kann, ohne damit
zugleich die freiheitliche Gesellschaft selbst preiszugeben?
Die Antwort auf diese Frage haben die Mütter und Väter der deutschen
Verfassung mit dem ersten Satz des Grundgesetzes gegeben: Die Würde
des Menschen ist unantastbar. In diesem Satz – seinem Bekenntnis zum
Menschen als Bekenntnis zu seiner unantastbaren Würde – findet sich die
Wahrheit, durch die eine freiheitliche Verfassungsordnung, innerhalb derer
eine Gesellschaft sich selbst und frei bestimmt, zuallererst durch ihren
Schöpfer, den Souverän, in Kraft gesetzt ist. Diese Wahrheit wird anthro-
pologisch, ja anthropozentrisch bestimmt: Das alleinige Fundament des
Verfassungsstaates, seine Wahrheit, findet sich in der Freiheit seines
Schöpfers, des Menschen. Es sind also die Deutung und die Auslegung
dieses Satzes, genauer: die Art und Weise der Entfaltung des Verständnis-
ses menschlicher Würde, von denen Wohl und Wehe einer freiheitlichen
Gesellschaft im Sinne ihres dauerhaften Gelingens abhängen.
Dieser Satz bedarf der Erläuterung. Denn seinem Sinn nach versteht er
den Begriff der unantastbaren Würde als Telos einer freiheitlichen Ord-
nung – ein Telos freilich, dass die Gesellschaft, wenn sie sich als freie
verstehen will, sich selbst vorzugeben4 gehalten ist: ein Menschenbild, das
4
Als Programmidee am Beginn der Neuzeit findet sich dieser Gedanke, dessen Wur-
zeln weit in die Antike reichen und der in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten
zu einem Sinnverständnis fand, wie es uns heute noch zu eigen ist, bei Giovanni Pi-
co della Mirandola: Dem Menschen ist „es gegeben, das zu haben, was er wünscht,
und das zu sein, was er will.“ (Pico 1988, 11) Pico hat diesem Satz eine Deutung des
Menschen durch seinen Schöpfer vorausgeschickt, gleichsam als eine theologische
Legitimation seiner philosophischen Anthropologie: Er, der Mensch, ist weder als
Himmlischer noch als Irdischer, weder als Sterblicher noch als Unsterblicher ge-
schaffen, damit er selbst die Form bestimmt, in der er zu leben wünscht. Picos Be-
stimmung menschlicher Würde erklärt auch, warum niemand einem Menschen die
Würde, sich selbst zu bestimmen, nehmen, er sie schlimmstenfalls nur selbst verfeh-
len kann. Gedruckt wurde die Schrift erstmals 1496, rund zehn Jahre nach ihrer Ent-
stehung. Es hat fast ein halbes Jahrtausend gedauert, bis Picos Gedanke Eingang ge-
funden hat in unser amtliches Verständnis der Legitimität staatlicher Konstitution.
Die deliberative Gesellschaft 225
„Wenn wir die Natur als den Continent unserer Erkenntnisse ansehen, und un-
sere Vernunft in der Bestimmung der Grenzen derselben besteht, so können
wir diese nicht anders erkennen, als sofern wir das, was die Grenzen macht,
den Ocean, der sie begrenzt, mit dazu nehmen, davon wir aber nur noch die
Ufer erkennen, nämlich Gott und die andere Welt, die notwendig als Grenzen
der Natur betrachtet werden, obzwar von ihnen unterschieden und für uns un-
bekannt.“ (Kant 1992, 822)
226 Christoph Böhr
Folgt man dieser Anthropologie, die der Natur des Menschen über die
Bestimmung der Möglichkeiten seiner Erkenntnis – und den Grenzen sei-
ner Vernunft – Kontur verleiht, dann bringt der Begriff der Würde eben
diese Fähigkeit, über die Enge aller sinnlichen Wahrnehmung hinausbli-
cken zu können, zur Geltung: Als Mensch hat der Mensch einen Blick für
das Unbedingte, das Absolute. Diesen Blick hält ein Begriff von Würde
offen, der die metaphysische Wahrheit als eine anthropologische Wahrheit
bestimmt – und zwar nicht, wie diesem Satz von seinen Gegnern gerne
unterstellt wird, im Sinne einer Ableitung der anthropologischen von der
metaphysischen Wahrheit, sondern ganz im Sinne einer Ablösung: An die
Stelle einer metaphysischen Wahrheit tritt die anthropologische Wahrheit.
Sie allein kann jene Anthropozentrik5 begründen, die wir voraussetzen
müssen, wenn die freiheitliche Gesellschaft nicht als einmalige Deduktion6
(von einer höheren Wahrheit), sondern als ständige Konstitution (ihrer
selbst) – als eine in allen Fragen sich selbst bestimmende Gesellschaft –
verstanden werden soll, mit Ausnahme eben jener einzigen, nämlich des
die Gesellschaft in ihren Rechten überhaupt erst begründenden Bekennt-
nisses zur unantastbaren menschlichen Würde. Im Kampf um den Begriff
der Würde geht es letztlich um die Frage nach dem Selbstverständnis frei-
heitlicher Gesellschaften schlechthin.
Weil sich in der Forderung, Würde bedingungslos zu schützen, die al-
leinige Ausnahme vom ansonsten in jeder Hinsicht dissentierenden Selbst-
verständnis einer freiheitlichen Gesellschaft findet, kann der Begriff nicht
historisch oder naturalistisch relativiert werden, ohne zugleich den perspek-
tivischen Punkt einer sich aus sich selbst begründenden gesellschaftlichen
Freiheit zu verlieren. Der Begriff der Würde ist der vor jeder Relativierung
geschützte Bezugspunkt, der erst ermöglicht, dass in der freiheitlichen Ge-
sellschaft ansonsten und fernerhin alles relativiert, also nach Gesichtspunk-
ten der Willkür beliebig gedeutet und gestaltet werden darf, und zwar nach
Maßstäben, die ebenfalls in der Verfügungsmacht der Gesellschaft liegen –
mit jener einen genannten Ausnahme: Und diese Ausnahme ist der Mensch,
genauer: seine Würde. Dieser Begriff, wie wir ihn heute verstehen, ist nicht
das Ergebnis einer philosophischen Deduktion, sondern erfüllt die Aufgabe
5
Vgl. Schweidler 2008, 384 ff., hier: 387: „Der Mensch wird im Konstitutionsgefüge
des modernen Staates nicht deshalb vor jeder Definition geschützt, weil er keine
hat, sondern weil er sie nur selbst geben kann und weil der Staat auf diese von dem
Menschen selbst in seiner Freiheit gegebene, man kann auch sagen: gelebte Defini-
tion vertraut und vertrauen muss.“
6
An diesem Missverständnis der Bedeutung des Würdebegriffs für die Begründung
von Gesellschaftlichkeit halten viele seiner Gegner fest; vgl. beispielhaft Wetz
2005, 206.
Die deliberative Gesellschaft 227
der politischen Konstitution. Seinem Sinn nach zielt er auf die „Manifesta-
tion des Verbots jedweder Relativierung des Menschen gegenüber anderen
Zwecken als demjenigen, der in seiner eigenen bewandtnislosen Unableit-
barkeit existiert.“ (Schweidler 2008, 385)7
Es ist eben jene bewandtnislose Unableitbarkeit, die begründet, warum
diese Präsumtion – um eine solche handelt es sich zweifellos auch hier –
von allen anderen Präsumtionen nicht graduell, sondern substantiell unter-
schieden ist. Die bewandtnislose Unableitbarkeit des Begriffs der Würde
ist eine Präsumtion im Dienst der Freiheit. Im Recht bekennt sich der Staat
zu dieser Präsumtion um der Freiheit des Menschen willen, anders und
nüchterner gesagt: Er verpflichtet sich auf die Bedingung, dass der Mensch
selbst über seine Möglichkeiten entscheidet. Alles ist erlaubt in der frei-
heitlichen Gesellschaft, könnte man sagen, außer dass der Mensch sich
selbst als Mensch in Frage stellt.
Tut er es gleichwohl, stellt er damit unverzüglich und im gleichen
Atemzug den Grund (und damit sein Recht zu) eigener gesellschaftlicher
Freiheit in Frage. Wenn nämlich deren Grund widerspruchsfrei gedacht
werden soll, so gelingt das nicht ohne jene Anthropozentrik, die als Grund
gesellschaftlicher Freiheit zugleich die Begründung ihrer Verfassungsord-
nung ist. Ist nicht mehr die Selbstbezeugung des Menschen jene Wahrheit,
die sein Recht begründet, dann sind es andere, jedoch außerhalb seiner
Selbstbezeugung liegende Wahrheiten – wie beispielsweise die Zugehö-
rigkeit zu einer Rasse oder einer Klasse –, die mehr gelten und höher be-
wertet werden als das Recht, anderer Meinung, nämlich eigensinnig sein
zu dürfen.
Der Grund allen Rechts, die Würde des Menschen, gilt, wenn nicht an-
dere, außerhalb seiner Selbstbezeugung liegende Wahrheiten sich der Poli-
tik bemächtigen sollen, uneingeschränkt und unbedingt: eben bedingungs-
los, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Nur der bedingungslose Grund
rechtfertigt und ermöglicht den uneingeschränkten Schutz: universell und
universal, anders und in den Worten von Udo Di Fabio ausgedrückt: „disku-
7
Darum kommt dem Begriff der Würde im Gefüge des Selbstverständnisses zeitge-
nössischer Rechtsstaatlichkeit „eine eigentümliche, im ganz strikten, präzisen Sinne
transzendentale Bedeutung zu. Das heißt: Im Verhältnis zu einer politischen Ord-
nung […] markiert der Würdebegriff eben dieses Grundprinzip innerhalb des
Diskurses, der die Konstitution dieser sich so legitimierenden Ordnung rechtlich
formuliert. Entsprechend […] zieht der Würdebegriff dem rechtlichen Diskurs die
Grenzen, auf Grund derer das Recht den Grund seiner Geltung in den entscheidenden
Verboten findet, die es auch noch der rechtlichen, also seiner eigenen Zugriffsmacht
auf seinen Träger, den Menschen, zieht und ziehen muss, um sich selbst zu verstehen.
Die Menschenwürde […] hat die Funktion, das Verbot jeder […] Definition, die das
Menschsein dem Urteil von Menschen aussetzen würde, zu begründen.“ (ebd., 387)
228 Christoph Böhr
tierbar, aber eben nicht disponierbar“ (Di Fabio 2008, 65 f.). Denn jeder
Grund, der an Geltungsbedingungen geknüpft ist, unterliegt nur einer einge-
schränkten Gültigkeit und unterwirft folgerichtig den Anspruch des Schut-
zes eben diesen Bedingungen seiner Geltung. Das aber bedeutet: So verfüg-
bar wie die Bedingungen sind, so gestaltbar wird der Schutz (vgl. Böhr
2008). Mit anderen Worten: Würde besteht dann nur unter der Maßgabe
ihrer Anerkennung – und wird damit zu einer attribuierten Eigenschaft,
vergleichbar der Schönheit eines Menschen. Wer sich von Schönheit nicht
beeindrucken lässt, für sie nicht empfänglich ist oder einen ungewöhnlichen
Geschmack hat, kann nie gezwungen werden, sie anzuerkennen.
Wer aber bestimmt, was einem verbindlichen Verständnis von Würde
entspricht, heute – im Wissen darum, dass auch unser zeitgenössisches
Rechtsempfinden so wandelbar ist, wie es das früher und immer war? Auf
der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zeigt sich der Grund für die
Zerbrechlichkeit freiheitlicher Gesellschaften und deren ständiger Bedarf
an einem selbstvergewissernden Gespräch: Von Mal zu Mal und von Tag
zu Tag muss die Gesellschaft, weil sie die Voraussetzungen und Bedin-
gungen ihrer Freiheitlichkeit nur selbst schaffen und gewährleisten kann,
ihr Selbstverständnis prüfen, entwickeln und erneuern, um es dann festigen
zu können. Das ist eine anstrengende und zeitraubende Aufgabe. Aber es
ist die Bedingung der Überlebenskraft der Freiheit, dass sich ihrer täglich
nicht nur im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger erinnert wird, son-
dern, wichtiger noch, lebhaft – und streitig – Regeln entwickelt und ange-
passt werden, deren Sinn es ist, die Bedingungen gelingenden Freiheits-
vollzugs zu gewährleisten. Der Preis der Freiheit ist zu zahlen in der
Münze anstrengender Auseinandersetzung: als zeitraubender und kräfte-
zehrender Streit über die Bedingungen, die Freiheit ermöglichen. Eine
Gesellschaft, die dieses Streites müde wird, steht im Begriff, ihre Freiheit
zu verspielen.
Unser Land hat sich erst vor kurzem auf den Weg gemacht, diese Kultur
der Freiheit für sich zu entdecken. Der Westen Deutschlands befand sich
bis vor sechzig Jahren, der Osten des Landes bis vor zwanzig Jahren in
einem ganz anderen politischen Paradigma: Die Gesellschaft entfaltete sich
im Rahmen eines Autoritätsschemas, das nicht zuließ, letzte Fragen der
Orientierung und der Identität streitig zu stellen. Seit zwei Jahrzehnten nun
haben sich diese Voraussetzungen grundlegend geändert: Nach einer Ent-
autorisierungsphase, die in der westlichen Welt in den 60er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts einsetzte, die übrige Welt spätestens seit 1989
Die deliberative Gesellschaft 229
erfasst hat und deren Ausmaß uns erst allmählich bewusst wird, ist an die
Stelle des vormaligen Autoritäts- ein Deliberationsschema getreten: Die
Gesellschaft ist seitdem auf sich gestellt: Weder Siegermächte noch Bünd-
niszugehörigkeit, weder säkulare Gewalten noch religiöse Mächte legen
Disponibilitäten und Indisponibilitäten fest.
Gerade aber aus diesem Grund muss sie sich jederzeit bewusst blei-
ben, auf welchem axiologischen Fundament – hier verstanden als die Le-
gitimität aller Legalität – sie steht: als ihrem Daseins-, Ermächtigungs-
und Gelingensgrund. Die Axiologie einer freiheitlichen Gesellschaft ist
schwach (in ihrem Umfang) und stark (in ihrer Wirkung) zugleich: Sie
erschöpft sich im Willen zur Gesellschaftlichkeit – unter der Bedingung
der Freiheit. Das klingt zunächst minimalistisch, ist aber tatsächlich eine
gravierende Angelegenheit, weil ohne den Begriff der Würde dieser Wille
zur Gesellschaftlichkeit unter den Bedingungen der Freiheit nicht dauer-
haft aufrecht erhalten werden kann. Ohne den Begriff der Würde gibt es
keine Architektur der Freiheit, weil Freiheit nur vom Begriff der Würde
her zu denken ist. Dieser Satz beschreibt nicht, wie es zunächst scheinen
mag, eine Tautologie, sondern erinnert daran, dass die Entscheidung zur
gemeinschaftlichen Selbstbestimmung ihre Begründung nur finden kann in
einem Bild vom Menschen, das diesen „in seiner Dignitas absolut und als
Subjekt axiomatisch“ (ebd., 17) denkt: nicht als Wertentscheidung, die
dieses Menschenbild selbstverständlich auch enthält, sondern zunächst und
vor allem als vernünftige, in sich widerspruchsfrei gedachte Geltungs- und
Gültigkeitsbedingung eines Gesellschaftsbildes, von dem gesagt werden
kann, dass es freiheitlich ist: also dem Eigensinn des Menschen seinen
Raum zur Entfaltung und Jedermann Schutz vor unzulässiger Beeinträch-
tigung zusichert.
Diese Begründung der freiheitlichen Gesellschaft in der Bezugnahme
auf ein Menschenbild, das die Würde absolut und das Subjekt axiomatisch
denkt, beinhaltet keinesfalls, wie oft vermutet, eine Entscheidung zuguns-
ten einer Gesellschaft, die den Individualismus vergöttert und die Solidari-
tät missachtet. Denn die absolut gedachte Würde ist immer auch die unmit-
telbare Folge der Erfahrung des Pluralismus und der Überwindung des
Solipsismus zugunsten von Reziprozität: Weil Menschen sich ihrer Ver-
nunft unterschiedlich bedienen und gleichermaßen unterschiedlichen Über-
zeugungen folgen – die Anerkennung des logischen wie des moralischen
Pluralismus demnach als unhintergehbares phänomenales Faktum voraus-
gesetzt wird8 –, bedarf es grundlegender Regeln zur Gestaltung der Bezie-
hungen zwischen Menschen auf der Grundlage wechselseitiger Achtung und
8
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2009b, 119 ff.
230 Christoph Böhr
Wertschätzung.9 Dabei ist jedoch immer im Blick zu behalten, dass nur ein
maximal, das heißt hier: absolut gedachter Begriff der Würde mit dem Ge-
danken einer immer auf Universalität zielenden Reziprozität vereinbar ist,
ja, die Regel der Reziprozität gerade die Universalität des unbedingten An-
spruchs fordert (vgl. Bruni 2008). Wenn Würde durch Dritte attribuiert wird,
beziehungsweise durch eine freiwillige oder erzwungene Selbst- oder
Fremdbegrenzung von Reziprozität der Begriff der Würde für die Entschei-
dung über Inklusion und Exklusion von Menschen in Dienst genommen
wird, kann sie nicht ungeteilt und ausnahmslos, sondern nur nach der jeweili-
gen Stufe ihrer – durch den Machtspruch Dritter festgelegten – Attribuierung
gelten. Damit aber verliert der Begriff seinen Sinn als gleichermaßen be-
gründendes wie gefolgertes Prinzip universaler Reziprozität – und als Ma-
xime sozialer Interaktion. Das Bekenntnis zur Gleichheit in der Würde als
dem gemeinsamen anthropozentrischen Nenner aller Beziehungsregeln ist
also mitnichten nur der Individualität, sondern ebenso der Solidarität ge-
schuldet – und, wie sich zeigt, mehr als nur ein Bekenntnis; in ihm findet
sich die denknotwendige Voraussetzung einer Freiheit, die Voraussetzung
aller, jedoch ausnahmslos auf Freiwilligkeit abstellender Beziehungen ist.10
Dieses Verständnis von Freiheit ist fundamental, nämlich letztbegrün-
dend für die Grundlagen eines Gesellschaftsbildes, das nicht die (durchaus
gut gemeinte) Bevormundung, sondern die (oft lästige) Selbstbestimmung
zum Kern ihres Selbstverständnisses wählt – in Folge der Entscheidung für
ein Bild vom Menschen, das diesen als den schlechthin Unverfügbaren an-
erkennt. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis sich im europäischen Denken
diese Überzeugung durchsetzen konnte, und nach vielen leidvollen Erfah-
rungen das Recht der Person schließlich das Recht der Wahrheit ablöste.
Der Mensch ist der schlechthin Unverfügbare. Was wird von uns erwar-
tet, wenn wir diesen Satz bekennen? Gerade haben wir begonnen, darüber
nachzudenken – und darüber zu streiten. Das kann gar nicht anders sein.
Und vermutlich wird sich die freiheitliche Gesellschaft in ihrer Antwort auf
diese Frage nie einig sein. Wichtig ist nur, dass uns bewusst bleibt: Die
Frage, was von uns erwartet wird, wenn wir uns zur Wahrheit der Person
bekennen, ist keine als Zumutung von außen an uns herangetragene Frage.
Es geht vielmehr um die Erwartung, die wir an uns selbst richten müssen,
9
Diese Bedingung der Regel wird hier nicht als normative Präsumtion, sondern als
Voraussetzung der Rechtfertigung eines allgemeinen Gültigkeitsanspruches einge-
führt; vgl. dazu Böhr 2011.
10
Deshalb kann die freiheitliche Gesellschaft Zwangsverheiratungen nicht dulden,
auch wenn der Hinweis ihrer Befürworter, Eltern wüssten lebensalterbedingt oft
besser, was für ihre minderjährigen Kinder gut sei, im Einzelfall vielleicht nicht
wenig einleuchtend erscheint.
Die deliberative Gesellschaft 231
wenn der Mensch – die Wahrheit der Person – zum letzten Maßstab seiner
Ordnung wird: Es ist die Frage der freiheitlichen Gesellschaft nach dem
eigenen Selbstverständnis als Inbegriff der für alle verbindlichen Regeln
des Zusammenlebens. Niemand wird der Gesellschaft die Beantwortung
dieser Frage abnehmen können. Nur auf dem Wege ihrer Beratschlagung
lernt die Gesellschaft, sich selbst zu verstehen, und, je mehr sie berat-
schlagt, umso fester und beständiger gründet sich jenes Bild, das sie von
sich selbst entwirft.
Nachdem bisher davon die Rede war, welche vorangehende Bedeutung die
Philosophie für die Politik – als deren konstitutive Inkraftsetzung – hat,
soll jetzt danach gefragt werden, welche Rolle die Politik in einer Gesell-
schaft der Deliberation spielt.
Wie es scheint, hat sich die deutsche Politik längst im neuen Paradig-
ma der deliberativen Gesellschaft eingerichtet – und lässt es sich dort wohl
gehen. Entlastet von dem Anspruch, Führung zu zeigen, und befreit von
der Last, sich selbst über Lösungen den Kopf zu zerbrechen, verweist die
Politik auf ihre Bedeutung als Spiegelbild der Gesellschaft; was in der
Gesellschaft ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erreicht, findet flugs
Eingang in die politische Debatte – weniger um der Sache willen, als mit
dem Ziel, Menschen, die ein bestimmtes Anliegen in die Öffentlichkeit
tragen, mehrheitsbeschaffend an sich zu binden. Diese Rolle der Politik als
Reflektor der Gesellschaft – samt ihres organisationspolitischen Einfalls-
reichtums, wenn es um den Erwerb und den Erhalt der Macht geht – ist
weder neu noch unheimlich.
So ergibt sich, alles in allem, dem Schein nach im Medium unterhalt-
samer Plauderei, dem Fernsehen, eine Beratschlagung, bei der nichts und
niemand, keine Gruppe, kein Anliegen, keine Botschaft und keine Frage
unberücksichtigt bleiben. Das einzige, was am Ende fehlt, ist ein Ergebnis
– das es aber auch schon deswegen nicht geben darf, weil dem Medium,
das die Plattform für die Plauderei bietet, dem Fernsehen, ansonsten sofort
eine ungebührliche Schlagseite vorgeworfen wird. Für das Medium ist
allein wichtig, alles bis zum Schluss unentschieden und unverbindlich zu
belassen. Nur dann, so vermutet man, bleiben Zuschauer und Zuhörer bei
der Stange, wenn nicht zu erkennen ist, wer die besseren Gründe hat. Im
visuellen Medium werden nicht Gründe (für Ziele) erwogen, sondern Stile
(der Selbstdarstellung) gepflegt.
Diese ritualisierte Medialität ist nun das ziemliche Gegenteil einer Deli-
beration. Zwar fördert sie, wie in der deliberativen Gesellschaft unverzicht-
232 Christoph Böhr
bar, die Positionierung und die Profilierungen von Botschaften und Men-
schen. Aber dabei bleibt es dann auch. Das, was die Logik des Argumentie-
rens seit je ausmacht, findet nicht statt: das vorrangige Aufspüren von Un-
terschieden, um folgerichtig die Gemeinsamkeiten beschreiben zu können.
Die Antithesen mit ihrem (meist sehr bescheidenen) Unterhaltungswert
bleiben unvermittelt neben- und gegeneinander stehen – und das Publikum
bleibt bei der Stange, weil jeder bis zum Ende des Gesprächs seinem gemie-
teten Rollenträger zur Seite steht. Diese Form verfehlter Beratschlagung lebt
von den fiktiven Identitäten ihrer Akteure: Von der erhofften Wirkung einer
Meinung wird die Identität desjenigen, der sie vertritt, abgeleitet. Nicht die
geprüfte Überzeugung in Kenntnis eines Sachverhalts führt zur Urteilsbil-
dung, sondern der auf dem Politiker lastende übermenschliche Druck, wahr-
genommen werden zu müssen, ist Anlass dafür, in eine Rolle zu schlüpfen,
von der man sich eben diese überlebensnotwendige Wirkung erhofft.
Dabei bestimmt sich das, was jemand sagt, oft nicht nach dem, was in
der Sache zu sagen wäre, sondern erschöpft sich im Widerspruch zum
Anderen, dem man konfrontativ gegenüber sitzt. Demnach sind es die ver-
schiedenen Rollen, die sich in wechselseitiger Abgrenzung gegeneinander
bestimmen – und genau an diesem Punkt zeigen sich Anknüpfungspunkte
einer Weiterentwicklung zur deliberativen Gesellschaft.
Wenn unter diesem Begriff eine Gesellschaft verstanden werden soll,
in der alles und jedes der Beratschlagung offensteht, dann bedeutet das ja
in der Tat, dass alles und jedes aufgespalten werden muss in eine Vielzahl
mehr oder weniger wechselseitig im Widerspruch zueinander stehender
Meinungen. Insoweit zeigt die deutsche Gesellschaft allererste, wenn auch
noch sehr zarte Umrisse einer deliberativen Gesellschaft, die den Amerika-
nern lange schon zur Gewohnheit geworden ist. Eine solche Gesellschaft
kennt keine Tabuisierungen, auch wenn sie von einem Tabu ins andere
fällt. Das klingt zunächst paradox, zeigt sich aber bei näherem Hinsehen
als Regelfall: Die täglich neu entstehenden Tabus sind die Probe aufs Ex-
empel – sie sind Zwischenstationen auf dem Weg zur dauerhaften Geltung
verbindlicher neuer Regeln. Weil keine Gesellschaft an jedem Tag alles
und jedes neu bestimmen kann, andererseits aber die Übernahme alter und
hergebrachter Verhaltenslenkungen nicht ungefragt übernehmen will,
schafft sie tagtäglich neue Verhaltenssteuerungen, von denen die wenigs-
ten lange überleben oder gar prägende Kraft entwickeln, bis sich dann am
Ende eine Meinung herausschält, von der man erwarten kann, dass sie über
den Tag hinaus Bestand hat.
Manches in dieser Entwicklung erscheint von Fall zu Fall lächerlich,
manchmal auch ärgerlich, wenn beispielsweise vorübergehende Moden
schon bald zur Bildung neuer Tabus führen, die wir als political correct-
ness verhaltenssteuernd und verbindlich autorisieren. Dieser komplexe
Die deliberative Gesellschaft 233
11
Das Leben als ganzes bleibt unberechenbar; um die Tragfähigkeit seiner jeweiligen
Lebensplanungen und Lebensziele weiß der Mensch erst am Ende des Tages Bescheid
– und oft genug machen ihm nicht vorausgesehene Nebenfolgen seines Handelns ei-
nen Strich durch die Erfolgsrechnung; vgl. Hinske 2003, 319 ff., hier bes. 328 f.
234 Christoph Böhr
12
Genau an diesem Punkt, der Unterscheidung von Wissen und Glauben, setzt die
Verhältnisbestimmung von Religion und Politik an.
Die deliberative Gesellschaft 235
auf eine bestimmte beabsichtigte Wirkung abgesehen haben, nur den Rang
eines hypothetischen Imperativs besitzen; sie bleiben Hypothese, weil wir
uns weder ausreichend sicher sein können, dass unser angepeiltes Ziel
richtig ist, noch hinlänglich wissen können, ob wir mit unserem Handeln
tatsächlich die ihm zugrunde liegende Absicht erreichen.
Die Form des Handelns und seine formgebende Regel lüften zwar
nicht den Schleier des Unwissens, der die Folgen allen Handelns vor unse-
ren Augen verbirgt. Aber sie machen den Menschen fähig zum Handeln,
weil sie ihm zu seiner Hilfe ein Kriterium an die Hand geben, nach wel-
chen vernünftigen Gesichtspunkten eine Entscheidung zu treffen ist. Da
ihn sein Wissen im Stich lässt, wenn er es am dringlichsten benötigt –
nämlich im Augenblick einer Entscheidung –, bleibt ihm gar keine andere
Wahl, als mangels Wissen auf seine Überzeugung zu bauen: als formge-
bende Regel für ein Handeln in Ungewissheit. Damit werden auf den ers-
ten Blick Handlungsoptionen eingeschränkt. Aber auf den zweiten Blick
bewirkt die formgebende Regel das Gegenteil: Der Mensch bewahrt auf
diese Weise seine Handlungsmöglichkeiten, die er verlöre, wenn der Stär-
kere den Schwächeren willkürlich beherrschte.
Was folgt aus alledem für die Gesellschaft? Die Aufgabe, über die Re-
gel als der Form des Handelns zu reflektieren, ist in der deliberativen Ge-
sellschaft – anders als früher – eine tagtäglich neu gestellte Aufgabe gewor-
den. In einer Welt, die verbindliche Tugendkataloge nicht mehr kennt – was
keinesfalls bedeutet, dass Tugenden nicht mehr anerkannt werden –, muss
die Begleitmusik der Tugenden, die nichts anderes zu Gehör bringt als Vor-
schläge zur Beschreibung der Formgebung des Handelns, von Fall zu Fall
neu intoniert werden. Und entsprechend gilt das auch für die Regel, unter
die das Handeln gestellt ist. Ihre Anwendung muss von Fall zu Fall bedacht
werden, weil die Vielfalt der Handlungsoptionen gar keine andere Regel als
eine auf Verallgemeinerungsfähigkeit zielende sinnvoll erscheinen lässt.
Das aber ist nicht allein in den schwierigeren Fällen eine Aufgabe, die
nur gemeinschaftlich zu lösen ist. Und eben diese Aufgabe steht im Mittel-
punkt der deliberativen Gesellschaft. Ein gutes Beispiel dafür bietet die
Politische Ökonomie, die besonders in Deutschland – und nicht nur dort –
seit Jahrzehnten am Boden liegt. Es werden keine Regeln mehr entwickelt,
die dem wirtschaftlichen Handeln die Richtung weisen – auch deshalb,
weil die Politik keine Ziele mehr bedenkt. Worin bestand in den zurücklie-
genden Monaten das Ziel der Politik zur Zeit der Bewältigung der Krise
der Ökonomie? Die Politik war – und ist – weit davon entfernt, eine neue
Ordnung der Wirtschaft stiften zu wollen, sondern begnügt sich damit,
Wunden zu verbinden, damit der Kranke bald schon wieder in den Zustand
zurückversetzt wird, in dem er sich vor Ausbruch der Krise befand. Eine
deliberative Gesellschaft kann sich damit nicht zufrieden geben. Und so
236 Christoph Böhr
13
In diesem Zusammenhang spielt die „symbolische Politik“, wie Thomas Meyer sie
beschreibt, als „eine strategische Form politischer Kommunikation, die nicht auf
Verständigung zielt, sondern durch Sinnestäuschung Gefolgschaft produzieren
will“, eine wichtige Rolle (Meiyer 1994, 139).
14
Vgl. Kepplinger 1998, 222. Seitdem die Politik die wechselseitige Skandalierung
als eigene Strategie verfolgt, suchen sich die Medien vor ihrer Instrumentalisierung
zu schützen. Allmählich wächst die Einsicht, dass „die Anprangerung kein Er-
kenntnisverfahren, sondern ein Machtmittel“ ist (ders. 2001, 143) und ihre Analyse
folglich unter Macht-, nicht unter Erkenntnisgesichtspunkten zu erfolgen hat.
Die deliberative Gesellschaft 237
15
Vgl. Walter 2006, 199 ff., hier 207: „Der sinnentleerte Pragmatismus hat der Politik
und den Parteien die normativen Fluchtpunkte genommen. Nicht zuletzt deshalb ist
die ‚Reformpolitik‘ beider Volksparteien so unpopulär, wird sie so wenig unter-
stützt. Denn die Parteien können nicht angeben, wohin die Reise gehen soll.“
Die deliberative Gesellschaft 239
von Eliten und Systemen. Dabei ist es nicht Aufgabe der Philosophie, in der
Geste des Besserwissers schwierige Sachverhalte und Zusammenhänge zu
popularisieren, wo es nichts zu popularisieren gibt, sondern ihre Aufgabe ist
es, Selbstbezüglichkeit in den sozialen Subsystemen einer Gesellschaft zu
erkennen und immer wieder danach zu fragen, wie aus dem Inneren eines
Subsystems die Brücke zu dessen Außenwelt gebaut werden kann. Denn
ansonsten bleibt alle Beratschlagung vergeblich. Ein autopoietisches System
weist das deliberative Argument regelmäßig ab. Es kennt keine Berat-
schlagung, sondern zielt nur auf die Sicherung der eigenen Machtstellung.
Eine Beratschlagung, wie sie hier gefordert wird, ist aber umso wichti-
ger, als seit jetzt zwei Jahrzehnten in Deutschland ausnahmslos jede Re-
formkommunikation16, sofern sie überhaupt versucht wurde, gründlich
misslungen ist. Die Umsetzung nicht eines einzigen Projektes, so begründet
es der Sache nach auch war, glückte. Das ist besonders erklärungsbedürftig
dort, wo die Notwendigkeit einer Veränderung auf der Hand liegt – bei-
spielsweise im Blick auf den unübersehbaren Zusammenhang, der zwischen
der Sicherung der Altersversorgung und der Dauer der Lebensarbeitszeit
besteht. Und wenn Reformen in einem Kraftakt durchgesetzt wurden – wie
es beispielsweise bei der Hartz-Gesetzgebung der Fall war –, kosteten sie
nicht nur die federführende Regierung Kopf und Kragen, sondern entpupp-
ten sich auch schon kurze Zeit nach ihrer Inkraftsetzung als völlig blauäugig
hinsichtlich ihrer zahlreichen unbeabsichtigten Nebenfolgen, so dass der
Reform unzählige Reformreparaturen auf dem Fuße folgten, für die ihrer-
seits wiederum das Gleiche galt: Auch sie waren, jede für sich, blauäugig
hinsichtlich ihrer Nebenfolgen, vor allem im Blick auf Anreizwirkungen,
die regelmäßig das Gegenteil der vom Gesetzgeber verfolgten Absichten
bewerkstelligten.17 Gerade dieses Beispiel verunglückter Reformkommu-
nikation – mit der Folge einer sich verbreitenden Scheu vor Reformrisiken
bei einem gleichzeitig stetig steigendem Anpassungsbedarf hochentwickel-
ter Gesellschaften – zeigt, wie notwendig, ja überlebensnotwendig der
Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation in freiheitlichen Gesell-
schaften ist.
16
Über den Zusammenhang von Reformteleologie, Reformstrategie, Reformkommu-
nikation und Reformpolitik vgl. Böhr 2005a, 20 ff.
17
Damit ist ein beispielhafter Anlass für eine schon im Ansatz missglückte Kommu-
nikation gegeben. Während die einen – zum Beispiel Guido Westerwelle zu Beginn
des Jahres 2010 im Blick auf die Empfänger von Ersatzeinkommen – über die An-
reizwirkung einer Regel und deren unbeabsichtigte Nebenfolgen sprechen, beruft
sich die widersprechende Seite auf die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht. Das
Beispiel zeigt, dass politische Kommunikation unter den ausschließlichen Vorzei-
chen von Rede und Gegenrede zwar mit Aufmerksamkeit belohnt wird, aber jede
Deliberation verfehlt.
240 Christoph Böhr
Allerdings scheint bis heute nicht nur für die Medien der Satz zu gel-
ten: „Wer argumentiert, verliert.“18 Die Gesellschaft ist – samt ihrer Eliten
– offenbar davon überzeugt, dass diese Warnung den Kern trifft. Das kann
auch nicht verwundern. Denn Deutschland – und die anderen europäischen
Gesellschaften – stehen ganz am Anfang ihrer Entwicklung zu sich selbst
bestimmenden Gesellschaften. Gleichwohl spricht manches dafür, dass in
ihnen der Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation wenigstens
doch in Ansätzen begonnen hat. Und gerade hier zeigt sich ein entschei-
dender Beitrag, den die Philosophie leisten kann, um diese Entwicklung
voranzutreiben – wie sie das in der Geschichte des Kontinents vielfach
getan hat, wenn sie sich selbst nichts anderem verpflichtet wusste als der
Macht des Arguments. Die europäische Kultur hat sich von ihren Anfän-
gen an immer wieder als deliberative Kultur selbst verstanden – als eine
Kultur, deren deliberativer Charakter sich mit Norbert Hinske vor allem in
drei Gesichtspunkten (vgl. Hinske 2009, 83 ff.) beschreiben lässt: Ihr Fun-
dament ist das Wissen um die Wahrheit im Gegenargument, ihre Prämisse
ist die Überzeugung von der Unmöglichkeit des völligen Irrtums und ihr
systematischer Topos ist die Lehre von der Vernunft, genauer gesagt: die
Lehre von den Stärken und Schwächen der Vernunft. Darüber nachzuden-
ken ist nun allerdings das Kerngeschäft der Philosophie. Sie ist, mehr als
jede andere Disziplin, gefragt, wenn es darum geht, die Struktur deliberati-
ver Argumentation in sich selbst bestimmenden Gesellschaften zu entwi-
ckeln. So verstanden, geht es nicht um ein utopisches Projekt, sondern um
die Methodologie freier gesellschaftlicher Selbstbestimmung: dass Gesell-
schaften lernen müssen, sich in und über Regeln, auf die hin sie sich für
längere oder für kürzere Zeit verpflichten, selbst zu verstehen.
Das nun, was hier als deliberativer Charakter sich selbst bestimmender
Gesellschaften beschrieben wird, ist nichts anderes als Reflexivität: So wie
die Philosophie nie mehr hinter die Einsicht der Reflexivität einer sich auf
sich selbst zurückbeugenden Vernunft zurück kann, so gewinnen Gesell-
schaften allmählich Einsicht in die Reflexivität des Handelns ihrer Mit-
glieder: als Einsicht in die Rückwirkung, die mit jeder privaten und politi-
schen Entscheidung verbunden ist – sowie als die Einsicht, dass im
Bewusstsein dieser nicht vorhersehbaren Rückwirkungen Handlungsregeln
18
So titelte die Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe vom 24. September 2007 und resü-
mierte die Erkenntnisse der Populärpsychologie: „Wir verhandeln täglich: im Büro,
zu Hause, mit Freunden. Psychologen haben die geheimen Spielregeln des Verhal-
tens analysiert. Ergebnis: Für den Erfolg ist die Form des Gesprächs viel wichtiger
als dessen Inhalt.“ Bei näherem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass die Überschrift
den Sachverhalt nicht ganz zutreffend wiedergibt: Es geht auch in diesem Beitrag um
einen bestimmten Stil der Erwägung in Verhandlungen, den man durchaus als dem
Stil einer deliberativen Argumentation angemessen bezeichnen kann.
Die deliberative Gesellschaft 241
19
Die Gefahr der deliberativen Gesellschaft besteht weniger in einem nivellierenden
Relativismus als in einer kommunikativen Radikalisierung von Überzeugungen:
weil Aufmerksamkeit eher gewinnt, wer sich pointiert positioniert, und Abgrenzung
leichter möglich ist, wo Positionen radikalisiert werden. Die kommunikative Radi-
kalisierung kann dann schnell in eine aggressive Militanz einmünden, wie man das
zum Beispiel an verschiedenen Sekten in den Vereinigten Staaten beobachten kann.
Über genau diesen Zusammenhang hat in den Vereinigten Staaten nach dem An-
schlag auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords am 8. Januar 2011 erneut
eine öffentliche Beratschlagung begonnen.
242 Christoph Böhr
gemeinte – Versuch gerät nicht selten zu einer Karikatur seiner selbst und
findet entsprechend heftigen Widerspruch. Gleichwohl: Das Ringen um
political correctness gehört zu den alltäglichen Aufgaben einer deliberati-
ven Gesellschaft, die – wie auch anders? – nie den kürzesten Weg zum Ziel
einschlagen kann, weil ansonsten keine Beratschlagung stattfände. Viel
Gutes ist auf diesem Weg in den letzten Jahrzehnten bewirkt worden. Ein-
stellung haben sich tiefgreifend verändert und eine Umgestaltung vieler
gesellschaftlicher Regeln bewirkt: Zu denken ist, um nur ein Beispiel zu
nennen, an den langen Weg von der Gleichberechtigung zur Gleichstel-
lung. Dabei lauert hinter solchen Versuchen einer Feststellung von correct-
ness immer die Gefahr ihrer Ideologisierung, die nach politischer Zensur
ruft. Wo dieses Ziel jedoch unterschwellig oder betont angepeilt wird,
findet es Widerspruch und Widerstand – und wird seinerseits zum Gegen-
stand gesellschaftlicher Beratschlagung.
Eine sich mit sich selbst beratschlagende Gesellschaft ist ständig auf
der Suche nach angepassten Regeln, weil alte Ordnungsvorstellungen als
erneuerungsbedürftig erscheinen. Dieses Verfahren der Suche nach den
Grundsätzen des eigenen Selbstverständnisses macht eine freiheitliche
Gesellschaft zu einem spannenden Abenteuer – mit offenem Ausgang. Die
unübersehbare Zahl der Irrungen und Wirrungen, die mit dieser Heuristik
verbunden sind, dürfen dabei nicht den Blick verstellen für die produktive
Kraft, die aus der Überzeugung, sich selbst zu bestimmen, erwächst. Die
deliberative Gesellschaft zeigt sich damit als eine heuristische Gesell-
schaft: Tag für Tag auf der Suche nach Regeln, in denen sie sich wieder-
findet. Jede Regel ist vorläufig und gilt nur unter Vorbehalt, bis eine ande-
re, bessere Regel gefunden ist. Die Suche nach der neuen Regel gleicht
dabei keinesfalls einem geradlinigen Verfahren – und das hat sie mit der
wissenschaftlichen Forschung gemeinsam. Im Hin und Her der Pendel-
schwünge von Überzeugungen, Moden und Strömungen, der Vorschläge
und ihrer Zurückweisungen, von Rede und Gegenrede, im Kräftemessen
der Interessen, dem Schlagabtausch von Lobbyisten und Publizisten sowie
nicht zuletzt in der Balance von Exekutive und Judikative sucht sich die
deliberative Gesellschaft ihren Weg. Dabei läuft das Schiff häufig auf
Grund. Aber es nimmt auch immer wieder Fahrt auf, wenn in freier Berat-
schlagung über eine Richtungsänderung entschieden wurde.
Ein letztes Beispiel soll in diesem Zusammenhang genannt werden:
nämlich im Blick auf die dringliche Neubestimmung der Regeln der Politi-
schen Ökonomie unter dem Eindruck der Finanzkrise.20 Dabei geht es um
den Versuch, Regeln neu zu erfassen – oder, häufiger noch, neu zu
20
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2011.
244 Christoph Böhr
Macht vom Mittel zum Zweck aufsteigt, vermag auch die Philosophie
nichts mehr auszurichten, scheint es. Aber dieser Schein trügt: Denn die
Gesellschaft wirkt, vorbeugend, darauf hin, dass diese Verführung, wenn
die Politik ihr erliegt, in ihren Folgen abgemildert wird. Sie hat das Heft in
die Hand genommen, den Einfluss der Politik begrenzt und die Macht der
Selbstbestimmung für sich entdeckt, allerdings ohne selbst jetzt schon so
recht zu wissen, wie es weitergehen soll. Sie, die Gesellschaft, von der die
Wissenschaft ein wichtiger Teil ist, braucht die Hebammenkunst der Philo-
sophie: bei der Entwicklung zeitgemäßer Strukturen deliberativer Argu-
mentation auf dem von ihr selbst zu bestimmenden Weg.
Die Politik heute erlebt – im Gegenzug zum neu erwachten Selbstbe-
wusstsein der Gesellschaft – einen Rollenwechsel. Sie hat sich von der
Aufgabe, der Gesellschaft Gestaltungsziele vorzulegen, über die dann in
allgemeinen Wahlen eine meinungsbildende Abstimmung herbeigeführt
wird, freigemacht, und stattdessen ein Selbstverständnis entwickelt, nach
dem sie sich als Spiegel gesellschaftlicher Strömungen und Stimmungen
versteht. Unverkennbar wurde dieser Rollenwechsel gerade in jüngster
Zeit: Zur Bewältigung der Finanzkrise beispielsweise hat nicht die Politik
Vorschläge gemacht und zur Abstimmung gestellt; vielmehr hat die Poli-
tik beglaubigt und nachvollzogen, was ihr, jeweils als Sachzwang ausge-
wiesen, von den Betroffenen – zunächst den gefährdeten Banken, dann
den überschuldeten Ländern – zu stets eigenem Nutzen und Frommen
vorgeschlagen wurde. Der im Rahmen der Finanzkrise so oft rechtferti-
gend angeführte Satz „too big to fail“ ist dafür ein schönes Beispiel. Wer
diesem Sachzwang folgt, ohne im Anschluss unverzüglich die Regeln so
zu ändern, dass es zu einem solchen Sachzwang zukünftig nicht mehr
kommen kann, darf sich über die ungebrochen fortdauernde Wirkung die-
ses Fehlanreizes – dem die Politik bis zum heutigen Tag erlaubt hat, die
Krise gänzlich unbeschadet zu überstehen – nicht wundern. Das Beispiel
zeigt, dass die Entmachtung der Politik in weiten Teilen eine Selbstent-
machtung ist, indem darauf verzichtet wird, von eigenen Zuständigkeiten
Gebrauch zu machen.
Wenn also Politik sich nun nicht mehr über ihren Gestaltungswillen
rechtfertigt, sondern sich vorrangig über ihre Bedeutung als Spiegelbild
gesellschaftlicher Strömungen bestimmt, dann obliegt es mehr und mehr
der Gesellschaft, Gestaltungsziele zu bedenken – es sei denn, die Gesell-
schaft überlässt dieses Feld der Lobby verbandsangehöriger Einflüsterer.
Lässt sie das, wie es erfreulicherweise den Anschein hat, nicht zu, wird sie
selbst, als Gesellschaft, zum Mittelpunkt der Beratschlagung und damit
zum vorrangigen Rezipienten philosophischer Reflexion. Diese Entwick-
lung hat im Übrigen längst eingesetzt. Mehr als in den politischen Parteien
werden heute im gesellschaftlichen Raum Fragen der künftigen Entwick-
246 Christoph Böhr
lung des Landes bedacht und erörtert. Der Einfluss solcher – formellen wie
informellen – „think tanks“ ist zwar in Deutschland noch lange nicht so
groß wie in den Vereinigten Staaten. Aber er nimmt stetig zu. Für die Poli-
tik, wie sie sich heute begreift, ist es dabei von Vorteil, sich dieser Bera-
tung von Fall zu Fall, nämlich immer dann, wenn gerade wieder einmal
eine Entscheidung unvermeidlich geworden ist, versichern zu können.
Denn sie muss sich, wenn ausnahmslos nur fallweise auf Handlungs- und
Zielbestimmungen zurückgegriffen wird, selbst nicht langfristig an Ge-
staltungsziele binden – jedenfalls solange nicht, wie sie davon überzeugt
zu sein scheint, dass es von wählerwirksamem Vorteil ist, die Bindungsbe-
reitschaft der Bürger durch das Angebot langfristiger inhaltlicher Festle-
gungen nicht zu überfordern. Folglich wird die philosophische Reflexion
heute politisch vermittelt über ihre zunehmende Institutionalisierung im
Kontext gesellschaftlicher Deliberation.
Philosophie ist keine „pressure group“, die Lobbying betreibt. Sie
sucht die Öffentlichkeit, aber nicht, um dieser zu Gefallen zu sein. Das ist
auch schon deshalb gar nicht möglich, weil sie – seit dem sokratischen
Daimonion – eher abratend als zuratend in Erscheinung tritt. Das Denken
der Philosophie ist reflexiv und deliberativ, niemals autoritativ. Das ist der
Grund, warum sie selbst jeder Eitelkeit abhold zu bleiben hat: Philosophie
bildet sich nicht ein, den Königsweg gefunden zu haben. Einer Selbstüber-
schätzung steht schon ihr reflexiv-deliberativer Habitus im Wege, der im
Übrigen einer der Gründe dafür ist, dass die Politik sich so schwer tut, ein
auskömmliches Verhältnis zur Philosophie zu finden: Was hilft dem Poli-
tiker eine weitere Problematisierung – selbst aus dem berufenen Mund der
Philosophie? Er sucht die Bestätigung seiner Macht und die Festigung
seines Einflusses und gerade nicht deren – und sei es auch nur mittelbare –
Infragestellung. Mit Bestätigung und Festigung aber kann die Philosophie
nicht dienen: Denn die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie mündet
immer in ein und dieselbe Antwort: Weil sie nun einmal nicht anders kann,
als bei jeder Gelegenheit die Frage nach dem „Wozu“ zu stellen – und sich
nicht abspeisen lässt mit der Bemerkung, dass diese Frage nach dem „Wo-
zu“ sinnlos sei, da es im Augenblick ohnehin keine anderen Möglichkeiten
gebe als eben diese eine, die nicht zeitraubende Beratschlagung, sondern
schnelle Umsetzung erfordere. Wenn die Philosophie nach dem „Wozu“
fragt, dann fragt sie nach Gründen in der Sache. Wird die Politik nach dem
„Wozu“ gefragt, dann antwortet sie mit dem Verweis auf die jeweiligen
drängenden Umstände.
Ist es demnach ein düsteres Bild, das sich demjenigen zeigt, der die
Frage nach der Bedeutung philosophischer Reflexion im Kontext der heu-
tigen politischen und medialen Situation beantworten will? Ja und Nein.
Ein düsteres Bild zeigt sich dem, der nach dem unmittelbaren Einfluss der
Die deliberative Gesellschaft 247
verständnis, dem die Politik jeweils folgt. Erschöpft sich dieses Selbstver-
ständnis im Ringen um die Macht, kann die Philosophie nur im Wege ste-
hen. Es gelten dann die Regeln des Koalitionspokers. Erhebt die Politik
allerdings den Anspruch, Gestaltungsziele zu verfolgen, kann sie vom
reflexiv-deliberativen Habitus der Philosophie nur großen Nutzen haben.
Denn wo es um Ziele geht, da geht es immer auch um Abwägung und Be-
ratschlagung. Beides kann für die Belastbarkeit einer Zielbestimmung nur
förderlich sein.
Welchem Selbstverständnis folgt Politik heute? Doch wohl eher dem
erstgenannten, das im Ringen um die Macht ihre raison d’être findet. Es
scheint, dass die Zeit vorbei ist, in der diese Macht um bestimmter Ziele
willen erkämpft wurde. Dieser zumindest seit geraumer Zeit weit verbreite-
te Eindruck gibt Anlass, die Frage nach dem „Warum“ von Philosophie
gegenwärtig zu beantworten mit dem abschließenden unmissverständlichen
Hinweis, dass menschliches Handeln – auch in der Form der Praxis des
bios politikos – sich immer verirrt, wenn es sich nicht an Zielen ausrichtet.
Die Philosophie kann der Politik nicht ihre Ziele an die Hand geben. Aber
sie kann – ja: sie muss – diese Frage öffentlich stellen: die Frage nach dem
„Wozu“ und „Wohin“, die Frage eben nach der Teleologie der Praxis des
bios politikos – als die Frage nach dessen Zweck und Ziel. Kurz: Aufgabe
und Auftrag der Philosophie ist es, die Frage nach dem Sinn allen Tuns
immer wieder neu zu stellen. In der Demokratie ist es diese Frage nach der
Zielbindung öffentlichen Handelns, die, wenn er sie stellt, den Wähler zum
Bürger macht.
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Vom Nutzen der Philosophie
Jürgen Mittelstraß
Vorbemerkung
Die Philosophie, von deren Nutzen hier die Rede sein soll, hat es nicht
leicht – mit ihresgleichen, den Wissenschaften, wenn es um akademische
Anerkennung geht, mit der Welt, die meist sonderbare Vorstellungen von
ihr besitzt, und mit sich selbst, wenn sie zu sagen sucht, was sie ist. Alle
reden von ihr, und niemand kennt sie wirklich (nicht einmal, so mag es
manchmal scheinen, die Philosophie selbst). Außerdem traut man ihr alles
und nichts zu. Alles, insofern sie auch dort noch zu Hause zu sein scheint,
wohin weder unsere Erfahrungen noch die Wissenschaften reichen, nichts,
insofern ihr weder der alltägliche noch der wissenschaftliche Verstand
zutrauen, Probleme, die der Welt auf den Nägeln brennen, zu lösen. Wo
von der Philosophie gesprochen wird, ist gleich auch von Tiefsinn, Dun-
kelheit, Unverständlichkeit und Folgenlosigkeit die Rede. Die Philosophie,
so scheint es, fühlt sich nur in tiefen Gedanken wohl, in der Nähe eines
absoluten Geistes und natürlich bei ihren Klassikern, die längst nicht mehr
unsere Welt und unsere Probleme teilen. Sie wird gewissermaßen als eine
Philosophie über den Wolken wahrgenommen, eben in der Nähe eines
absoluten Geistes, nicht unter den Wolken, wo auch unsere Probleme sind.
Außerdem kommt sie beharrlich zu spät, wenn man Hegels Vergleich der
Philosophie mit der Eule der Minerva folgt, die ihren Flug in der Dämme-
rung beginnt, wenn sich die Wirklichkeit, wie Hegel sagt, „fertig gemacht“
hat. Also nicht, wenn sich etwas verändern lässt, und nicht, wenn man sie
braucht. Hat Christian Morgenstern recht?
„Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt.
Die Hunde heulen im Hofe. –
Es pfeift auf diese ganze Welt, der große Philosophe“
(Morgenstern 1987–2001, I, 580).
Vortrag anlässlich der von der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen
wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler“ im Frühjahr
2004 veranstalteten Tagung unter dem Titel „Die interdisziplinäre Funktion der
Philosophie“. Erstabdruck in Gethmann 2011.
252 Jürgen Mittelstraß
Doch dies könnte ein Irrtum sein, zumindest ein reichlich verzerrtes Bild
der Philosophie und des Philosophen. Es entspricht der Neigung des wis-
senschaftlichen Verstandes, jedenfalls eines sich am Empirischen festhal-
tenden Verstandes, Philosophie mit purer Spekulation zu identifizieren,
und es entspricht der Neigung des alltäglichen Verstandes, in ihr etwas
Unpraktisches, Exotisches, der Lebensform der Mystiker und Magier Be-
nachbartes zu sehen. Von ganz ungefähr kommt das allerdings nicht. Tat-
sächlich wohnen nur allzu oft neben der Philosophie, der ordentlichen,
gedankliche Unordnung, spekulative Ausschweifungen und begriffliche
Schwärmereien, neben dem Philosophen, der sich dem Rationalen, der
Vernunft verpflichtet fühlt, der Schwärmer, der Schamane und manchmal
auch der modische Zeitgeistverstärker. Der klingt dann vertraut, aber man
vertraut ihm nicht. Zu Recht.
So ist denn auch die Geschichte der Philosophie begleitet vom Geläch-
ter einer thrakischen Magd, die Thales, den ersten der europäischen Philo-
sophen, den Blick zu den Sternen gewandt, also forschend und nachden-
kend, in einen Brunnen fallen sah, und vom Verdacht der Lebensunfähigkeit
ihrer Vertreter. Nach Platon, der doch selbst mit Recht als einer der Großen
der Philosophie gilt, wissen Philosophen „nicht einmal den Weg zum
Markt“, „Feste mit Flötenspielerinnen“ zu besuchen, „fällt ihnen im Traum
nicht ein“, ihre Seelen schweifen „unter der Erde“ und „über dem Himmel“,
nur nicht „im Staate“, wo allein ihr Körper wohnt (Theaitetos 173c ff.). Aber
Platon ist es auch, der der Thales-Anekdote philosophischen Ausdruck ver-
schafft. Einerseits in der Weise, dass es nunmehr für den Philosophen cha-
rakteristisch sei, aus Unerfahrenheit in „Gruben und allerlei Verlegenhei-
ten“ zu fallen (ebd., 174c), andererseits in Würdigung des Umstandes, dass
der Philosoph, unbemerkt von fröhlichen Mägden und dem, was man gern
als den gesunden Menschenverstand bezeichnet, nicht ins Wanken gerät,
wenn von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Glück und Elend die
Rede ist (ebd., 175c-d). Der aufrechte Gang führt zwar häufig in „Gruben“
und „allerlei Verlegenheiten“, aber er führt, nach Platon, unter der sterbli-
chen Natur auch zur „Verähnlichung mit Gott“ (ebd., 176b). Das wiederum
ist eine zweischneidige Sache. Es ist ja gerade die beanspruchte oder zuge-
schriebene Gottähnlichkeit, die der Philosophie bis auf den heutigen Tag zu
schaffen macht, vor allem in einer nicht-griechischen Welt, in der die Götter
knapp geworden oder, eben im Gewande der Philosophen, wieder der Lä-
cherlichkeit preisgegeben sind.
Wo also könnte der Nutzen der Philosophie, wo könnten ihre Aufga-
ben liegen, die für sie selbst zugleich ein Weg aus der misslichen Alterna-
tive von Lebensunfähigkeit und Gottähnlichkeit wären? Es müssten wohl
in der Tat Aufgaben sein, die nicht über den Wolken liegen, dort, wo nach
alter Vorstellung die Götter wohnen und ein absoluter Geist vermutet wird,
Vom Nutzen der Philosophie 253
sondern unter den Wolken, dort, wo auch unsere Probleme sind. Von der-
artigen Aufgaben und ihrer vermuteten Lösung, damit auch vom Nutzen
der Philosophie, soll im Folgenden die Rede sein, zuvor jedoch – jenseits
aller Metaphorik – von der eigentümlichen Schwierigkeit, genau sagen zu
können, was Philosophie, nun vor allem aus einem akademischen Winkel
betrachtet, eigentlich ist. Schließlich geht es ja auch nicht darum, die Phi-
losophie zu erfinden. Sie ist, jedenfalls als akademische und damit wissen-
schaftliche Disziplin, da, und mit ihr verbindet sich, nicht nur philosophie-
historisch gesehen, der Anfang der Vernunft. Als das griechische Denken
aus dem Schatten des Mythos trat, war dies die Geburtsstunde von Philo-
sophie und Wissenschaft, d. h. des Entschlusses, in der Welt auf eine ra-
tionale Weise Fuß zu fassen.
1
Das Folgende im engen Anschluss an meinen Philosophie-Artikel in: Mittelstraß
(Hg.) 1995, 131–139.
254 Jürgen Mittelstraß
gen gebunden, und dies trotz der Tatsache, dass sich die Philosophie unge-
achtet der historischen und systematischen Vielfalt ihrer Standpunkte in
einem bestimmten Sinne als voraussetzungslos begreift. Ihre Vorausset-
zungslosigkeit beruht in der seit Platon (explizit oder implizit) formulierten
und methodisch eingelösten Absicht, auch dort noch nach Gründen zu fra-
gen bzw. auf Begründungen zu dringen, wo sich das alltägliche Bewusst-
sein, aber auch das wissenschaftliche Bewusstsein, mit faktisch akzeptier-
ten Überzeugungen zufriedengibt. In ihr, so ein höchst anspruchsvoller
Begriff von Philosophie, gilt der Grundsatz, dass nichts für (theoretische
oder praktische) Orientierungsbemühungen Relevante einem begründungs-
orientierten und in diesem Sinne philosophischen Diskurs entzogen werden
kann und soll. Der Versuch, über eben diesen sich in einem Vorausset-
zungslosigkeitspostulat artikulierenden Grundsatz eine Wesensbestimmung
der Philosophie zu geben, fällt allerdings höchst allgemein aus, z. B. wenn
Philosophie als „Bewusstsein des Nichtwissens“ (Sokrates) oder als „Wis-
senschaft der Vernunft“ (Hegel) bezeichnet wird.
Nun wird die Frage, was Philosophie ist, nicht so sehr außerhalb einer
philosophischen Praxis, in institutioneller Form z. B. in den Universitäten,
gestellt und den Philosophen zur Beantwortung vorgelegt; sie lenkt viel-
mehr als eine bereits selbst philosophische Frage die philosophische Refle-
xion und lässt sich daher auch von dieser Reflexion nicht isolieren. Wer
z. B. davon ausgeht, dass es der historische Gang der philosophischen Re-
flexion ist, der die Ausbildung eines philosophischen Lehrbuchwissens
eher behindert als gefördert hat, der wird selbst konkrete Aufgaben der
Philosophie, z. B. gegenüber den Fachwissenschaften, formulieren und sich
um ihre Bewältigung in systematischem Geiste bemühen. Wer hingegen
davon ausgeht, dass der Begriff des Lehrbuchwissens und mit ihm der Be-
griff eines in den Wissenschaften ausgebildeten positiven Wissens auf die
Philosophie nicht anwendbar ist bzw. die philosophische Reflexion gerade
in der Hinsicht verfälscht, in der sie sich von der Wissensbildung der
Fachwissenschaften unterscheidet, wird selbst entweder eine systematische
Unterscheidung zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Rationa-
lität vorschlagen oder (wie Hegel) Philosophie als ein „System in der Ent-
wicklung“ (Hegel 1970, 47) zu verstehen suchen, d. h. das, was die Philo-
sophie, in der Regel auf eine höchst kontroverse Weise, weiß, als Ausdruck
einer bestimmten Phase innerhalb einer historischen Entwicklung einord-
nen. Deren Deutung, etwa als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“
(Hegel), gilt dann natürlich selbst als eine sehr philosophische.
Im Allgemeinen herrschen hier, nicht weiter überraschend, Mischfor-
men vor, d. h., es werden sowohl historische als auch systematische Ge-
sichtspunkte dafür ins Feld geführt, dass die Philosophie kein einheitli-
ches Lehrbuchwissen ausgebildet hat bzw. kein allgemein akzeptiertes
Vom Nutzen der Philosophie 255
Der Versuch, die Frage, was Philosophie sei, über die Bildung philo-
sophischer Sätze oder über den Hinweis auf philosophische Systeme zu
beantworten, aber auch der entgegengesetzte Versuch, Philosophie als den
Prozess einer Klarwerdung von (nicht notwendigerweise allein philosophi-
schen) Sätzen zu verstehen, sind beide Ausdruck einer Verselbständigung
der Philosophie gegenüber dem wissenschaftlichen Verstand. Dies war
keineswegs immer so. Im Gegenteil, Philosophie und Wissenschaft waren
bis ins 19. Jahrhundert hinein eines, d. h., in beiden Fällen ging es allein
um die Aufgabe, in der Welt auf eine rationale Weise Fuß zu fassen. Im
übrigen sind die Aufgaben der Philosophie nach wie vor durch die von
Kant formulierten Fragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“,
„Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ bestimmt (Kant 1956–
1964, III, 447 f.). Eben diese Fragen sind bzw. ihre Beantwortung ist es
denn auch, die die (für die Philosophie oft bange) Frage beantworten lässt,
was die Philosophie ist bzw. über welche Bemühungen und Orientierungen
sie sich definieren soll. Es sind zugleich Fragen, die in die Welt hinein-,
nicht aus der Welt herausführen. Letzteres wäre nur dort der Fall, wo die
gegebenen Antworten keinen Zusammenhang mehr mit den Problemen
unserer Welt, den allgemeinen, die conditio humana spiegelnden, wie den
besonderen, den durch die jeweilige Situation des Menschen in der Welt
gegebenen Problemen erkennen lassen. Dies wäre dann keine Philosophie
unter den Wolken, sondern eine über denselben.
Was hier zunächst auf eine sehr allgemeine Weise zur Bestimmung der
Philosophie und ihrer Aufgaben gesagt wurde, lässt sich bezogen auf die
Welt, in der wir leben, bzw. auf die Probleme, mit denen wir umzugehen
haben, auch auf eine sehr konkrete Weise demonstrieren. Ich wähle dazu
bewusst ein Beispiel, das in einem hohen Maße kontrovers ist, sowohl den
wissenschaftlichen, als auch den nicht-wissenschaftlichen Verstand bewegt
und tief in weltanschauliche Dinge führt: die Debatte um ein neues Repro-
duktionsverfahren, das man Klonen nennt, insbesondere um die mögliche
Erzeugung menschlicher Klone. Diese Debatte begann mit dem spektakulä-
ren Auftreten von Dolly, d. h. der von schottischen Tierzüchtern zum ersten
Mal erfolgreich betriebenen Herstellung eines Säugetiers mit dem identi-
schen Erbgut eines anderen, erwachsenen Tieres, und setzte deshalb so
schockartig ein und wird seitdem auch deshalb so hektisch geführt, weil
hier mit neuen gentechnischen Möglichkeiten auf einmal das, was ein für
allemal den menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten entzogen schien,
nämlich die „künstliche“ Erzeugung eines Menschen, disponibel zu werden
Vom Nutzen der Philosophie 257
beginnt. Hier scheinen Grenzen zu fallen, die die Natur selbst gezogen hat.
Was ist gemeint, und ist diese Vorstellung richtig?
Die Erzeugung von Klonen ist die Erzeugung von Lebewesen mit glei-
chen Erbinformationen entweder durch Zellkernaustausch oder durch Tei-
lung von Embryonen im frühen Entwicklungsstadium. Klon sein bedeutet
also, dass der Genotyp zweier (oder mehrerer) Individuen, also das Erbgut,
identisch ist, was im übrigen nicht besagt, dass auch der Phänotyp, das sind
die vom Genotyp beeinflussten äußeren Merkmale, identisch sein muss.
Nicht alle Merkmale eines Organismus sind allein durch Genwirkung be-
stimmt; auch die Entwicklungsbedingungen eines Organismus, darunter im
menschlichen Falle kulturelle und soziale Bedingungen, spielen eine wich-
tige Rolle. Bei eineiigen (monozygoten) Zwillingen ist dies seit langem zu
studieren. Heute leben viele Millionen Menschen, die als (monozygote)
Zwillinge genetisch identische Geschwister haben. Dieser Hinweis macht
im übrigen deutlich, dass Klonbildung durchaus ein natürlicher Vorgang
ist; sie stellt einen in der Natur, z. B. bei Bakterien und Mikroorganismen
(Hefen, Pilzen, aber auch mehrzelligen Tieren), vorkommenden Vermeh-
rungsmechanismus dar. Neu ist allein, dass dieser Mechanismus, den wir
auch bei höheren Pflanzen beobachten können (z. B. sind alle Kartoffeln
eines Ackers Klone) „künstlich“, d. h. in Form eines Klonierungsverfah-
rens, auch auf höhere Säugetiere angewendet werden kann; und von ethi-
scher Relevanz ist die Frage, ob ein derartiges Verfahren auf den Men-
schen angewendet werden darf.
In der Regel wird – insbesondere wenn von theologischer Seite argu-
mentiert wird – das Klonen von Menschen als ein schwerer Verstoß gegen
die Menschenwürde aufgefasst, insofern hier die natürliche Individualität
des Menschen aufgehoben werde. Dabei wird vor allem auf das Selbst-
zwecksein des Menschen hingewiesen, das vor jeder Instrumentalisierung,
als die nun das Klonen von Menschen angesehen wird, geschützt werden
müsse. Das sind schwere Geschütze, gegen die kein argumentatives Kraut
mehr gewachsen zu sein scheint.
Nun bleibt zunächst einmal festzustellen, dass gegen das Klonen von
Menschen nicht die Übereinstimmung des Genoms des einen mit dem Ge-
nom des anderen spricht – auch Zwillinge sind schließlich Personen und als
solche Träger von Menschenwürde –, auch nicht das Klonierungsverfahren
selbst – schließlich gibt es in diesem Verfahren noch gar keine Person,
gegen deren Würde verstoßen werden könnte –, sondern allein „die Tatsa-
che, dass ein Mensch als Mittel zu einem Zweck hergestellt wird, der nicht
er selbst ist, und dass ihm zu diesem Zweck die genetische Gleichheit mit
einem anderen Menschen auferlegt wird“ (Eser u. a. 1997, 11). Dies wäre
z. B. beim Klonen aus Gründen von Organ- und Gewebespenden, d. h. der
Anlage individueller Organbanken, der Fall. Hier würde „die genetische
258 Jürgen Mittelstraß
sie an ihren wesentlichen Aufgaben vorbei und macht sie sich im Grunde,
sowohl aus der Sicht der Welt als auch aus ihrer eigenen, wohlverstande-
nen Sicht, überflüssig. Denn welche Aufgabe, welchen Nutzen könnte eine
Philosophie noch haben, die über den eigenen, selbst gestellten Problemen
die Probleme einer gemeinsamen Welt vergisst bzw. der es nicht mehr
gelingt, ihre Probleme mit gemeinsamen Problemen zu verbinden? Das
mag sehr rigoros klingen, hat aber direkt etwas mit jenen Legitima-
tionsproblemen zu tun, denen sich auch in anderen Zusammenhängen der
philosophische Verstand durch den wissenschaftlichen und den lebenswelt-
lichen Verstand ausgesetzt sieht. Im übrigen, um noch einmal auf das Bei-
spiel zurückzukommen, ging es hier nicht darum, für das reproduktive
Klonen zu werben – dessen Möglichkeit, auf das humane Klonen bezogen,
ohnehin noch in den (wissenschaftlichen) Sternen steht –, sondern allein
darum, mit philosophischen Mitteln, d. h. auf eine philosophisch reflektier-
te, „voraussetzungslose“ Weise, zu zeigen, dass die wesentlichen, bisher
gegen diese Form der Fortpflanzung vorgetragenen Argumente genauer
betrachtet nicht greifen. Auch das gehört zu den wohlverstandenen Aufga-
ben einer weltzugewandten Philosophie.
„Es ist ein altes Vorurteil, dass das, wodurch sich der Mensch von dem
Tiere unterscheidet, das Denken ist; wir wollen dabei bleiben“ (Hegel
1970, 23). Hegels Diktum aus seinen Berliner Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie wiederholt die klassische Definition des Men-
schen als eines vernünftigen Wesens (animal rationale) und weist der Phi-
losophie gleichzeitig die Rolle zu, institutionalisierter Ausdruck dieser
Definition zu sein. Dies ist ein hoher Anspruch; vielleicht ein zu hoher
Anspruch, neben dem die Enttäuschung wohnt. Und doch drückt sich gera-
de in ihm jene zuvor hervorgehobene Auffassung von Philosophie als eines
in einer bestimmten Weise voraussetzungslosen, allein begründungsorien-
tierten Denkens aus. Das heißt: Besonderheit und aus dieser Besonderheit
abgeleitete Aufgabe des philosophischen Denkens bzw. einer in dieser
Weise identifizierbaren philosophischen Rationalität liegen (noch einmal)
darin, auch dort noch in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit
zu dringen, wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein
mit gewohnten und in diesem Sinne auch akzeptierten Überzeugungen
schon zufriedengegeben hat.
Daher konnte die Philosophie ihren Anspruch, begründungsorientiertes
Denken zu sein, bzw. ihren Anspruch auf begründete Orientierungen in
ihrer langen europäischen Geschichte am überzeugendsten stets in der
Vom Nutzen der Philosophie 261
„Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der
spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnli-
cher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) ge-
sunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Ab-
sicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen
kann“ (ebd., 277).
2
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1981, 119 f.
262 Jürgen Mittelstraß
Dem Begriff des Vernunftglaubens, wie ihn Kant versteht, ist der Be-
griff eines Vernunftinteresses zuzuordnen. Dieses Interesse besagt, Ziele
und Handlungsregeln vernunftorientiert auszuarbeiten. Gegensatz dieses
Interesses wäre ein solches, das sich allein auf subjektive oder auch soge-
nannte objektive Zwecke stützt. In der Wendung „sich im Denken orientie-
ren“ ist das Denken stets in einem emphatischen Sinne als ein vernunftori-
entiertes Denken begriffen. Insofern lässt sich auch sagen, dass die Sache
der Philosophie in der Entwicklung und in der Durchsetzung eines ver-
nunftorientierten Denkens besteht.
Tatsächlich – und das war gemeint, wenn es hieß, dass neben einem
hohen Anspruch, der sich in diesem Sinne mit der Philosophie verbindet,
die Enttäuschung wohnt – kommt die Philosophie einer derartigen Aufgabe
nur noch in wenigen Fällen nach. Wer sich heute in einer philosophischen
Bibliothek umsieht, versieht sich unversehens in die Geschichte versetzt.
An die Stelle einer systematischen Bildung steht heute im wesentlichen
eine historische Bildung, und selbst wo philosophische Titel – über Gott
und die Welt, das Leben und den Tod – systematische Reflexionen erwar-
ten lassen, verbirgt sich hinter ihnen meist doch nur eine historische Ana-
lyse (z. B. über Gott bei Thomas von Aquin, die Welt bei Kant, das Leben
bei Nietzsche oder den Tod bei Heidegger). Wie schon gesagt: der Philo-
sophiebegriff der philosophischen Forschung entspricht heute weitgehend
dem Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung. Diese liest,
aber denkt nicht, interpretiert, aber begreift nicht. Kants spöttische Bemer-
kung, dass den Gelehrten, „die aus den Quellen der Vernunft selbst zu
schöpfen bemüht sind“, solche gegenüberstehen, „denen die Geschichte
der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie ist“
(Kant 1956–1964, III, 113), ist aktueller denn je. Man könnte auch sagen,
dass die Philosophie weitgehend zu einer Geisteswissenschaft geworden
ist; sie denkt und forscht wie diese, nämlich historisch, philologisch und
hermeneutisch. Dafür gibt es wiederum historische Gründe. Die im 19.
Jahrhundert erfolgende Akademisierung der Philosophie, die ihre Einord-
nung in die Geisteswissenschaften und ihre Institutionalisierung in einer
von den Naturwissenschaften „befreiten“ Philosophischen Fakultät bedeu-
tete, hat die Philosophie domestiziert, ihren Handlungsspielraum und ihre
konstruktive Kraft eingeschränkt. Die Philosophie ist unter das Joch histo-
rischer und philologischer Methodenideale geraten und liebt diese seither
mehr als ihre eigene analytische und konstruktive Kraft.
Auch die Philosophischen Fakultäten, in denen es heute durch die
Bank geisteswissenschaftlich zugeht, haben, so scheint es, ihre Zukunft
schon hinter sich. Diese lag einmal in der Artistenfakultät der europäischen
Tradition, die das heimliche Herz und zugleich der Kopf der Universität
war. Kants selbstbewusste Darstellung dieser Fakultät erscheint nunmehr
Vom Nutzen der Philosophie 263
als der hübsche Einfall eines Philosophen, dessen Vorstellungen der histo-
risierende Fleiß längst eingeholt hat:
„Auf einer Universität muss […] eine philosophische Fakultät sein. In Anse-
hung der drei obern dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben da-
durch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit (der wesentlichen und ersten Be-
dingung der Gelehrsamkeit überhaupt) alles ankommt; die Nützlichkeit aber,
welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein
Moment vom zweiten Range ist. – Auch kann man allenfalls der theologischen
Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräu-
men (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau
die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt); wenn man sie nur nicht ver-
jagt, oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, bloß
frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder
Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fa-
kultäten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdächtig ja als un-
entbehrlich empfehlen.“ (Kant 1956–1964, VI, 290 f.)
Auf Wahrheit kommt in der Tat alles an. Nur nicht länger in einer Philoso-
phischen Fakultät, die eine geisteswissenschaftliche geworden ist?
Kant vertritt den anspruchsvollen Begriff einer Philosophie vor ihrer
Entmündigung: durch die empirischen Wissenschaften, denen nunmehr die
Natur verlässlicher und geordneter erscheint als der Geist, und durch die
Geisteswissenschaften, die den Geist erst wahrnehmen wollen, wenn er alt,
d. h. Teil der Geschichte oder gesicherter historischer Bestände, geworden
ist. Kant wäre wohl der erste gewesen, der die Philosophie aus einer Uni-
versität herausgeführt hätte, die ihren Abschied nicht nur von der Universi-
tät Kants, sondern auch von der Universität Humboldts genommen hat
(dazu gleich) und in diesen nur noch Mythen des universitären Geistes,
etwa den Mythos Humboldt, wahrzunehmen vermag.
Damit verbindet sich das Schicksal der Philosophie in einem gewissen
Sinne mit dem Schicksal der Universität. Ein anderes Stichwort dafür lau-
tet, die Philosophie einschließend, Bildung durch Wissenschaft. Es ist vor
allem dieses Stichwort, mit dem Humboldt beschworen wird, dessen Uni-
versitätsreform durchaus in einem Kantischen Geiste erfolgte. Auch von
dieser Reform aber ist nicht viel übrig geblieben. Auf den Gesichtspunkt
Bildung durch Wissenschaft bezogen ist die faktisch bestehende Situation
die, dass im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein, aber auch im Bewusst-
sein der Universität selbst, Wissenschaft und Bildung weitgehend vonein-
ander entkoppelt sind.3 Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Arbeits-
form, der die moderne Welt ihr Wesen verdankt, und – wenn es sie denn
3
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1999, 22–25.
264 Jürgen Mittelstraß
Literatur
Birnbacher, D., 1998: Die Fortpflanzung hat ihre Unschuld verloren. Ein Gespräch, in:
Information Philosophie, H. 3/1998, 112–116.
Eser, A., u. a., 1997: Klonierung beim Menschen. Biologische Grundlagen und ethisch-
rechtliche Bewertung. Stellungnahme für den Rat für Forschung, Technologie und
Innovation, Bonn.
Gethmann, C.F., 1998: Ethische Argumente gegen das Klonieren von Menschen, in:
Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer
Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH. Akademie-Brief Nr. 9 (4/1998),
1–3.
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Kant, I., 1956–1964: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/Darmstadt.
Hierin bes.:
– Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird
auftreten können, Bd. III, 109–264.
– Was heißt: sich im Denken orientieren? Bd. III, 265–283.
í Logik, Bd. III, 417–582.
í Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV, 7–102.
í Der Streit der Fakultäten in drey Abschnitten, Bd. VI, 261–393.
Kitcher, Ph., 1997: The Lives to Come. The Genetic Revolution and Human Possibili-
ties, New York.
Lichtenberg, G. Chr., 1967–1974: Schriften und Briefe, 4 Bde., hg. v. W. Promies,
München/Darmstadt.
266 Jürgen Mittelstraß
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Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissen-
schaften, München, 117–132.
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Wissenschaftstheorie, III, Stuttgart/Weimar.
—, 1999: Philosophie in der Universität, in: K. Buchholz u. a. (Hg.), Wege zur Ver-
nunft. Philosophieren zwischen Tätigkeit und Reflexion, Frankfurt/M., 17–25.
Morgenstern, Chr., 1987–2001: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, 6 Bde., hg.
v. R. Habel u. a., Stuttgart.
Platon, 1990: Werke in 8 Bänden. Griechisch und Deutsch (Sonderausgabe), hg. v.
G. Eigler, Darmstadt.
Wittgenstein, L., 1960: Tractatus-Logico-Philosophicus. Logisch-philosophische Ab-
handlung (11921), Frankfurt/M.
Fragen, die keiner braucht?
Zur Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem
Martin Thomé
1
Näheres auf der Website des Wissenschaftsjahres: www.abc-der-menschheit.de
268 Martin Thomé
2
Es soll damit nun keineswegs gesagt werden, dass alle Philosophie sich dauernd nur
mit dieser Grundfrage befasse. Philosophie ist selbst wieder in zahlreiche Disziplinen
und Untergliederungen differenziert – ‚die‘ Philosophie gibt es in dem Sinne nicht.
Gleichwohl aber darf sicher angenommen werden, dass die Fragen, mit denen sich die
verschiedenen Disziplinen und Anwendungsgebiete der Philosophie befassen, ihren
grundlegenden Impetus eben daraus haben: Dass sie alle nämlich zu ihren Fragestel-
lungen und ihren Weisen der Wirklichkeitsbeschreibung dadurch gelangen, dass sie
sich aus dem Anfang jener Grundfrage an die Sachverhalte herantasten. Philosophie
in diesem Sinne ist durchaus ‚eine‘ – nämlich eine Wissenschaft, die die Grundfrage
des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in ihren vielfältigen Differenzierungen
und Ableitungen je eigens zu stellen und durchzuführen versucht.
3
Natürlich wird hier keineswegs einem leichtfertigen Integralismus das Wort geredet,
auch soll nicht einer längst sowohl gedanklich als auch praktisch überholten Einheit-
lichkeit der Wirklichkeit sentimentalerweise nachgetrauert werden. Gleichwohl aber
ist es m.E. sinnvoll, den Grundimpuls der Philosophie – die Frage nach dem integrati-
ven Moment in der Vielfalt und Desintegriertheit der Wirklichkeit – im Auge zu be-
halten und vielleicht gerader in einer Zeit, die die gesellschaftlichen Konsequenzen
der nicht mehr hintergehbaren Desintegration durchaus auch schmerzhaft zu spüren
beginnt, nach neuen Ansätzen für eine „Integrative Wissenschaft“ zu suchen, die jen-
seits von Nivellierung und Rückwärtsgewandtheit weiterführende Fragen zu stellen
versucht. Vgl. hierzu u. a. die Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft für Integrative Wissenschaft (Daiseion-ji e.V. 2006–2009).
Fragen, die keiner braucht? 269
4
Gerade das zunehmende Florieren der Philosophischen Praxis als eigener Vermitt-
lungs- und Anwendungsform der Philosophie jenseits der akademischen An- und
Einbindung kann als ein Indiz dafür gelesen werden, dass das Bedürfnis nach Philoso-
phie in der Gesellschaft durchaus groß ist und viele Menschen sich von der Philo-
sophie diejenige Orientierungsstiftung erwarten, die sie in ihrer Lebenswelt zuneh-
mend vermissen. Wenn auch das Niveau und die Leistungsfähigkeit der Philoso-
phischen Praktiker durchaus unterschiedlich sein mögen, so verdient das Phänomen
als solches Aufmerksamkeit, spiegelt sich in ihm doch ein Aspekt von Philosophie
wider, der – cum grano salis – weder in einem reinen Nutzenkalkül noch in einer el-
fenbeinturmenen Selbstgenügsamkeit aufgeht.
270 Martin Thomé
5
Eben dieses spannungsvolle und vieldimensionale Wechselverhältnis war eines der
zentralen Themen des Wissenschaftsjahres 2009 „Forschungsexpedition Deutsch-
land“; vgl. auch www.forschungsexpedition.de.
6
Vgl. Nida-Rümelin 2006.
Fragen, die keiner braucht? 271
Das rührt sicher ein wenig auch daher, dass vor gar nicht so langer Zeit
viele Wissenschaftler der Ansicht waren, Stephen Hawking habe recht mit
seiner These, dass man in einigen Jahren die Weltformel entdecken werde,
mit der sich alle stellbaren Fragen beantworten ließen. Hawking hat, wie
wir wissen, diese Vermutung mittlerweile revidiert – und damit ein wenig
Unsicherheit in die Allmachtsideen der Wissenschaft gebracht. Und damit
sind wir, was die Reichweite der Wissenschaft und ihrer Antworten angeht,
allem Anschein nach nicht wesentlich weiter als an dem Punkt, den Lud-
wig Wittgenstein im Tractatus Logico-Philosophicus unter der Num-
mer 6.52 formuliert hat: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wis-
senschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar
nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben
dies ist die Antwort.“7
Vielleicht aber – und das wäre eine erste weiterführende Frage – ist ge-
rade ihre Indienstnahme als Antwortmaschine der Wissenschaft mittlerwei-
le fast schon zum Verhängnis geworden?
Denn zum einen kann man auch in diesem enger gefassten Sinne kaum
noch von ‚der‘ Wissenschaft sprechen. Wissenschaft ist längst schon in
eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Fachbereichen, Sachgebieten und
Einzelthemen aufgesplittert, in zwar weltweit vernetzte, aber dafür auch
nur noch unter einer Handvoll weltweit verteilter Spezialisten diskutierbare
Spezialisierungen differenziert. Freilich erbringen diese zahllosen Spezia-
listen in ihren Spezialbereichen luzide und bombenfest abgesicherte Er-
gebnisse und Antworten – aber unter Umständen kann schon der Kollege
am selben Fachbereich zwei Türen weiter damit nichts mehr anfangen.
Kurz: eine Unmenge richtiger, guter und weiterführender Antworten – aber
niemand, der sie zusammenführen könnte und die übergeordnete Frage
formulierte, durch die die Antworten erst in einen sinnvollen Zusammen-
hang kommen. Hin und wieder erinnert die Situation fast ein wenig an die
Trilogie Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams,8 wo ein
Supercomputer nach Millionen von Jahren Rechenzeit die ultimative Ant-
wort auf alles, die Antwort auf das Universum im Ganzen ausspuckt – die
Zahl 42. Allerdings hat man in der Zwischenzeit die Frage dazu vergessen
und kann infolgedessen auch mit der Antwort nichts Rechtes mehr anfan-
gen …
Zum anderen ist die Verengung von Wissenschaft auf Naturwissen-
schaft, auf empirische Wissenschaft eine Reduktion ihrer selbst, die sie von
wesentlichen Quellen ihrer Erkenntnis abschneidet. Denn die meisten gro-
7
Wittgenstein 1963, 114.
8
Vgl. Adams 1981ff.
272 Martin Thomé
ßen Fragen, die sich den Wissenschaften stellen oder die ihnen gestellt
werden, stammen ja gar nicht aus ihnen selbst: Die wesentlichen Fragen,
die die Wissenschaft seit alters her und bis heute immer wieder bewegen
und auf den Weg der Forschung bringen, sind Fragen, die aus der Selbst-
verständigung der Gesellschaft über ihre eigenen Grundlagen, Ziele und
Probleme erwachsen. Wissenschaftliche Fragestellungen entstehen aus den
Themen, die die Menschen bewegen und denen sie nachforschen, um sich
und ihre Welt besser verstehen zu lernen.
Um hier nicht missverstanden zu werden: Natürlich generiert Wissen-
schaft ihre eigenen Fragen und Themen, natürlich bringt jede Forschung
neue Nachforschung hervor, natürlich kann letztlich nur der Wissenschaft-
ler selbst mit den Differenzierungen und Teilproblemen seines Faches
etwas Sinnvolles anfangen. Aber die ‚Initialzündung‘ für Wissenschaft
kommt eben nicht aus ihr selbst, sie kommt aus dem, was Menschen be-
wegt und beschäftigt, sie kommt aus den Bedingungen des Menschseins
selbst, die ebenso aus Neugier wie aus Zukunftssorge, aus Verantwor-
tungsgefühl wie aus Entdeckerlust bestehen.
Diese Bedingungen des Menschseins aber sind gerade nicht mehr
selbst Gegenstand der Naturwissenschaften, sie sind seit alters her Gegen-
stand der Geistes- und Sozialwissenschaften – und in der Frühzeit der Wis-
senschaft, als diese beiden Bereiche noch gar nicht strikt voneinander ge-
trennt waren, sondern (eben aufgrund eines anderen Verständnisses von
‚Wissenschaft‘) ineinander übergingen und eigentlich einen einzigen bilde-
ten, waren diese Bedingungen des Menschseins zugleich Bedingungen von
Wissenschaft. Das ist der Ort, wo Philosophie ihren Ursprung hat – nicht
nur als Wissenschaft für sich, sondern als Wissenschaft in der Gesellschaft
und für die Gesellschaft.
Nebenbei bemerkt: Als Folgeband zu dem eingangs zitierten Buch
über die Wunschmaschine Wissenschaft erschien Ende Oktober 2008 ein
weiterer Sammelband mit dem Titel Keine Wissenschaft für sich, der der
Frage nachgeht, was gesellschaftlich relevante Wissenschaft eigentlich
sei.9 Und nicht ohne Grund spielen dabei die Geisteswissenschaften – und
hier immer wieder die Philosophie – eine wichtige Rolle (die manchmal
explizit, meist aber implizit in den Argumentationslinien sichtbar wird und
die insofern eine Art ‚basso continuo‘ der Texte bildet): Vielleicht, weil
man der Philosophie nach wie vor zutraut (oder heute mehr denn je? oder
endlich wieder?), die Brücke zwischen Wissenschaft für sich und Wissen-
schaft für uns zu schlagen, indem sie nach Relevanzen fragt und sie auch
zu erhellen vermag.
9
Vgl. Schavan 2008.
Fragen, die keiner braucht? 273
was Arbeitsplätze schafft‘. Nun: Die Philosophie schafft deren relativ we-
nige. Und man könnte mithin die schöne Frage stellen, was denn eigentlich
von der Philosophie an Ertrag erwirtschaftet wird, der dann die Förderung
von Forschungsvorhaben durch den Staat rechtfertigen würde. Und gerade
wenn der Förderer nicht etwa eine Stiftung ist, sondern der Staat, dann wird
die Frage nach diesem Ertrag auch nicht etwa nur in den reinen wissen-
schaftlichen Ergebnissen ihre Antwort finden, sondern zumindest indirekt
auch die Interessen dieses Staates, sprich politische Vorgaben und Maßga-
ben im Blick haben.
Das soll nun nicht insinuieren, dass etwa die Philosophie quasi als ‚an-
cilla rei publicae‘ die Rolle der Begründungs- und Legitimationsinstanz für
politische Entscheidungen übernehmen solle – ein solches Ansinnen würde
ebenso von der Philosophie zurückgewiesen werden wie es von Seiten der
Politik nicht an sie herangetragen wird. Gleichwohl aber wird hier ein Be-
reich berührt, der eines der wichtigsten Schnittfelder zwischen Wissen-
schaft und Staat ausmacht und in einer komplexen, pluralen Gesellschaft
und unter den Zeichen fortschreitender Globalisierung immer wichtiger
werden dürfte: der Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung.
Es sei hier nur kurz daran erinnert, dass Deutschland seit dem Frühjahr
2008 eine Nationale Akademie der Wissenschaften hat: Die Akademie der
Naturforscher Leopoldina zu Halle wurde dazu berufen, als Nationale
Akademie einerseits die Stimme der deutschen Wissenschaft im interna-
tionalen Konzert zu sein und andererseits der Politik die notwendige Bera-
tungsleistung aus der Wissenschaft heraus angedeihen zu lassen. Und es ist
hierbei durchaus erwähnenswert, dass die Leopoldina als Nationale Aka-
demie ausdrücklich gehalten und aufgerufen ist, sich – als zunächst primär
naturwissenschaftlich ausgerichtete Akademie – der Kompetenzen der
anderen Akademien der Wissenschaften (die ja bekanntlich geisteswissen-
schaftlich ausgerichtet sind – mit Ausnahme von acatech) zur Erfüllung
ihrer Aufgaben zu versichern; und vielleicht liegt darin ja auch schon ein
Nukleus der Anerkennung einer über das rein Fachliche hinausweisenden
Relevanz der Philosophie.
Hier ist nun nicht der Ort, das breit gefächerte Thema ‚Wissenschaftli-
che Politikberatung‘ in seinen verschiedenen Facetten zu entfalten – zumal
vieles von dem, was unter diesem Stichwort subsumiert wird, nur wenig
bzw. gar nichts mit Philosophie zu tun hat, sondern sich sehr stark im Be-
reich der Technik und Naturwissenschaften bewegt. Es soll auch keine
kritische Bestandsaufnahme der real existierenden Politikberatung in
Deutschland unternommen werden, ebenso wenig wie ein naives Loblied
auf die schlussendlich sich doch erweisende Unverzichtbarkeit der Philoso-
phie für die Begründung richtiger politischer Entscheidungen angestimmt
werden soll. Der Hinweis auf die Politikberatung zielt auf etwas anderes.
Fragen, die keiner braucht? 275
schaft und Politik bewegen. Das bedeutet natürlich andererseits nicht, dass
Philosophie sich nun doch wieder verstehen könnte als diejenige Wissen-
schaft, die allen anderen sagt, wo es langgeht und wie sie handeln müssen,
wenn sie denn recht und richtig handeln wollen. Um es im Bild zu sagen:
Philosophie ist nicht die Disziplin, die die oberste, am hellsten erleuchtete
und weithin ins Land strahlende Etage im Elfenbeinturm bewohnt – aber
ebenso wenig ist sie die Disziplin, die als Magd aller anderen die Stiege zu
putzen und die Kohlen aus dem Keller zu holen hat.
Wie kann aber nun die Rolle der Philosophie zwischen diesen beiden
Polen näher beschrieben werden? Denn einerseits hat sie nach dem oben
Gesagten eine deutlich kritische Funktion gegenüber gesellschaftlichen
und politischen Entwicklungen, andererseits aber wird sie in dieser Posi-
tion auch verpflichtet auf eine Moderatorenrolle zwischen den verschiede-
nen Gruppen und Positionen. Und in dieser zweifachen Rolle bleibt sie
natürlich immer abhängig von der Förderung durch eben jene, die sie ei-
nerseits kritisch begleiten und andererseits moderierend verbinden soll.
Wenn man diese Überlegung ein wenig verlängert, ist man dann auch sehr
rasch bei der Frage, ob ein Wissenschaftssystem, das vielfältig von Interes-
sen unterschiedlicher Gruppen geprägt ist (und vom sinnvollen und kon-
struktiven Ausgleich dieser Interessen), sich eine Philosophie in solch einer
immerhin recht herausgehobenen Rolle überhaupt leisten will: Wird die
Philosophie dann, wenn sie diese Doppelrolle übernehmen will, nicht zwi-
schen der Notwendigkeit der Unabhängigkeit und dem Druck zur Anpas-
sung zerrieben werden – und dies sowohl was ihre finanzielle Abhängig-
keit von eben diesem Wissenschaftssystem angeht als auch was ihre
öffentliche Akzeptanz und Autorität angeht?
Die Diskussion um Philosophie und ihre Rolle im Wissenschaftssys-
tem ist nicht zu führen entlang der Scheidelinie ‚Konformismus – Nonkon-
formismus‘ mit Blick auf Fördertöpfe und allgemeine Anerkennung – ja
diese Diskussion ist überhaupt nicht aus der Perspektive der Fördertöpfe
entscheidbar. Es gibt hinreichend Programme für die Förderung von Geis-
teswissenschaften, die – und das ist völlig natürlich – den Bedingungen der
jeweiligen Fördergeber angepasst sind. Es gibt aber auch genügend Bei-
spiele dafür, dass Philosophie, wenn sie sich nur auf das Stellen der richti-
gen Fragen besinnt und kapriziert, eben dazu ohne Ertragserwartungen
gefördert wird.
Wichtig wird in diesem Zusammenhang – einmal abgesehen von einer
wohlfeilen Schelte auf verständnislose und gegenüber der Freiheit des
Denkens bürokratisch verbohrte Fördermittelverwalter – noch etwas ande-
res: Dass nämlich die Philosophie auch ein wenig von ihrer manchmal
doch recht larmoyanten Art abrückt, in der sie sich einerseits beklagt, dass
sie nicht genügend beachtet und geschätzt wird, andererseits aber aus ei-
Fragen, die keiner braucht? 277
nem sehr hohen Selbstgefühl heraus sich auch nicht genötigt sieht, sich mit
denen, von denen sie Mittel und Anerkennung will, dergestalt zusammen-
zusetzen, dass auch deren Fragen ernst genommen und nicht als Fußnote
zur Philosophiegeschichte abgetan werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt
der Philosophie selbst in Richtung ihrer beschriebenen doppelten Rolle im
Wissenschaftssystem. Und wenn sie ihn tut, wird man mit hoher Wahr-
scheinlichkeit feststellen, dass ihr das Ernstnehmen der Fragen der Men-
schen und der Gesellschaft, die zumeist doch aus Nichtphilosophen be-
steht, durchaus gut zu Gesicht stehen kann.
Denn es ist nicht apriori schandbar, wenn Philosophen sich mit The-
men beschäftigen, die nicht in erster Linie auf dem nächsten Fachkongress
als Entdeckung der Bedeutung des Apostrophs im Gesamtwerk Kants oder
als Erhellung der Position von A zur Kontroverse zwischen B und C ange-
sichts einer Auseinandersetzung zwischen D, E und F über die Wirkungs-
geschichte der Debatte zwischen G und H vorgestellt und gefeiert werden
können. Man kann sich ja auch durchaus einmal mit der Frage nach philo-
sophischen Kriterien einer Arbeitsmarkt- oder Bildungsreform befassen
oder auch mit anthropologischen Aspekten der Konfliktforschung, mit
Wirtschaft und mit Nachhaltigkeit, mit Politik und mit Neurobiologie.
Und man wird feststellen: Je mehr die Philosophie sich in diesen Kontex-
ten engagiert, desto eher und stärker wird sie gehört, desto höher wird ihre
Relevanz und ihre Anerkennung gerade dort, wo sie ansonsten nicht oder
nur als Underdog repräsentiert zu sein scheint. Natürlich ist diese Gegen-
überstellung überzeichnet, und natürlich gib es zahlreiche Philosophen, die
sich mit eben diesen genannten Themen befassen. Aber die Philosophie
als akademische Disziplin und als Akteur innerhalb des Wissenschaftssys-
tems ist doch immer noch ein gutes Stück davon entfernt, sich derlei
Themen als ihr ureigenstes Geschäft vorzunehmen und zu bearbeiten –
jenseits der Inszenierung von Feuilleton-Debatten um ihre zunehmende
Marginalisierung.
Die Philosophie ist gegenwärtig in der Situation, ihre Rolle im Wissen-
schaftssystem, in der Gesellschaft insgesamt neu finden und definieren zu
müssen – aber auch zu können. Sie hat angesichts der Pluralität der Fragen,
die sich der Gesellschaft heute und in Zukunft stellen, die einmalige Chan-
ce, sich nicht nur anpassen zu müssen, sondern sich auch mit ihren eigenen
Kompetenzen neu positionieren zu können und sich als tatsächlich ertrag-
reich für Wissenschaft und Gesellschaft zu zeigen. Die Philosophie sollte
sich angesichts dieser Sachlage dabei einerseits hüten, in die Diktion von
ihrer ‚luxurösen Unwahrscheinlichkeit‘ zu verfallen – sie sollte sich aber
auch hüten, sich von vorneherein unter einem rein materiell interpretierten
Nutzen-Diktat zu sehen. Das, was hier mit Ertrag gemeint ist, ist das, was
jede Wissenschaft aus ihrem originären Können zum Gesamt einer Gesell-
278 Martin Thomé
schaft beitragen kann – und der originäre Beitrag der Philosophie in den
genannten Zusammenhängen ist nun eben nicht das Beischaffen der richti-
geren, der besseren, der abschließenderen und endgültigeren Antworten,
sondern das Herausfinden und Formulieren der richtigen, der guten, der
weiterführenden Fragen.
Weiterführende Fragen: Das sind, wie schon gesagt, die ‚richtigen‘
Fragen: weder eine beliebige Fragerei um ihrer selbst willen noch die rein
rhetorischen Fragen, die nur gestellt werden, damit die längst schon ferti-
gen Antworten um so strahlender präsentiert werden können. Richtige
Fragen: Das sind die Fragen, die dem Forschen neue Horizonte eröffnen
und neue Zusammenhänge erschließen und die daher niemals wirklich zu
einem Ende kommen, sondern für die Wissenschaft immer neuer Anreiz
zum Weitertreiben der Grenzen der Erkenntnis sind – und auch diesen
Impetus der Wissenschaft selbst noch einmal zur Frage machen und die
Wissenschaft damit immer wieder an ihre Verantwortung im größeren
Kontext erinnern. ‚Richtige‘, gute Fragen sind Fragen, die den Denkhori-
zont öffnen, aus dem heraus sich diejenigen Fragen zeigen können, die in
Zukunft das Denken ebenfalls offen halten. Man könnte vielleicht so for-
mulieren: Gute Fragen sind Fragen, die die Vorläufigkeit der Antwort be-
rücksichtigen und in eine asymptotische Näherung eintragen – denn Fragen
als Denkprinzip ist eine E-Funktion, und die ist nun einmal dadurch ge-
kennzeichnet, dass sie nicht endgültig an ein Ende kommt.
Der Ansatz beim Fragen – das ‚Fragende Denken‘ – gründet in der
Auffassung, dass eine richtige Fragestellung nicht zugleich mit einem
Problem gegeben ist und dass erst eine wirkliche Besinnung auf die ange-
messene Frage zum produktiven Umgang mit dem Problem führen kann:
Fragen öffnen den Denkhorizont, Antworten schließen ihn. Im Ansatz des
Fragenden Denkens liegt die Frage nach der je angemessenen Frage be-
gründet. Er geht davon aus, dass in einer Situation nicht primär die Ant-
wort wichtig ist, sondern dass zunächst einmal Klarheit über die richtige
Frage herrschen muss, damit auch gegebenenfalls eine zutreffende Antwort
entstehen kann.
Die ‚richtigen‘ Fragen sind daher plural, sie sind nicht eindeutig. Denn
sie machen, wenn sie gestellt werden, die ganze Komplexität der Wirklich-
keit, auf die sie sich beziehen, erst sichtbar. Sie bringen die Wissenschaft
nicht auf die ‚sichere Seite der Gleichung‘, weil sie nicht auf eine lineare
Wissensmehrung zielen, sondern auf den Überblick über die Zusammen-
hänge von Wissenschaft, Gesellschaft und Lebenswelt. Und sie haben
zugleich integrativen Charakter, weil sie die Vielfalt von Wissenschaft mit
der Vielfalt ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und Resonanzräume vermitteln
und auf diese Weise den heute mehr denn je notwendigen Zusammenhang
von Wissenschaft und Lebenswelt ausweisen.
Fragen, die keiner braucht? 279
könnte sie auch in der Außenwahrnehmung in ein neues Licht rücken, das
könnte ihre Relevanz für die Gesellschaft deutlich machen, das könnte
ihren Ertrag jenseits ökonomischer Bemessungen oder antwortverliebter
Akutproblemstellungen ausweisen.
Philosophie ist diejenige Disziplin, die die Fragen stellen kann, die alle
brauchen – gerade weil sie jenseits der schnellfertigen Antworten auf die
Erweiterung des Denkhorizontes zielen, gerade weil sie Folgefragen eröff-
nen und das Denken nicht bei einer ‚wissenschaftlichen‘ Antwort zur Ruhe
kommen lassen. Philosophie stellt – gerade in einem Wissenschaftssystem,
das von vielfältigen Differenzierungen geprägt ist, das nachgerade unüber-
schaubar wird und in dem die Verständigung der Wissenschaften unterein-
ander immer mühsamer wird, das zudem unter dem Druck vieler Interes-
sengruppen und Anteilseigner immer mehr zur Antwortmaschine wird, das
schließlich von einem höchst unübersichtlichen Konglomerat an Förder-
und Finanzierungsvarianten geprägt ist – diejenigen Fragen, die alle brau-
chen: die Fragen nach Sinn, Zusammenhang und Perspektive, ohne die
auch das Wissenschaftssystem insgesamt seine Relevanz in Frage gestellt
sieht. Philosophie: Fragen, die keiner braucht? Fragen, die alle brauchen!
Literatur
Adams, D., 1981ff: Per Anhalter durch die Galaxis/Das Restaurant am Ende des Uni-
versums/Das Leben, das Universum und der ganze Rest, München.
Daiseion-ji e.V. (Hg.), 2006–2009: Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft für Integrative Wissenschaft, Bde. 2–5, Dettelbach.
Nida-Rümelin, J., (Hg.) 2006: Wunschmaschine Wissenschaft. Von der Lust und dem
Nutzen des Forschens, Hamburg.
Schavan, A. (Hg.) 2008: Keine Wissenschaft für sich. Essays zur gesellschaftlichen Rele-
vanz von Forschung, Hamburg.
Wittgenstein, L., 1963: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhand-
lung (edition suhrkamp 12), Frankfurt a.M. (urspr.: London 1922).
Warum noch mit Schülerinnen und
Schülern philosophieren?
Klaus Draken
Als Überschrift für meinen Beitrag habe ich den Titel der Tagung, für den er
konzipiert wurde, leicht abgewandelt. Zum einen ist aus dem Gegenständ-
lichkeit suggerierenden Substantiv „Philosophie“ das Tätigkeit in den
Blickpunkt rückende „Philosophieren“ geworden. Zumindest philosophie-
didaktisch betrachtet nämlich lassen sich wohl schwerlich „vom Philo-
sophieren Ergebnisse erwarten, die in letzthinniger Weise für alle konsens-
fähige Inhalte formulierten. Dies liegt daran, dass das Philosophieren so
gegenwärtig und so vielfältig sein muss, wie die Menschen, die es betreiben.
Mit Ausnahme der Universitätsprofessoren, einiger Lehrer, Dozenten der
Erwachsenenbildung und verschwindend weniger ‚philosophischer Prakti-
ker‘ ist ‚Philosophie‘ schwerlich ein Beruf, sondern eher eine ‚Einstellung‘,
eine Orientierungsweise. Bedeutung erhalten philosophische Einsichten
primär ‚für uns‘, im ‚existentiellen‘ Rückbezug an den Philosophierenden.
Jeder erfährt dies an sich selbst: Sinn und Bedeutung kann etwas im Wesent-
lichen ‚für mich‘ haben, es haftet der Sache nicht einfach an, sondern wird
ihr beigemessen. Philosophische Bildung steht für unser aller Bemühen um
ein selbst verantwortetes und gestaltetes Wissen, bei dem sozusagen die
ganze Person mitschwingt, und das uns in unserer begrenzten Lebenszeit die
Welt und unsere Existenz erklären soll.“ (Steenblock 2009, 11 f.)
Dass ich mich im Folgenden auf Schülerinnen und Schüler begrenze,
liegt an meinem Arbeits- und Erfahrungsfeld. Dort steht der auf die Leit-
wissenschaft Philosophie bezogene Schulunterricht im Zentrum, sei es im
eigenen Unterricht, in der Lehrer/innenaus- und -fortbildung, bei der
Schulbucharbeit, in fachdidaktischen Diskursen oder in der Vorstandsar-
beit für den Fachverband Philosophie in Nordrhein-Westfalen, in dem die
Unterrichtenden der Fächer Philosophie und Praktische Philosophie orga-
nisiert sind. Aus dieser Perspektive werde ich von den vielfältigen Verän-
derungen ausgehen, welche die Rahmenbedingungen schulischen Lernens
und Unterrichtens – insbesondere mit Blick auf unsere Fächer Philosophie
und Praktische Philosophie – am Beispiel Nordrhein-Westfalens bestim-
men. Diese Veränderungen sind aber in vielerlei Hinsicht nicht auf ein
Bundesland beschränkt, sondern beziehen sich
282 Klaus Draken
alles erklärenden und für alle verbindlichen Erzählung dem Einzelnen ein
Maß an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, für dessen Bewälti-
gung die Fächer Praktische Philosophie und Philosophie, von denen es er-
wartet wird, nur begrenzt gerüstet erscheinen. Wenn die nordrhein-
westfälische Schulministerin den Philosophielehrer auf einer Tagung des
Fachverbandes Philosophie als „Erzieher und Bildner der Kinder und Ju-
gendlichen“ bezeichnet, dann erwartet sie von ihm in besonderer Weise
einen Beitrag, in dem die „Ermöglichung von Orientierung […] systema-
tisch“ geschieht. „Zur schulischen Bildung und Erziehung gehört untrennbar
die Entwicklung von persönlicher und sozialer Kompetenz. […] Vor diesem
Hintergrund sind reflektierende Auseinandersetzungen der jungen Men-
schen in unseren Schulen um die ‚richtige‘ Orientierung von großer Bedeu-
tung. Ich bin fest davon überzeugt, dass die eigene Standortbestimmung
erheblich dazu beiträgt, dass ein Mensch den für sich ‚richtigen‘ Platz in der
Gesellschaft findet.“ (Sommer 2007, 3 ff.) Diese Zuschreibung verlangt ein
intensives Nachdenken über das Leistbare und die personell notwendigen
Kompetenzen derer, die diese Fächer unterrichten.
Insbesondere ein veränderter Medienumgang prägt unsere Kinder.
Neil Postman analysierte die von ihm prophezeiten Konsequenzen einer
medial bestimmten Gesellschaft bereits 1985 in seinem Bestseller Wir
amüsieren uns zu Tode. Seine Überlegungen setzen beim „Niedergang des
Buchdruck-Zeitalters und dem Anbruch des Fernseh-Zeitalters“ an. „Ins-
gesamt brachte dieser Komplex elektronischer Technologien eine neue
Welt hervor – eine Guckguck-Welt, in der mal dies, mal das in den Blick
gerät und sogleich wieder verschwindet. In dieser Welt gibt es kaum Zu-
sammenhänge, kaum Bedeutung; sie fordert uns nicht auf, etwas zu tun, ja,
sie lässt es gar nicht zu […], wir haben uns seine Definitionen von Wahr-
heit, Wissen und Wirklichkeit so gründlich zu eigen gemacht, dass uns die
Belanglosigkeit von tiefem Sinn und die Inkohärenz von tiefer Vernunft
erfüllt scheinen.“ (Postman 1985, 99/101 f.) 1999 legte der Autor nach mit
der Formulierung: „Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert
gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Die-
ses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man
Informationen in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis. Kön-
nen wir dieses Problem lösen, dann erledigt sich der Rest von selbst.“
(Postman 2007, 124) Von dieser Diagnose bestätigt sich m.E. in der von
Lehrerinnen und Lehrern erlebten Praxis viel. So wird es zur Herausforde-
rung, gerade die kulturell verloren gegangene Dimension des Denkens in
Bedeutsamkeit herstellenden Zusammenhängen, d. h. der rational fundier-
ten persönlichen Bewertung und Beurteilung im Unterricht wieder neu
entstehen zu lassen. Dies aber ist eine grundlegende Aufgabe des Philoso-
phie- und Praktische Philosophie- bzw. Ethikunterrichts.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 285
In der aktuellen Diskussion finden wir dieses Thema noch anders mit
Blick auf die Entwicklungschancen der einzelnen Jugendlichen beschrie-
ben. „Je mehr Zeit sie [die Jugendlichen K.D.] vor dem Fernseher oder der
Playstation verbringen, desto schlechter sind die Noten.“ 1 Diese durch
Korrelationen zwischen Medienkonsum und Schulleistung belegte These
wird in weiterem Datenabgleich sogar zur Erklärung des unterschiedlichen
Abschneidens bestimmter Regionen in der PISA-Studie, zur Erklärung
von Geschlechterunterschieden, Unterschieden zwischen Schülerinnen und
Schülern mit und ohne Migrationshintergrund und zwischen dem unter-
schiedlichen Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler in Gymna-
sium und Hauptschule herangezogen. „Bereits als Viertklässler verfügen
die vier PISA-Verlierergruppen in ihren Kinderzimmern über eine erheb-
lich größere Ausstattung mit Fernseher, Spielkonsole und Computer als
ihre jeweilige Gegengruppe. Als Folge dessen weisen sie schon als 10-
Jährige und später als 15-Jährige einen weit höheren und auch inhaltlich
problematischeren Medienkonsum auf als ihre bei PISA besser abschnei-
denden Vergleichsgruppen.“ (Pfeiffer/Mößle/Kleimann/Rehbein 2007)
Auch wenn damit sicher nicht alles erklärt ist, scheint der Faktor Medien-
nutzung doch eine gravierende Rolle bei der Entwicklung des Leistungs-
und Denkvermögens unserer Jugendlichen zu spielen. „Ein Übermaß an
Medienkonsum macht dick, dumm, krank und traurig.“2 Diese noch weiter
greifende Aussage wird u. a. von Manfred Spitzer bestätigt. Vorsicht Bild-
schirm lautet der Titel seines Buches über Elektronische Medien, Gehirn-
entwicklung, Gesundheit und Gesellschaft (Spitzer 2005). Neben Daten
der empirischen Sozialforschung greift er vor allem auf neurobiologische
Erklärungsansätze zurück. Er verweist dabei auf die gravierenden Defizite
für die Entwicklungschancen des jungen Gehirns als Folge von hohem
Bildschirmkonsum gerade bei Kleinkindern: „Mit jeder Erfahrung, jedem
Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsakt gehen flüchtige, wenige Millise-
kunden dauernde Aktivierungsmuster im Gehirn einher. Die Verarbeitung
eines einzelnen Aktivierungsmusters (einer einzelnen Erfahrung) verändert
das Gehirn, aber jeweils nur ein winzig kleines Stück. […] Bildschirme
liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann
daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien
eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und
damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht. […] Dass
dies nicht graue Theorie darstellt, zeigt der empirisch nachgewiesene Zu-
1
Diese plakative Formulierung entstammt einer Vorabmeldung zur Veröffentlichung
der im Folgenden zitierten Studie. In: Der Spiegel, 39/2005. zitiert nach:
http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,376396,00.html.
2
Siehe Anmerkung 1.
286 Klaus Draken
Wie reagiert unsere Gesellschaft in der Gestaltung ihrer Schulen auf die
angesprochenen Phänomene? Wenn Tendenzen einer Individualisierung
die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben immer stärker auf
das einzelne Individuum verlagern, und wenn ein Versagen in dieser Ver-
antwortung in Krisenzeiten immer stärker durch ökonomische Konsequen-
zen sanktioniert wird, dann muss wohl die Qualifizierung für den sich
globalisierenden (Arbeits-)Markt im Vordergrund stehen. Wenn zudem der
wachsende Medienkonsum die Leistungsfähigkeit von Kindern und Ju-
gendlichen behindert, müssen auch deswegen die entsprechenden Ausbil-
dungsbemühungen verstärkt werden. Das relativ schlechte Abschneiden
bei den PISA-Studien wurde hier zu Anlass, Initialzündung oder Katalysa-
tor für entsprechende Folgemaßnahmen genommen. Die Schulzeitverkür-
zung durch G8 zur besseren internationalen Konkurrenzfähigkeit jüngerer
Bewerber am Studien- und Arbeitsmarkt, die Diskussionen um Ganztags-
betreuung in den nordrhein-westfälischen Schulen als ein Folgeproblem,
zentrale Lernstandserhebungen, zentrale 10er Abschlussprüfungen und das
Zentralabitur als Überprüfungsinstrumente einer standardorientierten Leis-
tungsmessung sowie ministeriell angeordnete Qualitätsanalyse für Schulen
sind beispielhafte Veränderungen in Nordrhein-Westfalens Schulsystem.
Wenn aber zugleich auch ein Mangel an Orientierungswissen benannt
werden muss, dann ist dies nichts, was lediglich im Sinne zentraler Stan-
dardorientierung in der Leistungsmessung und Bewertung ausgeglichen
werden kann. Die von Eltern real erlebten Probleme mit ihrem Nachwuchs
sehen auch häufig ganz anders aus. Viele Kinder leiden unter Stress, Über-
forderungssymptomen usw. bereits in sehr frühem Alter, weil die Anforde-
rungen der sich wandelnden Schule als übermächtig erlebt werden. Frei-
räume für eine persönliche Entwicklung und Sinnfindung scheinen als
Chance zu individueller Lebensorientierung nötig, werden aber nur unzu-
länglich realisiert. Dies zeigt sich z. B. darin, dass die Stellung der geistes-
und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in der gymnasialen Oberstufe
des Landes NRW immer weiter zurückgedrängt wurde. Sprachen sind für
die globalisierte Welt wichtig, Naturwissenschaften für die technisch ge-
prägte Gesellschaft notwendig usw.: So oder ähnlich könnte man den Duk-
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 287
Aber nicht nur ein neues Fach, sondern auch eine neue Art der Vorgaben
begleitet uns in der Schule: Ein „kompetenzorientiert formulierter Kern-
lehrplan“. Für die Philosophie in NRW wurde bereits an einem solchen
gearbeitet – allerdings ist das Ergebnis noch nicht veröffentlicht oder in
Kraft gesetzt, weil zunächst die länderübergreifenden Vereinbarungen über
„nationale Bildungsstandards in den Kernfächern Deutsch, Mathematik,
den Fremdsprachen und den Naturwissenschaften“ der Kultusministerkon-
ferenz abgewartet werden sollten. Für das neue Fach Praktische Philoso-
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 289
phie aber gibt es seit Sommer 2008 tatsächlich einen solchen Kernlehrplan.
Kernlehrpläne „legen Kompetenzerwartungen fest, die […] zu einem be-
stimmten Zeitpunkt erreicht sein müssen.“ (ebd., 7) Und diese bildungspo-
litisch gewollte neue Form der fachspezifischen Vorgaben verrät viel über
die Erwartungen der Bildungspolitik. Deshalb stelle ich im Folgenden eine
der entsprechend formulierten Listen ungekürzt vor.
„Warum noch Philosophie?“ Weil dann „am Ende der Sekundarstufe I
[…] die Schülerinnen und Schüler über die nachfolgenden Kompetenzen
verfügen:
3
In dieser Formulierung sind die Kompetenzen bezogen auf die Jahrgangsstufen 9/10
aller Schulformen außer dem Gymnasium mit G8, zu dem es aber analoge Formulie-
rungen gibt.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 291
V. Veränderte Didaktik
Noch vor wenigen Jahren war die Fachdidaktik vor allem mit der Streitfra-
ge nach Philosophie oder Philosophieren beschäftigt, d. h. dem Widerstreit
zwischen „Philosophie-orientiertem“ Unterricht und „Philosophieren-
orientiertem“, eher dialogisch, die philosophiegeschichtlichen Äußerungen
lediglich als Anregungen aufgreifenden, auf Selbstdenken basiertem Un-
terricht. Diese beiden Positionen gelten nach meiner Wahrnehmung mitt-
lerweile als versöhnt, da in der Praxis seit längerem eine sinnvoll sich er-
gänzende Verbindung beider Seiten der Debatte praktiziert wird. Dies
wurde unter anderem durch die Konstruktivismusdebatte in der allgemei-
nen Didaktik befördert, die die konstruierende Eigentätigkeit des Lerners
auch beim Bemühen um Verständnis historischer Schriften bzw. die Un-
möglichkeit einer Übertragung von Wissen aus Texten erklärte. In den
letzten Jahrzehnten wurde auch das Methodenparadigma in der allgemei-
nen Didaktik neu bewertet. In den Schulen „Klipperte“4 es gewaltig, d. h.,
es wurden Fortbildungen für Lehrer/innen in großem Stile anberaumt, die
neues Bewusstsein für Methoden der Unterrichts und Methodenlernen der
Schüler/innen schaffen sollten. In einer gewissen Analogie gibt es seit
2003 eine viel beachtete „Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts“
von Ekkehard Martens, die „Philosophieren als elementare Kulturtechnik“
auszuweisen versucht. Mit seinem „Fünf-Finger-Modell“ der Phänomeno-
logischen, der Hermeneutischen, der Analytischen, der Dialektischen und
der Spekulativen Denkmethode versucht er ein Fundament für die grundle-
genden „Werkzeuge“ der Philosophie und des Philosophierens zu legen.
Mit einem anderen Aspekt der allgemeinen didaktischen Entwicklung,
die entscheidenden Einfluss auf Kultusbürokratie zu nehmen scheint, tut sich
die Philosophiedidaktik aber noch schwer: mit der empirischen Lehr-/Lern-
forschung, wie sie seit einiger Zeit die öffentliche Diskussion bestimmt.
Hohen Einfluss auf politisch-administrative Vorgehensweisen hatte hierbei
der Schulpädagoge Hilbert Meyer. Seine als Metastudie empirischer Unter-
richtsforschung angelegte Schrift Was ist guter Unterricht? bestimmt derzeit
die in den Schulen NRWs durchgeführte Qualitätsanalyse. Allerdings weist
Meyer ausdrücklich darauf hin, dass die von ihm ausgewerteten empirischen
4
Heinz Klippert war hier als Akteur der Lehrerfortbildung äußerst wirksam. Seine
Vorstellungen finden sich u. a. in seinem Buch Methodentraining von 1994 und
zahlreichen Nachfolgeveröffentlichungen wieder.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 293
Befunde sich „im Wesentlichen […] auf das kognitive Lernen“ beschränken.
„Die Studien klammern so wichtige Zielbereiche wie das Methodenlernen
oder die Entwicklung von Sozialkompetenz und Kreativität – zumeist aus
forschungspraktischen Gründen und nicht aus Desinteresse – aus.“ (Meyer
2004, 127) Hier aber setzten viele politische Erwartungen an den Unterricht
Philosophie und Praktische Philosophie an. Zu dem Bereich der Sozialkom-
petenz könnte man darum eine etwas ältere Metastudie über Die Mittel der
Moralerziehung und ihre Wirksamkeit von Siegfried Uhl (Uhl 1996) in
Erinnerung rufen, der über mehrere hundert Seiten empirische Studien aus
diesem Bereich analysiert. Deren ernüchternde Ergebnisse: komplexere
Methoden der Erziehung bzw. des Unterrichts, die vielfach nach Erfah-
rungsberichten Erfolg versprechend wirken, sind in ihrer Wirksamkeit empi-
risch nur schwer zu fassen. Lediglich der Förderung des Einfühlungsver-
mögens bzw. dem Erproben eines Perspektivwechsels gibt er hinsichtlich
einer empirisch belegten Wirksamkeit gute Noten – aber das klingt noch
nicht in einem wünschenswerten Maß nach philosophischer Ausrichtung.
Eine bessere Verbindung besteht zu den bereits als „Neurodidaktik“
(vgl. Herrmann 2006) gehandelten Übertragungen aus neurobiologischen
Befunden auf den allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Diskurs.
Hier hat sich insbesondere Heinz Schirp Verdienste erworben, der Folge-
rungen für den Bereich der Werteerziehung zog. An erster Stelle steht für
ihn dabei der „Lebensweltbezug: Unsere neuronalen Strukturen sind auf
Sinn, Relevanz und Muster angelegt. Unser Gehirn lernt und behält des-
wegen auch das am besten, was sich in unseren Lebenssituationen als be-
deutungsvoll und als ‚viabel‘ erweist. Im Gegensatz zu einem Computer
etwa speichert unser Gehirn nicht einfach Informationen ab, sondern es
verarbeitet sie – vorausgesetzt sie ‚machen Sinn‘ und sind von offensicht-
licher Bedeutung für die Bewältigung von Lebenssituationen.“ Dies kann
beim Philosophieren mit Schülerinnen und Schülern, wie bereits gezeigt, in
besonderer Weise eingelöst werden. Aber auch „vielfältige Anwendungs-
bezüge“, „emotionale Ansprache“ und „emotionale Beteiligung“ (Schirp
2004, 228 ff.) weiß er aus diesem Kontext heraus neu zu begründen. Die
neuere Diskussion um das Verhältnis von „Emotion und Kognition“5 zeigt,
5
Am 10. Oktober 2009 fand in Kooperation zwischen der Arbeitstelle Praktische
Philosophie und dem Philosophischen Seminar der Universität Münster, der Philo-
sophisch-Politischen Akademie und der Gesellschaft für Sokratisches Philosophie-
ren eine Tagung zum Thema „Emotion und Kognition“ statt, auf der u. a. Eva Maria
Engelen und Achim Stefan referierten. Hier wurde zum einen die Notwendigkeit
von Emotionen zur Motivation jeglicher rationaler Reflexion als auch ihr notwen-
diger Beitrag zu schnellen rationalen Entscheidungen auf heutigem Forschungs-
stand diskutiert (vgl. auch Blesenkemper 2006, 92-129).
294 Klaus Draken
dass wir es hier nicht mit zwei konkurrierenden, sondern sich notwendig
ergänzenden Phänomenen zu tun haben, und dass Philosophie- und Prakti-
sche Philosophie- bzw. Ethikunterricht unter Berücksichtigung dieser Tat-
sache auch diesem Kriterium entsprechen kann. Hier stehen wir als Fach
aber sicher noch vor Herausforderungen, die insgesamt für die Schule als
nicht gemeistert angesehen werden können. Dennoch: Auch dieses Feld
darf die Philosophie in der Schule nicht ausschließen, sondern muss es
aktiv angehen.
Zusammenfassend lässt sich über das Verhältnis des Philosophierens
in der Schule zu neueren didaktischen Tendenzen etwa Folgendes sagen:
Der Philosophieunterricht hat sich – z. T. in durchaus experimentell anmu-
tender Weise – mittlerweile zumindest punktuell fast allem geöffnet, was
auf dem pädagogisch-schulischen Marktplatz gehandelt wird. Vieles hier-
von scheint Bereicherungen für Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweils
individuell unterschiedlichen Zugangsweisen zu philosophischem Denken
zu bergen. Dass am Ende immer wieder das Bemühen um die Abstraktion,
um das Zielen auf das Allgemeine, der genaue Umgang mit den Begriffen
– kurz: die philosophische Qualität des Umgangs mit den Phänomenen des
Alltags erreicht werden muss, steht dabei für mich außer Frage. Aber der
Zugriff auf diese Dimension muss sich bei einem Unterricht, der bereits in
Klasse 5 beginnt, wandeln – und er hat sich längst mit den sich verändern-
den Generationen von Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe zu wan-
deln begonnen.
Warum also noch Philosophie, wo die Anforderungen so vielfältig und
keineswegs in allen Aspekten genuin philosophisch erscheinen? Die Ant-
wort lautet, weil wir auf den unterschiedlichsten Wegen viele Kinder und
Jugendliche zur notwendigen, zur authentischen und zur tief greifenden
Reflexion der Grundfragen des Lebens bringen können und sollten. Die
Schülerinnen und Schüler können ein wichtiges Rüstzeug für eine rational
kontrollierte und gelingende Lebensgestaltung aus dem „Philosophieren“
in der Schule gewinnen, und die akademische Philosophie könnte aus dem
Potential dieser zukünftigen Erwachsenen sowohl offene und engagierte
Studierende für ihr Fach als auch eine höhere Beachtung in der öffentli-
chen Diskussion erhoffen, die im besten Falle zu einem Mehr an Ra-
tionalität im politisch-gesellschaftlichen Diskurs führen könnte.
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Philosophie und UNESCO
Lutz Möller
Dieser Beitrag besteht aus vier Teilen. Nach einer einleitenden Klärung der
Zuständigkeiten der Vereinten Nationen und der UNESCO und einem kur-
zen Rückblick auf sechzig Jahre UNESCO-Geschichte wird die Frage der
Rechtfertigung der Beschäftigung der UNESCO mit der Philosophie disku-
tiert. Abschließend soll eine konkrete Erwartungshaltung an die Philoso-
phie diskutiert werden, nämlich zur Klärung von Konzepten, welche in der
Politik der Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielen, beizutragen.
letzter Minute in das Mandat und das „S“ in das Akronym der UNESCO
aufgenommen wurden. Bis heute gibt es verschiedene Ansichten darüber,
ob und inwiefern die Geisteswissenschaften, die Humanities, von diesem
Mandat abgedeckt sind, was vor allem auf die angelsächsische Tradition
des Begriffs „Sciences“ zurückzuführen ist. Auf formaler und prinzipieller
Ebene ist diese Frage klar beantwortet: Die UNESCO besitzt das Mandat
für Geisteswissenschaften und sie hat es im System der Vereinten Nationen
exklusiv. Die Weltwissenschaftskonferenz von 1999 in Budapest hat die
Einheit des Wissenschaftssystems nachdrücklich unterstrichen.1
Die Vereinten Nationen, wenn man sie für einen Moment auf die Orga-
nisation mit den drei Hauptgremien Generalversammlung, Sicherheitsrat
und ECOSOC sowie das Sekretariat in New York reduziert, beschäftigen
sich nicht mit philosophischen Fragen: Wie eine Recherche im UN-Internet-
Dokumentenserver ergeben hat, hat sich die UN-Generalversammlung of-
fenbar nie mit Philosophie oder philosophischen Fragen als solche beschäf-
tigt. Selbstverständlich beschäftigen sich die Vereinten Nationen fortlau-
fend mit politischen Fragen, die philosophisch sehr interessant sind.2 Ein
Beispiel sind die Diskussionen, die seit Beginn der 1990er Jahre auf höchs-
ter politischer Ebene um ein Grundkonzept der Vereinten Nationen geführt
werden: Unter den Stichworten der „Responsibility to Protect“ und der
„Human Security“ finden Diskussionen statt, die den in der Frühzeit der
Vereinten Nationen unangreifbaren Grundsatz der staatlichen Souveränität
unter bestimmten Voraussetzungen einschränken wollen, zum Beispiel in
Fällen des Völkermords, der ethnischen Säuberung oder von systematischen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Nationalstaat ist demnach nicht
mehr alleiniges Subjekt des Völkerrechts; auch der einzelne Mensch spielt
eine Rolle, dessen Sicherheit zu schützen in Extremsituationen Verantwor-
tung der Völkergemeinschaft ist. Auch wenn diese Diskussion manchmal
eine machtpolitische Schlagseite besitzt, ist unverkennbar, dass sich die
philosophische Konzeption des Völkerbundes von Immanuel Kant inzwi-
schen im politischen Rahmen der Vereinten Nationen deutlich weiter entwi-
ckelt, wobei diese Entwicklung natürlich auch von Philosophen und Intel-
lektuellen vorbereitet wurde.
Somit ist unter den UN-Organisationen für die Philosophie als solche
nur die UNESCO strukturell zuständig, genauer seit dem Jahr 2000 die
UNESCO-Abteilung für Geistes- und Sozialwissenschaften. Je nach Res-
1
Philosophie wird im Abschlussdokument dieser Konferenz übrigens kaum erwähnt:
Wo sie genannt wird, firmiert sie als Hilfswissenschaft, um Fragen des wissen-
schaftlichen Fortschritts – Schlagwort Bioethik – zu thematisieren.
2
Vergleiche den vierten Abschnitt dieses Beitrags.
Philosophie und UNESCO 301
Die UNESCO selbst hat diese offensichtlichen Fragen immer wieder ver-
sucht zu beantworten. 2003 erschien die von Patrick Vermeren verfasste
Publikation La philosophie saisie par l’UNESCO, aus der die folgenden
historischen Bezüge stammen (vgl. Vermeren 2003).
Dem stellvertretenden Vorsitzenden der Gründungskonferenz der
UNESCO von 1945, Léon Blum, zufolge hat der Zweite Weltkrieg gezeigt,
dass Bildung, Wissenschaft und Kultur gegen das gemeinschaftliche
Menschheitsinteresse gewendet werden können und dass sie daher ausge-
richtet werden müssen auf die Idee von Fortschritt und Demokratie als
psychologische Voraussetzung von Solidarität und Frieden.3
Man kann diesen Gedanken von Léon Blum so auslegen, dass die Aus-
richtung auf wissenschaftlichen Fortschritt und Erkenntnis und auf Freiheit
von Meinung und Forschung eine erste Rahmenbedingung von Philosophie
ist. Man kann ihn aber auch so interpretieren, dass hier eine Norm von
Philosophie gesetzt wird, sie in den Dienst von Fortschritt und Demokratie
gestellt wird und somit nicht mehr Selbstzweck ist. Der Spagat zwischen
dem Eintreten für Selbstzweck und Freiheit von Wissenschaft und Philo-
sophie einerseits und der Förderung einer besonders den Menschenrechten
und der Demokratie verpflichteten Wissenschaft und Philosophie anderer-
seits, als Beitrag zum Verfassungsauftrag der UNESCO, war und ist für die
Philosophieprogramme der UNESCO charakteristisch.4 In vielen Weltre-
gionen ist dieser Spagat heute noch so aktuell und politisch brisant wie in
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Aufgaben
der UNESCO in der Philosophie auf der Hand. Die ersten UNESCO-
Philosophieprogramme halfen, in Europa und zunehmend weltweit den
internationalen Austausch von Akademikern und Literatur zu fördern,
philosophische Gesellschaften einzurichten, neue Fachzeitschriften zu
gründen und die Universitäten international zu öffnen. Zudem setzte sich
die UNESCO dafür ein, die Philosophie in den Dienst der Gesellschaft zu
stellen, insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit zeitge-
mäßen Fragestellungen wie den Menschenrechten.
Inhaltlich war den meisten von Anbeginn klar, dass sich die UNESCO
eben so wenig an bestimmten philosophischen Schulen wie dem Existen-
3
Weiter unten wird diskutiert, inwiefern diese psychologische Voraussetzung tat-
sächlich gegeben ist.
4
Weiter unten wird auch diskutiert, dass diese beiden Aspekte nicht als Gegensatz
gesehen werden müssen.
304 Lutz Möller
zialismus oder dem Marxismus ausrichten darf, wie sie sich an einer be-
stimmten Religion ausrichten darf. Der erste UNESCO-Generaldirektor
Julian Huxley meinte hingegen, „die grundsätzliche Philosophie der
UNESCO muss ein allgemeiner, wissenschaftlicher Humanismus sein, der
die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens vereint und von der
Evolution inspiriert ist“. Julian Huxley war Biologe, sein Humanismus
war nicht-materialistisch, monistisch und evolutionär-dynamisch. Sein
sich seit 1946 abzeichnender Plan, vor dem Hintergrund der Kriegserfah-
rung und auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse mit
Hilfe der UNESCO eine neue Weltphilosophie zu etablieren, traf auf hef-
tigen Widerstand von allen Seiten. Vor allem der französische Delega-
tionsleiter auf der zweiten UNESCO-Generalversammlung, Jacques Mari-
tain, ein katholischer Philosoph, wandte sich entschieden und erfolgreich
gegen eine eigenständige „UNESCO-Philosophie“. Ihm zufolge gibt es zu
den Menschenrechten sowie zu den Idealen der Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit Einverständnis auf einer praktischen Ebene, und zwar un-
abhängig von den jeweiligen philosophischen Schulen, die zur Begrün-
dung der Ideale herangezogen werden. Diese konsensuelle, praktische
Ebene habe ein UNESCO-Philosophieprogramm zu vertiefen, eine eigene
Philosophie lehnte er nachdrücklich und erfolgreich ab. Seine Vision war
es vielmehr, praktische Fortschritte zu erreichen, zum Beispiel einen uni-
versellen Konsens über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Die divergierenden Begründungen für Menschenrechte müssen und sollen
zwar in einer fairen Debatte aufeinander prallen und sichtbar werden, ohne
dabei jedoch eine Einigung oder auch nur Annäherung der Begründungen
anzustreben.
In den folgenden zehn Jahren legte die UNESCO die auch heute noch
publizierte Zeitschrift Diogène auf und gründete mit dem Conseil Interna-
tional de la Philosophie et des Sciences Humaines (CIPSH) eine Nicht-
regierungsorganisation mit globaler Mitgliedschaft, die philosophische
Grundsatzfragen frei diskutieren konnte, ohne dabei Anforderungen von
Regierungen berücksichtigen zu müssen. Der CIPSH übernahm von der
UNESCO auch all jene Programmaspekte, die eher akademischer Natur
sind, wie die Organisation von Kongressen und die Fortführung von Bib-
liographien.
Ab 1966 verstärkte sich das Engagement der UNESCO erneut, es wur-
de eine Philosophieabteilung gegründet, die die Genfer Philosophin und
Karl Jaspers-Schülerin Jeanne Hersch zwei Jahre lang leitete. Sie blieb
weit über die UNESCO heraus in Erinnerung durch die Publikation Le
droit d’être un homme zum zwanzigsten Jahrestag der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte. Diese Publikation unterstrich vor allem nach-
drücklich die Universalität der Allgemeinen Erklärung. Sie ist ein Meilen-
Philosophie und UNESCO 305
stein in der Geschichte der UNESCO, auch wenn das Werk ohne hohen
akademischen Anspruch konzipiert ist.
Vergleichende Werke über den Stand der Philosophie weltweit, ein
Band zum Aristoteles-Jubiläum, Kongresse zu anderen Jubiläen und Ta-
gungsreihen waren charakteristische Aktivitäten der folgenden zwanzig
Jahre. Viele weltweit bekannte Philosophen haben sich an diesen Projekten
beteiligt, wobei vor allem französische Philosophen wie Jacques Derrida,
Jean-Paul Sartre oder Claude Lévi-Strauss der UNESCO über Jahrzehnte
besonders eng verbunden waren.
Als eigenständige sektorale UNESCO-Programme haben sich seit
Langem der Kampf gegen den Rassismus etabliert, insbesondere gegen
pseudo-wissenschaftliche Begründungen für Rassismus; seit Anfang der
1990 die angewandte Ethik, insbesondere die Wissenschaftsethik, die Bio-
ethik und die Umweltethik; und die Begriffsbildung rund um die positiven
Voraussetzungen des Friedens. Seit 1950 hat die UNESCO mehrere Erklä-
rungen, Übersichtswerke und Stellungnahmen gegen den Rassismus mit
politischem Niederschlag publiziert. In der Bioethik hat sie durch drei
Erklärungen 1997, 2003 und 2005 zur Herausbildung von weltweit konsi-
stenten Normen beigetragen.
Ab 1989 wurde das Konzept der „Kultur des Friedens“ für einige Jahre
prägend für das Verhältnis der UNESCO zur Philosophie: Es ging der
UNESCO nicht mehr um eine Philosophie des Friedens, sondern eine Phi-
losophie der Kultur des Friedens. „Kultur des Friedens“ wurde und wird
verstanden als das trilaterale Spannungsverhältnis von Demokratie, Men-
schenrechten und Entwicklung. In diesem Geist wurde 1995 von verschie-
denen Philosophieprofessoren aus allen Weltregionen eine Pariser Erklä-
rung zur Philosophie verabschiedet. Ein internationales Jahr widmete sich
2000 der „Kultur des Friedens“; eine internationale Dekade zum gleichen
Thema schloss sich an.
Mit der Gründung des Netzwerks der UNESCO-Lehrstühle Anfang der
1990er Jahre wurde eine neue Form der strukturierten Zusammenarbeit mit
der akademischen Welt etabliert, die auch mehrere Philosophielehrstühle
umfasst und die sich bis heute als ertragreich erwiesen hat. Die ersten
UNESCO-Lehrstühle in der Philosophie wurden in Santiago de Chile,
Caracas, Paris, Seoul, Tunis, Ankara und Montreal eingerichtet. Ab 1995
fanden auch regelmäßig die Rencontres philosophiques statt. In öffent-
lichen Diskussionen diskutierten Philosophen, Intellektuelle und Künstler
aktuelle Weltprobleme. In diesem Rahmen widmete sich die UNESCO
Ende der 1990er Jahre wiederholt dem Projekt Weltethos, auch unter Be-
teiligung von Hans Küng und Karl-Otto Apel. Der 2002 in die Wege gelei-
tetet Welttag der Philosophie, der seit 2005 ein offizieller UNESCO-
Welttag ist, ist das jüngste Projekt einer strukturierten Auseinandersetzung
306 Lutz Möller
mit der Philosophie: Mehr als andere Instrumente der Vergangenheit hat er
das Zeug dazu, die Breite der Bevölkerung zu erreichen.
Auf dem Gebiet der Philosophielehre wurden vergleichende Studien
im globalen Maßstab 1951 und 1952 durchgeführt, sowie auf kontinentaler
Ebene 1980 (Afrika), 1983 (Asien), 1985 (Lateinamerika und Arabische
Welt) und 1993 (Europa). Der Zusammenhang zwischen Philosophie und
der Demokratisierung wurde 1994 für verschiedene Staaten und Kontinen-
te systematisch erhoben, unter anderem auch durch Ulrich Johannes
Schneider für Deutschland. Auch wurden zu dieser Zeit die Wechselwir-
kungen zwischen Philosophie und anderen gesellschaftlichen Strömungen
analytisch beschrieben und in verschiedenen Sprachen publiziert. 2007
erschien Philosophy – A school of freedom, eine erneut global vergleichen-
de Studie über die Philosophielehre auf allen Bildungsebenen. 2009 wer-
den in vier „high-level regional meetings“ die Ergebnisse dieser Studie
wieder zurückgespielt in die Länder.
Weitere aktuelle Projekte sind „Inter-regional philosophical dialogues“
zum Beispiel zwischen Asien und der Arabischen Welt oder Afrika und
Lateinamerika; ein globales Netzwerk von inzwischen über 2.000 Philoso-
phinnen. Eine globale Vergleichsstudie über philosophische Forschung ist
in Vorbereitung,
Die UNESCO-Generalkonferenz, die sich heute aus 193 Staaten zu-
sammensetzt, hat 2005 eine Philosophiestrategie verabschiedet, die für die
UNESCO folgende drei Aufgabenfelder definierte:
1. Für einen Platz für die Philosophie in den Bildungssystemen zu werben
– um der Philosophie selbst willen, um die Demokratie zu fördern und
um junge Menschen zu verantwortungsvollen Staatsbürgern zu erzie-
hen.
2. Für die Philosophie in der Öffentlichkeit zu werben und die Bedeutung
der Philosophie herauszustellen.
3. Innerhalb der Philosophie als Disziplin für eine Auseinandersetzung
mit Weltproblemen zu werben.
Die UNESCO-Philosophiestrategie von 2005 setzt sich eher konservative
Ziele und unterfüttert diese mit Maßnahmen, die in der Außensicht eher
defensiv wirken. Diese unspektakuläre Herangehensweise ist jedoch realis-
tisch angesichts der sehr begrenzten finanziellen und humanen Ressourcen
der UNESCO. Die UNESCO als globale Organisation muss ihre Prioritä-
ten, Ziele und Maßnahmen im Hinblick auf alle Länder festlegen und ver-
treten. Sie muss sich in ihrem Handeln auf ihre schwächsten Mitglieder
konzentrieren. Das Handeln der UNESCO würde bereits dann als erfolg-
reich gewertet werden, wenn sie zum Beispiel hilft, dass sich Philosophie
als ernsthafte akademische Disziplin in einer Reihe von Entwicklungslän-
Philosophie und UNESCO 307
dern besser oder überhaupt erst etabliert. Insofern kann mit Blick auf Ent-
wicklungsländer durchaus davon gesprochen werden, dass die UNESCO in
einigen Ländern dazu beiträgt, Rahmenbedingungen zu schaffen – wozu
auch Forschungsfreiheit gehört.
Der Fokus auf Entwicklungsländer hat aber zur Folge, dass sie für die
Regierungen, Zivilgesellschaften und akademischen Gemeinschaft in weiter
entwickelten Staaten wie in Deutschland scheinbar wenig anzubieten hat.
Natürlich hat die Philosophie auch Voraussetzungen und Rahmenbedingun-
gen in Industrieländern – die Veränderungen auf diesem Feld durch die
Reform der Studiengänge wurden auf diesem Symposium angesprochen.
Die UNESCO besitzt hierzulande derzeit aber nicht die politische Kraft, um
im Blick auf die Veränderung solcher Rahmenbedingungen politisch wirk-
sam zu werden. Die UNESCO kann aber ideelle Unterstützung anbieten, sie
kann den symbolischen Gehalt und die Legitimität einer globalen Organi-
sation in die Waagschale werfen. Sie ist dabei aber auch auf Kooperationen
angewiesen und darauf, dass sich die von der UNESCO-Strategie ange-
sprochenen Communities im Hinblick auf die Erreichung der Ziele der
UNESCO-Strategie selbst organisieren. In Industriestaaten braucht es gut
etablierte Partnerschaften zwischen allen zentralen Akteuren, um auf dem
Hintergrund starker Konkurrenz um Schlagzeilen ein Thema wie die Philo-
sophie auf die politische Agenda und, losgelöst von Anlässen wie Bestsel-
lern oder Skandalen, in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.
Wie bereits erwähnt, gibt es generische Disziplinen wie die Erd- oder
Umweltwissenschaften, wo die Arbeit der UNESCO auf der Ebene zwi-
schenstaatlich zu treffender Voraussetzungen für die Wissenschaft für die
Verbesserung von Rahmenbedingungen der internationalen Wissenschafts-
zusammenarbeit von intuitiv nachvollziehbarem gesellschaftlichem Nutzen
ist. In Bereichen wie der Bioethik (als Hilfswissenschaft für die Biomedizin
und Biotechnologie) ist ein Handeln der UNESCO ebenfalls relativ einfach
nachzuvollziehen. Das wirkungsvolle und international sichtbare Agieren
der UNESCO auf diesem Feld seit Anfang der 1990er Jahre, um weltweit
gültige Standards zu etablieren, ist eine Erfolgsgeschichte. Hier geht es um
die Formulierung von völkerrechtlichen Erklärungen, Aufbau von Kapazi-
täten wie nationalen Ethikkomitees oder den Austausch von Erfahrungen,
zum Beispiel zu Ethikausbildungsprogrammen an Universitäten.
Die Schwerpunktsetzung in der Philosophie hingegen ist zumindest
dem ersten Anschein nach nicht von externen oder exogenen Faktoren
(zwischenstaatliche Voraussetzungen der Forschungstätigkeit, Notwendig-
keit als Hilfswissenschaft wegen schnellen technologischen Fortschritts)
bestimmt. Die Begründung der erwähnten UNESCO-Philosophiestrategie
lautet: “The importance of philosophy to the work of UNESCO is evident,
since philosophical analysis and reflection are undeniably linked to the
establishment and maintenance of peace. By developing the intellectual
tools to analyze and understand key concepts such as justice, dignity and
freedom, by building capacities for independent thought and judgment, by
enhancing the critical skills to understand and question the world and its
challenges, and by fostering reflection on values and principles, philosophy
is a ‘school of freedom’.”
Die UNESCO rechtfertigt also ihre Schwerpunktsetzung zugunsten der
Philosophie aus einer vagen Andeutung einer Verantwortung als „intellek-
tuelle Agentur“ des UN-Systems zugunsten des Friedens, ein direkter Bezug
zum Verfassungsauftrag. Die UNESCO geht in dieser Passage zudem davon
aus, dass die Philosophie mehr als jede andere Wissenschaft Grundlegendes
beizusteuern habe zur Klärung der ihr und allen UN-Organisationen
zugrunde liegenden Werte, genannt werden Gerechtigkeit, Würde und Frei-
heit – also ein ganz anderes Argument. Das wirft folgende Fragen auf:
1. Sind diese Rechtfertigungen stimmig?
2. Wie werden die genannten Werte und somit die Philosophie verstan-
den? Sehr weit oder sehr konkret? Politisch oder philosophisch?
Die genannte Rechtfertigung erscheint wenig stimmig. Es bräuchte starke
Gründe für die Behauptung, dass philosophische Analyse für die Herstel-
lung und Aufrechterhaltung von Frieden bedeutsam ist; diese werden hier
und auch anderswo nicht gegeben. In der Friedens- und Konfliktforschung
Philosophie und UNESCO 309
Der folgende abschließende Abschnitt nimmt die dritte der drei „Säulen“
der UNESCO-Philosophiestrategie in den Blick: Innerhalb der Philosophie
als Disziplin selbst für eine Auseinandersetzung mit Weltproblemen zu
werben. Die UNESCO-Philosophiestrategie spricht davon, „philosophische
Reflektionen und Dialoge über Programmprioritäten der UNESCO“ unter-
stützen zu wollen: „dialogue among civilizations, education for all, bio-
ethics, knowledge societies, cultural diversity, ethics of the environment,
Philosophie und UNESCO 311
Was hat das mit Philosophie zu tun? Ich knüpfe noch einmal an den
Beitrag von Volker Gerhardt zu diesem Symposium an. Er betont, dass im
Hinblick auf die Menschenrechte viel stärker anerkannt werden muss, dass
die in den Verfassungen verankerten einklagbaren Menschenrechte eine
Umkehrung von Idealismus und Realismus bedeuten, das heißt, sie müssen
als zivilisatorische Leistung und geistesgeschichtlich bedeutsame Ver-
schiebung anerkannt werden. Die Niederlegung von Menschenrechten in
den Verfassungen der USA und deren Proklamation in der französischen
Revolution haben zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen
geführt, die von über 160 Staaten ratifiziert wurden. Zwar fehlt in vielen
dieser Staaten die Rechtsstaatlichkeit, so dass die Menschenrechte vieler-
orts nur auf dem Papier stehen; dennoch sind Menschenrechte weiter ein
zentrales Thema auch für die Philosophie. Und sie sind kein Thema, mit
dem Philosophen in den Ruf geraten würden, Trends hinterherzulaufen.
Gleiche fundamentale Bedeutung haben aus meiner Sicht die Begriffe
„Vielfalt“ und „Nachhaltigkeit“. Es wäre eine geistesgeschichtlich ebenso
große Errungenschaft wie die Verankerung der Menschenrechte, sollte die
Gesellschaft eines Tages tatsächlich und nicht nur deklamatorisch Vielfalt
als Wert anerkennen und wertschätzen lernen. Dabei verwende ich einen
weiten Begriff von Vielfalt und decke sowohl Vielfalt von kulturellen
Ausdrucksformen, von Herkunft, von persönlichen Lebensumständen oder
von sexueller Orientierung, Alter oder Behinderung ab. Die Arbeit an die-
sem Begriff ist aus meiner Sicht noch nicht abgeschlossen und stellt weiter
eine Aufgabe für die Philosophie dar.
Auch der Begriff der „Nachhaltigkeit“ bietet spannende Anknüpfungs-
punkte: Umfasst dieses Konzept auch „Gerechtigkeit“, wenn ja, welchen
Inhalt jenseits einer rein symbolischen Behauptung besitzen interkontinen-
tale und intergenerationelle Gerechtigkeit? Was fällt unter dieses Konzept,
ist es operationalisierbar? Ich halte es für ein enorm ambitioniertes Projekt,
eine tatsächlich „nachhaltige Gesellschaft“ bzw. Wirtschaft zu realisieren.
Wollen wir es schaffen, brauchen wir für diese enorme gesellschaftliche
Umwälzung Beiträge aus allen wissenschaftlichen Disziplinen, auch aus
der Philosophie.
„Frieden“ und „Dialog“ sind zwei weitere Begriffe, die durch die häu-
fig unscharfe Verwendung ihres interessanten Gehaltes beraubt wurden.
Dass Frieden mehr ist als Abwesenheit von Konflikt, ist trivial. Was zeich-
net aber den Frieden aus, den wir in der Europäischen Union seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges genießen dürfen? Was zeichnet den Frieden in
Nordirland aus? Dialog: Ja, aber warum? Und mit wem?
Wenn ich darauf hinweise, dass die Klärung dieser Konzepte nicht aus-
reichend in der internationalen Politik oder in der Öffentlichkeit angekom-
men ist, verkenne ich in dieser Kürze natürlich die hunderte und tausende
Philosophie und UNESCO 313
Literatur
Vermeren, P., 2011: Philosophie in der Perspektive der UNESCO, im Auftrag der
Deutschen UNESCO-Kommission aus dem Französischen übersetzt von H.J. Sand-
kühler, Bern u.a.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch?
Wem ist es nicht schon passiert, dass ihm ein akademischer Gesprächs-
partner gesagt hätte: „Ich lese zum gedanklichen Gewinn eigentlich keine
zeitgenössischen Philosophen, sondern intelligente Schriftsteller?“ Gewiss,
ein solcher Satz war auch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts möglich: Man hätte sagen können, Robert Musils Der
Mann ohne Eigenschaften enthielte mehr theoretische Phantasie als Nicolai
Hartmanns philosophische Ästhetik. Aber das wäre letztlich doch eher eine
Prävalenz für eine spezifische Textsorte gewesen, noch keine symptomato-
logische Aussage. Nunmehr aber könnte man diese Beobachtung nach-
drücklich damit erklären, dass seit spätestens Ende der siebziger Jahre
systematisch formulierte Ideen wenn nicht in Misskredit geraten sind, dann
doch an Attraktivität für die theoretische Phantasie verloren haben.
Es handelt sich dabei nicht bloß um eine Mode der intellektuellen Sai-
son: Die von der poststrukturellen Lehre ausgehende Kritik an der philoso-
phischen Theorie, nicht zuletzt die Methode der sogenannten Dekonstruk-
tion, hat Wirkungen gezeitigt, die weit über das hinausgingen, was Paul de
Mans Kritik der Hermeneutik ursprünglich an Abwertung von Systemge-
bäuden geleistet hatte. Aber diese Bewegung hat seit dem Tode ihrer nam-
haften Vertreter an Einfluss verloren. Nichtsdestotrotz ist die Skepsis gegen-
über der Philosophie geblieben. Oder sagen wir es so: Ein erzählender
Philosoph wie Montaigne, der im Zeitalter des Descartes’schen Ratio-
nalismus an Bedeutung völlig verloren hatte, ist seit Jahren wieder zu Aner-
kennung und Wirkung gekommen, während Descartes selbst nur noch als
Formel über die erkenntnistheoretisch verbürgte Evidenz des Ich präsent ist.
Eine analoge Beobachtung: Noch nie sind die Fragmente Friedrich Schlegels
so aktuell behandelt worden wie heute, selbst seinen partiell enigmatischen
Notaten zur römisch-griechischen Literatur wird mehr Aufmerksamkeit
zuteil als den eher historisch-philosophischen Abhandlungen zum Thema.
Dieser Text erschien erstmals in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Merkur“, Heft 7,
2010, S. 559–570. Wir danken Herrn Bohrer für die freundliche Genehmigung des
Wiederabdrucks.
316 Karl Heinz Bohrer
Und das eben hat etwas mit der eingangs erwähnten Beobachtung zu
tun: Philosophie hat keinen Einfluss mehr, der dem bis Ende der sechziger
Jahre gliche. Wenn man darüber mit einem unserer namhaften Universi-
tätsphilosophen sprechen würde, könnte man wahrscheinlich als Wider-
spruch hören: „Wieso? Im Gegenteil! Noch nie haben Philosophen in prak-
tischen Fragen so viel Einfluss gehabt wie heute. Nehmen Sie nur das
Beispiel des Ethikrats.“ Nun würde eine solche Antwort gerade die Wider-
legung dessen, was sie sagen will, enthalten: Denn eine Philosophie, die in
der Praxis angekommen ist oder die Praxis beeinflussen will, verliert ihren
spezifischen philosophischen Charakter.
Man kann diesen Vorgang das Gesetz des Siebten Briefs Platons über
sein sizilianisches Abenteuer nennen. Denn dieser Brief beschreibt das
Scheitern der philosophischen Lehre vor der Praxis als ein notwendiges
Scheitern: Dreimal eingeladen von den Herrschern von Syrakus, vor allem
auf Betreiben des philosophisch inklinierten jungen Dion, der schließlich
seinen Vorgänger Dionysios vertrieb, beschreibt Platon im Siebten Brief,
inwiefern ein ehrgeiziger Herrscher von der Substanz des philosophischen
Gedankens nichts begreift. Im Zentrum steht Platons Erklärung, wie es zur
Erkenntnis kommt. Oder: welcher einzelnen Schritte es bedarf, dass man
von Erkenntnis sprechen kann. Es ist die für den Erkenntnisakt zentrale
Einlassung Platons neben dem sechsten Buch der Politeia, wo er die „größ-
te Erkenntnis“, die „Idee des Guten“, entwickelt.
Die Begründung des Erkenntnisgewinns stellt also die philosophische
Essenz oder das Paradigma für eine philosophische Rede dar; das erkennt-
nistheoretische Stück ist aber nur der kurze Mittelteil des Siebten Briefs.
Der Anfang und das Ende handeln von der Erfahrung des Philosophen
angesichts rein weltlicher Ambition, ja vom Scheitern der Idee in der prak-
tischen Welt. Natürlich hat Platon die Philosophie weiterhin als Grundlage
für einen gerechten Staat angesehen, was heißt, dass nur durch eine Betei-
ligung der Philosophie an der Regierung das Unglück des Staates aufzuhe-
ben sei. Das war der Ausgangsgedanke des Siebten Briefs.
Umso mehr spricht das Ende dieses Paradigmas für unsere Frage: So-
lange man die Idee durch die Wirklichkeit nicht letztlich beeinträchtigt
findet í und das haben die Zeitgenossen Platons auch nicht radikal getan í,
solange sich sozusagen noch eine Zwei-Welten-Lehre denken lässt, solan-
ge kann die Philosophie noch Meister des Diskurses bleiben. Und das ist
die Philosophie ja, nicht zuletzt auf Platon gestützt, bis weit in das
20. Jahrhundert hinein gewesen. Dass Schleiermachers Übersetzung von
Platons Schriften eine unmittelbar einsetzende zustimmende und polemi-
sche Reaktion hervorrief í die Debatte zwischen esoterischer und exoteri-
scher Auslegung í, ist ein Beleg dafür.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 317
1
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in
20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 19, Frank-
furt/M. 1971, 28.
2
O. Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie, München 2005, 8.
318 Karl Heinz Bohrer
3
Vgl. Merkur, Nr. 439/440, 898–905.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 319
„Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff ‚Stil’ seinen
Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als
ein Gedanke! Sondern der Zustand vor den Gedanken, das Gedräng der noch
nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt,
wie sie war, bevor Gott sie schuf, í eine Recrudeszenz des Chaos (…) Das
Chaos macht ahnen (…).“4
Nietzsches Stil, das wird hier klar, sucht die Vermeidung eines absehbar
Gewussten, das jeder „Gedanke“ wohl enthält. Ganz gewiss der tradi-
tionelle philosophische Gedanke. Nicht zu reden von der geistesgeschicht-
lich vermittelten „Idee“. So sarkastisch wie das Vermeidungsgebot des
Gedankens ausgesprochen ist, so wird die Leerstelle, also der „Stil“, quali-
fiziert: als ein neues Medium der Philosophie, als Ausdrucksform eines
anderen Kreators. Und noch etwas Neues ist im Gedankenspiel: der Ges-
tus, dass der traditionelle, der abgegoltene, der konventionelle Gedanke í
kurz gesagt die Banalität an der philosophischen Tradition í nur vermieden
werden kann, wenn der zukünftige Gedanke Ausdruck eines bis dahin
nicht gekannten Impulses ist, eines Lebenselixiers, offenbar etwas autobio-
graphisch Verbürgtes.
4
F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchges. Aufl., München/Berlin/New York
1988, Bd. 6, 24.
322 Karl Heinz Bohrer
Das hat nach Nietzsche nur Robert Musil ähnlich geäußert, wenn er im
Mann ohne Eigenschaften die Abnutzung der „Idee“, die einen besonders
ausgezeichneten Zustand des Ichs begleitet, beschreibt:
„Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen ande-
ren Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie
wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze
oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose
Festigkeit angenommen.“5
Die Musilsche Erkenntnis vom Energieverlust der „Idee“ für die vom Ich
gesuchte Erfahrungskapazität des noch nicht Erfahrenen, noch nicht Ge-
sagten, ist die Fortsetzung der Absage Nietzsches an den „Gedanken“ qua
Stil. Umgekehrt wird die Originalität der subjektiven Wendung bei Nietz-
sche von Musils Sätzen her beleuchtet. Es versteht sich, dass Musil den
Begriff „Idee“ nicht mehr im objektiven Sinne Platons oder Hegels be-
nutzt. Seine Subjektivierung auf einen quasi autobiographischen Anlass
hin ist ein weiterer Hinweis auf unser Thema: was aus der Macht der Idee,
was aus der Philosophie geworden ist.
Aber der Stil implizierte natürlich schwerwiegende Inhalte. Unter
Nietzsches schwerer Munition war das Wort „Leben“ gewesen, also nicht
mehr das Denken selbst, sondern die große Totalität, innerhalb deren es
sich vollzieht. Henri Bergson vollendete die Richtung: auch er ein Analyti-
ker von Bewusstseinsvorgängen wie Nietzsche, aber mit neuem Erkennt-
nisinteresse. Das Wort „Leben“ hätte jedoch auch ohne die beiden Denker
nach 1900 Karriere gemacht í nicht nur als Referenzvokabel der „Lebens-
philosophie“. Die ganze neue Prosa der klassischen Moderne war ja voll
davon. Man suchte „moments of being“. Nicht bloß Virginia Woolf, son-
dern ebenso James Joyce und Marcel Proust oder Robert Musil. Und der
Surrealismus!
Virginia Woolf legte großen Wert darauf zu sagen, ihre „Seinsmomen-
te“ hätten nichts mit Platon zu tun. Das Gleiche gilt für Joyce hinsichtlich
der scholastischen Philosophie des „Scheins“. Heidegger hat das nur in
gewisser Weise intellektuell vertieft beziehungsweise „objektiviert“. Je-
denfalls kam Nicolai Hartmanns zum Teil noch heute beeindruckendes
Kategorienschema dagegen nicht mehr an. Die Niederlage der alten Sys-
tematik ist bewerkstelligt worden durch eine neue Nuance der Momentbe-
obachtung. Und die Abrechnung mit den Erben des Momentanismus wird
5
Musil, R.: Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes und Zweites Buch, hg. von Adolf
Frisé, 24. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, 354.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 323
Musil ist das klassische Beispiel hierfür. Kafka wäre ein anderes. Gewiss,
man müsste etwas genauer auf die Frage eingehen, was denn an Musils
oder Kafkas Prosa „philosophisch“ relevant ist. Vor allem: wodurch sie
denn zeitgleiche philosophische Systeme gedanklich überboten haben
könnten. Das ist hier nur anzudeuten: Man müsste dazu Musils Metaphern-
theorie und Kafkas paradoxe Parabolik untersuchen. Aber die Andeutung
des Sachverhalts einer subjektiven Gedanklichkeit mag genügen, um plau-
sibel zu machen, inwiefern der traditionelle universitäre Philosophiekata-
log, in dem von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas bis zu
Hume und Kant und schließlich Heidegger plus Wittgenstein die Inhalte
von Systemen angeboten werden, heute nicht mehr ausreichte, Menschen
mit theoretischer Phantasie bei der Stange zu halten.
Eine weitere Veränderung jenseits des Systemverlusts ist zu bedenken:
Ein besonderes Element der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vielleicht
schon ein Schritt zu ihrer Auflösung, war die Kulturkritik, von Sigmund
Freuds Unbehagen in der Kultur (1919) bis zur Dialektik der Aufklärung
(1947) von Horkheimer und Adorno. Es ließen sich eine Reihe weiterer
jüngerer Namení Arnold Gehlen, Herbert Marcuse, Gilles Deleuze, Giorgio
Agamben, Michel Foucault í anführen. Alle haben wohl in Friedrich Nietz-
sches Kulturkritik ihre Wurzeln. Die 1886 geschriebene zweite Vorrede
zum Aphorismustext Menschliches, Allzumenschliches enthält ihre Charak-
teristik, angefangen mit dem Untertitel Ein Buch für freie Geister. Ein freier
Geist ist für Nietzsche kein Freigeist im Sinne des 18. Jahrhunderts und
dessen moralischen und geschichtsphilosophischen Kategorien. Ein freier
Geist ist derjenige, der „gewohnte Wertschätzungen“ umkehrt, den die
„Neugierde“ nach einer „unentdeckten Welt“ antreibt, die „große Loslö-
sung“ von philosophischen Traditionen. Für Nietzsche war es vor allem die
idealistische Philosophie, Platon und der deutsche Idealismus. Aber davon
kann man hier absehen: Es geht um das neue Prinzip der originellen Sehwei-
se oder „Perspektive“, das Wort, das Nietzsche in die Moderne einführte.
Der spezifische kulturkritische Gestus, nämlich unabhängig zu denken,
die „Schule des Verdachts“ zu hegen, ist aber seit langem zu einer gängigen
Münze des modernen kritischen Intellektuellen geworden. Ist also Nietz-
sches Prinzip, „geschätzte Gewohnheiten“ umzukehren, heute noch anwend-
bar? Hinzu kommt ein Paradox von Nietzsches Kulturkritik: Sie warnt vor
dem metaphorischen Stil, den er selbst erfand: Der „Wahrheitssinn des
Künstlers“ sei nur schwach ausgebildet, er habe „in Hinsicht auf das Erken-
nen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker“. Und dann
setzt Nietzsche zu einer Charakteristik an, die jede Hoffnung auf außersyste-
matische Philosophie enttäuschen könnte: Der Künstler wolle „sich die glän-
zenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen“
und wehre sich „gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate“.
326 Karl Heinz Bohrer
seine Idee von der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwe-
sens zu begründen. Und ging so weit, sogar Derridas Denken als „freies
Phantasieren“ im Sinne einer „Verkehrung systematischer Pläne“ als End-
phase einer „ironistischen Theorie“ zu beglaubigen.6 Entscheidend ist í
auch wenn nicht alle Beispiele Rortys einleuchten í, dass der systemati-
schen Philosophie abgesagt wird im Namen einer neuen Sprache des Den-
kens. Dabei machte Rorty zwischen Dichtern und Denkern keinen Unter-
schied, insofern sie das Kriterium erfüllen: die Kapazität einer neuen
Sprache. Dann geraten Nietzsche, Proust und Hegel in die gleiche „literari-
sche“ Reihe. Denn die Phänomenologie des Geistes wird als ironistische
Theorie verstanden, also als eine Überholung der kognitiv-metaphysischen
Elemente der Philosophie. Rorty hat unsere Frage klar beantwortet:
Ist die Frage aber so zu beantworten? Als Jürgen Habermas zum Tode des
Freundes in Stanford 2007 die Abschiedsrede hielt, ging er mit keinem
Wort auf diese Frage ein. Warum sollte er auch? Er hatte ja buchstäblich
das letzte Wort. Und das wird überall sehr gehört. Allerdings: vornehmlich
und vor allem in Fällen der öffentlichen Moral und der Politik. Diese poli-
tische Rede des Philosophen aber würde das zu Eingang genannte Gesetz
von Platons Siebtem Brief nicht überstehen. Bei unserer Frage nach der
verlorengegangenen Macht der Philosophie spielte Nietzsche die zentrale
Rolle. Habermas hat dessen Denken und Argumente mehrfach scharf hin-
terfragt und gemeint, Nietzsche außerhalb des relevanten Diskurses setzen
zu können. Das muss ein anderer Grund dafür sein, dass er zu Rorty als
Leser Nietzsches nichts sagen zu müssen glaubte und Rorty mehr oder
weniger in der Reihe systematischen Denkens ansprach. Damit wich der
systematische Philosoph Habermas der Infragestellung der systematischen
Philosophie durch Rorty aber aus, wenn auch aus einem Anlass, der Takt
und Konsens empfahl, nicht Kritik und Dissens. Die Frage nach der Rele-
vanz der systematischen Philosophie hat heute vom Fall der öffentlichen
Verantwortlichkeit der Philosophie abzusehen, will sie nicht in die banale
6
Vgl. R. Rorty: Kontingenz, Ironie, Solidarität, übers. von Christa Krüger, Frank-
furt/M. 1989, 207.
7
Ebd., 141.
328 Karl Heinz Bohrer
Volker Gerhardt
Ausführliche Fassung der im Dezemberheft 739/2010 des Merkur erschienenen
Replik.
330 Volker Gerhardt
1
Wenn aber schon Namen der älteren noch lebenden Denker genannt werden, sollten
auch Karl-Otto Apel, Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Odo Marquard, Günther
Patzig, Peter Janich und Hans Poser nicht vergessen werden. Hinzu kommen Jürgen
Mittelstraß, Peter Rohs, Wolfgang Bartuschat, Otfried Höffe, Wolfgang Künne,
Wolfram Hogrebe, Henning Ottmann, Ludwig Siep, Wolfgang Kersting, Manfred
Sommer, Martin Carrier, Oswald Schwemmer, Wilhelm Vossenkuhl, Axel Hon-
neth, Julian Nida-Rümelin, Matthias Lutz-Bachmann, Dorothea Frede und Brigitte
Falkenburg. Auch Reinhard Brandt, Gerold Prauss, Günter Abel, Dieter Birnbacher,
334 Volker Gerhardt
6. Theoria sine praxi. Die Neigung ist groß, Bohrers Grau in Grau gemal-
tes Portrait der Gegenwartsphilosophie, das vor dem mit starken Farben
ausgefüllten historischen Hintergrund nur noch blasser wirkt, durch ein
anderes zu ersetzen. Das auch deshalb, weil er nicht erkennt, dass die The-
oriebildung in Deutschland in einem Aufbruch ist. Die Phase der doktrinä-
ren Selbstgenügsamkeit der sprachanalytischen Philosophie geht ihrem
Ende entgegen. Die jungen Philosophen sind auf Ausweitung und Anwen-
dung ihrer Fähigkeiten bedacht. Sie arbeiten zunehmend interdisziplinär,
vollziehen endlich die Hinwendung zu den Lebenswissenschaften, mit
Sein und Zeit und dem Denken nach der „Kehre“ zur deutschen Gegen-
wartsphilosophie.
Doch ich widerstehe der Versuchung, ins Detail der jüngeren deutschen
Philosophenszene zu gehen, und wende mich stattdessen dem Ansatz von
Karl Heinz Bohrer zu. Denn in den Prämissen seiner Evaluation liegt der
Grund für deren negatives Ergebnis. Dazu sei festgehalten, wie erfreulich
es ist, einmal von außen zu hören, dass von den Philosophen reine Theorie
erwartet wird. Gleichwohl ist dem darin liegenden Missverständnis mit
aller Entschiedenheit zu widersprechen: Aus dem Desinteresse an gesell-
schaftlicher Relevanz lässt sich kein Gütezeichen des Philosophierens ge-
winnen. Die Auszeichnung der theoria (also der bloßen „Schau“ des reinen
Denkens) war schon bei Aristoteles nicht eliminativ gemeint. Sie sollte nur
das äußerste Ziel des Philosophierens kenntlich machen. Die vita contem-
plativa stand als säkulare Gnade am Ende eines Wegs, der lebenslang
durch ein von Sorgen überschattetes philosophisches Gelände führte.
Unter neuzeitlichen Konditionen wird der Weg zum Ziel. Für ihn gilt
die kritische Einsicht Kants, dass der „praktischen Vernunft“ selbst in den
unaufgebbaren spekulativen Fragen der „Primat“ zukommt. Doch die histo-
rischen Stationen mögen sein, wie sie wollen: Als lebendige Wesen kom-
men wir nicht umhin, für alles, was wir tun, organische Ursachen, psychi-
sche Energien und soziale Triebkräfte anzunehmen. Also haben wir in allen
Fällen auch von einem Erkenntnisinteresse auszugehen. Es leitet uns selbst
dann noch, wenn wir davon überzeugt sind, dass der Distanzgewinn gegen-
über den Interessen zu den wichtigsten Leistungen des Erkennens gehört.
eine Frage sein. So groß er als Dichter auch sein mag, so eingeschränkt ist er
in seinem Urteil über die Philosophie. Natürlich steht auch er unter dem Ein-
fluss Nietzsches. Aber er folgt doch eher dem Strom der analytischen Er-
nüchterung, die von dessen Sprach-, Psychologie- und Metaphysikkritik
ausgeht und die im Wiener Positivismus zu großer Form gefunden hat. Hier
wären Fritz Mauthner, der Wittgenstein des Tractatus sowie Schlick und
Carnap zu nennen. Aber sind das die philosophischen Größen, die Bohrer
imponieren? Könnte er den späten Wittgenstein so loben, wie er es tut, wenn
er Musils Auffassung vom Philosophieren teilte? Müsste dann bei ihm nicht
auch die sprachanalytische Philosophie in höherem Ansehen stehen?
Ich räume ein, dass der Wiener Dichter gegenüber dem notorisch un-
terschätzten Nicolai Hartmann modern erscheint. Das Gleiche gilt, wenn es
um Musils ebenfalls von Nietzsche angeregte Theorie der Metapher geht.
Aber ist Musil die erste Instanz, um in Grenzfragen zwischen Literatur und
systematischer Philosophie herangezogen zu werden? Wie wäre es, wenn
wir einen der anderen großen Denker des 20. Jahrhunderts, sagen wir:
Thomas Mann zu Rate ziehen? Trotz der opulenten philosophischen Pas-
sagen in allen seinen Romanen, trotz seiner brillanten literarischen und
politischen Essays beharrt er auf der im Nachwort zum Doktor Faustus
gewissenhaft protokollierten Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft,
die den Anspruch beider Seiten wahrt, und die auch bei Thomas Mann
inmitten seiner Texte verläuft.
8. Die Ironie in der betonten Ironie. Bohrers großes Lob für Kurt Flasch
teile ich uneingeschränkt und auch für Richard Rorty habe ich, trotz man-
cher Einwände, große Sympathie. Er hat dem philosophischen Denken
auch in Deutschland wichtige Impulse gegeben. Die von ihm vollzogene
Selbstkritik der sprachanalytischen Philosophie, sein entspannter An-
schluss an die grundlegenden Einsichten des Pragmatismus sowie sein
Brückenschlag zum poststrukturalistischen Denken bezeugen seine intel-
lektuelle Kraft nicht weniger als seinen persönlichen Mut. Bei Bohrer er-
folgt die Auszeichnung dieses Denkers jedoch auf einer epochenkritischen
Leistungsskala. Am Ende muss ein kategorialer Modernitätsgewinn he-
rausspringen. Ich kann nicht sagen, dass mir ein Fortschritt dieser Art un-
lieb oder gar unheimlich wäre. Doch ich erkenne ihn nicht.
Mit dem Romantiker Friedrich Schlegel und mit dem Spätromantiker
Friedrich Nietzsche verknüpft Bohrer paradigmatische Veränderungen, die
das Vorangehende grundsätzlich veraltet erscheinen lassen. Das Versöhnli-
che an dieser diachronen Antithetik ist, dass im Neuesten das Älteste, wie
zum Beispiel der antike Mythos oder die Tragödie, wiederkehren. Aber in
der historischen Erkundung der modernen Geistesgeschichte führt sie zu
einem Notengefälle zwischen der für den Augenblick offenen, nur dem
338 Volker Gerhardt
steht, sondern weil sie sich, wie er findet, „zur klassischen Philosophie
gedanklich konkurrierend“ verhalte.
Die Unterscheidung setzt voraus, dass die klassische Philosophie we-
der essayistisch noch aphoristisch ist. Wäre dem so, würde sich der Be-
stand an philosophischen Klassikern beträchtlich dezimieren. Außerdem
entfielen jene Denker, deren Brief- und Nachlass-Editionen uns mit ihrer
aus dem Augenblick geborenen, ganz und gar „momentanistischen“ Apho-
ristik vertraut gemacht haben. Hierzu zählt der Systematiker Kant. Bohrers
Abgrenzungskriterium kann somit nicht als trennscharf bezeichnet werden.
Der Befund ändert sich nicht, wenn man die Reihe der Autoren durch-
geht, die als Beispiele für die Spielphilosophie der Essayisten genannt
werden: Sloterdijk, Žižek, Thomä, Vogl, Hogrebe und Seel. Die beiden
zuletzt Genannten sind durch mehrere, höchst beachtliche systematische
Arbeiten im Bereich der klassischen Philosophie hervorgetreten. Thomä ist
nach einer Aufsehen erregenden philosophiehistorischen Untersuchung
über Heideggers Verständnis des Selbst wesentlich durch die von Bohrer
wenig geschätzte, der „systematischen Praxisphilosophie“ zugeschlagene
Ratgeberliteratur hervorgetreten. Vogl ist als anerkannter Kulturwissen-
schaftler ein mit Recht viel beachteter Grenzgänger zwischen der französi-
schen und der deutschen Philosophie. Und die Heterogenität dieser Gruppe
verringert sich nicht, wenn man ihr Sloterdijk und Žižek voranstellt. Beide
allerdings sind, wenn ich so sagen darf, ausgemachte Praxisphilosophen.
Slavoj Žižek ist zwar für jede These gut, aber er hat vor noch gar nicht
langer Zeit für den „Mut“ plädiert, den „ersten Stein zu werfen“. Und Peter
Sloterdijk hat jüngst aus Rilkes religiös gestimmter Umkehrformel sein
brachiales: „Du musst dein Leben ändern“ gemacht.
Alle von Bohrer genannten Autoren nehmen aktuelle Themen auf, be-
handeln sie geistreich, schreiben gut und finden Aufmerksamkeit. Was
immer man von ihren Überlegungen im Einzelnen hält: Es wäre abwegig,
darüber zu streiten, ob sie Philosophen sind oder nicht. Ihr Erfolg bestätigt
die unverminderte Aktualität philosophischer Fragen, macht die Verbin-
dung zwischen Theorie und Lebenspraxis offensichtlich und gibt ein Bei-
spiel dafür, dass auch anspruchsvolles Denken ein größeres Publikum fin-
den kann. Es ist eine Stärke der Philosophie, dass sie so vielfältig sein kann,
und sie hat sich dagegen zu wehren, durch eine von außen stammende, ihrer
inneren Lebendigkeit und Vielfalt fremde Systematik in zwei Teile zerlegt
zu werden. Eine Separierung dieser Art muss zwangsläufig in die Frage
münden, auf welcher Seite denn die „wahre“ Philosophie betrieben wird.
Bohrer ist, wie man gleich sieht, um die Antwort nicht verlegen.
aber davon ausgehen, dass der vorher beiläufig zitierte Otfried Höffe dazu-
gehören soll. Da ich es war, der Bohrer vor Jahresfrist in einem freundschaft-
lichen Gespräch auf die disziplingeschichtliche Bedeutung der Ethikräte
hingewiesen hat, nehme ich mir die Freiheit, mich auch hinzu zu zählen. Im
Übrigen braucht man nur die Mitgliederlisten der nationalen, regionalen,
kommunalen, universitären, klinischen, und ständepolitischen Ethikräte
durchzugehen, kann die „publikumswirksamen Stichwortgeber für alle un-
gelösten Lebensfragen“ hinzu addieren und braucht nur noch jene „Universi-
tätsphilosophen“ aufzunehmen, die sich auf „religiöse Debatten“ (zwar nicht
„theologisch“, aber doch immerhin „moralisch“) einlassen – und schon hat
man die bunte Schar beisammen, die Bohrer unter seinem Systemtitel der
„systematischen Praxisphilosophie“ versammelt. Hier also findet man die
Repräsentanten der „Tendenz, die eigentlich mit Platons sizilianischem
Abenteuer zu Ende gegangen sein sollte“. Sie haben, so müssen wir das Dik-
tum aus dem Off der Literaturwissenschaften verstehen, den schon vor etwa
zweitausenddreihundertsechzig Jahren geschlagenen Gong nicht gehört.
Wer die große Zahl derer in den Blick nimmt, die unter Bohrers Katego-
rie der „systematischen Praxisphilosophen“ fallen, der wird leicht feststel-
len, dass hier reichlich großzügig geurteilt wird. Doch das soll kein Streit-
punkt sein, denn das Kriterium der „Praxis“ ist so weit gefasst, dass es alles
einschließt, was bewusstes Denken unter den Konditionen des menschli-
chen Daseins meint. Natürlich gehören auch Sloterdijk, Žižek, Thomä,
Vogl, Hogrebe und Seel dazu, die damit kein alternatives Gegenüber, son-
dern nur eine Teilmenge in der Gesamtheit der Philosophen bilden.
So gedeutet könnten vermutlich alle mit Bohrers Vorschlag leben. Das
Problem ist nur, dass dann alle Philosophen dem angeblichen Verdikt des
Siebenten Briefs verfallen. Die gesamte Philosophie, die mit einigem Recht
von einem bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts als Fußnote zu Platon
bezeichnet worden ist, wäre dann unter einem Missverständnis angetreten.
Für wahrscheinlich halte ich das nicht.
11. Ein Nachtrag zum Ethikrat. Die Arbeit in den zahlreichen Ethikräten,
die inzwischen in so gut wie allen Ländern der Erde tätig sind, hat einen
prinzipiellen Aspekt, den es bei einer Bewertung der Lage der Philosophie
zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bedenken gilt. Er hängt mit einer grund-
sätzlichen Wandlung zusammen, die neben der Philosophie vor allem das
Recht betrifft. Wer sie nicht beachtet, läuft Gefahr, die Epoche zu verfeh-
len, über die er spricht.
Das grundlegend Neue in der Geistesgeschichte der letzten zwei Jahr-
hunderte liegt weniger darin, dass Philosophen ältere Weltbilder revolu-
tionieren oder Dichter mit neuen poetischen Formen experimentieren.
Selbst ihr vereintes Bemühen, gesellschaftliche Revolutionen in Gang zu
Die Macht liegt in der Vielfalt 341
12. Der Blick von außen. Die These des letzten Punktes wird man schwer-
lich unter die Selbstverständlichkeiten rechnen können, die aus der dis-
ziplinären Sicht der Philosophie zu Bohrers wahrhaft anregendem Lage-
342 Volker Gerhardt
Durch dies und einiges Andere erhöht sich das Gewicht der schlechten
Note, die Bohrer der deutschen Gegenwartsphilosophie gibt. Deshalb wi-
derspreche ich mit meiner ausführlichen Antwort auch jenen, die seine
Schelte erst gar nicht an sich herankommen lassen. Es wäre auch falsch, sie
nur deshalb beiseite zu schieben, weil sich im Vergleich mit anderen Län-
dern andere Einsichten aufdrängen. Wer von China aus auf die deutschen
Verhältnisse blickt, der kann nur beklagen, dass wir die großen Problem-
felder der philosophischen Theorien, also die Theoretische und Praktische
Philosophie, die Ästhetik, die Anthropologie, die Kultur- und Religions-
philosophie sowie die Metaphysik, nicht mehr mit dem gebührenden schu-
lischen Ernst traktieren und die weiten Felder unserer philosophischen
Überlieferung brach liegen lassen.
13. Alles andere als positiv. Blicke ich zurück auf meine Erwiderung, die
in einer gekürzten Fassung bereits für den Merkur in Druck gegangen ist,
stellt sich die Befürchtung ein, Leser, die mich nicht kennen, könnten mei-
ne Replik für eine vorbehaltlose Verteidigung des Bestehenden halten. Das
ist sie gewiss nicht! Um das kenntlich zu machen, schließe ich mit einer
Handvoll kritischer Anmerkungen zur gegenwärtigen Verfassung der Phi-
losophie in Deutschland:
An erster Stelle ist das geringe Interesse der akademischen Philosophie
an ihrer eigenen philosophischen Überlieferung zu beklagen. Wer aus dem
Ausland kommt, ist entsetzt zu sehen, wie wenig Personal bei uns zur Er-
forschung der Tradition nicht nur von Meister Eckhart bis Pufendorf, son-
dern auch von Leibniz bis Cassirer und Blumenberg zur Verfügung steht.
Wir haben uns auch vorzuwerfen, dass wir die Geschichte des Denkens in
anderen Sprachräumen sowie in den außereuropäischen Kulturen vernach-
lässigen. Wer arbeitet über die Traditionen des Denkens in China und In-
dien? Nur ein paar rühmenswerte Einzelgänger, die aber in der die stan-
dards behauptenden community nicht ernst genommen werden. Wo findet
eine Auseinandersetzung mit der großen arabischen Philosophie des Mit-
telalters statt, der Europa so viel verdankt?2
2
Hier, wie vermutlich auch in anderen Punkten meiner Darstellung, bestätigen Aus-
nahmen die Regel. Um die Verbindungen der westlichen Tradition zur arabischen
Philosophie hat sich nun schon seit einigen Jahren die von der Volkswagen-Stiftung
mitfinanzierte Forschungsstelle „Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der
griechisch-arabisch-lateinischen Tradition” am Institut für Philosophie der Univer-
sität Würzburg unter Leitung von Professor Dag Hasse verdient gemacht. An der
Humboldt-Universität in Berlin besteht ebenfalls die Erwartung, die spätantike Phi-
losophie in Byzanz und die frühmittelalterliche Wissenschaft im arabischen Raum
näher zu erforschen.
344 Volker Gerhardt
tive Verfahren des philosophischen Denkens ist, ist dieser Schule ihre Auf-
lösung in Philosophie schon vorgezeichnet. Dass es sie unter dem redun-
danten, aber werbewirksamen Titel einer „kritischen Theorie“ immer noch
gibt, hat politische Ursachen, die mit der nachwirkenden Aktualität des
Marxismus unter den Bedingungen der deutschen Teilung zusammen hängt
und den noch nicht bewältigten Folgen ihrer Überwindung.
An fünfter und letzter Stelle stehe ein Wort zur Abspaltung der Kul-
turwissenschaften, die sich im Bewusstsein mancher ihrer Vertreter in
ausdrücklicher Abgrenzung von der Philosophie vollzogen hat. In irrtümli-
cher Identifikation des in den Geisteswissenschaften in Anspruch genom-
menen Geistes mit Hegels Geistbegriff, in abwegiger Deutung der dialekti-
schen Geistkonzeption als „substanzialistisch“ und in der unzutreffenden
Annahme, die Philosophie erschöpfe sich darin, eine Geisteswissenschaft
zu sein, wurde mit dem wesentlich in der deutschen Philosophietradition
zwischen Herder und Cassirer entwickelten Begriff der Kultur dem nach-
geeifert, was sich mit den Cultural Studies in den Vereinigten Staaten ent-
wickelt hatte. Dabei kam auch einiges zur Geltung, was in den Humanities
amerikanischer Provenienz betrieben wurde. Das führte rasch zu einer
großen Palette von Lehr- und Forschungsgebieten, die inzwischen ihren
eigenen Rang gewonnen haben. Es ist daher gar nicht mehr nötig, dass die
Professoren der Kulturwissenschaften im Außenverhältnis Wert darauf
legen, als Philosophen bezeichnet zu werden; es tut der Philosophie aber
auch keinen Abbruch, wenn es geschieht.
Auch wenn man nach einer relativ kurzen Zeit von etwa dreißig Jahren
noch nicht sicher sagen kann, ob sich die Kulturwissenschaften auf Dauer
etabliert haben, plädiere ich dafür, es so zu sehen. Es ist ein Zeichen der
Lebendigkeit der Philosophie, wenn sie neue Disziplinen aus sich entlässt.
Allein die Vervielfältigung der Medien und ihre enge Beziehung zu allem,
was mit der Kommunikation und Produktion des Menschen zu tun hat,
verdient eine besondere disziplinäre Aufmerksamkeit, die von der akade-
mischen Philosophie nicht auch noch erbracht werden kann. Das Gleiche
gilt mit Blick auf das Anwachsen des kulturellen Sektors unter den arbeits-
teiligen Bedingungen einer modernen Zivilisation. Schließlich kommen die
Fragen hinzu, die mit der aktualisierten Interdependenz der Kulturen im
beschleunigten Prozess der Globalisierung aufgeworfen sind. Das alles
erfordert theoretisch wie praktisch eine Beschäftigung mit den Problemen
der Vermittlung, der Erinnerung und der Vergegenwärtigung. Die Not-
wendigkeit eigener Forschung und spezialisierter Ausbildung ist, so meine
ich, offenkundig.
Das ist aus der Sicht der Philosophie nicht zuletzt deshalb so nach-
drücklich zu betonen, weil die Politik endlich einsehen muss, dass die Kul-
turwissenschaften für Aufgaben eigenen Rechts zuständig sind. Es kann
Die Macht liegt in der Vielfalt 347
nicht länger hingenommen werden, wenn der Aufbau der neuen kulturwis-
senschaftlichen Disziplinen auf Kosten der Philosophie betrieben wird, die
durch das Neue in keinem Punkt entlastet wird. Bisher aber ist die begrü-
ßenswerte Förderung der Kulturwissenschaften aus den mitunter brachial
freigesetzten Ressourcen der Philosophie erfolgt.
Das hat Spuren hinterlassen, die wohl zu erwägen sind, wenn man die
Defizite der deutschen Gegenwartsphilosophie beklagt. Sie selbst darf
darin jedoch keine Entschuldigung für die bestehenden Mängel sehen,
sondern hat mit ihren Leistungen innerhalb wie außerhalb der Institutionen
davon zu überzeugen, dass sie nach gut zweitausendfünfhundert Jahren, in
denen sie außer Medizin, Astronomie, Rhetorik und Geschichtsschreibung
so gut wie alle anderen Wissenschaften aus sich entlassen hat, so reich an
Fragen ist wie nie zuvor. Dem kommt das wachsende öffentliche und pri-
vate Sinnbedürfnis sowie das an die Philosophie herangetragene Interesse
an Weltorientierung entgegen.
Hinweise zu den Autoren
Roland Bernecker, geb. 1961 in Bendorf, ist seit dem 1. Dezember 2004
Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. Nach dem Studi-
um der Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Frankfurt
am Main und nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Deutschland, Italien
und Frankreich war er Direktor des deutsch-französischen Kulturinstituts
350 Hinweise zu den Autoren
Karl Heinz Bohrer, geb. 1932 in Köln; Studium der Germanistik, Geschich-
te und Philosophie in Köln und Göttingen; Promotion 1962 in Heidelberg;
Habilitation 1977 in Bielefeld. 1967–74 Literaturkritiker und Literaturblatt-
chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; 1974–82 Kulturkorrespondent
der FAZ in London. 1982–1997 Ordentlicher Professor für neuere deutsche
Literaturgeschichte und Ästhetik an der Universität Bielefeld; seit 2003
Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 Herausgeber des
Merkur. Veröffentlichungen: Surrealismus und Terror. Oder die gefährdete
Phantasie (1970), Der Lauf des Freitag. Utopie und Dichtung (1973), Die
Ästhetik des Schreckens (1978), Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästheti-
schen Scheins (1981), Der romantische Brief. Zur Entstehung ästhetischer
Subjektivität (1987), Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philoso-
phie gegen die literarische Moderne (1989), Das absolute Präsens. Die
Semantik ästhetischer Zeit (1994), Der Abschied. Theorie der Trauer
(1996), Die Grenzen des Ästhetischen (1998), Ästhetische Negativität
(2002), Ekstasen der Zeit (2003), Imaginationen des Bösen (2004), Großer
Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne (2007), Das Tragische. Er-
scheinung, Pathos, Klage (2009). Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Mythos
und Moderne (1983), Sprachen der Ironie und Sprachen des Ernstes (2000)
sowie die Reihe Ästhetica bei Suhrkamp (1994–2000).
schwierige Weg zur Freiheit. Europa an der Schwelle zu einer neuen Epo-
che (21995), Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Politik in einer
Zeit des Umbruchs (1996), Philosophie für die Welt. Die Popularphilo-
sophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants (2003), Der Maß-
stab der Menschenwürde. Christlicher Glaube, ethischer Anspruch und
politisches Handeln (2003), Gesellschaft neu denken. Einblicke in Umbrü-
che (2004), Arbeit für alle – kein leeres Versprechen (2005), Friedrich
Spee und Christian Thomasius. Über Vernunft und Vorurteil. Zur Ge-
schichte eines Stabwechsels im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert
(22006), Eine neue Ordnung der Freiheit (2007, co-ed.), Ethik in der Krise
der Ökonomie (2011). Er ist Mitherausgeber der philosophischen Schriften
Karol Wojtyáas und seit 2008 Mitglied im International Editorial Advisory
Board der Zeitschrift ETHOS (Lublin).
Volker Gerhardt, geb. 1944, Prof. Dr. Dr. h.c., Promotion 1974, Habilitati-
on 1984. 1985 Professor für Philosophie in Münster; nach Stationen in
Zürich, Köln und Halle seit 1992 Professor für Philosophie an der HU
Berlin. Honorarprofessor an der University of Wuhan/China. Seit 1998
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften; Vorsitzender der
Nietzsche-, der Kant-Kommission sowie der Wissenschaftlichen Kommis-
sion der Union der Akademien; Senator der Deutschen Nationalstiftung;
Nationaler und Deutscher Ethikrat; Hochschulbeirat der EKD; Grundwer-
tekommission der SPD; Vorsitzender des Konzils der HU Berlin. Buch-
veröffentlichungen: Vernunft und Interesse (1976), Immanuel Kant (zus.
mit F. Kaulbach, 1980), Pathos und Distanz (1989), Friedrich Nietzsche
(42006), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (22006), Vom Willen zur
Macht (1996), Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (1999),
„Berliner Geist“. Zur philosophischen Tradition der Berliner Universität
(zus. mit R. Mehring u. J. Rindert, 1999), Individualität. Das Element der
Welt (2000), Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität
(2001), Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002), Die angeborene Würde
des Menschen (2004), Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007), Exem-
plarisches Denken (2008), Existenzieller Liberalismus (2009), Die Funken
des freien Geistes (2011), Öffentlichkeit. Die politische Form des Geistes
(2011). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zur Ethik, Politik, Ästhetik
sowie zur Philosophie Nietzsches, Kants und Platons.
Theo Kobusch, geb. 1948, Studium der Philosophie und der Klassischen
Philologie in Gießen und Bern, Promotion 1972 (Bern), Habilitation 1982
(Tübingen), 1983–1988 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität
Bochum, 1990–2003 Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfra-
gen in Bochum, seit 2003 Professor für Philosophie an der Universität
Bonn. Veröffentlichungen u.a.: Studien zur Philosophie des Hierokles von
Alexandrien. Untersuchungen zum christlichen Neuplatonismus (1976),
Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache
(1987), L. Oeing-Hanhoff: Metaphysik und Freiheit. Gesammelte Abhand-
lungen (1988, co-ed.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer For-
schungen (1996, co-ed.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte
(1997, co-ed.), Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und
modernes Menschenbild (21997), Philosophen des Mittelalters (2000, ed.),
Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Post-
moderne (2001, co-ed.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spät-
antiken Denkens (2002, co-ed.), Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom
Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus (2002, co-ed.), Querdenker.
Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie (2005, co-ed.),
Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2006). Seit
1986 Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, zahl-
reiche Aufsätze zu den verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte.
John Marenbon, born 1955, BA 1976, MA, PhD 1980, LittD 2001 (all
Cambridge); Title A (junior research) Fellow, Trinity College, Cambridge
(1978), Title C (teaching) Fellow, Trinity College, Cambridge (1979–2004),
Title B (senior research) Fellow, Trinity College, Cambridge (since 2005);
Honorary Professor of Medieval Philosophy in the University of Cam-
bridge (since 2010); Fellow of the British Academy (2009). Publications:
From the Circle of Alcuin to the School of Auxerre (1981), Early Medieval
Philosophy (480–1150): an introduction (1983), Later Medieval Philoso-
phy (1150–1350): an introduction (1987), The Philosophy of Peter Abelard
(1997), Aristotle in Britain during the Middle Ages (ed. 1996), Medieval
Philosophy (1998, ed.), Aristotelian Logic, Platonism and the Context of
Early Medieval Philosophy in the West (2000), Poetry and Philosophy in
the Middle Ages (2001, ed.), Boethius (2003), Le temps, l’éternité et la
prescience de Boèce à Thomas d’Aquin (2005), Medieval Philosophy. An
354 Hinweise zu den Autoren
Lutz Möller, geb. 1973, studierte Physik an der LMU München und Philo-
sophie an der Hochschule für Philosophie München und der University of
Oxford. Diplom (2000) und Promotion (2004) in theoretischer Physik in
München. Seit 2004 Leiter des Fachbereichs „Wissenschaft, Menschen-
rechte“ der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn. Veröffentlichun-
gen: Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Allgemeine Erklärung der Bioethik
(2006), UNESCO-Biosphärenreservate: Modellregionen von Weltrang
(2007), UNESCO Science Report: Zusammenfassung (2010).
Jörn Müller, geb. 1969, Studium der Philosophie, Geschichte und Pädago-
gik an den Universitäten Bonn und Edinburgh, Promotion (2001) und Ha-
bilitation (2008) in Bonn, 2000–2001 Unternehmensphilosoph bei der
Biodata Information Technology AG, 2002–2007 wissenschaftlicher As-
sistent am Institut für Philosophie der Universität Bonn, 2007 Visiting
Scholar am de Wulf-Mansion Centre for Ancient and Medieval Philosophy
der Universität Leuven, 2007–2010 Lehrstuhlvertretungen für Geschichte
der Philosophie in Würzburg und Bochum, seit Oktober 2010 Akademi-
scher Rat am Institut für Philosophie in Würzburg. Veröffentlichungen
u.a.: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus
(2001); Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Rele-
vanz für die Ethik (2006); Das Problem der Willensschwäche in der mittel-
Hinweise zu den Autoren 355
Ada Neschke, geb. Hentschke (*Berlin 1942), Dr. phil. habil., emeritierte
Professorin. 1961–1968 Studium in Frankfurt und Heidelberg der Klassi-
schen Philologie, Philosophie und Politikwissenschaft, Promotion 1968,
Habilitation 1977 in Frankfurt für Klassische Philologie und Antike Philo-
logie. Seit 1969 Lehrtätigkeit in Frankfurt, Gastprofessorin in Lille III/F
und Louvain-la-Neuve (Lehrstuhl Cardinal Mercier).Von 1991–2006 or-
dentliche Professorin für antike Philosophie und ihre Wirkungsgeschichte
an der Universität Lausanne. Veröffentlichungen: Politik und Philosophie
bei Platon und Aristoteles (22004), Die Poetik des Aristoteles (1981), Pla-
tonisme politique et théorie du droit naturel, Vol. I: Le platonisme politi-
que dans l’Antiquité (1995), Platonisme politique et théorie du droit na-
turel,vol II: Platonisme et jusnaturalisme chrétien (2003), La naissance du
paradigme herméneutique (22008, co-ed.), Politischer Aristotelismus. Die
Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahr-
hundert (2008, co-ed.), Philosophische Anthropologie. Ursprünge und
Aufgaben (2008, co-ed.), Argumenta in dialogos Platonis, Teil I: Platonin-
terpretation und ihre Hermeneutik von der Antike bis zum Beginn des
19. Jahrhunderts (2010, ed.). Zahlreiche Aufsätze zur antiken Philosophie,
politischen Philosophie, philosophischen Anthropologie und Hermeneutik.
Michael Quante, geb. 1962, studierte an der FU Berlin und der WWU
Münster Philosophie und Germanistik. Staatsexamen (1989), Promotion
(1992) und Habilitation (2001) in Münster. Von 2004–2005 Professor für
Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Duisburg Essen; von
2005–2009 Professor für Praktische Philosophie der Neuzeit und Gegen-
wart an der Universität zu Köln und seit dem WS 2009 Professor für Philo-
sophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen: Hegels Begriff der
Handlung (1993), Ethik der Organtransplantation (2000), Personales
Leben und menschlicher Tod (2002), Hegel’s Concept of Action (2004,
pbk. 2007), Enabling Social Europe (2005), Einführung in die Allgemeine
Ethik (32008), Person (2007), Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische
356 Hinweise zu den Autoren
Thomas Reydon, geb. 1969 in Den Haag; Doppelstudium der Physik und der
Wissenschaftsphilosophie in Leiden, Promotion in Philosophie der Biologie
in Leiden mit einer Arbeit zum Artbegriff in der Biologie; 2004–2008
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zentralen Einrichtung für Wissen-
schaftstheorie und Wissenschaftsethik der Leibniz Universität Hannover, im
Zeitraum 2006–2008 mit einem Forschungsstipendium der Deutschen For-
schungsgemeinschaft zum Thema natural kinds in den Lebenswissenschaf-
ten; seit Ende 2009 Juniorprofessor für Philosophie der Biologie and der
Leibniz Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Bio-
logie, allgemeine Wissenschaftstheorie; daneben auch Interessen in Bio-
ethik & Wissenschaftsethik, Philosophie der Physik und Philosophie der
Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen: Current Themes in Theoretical
Biology: A Dutch Perspective (2005, co-ed.), Der universale Leibniz: Den-
ker, Forscher, Erfinder (2009, co-ed.). Mitherausgeber der Zeitschrift Acta
Biotheoretica (Dordrecht: Springer).
Martin Thomé, geb. 1960, Studium der Katholischen Theologie und der
Philosophie in Saarbrücken, Wien, Freiburg und Jerusalem, Promotion
1997 (Freiburg), 1992 Referent für Theologie und Philosophie an der
Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 2005 Wissenschaftsmanager in der
Geschäftsstelle der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz,
Bonn, 2006 Koordinator des Wissenschaftsjahres 2007: ‚Die Geisteswis-
senschaften – ABC der Menschheit‘ im Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) in Bonn, 2008 Koordinator des Wissenschaftsjah-
res 2009 ‚Forschungsexpedition Deutschland‘ ebd., seit Oktober 2009 im
Referat ‚Kulturelle Bildung‘ im BMBF; geschäftsführender Vorstand der
Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Integrative Wissenschaft; zahlreiche
Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Beratungstätigkeit für
Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Hochschulen und Kulturinstitutio-
nen. Veröffentlichungen: Existenz und Verantwortung. Untersuchungen
zur existenzial-ontologischen Fundierung von Verantwortung auf der
Grundlage der Philosophie Martin Heideggers (1998), Theorie Kirchen-
management: Potentiale des Wandels (1988, ed.), Einander zugewandt.
Die Rezeption des christlich-jüdischen Dialogs in der Dogmatik (2005,
ed.), Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte, Kueser
Akademie für Europäische Geistesgeschichte (erscheint seit 2010).
Personenregister