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Warum noch Philosophie?

Warum noch Philosophie?


Historische, systematische und
gesellschaftliche Positionen

Herausgegeben von
Marcel van Ackeren
Theo Kobusch
Jörn Müller

De Gruyter
ISBN 978-3-11-022375-0
e-ISBN 978-3-11-022376-7

Library of Congress Cataloging-in-Publication Data

Warum noch Philosophie? : historische, systematische und gesellschaft-


liche Positionen / herausgegeben von Marcel van Ackeren, Theo Kobusch
und Jörn Müller.
p. cm.
In German; 1 contribution in English.
Proceedings of a meeting held Nov. 24–26, 2008 at the Universität
Bonn.
Includes bibliographical references and index.
ISBN 978-3-11-022375-0 (pbk. : alk. paper)
1. Philosophy--Congresses. I. Ackeren, Marcel van. II. Kobusch, Theo.
III. Müller, Jörn, 1969- B53.W355 2011
100--dc22
2011012988

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2011 Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, Berlin/Boston


Cover image: EIGHTFISH/The Image Bank/Getty Images
Druck: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen
’ Gedruckt auf säurefreiem Papier
Printed in Germany
www.degruyter.com
Inhalt

Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller


Einleitung: „Warum noch Philosophie?“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Roland Bernecker
Grußwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13

I. PROBLEMSTELLUNG
Marcel van Ackeren, Jörn Müller
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen einer philosophischen
und sozialen Frage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17

II. PHILOSOPHISCHE POSITIONEN: DIE INNENPERSPEKTIVE

1. Philosophie in Antike und Mittelalter


Ada Neschke-Hentschke
Warum Philosophie? Die Antwort Platons im Licht der Differenz
von Theorie und Praxis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
John Marenbon
Why Study Medieval Philosophy?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65

2. Philosophie in Neuzeit und Gegenwart


Ludwig Siep
Warum praktische Philosophie der Neuzeit?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Ansgar Beckermann
Philosophie als analytische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105

3. Philosophie und Wissenschaft(en)


Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften . . . . . . . . . 127
Rainer Enskat
Philosophie und Wissenschaftstheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147
Michael Quante
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften. . . . . . . . . . 171
VI Inhalt

4. Philosophie und Lebenspraxis


Wilhelm Schmid
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? . . . . . . . . . . . . . . . 187
Theo Kobusch
Philosophie als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197

III. GESELLSCHAFTLICHE POSITIONEN: DIE AUSSENPERSPEKTIVE

1. Philosophie und Politik


Christoph Böhr
Die deliberative Gesellschaft: ein Brückenschlag von der
philosophischen Reflexion zur politischen Konstitution. . . . . . . . . . . . . 217

2. Philosophie und Nutzen


Jürgen Mittelstraß
Vom Nutzen der Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 251
Martin Thomé
Fragen, die keiner braucht? Zur Rolle der Philosophie
im Wissenschaftssystem. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267

3. Philosophie und Bildung


Klaus Draken
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? . . . . . . . . 281
Lutz Möller
Philosophie und UNESCO . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299

4. Philosophie zwischen Theorie und Praxis: Ein Disput


Karl Heinz Bohrer
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315
Volker Gerhardt
Die Macht liegt in der Vielfalt. Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrers
Kritik an der deutschen Philosophie der Gegenwart. . . . . . . . . . . . . . . . . 329

Hinweise zu den Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“

Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

I. Das Thema

„Die Wissenschaftskultur der Philosophie ist gefährdet.“ Unter dieser Titu-


latur wurde vor nicht allzu langer Zeit ein Interview veröffentlicht, das
Julian Nida-Rümelin, der frühere Kulturstaatsminister, der Information
Philosophie (H. 1, 2009) nach seiner Wahl zum Präsidenten der Deutschen
Gesellschaft für Philosophie im Herbst 2008 gegeben hat. Die Philosophie
– so seine Diagnose – laufe durch neuere Trends akut Gefahr, ihre bedeu-
tende gesellschaftliche Rolle als Kulturgut zu verlieren und in verschiede-
nen Bereichen der Gesellschaft (z. B. im Schulsektor) lediglich ein „Schat-
tendasein“ zu führen. Es gebe zwar eine vielgestaltige, aber letztlich doch
nur „kleinteilige öffentliche Rolle der Philosophie“. Deshalb müsse sie sich
auch unter den neuen bildungspolitischen Vorgaben, etwa bei der Ge-
staltung von interdisziplinären Bachelor- und Master-Studiengängen, fun-
damental neu orientieren und sich zugleich grundlegenden Fragestellungen
öffnen, ohne dabei ihre Geschichte und ihre eigene Wissenschaftskultur
(z. B. in Form von Buchpublikationen, die in Anlehnung an die Naturwis-
senschaften zunehmend durch Artikel in Fachzeitschriften verdrängt wer-
den) zu verleugnen.
Eine wesentliche Wurzel dieser diagnostizierten Gefährdung der Philo-
sophie im gesellschaftlichen Kontext und ihrer Wissenschaftskultur liegt
nun in einer Frage, die in einer zunehmend von Utilitätserwartungen ge-
prägten Forschungslandschaft in den vergangenen Jahren immer vehemen-
ter aufgekeimt ist: Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert werden?
Diese Frage zielt oft recht unmittelbar auf die (meist in einem Atemzug
gleich als nicht vorhanden unterstellte) ökonomische Nutzendimension ab
(Stichwort: „brotlose Kunst“), betrifft aber zugleich ein zentrales Problem-
feld der Philosophie in toto: Aus welchen Gründen bzw. mit welchen Zielen
und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben? Die Frage nach
dem Warum der Philosophie lässt sich somit nicht auf eine bloße Wozu-
Frage reduzieren. Und bei ihrer Beantwortung geht es auch nicht nur um die
„extrinsische“ Legitimation der philosophischen Tätigkeit z. B. gegenüber
Förderinstitutionen, sondern auch und wesentlich um ihr grundlegendes
2 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

inhaltliches und methodisches Verständnis, also um eine intrinsische Di-


mension: Die Frage, warum Philosophie eigentlich betrieben wird, kann
nur von einem Standpunkt aus beantwortet werden, der ein bestimmtes
Verständnis von Philosophie (implizit) voraussetzt oder (explizit) artiku-
liert. Dieses Verständnis wird nun in einem Wechselspiel von Innen- und
Außenperspektive konstituiert: Zum einen wird es geprägt vom Selbstver-
ständnis der Philosophen, zum anderen aber auch von politischen und ge-
sellschaftlichen Erwartungshaltungen gegenüber der Philosophie.
Das skizzierte Wechselspiel von Innen- und Außenperspektive in der
Beantwortung der für diesen Band titelgebenden Frage soll nachfolgend in
dreierlei Hinsicht zum Tragen kommen:
(1) Die Frage nach den Gründen für das Philosophieren ist nicht so neu,
wie sie manchmal erscheint: De facto hat sie eine lange Geschichte, in-
sofern sie seit der Antike selbst immer wieder im Sinne der sokrati-
schen Forderung nach dem Geben von Gründen bzw. dem Ablegen
von Rechenschaft (logon didonai) in ihrer Selbstanwendung auf das
eigene Tun explizit thematisch geworden ist. Eine grundlegende Be-
sinnung auf die historische Dimension der Frage und ihre Beantwor-
tung in verschiedenen Epochen kann einen wichtigen Beitrag dazu
leisten, drohende Engführungen in der gegenwärtige Debatte zu erken-
nen und ggf. zu überwinden.
(2) Die gegenwärtige philosophische Landschaft ist durch eine Vielzahl
verschiedener Richtungen und Ansätze gekennzeichnet: „Das“ Selbst-
verständnis „der“ gegenwärtigen Philosophie gibt es somit wohl nicht.
Je nach primärem Themengebiet und systematischer Ausrichtung
werden die Gründe für das Philosophieren also verschieden ausfallen.
Deshalb sollten verschiedene Ansätze gegenwärtigen Philosophierens
auf ihre Absichten und Ziele bzw. auf ihr Selbstverständnis hin be-
fragt werden.
(3) Die Philosophie ist Teil einer Gesellschaft, die ihr mit verschiedenen
Anspruchs- oder Erwartungshaltungen gegenüber tritt: Diese variieren
natürlich je nach involviertem gesellschaftlichen Bereich (Bildung, Po-
litik, Ökonomie, etc.), aber es ist unbezweifelbar, dass nach den Grün-
den für das Philosophieren nicht nur in der Philosophie selbst gefragt
wird. Die Einholung dieser „Außenperspektive“ ist von großer Bedeu-
tung, wenn die Philosophie sich nicht durch ein insulär formuliertes
Selbstverständnis (oder gar durch eine weitgehende „Diskursverweige-
rung“ nach außen im Blick auf ihre eigene Rolle in der heutigen Welt)
selbst in das von Nida-Rümelin befürchtete Abseits stellen möchte.
Die Frage nach dem Warum der Philosophie weist somit (1) historische,
(2) systematische und (3) gesellschaftliche Perspektiven auf, denen in
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 3

unserem Band gleichermaßen Rechnung getragen werden soll. Die über-


greifenden Leitfragen lauten dabei: Warum soll eigentlich überhaupt
(noch) philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen
und Absichten wurde und wird Philosophie überhaupt betrieben? Dies
involviert aus den oben angeführten Gründen in mancherlei Hinsicht
auch die Beantwortung der Frage, was man denn überhaupt unter Philo-
sophie versteht. Dabei haben wir die Autoren dieses Bandes dazu ermutigt,
möglichst programmatische Stellungnahmen abzugeben und klare Posi-
tionen im Blick auf das „Was“ wie auch das „Warum“ der Philosophie zu
konturieren.
Die Beiträge des Bandes gehen teilweise auf eine Tagung zurück, die
vom 24. bis 26. November 2008 im Fest- und Senatssaal der Universität
Bonn abgehalten wurde. Die finanzielle Förderung der Tagung erfolgte
durch den Stifterverband der Deutschen Wissenschaft, dem auf diesem
Wege noch einmal herzlich für diese Unterstützung gedankt sei. Eine
ideelle Förderung wurde der Veranstaltung zuteil durch die deutsche
UNESCO-Kommission, deren Generalsekretär, DR. ROLAND BERNECKER,
als Schirmherr fungierte. Aus diesem Grund ist den Beiträgen das Gruß-
wort von Herrn Bernecker zur Eröffnung der Tagung vorangestellt, in dem
er v. a. auf die Zielsetzung und die zunehmende Bedeutung des von der
UNESCO ins Leben gerufenen „Welttags der Philosophie“ abhebt, der
kurz zuvor am 20.11.2008 stattfand und in dessen Kontext die Veranstal-
tung angesiedelt war.

II. Die Beiträge

Der erste Beitrag von MARCEL VAN ACKEREN und JÖRN MÜLLER in Teil I
hat die Funktion, eine Art „Problemaufriss“ zu liefern und die wesentli-
chen philosophischen und sozialen Dimensionen der Frage nach dem Wa-
rum der Philosophie freizulegen, wie sie auch für die nachfolgenden Bei-
träge in grundlegender Weise relevant sind. Dabei wird u. a. versucht, dem
oft übersehenen inneren Zusammenhang der beiden Fragen nachzuspüren,
was Philosophie ist und warum sie eigentlich betrieben werden sollte.
Ausgehend von einer Bestandsaufnahme des fragmentierten Selbstver-
ständnisses der Philosophie in der Gegenwart wird ein Neuansatz vorge-
schlagen, in dem Philosophieren als eine inhärent teleologisch-funktionale
Tätigkeit gedeutet wird, deren Begriffsgehalt gar nicht unabhängig von der
Frage nach ihrem Wozu bzw. Warum geklärt werden kann. Als hermeneu-
tischer Passepartout für die Klärung dieser Frage wird die Auslotung des
Verhältnisses von Theorie und Praxis angeregt, das von der Antike bis in
die Gegenwart immer wieder den philosophischen Diskurs befeuert hat.
4 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

Von hier aus lässt sich dann auch die „von außen“ gestellte Frage nach
dem Warum der Philosophie und nicht zuletzt nach ihrem Nutzen im enge-
ren Sinne des Wortes fruchtbar thematisieren.
In Teil II des Bandes werden zuerst die historischen und dann die sys-
tematischen Bestimmungsversuche, also gewissermaßen die innerphiloso-
phische Perspektive in Geschichte und Gegenwart konturiert.
ADA NESCHKE-HENTSCHKE zeigt in ihrem Beitrag auf, dass in der
klassischen griechischen Antike wesentlich eine anthropologische Fundie-
rung der Philosophie angenommen wird. Aristoteles hat bekanntlich im
ersten Satz seiner Metaphysik das natürliche Wissensstreben als Charakte-
ristikum des Menschen akzentuiert; wie Neschke für Platon nachweist, ist
die Frage nach dem Wesen des Menschen hierbei von Anfang an wesent-
lich praktisch motiviert, nämlich als Frage nach dem Guten des Menschen
in Form von Leben und Handeln. Diese Frage ist zwar kein Privileg des
Philosophen, sondern allen Menschen eingeschrieben, aber die besondere
und alleinige Kompetenz der Philosophie, die Platon ihr in Gestalt der
Dialektik dafür zuschreibt, liegt gerade darin, diese Frage allgemeingültig
über die Erkenntnis der Idee des Guten beantworten zu können. Dabei
gerät der Ausgang vom Leben und der bleibende Sitz in ihm für die philo-
sophische Tätigkeit nie aus dem Blick: Die menschliche Praxis geht der
Theorie voraus und stellt für diese zugleich auch wieder die zentrale Ziel-
dimension dar, insofern Philosophie letztlich durch vernünftige Reflexion
zum gelingenden Leben (eudaimonia) auf individueller wie gesellschaftli-
cher Ebene befähigt. Der systematische Ursprungsort der Philosophie ist
somit das Leben selbst.
Mit besonderem Blick auf die mittelalterliche Philosophie diskutiert
JOHN MARENBON die Problematik, aus welchen Gründen man „alte“ Texte
als Philosoph überhaupt noch studieren sollte, und wirft damit letztlich die
Frage auf: „Warum noch Geschichte der Philosophie?“ Er stellt verschie-
dene Strategien vor, mit denen die Legitimation philosophiehistorischer
Lehre und Forschung regelmäßig betrieben wird, und prüft diese kritisch.
Sein eigener Vorschlag besteht darin, dass die Auseinandersetzung mit
historischen Texten erst grundlegend deutlich macht, was Philosophie als
Spektrum menschlicher Tätigkeiten ist bzw. sein kann, die zwar durch
keinen klar umrissenen Begriff vereinigt sind, wohl aber gewisse Famili-
enähnlichkeiten aufweisen. Für die mittelalterliche Epoche betont er, dass
trotz aller Überlappungen mit theologischen Fragestellungen ein philoso-
phischer Kernbestand ausweisbar ist, der eine Auseinandersetzung mit den
Texten unter philosophischem Gesichtspunkt weiterhin fruchtbar erschei-
nen lässt.
In ähnlicher Weise fragt LUDWIG SIEP nach der Rechtfertigung für die
Auseinandersetzung mit der praktischen Philosophie der Neuzeit. Er sieht
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 5

hier wesentlich zwei gewinnbringende Dimensionen für die Gegenwart


bzw. die heutige Philosophie: Zum einen hilft die Auseinandersetzung mit
der neuzeitlichen praktischen Philosophie dabei, eigene Denkvorausset-
zungen und den moralisch-politischen Common sense bewusst zu machen
und gegen Alternativen zu rechtfertigen; zum anderen lassen sich auf diese
Weise wichtige Vorstufen für heute anerkannte Normen und Institutionen
und damit auch gute Gründe für deren Legitimation finden. Siep zeigt dies
an den beiden Beispielen der Herausbildung individueller Grundrechte und
an der Problematik des „gerechten Krieges“ in völkerrechtlicher Perspekti-
ve auf. Generell betont er, dass die gegenwärtigen Probleme in Ethik und
Politik nicht immer nur durch den engführenden Blick nach vorn dominiert
werden sollten, sondern dass hier auch die Besinnung auf die praktische
Philosophie der Neuzeit einigen Ertrag zu bringen vermag, selbst wenn
diese keine unmittelbar praktikablen Lösungen anbietet.
Für das 20. Jahrhundert und damit auch noch für die gegenwärtige
Philosophie ist wohl kaum eine philosophische Richtung so einflussreich
gewesen wie die analytische Philosophie und die ihr zugrundeliegende
Auffassung, dass die Philosophie keine Aussagen über die Welt zu ma-
chen, sondern durch Sprachanalyse traditionelle philosophische Probleme
„aufzulösen“ bzw. als sinnlos nachzuweisen hat. ANSGAR BECKERMANN
zeichnet in seinem Beitrag nach, wie das Projekt der Abschaffung der
Philosophie durch logische Analyse der Sprache gemeinsam mit dem
empiristischen Sinnkriterium letztlich gescheitert ist. In jüngster Zeit ist
die analytische Philosophie deshalb vermehrt zu traditionellen Fragestel-
lungen zurückgekehrt, wie Beckermann an der religionsphilosophischen
Diskussion der verschiedenen Formen klassischer Gottesbeweise de-
monstriert: „Back to the classics“. Was analytische Philosophie heute
„ist“ und worauf sie abzielt, lässt sich nicht mehr in dieser Allgemeinheit
sagen, sondern nur an Hand konkreter Argumentationen in den einzelnen
Feldern bzw. Disziplinen der Philosophie aufzeigen. Die radikale Verän-
derung der analytischen Philosophie in den letzten Jahrzehnten lässt sich
aber zumindest via negationis noch in eine Formel kleiden: „‚Metaphy-
sik‘ ist kein Schimpfwort mehr, und das Ziel ist nicht mehr, Philosophie
durch logische Analyse der Sprache zu überwinden“, wie Beckermann
konstatiert.
Eine grundlegende Bestimmung der Philosophie, nachdem sich in
Neuzeit und Moderne die verschiedenen Natur- und zunehmend auch die
Geistes- und Sozialwissenschaften als eigenständige Disziplinen sektorali-
siert und aus der Philosophie emanzipiert haben, ist heute ihr Verhältnis zu
den anderen Wissenschaften. Diesem Themenkomplex widmen sich die
drei nächsten Beiträge: PAUL HOYNINGEN-HUENE und THOMAS REYDON
skizzieren zwei gängige Modelle der interdisziplinären Kooperation der
6 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

Philosophie mit den Einzelnwissenschaften: Während eine „normative


Wissenschaftsphilosophie“ durch die richtungsweisende Reflexion „über“
die Einzelwissenschaften deren Erkenntnisfortschritt befördern möchte,
wird eine „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ gemeinsam „mit“ den
Einzelwissenschaften selbst neue Erkenntnisse zu Tage zu fördern versu-
chen. Die eigene Antwort der beiden Autoren auf die Frage „Warum Wis-
senschaftsphilosophie?“ stellt in partieller Abgrenzung von diesen beiden
Modellen die Idee einer fragenden Wissenschaft als kritische Reflexionsin-
stanz in den Vordergrund: Durch permanente Hinterfragung der einzelwis-
senschaftlichen Modelle und Begriffe kann sie sowohl zu einem tieferen
Verständnis der involvierten Begriffe und Sachverhalte beitragen als auch
ggf. auf Holzwege aufmerksam machen, die unbedacht beschritten worden
sind. Als Kritikinstanz der Einzelwissenschaften vermag sie auf diese Wei-
se einen indirekten Beitrag zu deren Entwicklung und Erkenntnisgewin-
nung zu leisten, ohne selbst positives Wissen über die Welt zu produzieren.
Das Verhältnis zwischen Philosophie und allgemeiner Wissenschafts-
theorie wird von RAINER ENSKAT thematisiert: Er kommt auf der Basis
einiger Fallbeispiele (Duhem, Stegmüller) zu dem Resultat, dass sich das
Verhältnis von Wissenschaftstheorie und theoretischer Philosophie, das
meist im Fokus der Aufmerksamkeit steht, letztlich eher aporetisch dar-
stellt. Angesichts dieser wissenschaftstheoretischen Inkompetenz im theo-
retischen Bereich rückt dann zunehmend die praktische Philosophie ins
Blickfeld: In Abgrenzung von gängigen Beschreibungsmustern und Auf-
gabenzuweisungen (v. a. dem Kompensations- sowie dem Anti-Entfrem-
dungsmodell) betont Enskat die fundamentale Trias kognitiver Habitus:
Vorsicht, Umsicht und Rücksicht, als Bereich, für den die Philosophie als
„wichtigste reflexive Hüterin und Anwältin der praktischen Urteilskraft“
weiterhin zuständig ist: Indem sie nach den kognitiven Voraussetzungen
der Praxis (auch der wissenschaftlichen) fragt, orientiert erst die Philoso-
phie die Wissenschaftstheorie grundlegend über den Ort der lebenswelt-
lichen Praxis, an dem deren Tätigkeit angesiedelt ist.
Eines der ebenso lebenspraktisch wie wissenschaftlich relevanten
Themenfelder, in dem die Philosophie in jüngster Zeit ein neues Zuhause
gefunden zu haben scheint, stellt der Bereich der Lebenswissenschaften
dar. MICHAEL QUANTE untersucht im Rahmen einer normativen Reflexion
in kritischer Absicht, wie die Philosophie ihre Rolle im Kontext der Le-
benswissenschaften interpretiert und ausfüllen kann. Seiner Diagnose zu-
folge läuft die Philosophie hier gegenwärtig Gefahr, entweder durch Nach-
ahmung oder Akkommodation Selbstaufgabe zu betreiben oder durch
einen Eskapismus (z. B. in die Welt der ‚reinen‘ Begriffe) der Selbstmargi-
nalisierung im wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontext Vor-
schub zu leisten. Er argumentiert statt dessen für die These, dass die Philo-
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 7

sophie sich weder an die Methoden oder ontologischen Vorgaben der Na-
turwissenschaften anzupassen hat noch von deren empirischen Befunden
gänzlich abstrahieren sollte. Da es der Philosophie sowohl eso- als auch
exoterisch schadet, wenn sie sich der Herausforderung durch die Lebens-
wissenschaften nicht stellt und den an sie gesellschaftlich herangetragenen
Auftrag der Orientierung nicht übernimmt, plädiert er für eine aktive Ein-
mischung der Philosophie, die zwar nicht aus dem Gestus des überlegenen
Experten, wohl aber auf Augenhöhe mit den wissenschaftlichen Spezialis-
ten erfolgen sollte.
Unmittelbare lebenspraktische Relevanz scheint die Philosophie
schließlich dort zu besitzen, wo man ihr eine Funktion der „Lebenshilfe“
zuschreibt. Dies ist vor dem Hintergrund, dass sich etwa die antike Philo-
sophie als Lebensform bzw. Lebenskunst verstand, zwar eine in ihrer eige-
nen Geschichte angelegte Möglichkeit, wird aber gerade in der modernen
und gegenwärtigen Philosophie eher argwöhnisch beäugt. WILHELM
SCHMID prüft die Potenziale der Philosophie in diesem Bereich und kommt
zu dem Ergebnis, dass der Philosophie weiterhin sinnvoll die Rolle zuge-
sprochen werden kann, Menschen bei der Klärung von Lebensfragen und
damit bei ihrer individuellen Lebensorientierung zu helfen. Eine zentrale
Rolle spielt dabei das außerakademische philosophische (sokratische) Ge-
spräch, in dem eine Klärung von Sinndimensionen wie auch von grundle-
genden Begriffen geleistet wird: Auf diese Weise unterstützt Philosophie
die Strukturierung des „logischen“ bzw. geistigen Raums, in dem die ei-
genständige Urteilskraft zu gewinnen ist, mit deren Hilfe das Individuum
sein Leben dann neu orientieren kann. Philosophie ist dabei nicht normativ,
sondern stets beratend tätig, und im günstigsten Fall führt dieser Bera-
tungs- und Klärungsprozess auf Seiten der Gesprächspartner zur Entwick-
lung einer autonomen Lebensphilosophie, also zu einer reflektierten Auf-
fassung vom eigenen Leben.
Die von Schmid entwickelte Auffassung knüpft an seine Philosophie
der Lebenskunst an, die er im Anschluss an Michel Foucaults Spätwerk
entwickelt hat. Beide rekurrieren hierbei auf antike Vorläufer, insbesonde-
re die Stoa. Wie THEO KOBUSCH in seinem Beitrag zeigt, sind die Diffe-
renzen zwischen antiker und moderner philosophischer Lebenskunst aber
doch größer, als sowohl ihre gegenwärtigen Vertreter als auch deren sich
zunehmend zu Wort meldenden Kritiker wahrnehmen. Die moderne Vari-
ante der Philosophie als Lebensform, die wesentlich an Nietzsche an-
knüpft, sieht die philosophische Lebenskunst in einer Art ästhetischen
„creatio ex nihilo“, also einer Selbsterfindung bzw. -erschaffung im Voll-
sinne des Wortes: das Leben als Kunstwerk. Demgegenüber betont die in
der hellenistischen und christlichen Philosophie ausgebildete Philosophie
der Lebenskunst die Idee einer moralischen Selbsttransformation, die das
8 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

eigentliche Ich des Menschen freilegt und dabei an dessen Vorgeschichte


anknüpft. Damit steht auch ein anderer Begriff des Selbst im Vordergrund:
Während die moderne Spielart auf das empirische Individuum abhebt,
muss das Subjekt der antiken Selbsttransformation als ein allgemeines
verstanden werden. Aufgrund dieser fundamentalen Divergenzen geht nach
Kobusch die Kritik an der modernen Philosophie der Lebenskunst bei aller
Berechtigung letztlich an ihrer antiken Variante und ihrer Fortführung
durch die christliche Philosophie im Mittelalter vorbei. Da in dieser „vor-
modernen“ Lebensformphilosophie letztlich die strikte Scheidung von
Theorie und Praxis überwunden wird – nämlich in der Konzeption einer
das sittliche Selbst transformierenden „praktischen Metaphysik“, deren
Resonanzen noch bis in das 20. Jahrhundert hörbar sind – ist sie in ihrer
Lebensnähe zukunftsweisender als ihre selbsternannten modernen Erben
mit ihrer tendenziell ästhetisierenden Sichtweise.
Teil III des Bandes versammelt Beiträge, die sich der „Außenperspek-
tive“ der Philosophie widmen, also der Frage, wie der Sinn und der Nutzen
der Philosophie in verschiedenen gesellschaftlichen Segmenten wahrge-
nommen wird bzw. wie er sich in diesen Bereichen darstellt.
Den Anfang macht dabei das Verhältnis von Philosophie und Politik:
Aus der Sicht eines langjährigen (und in Philosophie promovierten) Politi-
kers beleuchtet CHRISTOPH BÖHR die mögliche Rolle der Philosophie für
Politik und Gesellschaft. Auf den ersten Blick erscheinen die beiden Sach-
bereiche nahezu inkompatibel, weil sie unterschiedliche Zielsetzungen
erstreben und divergente Erfolgskriterien verwenden: In der Philosophie
geht es um Erkenntnis, in der Politik prima facie um Macht. Doch Böhr
sieht in der Ablösung des autoritativen durch ein deliberatives Paradigma
von Gesellschaftlichkeit in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein
Potenzial der Philosophie in drei Bereichen: (a) auf einer konstitutiven Ebe-
ne, insofern die Konstitution des (herrschafts-)freien Subjekts immer an den
philosophisch zu begründenden Gedanken der Menschenwürde gebunden
ist; (b) auf einer kritischen Ebene, weil die Philosophie am Besten dazu
geeignet ist, die Autoreferentialität von bestimmten (vorzugsweise über die
Medien ausgetragenen) gesellschaftlichen und politischen Diskursen zu
enttarnen, die letztlich das für die Deliberation fundamentale Prinzip der
Reziprozität konterkarieren; (c) auf einer maieutischen Ebene (im sokra-
tischen Sinne), insofern freiheitlich-deliberative Gesellschaften bestimmter
Prinzipien der Beratung bedürfen, welche die Philosophie nicht normativ
vorgeben, bei deren diskursiver Geburt sie sich aber durchaus als Hebam-
me betätigen kann. Philosophie kann und soll also nicht selbst Realpolitik
betreiben, wohl aber den auf politischer Ebene stattfindenden, für die deli-
berative Gesellschaft kennzeichnenden Prozessen der Selbstvergewisse-
rung und –verständigung beratend und begründend zur Seite stehen.
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 9

Der Frage, welchen Nutzen die Philosophie in der modernen Welt ha-
ben kann, ist der Beitrag von JÜRGEN MITTELSTRAß gewidmet. Er betont
die Potenziale, die eine als voraussetzungslose, begründungsorientierte
Form des Denkens verstandene Philosophie für eine ansonsten von (wis-
senschaftlichen und politischen) Tunnelblicken geprägte Gesellschaft bie-
tet. Gerade weil sich in der modernen Welt wissenschaftliche, gesell-
schaftliche und politische Problemlagen in einer vielfältigen Weise
überkreuzen, die ihre Lösung durch einen partikularisierten Sachverstand
unmöglich erscheinen lässt (wie Mittelstraß es am Beispiel der Debatte
über das Klonen aufzeigt), bedarf es der Philosophie als einer vernunftori-
entierten Orientierungsinstanz, z. B. im klugen Umgang mit technischen
und wissenschaftlichen Entwicklungen. Da Orientierungsprobleme aber
stets auch begriffliche Schwierigkeiten involvieren, muss die Philosophie
gerade dort in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit dringen,
wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein mit ge-
wohnten und akzeptierten Überzeugungen schon zufriedengegeben hat.
Neben dieser aufklärerischen Funktion ist die Philosophie als Bildungs-
form auch geeignet, den der modernen Universität zugrundeliegenden
Gedanken der „Bildung durch Wissenschaft“ selbst wieder nachhaltig zum
Tragen zu bringen.
MARTIN THOMÉ stellt der Philosophie aus der Sicht der Wissenschafts-
förderung folgende Diagnose: Da Wissenschaft häufig über ihren Nutzen
für die Lösung aktueller drängender Probleme definiert wird, die Philoso-
phie aber vordergründig keinen Nutzen erbringt, droht ihre Bedeutung im
Wissenschaftssystem ins Hintertreffen zu geraten. Die Philosophie dürfe
auf diese Situation nun weder mit dem krampfhaften Versuch reagieren,
doch noch ihre volkswirtschaftliche Utilität auszuweisen, noch solle sie
ihre ‚Nutzlosigkeit‘ als Kriterium für ihre Schutzwürdigkeit ins Feld füh-
ren. Sie müsse sich vielmehr darauf besinnen, dass ihre Rolle im Wissen-
schaftssystem darin besteht, das ‚fragende Denken‘ als ihr Proprium zu
kultivieren und dem wissenschaftlichen Denken den Horizont des Fragens
offenzuhalten: Gerade weil der Wissenschaftsbetrieb heutzutage wesent-
lich als eine Art „Antwortmaschine“ mit immer enger abgestecktem Be-
deutungsumfang strukturiert ist, liegt der Beitrag der Philosophie nicht in
der Lieferung der besseren, abschließenderen und endgültigeren Antwor-
ten, sondern im Herausfinden und Formulieren der richtigen und guten
(und d. h. wesentlich der wissenschaftlich und gesellschaftlich weiterfüh-
renden, neue Horizonte eröffnenden) Fragen. Als Instanz für die Formulie-
rung von „Fragen, die alle brauchen“ kann sie zukünftig wieder eine maß-
gebliche Rolle im gegenwärtigen Wissenschaftssystem spielen.
Obwohl Sokrates bekanntlich in der platonischen Apologie (33a) be-
tonte, dass er eigentlich nie jemandes Lehrer gewesen sei, ist die Philoso-
10 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

phie doch seit ihren Anfängen auf das Engste mit dem Bildungs- und Er-
ziehungsbereich verknüpft. KLAUS DRAKEN widmet sich in seinem Beitrag
der Bedeutung der Philosophie für den Schulunterricht, mit besonderem
Blick auf die methodischen und didaktischen Vorgaben des Kernlehrplans
für das 2007 an nordrhein-westfälischen Schulen für die Sekundarstufe I
(Klassen 5–10) zusätzlich zum Philosophieunterricht der Oberstufe einge-
führte Fach „Praktische Philosophie“: Dieses ist auf die nicht weltanschau-
lich bzw. religiös gebundene, argumentativ-diskursive Behandlung von
Sinn- und Wertfragen verpflichtet. Methodisch steht dabei die Praxis des
dialogischen Philosophierens im sokratischen Stil im Vordergrund, das den
Schülern dazu verhelfen kann, sich Kompetenzen zu Problemlösungen in
variablen Situationen anzueignen – in Zeiten eines tiefgreifenden Wandels
der medialen Kommunikations- und Wissenskultur eine äußerst nachhalti-
ge Aufgabe. Draken sieht im schulischen Philosophieunterricht deshalb
auch das Potenzial, dass die Schüler im Rahmen sinngebender Reflexion
„durch Philosophieren zu einer autonomen Persönlichkeit“ werden. Er
reflektiert dabei aber auch den in den letzten Jahren vollzogenen Wandel
an den Schulen selbst, in der Fachdidaktik sowie in der Lehrausbildung
(Stichwort: polyvalenter Master of Education) und die sich daraus erge-
benden Problemstellungen und Herausforderungen.
Eine weitere Perspektive auf die Bedeutung der Philosophie für den
Bildungsbereich präsentiert LUTZ MÖLLER aus Sicht der UNESCO, also
der innerhalb der Vereinten Nationen für den Bereich Bildung, Wissen-
schaft und Kultur zuständigen Organisation: Er erläutert den Aufgabenbe-
reich der nationalen UNESCO-Kommissionen sowie ihre Beziehung zur
Philosophie, wobei ein gewisses Spannungsverhältnis sichtbar wird: Der
prinzipiellen Anerkennung der selbstzweckhaften Freiheit der Philosophie
als Wissenschaft steht in vielen Verlautbarungen und konkreten Projekten
auch immer wieder das Anliegen gegenüber, die Philosophie direkt in den
Dienst der Gesellschaft und der Ziele der Vereinten Nationen zu stellen,
indem sie auf die Legitimation von Demokratie, Menschenrechten und
einer „Kultur des Friedens“ verpflichtet wird. Möller reflektiert kritisch die
hier sichtbar werdende Tendenz, die Philosophie als eine Art „intellektuelle
Agentur des UN-Systems“ für eine Rechtfertigung heranzuziehen, die nicht
wirklich in ihrem Feld liegt. Das politische Bildungsziel der UNESCO, die
Förderung von unabhängigem und kritischem Denken als Gegengewicht zu
fundamentalistischen Weltsichten, könne nur durch eine „authentische“ und
d. h. nicht-instrumentalisierte Philosophie erreicht werden: Deren mögliche
Aufgabe in diesem Kontext sieht Möller in der grundlegenden Klärung von
Konzepten wie „Frieden“, „Dialog“ oder „Nachhaltigkeit“, die in der Poli-
tik der Vereinten Nationen eine zentrale Rolle spielen, ohne dabei doch
wirklich hinreichend „durchdacht“ zu sein. Sein Beitrag schließt mit einer
Einleitung: „Warum noch Philosophie?“ 11

Aufforderung an die Philosophen, dass sie sich „fortlaufend mit diesen


Fragen beschäftigen und gegebene Antworten auf diese Weltprobleme fort-
laufend hinterfragen und sich einbringen“ sollten.
Die Philosophen scheinen gut beraten, dieser Aufforderung nachzu-
kommen. Im berühmt-berüchtigten „Elfenbeinturm“ ist eine zukunftwei-
sende Antwort auf die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie jeden-
falls nach unserer Auffassung kaum zu finden. Nur wenn sie sich der in
dieser Frage artikulierten Herausforderung stellt, kann sie einen Einspruch
einlösen, den Julian Nida-Rümelin in seinem eingangs zitierten Interview
unzweideutig formuliert hat: Als „Mutterwissenschaft“ der heutigen For-
schungslandschaft soll sie auch weiterhin eine „Orientierungs- und Integra-
tionsdisziplin“ sein, und zwar in wissenschaftlicher ebenso wie in gesell-
schaftlicher Perspektive.
Der Frage, inwieweit die gegenwärtige Philosophie einem solchen An-
spruch überhaupt noch gerecht zu werden vermag, widmet sich die ab-
schließende Debatte zwischen KARL HEINZ BOHRER und VOLKER
GERHARDT. Die diesbezügliche Diagnose von BOHRER, dass die Philoso-
phie gesellschaftlich und wissenschaftlich nicht mehr den Einfluss besitze,
der ihr noch zum Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts zukam, verbin-
det sich mit einer Beobachtung der Entwicklung innerhalb der Philosophie
selbst in den letzten Jahrzehnten: den schleichenden Niedergang eines
systematischen bzw. systembildenden Philosophierens. Diese sei zuneh-
mend verdrängt worden durch eine an Nietzsche angelehnte essayistische
bzw. aphoristische Form des Philosophierens, welche die Philosophie nä-
her an die Literatur rücke. Diesen „Systemverlust“ deutet Bohrer nun kei-
neswegs als einen Flurschaden, da – wie er in Anlehnung an Platons sieb-
ten Brief ausführt – eine „systematische Praxisphilosophie“, die (z. B. in
Form der Mitwirkung an Ethikräten) auf gesellschaftliche bzw. politische
Zusammenhänge Einfluss zu nehmen versuche, ohnehin der falsche Weg
sei: Eine auf die Praxis abzielende Philosophie verliere ihren spezifischen
Charakter, der letztlich in einer reinen Theorie zu suchen sei, die sich aber
eher in Richtung der Kunst orientieren solle. Dem hält GERHARDT entge-
gen, dass dieser Versuch, die Philosophie von einer Kontaminierung durch
die Praxis zu bewahren, ihr letztlich wesensfremd sei: Die im Blick auf die
essayistische Richtung der Philosophie vollzogene Identifikation von Phi-
losophie und Kunst verfehle den immer schon präsenten Anspruch der
Philosophie, selbst eine auf Erfolg ausgerichtete Lebenspraxis zu sein.
Kritisch sieht er dabei schon generell die von Bohrer vollzogene Abgren-
zung von „systematischer Praxisphilosophie“ und „essayistischem Philo-
sophiespiel“, die nicht wirklich trennscharf sei und letztlich das Selbstver-
ständnis der Philosophie als „Einheit in Vielfalt“ verfehle. Auch die
Diagnose des „Machtverlusts“ der Philosophie vermag er mit Blick auf die
12 Marcel van Ackeren, Theo Kobusch, Jörn Müller

zunehmend interdisziplinäre und internationale Ausrichtung der Disziplin


nicht zu teilen: Gerade die diese Tendenzen verkörpernden Ethikräte seien
dadurch, dass sie zum auslegenden Teil der politischen Macht geworden
sind, ein Indiz für den realen Einfluss der Philosophie. Dabei erkennt Ger-
hardt durchaus an, dass die Philosophie des kritischen Blicks von außen
bedürfe, um nicht in fachinterne Selbstverständlichkeiten zu verfallen.
In dieser Debatte spiegelt sich brennglasartig das diesem Band insge-
samt zugrunde liegende Konzept der Verbindung von Innen- und Außen-
perspektive wider: Anstatt sich in ein insuläres Selbstverständnis und
Gehaben zu verstricken, sollte die Philosophie sich bewusst auf die wissen-
schaftliche und gesellschaftliche Sicht von außen einlassen, wenn es um die
Frage nach ihrem „Was“ und ihrem „Warum“ geht – obwohl das manchmal
unbequem sein kann.


Für wertvolle redaktionelle Unterstützung bei der Erstellung dieses Bandes möch-
ten wir uns herzlich bei Eike Brock und Thomas Grote bedanken.
Grußwort

Roland Bernecker

Ich freue mich, Sie im Namen der Deutschen UNESCO-Kommission zu


dieser internationalen Tagung begrüßen zu dürfen, die sich als ein Beitrag
zum UNESCO-Welttag der Philosophie versteht. Die Deutsche UNESCO-
Kommission hat sehr gerne die Schirmherrschaft über diese Veranstaltung
übernommen.
In diesem Jahr finden weltweit in über 80 Staaten Veranstaltungen zu
diesem UNESCO-Welttag statt. Die beeindruckende Liste der Tagungen
zeigt: Es gibt offenbar eine ganze Reihe von aktuellen Fragen, auf die man
mit Hilfe der Philosophie Antworten sucht.
Als der Welttag der Philosophie 2005 von der UNESCO ausgerufen
wurde, gab es auch kritische Stimmen, die fragten: Warum soll sich eine
zwischenstaatliche Organisation der Vereinten Nationen, der 193 Mitglied-
staaten angehören, mit Philosophie beschäftigen? Hat sie nicht genug Ande-
res und vielleicht auch Besseres zu tun, als sich in philosophische Debatten
einzumischen? In den Mandatsbereichen der UNESCO: Bildung, Wissen-
schaft, Kultur und Medien, gibt es für ein multilaterales Forum viele politi-
sche und praktische Fragen zu lösen. Auf diesen Einwand gibt es meines
Erachtens eine eindeutige Antwort. Die politischen Systeme und die zwi-
schenstaatliche Zusammenarbeit beruhen auf Grundlagen, Werten, Normen
und orientieren sich an Idealen, über die wir uns auch in den zwischen-
staatlichen Foren immer wieder neu verständigen müssen. In der Vielfalt
der Kulturen suchen wir auch die universellen Werte, die, mit einem Aus-
druck des UNESCO-Generaldirektors Matsuura, eine „gemeinsame Spra-
che der Menschheit“ sind. Dazu zählen insbesondere die universell gelten-
den Menschenrechte, die das Fundament der Vereinten Nationen bilden.
Es gibt kein demokratisches Politikverständnis ohne dauernde Reflexi-
on auf die Grundlagen unseres Zusammenlebens. Das wird uns in diesen
Monaten wieder deutlich vor Augen geführt. Die einseitige Ausrichtung
auf den wirtschaftlichen Erfolg schafft ein verkürztes Menschenbild und
droht, unsere Gesellschaften zu zerreißen.


Redemanuskript des Grußworts, mit dem die Tagung „Warum (noch) Philosophie?
Historische, systematische und gesellschaftliche Perspektiven“, die vom 24.–26. No-
vember 2008 an der Universität Bonn stattfand, eröffnet wurde.
14 Roland Bernecker

Wir brauchen mehr Philosophie. Wir brauchen mehr Mut zu einem


umfassenderen Nachdenken über Grundlagen und Finalitäten. Wir müssen
uns beharrlicher üben in der Methode des freien, auf Argumente und Über-
zeugungskraft sich stützenden Austauschs. Wir brauchen Philosophie als
Schule des kritischen Hinterfragens und des Weiterdenkens, des insistie-
renden Rückbezugs auf Sinn und Werte. Gerade auch die Einsicht in die
Grenzen des menschlichen Wissens kann zu einer größeren Gelassenheit
und Offenheit führen, die lernt, auch das Andere gelten zu lassen.
Die großen politischen Konzepte unserer Zeit arbeiten auf der Grund-
lage bestimmter gesellschaftlicher, man könnte auch sagen: philosophi-
scher Prämissen. Es lohnt sich, diese zu hinterfragen.
2005, 10 Jahre nach der Gründung der Welthandelsorganisation und des
Abkommens über den Handel mit Dienstleistungen, hat die UNESCO einen
Völkerrechtsvertrag über die kulturelle Vielfalt verabschiedet, der einen
Kontrapunkt setzt zur Politik der stetig weitergreifenden Marktöffnungen.
In ihrer Aufarbeitung der kulturellen Bildung sucht die UNESCO Antwor-
ten auf Bildungskonzepte, in denen die funktionale Verwertbarkeit von
Wissen immer mehr in den Vordergrund gerückt wird. Die stetige Aufwer-
tung des Religiösen mit seinem Anspruch der Nichthinterfragbarkeit seiner
Prämissen ist eine Rückbesinnung auf fundamentale Wertbindungen, sie
stellt jedoch auch wesentliche Grundzüge der Aufklärung in Frage – und
damit den grundlegenden Anspruch des Menschen auf Selbstbestimmung.
Wir brauchen die Philosophie heute mehr denn je. Das macht die Ar-
beit im zwischenstaatlichen Forum der UNESCO besonders deutlich. Wir
brauchen eine starke Präsenz der Philosophie in unseren Bildungsland-
schaften, um vor allem jungen Menschen Freude am offenen und neugieri-
gen Austausch und Vertrauen in das selbstbewusste Denken zu vermitteln.
In einigen Teilen der Welt wird diese Offenheit zunehmend in Frage ge-
stellt. Dies kann auch verstanden werden als Erwiderung auf ein westliches
Gesellschaftsbild, das mit der Zerstörung der ökologischen Lebensgrund-
lagen und einer zunehmenden Fixierung auf materielle Werte das Maß zu
verlieren scheint.
Die UNESCO befindet sich an der Schnittstelle zwischen konzep-
tioneller und politischer Arbeit. Es kann ihr nicht um akademische Zielset-
zungen gehen. Sie muss mit ihren 193 Mitgliedstaaten daran mitwirken,
tragfähige politische Normen und Instrumente zu entwickeln, die zu einer
gerechteren und friedlicheren Welt führen sollen. Das ist letztlich, auf einer
anderen Ebene, auch die Aufgabe der Philosophie, wenn man sie in ihrem
ursprünglichen Sinn als Streben zur Weisheit versteht.
Der UNESCO-Welttag der Philosophie ist erst wenige Jahre alt. Ich
wage die Vorhersage, dass er in Zukunft für die Ziele der UNESCO immer
wichtiger werden wird.
I.
Problemstellung
Warum Philosophie?
Zentrale Dimensionen einer philosophischen
und sozialen Frage

Marcel van Ackeren, Jörn Müller

I. Ein Fach in der Krise?

Glaubt man dem Feuilleton, muss es den Philosophen angst und bange
sein: Sie sind, wie Thomas Assheuer es unzweideutig formuliert hat, ge-
meinsam mit den anderen Geisteswissenschaften1 in einen „brutalen Über-
lebenskampf“ verstrickt, der sich einem nachhaltigen Verlust lange Zeit
unangefochtener gesellschaftlicher Selbstverständlichkeiten verdankt: „Es
ist eben nicht mehr selbstverständlich, dass Philosophen, Altertumswis-
senschaftler, Kunsthistoriker und Germanisten selbstverständlich sind.“2
Auch wenn das Jahr 2007 zum „Jahr der Geisteswissenschaften“ ausgeru-
fen worden ist: Vorüber sind offenbar die halkyonischen Tage, in denen
man zumindest meinte, nach außen keine Rechenschaft über das eigene
Tun geben zu müssen, weil dessen intrinsische Sinnhaftigkeit nicht ernst-
haft bestritten schien. Die strukturelle Neukoppelung der Wissenschaften
und Universitäten, bei der sie von ihrer früheren Anbindung an politische
Institutionen sukzessiv gelöst und zunehmend im Feld von Markt und
Wirtschaft neu verortet werden, erzeugt auf jeden Fall für die Geisteswis-
senschaften einen hohen Legitimationsdruck: Im Rahmen breiter Diskus-
sionen über die Effizienz von Ressourcenallokation und Gelderverteilung
ist das Überleben einzelner Institute und Fachbereiche elementar in Frage
gestellt, wie die jüngsten Entwicklungen gezeigt haben.
Nicht nur, aber gerade auch für die Philosophie als akademische Dis-
ziplin erhebt sich deshalb die Frage nach ihrer Existenzberechtigung: „Wa-
rum noch Philosophie?“ Diese Frage weist nun bei näherer Betrachtung
mehrere Relevanzebenen auf:

1
Vgl. Keisinger 2003.
2
Assheuer 2004.
18 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

(a) Die aktuelle Relevanz: Zum einen ist die Frage vor dem Hintergrund
der oben dargestellten Situation natürlich ein aktueller Fingerzeig in
Richtung der akademischen Philosophie, also eine Aufforderung an die
philosophischen Institute und Lehrstühle, einen Sinn oder Nutzen
nachzuweisen, der die finanzielle Subventionierung seitens der Gesell-
schaft legitim erscheinen lässt. Damit ist letztlich danach gefragt, wel-
che genuinen Leistungen für die Philosophie nach der Sektoralisierung
der Wissenschaften in der Neuzeit und Moderne eigentlich noch übrig
bleiben. Ist sie nur noch eine Residualwissenschaft, eine Restewissen-
schaft,3 der es bleibt Inkompetenz zu kompensieren?4 Was ist Philoso-
phie überhaupt bzw. was kann sie unter gegenwärtigen Bedingungen
noch sein?
(b) Die grundsätzliche Relevanz: Hinter dieser für den gesamten geistes-
wissenschaftlichen Sektor im Zuge der Ökonomisierung der Bildung
sichtbar gewordenen Problematik verbirgt sich jedoch eine Fragwür-
digkeit der Philosophie als ganzer (und eben nicht bloß als akademi-
scher Disziplin), welche sie von ihren Anfängen an begleitet hat: Wa-
rum brauchen wir die Philosophie überhaupt? Diese Frage kann
sowohl vor dem Hintergrund individueller als auch gesellschaftlicher
Bedürfnisse bzw. Anforderungen formuliert werden. Jeder Versuch,
von philosophischer Seite aus hier eine überzeugende Antwort zu ge-
ben, setzt jedoch eine Klärung dessen voraus, was hier eigentlich mit
„Philosophie“ gemeint ist. Jeder hat eine mehr oder minder klare Vor-
stellung von dem, was Historiker und Germanisten tun, aber als Philo-
soph schallt einem des Öfteren coram publico die Frage entgegen:
„Was machst Du denn als Philosoph eigentlich?“ Diese Frage zielt
nicht auf ein „Spezialgebiet“ innerhalb der philosophischen For-
schung, das man bedient, sondern auf die Tätigkeit als ganze.
(c) Die historische Relevanz: Man muss sich darüber im Klaren sein, dass
diese Frage nach ihrem „Warum“ die Philosophie von ihren Anfängen
an begleitet hat. Dies betrifft zum einen den stets virulenten Vorwurf,
die Philosophie produziere bloß „nutzloses Wissen“ – ein Topos, der
sich nicht erst der jüngsten Vergangenheit verdankt, sondern der be-
reits zum Bildungsgut der Antike gehörte. Zum anderen liegt diese
historische Relevanz auch darin, dass die Philosophen selbst, seit es
sie gibt, immer auch darüber nachgedacht haben, warum sie über-
haupt philosophieren und ob die Philosophie einen Nutzen hat.5

3
Vgl. Lohmann/Schmidt 1998, 8.
4
Vgl. Marquard 1976.
5
Die philosophische Überlieferung im Abendland beginnt mit zwei Berichten über
den ersten Philosophen Thales, die beide Aspekte widerspiegeln. Einerseits war er
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 19

Die drei Aspekte zeigen, dass die Philosophie (a) einem wachsendem äu-
ßeren Legitimitätsdruck ausgesetzt ist. Die Frage „Warum Philosophie?“
ist jedoch keine ärgerliche Frage, die eigentlich nicht zum Kanon der phi-
losophischen Fragen gehört, und erst durch eine äußerlich bedingte Krise
aufgekommen ist.6 Denn sie fragt zugleich (b) nach dem, was Philosophie
überhaupt ist bzw. unter den Bedingungen der Moderne noch sein kann.
Und (c) zeigt die Frage, dass es zumindest eine historische Kontinuität
gibt, die eben vielleicht spezifisch philosophisch ist: Im Gegensatz zu an-
deren Disziplinen gehört das Fragen nach der Sinnhaftigkeit des eigenen
Tuns zum festen Bestand der kanonischen Fragen, und zwar seit es philo-
sophische Fragen gibt.
Die elementarste Frage, von deren Klärung alle weiteren Diskussionen
über Sinn und Nutzen, über individuelle und gesellschaftliche Legitimation
der Philosophie abzuhängen scheint, lautet dabei ebenso einfach wie un-
vermeidlich: „Was ist Philosophie?“ Was die gegenwärtige Philosophie
hier als Antwort zu bieten hat, soll nachfolgend erst einmal kritisch gesich-
tet werden.

II. Was ist überhaupt Philosophie? Eine Bestandsaufnahme

Von der Philosophie lässt sich gegenwärtig vor allem sagen, dass sie im
Plural auftritt, und zwar in Gestalt zahlreicher „Bindestrich-Philosophien“:
Kulturphilosophie, Rechtsphilosophie, Naturphilosophie, Politische Philo-
sophie, Moralphilosophie, etc. Dies ist nun weniger ein Indiz für den brei-

aufgrund seiner (astronomischen) Kenntnisse in der Lage, einen großen Nutzen zu


erwirtschaften, weil er Vorhersagen über eine reichhaltige Olivenernte treffen
konnte, so dass er die Olivenpressen zu billigen Preisen anmieten und dann zur Ern-
tezeit für viel Geld verpachten konnte (vgl. DK 11 A 10). Andererseits machte ihn
die Betrachtung der Sterne, die Theorie, „lebensuntauglich“, weil er so nicht mehr
sah, was vor seinen Füßen lag und in Folge in einen Brunnen fiel, was ihm Geläch-
ter einbrachte (vgl. DK 11 A 9).
Zentrale Auseinandersetzungen zwischen Philosophen und Nicht-Philosophen, aber
auch philosophieinterne Diskussion ranken in der Antike um diese Themenfelder.
Einerseits besteht etwa zwischen Platonikern, Aristotelikern, Kynikern, Epikureern,
Stoikern und Skeptikern Einigkeit die Philosophie sei insofern besonders nützlich,
weil sie glücklich mache. So haben die Stoiker die Philosophie als die Ausübung
einer Kunst im Bereich des Nützlichen definiert (vgl. SVF 2, 35). Von sophistischer
(vgl. z. B. Platon, Gorgias 484c–486d) oder rhetorischer Seite (vgl. Isokrates,
Helena 4–5, und Diogenes Laertios, Vitae philosophorum VI 10) gab es wiederum
heftige Einwände gegen den von Philosophen selbst (z. T. in Werbeschriften, wie
dem aristotelischen Protreptikos) nach außen empfohlenen Nutzen der Philosophie.
6
Vgl. Lübbe 1978.
20 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

ten Anspruch der Philosophie als ganzer, sondern eher ein Zeichen der
gegenwärtigen Arbeitsteiligkeit, die auch in der Philosophie massiv Einzug
gehalten hat, und zwar nicht zuletzt im Bereich der professionellen akade-
mischen Philosophie: Viele verstehen sich eben nur noch als Experten für
eine bestimmte Art von Philosophie, die mehr oder weniger säuberlich von
ihren anderen Teilbereichen oder Disziplinen getrennt ist.
Aber wenn man hier von Disziplinen oder Teilbereichen spricht, unter-
stellt man damit doch implizit, dass für alle diese spezifischen Differenzen
noch eine nächsthöhere Gattung existiert, die sie umfasst. Diese Frage nach
der Einheit der Philosophie stellt sich gerade vor dem Hintergrund der sich
immer weiter vertiefenden Arbeitsteiligkeit der Philosophen umso dringli-
cher: Liegt den verschiedenen Verwaltungseinheiten, den Instituten, For-
schungsbereichen und Lehrstühlen für Philosophie wirklich noch ein Be-
griff von Philosophie zugrunde? Oder gibt es nur eine Pluralität von
Philosophien, die unterschiedliche Ziele verfolgen?7 Und was ist mit den
diversen Formen außerakademischen Philosophierens, den philosophischen
Praxen und Zirkeln, sowohl für sich als auch in ihrem Verhältnis zum pro-
fessionellen „Betrieb“ betrachtet?
Auch mit Blick auf die Geschichte der Philosophie stellt sich die Frage
nach ihrer inhaltlichen Bestimmung. Aus vielen Themenfeldern, welche
die Philosophie zu ihrem Gegenstandsbereich zählte, hat sie sich zugunsten
diverser Einzelwissenschaften zurückgezogen. So behandelt der Hauptteil
des Corpus Aristotelicum Themen, die in den aktuellen systematischen
Debatten der Philosophie keinen Stellenwert mehr haben.8 Ähnliches gilt
natürlich für andere, heute eigenständige Disziplinen wie Astronomie oder
Psychologie. Dass dieser Prozess der Geburt von Einzelwissenschaften aus
dem Schoße der Philosophie schon abgeschlossen ist, muss nicht per se
angenommen werden, aber weitere Entwicklungen in diesem Bereich wür-
den zwar das kontinuierliche Innovationspotential der Philosophie betonen,
aber tendenziell ihren eigenen, genuinen Arbeitskreis weiter einengen und
damit die Problematik eher verschärfen.
Angesichts der historisch erfolgten Einengung des Aufgabenfeldes
und der heutigen Arbeitsteilung bleibt die Frage: „Was ist Philosophie?“ –

7
„Wer in der inneren Vielfalt ‚der‘ Philosophie einen ‚Skandal‘ sieht, unterschiebt
ihr dogmatisch einen einzigen Zweck.“ (Lenk 1974, 10)
8
Den biologischen Schriften fällt mit mehr als 300 Bekkerseiten allein schon vom
Umfange her das größte Gewicht innerhalb des Corpus Aristotelicum zu. So ist z. B.
das Zentralwerk der aristotelischen Biologie, die Historia animalium (153 Seiten in
der Edition von I. Bekker), umfangreicher als die noch in der heutigen Aristoteles-
Diskussion dominanten Schriften, z. B. die Metaphysik (114 Bekker-Seiten) oder
auch die Politik (91 Bekker-Seiten)
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 21

als Suche nach Bestimmung dessen, was diese verschiedenen Institutionen


und Tätigkeiten heute noch zu umfassen vermag – auf jeden Fall beste-
hen.9 Was hat die philosophische Selbstverständigung hier nun momentan
zu bieten?
Vielen gängigen Bestimmungen zufolge ist Philosophie eine Lehre,
und zwar (a) vom Erkennen überhaupt oder von den Prinzipien der Ein-
zelwissenschaften, indem ihre Grundlagen und Methoden überprüft und
geklärt werden, (b) von einem allgemeinen Weltbild, dass die Erkenntnisse
der Einzelwissenschaften zusammenfügt, (c) als Untersuchung der Nor-
malsprache oder (d) von einer Idealsprache.10 Sehr ähnlich werden drei
Paradigmen unterschieden: (a) ontologisch, (b) linguistisch und (c) menta-
listisch.11 Bemerkenswert ist die Auffassung, dass Philosophie entweder
eine Lehre oder aber ein Lebensmodell sei, aber immer nur eines von bei-
den und nie eine Kombination.12
Die eingangs skizzierte institutionelle Situation scheint somit den Um-
stand widerzuspiegeln, dass es keine Einigung darüber gibt, was Philosophie
ist. Mit N. Luhmann kann festgehalten werden, dass auch in der Philosophie
bestimmte Themen Trends haben (oder „in Mode“ sind); weiter wird es –
zumindest den Philosophiehistoriker – nicht verwundern, dass auch das Ver-
ständnis dessen, was Philosophie im Kern ausmacht, eine Geschichte hat.
Allgemeine Definitionen von Philosophie sind (oft notwendig) unzu-
reichend oder problematisch, insofern sie Entscheidendes über (oder von)
Philosophie nicht thematisieren. So suggerieren sie teilweise, dass es Phi-
losophie objektiv und unabhängig von Menschen gäbe, so wie Planeten
Gegenstand einer wissenschaftlichen Betrachtung sein können, ohne dass
sie in ihrer Existenz von dem jeweiligen Betrachter abhängen. Jedoch gibt
es außerhalb von Menschen (Subjekten) keine Philosophie, insofern Philo-
sophie eine menschliche Tätigkeit ist – und auch wenn das nach einem
Truismus klingt, sind die Implikationen dieser Feststellung von höchst
weitreichender Natur.
Eine dieser Implikationen ist, dass die Frage, was Philosophie ist, sich
nicht objektiv ein für alle Mal entscheiden lässt. Das liegt nun nicht nur

9
Vgl. Zimmerli 1978 sowie neuerdings die Beiträge von Stekeler-Weithofer/Tetens
2010.
10
Vgl. Wörterbuch der philosophischen Begriffe (1998), Eintrag „Philosophie“, 498 f.
Zum Selbstverständnis der verschiedenen philosophischen Strömungen und Rich-
tungen des 20. Jahrhunderts vgl. Salamun 52009.
11
Vgl. Ulfig 1992, Eintrag „Philosophie“, 319–322. Einen historischen Überblick, aus
dem die Tendenz zur Theoretisierung gut hervorgeht, findet sich bei Sandkühler
1990 und besonders ausführlich ders. 1999.
12
Vgl. Hügli/Lübcke 1992, 491 f.
22 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

daran, dass es außerhalb von und ohne Menschen keine Philosophie gibt.
Dies gilt auch für ein Philosophiekonzept, dem zufolge es nur um den
Wahrheitswert von Sätzen geht. Sowohl die Referenzobjekte philosophi-
scher Sätze und deren Wahrheitswert können vielleicht objektiv und unab-
hängig von Menschen bestehen. Aber Philosophie als Tätigkeit – soweit
Sätze für sie konstitutiv sind – ist nur mit und durch den Menschen existent.
Denn einerseits betreiben, so weit wir wissen, Tiere keine Philosophie (und
Götter auch nicht, weil sie die Weisheit schon haben, nach welcher der
Philosoph als Liebhaber der Weisheit strebt); zum anderen gab es die Philo-
sophie nicht, bevor es den Menschen gab, und es gibt sie auch heute nicht
unabhängig von uns, wie es Naturphänomene unabhängig vom Menschen
gibt. Ferner gilt, dass die für die Philosophie charakteristischen Urteile in
sprachlicher Form vorliegen und es also für das Erkennen dieser sprachli-
chen Ausdrücke als Philosophie Menschen geben muss, die diese Sprache
verstehen. Die sprachlichen Zeichen werden erst zur Philosophie, wenn
jemand ihre Bedeutung verstehend nachvollzieht.
Insgesamt lassen sich die gängigen Philosophiedefinitionen primär da-
durch charakterisieren, dass sie Philosophie in Analogie zu anderen Wis-
senschaften (die ja auch genuine Betätigungen des Menschen als Men-
schen sind) über (a) Gegenstand und/oder (b) Methode zu bestimmen
versuchen. Beide Kriterien zeigen sich allerdings entweder hinsichtlich
ihrer Trennschärfe nach außen oder bezüglich ihrer Inklusionskraft nach
innen als problematische Orientierungsgrößen. Durch die neuzeitliche
Sektoralisierung der Wissenschaften scheint es kaum noch Gegenstände zu
geben, auf welche die Philosophie einen Alleinanspruch erheben kann,
weshalb der Philosophie dann meist ein auf die Gesamtheit der Welt aus-
gerichteter „Totalitätsanspruch“ zugeschrieben wird: „Während wissen-
schaftliche Erkenntnisse auf je einzelne Gegenstände gehen, von denen zu
wissen keineswegs für jedermann notwendig ist, handelt es sich in der
Philosophie um das Ganze des Seins, das den Menschen als Menschen
angeht, um Wahrheit, die, wo sie aufleuchtet, tiefer ergreift als jede wis-
senschaftliche Erkenntnis.“13 Doch das genau ist auch der Anspruch ande-
rer „Welterklärungssysteme“, etwa der Religionen, so dass auch hier keine
Monopolstellung der Philosophie beansprucht bzw. nachgewiesen werden
kann. Natürlich kann hier durch eine Kombination der genannten Momente
eine gewisse Abgrenzung erreicht werden, etwa in dem Sinne, dass die
Philosophie das Ganze der Welt ausschließlich mit den Mitteln der Ver-
nunft (und d. h. nicht zuletzt: unter Verzicht auf jegliche Form von supra-
naturaler göttlicher Offenbarung) zu erfassen versucht. Doch der Verweis

13
Jaspers 21957, 9 f.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 23

auf eine spezifische Methodik, die im Erkenntnisvermögen der Vernunft


begründet sein soll, erscheint vor dem Hintergrund der Diskussion um die
vielfältigen Formen der Vernunft in der zweiten Hälfte des zwanzigsten
Jahrhunderts auch eher diffus;14 ob diese Vernunft nun deduktiv oder in-
duktiv, synthetisch oder analytisch zu verfahren hat, ist schon philosophie-
intern ein stets umstrittenes Thema gewesen.
Kurzum: Die Versuche einer Bestimmung der Philosophie über Gegen-
stand und Methode scheinen systematisch eher in der Aporie zu landen;
historisch führen sie meist zu Verkürzungen, insofern sich das Verständnis
der Philosophie in den seltensten Fällen auf die Frage nach Gegenständen
oder Methoden reduzieren lässt.

III. Warum Philosophie? Ein Neuansatz

Da sich Bestimmungen der Philosophie über Gegenstand und Methode


eher als unzureichend erwiesen haben, erscheint es fruchtbar, hier andere
Wege zu beschreiten. Anstatt direkt nach einer klassischen Definition mit
genus proximum und differentia specifica zu suchen, könnte man ver-
suchshalber die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie thematisieren,
also die Frage nach dem „Was“ der Philosophie über die Bestimmung ihres
Zwecks in Angriff nehmen. Um diese auf den ersten Blick nicht weniger
global und tendenziell aporetisch anmutende Warum-Frage für unsere
Zwecke wirklich fruchtbar zu machen, muss sie allerdings erst in ihrer
ganzen Bedeutungsbreite konzeptualisiert werden. Sie weist bei näherem
Hinsehen folgende Dimensionen auf:
(1) eine ätiologisch-genetische Dimension: Hier geht es um die Antwort auf
die Frage, warum Menschen überhaupt philosophieren bzw. wie die Phi-
losophie in die Welt gekommen ist. Schon früh haben Philosophen selbst
diese Frage thematisiert: Nach Platon hebt die Philosophie allgemein mit
dem Staunen (thaumazein) an, das den Menschen zu grundlegenden
Fragen veranlasst;15 Aristoteles sieht in der Philosophie im wesentlichen
eine Kulturleistung, die in einem elementaren Streben bzw. Bedürfnis
der menschlichen Natur begründet liegt: „Alle Menschen streben von
Natur aus nach Wissen.“16 Fraglich ist hier nicht nur das Problem der
Entstehung oder des Ursprungs (etwa im Sinne der Frage, wen man als
den „ersten“ Philosophen sui generis bezeichnet), sondern auch, in-
wiefern in diesem Anfang ein Motiv sichtbar wird, das die historische

14
Vgl. hierzu exemplarisch die Analysen bei Welsch 1996.
15
Vgl. Platon, Theaitetos 155d.
16
Vgl. Aristoteles, Metaphysik I 1, 980a 21.
24 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

Persistenz der Philosophie erklärbar macht: Ist Philosophieren vielleicht


ein menschliches Grundbedürfnis, eine Art anthropologische Konstante,
die sich in verschiedenen historischen Konstellationen in einer jeweils
zeitgemäßen Form verwirklicht? Oder ist das Philosophieren etwas, zu
dem die Menschen aus einer bestimmten endogenen oder exogenen
Bedürftigkeit heraus veranlasst werden? Hier wäre das Philosophieren
eine Antwort auf eine bestimmte Mangelsituation, die wiederum art-
spezifisch oder individuell verstanden werden kann.
Gerade wenn man Philosophie nicht nur unter dem Aspekt einer durch
sie ermöglichten oder auf ihr beruhenden Lehre bzw. Theorie versteht,
sondern als eine genuin menschliche Tätigkeit, verspricht diese ätiolo-
gisch-genetische Problematik einige Einsichten für die Frage nach dem
Wesen der Philosophie abzuwerfen. Zugleich wird das Verhältnis zwi-
schen der Philosophie und ihren Akteuren, den Menschen, fokussiert.
Um ein Wort Heideggers aufzugreifen: Wenn Zukunft wirklich Her-
kunft braucht, darf diese Fragedimension nicht vorschnell als ein Ge-
genstand rein historischer Kuriosität abgetan werden, sondern muss in
ihrer möglichen anthropologischen Relevanz bedacht werden.
(2) eine teleologische Dimension: Wozu wird überhaupt philosophiert?
Was ist der Zweck der Philosophie? Mit dieser Frage kann mindestens
zweierlei gemeint sein: (a) ein immanenter Sinn oder (b) ein externer
Nutzen der philosophischen Betätigung. Nicht immer sind diese As-
pekte klar und deutlich voneinander getrennt, und man sollte sich auch
vor der vorschnellen Vermutung hüten, dass hier ein exklusives „Ent-
weder – Oder“ vorliegt. Die Auskunft etwa, dass der philosophischen
Betrachtung auf Grund des Wertes bzw. des hohen ontologischen Sta-
tus ihrer Gegenstände eine hohe Sinnhaftigkeit zukommt, schließt etwa
nach Platon nicht aus, sondern sogar notwendig ein, dass damit auch
ein Nutzen verbunden ist.17 Im Blick auf den Nutzen ließe sich natür-
lich noch einmal differenzieren in einen individuellen Nutzen, den der
einzelne Philosophierende von dieser Tätigkeit hat, und einen gesell-
schaftlichen Wert. Gerade die Frage nach einer sozialen Funktion bzw.
Dimension der Philosophie ist in Anbetracht des allgemein auf den
Geisteswissenschaften lastenden Legitimationsdrucks keineswegs zu
vernachlässigen – wobei diese Frage eben viel älter ist, als manche
meinen.18 Insgesamt ist die Frage nach dem Zweck der Philosophie ein

17
Vgl. hierzu van Ackeren 2003.
18
Bereits die Existenz der oben (vgl. Anm. 5) erwähnten protreptischen (Werbe-)Schrif-
ten und dann die Virulenz der Kritik am nutzlosen Wissen im Hellenismus belegen,
dass die Philosophen in der Antike sich sowohl intern als auch außerakademisch in-
tensiv damit beschäftigt haben.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 25

ständiger Begleiter der Philosophie, und zwar sowohl in der internen


Debatte als auch in der Auseinandersetzung mit nicht-philosophischen
Opponenten. Was trägt nun eine Klärung dieses „Wozu“ für das Ver-
ständnis der Frage nach dem Wesen der Philosophie aus?
Dass die Frage nach dem Zweck zentral für die Bestimmung eines Begriffs-
gehalts sein kann, lässt sich am leichtesten an funktionalen Begriffen zei-
gen: Wer ein Werkzeug – z. B. einen Dosenöffner – definieren möchte, kann
dies nicht hinreichend tun, ohne Bezug auf den Zweck des Geräts zu neh-
men: Eine noch so genaue Beschreibung des Aussehens, der Farbe, der
Form etc. würde immer noch nicht klarmachen, was diesen Gegenstand zum
Dosenöffner macht. Dies gilt im übrigen nicht nur für unbelebte Gegenstän-
de: Wer beschreiben möchte, was ein Arzt ist, wird nicht ohne die Erwäh-
nung des Ziels ärztlicher Tätigkeit, nämlich die Heilung des Patienten aus-
kommen; auch hier ist es der teleologische Sinnkontext der Tätigkeit, die sie
erst als eine solche identifizierbar macht. Unsere Hypothese lautet nun, dass
es sich bei der Philosophie bzw. um einen eben solchen Terminus handelt,
der nicht ohne Bezug auf ein sachimmanentes telos hinreichend verstanden
werden kann, und zwar gerade weil Philosophieren wesentlich als eine in-
tentionale (und damit zugleich zweckgerichtete) Tätigkeit zu begreifen ist.
In der Antike etwa stand fest, dass das Ziel der philosophischen Tätigkeit in
der Erlangung des Glücks besteht; diese „eudaimonistische“ Zielsetzung
war dabei kein externer Zweck, der jenseits des Philosophierens lag, son-
dern der Sinn, der gerade in der und durch die philosophische Betätigung
konstitutiv realisiert wurde.19
Die Frage nach dem „Wozu“ der Philosophie ist nach unserem Ver-
ständnis keine der eigentlichen Begriffsklärung äußerliche (die man allen-
falls noch zusätzlich klären kann), sondern eine den Gegenstand zutiefst in
seiner inneren Struktur betreffende. Die Frage nach der Definition der
Philosophie lässt sich adäquat nur über die Reflexion auf ihre sinnhafte
Bestimmung beantworten.

19
Vgl. exemplarisch Cicero, De finibus bonorum et malorum V 86: „Omnis auctoritas
philosophiae consistit in beata vita comparanda; beate enim vivendi cupiditate in-
censi omnes sumus.“ Diese Telos-Formel ist auch noch bei Augustinus lebendig;
vgl. De civitate Dei XIX 1: „Da es aber für den Menschen keine andere Ursache
zum Philosophieren gibt außer die, dass er glückselig wird, und was ihn dazu
macht, eben das Endgut ist, bleibt als Ursache des Philosophierens nichts außer die-
sem Endgut. Was daher das höchste Gut nicht verfolgt, ist nicht philosophische
Denkweise zu nennen.“
26 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

IV. Theorie und Praxis als Leitbegriffe für die Bestimmung


der Philosophie „von innen“

Auf der Basis der oben vorgetragenen Überlegungen läge es nahe, die Frage
nach der Bestimmung der Philosophie einfach direkt unter dem „Warum“-
Aspekt zu stellen. Doch sowohl in historischer als auch in systematischer
Perspektive könnte sich ein solcher „head-on-approach“ als weniger ertrag-
reich erweisen, als man auf den ersten Blick annehmen möchte:
Zum einen finden sich selten Antworten, die auf die verschiedenen ge-
nannten Aspekte eingehen; meist findet man eher eine begriffliche Engfüh-
rung der Problematik in Richtung von Fragen wie: „Woher kommt die
Philosophie?“ oder „Was (bzw. wem) nützt die Philosophie?“ Viele histo-
rische und auch gegenwärtige Debatten leiden darunter, dass sie in gewis-
ser Weise hinken, weil sie die Frage „Warum Philosophie?“ nicht in ihrer
ganzen Bedeutungsbreite in den Blick bekommen.
Zum anderen zeigt sich in begriffs- und problemgeschichtlicher Per-
spektive, dass diese Frage seltener explizit gestellt wird, als man vermuten
könnte. Dabei ist auch keineswegs immer gewährleistet, dass die Proble-
matik als ein integraler Bestandteil des eigenen Philosophierens begriffen
wird: Zwar sind die vorhandenen Antworten je nach philosophischer Cou-
leur deutlich eingefärbt, aber sie nehmen meist keine wirkliche Systemstel-
le im Ganzen ein und tragen deshalb allzu oft Manifest-Charakter.
Ein Weg, diese Schwierigkeiten zu überwinden, bestünde darin, sich
der Frage indirekt über die Untersuchung eines begriffs- bzw. problemge-
schichtlichen Zusammenhangs zu nähern, der auch die heutige Diskussion
noch zu befruchten verspricht, nämlich im Blick auf das Begriffspaar von
„Theorie“ und „Praxis“, das letztlich ein der Philosophie selbst entsprun-
gener Topos ist. Wie langlebig und durchgängig präsent das Spannungs-
verhältnis dieser beiden Termini in der Philosophie ist, zeigt sich bereits
daran, dass über den ersten Philosophen Thales sowohl die Anekdote er-
zählt wird, er sei lächerlicherweise wegen seiner Betrachtung in einen
Brunnen gefallen, aber zugleich berichtet wird, er habe aufgrund derselben
Betrachtungen einen großen (auch finanziellen) Nutzen haben können.20
Schon wegen dieser historischen Persistenz bietet sich das Begriffspaar
von Theorie und Praxis als hermeneutischer Schlüssel an; es bietet insge-
samt als Angelpunkt der Betrachtung folgende systematische Vorteile:
(1) Der Langlebigkeit dieser Konzepte korrespondiert eine vielschichtige
Begriffsgeschichte, die immer wieder bemerkenswerte Überkreuzun-
gen deutlich macht:

20
Siehe oben, Anm. 5. Vgl. hierzu auch Blumenberg 1987.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 27

– Antike wie moderne Positionen treffen sich oft auf dem Boden der
Vorstellung, dass Philosophie im Sinne einer Tätigkeit zu begrei-
fen ist: Dies verbindet in gewisser Weise so weit auseinander lie-
gende Denker wie Platon,21 Aristoteles22 und Wittgenstein23, und
in Heideggers Brief über den Humanismus findet sich das schöne
Diktum: „Das Denken handelt, indem es denkt.“24 Die hellenisti-
schen Philosophenschulen betonen den praktischen Aspekt der
Philosophie, indem sie als „Lebenskunst“ beschrieben wird,25 und
auch in der heutigen philosophischen Landschaft ist diese Idee
kraftvoll wiederbelebt worden.26 Hinzu kommt, dass die Suche
nach theoretischer Erkenntnis in der Neuzeit (etwa bei F. Bacon)
häufig dem praktischen Ziel der Naturbeherrschung dient. Die Bei-
spiele ließen sich beliebig vermehren. Philosophie hat also nicht
nur, wie in der Ethik bzw. Moralphilosophie, Praxis zum Gegen-
stand, sondern sie wird ebenso häufig als Praxis begriffen.
– Doch mindestens ebenso oft wird Philosophie sowohl in der
Selbst- als auch in der Fremdwahrnehmung als „Theorie“ bestimmt
– je nach Standpunkt mit pejorativen Untertönen oder im emphati-
schen Duktus. Darin äußert sich aber zugleich auch ein Anspruch,
der sich auf die Philosophie als ein theoretisches Unterfangen bzw.
Projekt richtet, nämlich die Idee eines umfassenden und tiefgrei-
fenden Verständnisses der Welt in toto. Demzufolge geht es um
die Betrachtung der Welt und ihrer substanziellen Strukturen von
einer höheren Warte aus. Dass Theorie das Medium des Philoso-
phen ist, dürfte auch noch heute relativ unstrittig sein, was philo-
sophische Theorie im einzelnen ist (oder z. B. angesichts der Er-
kenntnisse der modernen Wissenschaften noch sein kann), bietet
hingegen durchaus Anlass zu Kontroversen.
– Auch das Verhältnis von Theorie und Praxis ist ein seit der Antike
bis zur Frankfurter Schule höchst umstrittener philosophischer
Dauerbrenner. Dies betrifft nicht zuletzt das Verhältnis von Leben
und Lehre: Wird Philosophie (wie in der Antike) als „Lebens-
form“ betrachtet, erscheint eine Trennung dieser beiden Größen
künstlich.27 Für Heraklit etwa ist Weisheit „Wahres sagen und es

21
Vgl. Platon, Apologie 29c.
22
Vgl. Aristoteles, Metaphysik IX 6, 1048b 18–34, wo das Denken (phronein bzw.
noein) als energeia charakterisiert wird.
23
Wittgenstein 1922, § 4.112: „Philosophy is not a doctrine, but an activity.“
24
Heidegger 1976, 145.
25
Vgl. Horn 1998.
26
Vgl. Schmid 1998.
27
Vgl. hierzu die richtungsweisenden Arbeiten von Pierre Hadot, z. B. ders. 2002.
28 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

tun“.28 Für die Neuzeit hingegen konstatiert Kant einen grundle-


genden Trend zur Dissoziierung von Theorie und Praxis: „Man
muss doch nicht immer speculieren, sondern auch einmal an die
Ausübung denken. Allein heut zu Tage hält man für einen
Schwärmer, der so lebt wie er lehrt.“29 Wie diese beiden Begriffe
von Theorie und Praxis gegeneinander oder miteinander verortet
sind, sei es in deskriptiver oder in normativer Hinsicht, lässt meist
fundamentale Rückschlüsse auf das zu Grunde liegende inhaltliche
Verständnis der jeweiligen Philosophie zu. Die Erörterung der
Theorie-Praxis-Relation zeigt sich gerade in der Selbstreflexion
des Philosophen sogar als ein wesentliches Proprium philosophi-
scher Tätigkeit überhaupt.
(2) Im Verständnis dieser beiden Begriffe und ihrer Verhältnisbestimmung
werden sowohl die ätiologisch-genetischen als auch die teleologischen
Aspekte der Frage nach dem „Warum“ der Philosophie angesprochen:
Philosophieren als grundlegende menschliche Tätigkeit, Sinn und Nut-
zen der Philosophie – all’ diese Aspekte lassen sich in nuce in der Fra-
ge nach dem adäquaten Verständnis von Theorie und Praxis sowie der
Beziehung zwischen den beiden bündeln.
Dabei ist es natürlich von besonderer Wichtigkeit, den historischen Wandel
der beiden Begriffe selbst in die Reflexion mit einzubeziehen. Doch
nichtsdestoweniger liegt hier eine Art Lackmustest vor: Was ein Philosoph
über Theorie und Praxis zu sagen hat, spiegelt exemplarisch sein Ver-
ständnis von Philosophie wider.
Kurzum: Die Frage nach der der Bestimmung von Theorie, Praxis und
der Relation von Theorie und Praxis
(a) macht in ausdifferenzierter Weise etwas über eine jeweils vertretene
Bestimmung von Philosophie deutlich, indem sie nach anderen Aspek-
ten als bloß nach Gegenstand und Methode fragt;
(b) betrifft zugleich elementar die historische Entwicklung des Philoso-
phieverständnisses;
(c) thematisiert indirekt die Frage nach dem Nutzen von Philosophie und
betrifft somit eine mögliche Dimension des Selbstverständnisses der
Philosophie, die in ihrer sozialen Relevanz zugleich über sie hinausweist.
Gerade der letzte Aspekt macht deutlich, dass die Klärung dieser Fragen
letztlich über ein rein innerphilosophisches Gespräch hinausreicht.

28
DK 22 B 112.
29
Kant 1980, 12.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 29

V. Die Bestimmung der Philosophie „von außen“


und die Frage nach ihrem Nutzen

Die Frage nach dem Nutzen der Philosophie ist von besonderem Interesse,
weil sich hier Selbst- und Fremdverständnis der Philosophie berühren.
Zum einen wird von manchen Fachvertretern (z. B. H. Lübbe30) argumen-
tiert, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie eine ärgerliche
Frage sei, weil diese Frage selber nicht zum Kanon der philosophischen
Themen gehöre und erst durch eine (philosophie-)historisch bedingte Legi-
timitätskrise aufgekommen sei.31 Weil die Frage demnach „von außen“ –
und historisch-sozial bedingt32 – an die Philosophie herangetragen werde,
störe sie das eigentliche in diesem Sinne nicht rechenschaftspflichtige Ge-
schäft der Philosophie.33 Ganz in diesem Sinne dekretiert etwa B. Russell
ein unmissverständliches Postulat der „Nutzenfreiheit“ der Philosophie:
„Thus utility does not belong to philosophy“.34 Im Rekurs auf die Histori-
zität von Philosophiebestimmungen hat R. Bubner jedoch darauf hingewie-
sen, dass die Frage nach dem Nutzen der Philosophie schon immer ein Teil
derselben, zumindest der antiken Philosophie, gewesen ist und dass sich
die Frage „Wozu Philosophie?“ nur im Rückgriff auf die Geschichte der
Philosophie beantworten lässt.35 Es fragt sich, ob etwa die Herausgeber
großer Gesamtdarstellungen der Philosophie Lübbes Position zumindest
implizit teilen, wenn Sie den Nutzen von Philosophie explizit keinen Raum
in einer Darstellung des Faches einräumen.36

30
Lübbes Position ist vor dem Hintergrund der großen Studie Der Prozeß der theore-
tischen Neugier in Blumenbergs Legitimität der Neuzeit zu sehen. Ganz abgesehen
von der Tatsache, dass Blumenbergs Ausführungen zur theoretischen Neugier bei
den einzelnen Autoren in der Antike unbedingt zu überprüfen sind, ist bemerkens-
wert, dass er selbst der Ansicht ist, Philosophie bestehe in eben jener theoretischen
Neugier. Für Blumenberg beschreibt der erste Satz der aristotelischen Metaphysik,
dem zu Folge die Menschen von Natur aus nach Wissen streben, die Grundstim-
mung der Antike, die sich damit gegen die Sokratische „Verengung des Blickes“
und „Relativierung des Universums des Seienden“ durch die Ethik wendet.
31
In diesem Sinne ist die Frage auch radikalisiert worden: Wozu noch Philosophie?
Vgl. hierzu Baumgartner/Höffe 52009.
32
Zu diesem Zusammenhang siehe besonders Brandner 1992.
33
Vgl. Lübbe 1978.
34
Russell 1993, 2.
35
Vgl. hierzu Bubner 1978. Bubners These wird bestätigt durch den Umstand, dass in
der modernen Diskussion der Frage immer wieder Bezüge zur antiken Philosophie
vorkommen. Vgl. auch Birnbacher 1996 und Lenk 52009.
36
Ein Beispiel unter vielen hierfür ist Bunin/Tsui 1996.
30 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

Philosophen thematisieren nun nicht nur fachintern, warum sie ihre Tä-
tigkeit ausüben, sondern diese Selbstverständigung dient teilweise auch der
Außendarstellung,37 die ebenfalls schon immer ein Teil des philosophi-
schen Geschäfts war: Dies zeigt die bis in die Antike zurückreichende
Tradition der protreptischen Schriften sehr deutlich. Im Gegenzug wird die
Philosophie natürlich auch von Nicht-Philosophen mit zahlreichen Erwar-
tungshaltungen konfrontiert:
(a) Dies geschieht seitens anderer akademischer Fächer, wenn der Philo-
sophie die Funktion einer Meta-Disziplin zugesprochen wird, die wis-
senschaftsübergreifend etwa die Frage, was Wissen und Wissenschaft
in toto ausmacht, behandelt.38 In diesem Verständnis rückt die Klärung
grundlegender epistemologischer Fragen in den Vordergrund, ganz im
Sinne der Kantischen Frage: „Was kann ich wissen?“: Es dreht sich
letztlich um die Frage nach den Möglichkeiten und Grenzen mensch-
licher Erkenntnisfähigkeit überhaupt, um ein Wissen vom Wissen. Phi-
losophie setzt damit bei der Klärung dessen an, was die anderen Dis-
ziplinen schon vor und in aller wissenschaftlichen Betätigung implizit
oder explizit voraussetzen. Die Eule der Minerva beginnt hier ihren
Flug also schon vor dem Morgengrauen.
Eine alternative Möglichkeit entlang dieser Linie des Philosophiever-
ständnisses besteht darin, ihre Arbeit gerade dort beginnen zu lassen, wo
die anderen Disziplinen ihre Erkenntnisbemühungen mangels eigener
Kompetenzansprüche weitgehend einstellen: Philosophie hat dann die
Funktion, aus den fragmentierten Einzelerkenntnissen und -theorien der
verschiedenen Wissenschaften ein kohärentes Ganzes im Sinne einer
metadisziplinären Gesamtdeutung herauszudestillieren. Damit wird die
Philosophie letztlich zu einer „reaktiven Disziplin“ (J. Habermas), wel-
che die Ergebnisse der Einzelwissenschaften zu integrieren versucht.
Hier beginnt die Eule der Minerva ihren Flug erst nach Einbruch der
Abenddämmerung.
(b) Hinzu kommen die Erwartungshaltungen von politischer und gesell-
schaftlicher Seite, so etwa von Ministerien, die im Rahmen von Stu-
dienordnungen der Philosophie bestimmte Bildungsaufgaben zuschrei-
ben. Bildungspolitisch wird ihr dann z. B. die Vermittlung von
Schlüsselqualifikationen, wie etwa die Fähigkeit zu analytischem Den-
ken oder zu kritischer Argumentation zugewiesen; auch bei der Ver-
mittlung säkularer Werte, wie etwa der Menschen- und Bürgerrechte,

37
Vgl. Girndt 1996.
38
Vgl. Kambartel 1978.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 31

wird ihr ein gewisser Stellenwert eingeräumt. Im Hintergrund steht


hier meistens das Verständnis der Philosophie als einer allgemeinen
„Orientierungsdisziplin“, die abseits aller spezialwissenschaftlichen
Einzelkenntnisse einen Beitrag zum gelingenden individuellen oder
gesellschaftlichen Leben leisten können: So erscheint Philosophie etwa
als „Lebenswissenschaft“ (H. Böhme). Als Wissenschaft vom Verste-
hen von Gründen, durch die wir uns im Denken und Handeln orientie-
ren, wäre sie auf jeden Fall keine bloße hermeneutische Textwissen-
schaft, sondern auch eine „Handlungswissenschaft“ (M. Seel). Auf
gesellschaftlicher Ebene verbindet sich mit der Philosophie auch teil-
weise die Hoffnung, sie könne einer in ihrer eigenen Wertstruktur brü-
chig gewordenen (westlichen) Welt substantielle Sinnangebote ma-
chen. In eine ähnliche Richtung gehen auch aus der Philosophie selbst
heraus stammende Überlegungen, wie sie sich etwa bei Odo Marquard
finden: Die Philosophie übernimmt dann die Rolle einer „Kompensa-
tionswissenschaft“, die als eine Art Reparaturbetrieb für die Flurschä-
den der Moderne zu fungieren hat.
Wer immer etwas von der Philosophie erwartet oder von ihren Leistungen
enttäuscht ist, hat jedenfalls eine Ansicht darüber, wozu die Philosophie
nützlich sein kann (und wozu nicht), und dieses Verständnis basiert auf
einer Vorstellung davon, was denn die Philosophie ist. Innen- und Außen-
perspektive, philosophischer Selbstanspruch und gesellschaftliche Erwar-
tungshaltung, müssen dabei nicht per se auseinander klaffen, aber es wäre
naiv, hier eine prästabilierte Harmonie zu erwarten. Deshalb ist auch ein
Abgleich dieser verschiedenen Perspektiven ein fundamentales Desiderat
jeder individuellen und institutionellen Auseinandersetzung mit der Prob-
lematik des Nutzens der Philosophie. Hierbei wäre die Philosophie gut
beraten, nicht nur ein insulares Selbstverständnis zu artikulieren, sondern
auch die von außen kommenden Fremderwartungen in ihre Überlegungen
mit einzubeziehen.
Dies betrifft nicht zuletzt die Frage, wie man als Philosoph mit der in
der gegenwärtigen Wissenschaftslandschaft omnipräsenten und dominan-
ten Kategorie des „volkswirtschaftlichen Nutzens“ umgeht. Zwei Strate-
gien sind hier in holzschnittartiger Charakterisierung möglich:
(a) die Einnahme einer Verweigerungshaltung, die letztlich die Applika-
tion dieser Kategorie auf die Philosophie als ein ab ovo unsinniges Un-
terfangen brandmarkt: Philosophie habe es ausschließlich mit intrinsi-
schem „Sinn“ und nicht mit einem solchen Nutzen zu tun. Die
naheliegende Gefahr dieser Strategie ist, dass sie in eine „Wagenburg-
Mentalität“ zu münden droht, die allzu leicht auf der Ebene politischer
32 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

und sonstiger Entscheidungsträger als „Diskursverweigerung“ ausge-


legt werden kann und die somit dem finanzpolitischen Rotstift eher
noch ein zusätzliches Argument gegen die Philosophie als staatlich
subventionierte Institution liefert.
(b) die Eröffnung einer Diskussion über einen adäquaten Begriff dessen,
was als volkswirtschaftlicher Nutzen gelten kann. Hier wäre dann v. a.
darauf hinzuarbeiten, dass dieses Konzept nicht im Sinne eines Begriffs
„technischer Innovationsfähigkeit“, die sich dann in patentierbaren Er-
findungen ausmünzen lässt, enggeführt wird. Bestimmte Faktoren des
gesellschaftlichen Lebens, etwa der Wert von Bildung und Erziehung in
der Schule, lassen sich nicht in eine exakt quantifizierbare Kosten-
Nutzen-Rechnung einbringen; ihre Vernachlässigung oder gar ihre
Streichung würden das Bruttosozialprodukt aber trotzdem langfristig
schädigen. Legt man einen angemessenen Begriff zu Grunde, kann
man den volkswirtschaftlichen Nutzen der Philosophie als Wissen-
schaft z. B. als „Innovationspotential“, als „Bildungsermöglichungs-
bedingung“ und als „Orientierungsdienstleister“ durchaus nachweisen.39
Auch die soziokulturellen Leistungen der Philosophie sollten im Sinne
einer weiter verstandenen Gesellschaftsnützlichkeit nicht vernachläs-
sigt werden.40 Diese Strategie ist sicher nicht Ausdruck irgendeines
„Opportunismus“, insofern die Kategorie, in der die Philosophie ihren
Nutzen zu belegen versucht, selbst zum Gegenstand der philosophi-
schen Reflexion und der öffentlichen Diskussion gemacht wird, also
nicht bloß als ein unhinterfragtes externes Maß übernommen wird.
Auch in dieser Diskussion könnte sich die Frage nach einem angemes-
senen Verständnis von Theorie und Praxis, z. B. im Sinne der Themati-
sierung des Verhältnisses von wissenschaftlicher Grundlagenforschung
und ihrer weitergehenden Verwertung, als höchst fruchtbar erweisen.
Die vorangehende, zwangsläufig kursorische Auflistung zeigt vor allem
eines: Die Philosophie sollte den Begriff „Nutzen“ nicht kampflos von der
Ökonomie besetzen lassen. Begriffsgeschichtlich war „Nutzen“ nicht im-
mer durch bloß quantifizierende Momente wie „Geld“ bestimmt und so
meist einseitig mit einem unaufgeklärten Egoismus verknüpft.41

39
Vgl. zu diesen drei wirtschaftlichen Funktionen der Philosophie als Wissenschaft
Jansen 2001.
40
Vgl. hierzu die Überlegungen bei Malter 1988, bes. 32.
41
Die Geschichte des Begriffs „Nutzen“ ist noch nicht geschrieben worden. Schlag-
lichter, die auf einen ähnlichen, aber engeren Zusammenhang verweisen, liefert van
Ackeren 2005, vgl. bes. 53–64.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 33

VI. Zusammenfassende Überlegungen

Insgesamt zeigt sich folgende Struktur, die sowohl das akademische


Selbstverständnis als auch die externen Erwartungen an die Philosophie
berücksichtigt: Die aktuelle, meist auf den Nutzenaspekt abzielende Frage
„Warum noch Philosophie?“ (Teil I) erfordert eine Bestimmung dessen,
was Philosophie ist (Teil II), die ihrerseits wiederum auf die „Warum
Philosophie?“-Problematik (Teil III) verweist. Diese könnte im Lichte des
Begriffspaars von Theorie und Praxis erörtert werden (Teil IV), weil dieses
die genannten Perspektiven elementar verzahnt und sie schließlich auch
eng an die Thematik des Nutzens der Philosophie koppelt (Teil V), die ja
letztlich am Anfang der gedanklichen Bewegung stand. Dies könnte man
natürlich als eine „Zirkularität“ auslegen, die letztlich im gedanklichen
Labyrinth stecken bleibt. Doch eine geistige Kreisbewegung impliziert
eben gerade nicht eine bloße Stagnation, insofern im Rahmen der Bewe-
gung Perspektiven deutlich werden, die am Anfang noch nicht sichtbar
waren. Dies betrifft im vorliegenden Fall zum einen die Einsicht, dass die
Fragen nach der „Bestimmung“ der Philosophie im definitorischen Sinne
und ihrer „Bestimmung“ im Zwecksinne so verzahnt sind, dass sie kaum
überzeugend in Ablösung voneinander beantwortbar sind; zum anderen
sollte deutlich geworden sein, dass „Theorie“ und „Praxis“ innerhalb dieser
fundamentalen Dialektik der Bestimmung der Philosophie einen Ariadne-
faden bilden könnten, der zumindest die Struktur dieses Labyrinths
abschreitbar macht.
Folgt man den vorgetragenen Überlegungen, so ist letztlich die Frage
„Warum Philosophie?“ in mehrfacher Hinsicht von fundamentaler Bedeu-
tung: Die momentan nahezu „überlebenswichtige“ Legitimation philoso-
phischer Tätigkeit ist unabhängig von der Beantwortung dieser Frage kaum
überzeugend zu leisten – das aber nicht nur vor den Hintergründen gegen-
wärtiger Ansprüche und Herausforderungen, sondern auch aus dem Wesen
der Philosophie selbst heraus. Insofern sich „Philosophie“ in der Tiefen-
struktur als ein funktionales Konzept verstehen lässt, gehört die Frage, was
sie leisten kann und soll, zum Kernbestand ihrer Bestimmung – ob diese
nun von innen oder von außen erfolgt. Erst die Antwort auf diese funk-
tionale „Warum-Frage“ macht es aber auch möglich, für die individuelle
und/oder soziale Funktion der Philosophie überhaupt Erfolgskriterien zu
formulieren: Ob Philosophie erfolgreich ihren Zweck (oder ihre Zwecke)
erfüllt, lässt sich nicht klären, ohne hier Klarheit geschaffen zu haben.
Ansonsten läuft man auch Gefahr, sie mit sachfremden Kriterien zu mes-
sen: Auch wenn Philosophie kein unmittelbar technisch verwertbares Wis-
sen produziert, kann sie trotzdem einen Nutzen haben. Letztlich verweist
34 Marcel van Ackeren, Jörn Müller

die Frage nach dem Nutzen der Philosophie auf die Philosophie (und ihre
Geschichte) selbst, denn der Nutzen ist eine ihre zentralen Kategorien, die
sich auf sie selbst applizieren lässt.
Eine interdisziplinär orientierte, fachübergreifende Diskussion über die
Rolle der Philosophie lässt sich somit kaum führen, ohne dieser „Warum-
Frage“ nachhaltig auf den Grund zu gehen. Dabei bietet es sich – wie oben
dargestellt – an, die Überlegungen auf ein Begriffspaar zu konzentrieren,
das die verschiedenen Aspekte der „Warum“-Fragestellung umklammert:
Theorie und Praxis. Sowohl in der Philosophie als auch außerhalb ihrer
selbst sind dies eben zwei zentrale Kategorien, unter denen ihr Wirken
jederzeit betrachtet und bewertet worden ist – und auch immer noch wird.
Deshalb sollte man ihnen sowohl historisch als auch systematisch unter
folgenden Fragestellungen nachgehen:
Wie wurden diese beiden Begriffe für sich und im Verhältnis zueinan-
der in verschiedenen Phasen der Philosophie bestimmt – und wie fällt im
Vergleich dazu heute ihre Verortung aus? Dabei geht es in systematischer
Sicht auch darum, die Wahrnehmungen des heutigen Philosophiebetriebs
sowohl von innen als auch von außen (d. h. aus der Sicht anderer Disziplinen
und in der Perspektive politischer, wirtschaftlicher sowie gesellschaftlicher
Kräfte) zu bestimmen: Wird Philosophie überhaupt noch als eine aktuell
oder potenziell praktische Disziplin verstanden? Oder wird sie bloß noch als
eine auf Grund ihres unterstellten wirklichkeitsfremden oder weltvergesse-
nen Theoretisierens weitgehend verzichtbare „Elfenbeinturm“-Beschäfti-
gung wahrgenommen? Ist die Flucht in die „selige Apathie“ reiner, d. h.
zweck- und nutzloser Theorie nicht vielleicht sogar eine relativ „junge“
Strategie der Philosophie, die vorher über Jahrhunderte hinweg gerade ihren
praktischen Nutzen herausgestellt hatte? 42
Ausgehend von der Klärung dieser Fragen lässt sich dann auch im in-
terdisziplinären Gespräch mit Aussicht auf Erfolg thematisieren, wie sich
vor dem Hintergrund der gewonnenen Erkenntnisse die zukünftige Rolle
der Philosophie in Wissenschaft und Gesellschaft gestalten kann und sollte.
Die nachfolgenden Texte des Bandes sind als ein Beitrag zu dieser für die
Philosophie zunehmend „überlebenswichtigen“ Debatte zu verstehen.

42
Vgl. hierzu von Müller 2004.
Warum Philosophie? Zentrale Dimensionen 35

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Philosophische Positionen: Die Innenperspektive
Warum Philosophie?
Die Antwort Platons im Licht der Differenz
von Theorie und Praxis

Ada Neschke-Hentschke

Vorbemerkung

Die folgenden Zeilen wollen die Frage „Warum Philosophie?“ aus einem
anthropologischen Horizont heraus beantworten; denn Philosophie ist ein
eminent menschliches Spezifikum und lässt sich als solches nur in Hin-
blick auf das organische Wesen Mensch und nicht auf die körperlose res
cogitans als ein nur denkendes abstraktes Subjekt erkennen. Ausgang bil-
det die aristotelische Anthropologie, die im 20. Jahrhundert ein reiches
Echo gefunden hat.1 Sie dient jedoch nur der Vorbereitung, um den syste-
matischen Ort der Philosophie, der ihr „Warum“ erkennen lässt, aufzu-
zeigen. Die Hauptuntersuchung dagegen hat zum Ziel, die systematische
These vom Ort und „Warum der Philosophie“ mit Hilfe der wenig behan-
delten Anthropologie Platons historisch zu bekräftigen.2 In diesem Bereich
Platonischen Denkens geht es um den praktischen Philosophen, der Platon
vom Anfang bis zum Ende seiner Tätigkeit und gerade hier gewesen ist –
untrügliches Zeichen ist die Existenz der Nomoi.3 Es soll aber gezeigt wer-
den, dass ohne eine dialektische Ontologie, d.i. ohne das „echte“ Philoso-
phieren (to; gnhsivw~ filosofei`n, vgl. Politeia V, 473 d2; Phädrus 266 b2),
das praktische Denken nicht zum Ziel kommen kann –, dass echte Praxis
auf das Wissen und daher die Philosophie angewiesen ist.

1
Vgl. Gutschker 2002.
2
Dazu stützen wir uns ausschließlich auf die platonischen Texte in eigener Überset-
zung und Untersuchungen, die zum Thema beigetragen haben; auf eine kritische
Auseinandersetzung mit der Forschung ist aus Platzgründen verzichtet. Über deren
Stand informieren Erler 2007 und Horn/Müller/Söder 2009.
3
Vgl. Hentschke 1971.
40 Ada Neschke-Hentschke

I. Einleitung: Theorie und Praxis, die Geburt der Philosophie


aus der Praxis des Lebens

I.1 Die systematische Geburt der Philosophie aus dem Leben


Theorie und Praxis einander gegenüberzustellen – wer denkt hier nicht an
Kants berühmten Aufsatz Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theo-
rie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis – ist ein sehr altes Verfah-
ren, das sich auf die Vaterschaft des Aristoteles berufen kann. Nicht nur
hat Aristoteles als erster praktische und theoretische Wissenschaften unter-
schieden (vgl. Aristoteles, Metaph. V, 1025 b18 ff.), er hat diesen Unter-
schied auch auf zwei Lebensformen ausgeweitet (vgl. Aristoteles, EN I,
1095 b26 ff.) und darüber hinaus diesen Formen eine „substanzielle“
Grundlage gegeben, indem er im Wesen des Menschen zwei Lebensfunk-
tionen ausmachte, die er das praktische und theoretische Denken nannte
(vgl. Aristoteles, EN VI, 1139 a5 ff., Pol. VII, 1333 a24 ff.).
Das Verfahren des Stagiriten unterstreicht somit diesen Gegensatz,
enthält jedoch zugleich einen Hinweis darauf, dass mit ihm nur ein Teil des
Sachverhalts erfasst ist; denn der Gedanke einer praktischen Wissenschaft
hat nicht den Gegensatz von Theorie und Praxis zum Hintergrund, sondern
nur dessen begriffliche Differenz. In der Tat, in der Konzeption einer prak-
tischen Wissenschaft kooperieren Theorie und Praxis miteinander. Die
Form ihrer Verbindung lässt sich etwa so denken, dass die Theorie Fragen
betrifft, die gelöst sein müssen, damit überhaupt Praxis möglich ist. Theo-
rie geht also der Praxis voraus. Das bekannteste Beispiel einer solchen
Kooperation ist das aktuelle Verhältnis von Naturwissenschaft und Tech-
nik bzw. Naturwissenschaft und Medizin: Die Praxis erscheint hier als die
physische Umsetzung der Theorie ganz im Sinne des beliebten aristoteli-
schen Beispiels des Plans des Architekten und dessen Realisierung im Bau
eines Hauses. Allerdings würde Aristoteles hier darauf bestehen, dass es
sich bei diesen Beispielen streng genommen gar nicht um ein Theorie-
Praxis-Verhältnis handelt, da die hier mit „Praxis“ bezeichnete physische
Umsetzung eines gedanklichen Inhalts sich einer falschen Etikette bedient;
die in Technik und Medizin (tevcnh, lat. ars) angewandte Theorie gehört
nämlich in eine Tätigkeitsform (ejnevrgeia), welcher Aristoteles den Begriff
und Namen der „Herstellung“ (poivhsi~) zuweist (vgl. EN VI, 1140 a1 ff.).
Damit hat er einen bedeutenden Schritt für die Unterscheidung der genuin
menschlichen Tätigkeitsformen geleistet, auf den noch Denker des 20. Jahr-
hunderts wie Hannah Arendt oder Rüdiger Bubner zustimmend zurückgrei-
fen konnten.4

4
Vgl. Arendt 1960, 18–23 (zu ihr Gutschker 2000, 143–183); Bubner 1976, 66–90.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 41

In der Tat macht Aristoteles einen scharfen Schnitt zwischen denjenigen


Tätigkeitsformen des Menschen, aus denen ein Produkt hervorgeht, welches
dann abgetrennt weiter existiert – das Haus überlebt den Architekten (vgl.
Metaph. XII, 1070 b33); das Produkt ist gegenüber der Tätigkeit ein äußeres
verselbständigtes Objekt – und den anderen, bei denen das Produkt als ein
inneres Objekt und das Tätigsein dasselbe sind: Der Sänger singt ein Lied,
das Lied aber ist nur im Gesang selber. Mit dem Ende des Tätigseins endet
auch das Produkt (vgl. EN I, 1094 a 3–6). Nur diese Form des Tätigseins
verdient den Namen der Praxis. Wie steht es aber hier um die Theorie? Stel-
len wir neben das Beispiel des Singens noch das andere des Redens, das
dieselbe Struktur aufweist. Das Singen und das Reden haben ihre natürliche
Wurzel in der Biologie des Menschen, in der Besonderheit seines Vokalap-
parates. Diesen benutzt schon spontan das Kleinkind im Schreien und Lal-
len; damit die Vokalisierung zum Singen oder auch Sprechen werden kann,
bedarf sie einer Formung durch ein Wissen, bedarf der „Theorie“, sei es die
der Harmonielehre oder der Grammatik. So zeigt sich die Praxis selbst als
der Ort, an dem ein Theoriebedarf auftritt; die Theorie erlaubt, die in der
biologischen Natur des Menschen angelegten praktischen Tätigkeitsformen
zu strukturieren und damit zu ihrer vollendeten Gestalt zu bringen.
Dieses letztgenannte Verhältnis von Theorie und Praxis liegt nun der
Konzeption dessen zugrunde, was Aristoteles die praktische Philosophie
genannt hat (vgl. Metaph. II, 993 b21). Ausgangspunkt ist das gestaltete
Leben (bivo~, vgl. EN 1094 a22), das alle menschlichen Tätigkeitsformen
umfasst; ihm liegt die noch ungestaltete Lebenskraft (zwhv oder yuchv, vgl.
EN I, 1097 b34 ff.) zugrunde. Jedoch gehört das Leben (zwhv) selber zu den
praktischen Tätigkeitsformen; der Mensch lebt sein Leben als „inneres Ob-
jekt“ wie der Sänger sein Lied singt. Wie sein Vokalapparat zusammen mit
dem Wissen um die Grammatik den Menschen zum Reden befähigt, so be-
fähigt sein spezifischer Gesamtorganismus (aufrechter Gang, Hand-
gebrauch, Entwicklung des Verstandes) den Menschen zu einem spezifi-
schen, seinem Organismus entsprechenden Lebensvollzug; um diesen in
seiner Fülle realisieren zu können, muss auch hier ein Wissen hinzutreten,
eine „Grammatik“ des Lebens. Jedoch enthält die Praxis des Lebens ein
Element, das die Theorie nicht nur möglich, wie der Besitz der Stimme und
das Singen, sondern auch erstrebenswert und in diesem Sinne notwendig
macht; denn alles Lebendige ist durch ein Streben, den Lebensdrang
(o[rexi~, vgl. EN I, 1094 a20) ausgezeichnet. Sein Ziel besteht in der Ver-
wirklichung des Bestzustandes seiner selbst. Diese Beobachtung steckt in
dem klassischen Eingang der Nikomachischen Ethik: „ […], denn richtig hat
man das Gute das genannt, wonach alle <Lebewesen> streben“ (EN I, 1094
a2–3). Daher kann die Lebenspraxis nicht, sie soll geführt werden, damit sie
zur Erfüllung des Lebensdranges gelangt; sie soll „wohl bestellte Lebens-
42 Ada Neschke-Hentschke

handlung“ werden: eujzwiva ti~ kai; eujpraxiva (EN I, 1098 b21–22). Es ist
für Aristoteles ausgeschlossen zu denken, die Natur habe den Menschen so
stiefmütterlich behandelt, dass sein Streben nach einem Bestzustand seiner
selbst nicht zur Erfüllung kommen könnte (vgl. EN I 1094 a18 ff.). Für eine
freundliche Natur spricht nämlich die besondere Ausstattung, die sie dem
Menschen mitgegeben hat, das sprachverfasste Denken (lovgo~, vgl. EN I,
1097 b23–1098 a20). Unter dem „Denken“ begreift Aristoteles die Fähig-
keit, Gegenstände und Prozesse, innere wie die eigene Seele und äußere wie
die Welt, durch innere Repräsentation gegenwärtig und dank des Logos
definieren und beurteilen zu können. Mit dieser Ausstattung versehen befin-
det sich der Mensch, im Unterschied zum Tier, in der Lage, nicht dem Ge-
schehen des Lebens, das ihn umfängt und ihm gleichsam im Rücken steht,
ausgeliefert zu sein, sondern es als Ganzes denkend vor sich stellen und
analysieren zu können, um dann erkenntnisgeleitet dem Lebensgeschehen
die gewünschte Richtung zu geben. Diese, das eigene Leben thematisie-
rende Leistung des Denkens steht nun genau vor den Aufgaben, deren
Lösung Aristoteles der Praktischen Philosophie zuweist und die er selbst in
seinen Schriften zu diesem Thema, in seinen Ethik- und Politiktraktaten,
entwickelt hat. Bezeichnenderweise gibt er diesem Bereich seines Den-
kens, neben den Namen der praktischen oder politischen Philosophie, auch
den der „Philosophie der menschlichen Dinge“ (EN X, 1181 b15).
An der aristotelischen Durchführung der Philosophie des Menschen,
die durch seine beschreibende Anthropologie in De anima ergänzt werden
muss, zeigt sich mit Deutlichkeit, dass die Lebenspraxis eine eminent „the-
oretische“ Problematik enthält, der nur mit größtem Scharfsinn und breiter
intellektueller Phantasie zu Leibe gerückt werden kann. Denn es geht um
die grundlegende Frage, was denn das Gute, nach dem alle Lebewesen
streben, im Falle des Menschen sei. Hier steht das Denken vor einem opa-
ken Gegenstand, dem es nur dank so großer analytischer Kraft, wie sie
Aristoteles an den Tag legt, gerecht werden kann. Jedoch darf die entwi-
ckelte Technizität des aristotelischen Diskurses nicht vergessen machen,
dass Aristoteles eine Grundfrage jedes menschlichen Lebens stellt, die
Frage, was ist der Gegenstand und das Ziel des bzw. meines Lebens? Aris-
toteles formuliert diese Frage im Sinne seiner Auffassung des Lebens als
Tätigkeitsform der Praxis, indem er nach deren inneren Objekt (e[[rgon)
fragt, das den spezifischen Lebensvollzug des Menschen ausmacht (vgl.
EN I, 1097 b24–1098 a20). Dem Menschen ist dieses Objekt nicht immer
schon vorgegeben. Deshalb spricht die moderne Anthropologie seit Herder
von der Weltoffenheit des Menschen.5 Letztere bildet den Boden, auf wel-

5
Vgl. Gehlen 1993, 33 ff., Lorenz 1973, 291 ff.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 43

chem die Frage nach dem Objekt und Ziel des Lebens gedeihen kann. So-
mit ist es die Offenheit als die Eigenart des menschlichen Lebens, welche
den Ursprung der Philosophie ausmacht; denn das Leben ist dem Men-
schen gegeben, seine Bestimmung und Gestaltung sind ihm aufgegeben.
Die Reflexion auf diese Aufgabe bildet den systematischen Ursprung der
Philosophie. Dieser fällt jedoch nicht zufällig, sondern, dank der gleich
bleibenden offenen Natur des Menschen, auch notwendig mit ihrem histo-
rischen Anfang zusammen. Blickt man nämlich tief in die Vergangenheit
unserer Kultur hinab, wurde anfänglich solche Reflexion narrativ durch
den Mythos geleistet. Seit dessen Ablösung durch das argumentierende
Denken bei Sokrates gibt sich diese Reflexion den Namen der „Liebe zur
Weisheit“ – filo-sofiva (Apol. 28 e5).6
Wenn die Frage „Warum Philosophie?“ einen Zweifel über die Exis-
tenzberechtigung der Philosophie ausdrücken soll, so kann einen solchen
nur hegen, wer sich nicht darüber im klaren ist, dass der spezifische
menschliche Lebensvollzug von keiner „teleonomen“7 Natur festgelegt ist,
sondern dem Menschen selber in die Hand gegeben wird, und dass seine
Bewältigung nur durch Reflexion erfolgen kann. Solche Reflexion, wenn
sie lebensgestaltend wirken soll, muss sich eines konsequenten Denkens
bedienen. Von einem solchen liefert Aristoteles ein bis heute nachden-
kenswertes Modell. Doch hat er, wie zu zeigen ist, dieses Modell nicht
erfunden. Vielmehr erweist er sich als genialer Erbe eines Vermächtnisses,
das ihm Platon übergeben hatte.

I.2 Der historische Ursprung der Philosophie


aus der Frage nach dem Leben
Berühmt ist der Satz des Sokrates: „Ein nicht geprüftes Leben ist nicht
lebenswert.“ (Apol. 38 a5)8 Klar geht aus dem Satz hervor, dass das Leben
(bivo~) immer schon vorgegeben ist, aber der Durchleuchtung bedarf, um
für den Menschen wert zu sein, gelebt zu werden; ist doch der Mensch
auch dasjenige Lebewesen, das sein Leben wegwerfen kann.
Sokrates’ Satz illustriert auf der historischen Ebene die These vom
systematischen Ursprung der Philosophie aus dem Leben. Historischer
und systematischer Ursprung fallen in der Tat zusammen. Betrachtet man
nämlich Sokrates als den Vater der abendländischen Philosophie, indem
man die sogenannten „Vor-sokratiker“ als Vorläufer der Naturwissen-

6
„filosofou`ntav me dei` zh`n.“
7
Vgl. Lorenz 1973, 93–115.
8
„oJ dæ ajnexevtasto~ bivo~ ouj biwtov~.“
44 Ada Neschke-Hentschke

schaftler behandelt – Aristoteles, der es ja wissen musste, nannte sie „Na-


turerklärer“ (fusiolovgoi, vgl. Metaph. 1, 986 b14) –, so beginnt die west-
liche Tradition der Philosophie mit Sokrates und sie beginnt als die obsti-
nate Frage nach dem zu gestaltenden Leben; denn Sokrates betrieb, wenn
man Platon und Xenophon glauben darf, die Suche nach Weisheit als die
unermüdliche Frage nach dem guten Leben. Allerdings denkt Sokrates
nicht im weiten biologisch-anthropologischen Sinn wie Aristoteles, der ja
auch die Lebensformen der Tiere erforscht hat und den Menschen im
Licht dieser Kenntnisse betrachtet, sondern im Horizont seiner Erfahrung
als attischer Bürger, der die sozialen Rollen und Werte hinterfragt und im
engeren Umkreis einer Bürgerethik verbleibt. Dennoch ist festzuhalten,
dass die Philosophie seit Sokrates eine Reflexion auf das vorgegebene und
zu wählende Leben darstellt. Sie macht daher beispielhaft das von Aristo-
teles aufgedeckte anthropologische Faktum deutlich, dass für den Men-
schen der Vollzug des Lebens nicht instinktiv-triebhaft gegeben, sondern
reflexiv aufgegeben ist. Nach Aristoteles hat wieder die Philosophische
Anthropologie9 des 20. Jahrhunderts das Phänomen unterstrichen, dass
nur der Mensch vor die Aufgabe gestellt ist, sein Leben in die Hand zu
nehmen, es zu „führen“. Arnold Gehlen hat daher die „Handlung“ zur
Zentralkategorie seiner Anthropologie erhoben.10 Dieses „handelnde Füh-
ren des Lebens“ hat Aristoteles, wie gezeigt, mit dem Verb pravttein und
dem Verbalsubstantiv pra`xi~/Praxis bezeichnet. Er konnte dabei jedoch
an die Arbeit Platons anschließen, der von dem sokratischen Verständnis
der Philosophie als Reflexion auf das eigene Leben ausgehend, das
menschliche Leben im Allgemeinen einer Untersuchung unterzogen und
in diesem Rahmen die Frage: „Warum Philosophie?“ als erster ausführ-
lich beantwortet hat.
Die platonische Philosophie verspricht daher dank ihrer Gründerrolle
den günstigen Fall darzustellen, an dem das Problem des Zwecks der Phi-
losophie untersucht werden kann. Ein solches Unternehmen kann nur, wie
schon Aristoteles in seinem Protreptikos scharfsinnig unterstrichen hat,
von der Philosophie selber geleistet werden (vgl. Aristoteles, Fragm. 2).
Dabei wird am Fall Platons deutlich werden, dass die traditionell soge-
nannte „Metaphysik“ nötig ist, um die Lebensfrage zu meistern, m.a. Wor-
ten, dass selbst eine im höchsten Grade „abstrakte“ bzw. „lebensferne“
Theorie im Dienst der Lebenspraxis steht.

9
Zu dieser Bewegung vgl. Fischer 2008, Neschke/Sepp 2008.
10
Vgl. Gehlen 1993, 29–65.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 45

I.3 Der Gang der Untersuchung


Unsere Untersuchung soll bei Platons Antwort auf die Frage: „Warum
Philosophie?“ beginnen; denn diese Antwort ist eindeutig und findet sich
im Schlussmythos der Politeia, der das Schicksal der menschlichen Seele
(yuchv) beschreibt (vgl. Politeia X, 614 b2–621 b7). Mit diesem Wort be-
zeichnet Platon einerseits die Lebenskraft, die den Körper lebendig macht
(vgl. Phaidon 105 b9–e8, Nomoi X, 895 c1–c13) – das entspricht der aris-
totelischen zwhv, die auch bei Aristoteles ein Synonym für yuchv bildet.
Andrerseits ist die Seele der Sitz der moralischen Person des Menschen,
dasjenige, was durch Tugend und Laster geprägt wird (vgl. Kriton 47 d7–
48 a4); denn in der Seele wohnt die Denkkraft (logistikovn, lovgo~, vgl.
Politeia IV, 439 d5), die zwischen Gut und Schlecht unterscheiden kann.11
Von dieser Person nun behauptet Platon am Ende der Politeia, dass sie
ganz allein für ihr Leben verantwortlich ist und diese Verantwortung in der
Wahl ihres Lebens zeigen muss. Schon Platon lehrt also die „Offenheit“
des Menschen, da das Leben aufgegeben und gewählt werden muss. Dar-
über hinaus betont er jedoch die damit gesetzte Gefahr, in die der Mensch
durch die Notwendigkeit der Wahl verstrickt ist. Sie entscheidet ja über das
Gelingen oder Misslingen des ganzen Lebens, welches dem Mythos der
Seelenwanderung zufolge weit über das Lebensalter des Menschen als
Körperwesen hinausreicht. Um der Gefahr einer schlechten Entscheidung
zu entgehen, bedarf es also des Wissens:

„Dazu soll man alles übrige Wissen links liegen lassen und sich nur um das
Wissen kümmern, wenn immer man imstande ist, kennen zu lernen und heraus-
zufinden, wer uns fähig und kundig macht, das gute und das schlechte Leben
zu unterscheiden und jeweils das bessere aus den zur Wahl stehenden aus-
zuwählen.“ (Politeia X, 618 c1–c6).

Alles menschliche Leben muss diesen Worten zufolge als selbst gewähltes
und daher zu verantwortendes verstanden werden; daher ist nur ein Gegen-
stand des Wissens (mavqhma) wert, gewusst zu sein: was das Leben gut und
schlecht macht. Wie der Fortgang des Textes zeigt, besteht dieses Wissen in
der Frage des Dialektikers nach dem Wesen und Wert der Dinge (tiv ejstin;)
in dem Maße, als sie die moralische Person bewahren oder vernichten (vgl.
Politeia X, 618 c6–619 b1). Von dieser moralischen Person handelte das
ganze vorangehende Gespräch, da Platon die Frage nach der „Gerechtig-
keit“ gestellt und sie durch eine Beschreibung der gerechten Seele beant-

11
Die „Entdeckung der Person“ (Kobusch 2 1997, 23 ff.) findet nicht erst im Mittelal-
ter, sondern in Platons ‚Seelenlehre‘ statt, da Platon unter dem Sachverhalt der ver-
nunftbegabten Seele bereits einen Begriff der moralischen Person entwickelt.
46 Ada Neschke-Hentschke

wortet hatte; diese Gerechtigkeit äußert sich als innere und äußere Praxis.12
Allerdings entwickelt Platon in diesem Kontext die Frage des Handelns
nicht weiter; er fragt nicht, inwiefern die gerechte Person bei ihrem Han-
deln des Wissens bedarf bzw. auf welches Wissen sie sich stützt.
Um diese Verbindung aus ihren philosophischen Gründen zu verstehen,
muss man an das Platonische Textcorpus drei Fragen stellen. Zunächst, was
versteht Platon unter Handlung (pra`xi~) und inwiefern ist der Handlung
selber ein Wissen eingeschrieben? Weiterhin, um welche Form des Wissens
handelt es sich dabei? Und schließlich, da das Leben Handeln und Wissen
umgreift, warum handelt denn der Mensch überhaupt, statt sich auf die
Verfolgung des Wissens zu konzentrieren – wie es Aristoteles in der Form
des „Theoretischen Bios“ empfohlen und Plotin praktiziert hat?13

II. Philosophie im Spannungsfeld von Theorie und Praxis


bei Platon

II.1 Handlung und Wissen bei Platon


Menschliches Verhalten, d. h. sein Verhalten zu sich selbst, zu anderen und
der Welt, wird von Platon, konform mit dem griechischen Sprachgebrauch,
durch das Verb pravttein und das Verbal-Substantiv pra`xi~ bezeichnet. In
den Dialogen Gorgias und Kratylos entwickelt der attische Philosoph eine
Theorie der Praxis, welcher die Frage nach ihrer „Idee“, die Frage: „Was ist
Handlung wesentlich?“ zugrunde liegt. Denn ebenso wie alle Dinge (ta;
pravgmata oder ta; o[nta), welche die gegebene Realität ausmachen, besitzt,
dem Kratylos zufolge, auch die Handlung als eine Gattung der Realität (e{n
ti ei\doß tw`n o[ntwn) ein ihr eigentümliches objektives Wesen (fuvsi~/oujsiva,
vgl. Kratylos 386 d3–387 b1). Gemäß dem Gorgias ist das Handeln die
psycho-physische Umsetzung des Willens (bouvlhsi~), welcher von Platon
und, ihm folgend Aristoteles,14 als die Instanz der Zielsetzung interpretiert
wird (vgl. Gorgias 466 a9–468 a5); menschliches Handeln besteht in einem
zweckrationalen Vorgehen, dem gemäß der Handelnde eine bestimmte
konkrete Handlung (z. B. das Spazierengehen) wählt, da sie eine diese Wahl
begründende Zielsetzung zu erfüllen verspricht; im genannten Beispiel

12
Politeia IV 443 c9–c10: „[…] hJ dikaiosuvnh ajllæ ouj peri; th;n e[xw pra`xin tw`n
auJtou` ajlla; peri; th;n ejntó~ [sc. pra`xin].“ [Hervorh. A. N.-H.]
13
Platon gilt vielen Interpreten fälschlich als Vertreter des „theoretischen Lebens“
(ausdrücklich Festugière 1935).
14
Vgl. EN III, 1113 a 15–1113 b2. Aristoteles diskutiert hier die im Gorgias vertrete-
ne Handlungstheorie kritisch. Es muss sich um eine innerakademische Diskussion
handeln.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 47

handelt es sich um das Ziel, den eigenen Körper gesund zu erhalten. Platon
unterscheidet somit den Inhalt einer Handlung von ihrer Zielsetzung. Doch
vertritt Platon darüber hinaus die These, dass alle Zielsetzungen auf ein
einziges Prinzip zurückgeführt werden können, dem er den Namen eines
„Guten“ (ajgaqovvn) zuweist; ist doch die Gesundheit in unserem Beispiel das
„Gute des Körpers“. Wir gehen spazieren, um gesund zu bleiben; denn wir
halten die Gesundheit für ein bestimmtes Gutes (ajgaqovn ti), nämlich das
Gut des Körpers. Allgemein gesprochen ist daher Handlung zweckrationa-
les Verhalten, dem als Orientierungspunkt und Motor der Wille zugrunde
liegt, sich ein „Gutes“ zu verschaffen.
In diesem „Guten“ aber verbirgt sich ein kapitales Problem, wie aus
dem Gespräch mit dem Sophisten Polos im Dialog Gorgias (vgl. 468 e 6–
481 b5) deutlich wird. In der Tat, wie dieses handlungsorientierende Gute
zu bestimmen sei, bildet den Anlass der Konflikte zwischen den Men-
schen; denn was jeder als Gutes annimmt, das prägt auch sein Verhalten
und bewirkt, dass, im Falle eines Gegensatzes, die Partner feindlich auf-
einander prallen. Im Gorgias entsteht gemäß der platonischen Dialogregie
der Konflikt um das Gute dadurch, dass das Gute des rhetorisch-poli-
tischen und des philosophischen Bios miteinander in Konflikt geraten.
Dieser Konflikt geht von der Tatsache aus, dass Platons Interpretation
zufolge allem Handeln das Urteil zugrunde liegt, das im Handeln anzustre-
bende Ziel sei ein „Gut“. Der Konflikt entsteht aus der inhaltlichen Be-
stimmung dieses jeweiligen Guten, letztere wiederum aus der Verfahrens-
weise, wie das Urteil zustande kam: kann es doch auf Grund bloßer
Meinung (dovxa) gefällt werden – letztere gründet sich ausschließlich auf
Erfahrung oder Routine (ejmpeiriva) – oder die Frucht echten Wissens sein
(ejpisthvmh/tevcnh, vgl. Gorgias 463 b4; 465 a3). Wer das echte Wissen
besitzt, kann, wie Platon in der Politeia lehrt,15 bloß „Gemeintes“ als nur
Scheinhaftes (doxastovn, Politeia V, 497 d8) verwerfen und tut dies in der
Regel um der Wahrheit willen, also aus einem epistemischen Grund. Im
Fall des Guten aber gibt es, wie Platon im gleichen Dialog betont, einen
tieferen Grund, das nur scheinbare Gute zu verwerfen:

„Bei der Gerechtigkeit und den sittlichen Werten dürften wohl viele Menschen
den blossen Schein wählen; im Fall der Güter begnügt sich niemand damit,
den blossen Schein zu besitzen, sondern sucht nach dem Sein.“ (Politeia VI,
505 d5–d9)16

15
Vgl. Politeia V, 475 d1–478 e6.
16
„[…] wJ~ divkaia me;n kai; kala; polloi; a]n e{loionto ta; dokou`nta, […] ajgaqa; de;
oujdeni; e[ti ajrkei` ta; dokou`nta kta`sqai, ajlla; ta; o[nta zhtou`sin […].“
48 Ada Neschke-Hentschke

Wenn es also wahr ist, dass der Mensch im Handeln immer nur ein echtes
Gutes anstrebt, dann muss, sokratisch-platonischer Auffassung zufolge, die
Wahrheitsfrage gestellt und ein Wissen vom Guten gesucht werden. An-
dernfalls kommt das Handeln nicht zu seinem inneren Ziel. In der Tat, die
paradoxe These, welche der platonische Sokrates im Gorgias vertritt, be-
hauptet, dass der Mensch ohne das Wissen des echten Guten gar nicht Herr
seiner Handlungen ist; im strengen Sinne handelt er gar nicht, da sein Wil-
le (bouvlhsi~), der dieses Gute will, nicht das erreicht, was er bezweckt hat.
Um überhaupt im echten Sinne handeln zu können, muss das Gute gewusst
werden.17
Handlung im prägnanten Sinn besitzt somit einen intrinsischen Wis-
sens- bzw. Theoriebedarf. Platon benutzt zwar den Ausdruck der Theorie in
diesem Kontext nicht, wohl aber den des Fachwissens (tevcnh) und des „Re-
de-Stehen-Könnens“ (lovgon e[cein tinov~), d. h. die Kraft des Arguments, ein
Wissen auch darzulegen (vgl. Gorgias 464 b2–465 a7). Das Wissen der
Handlungsziele muss ein Wissen vom Guten sein; sein Wissenscharakter
zeigt sich daran, dass der Wissende sein Wissen begründen kann. Um wel-
ches „Gute“ es dabei dem platonischen Sokrates im Dialog Gorgias geht,
wird erst später im Verlauf der Diskussion deutlich, wo Sokrates das Argu-
ment des echten Guten entwickelt: Es handelt sich hier allein um das echte
Gutsein der eigenen Person, d. h. um das, was Platon den „Bestzustand“
(ajrethv) der Seele nennt (vgl. Gorgias 505 b4–d4). Dabei wird umfassende-
re Theorie, dass der Name des Guten das jeweilige Gutsein aller realen Din-
ge bezeichnen kann, im Gorgias nur angedeutet (vgl. 503 d5–504 d4).18
Der Theoriebedarf der Handlung erschöpft sich jedoch nicht in der
Frage nach dem gewussten und begründbaren Ziel. Wie es im Dialog Kra-
tylos unterstrichen wird, besitzt auch die materiale Verwirklichung des
Ziels in einer bestimmten, inhaltlich fixierten Weise ihre ihr eigentümliche
Richtigkeit, m.a.W. die instrumentell-materielle Seite des Handelns unter-
liegt der immanenten Sachgerechtigkeit der Dinge. Man kann z. B. falsch
und richtig schneiden, sowohl im konkreten Sinne – so das Beispiel im
Kratylos (387 a1–b1) – wie im übertragenen Sinn – so im Phädrus (265
e1–266 b1); denn der Philosoph als Dialektiker kann die objektive Ord-
nung der Dinge in ihren tatsächlichen Einteilungen „trennend“ reproduzie-
ren oder diese Ordnung verfälschen.
Daraus geht hervor, dass im platonischen Begriff der Praxis zwei Stel-
len enthalten sind, die deren Bedarf an Wissen bzw. Theorie anzeigen: Wer
auf menschliche Weise handeln will, muss sich Rechenschaft über seine

17
Eine Rekonstruktion des Arguments in Neschke-Hentschke 2007, 151–168.
18
Dazu Krämer 1959, 57–83.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 49

Handlungsziele geben können, er muss aber auch das Handlungsinstrument


und die empirische Handlungsmaterie analytisch, d. h. dihairetisch durch-
leuchten, um die richtigen Mittel zu Verwirklichung seines Ziels zu wäh-
len.19 Die Analyse von Ziel, Instrument und Materie bildet dann das, was
man Platons Philosophie der Praxis nennen muss. Platon selber, der die
aristotelische Trennung von Herstellung und Handlung noch nicht vollzo-
gen hat, beschreibt sie allgemein unter dem Stichwort der „Verfertigung
gemeinnützlicher Werke“ (dhmiourgikh; tevcnh).20 So wird der Philosoph
der Politeia ein „Verfertiger der Gerechtigkeit in der eigenen Seele und
seiner Mitbürger“ genannt (Politeia V, 500d4–d8). Was dessen „politische
Demiurgie“ sachlich und methodisch beinhaltet, hat Platon beispielhaft in
seinen Nomoi durchgeführt; denn in diesem Dialog liefert Platon das Mo-
dell einer auf echtem Wissen aufbauenden gesetzgeberisch-politischen
Praxis.21 Eine solche muss vorerst das Ziel der Gesetzgebung klären, d. h.
was das Gutsein einer Polis ausmacht – gut ist die Polis, die ihre Bürger
„gut“ im Sinne der vollendeten menschlichen Person macht; letztere bildet
die Bedingung von Freundschaft und Frieden zwischen den Menschen. Zu
diesem Ergebnis gelangen die begrifflichen und empirischen Untersuchun-
gen der ersten drei Bücher. Anschließend muss der philosophische Gesetz-
geber argumentativ die Mittel entwickeln, die zu dem erwünschten Ziel
führen, er muss die Verfassung und diejenigen Gesetze formulieren, die es
erlauben, das Ziel effizient zu erreichen. Für ein solches Vorgehen bedarf
es, wie schon in der Politeia unterstrichen wird, der Kombination von be-
grifflicher Erkenntnis der Sache ebenso wie einer lückenlosen Erfahrung
der empirischen Wirklichkeit (ejmpeiriva/de;mhde;n […] ejlleivponta~, vgl.
Politeia VI, 484 d6), sie besteht, wie es das dritte Buch der Nomoi zeigt, im
detaillierten historischen Wissen um die Verfassungsgeschichte der bedeu-
tendsten Staaten der eigenen Zeit.

II.2 Das Wissen des Guten als handlungsleitendes Wissen


Die politische Demiurgie betrachtet ein besonderes Gutes, das Gute der
Polis und des Menschen, wobei immer vorausgesetzt wird, dass dieses
Gute im guten Handeln besteht.22 Da Handlung im definierten Sinn der

19
Im Kratylos 424 c5–425 b7 wird dieses Verfahren am Namensgeber illustriert.
20
Vgl. Gorgias 503 e5 ff. Zur Struktur der Demiurgie Neschke-Hentschke 2000, IX–
XXVII.
21
Zur Konstruktion der Nomoi zuletzt Schöpsdau 1994, 93–109.
22
Vollendet gerecht und gut ist erst der, welcher andere gerecht und gut macht, vgl.
Politeia V, 500 d4–d9; Nomoi V, 730 d6–e3: „[…] kai; o{sa a[lla ajgaqav ti~
kevkthtai dunata; mh; movnon aujto;n e[cein kai; a[lloi~ metadidovnai.“ [Hervorh.
A. N.-H.]
50 Ada Neschke-Hentschke

bewussten Zwecksetzung allein dem Menschen zugehört, müsste eine


Handlungstheorie in den Kontext des Wissens vom Menschen, eine Anthro-
pologie, gestellt werden. In der Tat findet sich in Platons Werk eine solche
in seinem Dialog Timaios. Jedoch die anthropologische Frage „was ist der
Mensch?“ ist nicht der Ursprung von Platons Lehre vom Menschen. Das
Antriebsmoment allen platonischen Denkens ist die Frage nach dem Gu-
ten, entsprechend der Aufforderung des platonischen Sokrates aus dem
Mythos der Politeia, dass es nur ein Wissen gibt, auf dessen Erwerb der
Mensch seine ganze Kraft anwenden muss: die Unterscheidung von Gut
und Schlecht. Wie aber lässt sich ein solches Wissen erwerben?
Ausgang jeder Erkenntnis ist der Name, Weg der Erkenntnis die Defini-
tion oder der Begriff (lovgo~), der in der Form des Gedankens (novhma) die
Gestalt (ei\do~) der vom Namen angezielten Sache aufzeigt (vgl. Nomoi
XII, 965 b7–c6, Epist. VII, 342 a7–e2). Nun lässt sich der Name „gut“
ebenso wie sein Gegenteil auf viele Gegenstände und Sachverhalte anwen-
den: So nennt man gut alles, was eine eigentümliche Gestalt besitzt, die
erlaubt eine besondere Leistung (e[rgon) zu erbringen (vgl. Politeia, I, 353
b2–353 e11). Das Prädikat „gut“ wird daher immer dann verwandt, wenn
dank ihrer Gestalt eine Sache sie selbst ist – das können Mensch, Pferd oder
ein Rebenmesser sein; erst dann ist sie zu ihrer Leistung fähig. Diese Über-
legungen machen klar, dass für Platon das Wort „gut“ zwar durchaus ein
wertendes Wort ist, jedoch dieser Wert weder aus einem höheren abstrakten
Wert noch aus einem „Gesetz“ oder einer Norm abgeleitet wird, sondern
aus der spezifischen Leistungskraft der Sache selbst, die das Prädikat „gut“
tragen kann, sofern sie die ihr eigentümliche, ihre spezifische Leistung
ermöglichende „Bestform“ (ajrethv) erreicht hat. In diesem Sinne ist „gut“
ein deskriptiv-ontologischer Term, er stellt das vollendete Sein eines Seien-
den fest. Die Frage nach dem Guten führt somit Platon zur Frage nach dem
jeweiligen Seinskern/Wesen des Seienden; denn, da das Prädikat „gut“ die
spezifische optimale Leistungsfähigkeit einer Sache meint,23 kann das je-
weilige spezifische Gute nur durch die Erkundung der Natur der Sache,
ihrer jeweiligen Besonderheit oder ihres Wesens (ei\do~/oujsiva) erkannt
werden. Ob ein konkretes Messer gut ist, kann erst ausgesprochen werden,
wenn das Messer genau dem Wesen des Messers entspricht. Dieses Wesen
geht aus dem Begriff (lovgo~) des Messers hervor, der besagt: Instrument
zum schneiden. Im scharf schneidenden Einzelmesser erlangt der Begriff
diejenige materielle Gestalt, welche die spezifische Leistung des Messers
erbringt (ei\do~///tavxi/~) vgl. Gorgias 503 d5–504 a9).

23
Zum Sein als „Kraft“ – duvnami~ – vgl. Sophistes 247 e4: „oJrivzein ta; o[nta wJ~ e[sti
oujk a[llo ti plh;n duvnami~.“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 51

Diese auf ganz heterogene Dinge angewandte Bedeutung des Wortes


„gut“ verdankt sich der Analogie/Proportion bzw. geometrischen Gleich-
heit, welche die grundlegende Denkfigur Platons ausmacht; denn es ist die
Analogie, die es erlaubt, Messer (A), Menschen (B) und Pferde (C) zu
vergleichen: Form und Leistung von A entsprechen proportional Form und
Leistung von B oder C. Dank der Analogie lassen sich daher ganz ver-
schiedene Sachen (A, B, C) innerhalb der Welt miteinander vergleichen –
aber auch die sinnliche Welt als Ganze mit dem geistigen Sein – und als
„ähnlich“ (o{moion) erweisen.24 Die Formel lautet daher: A1 (Form) zu A2
(Leistung) wie B1/C1 (Form) zu B2/C2 (Leistung).25 Das Denken in Analo-
gien statt in Kausalbeziehungen (Aristoteles) zeichnet das Platonische
Denken aus.26 An diesen Tatbestand ist zu erinnern, will man verstehen,
wie Platon zur Erkenntnis des menschlichen Guten gelangt ist, nämlich
durch die Analogie. Einen Hinweis gibt bereits der Gorgias; der platoni-
sche Sokrates erinnert daran, dass dank seiner inneren Analogieverhältnis-
se der Kosmos als Ganzer eine Ordnung darstellt, die ihn gut macht. Dieser
Hinweis dient hier rhetorisch dazu, dem Gegner Kallikles klar zu machen,
dass unmöglich die im unbegrenzten Luststreben erreichte Unordnung der
Seele das Gute des Menschen sein kann (vgl. Gorgias 507 c8–508 c3).
Statt sich, wie im Gorgias, mit einer Anspielung auf die Beziehung
zwischen Kosmos und Mensch zu begnügen, entwickelt Platon in der Poli-
teia und vor allem im Timaios eine ausgeführte Theorie vom Guten des
Menschen. Im Timaios wird das physikalische Universum als gut bezeich-
net, da es seinem Schöpfer, dem göttlichen Demiurgen, der gleichfalls gut
ist, ähnelt (vgl. Timaios 29 e3); wiederum soll es dem Menschen möglich
sein, durch die Betrachtung des guten Kosmos selber gut zu werden (vgl.
Timaios 90 c7–d8). Um das Gute welches spezifisch Seienden handelt es
sich aber hier? Die Analogie besteht in diesem Falle zwischen drei ver-
schiedenen Lebewesen (zw`/a): Der Gott wird als das vollkommene Lebe-
wesen beschrieben, da er durch seine Vernunft alles Denkbare in sich um-
fasst (ejn eJautw`/ perilabo;n e[cei, Timaios 30 c2–d1). Dieser, indem er den
tast- und sichtbaren Körper der Welt einer vernunftbegabten Seele ein-
schreibt, macht das dadurch entstandene Welt-Lebewesen, den Kosmos,
zum Abbild seiner selbst (vgl. Timaios 30 d1–31 a1). Obwohl er ein sinn-
lich fassbares Lebewesen ist, ist der Kosmos dennoch im Unterschied zum
Menschen unsterblich und autark; er bedarf keiner „Energiezufuhr“, was

24
Zur Analogie als Rationalitätstyp Gloy 1999.
25
Vgl. in Politeia VII, 505 a7–511 d5 die Analogien in Sonnen- und Liniengleichnis,
in Politeia II–IV die Analogie Seele/Polis.
26
Vgl. Bärthlein 1957 und Tornau 2007. Noch bei Plotin sind homonyme Verhältnisse
analoge Verhältnisse.
52 Ada Neschke-Hentschke

sich auch in seiner Kugelform und seiner Kreisbewegung ausdrückt (vgl.


Timaios 32 a5–34 a7). Dieser Tatbestand unterscheidet ihn vom nicht au-
tarken sterblichen Lebewesen Mensch; dennoch hat der sterbliche Mensch
dank seiner Seele an der göttlichen Vernunft teil (vgl. Timaios 41 d4 ff.).
„Gut“ sind sowohl Gott, Kosmos und Mensch, wenn sie Vernunft haben
und deren spezifische Leistung erbringen. Die Leistung der Vernunft aber
besteht in jedem Fall darin, im Nicht-Vernünftigen eine Vernunft gemäße
Ordnung zu schaffen, auf eine „demiurgische“ Weise Ordnung und Har-
monie herzustellen, m.a.W. den Begriff zu materialisieren. Inbegriff des
Demiurgen ist daher der welterschaffende Gott, welchem es gelingt, dem
chaotisch bewegten Empfangsort (uJpodochv) Zahlen und Formen einzuprä-
gen (vgl. Timaios 53 a7–b5). Die Weltseele übernimmt diese Rolle, indem
sie durch ihre vernünftige regelmäßige Bewegung (d. h. die Planetenum-
läufe) die Ordnung der Welt erhält (vgl. Timaios 36 d8–39 e2). Dank letz-
terer hat wiederum das Leben auf der Welt statt. Das einzige vernunftbe-
gabte Lebewesen, der Mensch, kann daher seinerseits nur gut genannt
werden, wenn er, die äußere Ordnung der Welt zum Vorbild nehmend, sein
Inneres in eine Ordnung bringt, in der die Vernunft ihre Rolle als Ord-
nungsschöpferin und -hüterin über die irrationalen Kräfte der Seele spielen
kann (vgl. Timaios 90 c7–d7). Gut wird der Mensch daher, wenn er sich
„Gott ähnlich macht“, sich „ordnet“ und „gerecht“ wird, denn der „Gott ist
im Höchstmass gerecht“ (Theätet 176 b8–c1).27
Dieser analogische Gebrauch des Namen des „Guten“ liefert den
Schlüssel sowohl für Platons Auffassung der Realität als auch für die viel
umstrittene Idee des „Guten“. Platons Ausgang ist nicht die Frage nach
Gott als höchstem Prinzip, noch fragt er nach einem höchsten Wert inner-
halb der menschlichen moralischen Welt; er betreibt weder Theologie noch
Moralphilosophie. Platon stellt die Frage nach „gut“ und „schlecht“ im
Hinblick auf eine Erkenntnis der gegebenen Realität in ihrer kosmischen
Verfasstheit, wie sie vor ihm durch Heraklit, Parmenides und die Pythago-
reer angestrebt war; aber er stellt sie auf ganz neue Weise. Als Erbe der
sokratischen Elenktik entwickelt er das dialektische Verfahren. Es besteht
in der Untersuchung all der Dinge, welche die Sprache als „gut“ zu be-
zeichnen pflegt. Über das „Gute von etwas“, z. B. des menschlichen, kos-
mischen und göttlichen Lebewesens muss das „Gute an sich“ gefunden
werden, d. h. der Begriff des Guten selber, der sich auch auf den Gott an-
wenden lässt. Das besagt: Das Gute ist mit dem Namen und seinem
Gebrauch „gesetzt“ bzw. “vorgegeben“; seine Erkenntnis jedoch steht am
Ende eines langen Prozesses der „Zusammenschau“ (suvnoyi~) all der Din-

27
„qeo;~ oujdamh`/ oujdamw`~ a[diko~ ajllæ wJ~ oi|ovn te dikaiovtato~.“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 53

ge, die das Prädikat „gut“ tragen können (vgl. Politeia VII, 534 b8–d1).
Diese Zusammenschau verdankt sich, wie gezeigt, der Analogie der ver-
schiedenen Dinge innerhalb eines Seinsbereiches, aber auch der Seinsbe-
reiche untereinander, wie die Analogie der drei Vernunftwesen zeigte. Das
Gute an sich, rein zu denken, muss dann von allen Anwendungen absehen,
muss ohne das „Gute eines jeweiligen Wesens (oujsiva)“ zu sein, als ein
eigenes Wesen, als Idee, gedacht werden. Dazu bedarf es einer besonderen
Anstrengung des Denkens, da hier das die Wesensfrage stellende Denken
(tiv ejstin;) auch nach der Bedingung seiner eigenen Möglichkeit fragt: Was
macht wesentlich Soseiendes (oujsiva) und sein Denken (noei`n) aus, was ist
deren „Grundlage“ (uJpovqesi~)? Der Weg zum „Guten selbst“ besteht dar-
in, das Denken auf eine Metaebene zu heben, die jenseits der Frage nach
dem Wesen des Besonderen liegt und doch dieses qua dessen Bedingung
zu begreifen vermag. Den aristotelischen Zeugnissen zu Platons inneraka-
demischen Lehren zufolge hat Platon in einem auf pythagoreischen Ge-
dankengut aufbauenden und wiederum analogischen Abstraktionsschritt
die Idee des Guten über die metaphysischen Zahlen gestellt und mit der
Grenze bzw. Einheit identifiziert, der er ein Gegenteil, das Schlechte und
das Viele, das als Unbegrenztes zwischen Gross und Klein schwankt, ge-
genübergestellt (vgl. Metaph. I, 987 b18 ff.).28 Das Gute bzw. Eine wurde
darüber hinaus abermals dank der Analogie29 mit dem göttlichen Geist in
Parallele gesetzt, d. h. dem Einen als Prinzip der metaphysischen Zahlen
korrespondiert der göttliche Geist in Bezug auf das Ganze der Ideenwelt;
dieser ist mit dem „die Ideen umfassenden vollendeten Lebewesen“ im
Timaios (30 c4–d1) gemeint, gehören doch Leben, Denken und Bewegung
zum Ganzen der Ideenordnung hinzu (vgl. Sophistes 248 e6–249 a2) und
ist doch das „Wesen“ des Denkens „Bewegung“ (vgl. Sophistes 248 e6;
Nomoi X, 898 a8).30 Da nun hinter das Gute bzw. Eine als Bedingung des
wesentlichen Soseins der Dinge nicht mehr zurückgegangen werden kann,
es also selber keiner Unterlage (uJJpovqesi~) bedarf, ist es ein ajn-upovqeton
und als solches Prinzip. Zugleich, da ihm das jeweilige Soseiende (e{n
e{kaston), die denkbare Idee, seine Erkennbarkeit und der es fassende
Geist seine Erkenntniskraft verdanken, ist das Gute zugleich Prinzip und
Medium der Erkenntnis. Erst im Rahmen einer so spekulativen Universal-

28
Zur Rekonstruktion vgl. Krämer 1959, 380 ff. und Gaiser 1963.
29
Vgl. Aristoteles, De an. I, 2, 404b21–b24: Analogisch entsprechend sind: „Einheit,
Zweiheit, Dreiheit, Vierheit“ mit „Punkt, Linie, Fläche, Körper“ mit: „Geist, Er-
kenntnis, Meinung und Wahrnehmung.“
30
Dem „Einem“ bzw. „Geist“ sind jeweils analogisch Vielheit bzw. Ungeistiges
gegenübergestellt. Damit entging Platon der Aporie des Parmenides und Sophistes,
dass ein absolut Eines nicht gedacht noch gesagt werden kann.
54 Ada Neschke-Hentschke

ontologie31 glaubte Platon also, das Gute des Menschen bestimmen zu


können. Immer, wo er das spezifisch menschliche Wesen in seinem Gut-
sein/Tugend als innere Einheit, Ordnung und Gerechtigkeit darstellt (vgl.
Gorgias, Politeia, Theätet und Nomoi) hat er längst von seiner Auffassung
des Guten an sich Gebrauch gemacht. Das soll kurz gezeigt werden.
Als Lebe-, d. h. psycho-somatisches Wesen besitzt der Mensch eine
„Seele“, welche die zwei Pole seines Wesens, die Vernunft und den Kör-
per, vermittelt; denn kein Körper kann der Vernunft unterworfen werden,
dem nicht eine „Seele“ innewohnt. (vgl. Timaios 30 b3).32 „Seele“ als Le-
bensprinzip bedeutet aber „Bewegungsimpuls“, Seele/Leben ist das Prinzip
der Bewegung bzw. der inneren Impulsnatur des Menschen (vgl. Phaidon
105 b9–e8; Nomoi X 895 c1–c3; Phädrus 245 c5–d1). Letztere umfasst
einerseits die Bewegung des Denkens (nou`~) – sie ist immateriell und da-
her ewig (vgl. Timaios 41 d4–44 d2) – andrerseits die Antriebe, bei denen
die „Wallungen“ Emotionen (qumov~) von den „Begehren“ (ejpiqumiva) un-
terschieden werden müssen; diese Impulse sterben mit dem Körper wieder
ab (vgl. Timaios 69 a6–72 d8). In der Tat sind die diversen Begehren dazu
notwendig, den im Unterschied zum Weltkörper nicht autarken sterblichen
Körper des Menschen dank der Nahrung am Leben zu erhalten und das
Menschengeschlecht dank des Zeugungsaktes zu perpetuieren. Hierbei
dienen die Emotionen als Vermittler, wenn es zum Konflikt zwischen Ver-
nunft und Begehren kommt. Genauer ist es jedoch zu sagen: Sie sollten als
Vermittler und Helfer der Vernunft dienen. Zu beachten ist nämlich, dass
die Theorie Platons der trichotomischen Impulse der Seele vorerst nur ein
Potential der lebensdienlichen Kräfte beschreibt, ihr wirkliches Funk-
tionieren hängt immer schon davon ab, ob diese Potenzen von Kind auf
dank einer heilsamen Umwelt richtig gelenkt wurden, ob der Menschen
gelernt hat, mit seinen Impulsen im rechten Sinne umzugehen. Nur unter
dieser Bedingung wird er nicht das Opfer seiner Triebe, sondern Herr sei-
ner selbst, da die Vernunft Emotionen und Begehren in ihren Dienst nimmt
und nicht umgekehrt, von diesen dienstbar gemacht wird.33

31
Deren philosophische Qualität ist gemäß den Maßstäben der aristotelisch-klassischen
Logik (vgl. dazu Gloy 1999, 218–224), die das Analogiedenken weitgehend verab-
schiedet hat, äußerst zweifelhaft. Zum aktuellen Analogiedenken ebd., 234–243.
32
„nou`n dæ` au\ cwri;ß yuch`~ aJduvnaton paragenevsqai tw/.“
33
Politeia, V, 491 d1–492 a5. Platon illustriert diese Plastizität des Menschen mittels
der Verfallsgeschichte der Verfassungen in Politeia VIII und IX. Die bekannte
eminente Bedeutung der frühkindlichen und späteren Erziehung in den platonischen
Staatsentwürfen resultiert aus dieser Anthropologie. Zur Erziehung bei Platon vgl.
Cleary 2003.
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 55

Dieser Zustand einer durchgängigen Selbstkontrolle der Seele dank ih-


rer Vernunft erlaubt dem Menschen, sich als Vernunftwesen zu konstituie-
ren. Für die Beschreibung dieses Zustandes bedient sich Platon zweier
weiterer Analogien: die der Polis und die des musikalischen Vielklangs.
Der vernunftgeleitete Mensch ist wie eine souveräne Polis Herr seiner
selbst (ejgkravteia, a[rxanta aujto;n eJautou`);34 dank der Herrschaft der
Vernunft, die die unvernünftigen Wallungen und Triebe lenkt, befindet er
sich im Zustand der Harmonie (aJrmoniva), der Konsonanz (sumfwniva) und
des Wohlklangs (ejmmelhvß). Deren Gegenteil sind Disharmonie (ajnar-
mostiva), Dissonanz (ajsumfwniva) und Missklang (plhmmevleia).35 Der
Gegensatz von Harmonie und Disharmonie zeigt den guten und den
schlechten Menschen: Im ersten ist der Mensch als Mensch, als ein ver-
nünftiges Lebewesen verwirklicht, im zweiten ist er seiner selbst verlustig
gegangen; er hat den Menschen in sich verkümmern lassen. Prototyp ist
der Tyrann (vgl. Politeia IX, 588 b10–589 b7).
Das Wissen um die eigene Natur bliebe aber für den Menschen ein
„theoretisches“, d. h. praktisch folgenloses Wissen; eine beschreibende
„Psychologie“ ist eine theoretische Wissenschaft, kein handlungsleitendes
Wissen. Um ein solches zu werden, muss dazu gewusst werden, dass die
Vernunftnatur das Gute des Menschen sei; setzt doch der Mensch sein
Handeln um des Guten willen in Bewegung. Daher betont der platonische
Sokrates in der Politeia, dass es nicht auslangt zu wissen, was das Gerechte
sei, sondern es müsse hinzukommen zu wissen, warum es das Gute sei
(vgl. Politeia V, 504 e7–505 b3). Dies aber ist nur möglich, wenn man
einen lovgo~ des Guten, den seine Idee aufweisenden Begriff besitzt. Er
verschweigt allerdings die Tatsache, dass in seiner Beschreibung der Ge-
rechtigkeit der Seele der Begriff des Guten als die zu spezifischer Leistung
befähigende Tüchtigkeit und deren Grundlage, das Gute an sich als die
Kraft spendende Einheit, längst eingegangen war; denn der Begriff des
Guten als Hintergrund der gesamten Psychologie versteckt sich in der Ana-
logie der „Harmonie der Seele“: Sie beschreibt den Zustand, in welchem
selbst Kräfte wie Vernunft und Begehren, die auf Grund ihrer spezifischen
Natur auseinanderstreben und sich gegenseitig zu vernichten trachten, dazu

34
Politeia IV, 443 d4
35
aJrmoniva: Politeia IV, 430 e4; Phädon 93 e6; Symposion 187 b4; Kratylos 405 d1;
Timaios 37 a1. sumfwniva: Nomoi II,653 b6, 649 e3, III 689 d5, d7. ejmmelhv~: Criti-
as 106 b4, 121 c1. ajnarmostiva: Phädon 93 e6; Politeia III, 401 a6. diafwniva (auch
ajmousiva): Nomoi III, 689 a7; 691 a7. plhmmevleia: Nomoi III, 689 b7; 691 a7.
Dank ihrer plastischen Aussagekraft wird musikalische Analogie bevorzugt in den
Nomoi gebraucht. Es gilt: Nomoi II, 653 b6: „au{th ejsq’ hJ sumfwniva sumpa`sa me;n
ajreth.v“ (III, 659 e3; III, 689 d5; d7) [Hervorh. A. N.-H.].
56 Ada Neschke-Hentschke

gebracht werden können, in eine einzige und gemeinsame Richtung stre-


bend zusammenzuarbeiten; das Ergebnis ist die „Einheit“ (ei|ß), die den
Menschen allererst zur vernunftgeleiteten und daher effizienten Person
erhebt (vgl. Politeia IV, 443 e1).36 Dasselbe gilt für das Gutsein der Polis,
da ihre Einheit Frieden und Stärke bedeutet.37 Gut- bzw. Einssein stellt
dabei, wie oben betont, keine moralische, sondern eine ontische Qualität
dar, da es die Leistungsfähigkeit des Menschen als eines spezifisch Seien-
den bezeichnet.
Um gerecht zu handeln, muss der Mensch daher zwar wissen, worin
die Gerechtigkeit besteht, aber zugleich, dass es sie ist, die das von ihm
immer schon angestrebte Gut ausmacht. Da nun in Platons analogischer
Denkweise das jeweilige Gute nur durch die Idee des Guten im vollgülti-
gen Sinn erkannt werden kann – das beinhaltet immer, über die Antwort,
was das Gute sei, Rechenschaft ablegen zu können – kann es nur der Philo-
soph sein, welcher den Menschen eine vollgültige Antwort auf ihre Frage
nach dem Guten geben kann. Nur wer das Wissen vom Guten selbst be-
sitzt, im Denken erreicht hat, kann daher beanspruchen, eigenes und frem-
des Handeln dahingehend zu lenken, dass das gewollte Gute erreicht und
besessen werden kann. Hierauf gründet die geschichtlich einmalige Tatsa-
che, dass Platon die Forderung nach der Herrschaft der Philosophie erho-
ben hat; denn für Platon gilt, dass „erst durch Hinzuziehen des Guten
(proscrhsavmena) Gerechtes und Anderes nützlich und heilsam werden.“
(Politeia VI, 505 a2–a4).38 Aus dieser grundlegenden Funktion des Guten
leitet Platon die Notwendigkeit ab, dass die Lenker der Polis ein Wissen
von ihr besitzen:

„[…] Was die Unkenntnis betrifft, inwiefern denn eigentlich das Gerechte und
Schöne gut sind, so werden die Bürger der Stadt keinen sehr wertvollen Wäch-
ter besitzen, der diese Unwissenheit besitzt […].“
„[…] Und erst dann wird die Stadt vollendet geordnet sein, wenn über sie ein
solcher Wächter die Aufsicht führt, der dieses Wissen besitzt (ejpisthvmwn).“
(Politeia VI, 506 a4–506 b1).39

36
„[…] pantavpasin e{na genovmenon ejk pollw`n.“ [Hervorh. A. N.-H.]
37
Vgl. Arends 1984.
38
„ejpei; o{ti ge hJ tou` ajgaqou` ijdeva mevgiston mavqhma, pollavkiß ajkhvkoa~, h|/ dh; kai;
divkaia kai; ta\lla proscrhsavmena crhvsima kai; wjfevlima givgnetai.“
39
„Oi\mai gou`n divkaia kai; kala; ajgnoouvmena oJph`/ pote ajgaqav ejstin, ouj pollou`
tino~ a[xion fuvlaka kekth`sqai a]n eJautw`n tovn tou`to ajgnoou`nta […]. Oujkou`n
hJmi`n hJ politeiva televw~ kekosmhvsetai ejpei; toiou`to~ auJth;n eJpiskoph`/ fuvlax oJ
touvtwn ejpisthvmwn […].“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 57

Erst im Besitz dieses Wissens können ja die Herrscher, dem Platonischen


Wissensverständnis folgend, über ihre Praxis als Gesetzgeber, die den
Menschen zu seinem Guten führen soll, Rechenschaft ablegen – lovgon
didovnai;40 denn sie könnten zeigen, dass das von den Menschen angestreb-
te Gutsein, seine vernunftgeleitete innere Einheit, genau dem entspräche,
was den Sachgehalt des Begriffs des Guten ausmache.
Fassen wir zusammen: Platons ungewöhnliche Stellung in der Ge-
schichte der Philosophie, der Philosophie Herrschaftskompetenz zuzu-
schreiben, beruht somit auf dem Faktum, dass es die Frage nach dem Gu-
ten und Schlechten war, die sein ganzes Denken von Anfang bis Ende in
Bewegung hielt. Die schlichte Frage, was denn das Gute sei, das jeder
Mensch im Handeln anstrebt, wird dank der Analogie-Methode zur Frage
nach dem Guten an sich. Daraus aber ergibt sich, dass die Theorie, die dem
Menschen echtes Handeln erlaubt, nicht nur eine Theorie des menschlichen
Guten sein darf, sondern des Guten an sich. Das Gute des Menschen zu
bestimmen, kann also nicht durch eine „Regionalontologie“, sondern nur
im Rahmen einer allgemeinen Ontologie eingelöst werden, die das Sein
aus seinem Prinzip verstehen macht. Platon selber nennt diese Theorie die
„echte Philosophie“ (gnhsiva filosofiva, vgl. Phädon 66 b2; Politeia V,
473 d2) oder dialektische Kunst (dialektikh; tevcnh, vgl. Phädrus 265 a6–
266 c1; Philebos 57 eb–59 d6)..Hier wird also eine Universal-Theorie an-
gestrebt, die man später metaphysica generalis nannte.
Aber auch umgekehrt: Man sieht am platonischen Dialogwerk, wel-
ches in den Gesetzen mündet, dass diese allgemeine Form der Ontologie,
die vom dem spezifischen Problem des menschliche Lebens und Handelns
und seiner immanenten Richtung, das wahre Gute anzustreben, ausging, zu
diesem wieder zurückkehrt. Es zeigt sich also, dass die Idee des Guten als
handlungsleitende Idee nie aufgegeben wurde.41 Im Philebos macht Platon
den originellen Versuch, auch das gute Leben als das „aus Einsicht und
Lust gemischte Leben“ in mathematisierende Strukturen einzubinden. Die-
se „abstrakte Theorie“ steht nicht für sich; denn auf ihrer Grundlage rech-
net der philosophische Gesetzgeber der Nomoi den Bürgern seines Staates
vor, dass das „gute Leben“, welches sie alle wollen, genau diese gemischte
Struktur besitzt (vgl. Nomoi V, 732 d8–733 d6).

40
Noch die Gesetzeswächter der Nomoi werden in diesem Wissen geschult (vgl.
Nomoi XII, 964 b8–965 e8).
41
Zeuge ist auch die diesbezügliche Kritik des Aristoteles, vgl. EN I, 1095 a26–a28;
1096 b14–1097 a 15.
58 Ada Neschke-Hentschke

II.3 Die Priorität der Praxis als Zeichen des Lebens


Schon eingangs haben wir bemerkt, dass das Theorie-Praxis-Problem bei
Platon die These von der Priorität der Praxis enthält.42 Welche Begründung
liefert uns jedoch der Philosoph für diese, sein gesamtes Unternehmen lei-
tende Absicht, der Philosophie „einen Sitz im Leben“ zu verleihen? Die Ant-
wort auf diese Frage findet sich in Platons Konzeption der „Seele“ (yuchv).
In der Tat, mit dem Namen „Seele“ (yuchv) fasst, wie wir schon sa-
hen,43 Platon sehr heterogen erscheinende Funktionen. Unter ihnen kom-
men der Seele vor allem zwei Leistungen zu: Sie garantiert einerseits das
Leben, da es eine ihrer wesentlichen Eigenschaften ist, einen Körper zu
beleben; andererseits ist die Seele der Sitz des Denkens und des Denkver-
mögens, der Vernunft (nou`~). Somit stellt sich die Frage, ob es einen ge-
meinsamen Nenner dieser heterogenen Funktionen der Seele gibt. In der
Tat scheint Platon einen solchen darin gefunden zu haben, dass er der Ver-
nunft Bewegungscharakter zuschreibt (vgl. Sophistes 248 e6–249 a2; No-
moi X, 898 a3–b3) und daher vom Phädrus bis zu den Nomoi die Seele, die
zugleich Lebens- und Denkkraft enthält, allgemein als „sich selbst und
anderes bewegendes Prinzip der Bewegung“ vorstellt (vgl. Phädrus 245
c5–246 a2; Nomoi, X, 895 c1–896 a5). Selbstbewegung der Seele meint
die Spontaneität, welche die Seele der mechanischen Kausalität (der
ajnavgkh) entzieht (vgl. Nomoi X, 894 b8–896 c4); sie besteht darin, dass
die Seele sich Ziele setzt, mit anderen Worten, dass ihre von nichts ande-
rem als ihrer selbst abhängige Bewegung in einem Streben nach einem Ziel
besteht. So muss nach dem Ziel dieses Strebens gefragt werden!
Platons Antwort ist bekannt; denn an einer emphatischen Stelle in der
Politeia wird die Suche nach dem Guten als eines Gegenstands des Wis-
sens damit begründet, dass es sich um denjenigen fundamentalen Gegen-
stand handelt, den „jede Seele“ (pa`sa yuchv) – nota bene: nicht nur die des
Philosophen – immer schon anstrebt:

„Was eine jede Seele verfolgt und um dessen willen sie alles tut, wobei sie
vermutet, dass es etwas Bestimmtes sei, aber ohne Antwort bleibt und nicht
hinreichend erfassen kann, was sein Wesen ist noch sich auf eine feste Über-
zeugung stützen kann wie bei den anderen Dingen, mit der Folge, dass sie
auch bei den übrigen Dingen versäumt, was ihr heilsam wäre […]“ (Politeia
VI, 505 d11–e4).44

42
Vgl. oben, Teil I.1.
43
Vgl. oben, Teil I.3.
44
„o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei, ajpomanteuomevnh ti
ei\nai, ajporou`sa de; kai; oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejsti;n oujde; pivstei
crhvsasqaiv monivmw// oi|a/ kai; peri; ta\lla, dia; tou`to de; ajpotugcavnei kai; tw`n
a[llwn ei [ti o[felo~ h\n […].“
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 59

Das Gute als der höchste Gegenstand, von dem der Mensch durch Lernen
ein Wissen erwerben kann (to; mevgiston mavqhma) ist, diesen Worten zufol-
ge, zugleich das allgemeine, das jeden Menschen treibende Ziel seiner
yuchv; letztere betreffend unterstreicht Platon, dass sie zwar von Natur auf
die Bahn des Guten gesetzt, dass ihr aber ein eingeborenes Wissen versagt
wurde, worin denn ihr Gutes besteht; der Mensch muss erst lernen, was
ihm frommt (o[felo~),45 was für ihn gut ist, indem er nach dem Wesen des
Guten (tiv pote ejsti;n to; ajgaqo;n;) fragt. Platons Aussage, dass die Frage
nach dem Guten dem Lebewesen Menschen grundsätzlich eingeschrieben
ist, zeigt, dass sie somit kein Privileg des Philosophen ist. So ist zu fragen,
woher denn diese Ausrichtung auf das Gute im Menschen herrührt und ob
sie an den Phänomenen nachweisbar ist.
Auf solche Phänomene macht nun die Seherin Diotima in Platons Sym-
posion den wissensdurstigen Sokrates aufmerksam; es geht ihr darum zu
beweisen, dass „ohne Einschränkung gilt, dass sich alle Menschen nach
dem Guten sehnen“ (Symposion 206 a3–a4).46 Daher führt ihre Erklärung,
im Unterschied zu der enigmatisch bleibenden Bemerkung des Sokrates
der Politeia, eine Stufe näher an die menschliche Natur heran; Diotima
nämlich weiß, was die Menschen dazu bringt, im Handeln etwas zu verfol-
gen (diwvkein, vgl. Politeia VI, 505 d11). Dahinter steht die Gewalt der
Sehnsucht, des e[rw~. Dieser Eros ist ein Dämon, ein Zwischenwesen, da er
zwischen dem bloß Menschlich/Sterblichen und Göttlich/Unsterblichen
vermittelt. Das bedeutet für den sterblichen Menschen, insofern er immer
vom Eros besessen ist, dass er über sich hinaus dank seines Gutwerdens an
der Unsterblichkeit teilhaben will (vgl. Symposion 211 d8–212 a7). Platon
verankert somit im Symposion das „Verfolgen eines Zieles“ (diwvkein), das
sich in vielfältigen Handlungen äußert, in einer die menschliche Seele
beherrschenden halb transzendenten Kraft, dem Eros. Von ihm heißt es:

„Für jede Begierde nach den Gütern und dem Glück ist für jeden Menschen der
Eros die Ursache, der größte und listige Dämon“ (Symposion 205 d2–d3).47

Von dieser Kraft werden, wie die lange Rede der Diotima zeigt, alle Men-
schen empirisch nachweisbar bewegt;48 sie differenzieren sich aber da-
durch, auf welche Weise sie ihre Sehnsucht zu erfüllen suchen.

45
Zur besonderen Bedeutung von o[felo~ vgl. die Analyse von Wieland 1984, 165 ff.
46
„ou{tw~ aJplou`n ejsti levgein o{ti oiJ a[nqrwpoi tajgaqou` ejrw`sin.“
47
„Pa`sa hJ tw`n ajgaqw`n ejpiqumiva kai; tou` eujdaimonei`n oJ mevgistov~ te kai; dolero;~
e[rw~ panti;.“
48
Symposion 207 a7–a9: „[…] oujk aijsqavnh/ wJ~ deinw`~ diativqentai ta; qhriva […].“
[Hervorh. A. N.-H.] Diotima belehrt Sokrates durch den empirischen Tiervergleich
über das Verhalten der Menschen.
60 Ada Neschke-Hentschke

Gibt man dem halb mythischen Diskurs der Diotima im Symposion,


der die rätselhafte Bemerkung des Sokrates in der Politeia aufzuklären
hilft, eine rationale Deutung, so ergeben sich folgende Aussagen Platons:
Die Praxis geht der Theorie voraus, da die Praxis selber in einen ursprüng-
lichen naturhaften Lebensdrang, der Sehnsucht nach dem Guten, einge-
schrieben ist: „Um des Guten willen führen alle [Menschen] alle Handlun-
gen aus“ (Politeia VI, 505 d11).49 Dieses Lebensgesetz, dessen kosmische
Dimension sich der Mittelrolle des Eros verdankt – „denn durch den Eros
ist das Universum mit sich selbst zusammengebunden“ (Symposion 202
e3–e7)50 – gilt auch für den Philosophen; auch sein Tun gilt seinem Guten
und seiner Glückseligkeit. So stellt die Diotima des Symposion die Philo-
sophie als einen der vielen Wege zum Glück als des Guten dar (vgl. Sym-
posion 211 d8 d4–212 a7). In der Politeia jedoch lässt Platon die Koexis-
tenz der verschiedenen Wege zum Guten nicht mehr gelten; der Satz „beim
Guten wollen die Menschen nicht den Schein, sondern das Wahre“ (Poli-
teia VI, 505 d7–d9),51 unterstreicht, dass die verschiedenen Bestimmungen
des Guten nicht mehr miteinander konkurrieren können, da es nur eine, die
wahre, geben kann und dass die Menschen, ohne es selber zu wissen, auf
diese eine wahre Bestimmung hinstreben.
So zeigt sich: Zwar teilt der Philosoph das Schicksal aller Menschen,
als ein Lebewesen, d. h. Psyché-Träger, von der Sehnsucht und der Frage
nach dem Guten, was es denn sei, bewegt zu werden.52 Jedoch im Unter-
schied zu den übrigen Menschen kommt sein Fragen auch zum Ziel; denn
die dialektische Antwort auf die Frage nach dem Wesen des Guten erbringt
dessen zwar schwierige, aber dennoch mögliche Erkenntnis. Allerdings ist
die Erkenntnis des Guten noch nicht das Ziel selbst; wird sie doch gesucht,
um es immer zu besitzen.53 Was Platon damit meint, zeigen wiederum die
Ausführungen in der Politeia. Ist einmal die Erkenntnis der Ideen (die
durch die Idee des Guten eine Ordnung bilden) erlangt, stellt sich nach
Platon eine neue Bewegung der Seele ein; die Erkenntnis der Ordnung
erfüllt den Erkennenden mit Bewunderung (a[gasqai, vgl. Politeia VI, 500
c6) und lässt ihn danach streben, sich dieser Ordnung anzugleichen, „dem
Göttlichen gleich zu werden“ (ajfomoiou`sqai, mimei`sqai, Politeia VI, 500

49
Vgl. oben, Anm. 44: „o} dh; diwvkei a{pasa yuch; kai; touvtou e{neka pavnta pravttei
[…].“
50
„[…] w{ste to; pa`n aujto; auJtw`/ sundedevsqai […].“
51
„ajgaqa; de; oujdeni; ajrkei` ta;; dokou`nta, ajlla;; ta;; o[nta zhtou`sin.“ [Hervorh. A. N.-H.]
52
Vgl. oben, Anm. 46: […] oujk e[cousa labei`n iJkanw`~ tiv potæ ejstivn […].“[Hervorh.
A. N.-H.]
53
Politeia VI, 505 d8: kta`sqai; Symposion 206 a11–a12: „to; ajgaqo;n auJtw`/ ajei; ei\nai.“
[Hervorh. A. N.-H.]
Warum Philosophie? Die Antwort Platons 61

c5–c7). Somit findet das Streben des lebendigen Wesens Mensch nicht
schon in der Erkenntnis des Guten seine Erfüllung, sondern erst dann,
wenn sich der Mensch dem erkannten höchsten Guten handelnd angegli-
chen hat. Letzteres besitzt die Glückseligkeit (eujdaimoniva, vgl. Symposion
205 a1–a8), ist es doch dank seiner überlegenen Macht, Gutes zu stiften,
dasjenige, dem die Glückseligkeit am meisten zukommt:[…] „to; eujdaimo-
nevstaton tou` o[nto~ […]“ (Politeia VII, 526 e3–e4).
Platons Erkenntnis- und Handlungslehre verbindet sich somit mit einer
beide umfassenden Konzeption des Lebewesens Mensch als einer Seh-
nens- und Strebensnatur, auf deren Grundlage allein die Frage nach dem
Ort und der Funktion der Theorie, d. h. der wahren Philosophie als Dialek-
tik und Erkenntnis des Guten, beantwortet werden kann und darf. Da diese
„Theorie“ keineswegs Selbstzweck ist, sondern im Dienst des Lebens
steht, um die rechte Lebenswahl zu treffen, heißt sie bei Platon nicht, wie
bei Aristoteles „Betrachtung“ (qewriva, vgl. EN I, 3, 1096 a4; Politik, VII,
14, 1333 a25), sondern frovnhsi~, nou`~ bzw. filosofiva: Klugheit, Ver-
nunft bzw. Streben nach Weisheit.54 Die Frage „Warum Philosophie?“
findet ihre Antwort darin, dass die Philosophie die Klugheit bzw. Weisheit
zu erwerben verhilft, die der Mensch bedarf, um die Glückseligkeit zu
erreichen, die zu erlangen dem Lebewesen Mensch dank seines Strebens
nach Selbstverwirklichung eingeschrieben ist. Philosophie hat somit die
Rolle der „Grammatik des Lebens“.55 Genau an diesen Zusammenhang
von Leben (yuchv, zwhv) Streben (e[rw~, o[rexi~) und Gutem (ajgaqovn, euj-
daimoniva) bei Platon konnte die praktische Philosophie des Aristoteles
anknüpfen. Wie eingangs gezeigt, hat Aristoteles es allerdings verstanden,
die Frage nach dem Guten des Menschen so zu stellen, dass bereits eine
Regionalontologie, die Philosophie vom Sein des Menschen, die Antwort
bereitstellen konnte.56

54
Platon gebraucht häufig das Verb qewrei`n zur Bezeichnung des Erkennens und
Betrachtens, jedoch weniger häufig das Verbalsubstantiv. Zur prioritären Verwen-
dung von frovnhsi~, nou`~ und filosofiva vgl. das Lexikon von des Places 21970
und den Index von Brandwood 1976.
55
Vgl. oben, Teil I.1.
56
Grundlage ist sein anderes Verständnis der Mathematik und des Einen (vgl. Aristo-
teles, Metaph. IX, 1052 a15–1052 b2).
62 Ada Neschke-Hentschke

Literatur

1. Quellen
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—, Metaphysica, ed. W. Jaeger, Oxford 1957 (= Metaph.).
—, Fragmenta selecta, ed. W.D. Ross, Oxford 1955 (= Fragm.).
Kant, I., Über den Gemeinspruch, das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für
die Praxis (1793), in: ders, Werke in sechs Bänden, Bd. VI, hg. v. W. Weischedel,
Darmstadt, 127–172.
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(Platon, Werke IX, 2, Göttingen 1994 (= Schöpsdau 1994).

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Neschke, A./Sepp, H.R. (Hg.), 2008: Philosophische Anthropologie. Ursprünge und
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Warum Philosophie? Die Antwort Platons 63

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Wieland, W., 1982: Platon und die Formen des Wissens, Göttingen [21999].
Why Study Medieval Philosophy?

John Marenbon

The simplest answer is a rather shocking one. ‘Medieval philosophy’


should not be studied at all! But this answer – as the inverted commas indi-
cate – is about the packaging rather than the goods themselves. There are
very good reasons for studying philosophers such as Boethius, Abelard,
Avicenna, Aquinas, Maimonides, Scotus, Ockham and many others, but
the term ‘medieval philosophy’ itself is unhelpful or even misleading, and
we would do better to drop it, and give up the subject-division for which it
stands. This is the theme of Part III. The subject of Part I is more general.
It considers the justifications for studying what I shall label ‘antiquated
philosophy’ of any sort. ‘Antiquated philosophy’ certainly includes the
texts usually labelled as medieval philosophy, and so Part I provides a
justification for why they should be studied; but there is a particular char-
acteristic – their frequent connection with revealed religion – which might
be used either to provide a different, special justification for studying them,
or, by contrast, a reason for thinking that the medieval material should be
excluded from the general justification. These two possibilities are the
theme of Part II.1

I. Studying antiquated philosophy: some justifications

Some of the philosophy of the past is connected with present-day phi-


losophizing, because it regularly provides at least the starting-points for
discussion. Many parts of the work of Hume, Kant and Frege, for exam-
ple, and certain aspects of Descartes, Leibniz and perhaps Aristotle are
connected to philosophy now in this way. For philosophy of the past

1
I have deliberately kept the annotation sparse. For those wishing to investigate
further into the methodological questions about medieval philosophy, see Aertsen
and Speer 1998, 19–68; Cameron/Marenbon 2011; Flasch 1987; de Libera 1991,
2000; Marenbon 2000; Rosemann 1999 and, for references to the older literature,
Marenbon 1987, 214 f.
66 John Marenbon

which does not have such a connection, I shall use the description ‘anti-
quated philosophy’. Where past philosophy is not antiquated, no special
justification needs to be sought for studying it, because it clearly needs to
be studied as part of studying and practising contemporary, living phi-
losophy. By contrast, when it is antiquated, then studying it needs special
justification, beyond whatever justification there is for studying philoso-
phy itself.
Most historians of philosophy, and many philosophers themselves, will
object to the label ‘antiquated philosophy’. ‘Antiquated’ carries the impli-
cation of no longer being of value. A computer is antiquated when it can
no longer function with up-to-date programs, a custom is antiquated when
it serves no purpose in the modern world, but can philosophy be anti-
quated? Yet it is not a description that should be lightly dismissed. We
speak of ‘antiquated medicine’ and ‘antiquated physics’, and we do not
expect today’s doctors or physicists to devote professional time to them. If
there is a difference to be made in this respect between these subjects and
philosophy, it needs to be described and argued for. Indeed, this is pre-
cisely what is done by some of the justifications for studying antiquated
philosophy – they try to show that, in one way or another, even if philoso-
phy of the past lacks a connection with philosophy now, it remains valu-
able. The pejorative implication in the expression ‘antiquated philosophy’
is useful precisely because it points out the burden is on those who study it
to provide a justification of this sort or another.
It is easy to be lulled into a false security by the fact that even the most
analytical Department of Philosophy include in their undergraduate courses
a few great texts of philosophy from the past, including some that are,
arguably, antiquated. Since everyone agrees that such texts should be read,
there must be some reason to read them – so it is tempting to think. But
maybe they are there on the syllabuses just because no one has thought to
remove them, or because philosophers think, quite irrationally, that a show
of historical knowledge gives weight to their ideas.
For those whose special interest is medieval philosophy, the need to
find a justification is particularly pressing, because so much of it is anti-
quated. Writers from the Middle Ages like Anselm, Aquinas and Scotus do
provide the points of departure for some parts of contemporary work in
philosophy of religion, and so there are a few aspects of their thinking that
are not antiquated – but just a few.
Here, then, are six types of justification for studying antiquated philoso-
phy. They certainly do not cover the whole range of possible justifications,
nor all the positions different writers take. But much of the debate about this
area relies on a version of one or another or a combination of these views –
Why Study Medieval Philosophy? 67

as, indeed, will a sixth type of justification, my own, which borrows some-
thing from most of these positions, but also offers something new.

(a) The ‘Philosophical’ Approach. Arguments and positions in antiquated


philosophy can be found which contribute usefully to contemporary discus-
sions.
This position is tantamount to saying that some or all antiquated philoso-
phy is antiquated only until it is rescued by someone who forges a link,
missing until now, between it and present-day philosophizing. Its advo-
cates accept the idea that philosophy can become antiquated, but being so
is a provisional condition (though presumably they accept that much past
philosophy will always remain antiquated).
It is hard to fault this argument in theory – if the philosophy ceases to
be antiquated, then studying it no longer needs a special justification. But
can arguments and positions in antiquated philosophy really be made to
contribute usefully to contemporary discussions? There are examples (for
instance, Aristotle’s virtue ethics, which was once antiquated but has been
made into a starting-point for some of the liveliest contemporary discus-
sions), but they are few and far between. Since the context of contempo-
rary philosophy, many of the concepts and the questions asked are so dif-
ferent from those in antiquated philosophy, it would seem very hard for
passages in it to be directly useful. Certainly, these philosophers of the
past may have contributed important ideas and arguments which have
become absorbed into the tradition of philosophy and have been gradually
adapted into the different contexts and languages of philosophy as it has
changed. But then these ideas and arguments will already be there, in the
tradition which students of philosophy learn as part of their apprentice-
ship, in a form in which they are useful, without there being any need to
go back to the old texts themselves.
It is sometimes said that there are directions of thought in past philoso-
phy which, it just so happened, were not followed up and were not ab-
sorbed into the philosophical tradition, although they have the capacity to
be philosophically fruitful. It is for the expert historian of philosophy to
search out these forgotten treasures, it is held, and present them to contem-
porary philosophers in a form in which they can use them in their own
philosophizing. So Gisela Striker writes: ‘there is the possibility of finding
in an older author different and illuminating perspectives that have, for one
reason or another, been forgotten or neglected by the more recent tradi-
tion.’ But does this happen much in practice? Striker cites, rightly, the
example of Aristotle’s ethics and also mentions Kant’s – but had Kantian
ethics ever become antiquated? She also mentions psychology, “where
philosophers have tried to look back beyond Descartes for theories that are
68 John Marenbon

not tied to the dualism of mind and body.” (Striker 1996, xiii2) But medie-
val non-dualist theories are so different from contemporary ones in their
basis – even with regard to where any distinction between mind and body
might be drawn – that it is hard to say how they can be used by philoso-
phers now; and they do not in fact seem to have been used. Anyway, are
new philosophical insights so difficult to come by that it makes sense to
learn some difficult ancient language, spend years searching around in
neglected – usually justly neglected texts – in the hope, one day, of un-
earthing an original thought that had been forgotten and might, in some
way, be of interest to philosophers now? Would it not be simpler just to sit
down and think about the contemporary problems?

(b) The ‘Historical Approach’. Antiquated philosophy should be studied as


history, and is valuable as such.
Proponents of this position respond to the challenge posed by the notion of
antiquated philosophy by asking what is wrong with being antiquated. We
naturally have an interest in our past, they say, and part of our past is the
philosophy that was written then. We need to investigate it as we investi-
gate other types of history, by telling a causal story, explaining how and
why Aristotle, for instance, came to think the things he did (and which
were different from what Plato had thought), or how and why the questions
that fascinated the Parisian philosophers at the end of the twelfth century
were abandoned by the middle of the thirteenth for almost entirely differ-
ent ones. Such a story will have to take full account of all the factors, ex-
ternal and internal, that accounted for these developments – political and
economic changes, broad cultural movements, developments in educa-
tional practice. The history of philosophy is, then, intellectual history, and
intellectual history is just another branch of history, to be justified because
it answers our curiosity about the past. There is no more reason to neglect a
piece of philosophizing because it is antiquated – unconnected with present
debates – than there would be to stop studying trebuchets because they
have no part in modern warfare.
Yet when the history of philosophy is told in this way as intellectual
history, it rarely satisfies those who have a philosophical training and
know the texts well. The analysis seems superficial, if it can be called an

2
As part of a brief but multi-faceted justification. Striker also mentions “epistemol-
ogy, where empiricism, at least in the Anglophone tradition, seems to have reached
the status of an obvious fact rather than a philosophical theory.” Here the sort of
contribution which Striker has in mind for antiquated philosophy seems not to be so
much directly providing ideas or arguments, but showing how a whole area can be
envisaged otherwise – on which, see below, (f) Making the Familiar Strange.
Why Study Medieval Philosophy? 69

analysis at all. And when a deeper analysis of arguments is given, histori-


ans lose interest, because the discussion has become too technical, too
philosophical.

(c) The Division of Labour Approach


A way of overcoming this inadequacy in the ‘Historical’ Approach might
be by a division of professional spheres – so the distinguished writer on
medieval philosophy Calvin Normore has suggested.3 The intellectual
historians tell the causal story, without worrying too much about analysing
arguments. The historians of philosophy analyse the arguments, with little
concern for causal stories. Everyone is happy. Or perhaps not – because
there are two problems that remain. First, since the historians of philoso-
phy seem not to have historical ends primarily in view – those ends are for
the intellectual historians – their ends are presumably philosophical ones;
and so they still need to find some adequate justification for those ends.
Second, many of the causal stories the so-called intellectual historian
should want to tell will involve internal analysis of arguments of the sort
which the division-of-labour view assigns to the historians of philosophy,
because more often than not the causes why philosophers write what they
write are internal: because A saw that the third step in B’s argument failed
on account of an equivocation; because C wanted to accept D’s first and
third premises, but not the second, which was inconsistent with what he
had established earlier … The labour cannot, therefore, be neatly divided.

(d) The Great Philosophers approach. Philosophy is so difficult that there


have only ever been a handful of really great philosophers. The great phi-
losophers are worth studying whenever they wrote.
Explaining why it is worth reading Aquinas, Anthony Kenny (1993, 9)
writes:

Philosophy is so all-embracing in its subject-matter, so wide in its field of op-


eration, that the achievement of a systematic philosophical overview of human
knowledge is something so difficult that only genius can do it. So vast is phi-
losophy that only a wholly exceptional mind can see the consequences of even
the simplest philosophical argument or conclusion. For all of us who are not
geniuses, the only way to come to grips with philosophy is by reaching up to
the mind of some great philosopher of the past.

Kenny is putting with characteristic force and clarity a view that is often
held, though not fully articulated, as a reason for studying some philosophy

3
See Normore 1990. I am following Normore roughly here, dropping his idiosyn-
cratic labeling of the philosopher’s approach to past philosophy as ‘doxology’.
70 John Marenbon

of the past. Kenny combines the idea, as an exponent of this ‘Great Minds’
view is well advised to do, with a rejection of progress in philosophy in
any normal sense of the word. There are non-philosophical matters, such as
truths in the natural sciences, where we now know more than people in the
past, but ‘philosophical progress is largely progress in coming to terms
with, in understanding and interpreting, the thoughts of the great philoso-
phers of the past.’
Even if it is accepted, this line of justification does not justify studying
lots of what historians of philosophy (especially medieval philosophy) do
actually study – for instance, an anonymous commentary on Aristotle’s
Categories from the twelfth century, patched together from the teaching of
various uninspired, mediocre, imitative logicians, or the ruminations of an
uninspired disciple of Scotus. Moreover, the view that philosophical pro-
gress consists in a dialogue with past thinkers does not seem to reflect
accurately how work goes on in most of the specialized areas of analytic
philosophy, where so much of the debate concentrates on attacking, ex-
tending or qualifying the most recent contributions to it. True, texts by
philosophers of the past have often been the starting-points for these de-
bates, but then these texts are precisely those which are not labelled here as
‘antiquated’. (Very few of them are from the Middle Ages).
Although this view is not, then, entirely credible, it contains two very
interesting suggestions. First, it proposes a somewhat aesthetic approach to
philosophy, in which a work of philosophy is valued not because of the
number of conclusions it proposes that we are likely to find well-
established and wish to accept, but because of how well, how deeply and
broadly, it goes about the task of thinking philosophically. Secondly, this
view addresses itself, apparently, to philosophers, or would-be philoso-
phers, but it does not promise them direct answers to their questions or
contributions to their discussions from the philosophers of the past. Rather,
it says that people need to read the great philosophers (who are few, and
most of them antiquated) in order to see how philosophy is done at its best.
Studying philosophy from the past makes a contribution to doing philoso-
phy now, but an indirect, second-order one.

(e) The Philosophy as Literature approach


No one (except sometimes for officials in government departments) says
that, because Homer or Virgil or Shakespeare or Goethe lived long ago,
and the literary styles and ways of thought they used are far from today’s,
they are not worth studying, probably more so than even the best poetry
being written today. It might be argued that the same is true of good phi-
losophy from the past. It is no more subject to becoming antiquated than
the Iliad, Aeneid or King Lear.
Why Study Medieval Philosophy? 71

This view has something in common with the last one; both see works
of philosophy in quasi-aesthetic terms. In one way, this approach has much
to recommend it. The Republic or the Meditations, we might want to say,
are books everyone should read, just as they should read the Iliad and King
Lear, or they will remain ignorant of what human culture has achieved. But
this parallel is not quite exact. The discrepancy is brought out if one asks
whether, by the same token, everyone should read Aristotle’s Prior Ana-
lytics or Scotus’s Ordinatio: as philosophy, these works are equally great
or greater, but they could never have a large public, because of their com-
plexity and technicality. If their value is to be considered aesthetic, it will
be more like that of the aesthetic value of a mathematical proof, evident
only to the eyes of highly-trained practitioners of a specialized discipline.

(f) Making the Familiar Strange


Bernard Williams was a subtle and original contemporary philosopher,
who also had a strong interest in the history of philosophy and wrote fre-
quently on it.4 Although he sharply distinguished himself and his philoso-
phical approach from that of an historian of ideas, he did not share the
usual aim of the Philosopher’s approach of arriving at a continuity between
a philosophical text from the past and present-day philosophers’ arguments
and positions. On the contrary, he sees the history of philosophy as, in part,
“of making the familiar seem strange.” “To justify its existence”, says
Williams, the history of philosophy “must maintain a historical distance
from the present, and it must do this in terms that sustain its identity as
philosophy. It is just to this extent that it can indeed be useful, because it is
just to this extent that it can help us to deploy ideas of the past in order to
understand our own.” (Williams 2006, 259)5
Williams’s idea indicates a way in which antiquated philosophy can
serve philosophy now, in virtue of its being antiquated! It is a very attrac-
tive view but one that has yet to be developed in more detail. Merely
exposing contemporary philosophers to a discussion of a kind that fails to
engage with their interests is not likely to have much direct effect. The

4
See Williams 1978, 1993, 2006.
5
In a planned general essay on the history of philosophy, for which Williams made
notes, he would have written, according to his friend Adrian Moore (Williams
2006, ix–x): “The contribution [of the history of philosophy to philosophy J.M.]
was not, as philosophers in the analytic tradition used to think, to indicate voices of
yore which could be heard as participating in contemporary debates: precisely not.
It was to indicate voices of yore which could not be heard as participating in con-
temporary debates, and which thereby called into question whatever assumptions
made contemporary debates possible.”
72 John Marenbon

manner of the indirect effect that may be intended needs to be further


explored.
Moreover, maybe it is limiting to present the value of the history of
philosophy just in terms of how it can help contemporary philosophers,
even if that is one of its important functions.

(g) A better justification?


My own justification for studying antiquated philosophy, drawing on many
of the ideas just sketched, is this:
Studying the history of philosophy (most of which is antiquated) is a
way – a very good way, and probably an indispensable one – of coming to
understand what philosophy is. In their ordinary work, philosophers are
engaged in posing and trying to resolve philosophical problems; one of
these problems, which should be central for any genuinely committed phi-
losopher, is the question of what philosophy is: what sort of questions phi-
losophical questions are, and how and to what end they can be answered.
This problem, then, is a second-order problem, a reflection about phi-
losophers’ first-order activity. It is an open-ended problem, and knowing
about the history of philosophy helps – arguably, is intrinsic to – exploring
it. For philosophy is not a natural kind, but a human practice, or rather, a
family-resemblance of human practices, and understanding what it is rests
on understanding how it has been practised in history, what has been com-
mon to it, and what diverse, in different social and cultural circumstances.
If it is to meet this justification, history of philosophy must be pursued
in a way which always violates the distinction of spheres between histori-
ans of philosophy and intellectual historians by advocates of the Division
of Labour Approach. It must be a study of arguments, by those who under-
stand the arguments as philosophers (and so consider what objections can
be raised to them, how they could be extended or adapted), but of argu-
ments as developed in a real historical context, where external factors
played a part, too, in shaping how this or that individual reasoned on a
given subject. Such an approach can profitably used with any philosophy
of the past, antiquated or not. So, for instance, Frege might both be studied
for his direct contribution to the living tradition of philosophy and in a
more historical way, for the second-order illumination which studying his
thought in this manner can provide.
This justification incorporates some aspects of the five discussed above,
whilst rejecting others. It shares with ‘Philosophical’ Approach the idea that
studying the history of antiquated philosophy is, at least in part, justified by
its value to working philosophers now, but like Williams’s Making the Fa-
miliar Strange it rejects the idea that antiquated philosophy helps today’s
philosophy in so far as it contains ideas very close to theirs, so that it can
Why Study Medieval Philosophy? 73

become like another voice in the contemporary debate. Indeed, it goes fur-
ther and sets aside the view that antiquated philosophy helps philosophers to
answer first-order philosophical questions; rather, it is of the greatest value
in answering a central second-order question. It shares with the ‘Historical’
Approach the view that the past of philosophy needs to be approached and
appreciated as history, but it rejects the idea that it is part of an ordinary
intellectual historian’s purview. Philosophy is, indeed, included within the
field discussed by intellectual historians, but, writing for a general audience,
and usually themselves without specialized philosophical training, they can
only treat philosophy from the outside; just as they might treat music, but
can do so only externally, and not in the manner of an historian of music,
writing for a technically qualified audience. There is, then, a division of
labour, but not the one envisaged in the Division of Labour view. The intel-
lectual historians do just that – intellectual history, even when they are writ-
ing about philosophy. But, because they are not entering into specialized
philosophical questions, they have the great advantage of being able to write
for the wide audience of those with a general interest in history and intellec-
tual matters. The historian of philosophy is, no less than them, a genuine
historian, of philosophy. But his or her audience will be much smaller.
The Great Philosophers approach can also fit with this conception of
the history of philosophy, since one of the reasons for philosophers to read
the classics is to understand the nature of their subject. But, more impor-
tantly, it and the Philosophy as Literature approach can provide a valuable
alternative way of justifying antiquated philosophy to a different and
wider audience. The aesthetic justification for reading antiquated philoso-
phy is a way of claiming a role for some outstanding texts of philosophy
from the past within the broad run of cultural life, whereas my justifica-
tion is for history of philosophy conceived as a specialized discipline
within philosophy.
There are, then, three different, justifiable ways of studying antiquated
philosophy:
(i) As a specialized historical discipline within philosophy, designed to
help philosophers understand their subject better and answer second-
order questions about it.
(ii) Within more widely accessible intellectual history, along with other
intellectual phenomena, by intellectual historians.
(iii) As part of general education, in the form of reading and introductory
commentary of great philosophical texts from the past.
My special concern is with (i), which alone grounds the history of philoso-
phy as an individual academic discipline. But (i), (ii) and (iii) are inter-
connected. Research and writing in (i) fructifies work in (ii) and (iii).
74 John Marenbon

II. The problem of medieval philosophy and religion

When a specialist explains to a stranger that he works on philosophy in the


Middle Ages, the most common question is: “But wasn’t that all reli-
gious?” Though they might put it in a more sophisticated way, a similar
feeling is at the basis of many contemporary philosophers’ lack of interest
in, or even hostility towards, this area of their history. Even if studying
antiquated philosophy can be justified in the way suggested above, they
might argue, the justification does not apply to medieval philosophy, be-
cause it is not philosophy at all, but a sort of theology.
One answer to this objection would be to identify the large areas of
medieval philosophy that are not at all based on revealed religion: in the
Latin West, all the work in logic and all the writings in the Arts Faculties;
much of the tradition of falsâfâ in Arabic; the Byzantine tradition of Aris-
totelian commentaries. There are a number of excellent historians of phi-
losophy who, in practice, confine themselves to this material, and it is cer-
tainly open for an individual to do so. But to remove most of Aquinas and
Maimonides, much of Ockham, almost all Anselm and Scotus and, indeed,
most of the best fourteenth and fifteenth-century thinking from the realm
of philosophy altogether is to pay far too high price for an answer to this
objection. And the objection is misplaced. As said above, philosophy is a
family-resemblance of human practices, not a natural kind open to some
sort of essential definition. And it is clear from its history that philosophi-
cal and religious discussion and indeed practice have been intertwined at
most times and in most places; indeed, that a central theme in philosophy
has usually been its relation to religion. Rather, then, than rejecting much
of medieval philosophy because large parts of it involve premises taken
from revealed religion or are circumscribed by doctrines accepted by faith
alone, philosophers should realize that by studying this very feature of it
they will be helped to reach a better understanding of what it is that they
are doing now, however little religious questions may figure in their ver-
sion of the contemporary agenda.
The objection might, though, be put in a different and subtler way. The
historian has a duty to respect historical truth. There were, indeed, some
areas of philosophical thinking in the Middle Ages that were, at the time,
recognized as discrete from revealed religion. When writing about the
history of medieval thought, either – it is argued – a sharp distinction of the
sort just rejected must be made between pure philosophical material and
everything else; otherwise there will be no principled way of selecting
from, for instance, Aquinas’s Summa Theologiae, material about philoso-
phy of mind, individuation and identity, semantics and the virtues, and
leaving behind discussion of the Trinity and Incarnation, grace, the Eucha-
Why Study Medieval Philosophy? 75

rist and the Last Judgement. As a result, a great deal of the discussion will
fall outside the range of even a broad-minded philosopher’s interests.
Such an objection does not take account, however, of the complexity
of the relations between a historian and his or her subject-matter on the one
hand, and audience on the other. All history writing is partial: historians
cannot but reflect their own interests and framework of ideas, and the audi-
ence and purpose for which they are writing, in choosing their evidence
and interpreting it.6 Each account aims to be true, but there are many dif-
ferent true accounts of the same area to be written. Historians of philoso-
phy are writing for philosophers, and so it is their duty to focus on those
areas of the material which are of present philosophical interest (even
though the antiquated texts will rarely discuss exactly the questions now at
issue). They are, then, justified in studying works like Aquinas’s Summa
theologiae or Scotus’s Ordinatio, which are written as theology, and
choosing just those parts of philosophical interest, although they certainly
need to give enough attention to the theological and other context to be
able fully to understand the author’s train of thought.
The links between medieval philosophy and religion might be taken,
however, in a quite different sense. To some Christians (the case seems
different, for various reasons, for Muslims and Jews with regard to their
traditions of medieval philosophy) studying the philosophy of medieval
Christian Europe is not in need of the sort of justification I have been try-
ing to make for antiquated philosophy in general, because it, rather than
any of the more recent schools of philosophy, seems to provide a sophisti-
cated and, at least in large part rational, way of thinking which supports
Christian doctrine.
Believers would be ill-advised to use medieval philosophy for this pur-
pose. In the Middle Ages (and, in fact, for a much longer period) there
existed a widely-held set of presuppositions, metaphysical and moral,
which made it seem plausible that many (though not all) aspects of Chris-
tian doctrine could be defended by philosophical reasoning as important
general truths about the world. These presuppositions are no longer gener-
ally accepted, and without them the philosophical arguments by which
earlier thinkers bolstered Christianity are usually found to fail. Religious
believers can, indeed, turn to various areas of contemporary philosophy to
find well-considered, serious arguments to show that their outlook is no
less rational than that of those who reject religious belief. But antiquated
philosophy is a very weak ally for them in a present battle.

6
For a beautiful exposition of a theory along these lines, which has greatly influ-
enced my thinking, see Williams 2002, 233–269.
76 John Marenbon

III. Why we should not study medieval philosophy

The idea of a Middle Ages, as is well known, was introduced into history by
Renaissance writers who wished to separate themselves from their immedi-
ate past and so strengthen their links with Antiquity. The early historians of
philosophy, to some extent at least, followed this period division, and it had
become fully established by the time of nineteenth-century historians of
philosophy, such as Victor Cousin and Barthélémy Hauréau. Neo-scholas-
ticism gave an added reason to consider medieval philosophy as a discrete
period. The influence of neo-scholasticism passed, and styles of treating the
history of philosophy changed, but the label ‘medieval philosophy’, and the
idea that there it names a distinct subject-area constituted by philosophy
from the eighth century (with perhaps the addition of some earlier Christian
authors such as Augustine and Boethius) to c. 1500 (or perhaps later: see
below), has persisted.7 Publishers ask for Histories of Medieval Philosophy;
jobs are advertised in the area and universities run courses in medieval phi-
losophy (or, more often, candidates are turned away from jobs because they
are perceived as medievalists and, in the UK almost universally, universities
do not run a course precisely on the area which is considered medieval phi-
losophy). Specialists in philosophy from c. 500/600/700–c. 1500 have made
for themselves an apparently well-identified enclave, and all together in it
they stand – or, more usually, fall.
But why accept the standard chronological division as a useful one?
Even if in political, economic and cultural history, the Middle Ages forms
a coherent unit of study, rather than a convenient administrative division –
and that is far from certain, there is no reason to expect that the history of
philosophy should best be divided up in the same way. Moreover, once the
accepted division begins to be scrutinized, it starts to seem less clear and
coherent than at first sight. As regards the Latin tradition: if we begin with
Augustine, at the end of the fourth century, on what grounds should we
exclude Proclus, Simplicius and the other late ancient Greek pagan writ-
ers? And, at the other end, it is usual to include thinkers like Suárez
(d. 1617, well into Descartes’ lifetime) within medieval philosophy, whilst
excluding, for instance, Ficino (d. 1499). And, although regarded from the
perspective of Latin tradition, the Arabic tradition is often considered to
end with Averroes, from a more properly Islamic perspective there is no
reason not to include Mulla Sadra (d. 1636) or indeed later seventeenth and

7
On the historiography of medieval philosophy, see Imbach/Maierù 1991 and, espe-
cially for neo-scholasticism in the nineteenth century, Inglis 1998.
Why Study Medieval Philosophy? 77

eighteenth-century work, especially in logic, which is part of the Avicen-


nian tradition.8
One option would be to abandon set periodization altogether. People
would specialize in the history of philosophy, and within that they might
choose one or more authors or specific periods and areas (e.g. the Stoics
at the time of Chrysippus, ninth/tenth-century philosophy in Baghdad,
twelfth-century philosophy in France, philosophy in sixteenth-century
Northern Europe), without grouping these into larger divisions such as
ancient philosophy, medieval philosophy, early modern philosophy. But
there is, arguably, a continuous tradition that runs from the time of Plotinus
through until Leibniz, and there are gains in understanding from trying to
become acquainted with it as a whole. (In the Arabic tradition, this period
would stretch forward to the seventeenth century too; in the Jewish tradi-
tion to Spinoza, and in Byzantium it could include the philosophy which
continued to be done there for a century or so after the fall of Constantin-
ople.) Of course, Plotinus and the Neoplatonists depend on their predeces-
sors, especially Plato and Aristotle. But Plato and Aristotle are transmitted
to the later tradition as envisaged and ordered by the Neoplatonic tradition,
although it was open to later thinkers to go behind this interpretation, at
least in the case of Aristotle, since they had translations of his own texts.
And there are, certainly, important discontinuities between Descartes, Spi-
noza and Leibniz and the various traditions of philosophy in the previous
centuries, and important continuities between their thinking and that of
Hume and Kant. But long period divisions are not exclusive, and they ne-
ver have sharp edges. For some historians of philosophy to specialize in
the longue durée from Plotinus to Leibniz does not exclude others starting
with Descartes and going on to Kant or later, and others starting with Plato
and finishing with Simplicius.9

Literature
Aertsen, J.A./Speer, A. (eds.), 1998: Was ist Philosophie im Mittelalter? (Miscellanea
Mediaevalia 26), Berlin/New York.
Cameron, M./Marenbon, J. (eds.), 2011: Methods and Methodologies in Medieval
Logic (Investigating Medieval Philosophy 2), Leiden/Boston.
Flasch, K., 1987: Einführung in die Philosophie des Mittelalters, Darmstadt.

8
I have tried to give a little more detail to these arguments in Marenbon 2007: see
esp. 2–4, 249 ff.
9
I am very grateful to Marcel van Ackeren for his very valuable advice and criticism
when I was composing this paper for the conference.
78 John Marenbon

Imbach, R./Maierù, A. (eds.), 1991: Gli studi di filosofia medievale fra otto e nove-
cento. Contributo a un bilancio storiografico (Studi e testi 179), Rome.
Inglis, J., 1998: Spheres of Philosophical Inquiry and the Historiography of Medieval
Philosophy (Brill’s Studies in Intellectual History 81), Leiden/Boston/Cologne.
Kenny, A.J., 1993: Aquinas on Mind, London/New York.
de Libera, A., 2000: Archéologie et reconstruction. Sur la méthode en histoire de la phi-
losophie médiévale, in: Un siècle de philosophie, 1900–2000 (Folio essais), Paris,
552–587.
Marenbon, J., 1987: Later Medieval Philosophy (1150–1350). An Introduction, Lon-
don/New York.
—, 2000: What is medieval philosophy?, in: J. Marenbon, Aristotelian Logic, Platon-
ism, and the Context of Early Medieval Philosophy in the West, Ashgate, 128–140.
—, 2007: Medieval Philosophy. An historical and philosophical introduction, Lon-
don/New York.
Rosemann, P. W., 1999: Understanding Scholastic Thought with Foucault, New York.
Striker, G., 1996: Essays on Hellenistic Epistemology and Ethics, Cambridge.
Williams, B.A., 1978: Descartes. The project of pure enquiry, Harmondsworth.
—, 1993: Shame and Necessity (Sather Classical Lectures 57), Berkeley/Los Angeles.
—, 2002: Truth and Truthfulness, Princeton/New Jersey.
—, 2006: The Sense of the Past. Essays in the history of philosophy, ed. by M. Burn-
yeat, Princeton/New Jersey/Oxford.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit?

Ludwig Siep

I.

Seit vielen Jahren halte ich Vorlesungen über die praktische Philosophie
der Neuzeit in mehreren Folgen.1 Darin werden die zentralen Texte der
Ethik und der politischen Philosophie (Rechtsphilosophie, Staatsphiloso-
phie etc.) von Hobbes – nach einem Vorspiel mit der Gegenüberstellung
von Thomas und Machiavelli – über viele Stationen bis ins 19. Jahrhundert
interpretiert, kritisiert und auch auf gegenwärtige Fragestellungen bezogen.
Natürlich hält man Vorlesungen nicht nur für die Studenten, sondern auch,
um in seinen eigenen wissenschaftlichen Arbeiten voranzukommen. Wa-
rum halte ich es für wichtig, diese Texte zu interpretieren und zu verstehen,
die Studenten damit vertraut zu machen und Beiträge für die wissenschaft-
liche und öffentliche „community“ zu schreiben? Wie rechtfertige ich das
nicht nur vor dem „Steuerzahler“, sondern auch vor der wissenschaftlichen
Öffentlichkeit (wie in diesem Buch), aber auch vor mir selber? Rechtferti-
gung gibt es ja nicht nur, wie man heute oft verkürzend sagt, vor anderen
und der Öffentlichkeit, sondern auch vor sich selbst. Warum also quäle ich
mich mit Kommentaren? Warum befrage ich Texte des 17.–19. Jahrhun-
derts unter aktuellen Gesichtspunkten wie Menschenrechten, soziale Ge-
rechtigkeit, Gewaltenteilung, gerechtfertigter Krieg etc.? Solche Fragen zu
stellen, ist nicht nur „Gewissenserforschung“ (möchte ich etwa nur gerne
zu schönen Vortragsreisen eingeladen werden, ein sicheres Gehalt be-
kommen, anerkannt werden?), sondern auch Teil des sinnvollen oder er-
füllten Lebens (lohnt sich das für mich und andere? Gibt es nichts Wichti-
geres zu tun?).

1
Die Probleme historischer und philosophiehistorischer Epocheneinteilungen können
hier nicht erörtert werden. In der Philosophiegeschichte gilt heute in der Regel das
17. Jahrhundert als Beginn der neuzeitlichen Philosophie. „René Descartes ist in der
Tat der wahre Anfänger der modernen Philosophie“, heißt es schon in Hegels Vor-
lesungen zur Geschichte der Philosophie (Hegel 1976b). Hegel lässt den Abschnitt
Neuere Philosophie allerdings mit einem Abschnitt über Bacon und Böhme begin-
nen. Weltgeschichtlich ist für ihn die Reformation der Beginn der Neuzeit.
80 Ludwig Siep

Rechtfertigungsfragen dieser Art sind selber schon typisch philoso-


phisch, aber in einer bestimmten Form auch spezifisch neuzeitlich. Denn
wir stellen sie in einem bestimmten Kontext: innerhalb einer Philosophie,
die ihre Aussagen wissenschaftlich begründen will und sich dabei meist
heimlich an den Standards von Mathematik oder Naturwissenschaften
orientiert. In vielen Fällen stellen wir sie als Universitätsphilosophen, die
an einer staatlich finanzierten Lehr- und Forschungseinrichtung tätig sind;
als Bücherschreiber, die manchmal auch von einer breiteren Öffentlichkeit
gelesen werden wollen; als Individuen, die in allen Bereichen das Recht –
und manchmal auch die Pflicht – haben, an sich und die anderen Rechtfer-
tigungsfragen zu stellen usw. Offenkundig sind neuzeitliche Werte und
Rechte hier mit im Spiel: Gewissens-, Überzeugungs- und Meinungsfrei-
heit, säkulare Universitäten, Beamtenstatus in einem Anstaltsstaat (Max
Weber), Rechte auf geistiges Eigentum, Ideale der Originalität usw.
Was das bedeutet, etwa im Unterschied zum Status eines gelehrten
Mönchs in einem mittelalterlichen Kloster, kann man sich nur klar machen,
wenn man die Entwicklung von Gesellschaften, Rechten und Institutionen
und ihre Begründungen bei Philosophen des 17. bis 19. Jahrhunderts ver-
steht. Natürlich sind die Fragen als solche nicht ausschließlich neuzeitlich:
Sie finden sich bei den griechischen Sophisten, die den Nutzen ihrer bezahl-
ten Lehre verkünden, sowie bei Sokrates und Platon, für die Philosophie
unbezahlbar, aber von höchstem moralischen und religiösen Wert ist. Sie
finden sich in öffentlichen Werbeschriften des Neuplatonismus (etwa dem
Protreptikos des Jamblichos aus aristotelischen Quellen) oder in Verteidi-
gungen der vita contemplativa im Mittelalter oder der Renaissance.2 Aber
in diesen Schriften ist „Rechtfertigung“ – vor Gelehrten und Bürgerschaft,
dem Gewissen und Gott – doch etwas anderes als seit dem Beginn der Epo-
che, die wir in der Philosophiegeschichte „Neuzeit“ nennen.
Wer es mit „praktischer Philosophie“ zu tun hat, scheint es in diesen
Fragen vergleichsweise leicht zu haben. Zumindest eine Bedeutung von
„praktisch“ in der Umgangssprache ist „nützlich, brauchbar“. Traditions-
gemäß ist die praktische Philosophie (philosophia practica universalis und
specialis) allerdings etwas, das es mit der Praxis, dem Handeln zu tun hat.
Und das kann man auch ganz „theoretisch“ erklären, wie es etwa heute die
Handlungstheorie tut (die man ebenso gut der theoretischen wie der prakti-

2
Trotz der Überlieferungsprobleme und der neuplatonischen Überarbeitung durch
Jamblichos gibt der Protreptikos eine Ahnung von der Rechtfertigung der Philoso-
phie bei Aristoteles und im Platonismus. Vgl. Aristoteles 1969. Zu den Problemen
der Rekonstruktion vgl. Flashar 1983, 279 f. Ein Beispiel der Hochschätzung für die
vita contemplativa in der Renaissance – trotz Rehabilitierung des „bürgerlichen Le-
bens“ – ist Palmieri 1982.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 81

schen Philosophie zurechnen kann). In der Tradition von Aristoteles bis


Christian Wolff hat sich diese Philosophie überwiegend mit den Regeln
und Normen des richtigen Handelns beschäftigt – mit dem ethischen Han-
deln des Einzelnen, dem ökonomischen in Betrieben der Bedürfnisbefrie-
digung (sowohl der Produktion wie der Reproduktion)3 und schließlich
dem politischen in einer Gemeinschaft unter öffentlich bekannten und
sanktionierten Gesetzen des Erlaubten und Verbotenen.
Die interne Gliederung der praktischen Philosophie hat sich in der
Neuzeit aber grundlegend verändert, und zwar wegen der anderen Recht-
fertigungsforderungen. Philosophen wie Hobbes und seine Nachfolger
unternehmen es, die Existenz eines Souveräns mit Gewaltmonopol und
umfassenden Gesetzgebungsbefugnissen vor der Vernunft, dem Interesse
und den „natürlichen“ Rechten jedes Individuums zu rechtfertigen. Das
Natur- und Vernunftrecht wird die Basisdisziplin. Da es in der Regel den
bürgerlichen Zustand (status civilis) in einem Gesetzesstaat mit der Befug-
nis und der Macht zur Durchsetzung der Rechtsgesetze als vernünftig und
vorteilhaft für jeden Bürger erweist, ist die Rechts- und Staatsphilosophie
der darauf aufbauende Hauptteil der praktischen Philosophie. Mit der Aus-
differenzierung der sozialen Systeme und der Wissenschaften verschiebt
sich das seit dem späten 18. Jahrhundert erneut: Es entstehen Sozialphilo-
sophie, Geschichtsphilosophie und eine immer mehr „binnendifferenzierte“
Ethik (Metaethik, Allgemeine Ethik, Berufsethiken) – schließlich im 20. Jh.
das, was viele heute mit praktischer Philosophie verwechseln, nämlich
angewandte Ethik. Einen nochmals verschiedenen Begriff von praktischer
Philosophie findet man heute auf dem Lehrplan von Schulen (etwa in
NRW) als ein interdisziplinäres Fach der Auseinandersetzung mit und
Vermittlung von Werten, Rechten, normativen Einstellungen, individuellen
und kollektiven Identitätsmustern etc. Diese Verschiebung der Einteilun-
gen in der Geschichte der praktischen Philosophie und ihre Begründung ist
selber ein Thema der Philosophie – nicht nur aus historischen Gründen,
sondern weil die Philosophie nichts unbefragt hinnehmen kann, auch nicht
die Gegenstände und die Einteilungen ihrer selbst als Wissenschaft oder
weiter gefasst (weil es auch wissenschaftsskeptische Philosophie gibt) als
methodisches, allgemein nachvollziehbares Nachdenken.
Wenn die Philosophie sich immer wieder bemüht hat, auch die („rein
theoretische“) philosophische Einsicht und die Erforschung ihrer eigenen
Geschichte als in sich wertvoll, als Erfüllung menschlicher Fähigkeiten
und menschlichen Lebens zu verteidigen, dann gilt das auch für die prakti-

3
D. h. vor der Industrialisierung im Oikos, dem Haus als Produktionsstätte und Ort
der Erzeugung und Aufzucht des Nachwuchses, die später getrennt wurden.
82 Ludwig Siep

sche Philosophie. Selbst wenn wir aus ihrer Geschichte gar nichts für heu-
tige Probleme lernen könnten, wäre schon das Verständnis für die Ent-
wicklung des Denkens in sich wertvoll und sinnvoll. Das gilt im Übrigen
natürlich für alle Wissenschaften, in denen es so etwas wie „Grundlagen-
forschung“ gibt, deren Nutzen für Technik, Medizin, wirtschaftliche Pro-
duktion, Geldverdienen oder Regierungskunst zweifelhaft oder unent-
schieden ist. Das Interesse an Wissenschaft als Quelle von Einsichten und
Ausübung einer spezifisch menschlichen Kompetenz hat nicht nachgelas-
sen und wird nach wie vor anerkannt. Ein Beispiel aus einem ganz aktuel-
len Anwendungskontext: Bei der Debatte um das Stammzellgesetz hat der
Deutsche Bundestag den Erwerb von Grundlagenwissen über die frühen
Entwicklungsphasen menschlichen Lebens als einen so hochrangigen
Zweck anerkannt, dass er gegen eine nicht ganz auszuschließende indirekte
Schwächung des Lebensschutzes abgewogen werden kann.4 Eine solche
mögliche Schwächung wurde im Import von Zellen nach Deutschland
gesehen, die in anderen Ländern legal durch Zerstörung befruchteter Eizel-
len hergestellt worden waren – ein Import, der im Prinzip verboten ist, aber
doch ausnahmsweise erlaubt werden kann, unter anderem eben zum Er-
werb hochrangigen Grundlagenwissens.
Obwohl ich also die von „praktischem“ und sozialem Nutzen unab-
hängige Erkenntnis auch für die praktische Philosophie für gerechtfertigt
halte – was hier natürlich nur angedeutet wurde – hat die Beschäftigung
mit ihr auch einen Nutzen für das Wissen von und den Umgang mit heuti-
gen sozialen Normen und Institutionen. Eine gewisse Art von „Orientie-
rungshilfe“ in solchen Fragen ist ihr nicht abzusprechen. Das müsste natür-
lich noch viel genauer erörtert werden.5
Gerade wegen dieses „Praxisbezuges“ liegt in der Beschäftigung mit
der Geschichte der praktischen Philosophie ein besonderes Problem bzw.
eine Gefahr: Man kann die vergangenen Texte, Argumente und Intentionen
unzulässig aktualisieren oder aber übermäßig historisieren. Es ist ein wenig
wie bei der Interpretation des Verhaltens von Tieren. Da man sich nicht „in
sie hineinversetzen“ kann, deutet man es entweder voreilig anthropomorph
(die „Moral“ der Tiere, neuerdings sogar bis zu angeblich religiösen oder
prä-religiösen Einstellungen) oder im Gegenteil als gänzlich menschenfern

4
Forschungsarbeiten an importierten embryonalen Stammzellen dürfen nach § 5, 1
des Stammzellgesetzes (StZG) nur ausnahmsweise durchgeführt werden, wenn sie
„hochrangigen Forschungszielen für den wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn im
Rahmen der Grundlagenforschung oder für die Erweiterung medizinischer Kennt-
nisse bei der Entwicklung diagnostischer, präventiver oder therapeutischer Verfah-
ren zur Anwendung bei Menschen dienen.“ (BGBl 2002, 2278)
5
Vgl. zur Orientierung durch Philosophie auch Mohr 2008.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 83

– bis hin zu Descartes’ Maschinen und zur Haltung moderner Agraringeni-


eure. Entsprechend streitet man sich in der Geschichte der Philosophie
oder der „Ideen“ über die gänzlich andere Bedeutung, die schon Begriffe in
Texten anderer Epochen haben, etwa in Luhmanns Rede von der „alteuro-
päischen“ Bedeutung von Begriffen wie Freiheit, Individualität etc.6 Aber
auch bedeutende Historiker des Denkens wie Quentin Skinner betonen –
manchmal m. E. etwas überpointiert – wie weitgehend Texte von Machia-
velli, Hobbes oder Locke vom sozialen oder politischen Zeitkontext ab-
hängen, dessen Denkmuster sie teilen oder auf dessen Probleme sie reagie-
ren. Von der Theorie des „Überbaus“ oder der rein ideologischen Funktion
der „bürgerlichen“ Denker der Neuzeit – von Borkenau bis MacPherson7 –
noch ganz abgesehen.
Auch dieses Thema kann hier nur gestreift werden. Im Folgenden gebe
ich auf die Fragen der Relevanz der Beschäftigung mit dieser Epoche der
praktischen Philosophie und der angemessenen Interpretationshaltung zu
den Texten zunächst eine allgemeine thesenhafte Antwort, die ich dann an
zwei Beispielen zu erläutern und belegen suche.
Meine generelle Antwort zur Bedeutung der Beschäftigung mit der Ge-
schichte der Philosophie lautet, dass wir davon vor allem zweierlei lernen:
Erstens, unsere eigenen Denkvoraussetzungen und den moralisch-poli-
tischen Common sense bewusst zu machen und gegen Alternativen zu recht-
fertigen. „Common sense“ verstehe ich einerseits im positiven Sinne des
„überlappenden Konsenses“ über Fundamente des Zusammenlebens im
pluralistischen Rechtsstaat, andererseits im negativen der „political correct-
ness“ und der Suggestion von Unhinterfragbarem. Für den Common sense in
beiden Bedeutungen kann man sich in der Auseinandersetzung mit vergan-
genen Texten und Argumentationen sowohl die Begründungsformen und
-ressourcen als auch die „Beweislasten“ klar machen. Und zwar dadurch,
dass man ihre heutige Form kontrastiert mit alternativen Grundvorausset-
zungen in vergangenen Kontexten des Denkens und der Gesellschafts-
formen. Von einer „Aktualisierung“, die diesen Autoren überraschende
„Modernität“ unterstellt, indem man Texte so interpretiert, dass sie für heuti-
ges Denken akzeptabel, vernünftig, oder besonders lehrreich erscheinen,
halte ich nichts. Es bedeutet in den meisten Fällen, ihnen eigenes Denken zu
implantieren. Gleichzeitig verschafft man sich Autoritätsstützen, auf die eine
rationale Philosophie der Neuzeit seit Descartes verzichten muss. Wie ge-
fährlich solche rückwärtsgewandte Selbstautorisierung sein kann, ist gerade
in der neueren Politik an den zahlreichen Versuchen einer Instrumentalisie-

6
Vgl. Luhmann 1997, Teil I, 289 (Anm. 179); Teil II, 893 f., 1025.
7
Vgl. Borkenau 1934, Macpherson 1967.
84 Ludwig Siep

rung der Geschichte für nationale Identitätsbildungen sichtbar, vor allem


nach dem Zerfall von Großreichen – von der deutschen Nationalbewegung
des 19. Jh. bis zu den nach-sowjetischen Nationalstaaten.
Zweitens lassen sich aber in der Tat wichtige Vorstufen für solche
Normen und Institutionen finden, die wir heute mit guten Gründen vertei-
digen zu können glauben. Wir bekommen gute Argumente, und wir erken-
nen den historischen Erfahrungshintergrund, auf den sie reagieren – von
der Kirchenherrschaft über den religiösen Bürgerkrieg und den Absolutis-
mus bis zu den bürgerlichen und sozialen Revolutionen. Die Antworten,
die sie darauf geben, sind auch unter veränderten historischen Umständen
keineswegs obsolet.

II.

Ich möchte diese Thesen im Folgenden an zwei Beispielen belegen: Zum


einen an der Entwicklung der Argumentation hinsichtlich individueller
Grundrechte (A), zum anderen an der Frage nach der Rechtfertigung des
Krieges aus der Sicht des philosophischen Völkerrechts (B).

(A) Die neuzeitliche praktische Philosophie geht davon aus, dass jede
Freiheitsbeschränkung, vor allem die eines Staates mit zwangsbewehrten
Gesetzen, vor jedem Individuum gerechtfertigt werden muss. Es genügt
nicht zu sagen, dass die Herrschaft der Monarchen von Gott kommt (ob-
wohl sich Philosophen wie Robert Filmer8 auch dafür gute Argumente
ausgedacht haben), oder dass die Hierarchie der sozialen Stände einer gott-
gewollten Naturordnung entspricht. Zumindest seit Hobbes (1579–1688)
gilt, dass jeder Mensch die gleichen Ansprüche gegenüber seinen Mitmen-
schen hat und dass man ihm zeigen muss, dass es gute Gründe für ihn gibt,
auf einige davon zugunsten einer Gesellschaftsordnung zu verzichten. Das
bedeutet keine faktische Gründung oder Neugründung des Staates, sondern
die Angabe von Gründen dafür, dass es richtig ist, im Staat zu leben – und
natürlich, in welchem Staat. Bei Hobbes ist das entscheidende Argument
für das Leben im Staat, dass es einem erspart, ständig mit gewaltsamen
Übergriffen anderer rechnen und für deren Verhinderung vorsorgen zu
müssen. Wenn dazu jeder ständig gezwungen wird, bleibt das soziale Le-

8
Filmers Patriarcha, die zwischen 1645 und 1650 entstand, wurde seit Mitte der
1670er Jahre zur Verteidigung der paternalistisch-absolutistischen Monarchie der
Stuarts, vor allem des katholischen Zweiges, benutzt. Bekanntlich ist sie der An-
griffspunkt für die „liberalen“ Theorien von Locke, Sidney und anderen. Vgl. So-
merville 1991 und Laslett 1970, 67–78.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 85

ben auf einem nahezu „tierisch“ unzivilisierten Niveau – nicht einmal die-
jenige Arbeitsteilung ist möglich, die nach Aristoteles schon im Dorf er-
reicht werden kann.
Wenn man also zu einer solchen Rechteübertragung nicht gegen gute
Gründe gezwungen werden muss, kann man sie sich in Form eines Vertra-
ges vorstellen. Es geschieht den Vertragspartnern dabei kein Unrecht (vo-
lenti non fit injuria). Allerdings – und hier liegt der entscheidende Punkt
der Weiterentwicklung, aber auch der Streit der Hobbes-Interpreten – kann
man vom Ausgangspunkt eines an Freiheit, Selbsterhaltung und angeneh-
mem Leben interessierten Individuums aus eigentlich nicht sagen, dass es
auf alle seine Rechte verzichten würde. Hobbes spricht daher in einigen
Versionen seiner Theorie, vor allem im Leviathan9, auch von Rechten, auf
die man im Staatsvertrag nicht verzichten könne.
Allerdings gibt es eine Reihe von Ambiguitäten in Hobbes’ Gedanken-
gang. Zum einen betreffen seine Beispiele fast ausschließlich die Lebens-
erhaltung, und da ist das Nicht-verpflichtet-Sein zugleich ein Nicht-Können,
denn das Streben nach Selbsterhaltung beherrscht den Menschen wie die
Schwerkraft die natürlichen Körper.10 Darüber hinaus reicht nur das Recht
auf Verweigerung belastender Aussagen gegen sich selber und das Recht,
Verträge mit dem Staat einzuklagen, wenn man sich auf bestehende Geset-
ze berufen kann. Hobbes fährt aber an dieser Stelle fort:

„Fordert oder beschlagnahmt der Staat aber etwas auf Grund seiner Gewalt, so
ist dies kein gesetzmäßiges Verfahren, denn alles, was er kraft seiner Gewalt
tut, geschieht auf Grund der Autorität jedes Untertanen, und wer ein Verfahren
gegen den Souverän in Gang setzt, setzt es folglich gegen sich selbst in Gang.“
(Hobbes 1984, 170 f.)

Der Grund für diese Überlegung ist Hobbes’ Argument, durch den Gesell-
schaftsvertrag werde der Souverän von den Vertragsschließenden zu allen
künftigen Handlungen autorisiert, er sei dabei Sachwalter des Willens aller.
Diese universale Autorisierung, die jeder dem Souverän im Staatsvertrag
erteilt, macht nicht nur jedes positive Gesetz, sondern auch jeden außerge-
setzlichen Akt zum eigenen Willen jedes Bürgers. Der Souverän kann sich
also rechtens seinen eigenen Gesetzen jederzeit entziehen. Bei der Beru-
fung auf solche Klagerechte haben wir es also – ähnlich wie bei Hobbes’
rudimentärem Widerstandsrecht, von dem noch die Rede sein wird – allen-
falls mit einem für die Gültigkeit der positiven Normen folgenlosen Kon-

9
Skinner 2008, 110.
10
Auch da ist Hobbes nicht ganz konsequent, weil man im Kampf um Ehre auch sein
Leben riskieren kann.
86 Ludwig Siep

flikt zwischen Mitteln der einzelnen und der kollektiven Selbsterhaltung zu


tun. Hobbes wollte einen möglichen Konflikt zwischen Bürgern und Souve-
rän über die Erfüllung des Vertrages nicht zulassen, weil er keinen Richter
in einem solchen Konflikt für möglich hielt – dass die Kirche bzw. der
Papst in der Vergangenheit diese Rolle spielte, ist für ihn eine der Hauptur-
sachen für Bürger- und Herrscherkriege gewesen.
Die Antwort, die John Locke auf diese Frage gibt, geht in die entge-
gengesetzte Richtung. Der junge Locke war zwar zunächst Hobbesianer
und hat die Stuart-Restauration von 1660 gefeiert. Aber die Erfahrungen
mit der absoluten Monarchie und den Gefahren der Rückkehr einer Papst-
orientierung haben ihn – wie seinen liberalen Förderer Shaftesbury und
andere Kreise der „Opposition“ gegen die Stuarts – zu einer anderen Lö-
sung gebracht. Sie greift auf das mittelalterliche Vertragsdenken in einigen
Aspekten zurück, gibt ihm aber eine protestantisch-calvinistische Fassung.
Für Locke ist die Rechteübertragung des Gesellschaftsvertrages ein an
die Erfüllung der Vertragsinhalte gebundener Auftrag („trust“). Diese In-
halte sind vor allem die Rechte, die der Mensch von Natur besitzt, nämlich
die Rechte an seiner Person und der von ihr durch Arbeit angeeigneten
Umwelt: life, liberty, possession. Dass Locke diese Rechte manchmal im
Ganzen „property“ nennt, hat viele Missverständnisse ausgelöst.11 In
Wahrheit haben wir es hier mit dem Ansatz einer Theorie der Grundrechte
zu tun – dem ersten in der neuzeitlichen praktischen Philosophie, wenn
man von Spinozas Begründung der Freiheit des Denkens und der Mei-
nungsäußerung absieht.12 Zu den „liberties“, den Grundfreiheiten des Men-
schen, gehört auch die Religionsfreiheit – Locke bemüht sich in seinen
Toleranzschriften um den Nachweis, dass Gott an einem gezwungenen
Glauben keinen Gefallen finden kann.13 Allerdings sind die sozialen Fol-
gen dieser Toleranz bei Locke noch beschränkt. Zumindest für die aktiven
Bürgerrechte der Wahl und der Amtsübernahme sind sie nur für protestan-
tische Bekenntnisse in vollem Umfang begründet. Auch bei dieser Ein-
schränkung ist die Bindung an eine außerstaatliche Autorität (Papst oder
Sultan) in den anderen Religionen bzw. Konfessionen das entscheidende
Argument.

11
Locke 2007, 203f., 232–240, 308–310.
12
Vgl. Spinoza 1994, Kap. 20. Spinozas weitgehende Gleichsetzung von Recht und
Macht hindert ihn aber daran, daraus Abwehrrechte gegen eine mögliche staatliche
Übermacht abzuleiten. Zur Theorie der Grundrechte bei Locke vgl. Laukötter/Siep
2010.
13
„Die wahre und heilbringende Religion liegt in der inneren Gewissheit des Urteils,
ohne die nichts für Gott annehmbar sein kann.“ (Locke 1996, 15) Zum grundrecht-
lichen Status der Religionsfreiheit vgl. Locke 2007, § 209.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 87

Eine außerstaatliche Autorität lässt Locke aber zu, nämlich die göttli-
che. Sie ist der Richter bei Konflikten zwischen den Bürgern und den
staatlichen Gewalten, vor allem der Exekutive, aber u. U. auch der ihr
übergeordneten Legislative. Bei dauerhaften, verbreiteten und schweren
Eingriffen in die Grundrechte der Bürger ohne Aussicht auf eine verfas-
sungsmäßige Hilfe ist die Anrufung des göttlichen Richters im Wider-
standskampf gerechtfertigt. An die Stelle des Papstes tritt also das (protes-
tantische) Gewissen und sein „appeal to heaven“.
Dass Locke den göttlichen Richter wieder in Anspruch nehmen kann,14
liegt an seiner philosophisch begründeten Gottesidee. Bei der Skizze seines
Gottesbeweises greift er dabei auf den cartesischen Ansatz der Evidenz aus
der subjektiven Reflexion (Selbstbewusstsein, Gewissen) zurück. Die un-
bezweifelbare, aber nicht selbst hervorgebrachte endliche Subjektivität
erfordert einen unendlichen geistigen Urheber, denn aus Materie kann
Denken nicht entstehen. Diesem Urheber ist der Mensch zu eigen, sonst
aber niemandem außer sich selbst. Zur Selbstverfügung gehört das grund-
sätzlich „rechtlich Meine“, die Grundrechte auf Leben und körperliche
Integrität, Freiheit des Gewissens und der religiösen Überzeugung sowie
das mit den eigenen Kräften ohne Schädigung anderer Erworbene (Eigen-
tum im engeren Sinne).
Lockes Konzeption des zum Schutz dieser Rechte notwendigen und
durch sie legitimierbaren Staates schließt anders als bei Hobbes Gewalten-
teilung, Primat der Legislative, Mehrheitsprinzip und eben das Recht zum
Widerstand gegen schwere Verletzungen der Grundrechte ein. Das „demo-
kratische“ Element der Volkssouveränität und der Mehrheitsherrschaft ist
freilich bei Spinoza deutlicher entwickelt. Mehrheitsherrschaft ist für Spi-
noza dem Zustand der natürlichen Freiheit am nächsten und führt durch die
gemeinsame Beratung und die Marginalisierung extremer Auffassungen in
ihr auch zu besseren Resultaten. Das Widerstandsrecht ist bei Spinoza aber
in hobbesscher Tradition „unterentwickelt“.15

14
Damit soll nicht impliziert sein, dass Hobbes Atheist war – eine unter den Zeitge-
nossen und in der Forschung bis heute umstrittene Frage. Aber Gott als Urheber des
Naturrechts kann bei Hobbes nicht wie bei Locke gegen das Recht des Staates zur
Geltung gebracht („angerufen“) werden.
15
Auch für Spinoza gibt es kein Natur- oder Gewohnheitsrecht, das eine Berufung
gegen den Souverän rechtfertigte. Zwar hat der Staat neben der Gewaltlosigkeit
die Freiheit zum Zweck (Spinoza 1994, 301), und die Unterdrückung wird zu sei-
ner Schwächung führen. Spinoza trennt aber scharf die erlaubte Meinungsäuße-
rung vom verbotenen Aufruf zum Widerstand oder widergesetzlichen Handlungen
(ebd. 302 f.).
88 Ludwig Siep

Erneuert und von der theologischen Prämisse Lockes befreit wird es


erst bei David Hume. Für Hume liegt es in der menschlichen Natur und
den lang anhaltenden stabilen Gewohnheiten, dass man sich seine Rechte
nicht von denjenigen nehmen lässt, die zu ihrem Schutz eingesetzt sind.
Zwar gehen die staatlichen Gesetze in vielen Fällen über den momentanen
Nutzen der Einzelnen und der gesamten Gesellschaft hinaus. Sie binden
den Einzelnen auch dann, wenn sich seine Einsicht und sein Rechtsgefühl
dagegen sträuben – weil der langfristige Nutzen gesellschaftlicher Stabili-
tät nur durch Verlässlichkeit der Regeln gesichert werden kann. Aber auch
die „Schranken der Untertanentreue“ beruhen auf stabilen Gewohnheitsre-
geln:

„Dies ist denn auch die allgemeine Praxis und der allgemeine Grundsatz der
Menschen. Keine Nation, die Mittel der Abwehr besaß, hat je das grausame
Wüten eines Tyrannen ertragen, oder ist wegen ihres Widerstandes getadelt
worden […] und nur die gewaltsamste Verdrehung des gesunden Menschen-
verstandes kann uns dazu führen, sie zu verdammen […]. Die Regierung ist
nur eine menschliche Erfindung zum Besten der Gesellschaft. Wo die Tyran-
nei des Herrschenden dies Interesse ausschaltet, da zerstört sie auch die natür-
liche Verpflichtung zum Gehorsam.“ (Hume 1978, 304 f.)

Man muss also nicht erst Gott anrufen, sondern es genügt die hinreichend
weit verbreitete Überzeugung der schwerwiegenden und anders nicht ab-
zuwehrenden Eingriffe in die Rechte und grundlegenden Interessen der
Menschen.
Die deutsche Gesetzgebung hat an diese Überzeugung bekanntlich erst
im Jahre 1968 angeknüpft und den Notstandsparagraphen 29, 4 ins Grund-
gesetz eingefügt: „Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu be-
seitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere
Abhilfe unmöglich ist.“ Es ist klar, dass dies ein besonderes Recht ist,
dessen Anwendungsfall nicht im Vorhinein genau zu bestimmen ist und
dessen Durchsetzung ein Staat in einer Verfassungskrise oder Revolution
nicht garantieren kann. Aber zum einen kann es durchaus Rechtsfolgen
haben, weil es die dadurch gerechtfertigten widergesetzlichen Handlungen
der (späteren) staatlichen Pflicht zur Strafverfolgung entzieht.16 Zum ande-
ren ist auch ein Recht von Bedeutung, über dessen Anwendung letztlich

16
Vgl. dazu K.-P. Sommermanns Kommentar zu Art. 20,4. (Sommermann 2005,
Rdn. 339, (S. 144) sowie 331 u. 332 (Verweis auf höchstrichterliche Urteile)). Vgl.
auch Murswiek 2009 Rdn. 173, S. 834: „Das Recht zum Widerstand hat die Wir-
kung, andernfalls verbotenes Verhalten zu rechtfertigen.“ (mit Verweis auf Isensee
1969, 87 ff.)
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 89

das Gewissen entscheidet und das eine „überkonstitutionelle“ bzw. „über-


positive“ Bedeutung hat. Diese Bedeutung ist nicht nur „symbolisch“ in
einem schwachen Sinne, sondern markiert die Grenzen der staatlichen
Befugnisse in der Verfassung selber, wie das auch die Formulierungen
zum Wesensgehalt der Grundrechte tun.17 Damit ist ein Anschluss an die
Tradition der Virginia Bill of Rights, die von Locke geprägt ist, und der
Menschenrechtserklärung der französischen Revolutionsverfassung herge-
stellt:

„Das Fehlen eines Widerstandsrechts in der deutschen Verfassungsgeschichte


sollte vor allem aus der Weite dieser Tradition eines menschenrechtsgewähr-
leistenden freiheitlichen und demokratischen Rechtsstaates (kurz: des Verfas-
sungsstaates) verstanden werden – und nicht aus der Enge eines positivisti-
schen Etatismus.“ (Gröschner 2006, 281)

Es ist auch die deutsche philosophische Tradition, die an dieser Enge mit-
gewirkt hat.18 Auch Kant hat an der Hobbesschen Tradition festgehalten,
dass ein staatlich sanktionierter Rechtszustand jeder Art von Bürgerkrieg
vorzuziehen sei und für das Urteil über die Tyrannis keine rechtmäßige
Instanz denkbar sei („Quis judicabit?“). Er begründet diese Position mit
einem Widerspruch im Begriff eines vom rechtsetzenden Souverän autori-
sierten Rechtes gegen ihn selber. Gegen eine einmal etablierte Rechtsord-
nung ist kein Widerstand denkbar:

„Wider das gesetzgebende Oberhaupt des Staats giebt es also keinen recht-
mäßigen Widerstand des Volkes; denn nur durch Unterwerfung unter seinen
allgemein=gesetzgebenden Willen ist ein rechtlicher Zustand möglich.“
(Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 320)

Weder ein einzelner noch das ganze Volk können sich dagegen auf das
Naturrecht oder das Gewissen berufen:

„Denn da das Volk, um rechtskräftig über die oberste Staatsgewalt (summum


imperium) zu urtheilen, schon als unter einem allgemeinen gesetzgebenden
Willen vereint angesehen werden muss, so kann und darf es nicht anders ur-
teilen, als das gegenwärtige Staatsoberhaupt (summum imperans) es will.“
(ebd., 318)19

17
Vgl. GG, Art. 19.
18
Vgl. Mandt 1974.
19
Dass „Kants Widerstandsverbot ausdrücklich auch angesichts extremster Rechts-
verstöße durch die herrschende Autorität Geltung beansprucht“, betont zu Recht
und mit vielen Belegen Zotta 2000, 221.
90 Ludwig Siep

Für den einzelnen Bürger gilt das ebenso, denn da der „Herrscher im Staat
gegen den Unterthan lauter Rechte“, aber „keine (Zwangs)Pflichten“ hat,
darf dieser auch den Handlungen des „Regenten“ gegen die Gesetze „kei-
nen Widerstand entgegensetzen“. (ebd., 319) Schließlich steht auch einer
Staatsgewalt wie etwa dem Parlament, ein solches Recht nicht zu, denn es
kann

„selbst in der Constitution kein Artikel enthalten sein, der es einer Gewalt
im Staat möglich machte, sich im Fall der Übertretung der Constitutional-
gesetze durch den obersten Befehlshaber ihm zu widersetzen, mithin ihn
einzuschränken“ (ebd.).

Für Kant ist ein Zustand, in dem die staatliche Autorität nicht uneinge-
schränkt respektiert wird,20 nicht wie für Hobbes einfach ein Übel, sondern
widervernünftig, weil die Vernunft schlechthin das Leben unter gemein-
samen willkür-beschränkenden Gesetzen fordert. Aber zum einen ist die
Frage, ob solche rationalistischen Ja/Nein-Entscheidungen zwischen Herr-
schaft des Rechts und Herrschaft der privaten Willkür den seit der Antike
diskutierten Fällen der Tyrannis wirklich gerecht werden – zumal im Lich-
te des Staatstotalitarismus und -terrorismus des 20. Jahrhunderts.21 Und
zum anderen ist es selbst innerhalb des Kantischen Denkens nicht grund-
sätzlich zwingend, nicht nur die staatliche Rechtsordnung generell, sondern

20
Das heißt nicht, dass eine theoretische Kritik ohne Absicht auf Widerstand („werk-
tätig vernünfteln“, Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 318) bei Kant nicht zuläs-
sig wäre. Sie ist von Philosophen als „freien Rechtslehrern“ (Kant, Der Streit der
Fakultäten, AA VII, 89) sogar gefordert, wie Kant in verschiedenen Schriften (vgl.
Kant, Zum ewigen Frieden, AA VII, 368 f.; Kant, Was ist Aufklärung, AA VIII,
37 f.) entwickelt. Dass er dabei allerdings kaum an Öffentlichkeit im modernen Sin-
ne denkt, zeigt die Bemerkung im Streit der Fakultäten, nach der die „Stimme“ der
Philosophen „nicht vertraulich an das Volk (welches davon und von ihren Schriften
wenig oder gar keine Notiz nimmt), sondern ehrerbietig an den Staat gerichtet“ und
dieser „ihr rechtliches Bedürfnis zu beherzigen angefleht wird“ (Kant, Der Streit
der Fakultäten, AA VII, 89).
21
Die Versuche, das NS-Regime als einen rechtlichen Naturzustand zu klassifizieren,
gegen den das kantische Widerstandsverbot nicht greife, widerlegt treffend Zotta
2000, 218–221. Wohl gibt es bei Kant ein Recht und eine Pflicht, unsittliche Befeh-
le des Staates nicht auszuführen („was […] dem inneren Moralischen widerstreite“)
(Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 371), vgl. Kant, Die Religion innerhalb der
Grenzen der bloßen Vernunft, AA VI, 99 Anm., sowie Henrich 1967, 25 ff. Dass
gegen den Zwang des Staates, des eigenen oder eines fremden, zu radikal unsittli-
chen Handlungen auch ein Recht zum Widerstand oder zum Verteidigungskrieg zu
rechtfertigen wäre, scheint Kant – vor dem Zeitalter des Totalitarismus – aber of-
fenbar noch undenkbar.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 91

auch das Urteil des „gegenwärtigen Staatsoberhauptes“ gegen Widerstand


zu immunisieren, der sich ja auf die Idee des vernünftigen Rechts und des
darauf beruhenden unverletzlichen „meum juris“ berufen könnte.22
Auch für Hegel gilt trotz seiner Kant-Kritik, dass das Leben im Staat
nicht auf einem für alle vorteilhaften Vertrag beruht, der in bestimmten
Fällen ungültig werden kann, sondern auf einem absoluten Gebot der Ver-
nunft. Zwar ist das Recht für ihn nicht ein so geschlossener „Code“ wie bei
Kant, sondern umfasst Ansprüche der Moralität, des Wohles und der Sitt-
lichkeit gemeinsamer Traditionen, die nicht vollständig kodifizierbar sind.
Der Imperativ, einem Staat anzugehören, dessen Entscheidungen nicht
durch überpositive Rechte oder Gewissensurteile in Frage gestellt werden
dürfen, gilt für Hegel erst recht. Um ihn jeder Instrumentalisierung durch
Religionen und kirchliche Autoritäten, aber auch den Gewalttaten selbst
ernannter Revolutionäre und romantischer Moralgenies zu entziehen, ver-
leiht er ihm die Prädikate des aristotelischen unbewegten Bewegers („abso-
luter unbewegter Selbstzweck“, Hegel 1976a, § 258) und der christlich-neu-
platonischen Tradition der „Vereinigung“ als Selbstzweck und sittlichen
Bestimmung des Menschen.23 Zwar enthält der von Hegel publizierte Text
der Rechtsphilosophie nicht die aus den Nachschriften und der Schüleraus-
gabe bekannte Formulierung, dass auch dem „kranken Staat“ die unbeding-
te Loyalität der Bürger zustehe.24 Aber wenn gilt, dass „der objective Wille
das an sich in seinem Begriffe Vernünftige ist, ob es vom Einzelnen erkannt
oder von ihrem Belieben gewollt werde oder nicht“ (ebd., § 258), dann ist
ein Recht des Urteils oder der Tat des Einzelnen gegen das „an und für sich
seyende Göttliche und dessen absolute Autorität und Majestät“ (ebd.) nicht
denkbar. Auch einer der Staatsgewalten kann bei Hegel ein Recht des Wi-
derstandes gegen die anderen nicht zukommen.

22
Vgl. Kants Äußerungen zum Naturrecht bzw. zum angeborenen Recht in der Einlei-
tung in die Rechtslehre, Metaphysik der Sitten, AA VI, 237 f.
23
Zur Neuplatonischen Vereinigungsphilosophie bei Hegel vgl. Henrich 1971; Jamme
1983.
24
Der Ausdruck „kranker Staat“ bezieht sich möglicherweise auf eine Stelle bei Groti-
us: „Ein kranker Körper bleibt immer ein Körper und ein Staat bleibt ein Staat, auch
wenn er schwer erkrankt ist“ (Grotius 1950, 440). Damit will Grotius die völkerrecht-
liche Verantwortung auch ungerechter oder tyrannischer Staaten festhalten. Er zitiert
im gleichen Abschnitt aber auch Aristides und Aristoteles, nach denen ein ungesetz-
licher Staat „aufhöre“ bzw. „untergehe“. Vgl. Aristoteles 2005 (1309 b 22 ff.), wo die
Parallele zum menschlichen Körper ja gerade vor der „Abweichung ins Übermaß“
warnen soll. Vom Recht auch „verunarteter“ bzw. „mit großen Mängeln und groben
Fehlern“ versehener Verfassungen spricht dagegen auch Kant (vgl. Metaphysik der
Sitten, AA, VI, 372 u. 353. Vgl. dazu auch Zotta 2000, 221).
92 Ludwig Siep

Diesem begrifflichen Ausschluss des Widerstandsrechts, aber auch


grundsätzlicher des Abwehrcharakters individueller Grundrechte, stehen
allerdings auch bei Hegel immanente Gegentendenzen des Systems gegen-
über. Dazu gehört nicht nur das grundsätzlich „revolutionäre“, nämlich auf
der Selbstnegation jeder Form des Begriffs und des Geistes beruhende dia-
lektische Denken. Hegel hat vielmehr auch den Entzweiungen des Einzel-
nen von den herrschenden Sitten und der über Konflikte und Versöhnungen
verlaufenden Reintegration in die Gemeinschaft seit seinen Frühschriften
große Aufmerksamkeit geschenkt. Die wechselseitige Anerkennung zwi-
schen abweichendem Gewissen und moralischer Gemeinschaft gehört noch
in der Phänomenologie zum absoluten Geist selber.25 Hegels Konzeption
von Anerkennung beweist ja bis in die gegenwärtige Sozialphilosophie ihre
Fruchtbarkeit und Aktualisierbarkeit.26 Warum sie in der Rechtsphilosophie
nicht zur letzten Konsequenz geführt wurde, ist nicht nur eine philosophie-
historisch, sondern auch eine systematisch wichtige Frage.27 Bei allen Ge-
gensätzen zwischen dem Kantischen und dem Hegelschen Vernunftbegriff
zeigt der Vergleich mit den vertrags- und gewohnheitsrechtlichen Tradi-
tionen Lockes und Humes einerseits und der europäischen Verfassungsge-
schichte andererseits aber auch, dass die Geschlossenheit eines Systems
praktischer Philosophie, das aprioristisch oder teleologisch von der Offen-
heit historischer Erfahrungen und situationsgemäßer Entscheidungen ge-
trennt ist, in der Gegenwart nicht mehr überzeugen kann. Es bedarf einer
grundlegenden Transformation, wenn die praktische Philosophie die Situa-
tion und die Probleme moderner Gesellschaften verstehen oder gar an ihrer
Lösung mitwirken will.28

(B) Mein zweites Beispiel für die Relevanz der praktischen Philosophie der
Neuzeit für Gegenwartsprobleme betrifft die Theorie des gerechten Krie-
ges. Dabei geht es bekanntlich nicht um „heilige“ Kriege oder solche um
der Verwirklichung der vollkommenen Gerechtigkeit, sondern um Gründe,
unter denen Kriege als geringeres Übel (minus malum) und letztes Mittel
(ultima ratio) zur Erhaltung der Rechte der Menschen und Völker gerecht-
fertigt werden können.29 Seit dem Ende der großen Staatenkriege und dem
Zuwachs neuer Formen „asymmetrischer Kriege“, von Befreiungskriegen

25
Vgl. Siep 2008, 427–431.
26
Vgl. Schmidt am Busch/Zurn 2009.
27
Vgl. dazu Siep 2009.
28
Vgl. dazu in Bezug auf Hegel Siep 2010.
29
Zur Kontroverse über die Theorie des gerechten Krieges in der neueren Philosophie
vgl. auch Merker 2003. Skeptisch zur Gegenwartsrelevanz der Theorie des gerecht-
fertigten Krieges Kleemeier 2003.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 93

über humanitäre Interventionen bis zum „Krieg gegen den Terror“, wird
sichtbar, dass die ältere Tradition des Nachdenkens über die Rechtferti-
gung von Kriegen in mancher Hinsicht „hochaktuell“ ist. Das liegt auch
daran, dass der Begriff des Krieges seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts zunehmend auf die Kriege zwischen souveränen Staaten einge-
schränkt wurde. Deren Verrechtlichung hat zwischen dem Westfälischen
Frieden von 1648 und den völkerrechtlichen Gewaltverboten der Vereinten
Nationen nach dem Zweiten Weltkrieg sicher erhebliche Fortschritte ge-
macht – wenngleich die Kriege selber durch die moderne Waffentechnik
an Schrecken und Opferzahl ständig zugenommen haben.30
Der ältere Begriff des Krieges, lat. bellum, ist deutlich umfassender als
der eines Krieges zwischen Staaten, der durch legitimierte Armeen ausge-
führt wird.31 Schon Hobbes’ Begriff des „bellum omnium“ im Naturzustand
(der für ihn zwischen den Völkern andauert) meint nicht nur gewaltsame
Auseinandersetzungen, sondern generell die ständige Gewaltbereitschaft
(„Kalter Krieg“). Hugo Grotius unterscheidet Kriege zwischen Staaten
(bellum publicum) und zwischen Privatleuten untereinander (bellum priva-
tum). Staaten können aber auch mit privaten Individuen und Gruppen, z. B.
Räuberbanden, in Konflikten stehen, die Krieg (bellum) genannt werden.
Die beiden in der Gegenwart besonders diskutierten Fälle, die humanitäre
Intervention32 in souveränen Staaten und die Abwehr von Anschlägen vom
fremden Staatsgebiet aus, gehören für ihn zum Krieg und können u. U.
gerechtfertigt sein.
Eingriffe zum Schutz der anderen sind nach Grotius nicht nur für Ver-
wandte und Landsleute geboten, denn „wenn andere Bande fehlen, so ge-
nügt die gemeinsame Menschennatur“ (Grotius 1950, 130). Dieses „Recht,
die menschliche Gesellschaft durch Strafen zu schützen“, ist durch die
Einrichtung der Staaten von den Individuen auf diese übergegangen. Es
verleiht den Staaten bzw. ihren legitimen Oberhäuptern das Recht, „nicht
nur wegen des gegen sie und ihre Untertanen begangenen Unrechts […],
sondern auch wegen Taten, die eigentlich nicht sie selber treffen, aber in

30
Völkerrechtler konstatieren eine Entwicklung vom Verbot des Angriffskriegs zum
allgemeinen Gewaltverbot, das allerdings keineswegs einschränkungslos gültig ist
(vgl. Bothe 2007, 592–612). Vorreiter in der Entwicklung waren vor allem seit dem
19. Jh. die Kodifizierungen des jus in bello (vgl. ebd., 629). Vgl. dazu auch Kleemeier
2003, die aber von einer Unvereinbarkeit des jus ad bellum und des jus in bello im ge-
genwärtigen Völkerrecht ausgeht (bes. 26 f.).
31
Zur Geschichte philosophischer Theorien des Krieges vgl. auch Kleemeier 2002.
32
Zur philosophischen Diskussion des Problems der humanitären Intervention vgl.
auch Hinsch/Janssen 2006, sowie Schmücker 2005. Kritisch zum Begriff „humani-
täre Intervention“ Quante 2003, 8.
94 Ludwig Siep

einzelnen Personen das Natur- und Völkerrecht in roher Weise verletzen“


(ebd., 354) gewaltsam vorzugehen. Allerdings müssen schon für Grotius
solche Unrechtshandlungen in anderen Staaten massiv und für die Täter
erkennbar sein – nach dem auch innerstaatlichen Grundsatz „unvermeidli-
che Unkenntnis des Gesetzes beseitigt den Vorwurf des Unrechts“ (ebd.,
356). Strafkriege in anderen Staaten dürfen kein Vorwand für Eroberungen
sein: „Kriege, die unternommen werden, um eine Bestrafung herbeizufüh-
ren, sind der Ungerechtigkeit verdächtig, es sei denn, dass die Verbrechen
ganz grob und ganz offenbar sind“ (ebd.).
Analog dazu hat man in modernen Debatten um die humanitären Inter-
ventionen bzw. die „responsibility to protect“33 zwischen schweren Men-
schenrechtsverletzungen und solchen zu unterscheiden versucht, die Ein-
griffe der Völkergemeinschaft in souveräne Staaten nicht rechtfertigen
können.34 Schon Grotius sieht einen solchen Eingriff als Ersatz für den
Widerstand, den die Bürger selber gegen ihre Unterdrücker nicht leisten
können. Ihr Widerstandsrecht geht bei der Unmöglichkeit der Ausführung
auf die dazu fähigen Helfer von außen über.35 Dass insgesamt der Krieg
nur als letztes Mittel und als geringeres Übel gegenüber dem ungerechten
Frieden erlaubt ist, gilt auch für diese Fälle: Der Krieg und der Kriegs-
dienst ist „eine so abscheuliche Sache, dass nur die höchste Not oder die
wahre Liebe (! LS) ihn als anständig legitimieren kann“ (ebd., 409).
Für das zweite heute aktuelle Beispiel gewaltsamer Intervention in
fremden Staaten, die Bekämpfung von Terroristen, die von deren Staats-
gebiet aus operieren, gibt Grotius nur indirekte Hinweise, die dann von
Samuel Pufendorf weiterentwickelt wurden. Grotius lässt aber keine Zwei-
fel daran, dass auch Räuberbanden, gegen die kein offizieller, durch
Kriegserklärung angekündigter Krieg eröffnet werden kann, wegen ihrer
Gefahr und wegen ihres Unrechts bekämpft und gewaltsam bestraft werden
können. Außerdem begründet er das Auslieferungsverlangen gegen Staa-
ten, die Verbrecher beherbergen:

„Da jedoch die Staaten es nicht zu gestatten pflegen, dass der andere Staat be-
waffnet in ihr Gebiet zur Vollstreckung solcher Strafen einrückt, dies auch be-
denklich ist, so folgt, dass der Staat, in dem der Verbrecher sich aufhält, nach
erlangter Kenntnis entweder selbst auf Verlangen ihn angemessen strafen oder
ihn dem verletzten Staat zur Entscheidung überlassen muss“ (ebd., 368 f.).

33
So der Titel einer von einer UN-Arbeitsgruppe ausgearbeiteten und vom Sicher-
heitsrat informell gebilligten Stellungnahme zur Verpflichtung, Opfer von Tyrannei
in fremden Staaten zu schützen. Vgl. International Commission on Intervention and
State Sovereignty 2001.
34
Vgl. dazu Hinsch/Janssen 2006.
35
Vgl. Grotius 1950, 408. Vgl. dazu jetzt Laukötter 2010.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 95

Bekanntlich ist die Weigerung der Taliban in Afghanistan, die mutmaßli-


chen Urheber der Anschläge des 11. September in den USA auszuliefern,
die Veranlassung der UN-Resolutionen zur ihrer Bekämpfung gewesen.36
Grotius ist allerdings nicht deutlich, was das Recht der gewaltsamen
Intervention bei Weigerung der Herausgabe angeht. Er verneint jedenfalls,
dass Urhebern von Gewalttaten in anderen Staaten naturrechtliches Asyl
zustehe: „Solche Personen sind also entweder zu bestrafen oder auszulie-
fern oder zu vertreiben“ (ebd., 372). Zitate von klassischen Autoren, die im
Weigerungsfalle ein Notrecht des angegriffenen Staates bestätigen, scheint
er zumindest zustimmend anzuführen (vgl. ebd. 369 f.). Ausnahmslos gilt
dieses Recht für ihn aber nicht:

„Übrigens werden See- und Straßenräuber, wenn sie so mächtig geworden


sind, dass man sie fürchten muss, mit Recht zu den Asylen zugelassen und von
Strafen verschont. Dem menschlichen Geschlecht liegt daran, dass sie, wenn
es nicht anders möglich ist, so lange geschützt werden, als die gerichtliche Un-
tersuchung läuft, damit sie durch das Vertrauen auf Straflosigkeit von ihren
Übeltaten abgebracht werden“ (ebd., 373)

– eine für Al-Qaida vermutlich vergebliche Hoffnung.


Klarer sind für diese Fälle die Stellungnahmen Samuel Pufendorfs in
seinem Buch Über die Pflichten der Menschen und Bürger von 1673, das
nach Klaus Luig „rund 150 Jahre lang fast jeder europäische und später
auch amerikanische Jurist in Händen gehabt hat“. (Luig 1994, 217) In § 9
des 16. Kapitels führt Pufendorf aus, dass „der Lenker eines Staates oder
der ganze Staat, auch ohne Unrecht verursacht zu haben, in den Krieg ge-
zogen“ werden können (Pufendorf 1994, 204). Denn die „Staatslenker
haben teil am Unrecht, das alteingesessene Staatsbürger und jüngst auf der
Flucht hinzugekommene Bürger verübt haben, wenn sie seine Begehung
geduldet haben oder Schutz gewähren“ (ebd.). Allerdings ist die „Duldung
(aber) nur unter der Bedingung vorwerfbar, dass jemand von dem Verbre-
chen wusste und es hätte verhindern können“ (ebd.). Diese Möglichkeit
wird „stets vermutet, wenn ihr Fehlen nicht eindeutig beweisbar ist“ (ebd.).
Weder Grotius noch Pufendorf haben allerdings die heutige Situation
antizipieren können, dass für die Beilegung von Konflikten in diesen Fra-
gen die Völkergemeinschaft ein Verfahren etabliert hat, das zu einem ge-
meinsamen Urteil und zu Zwangsmaßnahmen seiner Durchsetzung führen
soll. Dabei ist die Souveränität der Staaten und der grundsätzliche Verzicht
auf „Einmischung in innere Angelegenheiten“ vorausgesetzt – völkerrecht-
liche Prämissen, die sich in Europa auf der Grundlage des Systems des

36
Vgl. die UN-Sicherheitsratsresolution 1378.
96 Ludwig Siep

Westfälischen Friedens (1648) entwickelt hatten. Vor allem seit dem


18. Jh. wird dann unter den Philosophen und Juristen die Idee eines Völ-
kerbundes diskutiert, der den Naturzustand der Selbstverteidigung durch
einen Rechtszustand zwischen den Völkern ersetzt. Besonders einfluss-
reich sind die Debatten über einen solchen „Ewigen Frieden“ bei Rousseau
und Kant. Beide bleiben aber skeptisch gegenüber der Realisierbarkeit eines
universalen Rechtszustandes.37
In seiner systematischen Abhandlung des Völkerrechts in den Meta-
physischen Anfangsgründen der Rechtslehre hat Kant dem „allgemeinen
Staatenverein“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI, 350) nur den Status
einer Art permanenter Friedenskonferenz eingeräumt.38 Den Weltstaat mit
legitimer Zwangsgewalt lehnt er ab, im Wesentlichen, weil dieser die Auf-
gabe des innerstaatlichen Rechtsschutzes nicht übernehmen kann.39 Wenn
der permanente Rechtszustand aber nur ein Ideal ist, dem man sich annä-
hern muss, dann bleibt der Naturzustand der Selbstbehauptung der Völker
und das daraus resultierende Recht zum Verteidigungskrieg weitgehend
erhalten.
Obwohl Kant weder zur Frage einer humanitären Intervention bei
schweren Menschenrechtsverletzungen noch zum Recht des Angriffes auf
einen Staat, der die Urheber einer Aggression gegen einen anderen schützt,
Stellung genommen hat, kann man einige Vermutungen bezüglich der
„Ressourcen“ Kants für diese Fragen anstellen. Die Stellung der Souverä-
nität der Staaten impliziert generell ein striktes Einmischungsverbot (vgl.
ebd. 344), das auch eine humanitäre Intervention ausschließt. Nach dem
oben Ausgeführten kann ein Widerstandsrecht der Bürger nicht gegeben
sein. Es kann also auch kein subsidiäres Widerstandsrecht der Völkerge-
meinschaft oder fremder Staaten geben, wie es Grotius angedeutet hat. Das
gilt nicht nur vor der Gründung eines „Staatenvereins“, also in einem Na-
turzustand der subjektiven Beurteilung von Recht und Unrecht zwischen
den Völkern. Es gibt hier nicht einmal ein objektives Urteil über das Recht
zum Verteidigungskrieg, erst recht keines über das Recht oder Unrecht

37
Vgl. Rousseaus Auszug und Kritik des „Projet de paix perpetuelle“ des Abbé de St.
Pierre (Rousseau 1985), sowie Kant, Zum ewigen Frieden.
38
Vgl. Kant, Metaphysik der Sitten, AA, VI, 350: „Man kann einen solchen Verein
einiger (! LS) Staaten, um den Frieden zu erhalten, den permanenten Staaten-
kongreß nennen“. Vorbild ist die „Versammlung der Generalstaaten im Haag“ in
der ersten Hälfte des 18. Jh.s. Vgl. Pinzani 1999, Karakus/Siep 2006 sowie Hoesch
2012.
39
„Weil aber bei gar zu großer Ausdehnung eines solchen Völkerstaats über weite
Landstriche die Regierung desselben, mithin auch die Beschützung eines jeden
Gliedes endlich unmöglich werden muss“ (Kant, Metaphysik der Sitten, AA VI,
350).
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 97

fremder Regierungen gegen ihre Bürger.40 Das Verbot einer Intervention


gilt aber auch bei Bestehen eines Völkerbundes, der nur die Abwehr äuße-
rer Angriffe zwischen Staaten zur Aufgabe hat.41
Die Frage des Eingriffs in souveräne Staaten aufgrund der Duldung
von Aggressoren auf deren Boden ist weniger leicht zu entscheiden. Denn
hier konkurriert die Souveränität der Staaten mit dem Recht auf Selbstver-
teidigung. Das wäre klarerweise eine Frage für den anzustrebenden „Staa-
tenverein“. Aber da dieser die Sicherheit der einzelnen Staaten nicht garan-
tieren kann – und nach der Metaphysik der Sitten eine „unausführbare
Idee“ (ebd. 350) bleibt –, kann auf Selbstverteidigung nicht verzichtet wer-
den. Selbst eine Formulierung wie in Art. 51 der UN-Charta, dass die
Selbstverteidigung (nur) solange rechtens ist, „bis der Sicherheitsrat die zur
Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit notwendigen
Maßnahmen getroffen hat“, wäre für Kant nicht völkerrechtlich bindend.
Ohne einen Weltstaat mit legitimem und wirksamem Gewaltmonopol kann
auf die Selbstverteidigung nicht verzichtet werden. Auf der anderen Seite
müsste aus der Sicht Kants die Entgrenzung des Krieges durch die Erlaub-
nis, sich auf dem Gebiet eines fremden souveränen Staates – notfalls auch
ohne dessen Zustimmung – zur Abwehr „privater“ Gewalt zu verteidigen,
einen Rückschritt auf dem Weg zur Überwindung der Kriege darstellen.
Denn solche „asymmetrischen“ Kriege zwischen Staaten und nicht-staat-
lichen Gruppen sind viel schwerer zu verrechtlichen als Staatenkriege.
Noch deutlicher ist die Anerkennung der Souveränität der Staaten bei
Hegel. Eine höhere Rechtsebene gibt es für ihn nur in der Form von In-
teressenverträgen zwischen den Staaten, deren Selbsterhaltung unbedingte
Pflicht ist. Dass die Mittel dazu, wie bei seinen Vorgängern, so zivilisiert
sein sollen, dass der Krieg ein vorübergehendes Übel bleibt und das Ver-
trauen zwischen den Staaten nicht zerstört wird, gliedert Hegel freilich in
die Tradition des bellum justum ein. Aber er begrenzt den Krieg nicht prin-
zipiell auf den Verteidigungskrieg, sondern lässt zumindest den Übergang
eines Verteidigungskrieges in einen „Eroberungskrieg“ als berechtigt zu
(vgl. Hegel 1976a, § 326). Im Auge hat er dabei die Kriege der Französi-
schen Revolution, die zu einem „Export“ der republikanischen Verfassun-
gen auf das Gebiet der zurückgeschlagenen Angreifer führten. Moderne

40
Kant lässt ja auch nach einem Krieg keinerlei Gerichtsverfahren über Kriegsschuld-
fragen zu, weil es keinen Richter oberhalb der Völker gibt (Kant, Metaphysik der
Sitten, AA, VI, 348 f.).
41
Vgl. dazu den 5. Präliminarartikel der Schrift Zum Ewigen Frieden, in dem Kant die
„Gesetzlosigkeit“ in einem anderen Staat im Blick hat. Diese stellt aber keine
Rechtsverletzung des ersteren dar und ein Eingriff ohne eine solche würde „die Auto-
nomie aller Staaten“ gefährden (Kant, Zum ewigen Frieden, AA VIII, 346).
98 Ludwig Siep

europäische Kriege sind für Hegel ohnehin Kriege um die fortgeschrittens-


te Verfassung.42
Man könnte die humanitäre Intervention in Hegelschen Begriffen al-
lenfalls als eine Verbreitung von fortgeschrittenen Rechtsverfassungen mit
Grundrechten und -freiheiten der Bürger auf Gebiete mit „überholten“
Verfassungen und Rechtsvorstellungen diskutieren. Allerdings gäbe es
dafür nach Hegel keine völkerrechtliche Berechtigung und auch kein „ob-
jektiv“ begründetes gemeinsames Vorgehen der Völkergemeinschaft. Der
angegriffene Staat behielte jedes Recht zur Selbstverteidigung. Dies gilt
bei Hegel vermutlich auch in Fällen des Angriffs auf einen Staat, der priva-
te Aggressoren auf seinem Gebiet duldet.
Dass Kants und Hegels Philosophie des Völkerrechts in den Fragen der
humanitären Intervention oder der asymmetrischen Kriege gegen Aggres-
soren in fremden Staaten über wenig systematische Ressourcen verfügt, hat
denselben Grund wie die gegenwärtigen völkerrechtlichen Probleme mit
ihnen: das Prinzip der Unantastbarkeit staatlicher Souveränität und die
Einschränkung des Kriegsbegriffs sowie der Fragen des gerechten bzw.
gerechtfertigten Krieges (jus ad bellum) auf die Staatenkriege. Die histori-
sche Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist aber offenbar über die erklärten
Kriege zwischen Staaten und ihren Armeen hinausgegangen. Die Zunahme
an Befreiungskriegen, Partisanen- und Guerillakriegen, Bürgerkriegen in
gescheiterten Staaten (failed states) und schließlich des internationalen
Terrorismus lässt diese Einschränkung sowohl praktisch wie theoretisch als
obsolet erscheinen. Ein Rückgang auf den umfassenderen Kriegsbegriff
der frühen Neuzeit könnte hilfreich sein, wenn nicht eine unklare Be-
griffswahl, wie sie schon in den jüngeren UN-Resolutionen anzutreffen ist
(„bewaffneter Konflikt“, „Bedrohung des internationalen Friedens“, „ag-
gressive Handlungen“ etc.), die rechtliche Beurteilung und Eindämmung
der neuen Kriegsformen noch erschweren soll.43
Allerdings rückt dadurch auch der Traum vom „ewigen Frieden“ in
Gestalt eines rechtlich geregelten, wenn auch nicht völlig störungs- und
gewaltfreien Zustandes zwischen den Völkern, wieder in weitere Ferne.
Nach dem Zusammenbruch der aggressiven ideologischen Großsysteme
des 20. Jahrhunderts schien dieses Ziel in Reichweite. Aufgeben können es
Philosophen nicht, die an der Idee der Menschenrechte und des gewaltfrei-
en Zustandes zwischen selbstbestimmten Völkern orientiert sind. Aber sie
müssen sich auf die „neue Unübersichtlichkeit“ auch auf diesem Gebiet

42
Vgl. Siep 2003, 17.
43
Man denke auch an den mehrdeutigen Sprachgebrauch deutscher Politiker im Um-
gang mit dem Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr (der allerdings wohl auch ver-
sicherungsrechtliche Gründe hat).
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 99

einlassen, wenn sie praktische Philosophen bleiben wollen – „praktisch“


nicht nur im Sinne der Philosophie des Handelns und seiner Gemein-
schaftsformen, sondern auch im Sinne der Deutung historischer Prozesse,
der Stellungnahme zu gesellschaftlichen Problemen und der Kritik oder
Rechtfertigung von Institutionen.

III.

Die beiden Beispiele sollten zeigen, dass die Beschäftigung mit der Ge-
schichte der praktischen Philosophie neues Licht auf gegenwärtige Prob-
leme werfen kann, auch wenn die Verschiedenheit der Zeiten und ihrer
Denker nicht eingeebnet oder die Texte unzulässig aktualisiert werden. Die
Denkgeschichte zeigt, dass die Probleme der Gegenwart oft durch Eng-
pässe des Denkens verschärft werden, bei deren Überwindung nicht nur
Visionen neuer Horizonte, sondern auch Erinnerungen an vergangene
Konstellationen helfen können. Vor den Zukunftsvisionen hat die prob-
lemorientierte und systematisch interessierte Erinnerung an die Vergan-
genheit zwei Vorzüge: Zum einen klärt sie über unsere eigene Vorge-
schichte, die Gründe für unsere historische und geistige „Situation“ auf.
Zum anderen hat sie es mit Argumenten und Theorien zu tun, die in Bezug
auf wiederkehrende und bis heute nicht vollständig gelöste individuelle
und soziale Konflikte entwickelt wurden und einen Teil des Instrumentari-
ums unserer Problembearbeitungen darstellen. Wenn man der Sprache
unserer philosophischen Tradition nicht so viel an ideologischer und zeit-
bezogen funktionaler Beschränkung zusprechen mag wie systemtheoreti-
sche Kritiker der alteuropäischen Begrifflichkeit,44 dann muss man sich
zwar dessen bewusst sein, dass keine Philosophie über den Horizont ihrer
Zeit hinauskommen kann oder außerhalb des Flusses der Kulturgeschichte
steht. Aber man wird doch ein Potential an Argumenten, Begriffen und
Erfahrungen entdecken können, das in der einseitigen Fokussierung auf
zeitgenössische Theorien oft vergessen wird oder unausgeschöpft bleibt.
Die Menschheit hat, gerade in Europa, auch durch Renaissancen und
„Klassizismen“ immer wieder einen Sprung nach vorne getan. Das beweist
die Geschichte der Erneuerung des antiken Republikanismus mit seiner
politischen Mitbestimmung und Gemeinwohlorientierung. Sie hat aller-
dings auch mit der Idee der Rückgewinnung vergangener Größe oft falsche
Wege eingeschlagen, wie nicht nur, aber besonders, die deutsche Ge-
schichte seit der nationalen Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts und

44
Vgl. Anm. 6.
100 Ludwig Siep

ihrer romantisch-historistischen Reichsidee zeigt. Hier, wie noch radikaler


im Kollektivismus des „Dritten Reiches“, war das Erbe der Aufklärung
und der Traditionen der neuzeitlichen Philosophie – nicht allein Westeuro-
pas – vergessen oder aufgrund von „Visionen“ radikal verneint, die teils
verklärend rückwärtsgewandt, teils utopisch-futuristisch waren (vor allem
in Bezug auf Technik und Organisation). Nicht nur vergessen, sondern
ausdrücklich verneint wurde in dieser Zeit auch die Tradition des Denkens
über den gerechtfertigten Krieg, der in radikalster Weise zum „totalen“
Krieg verwandelt wurde, sowohl was das jus ad bellum wie das jus in bello
betrifft.
Gerade für die deutsche Philosophie ist die Erinnerung an die Konzep-
tionen der praktischen Philosophie der Neuzeit von großer Bedeutung.
Nicht zuletzt deswegen, weil der deutsche Hang zur Systemphilosophie
und zur Letztbegründung übersieht, dass gerade in der praktischen Philo-
sophie auch vieles Grundsätzliche auf historischen Erfahrungen beruht.
Der Großteil der Menschenrechte ist ohne die schmerzhaften Erfahrungen
mit der Unterdrückung von Denk- und Religionsfreiheit, der Beraubung
von Rechten der Menschen in persönlicher und wirtschaftlicher Abhängig-
keit nicht verständlich und auch nicht zu begründen.45 Sicher kann man die
Leidenserfahrungen darauf zurückführen, dass Menschen an dem gehindert
wurden, was ihre eigentlich menschlichen Fähigkeiten und Bedürfnisse
ausmacht. Aber es sind meist die Erfahrungen des Verlustes, der Vorent-
haltung und der Verweigerung, die das erst ins Bewusstsein bringen, was
wirklich wichtig ist. Ein solches Bewusstsein der zu „Anlage“ und „Ver-
mögen“ der Menschen gehörenden freien Selbstentfaltung und Mitbestim-
mung, „vergisst sich nicht mehr“, wie Kant es von den republikanischen
Erfahrungen der Französischen Revolution (Kant, Streit der Fakultäten,
AA VII, 88) sagt – oder, wie Hegel formuliert, das einmal erwachte Frei-
heitsbewusstsein der Individuen und Völker hat eine „unbezwingliche
Stärke“ (Hegel 1991, § 482).
Erfahrungen, aber auch in Erfahrungen eingespielte Praxen, können
auch das bestätigen und stabilisieren, was im Begriff widersprüchlich zu
sein scheint, wie das Widerstandsrecht in einer staatlichen, mit Durchset-
zungsgarantie versehenen Rechtsordnung. Dass Völker und Einzelne sich
gegen Tyrannen zur Wehr gesetzt haben und das zumindest nachträglich
allgemein als rechtens beurteilt wird, ist auch dann nicht zu bestreiten,

45
Erhebliche Beschränkung der Bürgerrechte gibt es für Frauen und abhängig Arbei-
tende bekanntlich auch noch bei Kant und im Deutschen Idealismus. Vgl. dazu Siep
2007.
Warum praktische Philosophie der Neuzeit? 101

wenn kein Rechtsnachfolger der Unterdrücker sie rehabilitiert.46 Der un-


systematische Empirist Hume könnte in diesem Punkt weiser sein als die
großen Systemarchitekten Kant und Hegel. Weniger „elegante“ völker-
rechtliche und philosophische Systematik wird vermutlich auch beim Ver-
such der rechtlichen Begrenzung der neuen Formen kriegerischer Ausei-
nandersetzungen vonnöten sein.
Begründung für den Wert philosophischer Einsicht hängt auch in der
praktischen Philosophie nicht allein von ihrem Nutzen für die gegenwärti-
gen Probleme ab. Zu verstehen, wie es war und wie „wir“ geworden sind,
oder die Schönheit, gedankliche Schärfe und Erfahrungssättigung von
Texten aufzuschließen und zu vermitteln, ist ein Eigenwert, der philoso-
phische und philosophiegeschichtliche Forschung rechtfertigt. Zumindest
für die praktische Philosophie lässt sich aber auch ohne Anbiederung an
gesellschaftliche Erwartungen behaupten, dass wir ohne das Studium ihrer
Geschichte weniger für die Lösung gegenwärtiger ethischer, rechtlicher
und sozialer Probleme gewappnet sind als mit ihr. „Wissenschaftliche“
Handlungsanweisungen im Sinne von Experten-Gutachten sind von ihr
nicht zu erwarten. Wohl aber die Erkenntnis von gedanklichen Lösungs-
optionen, von Kriterien der Abwägung bei Güter- und Folgenabschätzun-
gen und von dem Preis, den man für Ideale bzw. Menschenbilder zu ent-
richten hat. Normative Menschenbilder liegen auch unseren Verfassungen
und Konsensen über Demokratie, Menschenrechte sowie Fairness inner-
halb eines Gemeinwesens oder auf der Ebene der globalen Schicksalsge-
meinschaft zugrunde.
Auch Rechte lassen sich nicht ohne „attraktive“ Ideale des individuel-
len und gemeinsamen Lebens verteidigen. Aber die überflüssigen Leiden
der Individuen unter Idealen kollektiver Ehre und Größe dürfen dabei nicht
vergessen werden. Was öffentliche Aufgaben sind, die von jedem nach-
vollziehbare Anstrengungen rechtfertigen – sowohl im Bereich begrenzter
Rechtsgemeinschaften wie der Völkergemeinschaft insgesamt –, ist ein
wichtiges Thema der praktischen Philosophie heute.47 Auch dieses Thema
war aber der praktischen Philosophie der frühen Neuzeit nicht so fremd,
wie man annehmen möchte – man denke an Grotius’ Überlegungen zur
Freiheit der Meere oder an Lockes Thesen über Güter, die nicht privat
angeeignet und von denen keine Monopole gebildet werden dürfen.48 Trotz

46
Die oft skandalös unterlassene oder verspätete Rehabilitierung von Widerstands-
handlungen in Deutschland bezeugt, dass ein Widerstandsrecht nicht nur symbo-
lisch ist, sondern auch Rechtsfolgen haben kann bzw. sollte (vgl. Anm. 16).
47
Vgl. Siep 2005.
48
Zu einer Aktualisierung dieser Gedanken Lockes in Bezug auf das Problem der
internationalen Arzneimittelgerechtigkeit vgl. Risse 2008.
102 Ludwig Siep

der rasanten Entwicklung der technisch-wissenschaftlichen Welt sind viele


heutige Probleme des Zusammenlebens der Menschen und ihres Umganges
mit der Natur schon im Gesichtskreis der klassischen Werke der prakti-
schen Philosophie gewesen. Auch deshalb lohnt sich die Auseinanderset-
zung mit ihnen immer wieder.

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Ansgar Beckermann

Wer die Frage „Warum Philosophie?“ stellt, muss sich darüber im Klaren
sein, dass „Philosophie“ bis ca. 1800 in etwa dasselbe bedeutete wie „Wis-
senschaft“. Wenn in der Antike die Frage „Warum Philosophie?“ gestellt
wurde, bedeutete sie also: Welchen Sinn hat es, nach wissenschaftlicher
Erkenntnis über die Welt zu suchen? Auch das ist eine interessante Frage.
Die antike Skepsis kann man z. B. so verstehen, dass sie dem Versuch, auf
wissenschaftliche Weise Erkenntnis über die Welt zu gewinnen, grundsätz-
lich misstraut.1 Wenn wir aber heute nach Sinn und Zweck der Philosophie
fragen, ist offenbar anderes gemeint. Im 19. und 20. Jahrhundert haben
sich einzelne Bereiche dessen, was früher „Philosophie“ genannt wurde –
auch institutionell – verselbständigt. Zunächst betraf dies die Naturwissen-
schaften Astronomie, Physik, Chemie und Biologie, deren Fragen zuvor
unter dem Etikett „philosophia naturalis“ behandelt wurden. Es folgten die
Geistes- und Sozialwissenschaften. Ende des 19., Anfang des 20. Jahrhun-
derts wurde auch die Psychologie zur Einzelwissenschaft. Am Ende dieses
Prozesses gibt es nicht mehr die Wissenschaft (=Philosophie), sondern eine
Vielzahl von Einzelwissenschaften, die sich mit unterschiedlichen Aspek-
ten der Wirklichkeit befassen. Diese Entwicklung spiegelt sich in der Tat-
sache, dass um 1800 das Wort „Philosophie“ eine neue Bedeutung erhält.
Es ist nicht mehr gleichbedeutend mit „Wissenschaft“, sondern beginnt, für
ein Fach neben anderen zu stehen. Und damit stellt sich die Frage nach
dem Zweck und der Legitimation von Philosophie neu: Brauchen wir ne-
ben Mathematik und den empirischen Wissenschaften noch eine andere
Art der rationalen Erkenntnisgewinnung? Gibt es Erkenntnisse, die nicht
mit mathematischen oder empirisch-wissenschaftlichen Mitteln gewonnen
werden können? Hat die Philosophie neben den etablierten Wissenschaften
eine eigene Legitimation?
Spätestens gegen Ende der frühen Neuzeit hat sich die Auffassung
durchgesetzt, dass sich Philosophie – oder vielleicht besser: Metaphysik –
von den anderen Wissenschaften (außer der Mathematik) dadurch unter-

1
Vgl. Schupp 2003, 378f.
106 Ansgar Beckermann

scheidet, dass es in ihr um Erkenntnisse a priori geht. Auch Descartes hatte


Metaphysik – oder Erste Philosophie – von den anderen Wissenschaften
(Physik, Medizin, Mechanik, Ethik) unterschieden; allerdings spielt für ihn
als Rationalisten das reine Denken in allen Wissenschaften eine zentrale
Rolle; seiner Meinung nach lassen sich auch die Bewegungsgesetze der
Materie rein a priori ableiten. Erst später wird klar, wie wichtig es ist,
zwischen Erkenntnissen a priori und Erkenntnissen a posteriori zu unter-
scheiden, wodurch die Frage entsteht, in welchen Bereichen Erkenntnisse
a priori überhaupt möglich sind. Hume vertritt dezidiert die Auffassung,
dass sich a priori Erkenntnis auf die Aussagen beschränkt, bei denen die
Annahme des Gegenteils einen Widerspruch beinhaltet. Heute würde man
vielleicht sagen: auf die analytisch wahren Aussagen. Solche Aussagen
gibt es für ihn nur im Bereich der relations of ideas. Hierzu gehört insbe-
sondere die Mathematik; aber alle Aussagen über die Natur der Seele, über
Gott und über die Welt als ganze gehören nicht dazu. Rationale Theologie,
rationale Psychologie und rationale Kosmologie – die drei Teilgebiete der
metaphysica specialis – sind Bereiche, in denen sich keine Erkenntnisse
a priori gewinnen lassen. Philosophische, d. h. inhaltliche a priori Er-
kenntnisse über die Welt sind Hume zufolge unmöglich. Kant widerspricht
Hume, da es seiner Meinung nach auch synthetische Wahrheiten a priori
gibt. Aber auch bei Kant ist dieser Bereich auf sehr wenige Grundsätze
beschränkt, die wahr sein müssen, weil ansonsten objektive Erfahrung
unmöglich wäre – Grundsätze wie „Bei allem Wechsel der Erscheinungen
beharrt die Substanz, und das Quantum derselben wird in der Natur weder
vermehrt noch vermindert“ (KrV A 182, B 224) oder „Alle Veränderungen
geschehen nach dem Gesetz der Verknüpfung von Ursache und Wirkung“
(KrV A 189, B 232). Und auch für Kant lassen sich in der rationalen Theo-
logie, der rationalen Psychologie und der rationalen Kosmologie keine
a priori Erkenntnisse gewinnen.
Die analytische Philosophie gibt – besonders zu Beginn ihrer Entwick-
lung – auf die Frage nach dem Status der Philosophie eine ebenso radikale
Antwort wie Hume: Welterkenntnis ist allein Sache der empirischen Wis-
senschaften. Philosophie liefert keine eigenen Erkenntnisse; ihre Aufgabe
ist allein die Sprachanalyse – die Analyse der Wissenschaftssprache, um zu
klären, was man sinnvollerweise sagen kann, und die Analyse der Alltags-
sprache, um die sprachlichen Fehler aufzudecken, die zu der Annahme
führen, es gäbe eigenständige philosophische Probleme, die mit philoso-
phischen Mitteln gelöst werden können.
Im Tractatus liefert Ludwig Wittgenstein für diese These bemerkens-
werterweise keine erkenntnistheoretische, sondern eine sprachphilosophi-
sche Begründung. Die Welt, so Wittgenstein, ist alles, was der Fall ist. Die
Philosophie als analytische Philosophie 107

Substanz der Welt bilden einfache Gegenstände, die auf verschiedene Wei-
sen miteinander verbunden sein können. Mögliche Verbindungen sind
mögliche Sachverhalte. Verbindungen, die tatsächlich bestehen – bestehen-
de Sachverhalte –, sind Tatsachen. „Die Welt ist die Gesamtheit der Tatsa-
chen […].“ (Tractatus 1.1), „Die Gesamtheit der bestehenden Sachverhalte
ist die Welt.“ (ebd., 2.04). Wie kann man über diese Welt sprechen? Offen-
bar, so Wittgenstein, nur, indem man sie abbildet. Gegenstände werden
durch Namen bezeichnet, und ein möglicher Sachverhalt – eine mögliche
Verbindung von Gegenständen – wird sprachlich dadurch ausgedrückt, dass
man diese Namen auf genau dieselbe Weise verbindet, in der die Gegen-
stände im Sachverhalt verbunden sind. Sätze, die auf diese Weise einen
möglichen Sachverhalt ausdrücken, nennt Wittgenstein „Elementarsätze“.
Sie sind wahr, wenn der Sachverhalt, den sie ausdrücken, besteht, falsch,
wenn er nicht besteht. Elementarsätze können mit Hilfe von wahrheitsfunk-
tionalen Satzoperatoren – letzten Endes genügt sogar einer (der Scheffer-
Strich) – zu komplexen Sätzen zusammengefügt werden. Aber außer Ele-
mentarsätzen und komplexen Sätzen gibt es keine anderen sinnvollen Sätze.
Sie machen die Gesamtheit aller sinnvollen Sätze aus. Damit ist klar, dass
es neben den empirischen Wissenschaften keinen eigenen Bereich der Phi-
losophie geben kann. Denn jeder Elementarsatz kann falsch sein. Es gibt
also keine a priori wahren Sätze – außer Tautologien und Kontradiktionen;
und diese Grenzfälle komplexer Sätze sind keine sinnvollen, sondern sinn-
lose Sätze, da sie nichts über die Welt sagen. Die Position Wittgensteins ist
letztlich also noch radikaler als die Humes. Für ihn gibt es nicht nur keine
a priori wahren Aussagen über die Welt. Vielmehr sind in seinen Augen
alle Aussagen, die nicht-empirische, philosophische Fragen betreffen, strikt
unsinnig. Sinnvoll reden kann man nur über Probleme, die empirisch-
wissenschaftlich angegangen werden können. Philosophische Fragen lassen
sich nicht einmal formulieren. „Wir fühlen, daß, selbst wenn alle möglichen
wissenschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch
gar nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben
dies ist die Antwort“ (Tractatus 6.52). Wir „fühlen“, dass es philosophische
Fragen gibt; aber tatsächlich gibt es sie nicht. Philosophische Fragen ver-
schwinden, sie lösen sich auf, wenn man erkennt, dass man sie gar nicht
stellen kann. „Die Lösung des Problems des Lebens merkt man am Ver-
schwinden dieses Problems“ (ebd., 6.521).

„Die richtige Methode der Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als
was sich sagen läßt, also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit
Philosophie nichts zu tun hat –, und dann immer, wenn ein anderer etwas Me-
taphysisches sagen wollte, ihm nachzuweisen, daß er gewissen Zeichen in sei-
nen Sätzen keine Bedeutung gegeben hat“ (ebd., 6.53).
108 Ansgar Beckermann

Inspiriert durch Wittgensteins Tractatus entwickelt sich im Wiener Kreis


eine verwandte Auffassung. In ihrem Manifest Wissenschaftliche Weltauf-
fassung – der Wiener Kreis von 1929 schreiben Carnap, Hahn und Neu-
rath:
„Wir haben die wissenschaftliche Weltauffassung im Wesentlichen durch zwei
Bestimmungen charakterisiert. Erstens ist sie empiristisch und positivistisch:
es gibt nur Erfahrungserkenntnis, die auf dem unmittelbar Gegebenen beruht.
Hiermit ist die Grenze für den Inhalt legitimer Wissenschaft gezogen. Zwei-
tens ist die wissenschaftliche Weltauffassung gekennzeichnet durch die An-
wendung einer bestimmten Methode, nämlich der logischen Analyse. Das
Bestreben der wissenschaftlichen Arbeit geht dahin, das Ziel, die Einheitswis-
senschaft, durch Anwendung dieser logischen Analyse auf das empirische Ma-
terial zu erreichen.“ (Carnap/Hahn/Neurath 1929, 19)

Die beiden Hauptstichworte lauteten also: Ablehnung der Metaphysik bzw.


Philosophie und Methode der logischen Analyse der Sprache. Erwähnt wird
auch noch das Ziel der Einheitswissenschaft, das bis heute die Analytische
Philosophie in Form einer naturalistischen Grundstimmung geprägt hat.
Bleiben wir aber bei den ersten beiden Punkten. Diese hängen enger zu-
sammen, als aus dem Zitat hervorgeht. Die logische Analyse der Sprache
sollte nämlich nicht nur der Beförderung der Einheitswissenschaft dienen,
sondern gerade auch der Kritik traditioneller philosophischer Theorien.
Ganz klar wird das im Titel von Carnaps berühmtem Aufsatz Überwindung
der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache. Carnap selbst schreibt,
dass es in diesem Aufsatz darum geht, „auf die Frage nach der Gültigkeit
und Berechtigung der Metaphysik eine neue und schärfere Antwort zu ge-
ben […] Auf dem Gebiet der Metaphysik […] führt die logische Analyse zu
dem negativen Ergebnis, dass die vorgeblichen Sätze dieses Gebiets gänz-
lich sinnlos sind “ (Carnap 1931, 219f.).
„Sinnlos“ kann ein Satz aus zwei Gründen sein. „[E]ntweder kommt
ein Wort vor, von dem man irrtümlich annimmt, dass es eine Bedeutung
habe, oder die vorkommenden Wörter haben zwar Bedeutungen, sind aber
in syntaxwidriger Weise zusammengestellt, so dass sie keinen Sinn erge-
ben“ (ebd., 220). Ein Beispiel für einen sinnlosen philosophischen Termi-
nus ist für Carnap das Wort „Prinzip“. Dieses Wort hätte einen Sinn, wenn
klar wäre, unter welchen Bedingungen Sätze der Form „ x ist das Prinzip
von y“ wahr sind. Aber auf die Frage nach solchen Wahrheitsbedingungen
erhält man in der Regel nur Antworten wie: „ x ist das Prinzip von y“ be-
deute in etwa dasselbe sei wie „ y geht aus x hervor“ oder „das Sein von y
beruht auf dem Sein von x“ oder „ y besteht durch x“. Doch diese Antwor-
ten helfen nicht wirklich weiter, da sie selbst entweder mehrdeutig oder
nicht wörtlich gemeint sind. Es gibt z. B. einen klaren Sinn von „hervorge-
Philosophie als analytische Philosophie 109

hen“, in dem etwa ein Schmetterling aus einer Raupe hervorgeht. Aber
dies, so werden wir belehrt, sei nicht der gemeinte Sinn. Das Wort „her-
vorgehen“ solle hier nicht die Bedeutung eines Zeitfolge- und Bedin-
gungsverhältnisses haben, die das Wort gewöhnlich hat. Es wird aber für
keine andere Bedeutung ein Kriterium angegeben. Folglich existiert die
angeblich „metaphysische“ Bedeutung, die das Wort im Unterschied zu
jener empirischen Bedeutung hier haben soll, überhaupt nicht (vgl. ebd.,
225). Diese Diagnose steht offenbar in engem Zusammenhang mit dem
empiristischen Sinnkriterium, das den Kern der Sprachphilosophie des
Wiener Kreises ausmacht. Dieser lässt sich in den folgenden vier Thesen
zusammenfassen:
1. Es gibt nur zwei Arten sinnvoller Sätze – analytische und empirische
Sätze.
2. Analytische Sätze sind wahr oder falsch allein aufgrund der Bedeutung
der in ihnen vorkommenden Ausdrücke; ihre Wahrheit oder Falschheit
ist also unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist bzw. welche Er-
fahrungen wir machen (Bsp.: „Alle Junggesellen sind unverheiratet“).
3. Der Sinn eines empirischen Satzes besteht in den möglichen Erfahrun-
gen, die diesen Satz verifizieren würden.
4. Sätze, die nicht analytisch sind und für die es keine möglichen Erfah-
rungen gibt, die sie verifizieren würden, sind sinnlos.
Mit diesen Thesen hängt eine weitere eng zusammen:
5. Alle Begriffe müssen sich mit Hilfe von Erfahrungsbegriffen definie-
ren lassen.
Sätze wie „Das Nichts selbst nichtet“2 sind nach Carnap im zweiten Sinne
sinnlos. Wenn man auf die Frage „Was ist draußen?“ die Antwort erhält
„Draußen ist ein Mann“, dann kann man sinnvoll weiter fragen „Was ist
mit diesem Mann?“. Wer aber auf die Antwort „Draußen ist nichts“ weiter
fragt „Was ist mit diesem Nichts?“, der hat einfach nicht begriffen, dass
die beiden Sätze „Draußen ist ein Mann“ und „Draußen ist nichts“ sich in
ihrer logischen Struktur grundsätzlich unterscheiden. Der erste Satz hat die
logische Form „x(x ist draußen und x ist ein Mann)“; der zweite dagegen
die logische Form „™x(x ist draußen)“. Und wenn man auf die Frage
„Was ist draußen?“ eine Antwort dieser Form bekommt, dann gibt es
schlicht kein x, bzgl. dessen man fragen könnte „Was ist mit diesem x?“.
Mit Hilfe dieser beiden Argumentationsfiguren meint Carnap, die Sinnlo-
sigkeit aller Metaphysik nachweisen zu können. Der Streit um den Unter-
schied zwischen Realismus und Idealismus, um die Realität der Außenwelt

2
Heidegger 1929, 34.
110 Ansgar Beckermann

und um die Realität des Fremdpsychischen – in Carnaps Augen alles Prob-


leme, die mit Hilfe logischer Analyse als Scheinprobleme entlarvt werden
können (vgl. Carnap 1928a).
In seinem späteren Werk verändert Wittgenstein seine Position dem
Tractatus gegenüber zwar in vielen Punkten; doch seine Auffassung da-
von, was Philosophie leisten kann und was nicht, bleibt im Wesentlichen
unverändert. Hanjo Glock hat diese Auffassung in fünf Punkten zusam-
mengefasst:
„(a) Philosophy differs in principle from the sciences because of its a priori
character.
(b) Because the a priori is to be explained by reference to linguistic rules, it is
concerned not with objects but with our way of talking about objects accor-
ding to ‘grammatical rules’.
(c) These rules are not responsible to an ‘essence of reality’, therefore philo-
sophy should neither justify nor reform but only describe them.
(d) As competent speakers we are already familiar with our grammar, but tend
to ignore or distort it in philosophical reflection. Hence, describing grammar
cannot lead to discoveries or theory construction; it reminds us of how we
speak, for the sake of dissolving conceptual confusions.
(e) This conceptual clarification cannot be systematic or make progress in the
way in which science does.“ (Glock 1996, 295)

Vergleichen wir diese Auffassung noch einmal mit der Humes. Wittgen-
stein ist ebenso wie Hume der Meinung, dass sich Philosophie von den
empirischen Wissenschaften durch ihren a priori Charakter unterscheidet.
Und er ist sich mit Hume einig, dass sich philosophisch, d. h. a priori, kei-
ne Erkenntnisse über die Welt gewinnen lassen. Allerdings kann Wittgen-
stein zufolge die Philosophie trotzdem etwas leisten; sie kann uns darüber
aufklären, wie wir über die Welt reden. Und da philosophische Probleme
seiner Meinung nach im Wesentlichen auf sprachlichen Missverständnis-
sen beruhen, kann Philosophie uns auf diese Weise auch bei der Lösung
philosophischer Probleme helfen – nicht, indem sie uns Antworten auf
philosophische Fragen gibt, sondern indem sie uns klar macht, dass diese
Fragen selbst nur darauf beruhen, dass wir uns über die grammatischen
Regeln unserer Sprache täuschen.
Allgemein unterscheidet man zwei Zweige der Analytischen Philoso-
phie – den formalsprachlichen Zweig, der seine Wurzeln im Wiener Kreis
hat, und den normalsprachlichen Zweig, der auf den späten Wittgenstein
zurückgeht. Zumindest, was den formalsprachlichen Zweig der Analyti-
schen Philosophie angeht, muss man feststellen, dass sich dessen Philoso-
phieverständnis Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich verändert. Ein Grund
dafür war das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums. Schon Popper
hatte sich geweigert, von einem „Sinnkriterium“ zu sprechen, und vorge-
Philosophie als analytische Philosophie 111

schlagen, stattdessen den Ausdruck „Abgrenzungskriterium“ zu verwen-


den. Sätze, die sich empirisch falsifizieren lassen, sind wissenschaftliche
Sätze; Sätze, bei denen das nicht der Fall ist, gehören nach Popper zwar
nicht in den Bereich der Wissenschaften, sind deshalb aber noch lange
nicht sinnlos. Doch weniger Poppers Vorschlag zur Güte als vielmehr die
Erkenntnis, dass auch zentrale wissenschaftliche Ausdrücke wie „Elektron“
oder sogar „Masse“ den strengen Anforderungen des empiristischen Sinn-
kriteriums nicht genügen, da sich diese Ausdrücke nicht in Erfahrungs-
begriffen definieren lassen, führte dazu, dass dieses Kriterium Schritt für
Schritt aufgegeben wurde. Doch damit war der Analytischen Philosophie
ein zentrales Werkzeug zur Destruktion der traditionellen Philosophie ab-
handen gekommen. Wenn Termini wie „Elektron“ und „Masse“ keinen
klaren empirischen Gehalt haben, warum sollte man das von Ausdrücken
wie „Prinzip“ oder „Gott“ erwarten? Wenn Sätze wie „Elektronen haben
eine Ruhemasse von 9,109 ˜ 10–28 Gramm“ einen Sinn haben, warum soll-
ten dann Sätze wie „Gott ist der Schöpfer der Welt“ sinnlos sein?
Ein zweiter Grund findet sich in den epochemachenden Überlegungen
Quines in Two Dogmas of Empiricism. Unter den Mitgliedern des Wiener
Kreises hatte es einen – prima facie philosophischen – Streit zwischen
Phänomenalisten und Physikalisten gegeben. Die Phänomenalisten waren
der Meinung, eine sichere Grundlage für die Wissenschaften könne nur in
unseren Wahrnehmungseindrücken bestehen; denn nur diese seien absolut
sicher. Demgegenüber betonte etwa Otto Neurath, dass Berichte über
Wahrnehmungseindrücke nicht allgemein überprüfbar seien, die Grundlage
aller Wissenschaften aber aus intersubjektiv überprüfbaren Aussagen be-
stehen müsse. Also seien nicht Aussagen über Wahrnehmungseindrücke
grundlegend, sondern Aussagen über beobachtbare Gegenstände wie „Der
Zeiger des Messgeräts steht auf 2“ oder „Die Farbe der Lösung ist von rot
in blau umgeschlagen“.
Diesen Streit konnte man auch metaphysisch deuten; so verstanden
vertraten die Phänomenalisten ähnlich wie Berkeley die Auffassung, nur
unsere mentalen Eindrücke seien real, Gegenstände der „Außenwelt“ seien
nichts anderes als Ensembles solcher Eindrücke. Demgegenüber meinten
die Physikalisten, es gäbe auch von unseren Eindrücken unabhängige Ge-
genstände der Außenwelt. Als diese und andere ontologische Fragen – wie
„Gibt es Zahlen, Eigenschaften oder Mengen?“ – drängender wurden,
versuchte Carnap in seinem Aufsatz Empiricism and Ontology 1950 ein
letztes Mal zu zeigen, dass es sich hier tatsächlich gar nicht um Sachfra-
gen handele. Vielmehr ginge es in all diesen Fällen immer nur darum, in
welcher Sprache wir die Welt beschreiben und erklären. Die Ding-Sprache
enthält Ausdrücke wie „Uhr“ und „Tisch“; und in ihr lässt sich die Frage
stellen „Steht die Uhr auf dem Tisch?“. Die phänomenale Sprache dage-
112 Ansgar Beckermann

gen enthält nur Ausdrücke, die sich auf Sinnesdaten und anderen phäno-
menale „Gegenstände“ beziehen. Grundsätzlich, so Carnap, seien wir in
der Wahl unserer Sprache frei. Es gebe keine richtigen oder falschen
Sprachen; Sprachen könnten sich für die Beschreibung und Erklärung der
Welt nur als mehr oder weniger nützlich erweisen. Deshalb sei die Wahl
einer Sprache eine externe, eine pragmatische Frage, die man so oder so
beantworten könne. Dagegen seien, wenn man sich einmal für die Ding-
Sprache entschieden habe, Fragen wie „Steht die Uhr auf dem Tisch?“
oder „Gibt es Einhörner?“ interne Fragen, die sich mit empirischen Mit-
teln beantworten ließen.
Gegen diese Auffassung argumentierte Quine mit folgender Überle-
gung. Wissenschaftliche Aussagen lassen sich nicht einzeln an der Erfah-
rung überprüfen. Wenn eine Theorie T voraussagt, dass unter bestimmten
Bedingungen in einem Draht ein Strom von 2 Ampere fließt, lässt sich dies
ja nicht durch bloßes Hinschauen überprüfen. Vielmehr muss ein Ampe-
remeter benutzt werden, das die Stromstärke in dem fraglichen Draht
misst. Wenn dieses Amperemeter nicht 2, sondern sagen wir 3 anzeigt,
heißt das dann, dass T falsch sein muss? Nicht unbedingt; denn es könnte
auch sein, dass die Annahmen A, die der Konstruktion des Amperemeters
zugrunde lagen, falsch sind oder dass dieses Messinstrument schlicht nicht
richtig funktioniert. Die Beobachtung zeigt nur, dass die Konjunktion von
T, A und der Aussage „Dieses Messinstrument funktioniert einwandfrei“
nicht wahr sein kann. Aber welche dieser drei Aussagen falsch sind, lässt
sich aus dem Messergebnis nicht ableiten. Wenn wir uns entschließen, eine
oder mehrere dieser Aussagen aufzugeben, ist daher auch dies eine prag-
matische Entscheidung, die durch unsere Erfahrung nicht erzwungen wird.
Quines Pointe: Die Unterscheidung zwischen internen und externen, zwi-
schen pragmatischen und durch Beobachtung entscheidbaren Fragen lässt
sich nicht aufrecht erhalten. Und diese Auffassung führt wie das Scheitern
des empiristischen Sinnkriteriums zu der Einsicht, dass es zwischen tradi-
tioneller Philosophie und Wissenschaft keine klare Grenze gibt.
Dies gilt umso mehr, als die gerade angeführte Überlegung Quine zu-
folge auch zeigt, dass die Unterscheidung zwischen analytischen und
synthetischen Aussagen nicht haltbar ist. Analytische Aussagen sind da-
durch charakterisiert, dass sich ihre Wahrheit schon aus der Bedeutung
der in ihnen enthaltenen Ausdrücke ergibt; solche Aussagen sind also
wahr, ganz unabhängig davon, wie die Welt beschaffen ist. Und weil das
so ist, sind sie aufgrund von Erfahrungen nicht revidierbar. Wenn jedoch
niemals einzelne Sätze, sondern letzten Endes immer das ganze Netz
unserer Überzeugungen an unseren Erfahrungen überprüft wird und wenn
wir deshalb in gewisser Weise frei sind, zu entscheiden, welche Aussagen
wir aufgeben, falls das Netz unserer Überzeugungen nicht zu unseren
Philosophie als analytische Philosophie 113

Erfahrungen passt, dann können alle Aussagen aufgrund widerstreitender


Erfahrungen revidiert werden. Selbst die Gesetze der Logik nimmt Quine
nicht aus.3
Das Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums und die Überlegungen
Quines sind wohl die Hauptgründe, warum sich das Philosophieverständnis
der Analytischen Philosophie in den letzten 50 Jahren radikal verändert
hat. „Metaphysik“ ist kein Schimpfwort mehr, und das Ziel ist nicht mehr,
Philosophie durch logische Analyse der Sprache zu überwinden. Der Fall
des empiristischen Sinnkriteriums war die Einbruchstelle, durch die zu-
nächst einmal die traditionelle philosophische Terminologie zurückkehren
konnte. Und in deren Gefolge kamen auch die Probleme der traditionelle
Philosophie zurück, und zwar in rasantem Tempo und – ohne dass dies
großes Aufsehen hervorrief. Am verblüffendsten war vielleicht die Wie-
derkehr der normativen Ethik. Nach vielen Jahren, in denen sich ethische
Überlegungen – der Idee folgend, Philosophie müsse sich auf Sprachanaly-
se beschränken – allein auf Metaethik beschränkt hatten, war es, haupt-
sächlich wohl angestoßen durch John Rawls A Theory of Justice von 1971,
plötzlich wieder möglich, über Freiheit und Gerechtigkeit zu reden, über
den Status ungeborenen Lebens und über den Umgang mit Sterbenden.
Schon in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts blieb somit nur die
Feststellung: Das Projekt der Abschaffung der Philosophie durch logische
Analyse der Sprache war grandios gescheitert. Alle Fragen der tradi-
tionellen Philosophie standen wieder auf der Tagesordnung. Dazu gehören
„große“ Fragen wie:
x Gibt es einen Gott?
x Was kann man a priori wissen?
x Lässt sich das Problem der Induktion lösen?
x Worin besteht die Bedeutung sprachlicher Ausdrücke?
x Gibt es eine immaterielle Seele?
x Haben wir einen freien Willen?
x Gibt es objektive Werte?
x Lassen sich moralische Normen rational begründen?
x Was ist eine gerechte Gesellschaft?
x Was macht eine Sache schön?

3
Letzten Endes kommt Quine zu der Überzeugung, dass es keinen Unterschied
zwischen empirischen und nicht empirischen Wissenschaften gibt. Alle Annah-
men – auch die philosophischen – müssen sich dem Test durch Erfahrung stellen,
und alle können an der Erfahrung scheitern. Darauf komme ich gleich noch ein-
mal zurück.
114 Ansgar Beckermann

Aber auch „kleinere“ Fragen wie:


x Was ist im Hinblick auf sprachliche Bedeutung primär – Sätze oder
Wörter?
x Sind Eigennamen starre Bezeichner?
x Haben Emotionen eine kognitive Komponente?
x Können Empfindungen als repräsentationale Zustände aufgefasst wer-
den?
x Welche Rolle spielen Sinnesdaten bei der Wahrnehmung?
x Sind Farben real?
x Was spricht für den Externalismus in der Erkenntnistheorie?
x Genießen Embryonen von Anfang an den vollen Schutz der Menschen-
rechte?
Doch damit stellt sich die Ausgangsfrage erneut: Wie sieht die Analytische
Philosophie heute den Status der Philosophie? Was macht die aufgezählten
Fragen zu genuin philosophischen Fragen, die mit den Mitteln der Mathe-
matik und der empirischen Wissenschaften nicht beantwortet werden kön-
nen? Und: Mit welchen Mitteln lassen sie sich dann beantworten?
Wir hatten schon gesehen, dass Quine der Auffassung ist, dass es keinen
prinzipiellen Unterschied zwischen empirischen Wissenschaften und Philo-
sophie gibt, ebenso wenig wie zwischen empirischen Wissenschaften und
Mathematik und Logik. Alle Aussagen sind prinzipiell revidierbar, wenn die
Erfahrungen, die wir machen, nicht mit dem Gesamtsystem unserer Über-
zeugungen zusammenpassen. Am prononciertesten entwickelt er diese Idee
im Bereich der Erkenntnistheorie. Einer einflussreichen Linie in der tradi-
tionellen Erkenntnistheorie zufolge gewinnen wir Erkenntnisse über die
Außenwelt auf dem Wege über die Sinneseindrücke, die wir in uns vorfin-
den. Aber wie ist der Schluss von den Sinneseindrücken auf die Außenwelt
möglich? In der Frühphase der Analytischen Philosophie wurde z. B. von
Vertretern des Wiener Kreises versucht, die Kluft, die sich hier auftun könn-
te, durch die These zu überwinden, dass alle Aussagen über die Außenwelt
äquivalent sind mit Aussagen, in denen allein logisch-mathematische und
Beobachtungsbegriffe vorkommen. Der ambitionierteste Versuch dieser Art
findet sich wohl in Carnaps Der logische Aufbau der Welt. Carnap selbst
musste jedoch erkennen, dass sich diese These nicht durchhalten lässt. Was
folgt aus diesem Scheitern? Eine Konsequenz, die man ziehen kann, ist nach
Quine, dass man Erkenntnistheorie – ebenso wie Metaphysik – zu einem
sinnlosen Unterfangen erklärt. Seine eigene Auffassung ist aber eine andere:
„Aber ich meine, daß es an dieser Stelle wohl nützlicher ist, statt dessen zu sa-
gen, daß die Erkenntnistheorie auch weiterhin fortbesteht, jedoch in einem neu-
en Rahmen und mit einem geklärten Status. Die Erkenntnistheorie oder etwas
Ähnliches erhält ihren Platz innerhalb der Psychologie und somit innerhalb der
Philosophie als analytische Philosophie 115

empirischen Wissenschaften. Sie studiert ein empirisches Phänomen, nämlich


ein physisches menschliches Subjekt. Diesem menschlichen Subjekt wird ein
bestimmter, experimentell kontrollierter Input gewährt – z. B. bestimmte Be-
strahlungsmuster in ausgesuchten Frequenzen –, und zur rechten Zeit liefert das
Subjekt als Output eine Beschreibung der dreidimensionalen Außenwelt und Ih-
res Verlaufs. Die Beziehung zwischen dem mageren Input und dem überwälti-
genden Output ist die Beziehung, zu deren Untersuchung uns, grob genommen,
die Gründe anspornen, die die Erkenntnistheorie immer motiviert haben: näm-
lich herauszufinden, in welcher Beziehung die Beobachtung zur Theorie steht
und auf welche Weise jemandes Theorie über die Natur über alle Beobachtun-
gen, die man je machen könnte, hinausgeht.“ (Quine 1969, 115)

Aufgabe der Erkenntnistheorie wird es, herauszufinden, wie das physische


Subjekt Mensch die physischen Reize, die auf seine Sinnesorgane treffen,
verarbeitet, wie es aus diesen Reizen zu seinen Annahmen über die Au-
ßenwelt bis hin zu seinen wissenschaftlichen Theorien über diese Welt
kommt. Traditionelle Erkenntnistheoretiker mögen an dieser Stelle sofort
den Vorwurf der Zirkularität erheben: Man kann doch den Aussagen der
empirischen Wissenschaften erst trauen, wenn die Erkenntnistheorie zu
aller erst geklärt hat, ob und inwieweit die Aussagen dieser Wissenschaften
einschließlich der Psychologie selbst gerechtfertigt sind. Doch wer glaubt,
Wissenschaft ohne Rückgriff auf Wissenschaft legitimieren zu können, ist
nach Quine auf dem Holzweg. Die epistemische Situation, in der wir uns
befinden, wurde für ihn durch Neurath treffend charakterisiert:

„Es gibt keine tabula rasa. Wie Schiffer sind wir, die ihr Schiff auf offener See
umbauen müssen, ohne es jemals in einem Dock zerlegen und aus besten Be-
standteilen neu errichten zu können.“ (Neurath 1932/3, 206)

In der Erkenntnistheorie können wir – wie auch sonst – zunächst gar nicht
anders, als den uns zur Verfügung stehenden Erkenntnismethoden (Wahr-
nehmung, Wissenschaft) weitgehend zu vertrauen. Auf dieser Grundlage
gelangen wir dann allerdings zu Ergebnissen, die es uns erlauben, die Ver-
lässlichkeit dieser Mittel selbst besser zu durchschauen.
In der Analytischen Philosophie gibt es eine ganze Reihe von Philoso-
phinnen und Philosophen, die diese Auffassung von Philosophie attraktiv
finden; aber es gibt auch viele, die Philosophie ganz anders sehen. Neuer-
dings gibt es sogar eine Strömung, die explizit an die Tradition des Ratio-
nalismus anschließt. Rationalisten vertreten die Auffassung, dass man
a priori nicht nur formales Wissen im Bereich der analytischen Aussagen,
sondern auch inhaltliches Wissen über die Welt gewinnen kann.4 Descartes

4
Vgl. Nimtz 2009.
116 Ansgar Beckermann

hat – in Anlehnung an Euklid – die Grundidee besonders klar zum Aus-


druck gebracht: Wir beginnen mit klaren und deutlichen Prinzipien, die so
einleuchtend sind, dass wir an ihrer Wahrheit nicht zweifeln können, um
dann aus diesen Prinzipien weitere wahre Aussagen deduktiv abzuleiten.
Zu den intuitiv gewissen Prinzipien gehören für Descartes z. B. die Aussa-
gen „Ich existiere“, „Ich kann allein mit der Eigenschaft des Denkens als
ein vollständiges Wesen existieren“, „Ich finde in mir die Idee eines im
höchsten Maße vollkommenen Wesens“ und „In der vollständigen wirken-
den Ursache muss mindestens ebensoviel Realität enthalten sein wie in
dem von dieser Ursache Bewirkten“. Hume hat gegen dieses Erkenntnis-
modell gar nichts einzuwenden. Allerdings hält er, wie schon gesagt, nur
solche ersten Prinzipien für legitim, bei denen die Annahme des Gegenteils
einen Widerspruch beinhaltet. Und das bedeutet in der Konsequenz, dass
sehr vieles von dem, was Rationalisten für intuitiv gewiss erachten, Hume
zufolge, diesen Status nicht beanspruchen kann. Paradigmatisch zeigt er
dies für das Kausalprinzip „Alles, was zu existieren anfängt, muss einen
Grund seiner Existenz haben“.5
Seine Argumentation enthält zwei Teile:
1. Wenn man die Sache genau betrachtet, ist nicht zu sehen, warum die
Negation dieses Satzes einen Widerspruch beinhalten soll.
2. Alle vermeintlichen Beweise, die bisher für diese Aussage vorgetragen
wurden, sind unzulänglich.
Humes Skepsis in Bezug auf nicht analytische erste Prinzipien wurde im
19. Jahrhundert durch die Entdeckung der nicht-euklidischen Geometrien
indirekt bestätigt. Ich hatte schon betont, dass sich Rationalisten stark am
Aufbau der Geometrie Euklids orientierten.6 Auch Euklid geht von einer
Reihe von Definitionen, Axiomen und Postulaten aus, um dann aus diesen
alle Lehrsätze der Geometrie deduktiv abzuleiten. Zu den Axiomen gehören
Aussagen wie „Was demselben gleich ist, ist auch einander gleich“ und
„Wenn Gleichem Gleiches hinzugefügt wird, sind die Ganzen gleich“, die
man ohne weiteres für analytisch halten kann, aber auch das berühmte Pa-
rallelenaxiom „Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei
geraden Linien bewirkt, dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel
zusammen kleiner als zwei Rechte werden, dann die zwei geraden Linien
bei Verlängerung ins unendliche sich treffen auf der Seite, auf der die Win-
kel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind“.7 Viele Jahrhunder-

5
Vgl. Hume 1973, Erstes Buch, Teil III, Abschnitt 3.
6
Man denke nur an den Titel von Spinozas Hauptwerk Ethica ordine geometrico
demonstrata.
7
Euklid 1997, 3.
Philosophie als analytische Philosophie 117

te hat man versucht, zu zeigen, dass sich dieses Axiom aus den anderen
ableiten lässt bzw. dass sich ein Widerspruch ergibt, wenn man es durch
seine Negation ersetzt. Aber alle Versuche, dieses sogenannte „Parallelen-
problem“ zu lösen, scheiterten. Gauß erkannte schließlich die Unlösbarkeit
des Problems. Aber erst Lobatschewski veröffentlichte 1826 eine neue – die
später so genannte „hyperbolische“ – Geometrie, in der alle Axiome Eu-
klids gelten außer dem Parallelenaxiom.8 Auf dieser Grundlage entwickel-
ten sich die nicht-euklidischen Geometrien, bei denen das Parallelenaxiom
entweder ganz wegfällt oder durch andere Axiome ersetzt wird, wobei zum
Teil auch noch andere Axiome der euklidischen Geometrie in Mitleiden-
schaft gezogen werden. Die Entdeckung nicht-euklidischer Geometrien war
für die Grundannahmen des Rationalismus ein schwerer Schlag. Denn sie
zeigte, auf welch wackligen Füßen die Annahme steht, es gebe nicht-
analytische erste Prinzipien, deren Wahrheit intuitiv eingesehen werden
kann. Für die Mathematik selbst bewirkte sie ein völliges Umdenken im
Hinblick auf den Begriff des Axioms. Axiome sind in der Mathematik heu-
te nicht mehr unumstößliche erste Prinzipien, deren Wahrheit man intuitiv
einsehen kann, sondern Setzungen oder Annahmen. Angenommen A, B
und C sind der Fall, was lässt sich aus diesen Annahmen deduktiv ableiten?
Trotz der Probleme, die sich aus der Kritik Humes und der Entdeckung
nicht-euklidischer Geometrien für die Grundannahmen des Rationalismus
ergaben, setzen auch in der Analytischen Philosophie einige – wie etwa
George Bealer – inzwischen wieder auf die Methode der Intuition.9 Intuition
ist in ihren Augen z. B. eine verlässliche Methode, wenn es um Einsichten in
das geht, was möglich und notwendig ist. Allerdings gehen Vertreter dieser
Theorie heute nicht mehr davon aus, dass Intuition 100% verlässlich ist. Sie
sehen sie vielmehr in Analogie zur Sinneswahrnehmung. Sinneswahrneh-
mung ist zwar im Allgemeinen zuverlässig; aber das schließt nicht aus, dass
es im Einzelfall rational sein kann, Wahrnehmungsurteile im Hinblick auf
widersprechende Erfahrungen und Überlegungen zu revidieren. Warum
sollen wir glauben, dass neben der Wahrnehmung auch die Intuition in der
Regel zu wahren Überzeugungen führt? BonJour etwa hat argumentiert, dass
nicht-formale a priori Erkenntnis eine Voraussetzung dafür sei, dass wir
empirisches Wissen erwerben können.10 Und andere betonen die Unver-
zichtbarkeit und intuitive Offensichtlichkeit z. B. mathematischer Wahrhei-
ten.11 Gerade auch angesichts des Schicksals der euklidischen Geometrie
finden diese Argumente aber keineswegs allgemeine Zustimmung. Es stellt

8
Fast zeitgleich kam Janos Bolyai zu ähnlichen Resultaten.
9
Vgl. z. B. Bealer 2000.
10
BonJour 1998.
11
Nimtz 2009, 220f.
118 Ansgar Beckermann

sich z. B. ja auch die Frage, wie denn ein Vermögen wie die Intuition evolu-
tionär entstanden sein könnte? Und schließlich: Ist Philosophie wirklich
darauf angewiesen, dass es inhaltliche a priori Erkenntnisse gibt? Diese
Frage lässt sich in meinen Augen nicht allgemein beantworten. Vielmehr
muss man sich die verschiedenen Felder der Philosophie – die Erkenntnis-
theorie, die Sprachphilosophie, die Philosophie des Geistes, die Moralphilo-
sophie, die Politische und die Sozialphilosophie – genau ansehen und unter-
suchen, mit welcher Art von Argumenten man in diesen verschiedenen
Feldern versucht, zu tragfähigen Ergebnissen zu kommen. Ich will mich hier
auf die Religionsphilosophie beschränken und zu klären versuchen, wie in
der (analytischen) Philosophie für bestimmte Positionen argumentiert wird.
Als Beispiel soll die zentrale Frage der Religionsphilosophie dienen: Gibt
es einen (christlichen verstandenen) Gott?
Auch diese Frage hielten frühere Vertreter der Analytischen Philoso-
phie für sinnlos, weil sie keinen empirischen Gehalt hat. Antony Flew
beginnt seinen Beitrag zu dem berühmten Symposium Theology and Falsi-
fication mit einer Parabel:

„Once upon a time two explorers came upon a clearing in the jungle. In the
clearing were growing many flowers and many weeds. One explorer says,
‚some gardener must tend this plot.‘ The other disagrees, ‚There is no
gardener.‘ So they pitch their tents and set a watch. No gardener is ever seen.
‚But perhaps he is an invisible gardener.‘ So they set up a barbed-wire fence.
They electrify it. They patrol with bloodhounds. (For they remember how
H.G. Wells’s The Invisible Man could be both smelt and touched though he
could not be seen.) But no shrieks ever suggest that some intruder has received
a shock. No movements of the wire ever betray an invisible climber. The
bloodhounds never give cry. Yet still the Believer is not convinced. ‚But there
is a gardener, invisible, intangible, insensible to electric shocks, a gardener
who has no scent and makes no sound, a gardener who comes secretly to look
after the garden which he loves.‘ At last the Skeptic despairs, ‚But what
remains of your original assertion? Just how does what you call an invisible,
intangible, eternally elusive gardener differ from an imaginary gardener or
even from no gardener at all?‘“ (Flew 1955, 96)

Am Schluss dieses Beitrags stellt Flew die Frage: „Gibt es irgendeine be-
obachtbare Tatsache, die gegen die Existenz Gottes sprechen würde, oder
dagegen, dass Gott uns liebt?“ Für ihn scheint klar, dass eine Aussage nur
dann einen kognitiven Gehalt hat, wenn sie mit mindestens einer beobacht-
baren Tatsache unvereinbar ist. Falls das bei den Aussagen „Gott existiert“
und „Gott liebt seine Geschöpfe“ nicht der Fall ist, sind diese Aussagen
tatsächlich sinnlos.
Nach dem Scheitern des empiristischen Sinnkriteriums findet man eine
solche Argumentation heute kaum noch. Trotzdem ist sie interessant. Denn
Philosophie als analytische Philosophie 119

sie zeigt, inwiefern sich die These der Existenz Gottes von manch anderen
Hypothesen unterscheidet, über die mit normalen empirisch-wissenschaft-
lichen Mitteln entschieden werden kann. Aus dieser Hypothese lassen sich
nämlich offenbar keine Aussagen ableiten, bei denen man durch Beobach-
tung entscheiden könnte, ob sie zutreffen oder nicht. Jedenfalls kenne ich
keinen, der die folgenden oder ähnliche Aussagen akzeptieren würde:
„Wenn Gott existiert, werden Gebete unter bestimmten (nachprüfbaren)
Umständen erhört“, „Wenn Gott existiert, sterben keine Kinder qualvoll an
unheilbaren Krankheiten“ oder „Wenn Gott existiert, werden Verbrecher
zumindest daran gehindert, besonders grausame Straftaten zu begehen“.
Wie kann man sich dann aber der Beantwortung der Frage, ob es einen Gott
gibt, überhaupt rational nähern? Letztlich steht die Analytische Philosophie
hier ganz in der Tradition der klassischen Philosophie von den Vorsokrati-
kern bis Kant. Auch sie diskutiert die herkömmlichen Gottesbeweise, die
Frage, inwieweit religiöse Erfahrungen die Existenz Gottes wahrscheinlich
machen, und die Frage, ob die Existenz des Übels gegen die Existenz eines
christlich verstandenen Gottes spricht.
Bei den traditionellen Gottesbeweisen geht es um Folgendes: Ist der
Begriff Gottes so geartet, dass die Behauptung „Gott existiert nicht“ einen
Widerspruch beinhaltet (ontologischer Gottesbeweis)? Kann man aus der
Existenz der kontingenten Welt auf die Existenz einer ersten Ursache oder
eines notwendigen Wesens schließen (kosmologischer Gottesbeweis)?
Kann man aus der Existenz natürlicher zweckmäßiger Wesen in dieser
Welt auf die Existenz eines intelligenten Urhebers schließen (teleologi-
scher Gottesbeweis)?
Bekanntlich hat Kant gegen den ontologischen Gottesbeweis zwei
Einwände erhoben:
1. Wenn man bei einem identischen Urteil das Subjekt beibehält, aber das
Prädikat aufhebt, entsteht ein Widerspruch; wenn man aber Subjekt
und Prädikat zugleich aufhebt, ergibt sich kein Widerspruch.
2. Existenz ist kein reales Prädikat.
Freges Analyse der Existenz kann als eine große Hilfe verstanden werden,
diese Einwände besser zu verstehen. Frege bestreitet, dass man von Ein-
zeldingen sagen könne, sie existierten oder sie existierten nicht; Existenz
ist in seinen Augen ein Begriff zweiter Stufe, d. h., ein Begriff, den man
nicht auf Gegenstände, sondern nur auf Begriffe anwenden kann. Die logi-
sche Form von Existenzaussagen sei nicht „Ea“, sondern „xFx“. Zu sagen
„Es gibt Einhörner“ heiße also nichts anderes, als zu sagen „Der Begriff
Einhorn ist erfüllt“. Kant scheint etwas ganz Ähnliches im Sinn gehabt zu
haben. Denn Freges Analyse hat zwei Konsequenzen, die sehr gut zu Kants
Argumentation passen: (1) Aussagen der Form „™xFx“ beinhalten nie
120 Ansgar Beckermann

einen Widerspruch,12 und (2) Existenz ist kein Merkmal, das man zur De-
finition eines Begriffes verwenden könnte. Allerdings zeigt die Kritik an
Frege auch Schwächen der Einwände Kants. Die Fragen „Hat Shakespeare
wirklich existiert oder sind seine Stücke von einer anderen Person ge-
schrieben worden, die nur den Namen ‚Shakespeare‘ benutzt hat?“ und
„Gibt es den Yeti wirklich oder handelt es sich hier nur um eine Legende?“
scheinen völlig in Ordnung; aber in diesen Fragen geht es doch offenkun-
dig um die Existenz einzelner Personen oder Dinge und nicht darum, ob
ein Begriff erfüllt ist oder nicht. Freges These, Existenz sei ein Begriff
zweiter Stufe, ist also keineswegs selbstverständlich. Außerdem scheint es
auch völlig legitim, den Begriff Zentaur so zu definieren: „Zentauren sind
Fabelwesen mit einem Pferdekörper und dem Oberkörper eines Men-
schen“. Das Entscheidende ist hier der Ausdruck „Fabelwesen“; denn et-
was ist nur dann ein Fabelwesen, wenn es in Wirklichkeit nicht existiert.
Mit anderen Worten: Nichtexistenz kann offenbar Teil der Definition eines
Begriffes sein. Warum dann aber nicht auch Existenz? Ich kann diesen
Problemen hier nicht weiter nachgehen. Aber so viel scheint doch klar: Bei
der Analyse des ontologischen Gottesbeweises geht es nicht um intuitive
Erkenntnisse a priori, sondern um ein angemessenes Verständnis des Be-
griffs Existenz und insbesondere um die Frage, ob Aussagen der Form
„™xFx“ überhaupt einen Widerspruch beinhalten können.
Die traditionelle Diskussion um den kosmologischen Gottesbeweis
dreht sich um drei Fragen – die Frage, ob es einen unendlichen Regress
von Ursachen geben kann, die Frage, ob die Existenz kontingenter Dinge
die Existenz notwendiger Wesen voraussetzt, und schließlich die Frage, ob
es tatsächlich für alles einen Grund/eine Ursache geben muss. Thomas von
Aquin argumentiert in seinem dritten Weg13: Alles, was kontingent ist,
kann auch nicht sein; was nicht sein kann, ist auch einmal nicht; wenn alles
kontingent wäre, gäbe es also einen Zeitpunkt, zu dem gar nichts existier-
te;14 das aber ist unmöglich; denn wenn zu einem Zeitpunkt gar nichts
existiert, dann existiert auch später nichts (was nicht der Fall ist), weil
etwas nur anfangen kann zu existieren, wenn es von etwas in die Existenz
gebracht wird, das schon existiert. Man sieht hier klar, wie Thomas – eben-
so wie später Clarke und Leibniz – von der Existenz kontingenter Dinge
auf die Existenz zumindest eines notwendigen Wesens schließt; und der
Dreh- und Angelpunkt der Argumentation ist das Prinzip vom zureichen-
den Grund in der Form „Nichts beginnt zu existieren, was nicht von etwas

12
Hier muss man allerdings Prädikate wie „x=x“ ausnehmen.
13
Thomas von Aquin 1996, 56f.
14
Dieser Schritt ist wohl unzulässig.
Philosophie als analytische Philosophie 121

in die Existenz gebracht wird, das schon existiert“. Dieses Prinzip galt
lange Zeit für so selbstverständlich, dass man sich kaum vorstellen konnte,
wie man daran zweifeln kann. Erst Hume stellte, wie wir schon gesehen
haben, zwei Dinge klar: Das Prinzip ist nicht analytisch wahr, und alle
bisherigen Versuche, das Prinzip zu beweisen, sind unzulänglich. Wenn
das Prinzip vom zureichenden Grund wahr ist, kann es sich also bestenfalls
um eine empirische Wahrheit handeln.15 Doch der Glaube, dass es sich hier
um einen empirisch wahren Satz handelt, ist durch die Quantenphysik
ebenfalls stark erschüttert worden. Es hat lange gedauert, bevor dies allge-
mein akzeptiert wurde, aber heute gehen wir davon aus, dass es z. B. für
den Zeitpunkt, zu dem ein Radiumatom zerfällt, weder einen Grund noch
eine Ursache gibt. Radium hat eine Halbwertszeit von 1602 Jahren, d. h.,
von einer bestimmten Menge von Radiumatomen wird in dieser Zeit die
Hälfte zerfallen sein. Aber von einem einzelnen Radiumatom können wir
nicht nur nicht sagen, wann genau es zerfallen wird; dies ist vielmehr ob-
jektiv unbestimmt. Für diesen Zeitpunkt gibt es nach allem, was wir wis-
sen, weder einen Grund noch eine Ursache. Das Standardmodell der Kos-
mologie lehrt uns, dass unser Weltall vor ca. 13,7 Milliarden Jahren im
sogenannten Urknall entstanden ist. Bis zum 18. Jahrhundert wäre jeder
davon überzeugt gewesen, dass es für dieses Ereignis einen Grund/eine
Ursache gegeben haben muss. Heute sind die meisten in diesem Punkt
wohl agnostisch. Kann sein, dass es einen Grund oder eine Ursache gab;
vielleicht ist der Urknall aber auch einfach so passiert – ohne jeden Grund
und ohne jede Ursache. Was bedeutet das für die Frage des a priori in der
Philosophie? Die traditionellen Versionen des kosmologischen Gottesbe-
weises beruhen alle darauf, dass das Prinzip vom zureichenden Grund
wahr ist, und dass man die Wahrheit dieses Prinzips a priori intuitiv einse-
hen kann. Die heutige Kritik dagegen bestreitet nicht nur die intuitive Ein-
sichtigkeit, sondern sogar die Wahrheit des Prinzips. Fortschritt ergibt sich
hier also nicht durch neue intuitive Einsichten a priori, sondern genau
dadurch, dass man die Möglichkeit solcher Einsichten bestreitet.
Beim teleologischen Gottesbeweis liegen die Dinge methodologisch
wieder ganz anders. Ausgangspunkt ist hier die unbestrittene Tatsache,
dass in der Welt zweckmäßige Dinge (z. B. Lebewesen) existieren – kom-
plexe Dinge, deren Teile so aufeinander abgestimmt sind und so interagie-
ren, dass ein vorteilhafter Effekt entsteht. Die Frage ist: Woher kommen
diese Dinge, was ist ihre Ursache? Neben den natürlichen zweckmäßigen

15
Kants Versuch zu zeigen, dass es sich um eine synthetische Wahrheit a priori han-
delt, von der man beweisen kann, dass sie wenigstens in der Erscheinungswelt gilt,
muss wohl auch als gescheitert betracht werden.
122 Ansgar Beckermann

Dingen gibt es auch künstliche, von uns Menschen hergestellte, zweckmä-


ßige Dinge – Maschinen. Das klassische Argument lautet: Die natürlichen
zweckmäßigen Dinge ähneln stark den künstlichen zweckmäßigen Dingen;
die künstlichen zweckmäßigen Dinge gehen alle auf intelligente Wesen als
Urheber zurück; also werden wohl auch die natürlichen zweckmäßigen
Dinge auf intelligente Wesen als Urheber zurückgehen. Hume hat an die-
sem Argument zwei Dinge kritisiert:16
1. Die behauptete Ähnlichkeit zwischen natürlichen und künstlichen
zweckmäßigen Dingen ist bei weitem nicht so groß, wie dies für einen
Analogieschluss notwendig wäre.
2. Aber davon einmal abgesehen: Wenn diese Ähnlichkeit doch groß
genug sein sollte, dann muss das Prinzip „Gleiche Wirkungen gleiche
Ursachen“ auch ernst genommen werden. Maschinen werden von
Menschen, also Wesen mit endlichem Verstand, Wesen aus Fleisch
und Blut geschaffen; außerdem gehen die besten Maschinen nicht auf
einzelne Menschen zurück, sondern beruhen auf der Zusammenarbeit
der besten Handwerker und Ingenieure. Die natürlichen zweckmäßigen
Dinge, die wir in der Welt vorfinden, sind zwar häufig viel kunstvoller
als die von uns hergestellten Maschinen, aber auch sie sind beileibe
nicht vollkommen. Müssten wir deshalb nicht eigentlich zu dem
Schluss kommen, dass auch die Urheber der natürlichen zweckmäßi-
gen Dinge Wesen mit endlichem Verstand aus Fleisch und Blut sind
und dass die besten dieser Wesen auf der Zusammenarbeit mehrerer
dieser intelligenten Urheber beruhen?
Hume übt hier also eine immanente Kritik an dem dem teleologischen
Gottesbeweis zugrundeliegenden Analogieschluss: Die Hauptprämisse ist
zweifelhaft, und, selbst wenn man diese Prämisse akzeptiert, müsste die
Schlussfolgerung deutlich anders lauten, als meistens angenommen wird.
Die Kernfrage des teleologischen Gottesbeweises ähnelt sehr stark ei-
ner empirisch-wissenschaftlichen Frage: Woher kommen die natürlichen
zweckmäßigen Dinge? Was ist die beste Erklärung für diese Dinge? Und so
ist es auch kein Wunder, dass eine empirische Theorie der Diskussion um
diesen Gottesbeweis eine entscheidende Wende gab – Darwins Theorie der
evolutionären Entstehung der Lebewesen. Während vor Darwin viele, viel-
leicht die meisten, den Eindruck hatten, für zweckmäßig strukturierte Dinge
könne es gar keine andere Ursache als einen intelligenten Urheber geben,17
hatte man nach Darwin zumindest eine Vorstellung davon, wie eine natürli-

16
Hume 1981, Teil 10 und 11.
17
Vgl. z. B. den zentralen Text Paley 1809.
Philosophie als analytische Philosophie 123

che Erklärung der Entstehung des Lebens aussehen kann. Natürlich gibt es
auch an Darwins Vorschlag Kritik. Vertreter des Intelligent Design etwa
behaupten, dass es in manchen Lebewesen Strukturen gibt, die unmöglich
auf evolutionäre Weise entstanden sein können (Stichwort: irreduzible
Komplexität). Diese Auffassung ist ihrerseits bestritten worden,18 aber sie
hat doch einige hochinteressante wissenschaftstheoretische Fragen aufge-
worfen: Ist Wissenschaft darauf festgelegt, immer nur nach natürlichen
Erklärungen zu suchen? Oder gibt es Umstände, in denen natürliche Phä-
nomene auf das Einwirken nicht-natürlicher Ursachen zurückgeführt wer-
den dürfen? Oder ist es nicht vielmehr so, dass die Annahme nicht-
natürlicher Ursachen immer als ad hoc-Hypothese abgelehnt werden muss?
Ich beende hier den Überblick über die philosophische Diskussion der
klassischen Gottesbeweise, um zu einem kurzen Fazit zu kommen. Es soll-
te aber klar sein, dass mit diesem Überblick bestenfalls ein Anfang ge-
macht wurde. Wer wissen will, wie (analytische) Philosophie funktioniert,
kann das nur herausfinden, in dem er untersucht, wie Philosophinnen und
Philosophen in den einzelnen Bereichen der Philosophie – Erkenntnis-
theorie, Wissenschaftstheorie, Sprachphilosophie, Philosophie des Geistes,
Religionsphilosophie, Moralphilosophie, Politische und Sozialphilosophie
– tatsächlich vorgehen. Trotzdem: Was kann man allein schon aus der
Betrachtung der philosophischen Diskussion der Gottesbeweise über die
Philosophie erfahren? Zunächst einmal: Die These, dass es einen (christ-
lich verstandenen) Gott gibt, ist sicher eine These über die Beschaffenheit
der Welt. Wie kann man herausfinden, ob diese These zutrifft? Da offenbar
viele annehmen, dass aus ihr keine beobachtbaren Fakten folgen, läuft die
klassische Methodologie der empirischen Wissenschaften ins Leere. Ist
deshalb rationalistische Intuition die einzige verbleibende Alternative? Der
ontologische Gottesbeweis geht einen anderen Weg. Befürworter dieses
Beweises argumentieren, dass zum Begriff des denkbar vollkommensten
Wesens auch die Existenz gehört und dass daher der Satz „Das denkbar
vollkommenste Wesen existiert nicht“ einen Widerspruch darstellt. Kriti-
ker des Beweises verweisen dagegen darauf, dass der Begriff der Existenz
so geartet ist, dass eine Aussage der Form „™xFx“ niemals widersprüch-
lich sein kann. Hier geht es also zentral um den Begriff der Existenz; und
der kann wohl kaum durch rationalistische Intuition geklärt werden. Der
kosmologische Gottesbeweis beruht im Wesentlichen auf der Idee, dass es
keine kontingenten Wesen ohne notwendige Wesen geben kann. Und diese
Annahme lässt sich nur begründen, wenn man das Prinzip vom zureichen-
den Grund für intuitiv einsichtig hält. Zweifel daran unterminieren den

18
Einen Einstieg in die Debatte liefern Dembski/Ruse 2007.
124 Ansgar Beckermann

gesamten Beweis. Der teleologische Gottesbeweis schließlich wird zwar


traditionell als Analogieschluss dargestellt; richtiger ist aber wohl, ihn als
Schluss auf die beste (einzig mögliche?) Erklärung aufzufassen. Als sol-
cher unterliegt er den ganz normalen wissenschaftlichen Standards. Wir
finden in der Welt Dinge, für die wir eine Erklärung suchen. Lässt sich
eine natürliche Erklärung finden? Anhänger der Evolutionstheorie sagen
„Ja“; andere behaupten, dass zumindest nicht alles, was sich im Bereich
der Lebewesen findet, natürlich erklärbar ist. Falls das so ist, berechtigt uns
das, eine nicht-natürliche Erklärung anzunehmen? Dies sind offensichtlich
wissenschaftstheoretische Fragen. Und wie können diese Fragen beantwor-
tet werden? Selbst mit wissenschaftlichen Mitteln? Oder durch rationalisti-
sche Intuition? Eines ist hoffentlich klar geworden: Es gibt nicht nur empi-
risch-wissenschaftliche Methoden und rationalistische Intuition. In der
Philosophie gibt es viele Arten von Argumenten, die sich nicht leicht auf
einen einzigen Nenner bringen lassen.
Ein letztes Wort: In den letzten Abschnitten war viel von klassischen
Autoren wie Thomas von Aquin, Hume und Kant die Rede, weniger von
analytischen Philosophen. Das war kein Zufall. Ich denke zwar, dass in der
Analytischen Philosophie viele alte Diskussionen – insbesondere auf der
Grundlage eines deutlich verbesserten logischen Verständnisses – manche
neue Wendungen erfahren haben. Aber die Analytische Philosophie, wie
sie sich heute darstellt, kann man in meinen Augen vielfach sehr gut als
Fortführung der philosophischen Diskussion von den Vorsokratikern bis
Kant verstanden werden. Im 19. und 20. Jahrhundert hat sich die Philoso-
phie in sehr unterschiedliche und zum Teil sehr eigenartige Richtungen
entwickelt. Vielleicht ist das Motto der gegenwärtigen Analytischen Philo-
sophie einfach: Back to the classics.

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Philosophie als analytische Philosophie 125

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[Wiederabgedruckt in: L. Wittgenstein, Logisch-philosophische Abhandlung. Trac-
tatus logico-philosophicus, Frankfurt/M. 312007].
Philosophie und ihr Verhältnis
zu den Einzelwissenschaften

Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

In diesem Kapitel werden wir die Leitfragen dieses Bandes – Warum soll
eigentlich überhaupt philosophiert werden? Aus welchen Gründen, mit
welchen Zielen und Absichten wird Philosophie denn überhaupt betrieben?
– anhand des Verhältnisses zwischen der Philosophie und den Einzelwis-
senschaften erörtern. Ein solches Unternehmen sieht sich zunächst mit drei
Problemen konfrontiert, die wir im ersten Abschnitt besprechen. In den
darauf folgenden Abschnitten stellen wir dann einige neuere Ansätze dazu
vor, wie die Philosophie ihr Verhältnis zu den anderen Wissenschaften
auffassen kann und was dieses Verhältnis für die Gründe und Ziele des
Philosophierens bedeuten kann. Schließlich werden wir im letzten Ab-
schnitt unsere eigene Auffassung davon darlegen, wie sich die Philosophie
zu den Einzelwissenschaften verhalten sollte.
Während die Einzelwissenschaften positives Wissen über die Beschaf-
fenheit der Welt hervorbringen wollen, hat die Philosophie unserer Auffas-
sung nach u. a. die Aufgabe, das von den Einzelwissenschaften hervorge-
brachte Wissen kritisch zu reflektieren. Eine solche Tätigkeit kann für die
Einzelwissenschaften zwei verschiedene Arten von Ergebnissen haben.
Zum einen kann die kritische Reflexion von positivem wissenschaftlichem
Wissen zur Klärung der darin gebrauchten Begriffe oder der darin be-
schriebenen Sachverhalten führen, so dass man ein tieferes Verständnis
dieser Begriffe oder Sachverhalte gewinnt. In diesem Modus kann die
Philosophie als eine Fortführung der Arbeit der Einzelwissenschaften ver-
standen werden, indem sie zur Vertiefung und Interpretation des einzelwis-
senschaftlichen Wissens beitragen kann. Zum anderen kann eine solche
Tätigkeit auch zu einer Destruktion der involvierten Begriffe oder Sach-
verhalte führen, weil sich bei der genaueren Nachfrage die entsprechende
Sache als unhaltbar herausstellt. Hier kann die Philosophie als Kritik der
Wissenschaften verstanden werden, indem sie Probleme im einzelwissen-
schaftlichen Wissen aufzeigt und damit die Wissenschaften herausfordert,
bestimmte Fragestellungen erneut zu untersuchen.
128 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

I. Vorbemerkungen: drei Probleme

Bevor wir in die genauere Erörterung des Verhältnisses von Philosophie


und Einzelwissenschaften eintreten, sind drei Vorbemerkungen zu ma-
chen. Erstens ist festzuhalten, dass eine Erörterung der Gründe und Ziele
der Philosophie unter Einbeziehung anderer Wissenschaftsbereiche grund-
sätzlich Gefahr läuft, sich in einer Selbstrechtfertigung der Philosophie
gegenüber diesen anderen Wissenschaften zu verlieren. Diese Gefahr tritt
besonders dann auf, wenn die Philosophie und die sogenannten harten
Naturwissenschaften einander gegenüber treten. Oft vertreten Naturwis-
senschaftler die Meinung, dass die Philosophie ihre Existenz als akademi-
sche Disziplin zu rechtfertigen habe, da sie ja nicht wie die Physik, die
Chemie oder die Biologie empirisch begründete Erkenntnisse über die
Beschaffenheit der Welt liefert. Wenn aber die Philosophie kein empiri-
sches Wissen liefert, muss ihre Existenzberechtigung darin liegen, dass sie
ein anderes brauchbares Produkt liefert – und die Brauchbarkeit dieses
Produkts, so meinen manche Naturwissenschaftler, sollte in einem Nutzen
für die Naturwissenschaften bestehen.
So beklagte z. B. der Physiker und Nobelpreisträger Steven Weinberg
in einem Aufsatz aus dem Jahr 1992 mit dem verheißungsvollen Titel
Gegen die Philosophie (Weinberg 1992, Kapitel VII; unsere Übersetzung)
die Nutzlosigkeit der Philosophie für sein eigenes Fach. Das Einzige, wozu
die Arbeiten von einigen – und sicherlich nicht von allen! – Philosophen
aus der Sicht des praktizierenden Physikers gut wären, so Weinberg, sei, die
Physiker davor zu schützen, auf Irrtümer anderer Philosophen hereinzufal-
len. Weinberg wirft der Philosophie vor, im Allgemeinen einen eher brem-
senden als fördernden Einfluss auf die naturwissenschaftliche Erforschung
der Welt zu haben. Diese Bremswirkung rührt zum einen daher, dass die
Philosophie spekulativ-metaphysische Weltbilder aufstellt, womit neue
naturwissenschaftliche Erkenntnisse oft überhaupt nicht oder nur sehr
schwer vereinbar sind. Zum anderen formulieren manche Philosophen
strikte methodologische und epistemologische Anweisungen für die For-
schung, die Naturwissenschaftler oft als unrealistisch und für die alltägliche
Forschungspraxis als unbrauchbar einschätzen. Selbst das Teilgebiet der
Philosophie, das den Naturwissenschaften am nächsten steht, die Wissen-
schaftsphilosophie, bietet den Naturwissenschaftlern in Weinbergs Sicht
nicht mehr als lediglich „eine angenehme Betrachtung der Geschichte und
der Entdeckungen der Wissenschaften“ (ebd., 167; unsere Übersetzung).
Zwar gesteht Weinberg (vgl. ebd., 175 f.) zu, dass philosophische Posi-
tionen manchmal eine fördernde Wirkung auf den Fortschritt der Wissen-
schaft haben können, jedoch überwiegen in seiner Sicht die schädlichen
Einflüsse. Die positiven Beiträge der Philosophie für die Naturwissenschaft
bestanden letztendlich nur in der „Befreiung“ der Naturwissenschaften von
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 129

altem, überholtem Gedankengut – und damit lediglich darin, dass die Philo-
sophie die Sachen entsorgt, die sie selbst in die Welt gesetzt hatte.
Wir möchten in diesem Beitrag jedoch keine Rechtfertigung der Philo-
sophie gegenüber Herausforderungen wie den oben angedeuteten liefern,
da wir der Meinung sind, dass die Philosophie eine solche Rechtfertigung
gar nicht benötigt. Die Philosophie ist, obwohl sie keine empirische For-
schung betreibt, dennoch eine eigenständige Disziplin, die ihren eigenen
Fragestellungen nachgeht, ihre eigenen Phänomene untersucht und ihre
eigenen Theorien entwirft, so wie die Physik, die Biologie, die Soziologie,
die Geschichtswissenschaft usw. es auch tun. Die Ziele der Philosophie
leiten sich nicht primär aus dem Verhältnis von Philosophie und den ande-
ren Wissenschaften ab; sie werden in den anderen Beiträgen dieses Bandes
erörtert. In diesem Beitrag werden wir lediglich einen kleinen Teil dieser
Thematik ansprechen und versuchen zu klären, was die Philosophie in
Bezug auf die anderen Wissenschaften leisten kann. Dabei werden wir
nicht voraussetzen, dass diese Leistung für die anderen Wissenschaften
von unmittelbarem Nutzen bezüglich deren Erkenntnisziele ist.
Ein zweites Problem ist folgendes: Wenn die Philosophie wie oben be-
schrieben eine eigenständige Disziplin ist, weshalb sollte man dann über-
haupt erwarten, dass man mehr Klarheit über die Gründe und Ziele der
Philosophieausübung erlangen kann, indem man das Verhältnis der Philo-
sophie zu anderen Wissenschaften betrachtet? Die Frage Warum sollte
überhaupt Physik betrieben werden? wird ja üblicherweise auch nicht
dadurch beantwortet, dass wir uns ansehen, wie die Physik sich zur Biolo-
gie und zur Soziologie verhält. (Und sie wird schon gar nicht dadurch be-
handelt, dass gefragt wird, auf welcher Weise die Physik für diese Wissen-
schaften von Nutzen sein könnte!)
Unsere Antwort auf diese Frage ist wissenschaftshistorisch. Die Philo-
sophie darf einen Anspruch darauf erheben, die Mutter aller Wissenschaf-
ten genannt zu werden, da viele der heutigen selbständigen Einzelwissen-
schaften im Laufe der Geschichte aus der Philosophie hervorgegangen
sind. So haben sich die Physik und die Chemie zur Zeit der wissenschaftli-
chen Revolution von der (Natur-)Philosophie abgelöst, so ist die Psycholo-
gie im 19. Jh. endgültig ihren eigenen Weg gegangen und so sehen wir
heute, wie sich die Kognitionswissenschaft als eigenständige Wissenschaft
etabliert. Ursprünglich rein philosophische Fragen werden dadurch zu
einzelwissenschaftlichen Fragen, zumindest zum Teil. So wird beispiels-
weise die Frage nach dem freien Willen, eine klassische Frage der Philoso-
phie, heute auch in den Kognitionswissenschaften behandelt. In dieser
Perspektive würde sich die Philosophie als der Restbereich verstehen müs-
sen, die sich mit den Fragen befasst, die übrig geblieben sind, nachdem
sich die Einzelwissenschaften von ihrem Ursprung abgelöst haben. Eine
130 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

solche Auffassung der Philosophie ist in der Philosophiegeschichte von


mehreren Autoren vertreten worden. Sie findet sich beispielsweise bei dem
Philosophen und Psychologen William James (vgl. James 1911, 22 f.) und
dem Philosophen Bertrand Russell (vgl. Pradeu 2011).1 Auf den ersten
Blick ist dies sicherlich kein wünschenswertes Selbstverständnis für ein
akademisches Fachgebiet, zumal es die Frage aufwirft, ob denn auf lange
Sicht überhaupt etwas für die Philosophie übrig bleiben wird!
Man kann diese Situation jedoch auch anders sehen. Die Tatsache, dass
die von der Philosophie abgelösten Einzelwissenschaften ihre eigenen
Fragen und Phänomene studieren und dabei die klassischen Fragen der
Philosophie in ein neues Licht rücken, bedeutet nicht, dass die Philosophie
selbst nichts mehr zu diesen Fragen und Phänomene zu sagen hat. Ein
Beispiel hierfür ist die schon genannte Frage nach der Existenz eines freien
Willens. Obwohl dies heutzutage sicher auch eine Frage für die empiri-
schen Kognitionswissenschaften ist, bleibt nach der empirisch-wissen-
schaftlichen Beantwortung dieser Frage (heutzutage oft die Leugnung des
freien Willens)2 noch einige Aufklärungsarbeit für die Philosophie übrig.
Was bedeutet es für den Menschen, wenn er (k)einen freien Willen hat?
Wie sollten wir unsere Gesellschaft einrichten, sodass sie der Tatsache
gerecht wird, dass Menschen (k)einen freien Willen haben und also (nicht)
für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können? Wie soll ich
als Mensch, der (k)einen freien Willen hat, mein Handeln begründen? Die
Erörterung solcher Fragen bleibt auch dann Aufgabe der Philosophie, wenn
diese Fragen auch in den Aufgabenbereich von Einzelwissenschaften fallen
und diese Einzelwissenschaften Antworten liefern, die die Philosophie
selbst nicht liefern kann (aber wovon sie selbstverständlich mit Gewinn
Gebrauch machen kann – vgl. Hansson 2008, 477). Auf diese Weise kann
die Philosophie also gerade über ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaf-
ten ihr Aufgabenfeld abstecken, indem die Arbeitsteilung zwischen Philo-
sophie und Einzelwissenschaften bei der Bearbeitung spezifischer Fragen
klargestellt wird. Einige der Gründe und Ziele der gegenwärtigen Philoso-
phieausübung folgen so unmittelbar aus den Überlappungen, Verbindun-
gen, Kooperationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen, die zwischen
der Philosophie und den verschiedenen Einzelwissenschaften existieren.
Aus den vorangegangenen Überlegungen folgt jedoch ein drittes Prob-
lem, nämlich dass die Gesamtheit der Überlappungen, Verbindungen, Ko-
operationen, Streitigkeiten und sonstigen Relationen zwischen der Philoso-

1
Vgl. auch Hansson 2008, 476–477 und Rosenberg/McShea 2008, 1–3.
2
Für die gegenwärtige Diskussion im deutschsprachigen Raum, vgl. z. B. Singer
2003, Geyer 2004.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 131

phie und den Einzelwissenschaften zu groß und zu komplex ist, um in


einem kurzen Buchbeitrag erfasst werden zu können. Wir können daher
das komplexe und vielfältige Verhältnis von Philosophie und den Einzel-
wissenschaften nur sehr unvollständig erörtern und uns auf einige wenige
Aspekte dieses Themenkomplexes beschränken. Statt aber spezifische
Themen aus den Einzelwissenschaften und dem gegenwärtigen Stand der
philosophischen Arbeit dazu in den Blick zu nehmen (z. B. zur Frage nach
der Existenz eines freien Willens), wollen wir die Thematik allgemeiner
angehen. Wir werden in den folgenden Abschnitten einige neuere Vor-
schläge vorstellen, die darlegen, in welches Verhältnis sich die Philoso-
phie, speziell die Wissenschaftsphilosophie, zu den Einzelwissenschaften
setzen könnte und wie Philosophen, die sich mit Wissenschaft befassen,
ihre Arbeit dementsprechend auffassen könnten – oder gar sollten.

II. „Normative Wissenschaftsphilosophie“:


Erforschen, wie Wissenschaft funktioniert, um damit
die Einzelwissenschaften zu stärken

Innerhalb des Teilbereichs der Philosophie, der sich explizit mit den ver-
schiedenen Einzelwissenschaften befasst, der Wissenschaftsphilosophie,
können die Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsethik unterschieden
werden. Diese Unterscheidung entspricht natürlich der allgemeineren Un-
terscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie. Jeder dieser
beiden Bereiche hat einen allgemeinen Teil und mehrere spezielle Teile
(die speziellen Wissenschaftstheorien bzw. -ethiken). Die allgemeine Wis-
senschaftstheorie beschäftigt sich mit der Frage, was Wissenschaft eigent-
lich ist und wie sie funktioniert. Die speziellen Wissenschaftstheorien, wie
z. B. die gegenwärtig weltweit etablierten Spezialgebiete Philosophie der
Physik, Philosophie der Biologie, Philosophie der Chemie oder Philoso-
phie der Wirtschaftswissenschaften, untersuchen, wie die Einzelwissen-
schaften in ihrer Spezifizität funktionieren, was ihre zentralen Begriffe
genau bedeuten und wie ihre Theorien genau zu analysieren sind.3 So wird
z. B. untersucht, wie Ökonomen typischerweise argumentieren, welche
Elemente in den Erklärungen der Evolutionsbiologie involviert sind, auf
welcher Grundlage in der Chemie Atome und Substanzen klassifiziert
werden, was der Genbegriff in den verschiedenen Bereichen der Biologie

3
Für einen ausgezeichneten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung
in der Philosophie der Biologie siehe Krohs/Toepfer 2005. Für die Philosophie der
Physik ist beispielsweise Mittelstaedt 1976 ein Klassiker.
132 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

genau bedeutet usw. Die Wissenschaftsethik beschäftigt sich mit morali-


schen Fragen, die in der wissenschaftlichen Handlungspraxis und als Fol-
gen von wissenschaftlichen Innovationen auftreten können. Zum einen
sind dies z. B. Fragen zur Verantwortung des Wissenschaftlers, oder die
Frage danach, was gute wissenschaftliche Praxis ausmacht und was genau
als wissenschaftliches Fehlverhalten angesehen werden muss. Zum ande-
ren sind dies Fragen zu möglichen gesellschaftlichen Folgen wissenschaft-
licher Entdeckungen und neuer Technologien, wie der Gebrauch von emb-
ryonalen Stammzellen für Forschungs- und therapeutische Zwecke oder
die Modifizierung des genetischen Materials von Nutzpflanzen. Wir wer-
den die Wissenschaftsethik hier nicht weiter betrachten und uns auf den
theoretischen Teil der Wissenschaftsphilosophie, also die allgemeine Wis-
senschaftstheorie und die speziellen Wissenschaftstheorien beschränken.4
Wie schon vorher bemerkt, ist es ein traditionelles Ziel der Wissen-
schaftstheorie, zu verstehen, wie das Unternehmen „Wissenschaft“ im
Detail funktioniert. Demnach beabsichtigt die Wissenschaftstheorie zu
klären, was Wissenschaftler genau tun, was die Ergebnisse wissenschaftli-
cher Tätigkeit sind und warum Wissenschaftler ihre Arbeit in der Weise
tun, wie sie es tun. Dies ist in erster Linie ein deskriptives Ziel, das, wenn
erfolgreich realisiert, bereits genügen würde, um die Frage Warum (Wis-
senschafts-)Philosophie? positiv zu beantworten. Jedoch wollen Wissen-
schaftstheoretiker in ihrer Arbeit mehr als lediglich beschreiben, wie wis-
senschaftliche Arbeit vonstattengeht. Es wird darüber hinaus auch ein
normatives Ziel verfolgt, nämlich eine sog. Methodologie zu formulieren,
die beschreibt, nach welchen Methoden gute wissenschaftliche Arbeit ver-
fahren soll.
Sehen wir uns dazu einige Belege aus der Literatur an. „In der Wissen-
schaftsphilosophie geht es […] nicht einfach generell darum, wie Wissen-
schaft funktioniert; es geht darum, wie Wissenschaft in epistemischer Hin-
sicht funktioniert“ (Carrier 2007, 19 f.; unsere Hervorhebung), schreibt
beispielsweise der Wissenschaftsphilosoph Martin Carrier. Entsprechend
hat die Wissenschaftstheorie eine doppelte Zielsetzung. Zum einen soll die
Wissenschaftstheorie also klären, welche Eigenschaften das Produkt wis-
senschaftlicher Tätigkeit – wissenschaftliches Wissen – hat (man denke
hier an Eigenschaften wie Geltung, Bestätigung, Allgemeinheit, erklärende

4
Zur allgemeinen Wissenschaftstheorie siehe den Beitrag von Rainer Enskat in
diesem Band. Eine Erörterung der Frage, wie sich die Ethik zu den anderen Wis-
senschaften verhält bzw. verhalten sollte, kann hier nicht vorgenommen werden,
weil dies einen eigenen Beitrag erfordern würde. Für allgemeine Einführungen in
das Themenfeld der Wissenschaftsethik siehe u. a. Nida-Rümelin 1996 oder Hoy-
ningen-Huene/Tarkian 2010.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 133

Kraft usw.) und auf welche Weise diese Eigenschaften in der Produktion
wissenschaftlichen Wissens realisiert werden: „Wissenschaftler häufen
Erkenntnis auf Erkenntnis, Wissenschaftsphilosophen legen auseinander,
was die wesentlichen Eigenschaften dessen sind, was dort aufeinander
gehäuft wird“ (ebd., 20). Zum anderen soll die Wissenschaftstheorie dar-
über hinaus auch in epistemischer Hinsicht bewerten, indem „die Verfah-
ren, die in der Wissenschaft zur Einschätzung von Geltungsansprüchen
herangezogen werden […] auf ihren Zusammenhang mit den Erkenntnis-
zielen der Wissenschaft untersucht“ werden (ebd.).
Auch der Wissenschaftsphilosoph John Losee hob in seinem klassi-
schen Lehrbuch A Historical Introduction to the Philosophy of Science die
normative Aufgabe der Wissenschaftstheorie hervor. Nach Losee gibt es
mindestens vier unterschiedliche Auffassungen davon, was das Hauptziel
der Wissenschaftsphilosophie sei (vgl. Losee 1980, 1 f.). Einer Auffassung
nach besteht wissenschaftsphilosophische Arbeit darin, übergreifende
Weltbilder zu entwerfen, die auf dem von den Einzelwissenschaften pro-
duzierten Wissen aufbauen und dieses in ein kohärentes Weltbild syntheti-
sieren. Dies ist eine metaphysische Zielsetzung, die auf die Arbeit der Ein-
zelwissenschaften aufbaut und diese weiterführt. Gegenwärtige Vertreter
dieser Sichtweise sind z. B. der Wissenschaftsphilosoph James Ladyman
und der Ökonom und Philosoph Don Ross (vgl. Ladyman/Ross 2007).
Den drei anderen von Losee unterschiedenen Auffassungen nach ist
die Arbeit, die die Wissenschaftsphilosophie leisten kann, eher epistemo-
logischer als metaphysischer Natur. Der zweiten Auffassung nach ist die
Aufgabe der Wissenschaftsphilosophie, die (oftmals verschwiegenen)
Grundannahmen, die wissenschaftlicher Arbeit unterliegen können, expli-
zit zu machen. Beispielsweise denke man an die Annahme, dass es in der
Natur selbst Regelmäßigkeiten gibt, die die Wissenschaft entdecken und
beschreiben kann. Der dritten Auffassung nach ist Wissenschaftsphiloso-
phie wesentlich Begriffsanalyse, d. h., ihr Ziel ist, die zentralen Begriffe
wissenschaftlicher Theorien auf ihre Bedeutung zu prüfen und ggf. vorlie-
gende Unschärfen und Mehrdeutigkeiten ans Licht zu bringen. Eine vierte
Auffassung der Zielsetzung der Wissenschaftsphilosophie (die Auffassung,
die Losee selbst vertritt) ist die, dass Wissenschaftsphilosophie wesentlich
darin besteht „darüber nachzudenken, wie Wissenschaft betrieben werden
sollte“ (Losee 1980, 2 f.). Zwar beinhaltet die wissenschaftsphilosophische
Arbeit in dieser letzten Auffassung auch die Explikation wissenschaftlicher
Grundannahmen und die Klärung zentraler wissenschaftlicher Begriffe;
jedoch ist dabei primär das normative Ziel der Analyse und Verbesserung
der wissenschaftlichen Methodik im Blick.
Ein Problem für eine sich selbst als normativ verstehende Wissen-
schaftsphilosophie ist jedoch, dass bisher alle Versuche, eine einigermaßen
134 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

umfassende Methodologie für die Gesamtheit der Wissenschaften auszuar-


beiten, als gescheitert bewertet werden müssen. Wie der Wissenschaftsphi-
losoph Paul Feyerabend bemerkt hat, ergibt sich der Hauptgrund dafür aus
der Wissenschaftsgeschichte: Es gibt, so Feyerabend, nämlich keinen ein-
zigen Grundsatz, der in allen Episoden der Wissenschaftsgeschichte tat-
sächlich als Basis für die wissenschaftliche Wissensproduktion gedient hat
(vgl. Feyerabend 1986, 31 f.).5 Es ist daher wahrscheinlich, dass die Ein-
zelwissenschaften grundsätzlich zu unterschiedlich sind, um alle mittels
einer Methodologie erfasst werden zu können.
Das Scheitern dieses normativen Projekts heißt jedoch nicht, dass die
Wissenschaftstheorie überhaupt keine sinnvollen normativen Empfehlun-
gen geben kann, die für die Wissenschaften methodologisch produktiv sein
könnten. Beispielsweise hat der Wissenschaftsphilosoph William Wimsatt
über fast vier Jahrzehnte hinweg versucht, einen Ansatz herauszuarbeiten,
der vorführt, wie die Wissenschaftsphilosophie für die Wissenschaften in
dieser Hinsicht nützlich sein kann.6 Wimsatts Ansatz beruht auf der allge-
meinen Feststellung, dass Menschen kognitiv und physisch beschränkte
Wesen sind, die mit begrenzten Mitteln in einer komplexen und unüber-
sichtlichen Welt zurechtkommen müssen. Dabei greifen sie wie Bastler auf
die Hilfsmittel zurück, die gerade zur Verfügung stehen und passen diese
je nach Problemlage und Möglichkeiten an.7 Es geht bei einem solchen
Vorgehen typischerweise nicht darum, die bestmögliche Lösung für ein
Problem zu finden, sondern darum, Lösungen zu finden, die in Bezug auf
ein bestimmtes Ziel funktionieren. Fehler werden dabei in Kauf genom-
men, so lange sie die Funktionalität der vorgeschlagenen Lösung nicht
allzu stark beeinträchtigen.
Dies gilt nicht nur im alltäglichen Leben, so Wimsatt, sondern auch in
der Wissenschaft. Wissenschaft ist eine durch und durch menschliche Tä-
tigkeit; sie hat daher ebenfalls den Charakter eines Zurechtkommens mit

5
Daher auch Feyerabends Behauptung, dass „es nur einen Grundsatz gibt, der sich
unter allen Umständen und in allen Stadien der menschlichen Entwicklung vertre-
ten lässt. Es ist der Grundsatz: Anything goes“ (ebd., 32). Die Allgemeingültigkeit
dieses Grundsatzes ist durch seine vollkommene Leere erkauft (siehe hierzu Hoy-
ningen-Huene 1997)!
6
Eine Gesamtübersicht der Wimsatt’schen Vision für die Wissenschaftsphilosophie
findet sich in Wimsatt 2007; eine gute Zusammenfassung gibt Griesemer 2010.
7
Wimsatt vergleicht oft sowohl die Natur als auch den Menschen mit einem Bastler
(„a backwoods mechanic and used parts dealer“), der beim Entwerfen von Lösun-
gen für neue Probleme sich etwas Brauchbares aus den in seinem Schuppen herum-
liegenden Einzelteilen zusammenbastelt. Der Vergleich der Natur (oder spezifi-
scher: der Evolution) mit einem Bastler geht auf den Biologen und Nobelpreisträger
François Jacob zurück (vgl. Jacob 1977; 1994, 34).
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 135

der Welt mit den Mitteln, die gerade greifbar sind. Dies charakterisiere die
Wissenschaft viel treffender als das traditionelle wissenschaftsphilosophi-
sche Bild eines auf maximale Effizienz hin organisierten, durchrationali-
sierten Unternehmens.8 Wissenschaftler suchen meistens nicht nach der
wirklich optimalen Forschungsmethodik oder der wirklich optimalen He-
rangehensweise, um ein bestimmtes Problem zu lösen – wie in der Wissen-
schaftstheorie verbreitete Idealbilder von Wissenschaft es oft suggerieren.
Vielmehr benutzen sie Methoden und Herangehensweisen, die zufälliger-
weise gerade am Ort vorhanden sind, die ihre Brauchbarkeit in anderen
Forschungskontexten bewiesen haben oder die bestimmte Praxisvorteile
versprechen. Dazu gehört z. B., dass sie weniger umständlich als eigentlich
besser geeignete Methoden sind, aber trotzdem gut genug sind oder einen
schnelleren Erfolg versprechen, dafür aber vielleicht eine etwas höheren
Fehlerquote haben. Dazu kommen ad hoc Anpassungen von Methoden und
Herangehensweisen – je nach Bedarf.
Dementsprechend, so argumentiert Wimsatt, kann eine sinnvolle nor-
mative Wissenschaftstheorie nicht die Form eines Systems von rein rational
begründeten methodologischen Vorgaben für die Wissenschaft annehmen,
sondern muss auf empirische Studien der verschiedenen Vorgehensweisen
in den Einzelwissenschaften beruhen. Wimsatts Vision der Wissenschafts-
philosophie beinhaltet also eine sehr wissenschaftsnahe Weise des Philoso-
phierens über Wissenschaft, die versucht zu verstehen, wie Wissenschaft
tatsächlich funktioniert. Die Wissenschaftsphilosophie sollte nach Wimsatt
herausfinden, welche Methoden, Heuristiken, Strategien, Herangehenswei-
sen usw. in welchen Forschungskontexten ihre Effektivität bewiesen haben.
Statt aus einer Außenperspektive methodologische Vorgaben für die
Wissenschaften zu formulieren, sollten Wissenschaftsphilosophen also
versuchen, die Wissenschaften von innen heraus zu verstehen (vgl. Wim-
satt 2007, 27). Das erlangte Verständnis davon, wie die Wissenschafts-
praxis in ihrer tatsächlichen Vielfältigkeit funktioniert, kann letztendlich
in den Wissenschaftsbetrieb zurückfließen und damit einen Beitrag zu
seiner Verbesserung leisten. Letzteres ist für Wimsatt ein explizites Ziel
der Wissenschaftsphilosophie: „Eine adäquate Wissenschaftsphilosophie
sollte normative Kraft haben. Sie sollte uns helfen, Wissenschaft zu betrei-
ben oder, wahrscheinlicher, uns helfen Fehlerquellen zu finden und zu
vermeiden […]“ (ebd., 26; unsere Übersetzung). Diese Zielsetzung kann

8
In Kontrast zu diesem Bild, das oftmals stark idealisiert ist und auf philosophischen
„Spielzeugbeispielen“ basiert, ist Wimsatt auf der Suche nach einer „realistischen“
Wissenschaftsphilosophie – d. h. einer Wissenschaftsphilosophie, die von realen
Menschen in realen Situationen in realer Zeit betrieben werden kann (vgl. Wimsatt
2007, 5).
136 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

als Wimsatts Antwort auf die Frage Warum (Wissenschafts-)Philosophie?


angesehen werden – wie er selbst schreibt: „Wenn das, was ich zu sagen
habe, für Wissenschaftler nicht brauchbar ist, dann habe ich meine Arbeit
nicht richtig gemacht“ (ebd., 30; unsere Übersetzung).

III. Einen Schritt weiter: „Partizipative


Wissenschaftsphilosophie“

Wimsatt steht der traditionellen Wissenschaftsphilosophie kritisch gegen-


über, weil sie seiner Einschätzung nach zu wissenschaftsfern und eine zu
idealisierte Rekonstruktion der Wissenschaft ist. Stattdessen strebt er eine
Reflexion der tatsächlichen Wissenschaftspraxis an, wie sie in ihrer ganzen
Vielfalt existiert. Dennoch bleibt bei Wimsatt das Hauptziel der Wissen-
schaftsphilosophie das traditionelle Ziel, das Phänomen Wissenschaft zu
studieren und zu verstehen, und nach Möglichkeit einen Beitrag zur Ver-
besserung der Wissenschaftspraxis zu liefern.
Der schwedische Wissenschafts- und Technikphilosoph Sven Ove
Hansson hat einen weiterführenden Ansatz vorgestellt, wie sich Philosophie
zur Wissenschaft verhalten sollte. Hansson unterscheidet zwei Weisen, wie
sich Philosophie in ein Verhältnis zu den Einzelwissenschaften setzen kann.
Er nennt diese „Philosophie von …“ und „Philosophie mit …“ (vgl. Hans-
son 2008, 479 f.). Mit „Philosophie von …“ sind die Wissenschaftsphiloso-
phien der Einzelwissenschaften im vorher beschriebenen, traditionellen
Sinne gemeint. Charakteristisch für diese Art, Wissenschaftsphilosophie zu
betreiben, ist, dass die Einzelwissenschaften lediglich die Arbeitsobjekte
der Philosophie sind, die von Philosophen studiert und gegebenenfalls ver-
bessert werden. In diesem Modus der Wissenschaftsphilosophie bleiben
Philosophen mit ihrer Arbeit weitgehend außerhalb der Einzelwissen-
schaften. Dem stellt Hansson die „Philosophie mit …“ gegenüber, womit er
einen Modus des Philosophierens in enger Zusammenarbeit mit Fach-
wissenschaftlern aus einer Einzelwissenschaft meint. In diesem Modus
betreiben Wissenschaftsphilosophen ihr Fach nicht als Außenstehende, als
Beobachter der Einzelwissenschaften, sondern sind selbst aktive Teilneh-
mer im Theorieentwicklungsprozess der Einzelwissenschaften. Wissen-
schaftsphilosophie wird so zu einem interdisziplinären Fach, in dem spezia-
lisierte Philosophen und Forscher aus den Einzelwissenschaften gemeinsam
Fragen aus den Einzelwissenschaften bearbeiten. In dieser Perspektive ist
das Ziel der Wissenschaftsphilosophie nicht nur zu verstehen, was Wissen-
schaft ist und nach Möglichkeit den Wissenschaftsbetrieb methodologisch
zu verbessern. Vielmehr soll auch ein inhaltlicher Beitrag zu den einzelwis-
senschaftlichen Fragestellungen geliefert werden.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 137

Eine ähnliche Auffassung der Wissenschaftsphilosophie findet sich bei


dem Wissenschaftsphilosophen Hasok Chang. Changs These ist, dass Wis-
senschaftsgeschichte und Wissenschaftsphilosophie als Weiterführung der
Wissenschaft mit anderen Mitteln aufgefasst werden können (vgl. Chang
1999; 2004, Kapitel 6). Chang sieht die Wissenschaftsgeschichte und die
Wissenschaftsphilosophie als „Schattendisziplinen“ (ders. 1999, 413), die
im Hintergrund arbeitend „die spezialisierten Wissenschaften bei der Pro-
duktion von Wissen über die Natur ergänzen“ (ebd.; unsere Übersetzung).
Sie kommen bei der Beantwortung von Fragen ins Spiel, die die Einzelwis-
senschaften selbst nicht stellen (vgl. ebd. ff.; 2004, 236).
Dieser Position liegt die Idee zugrunde, dass keine Einzelwissenschaft
es sich leisten kann, alle Behauptungen in ihrem Wissensbereich in Frage
zu stellen, da es ja einige Grundprinzipien geben muss, die als feste und
unbezweifelbare Grundlagen für die alltägliche Forschungspraxis dienen
können (vgl. ders. 1999, 414; 2004, 237).9 Außerdem, so bemerkt Chang,
haben die Einzelwissenschaften nur eine beschränkte Arbeitskapazität.
Daher können sie nicht alle in ihrem Bereich relevanten Forschungsprob-
leme bearbeiten, sondern müssen Prioritäten setzen, indem einige Fragen
und Probleme ignoriert werden (vgl. ders. 2004, 237). Hier liegt nun eine
Aufgabe für die Wissenschaftsgeschichte und die Wissenschaftsphiloso-
phie: Sie können (und sollten) die Fragen aufgreifen, die die Einzelwissen-
schaften aus den genannten Gründen liegen lassen.10 Chang schreibt:

„Ich schlage vor, dass wir Wissenschaftsphilosophie als ein Arbeitsgebiet auf-
fassen, worin wir wissenschaftliche Fragen untersuchen, die gegenwärtig nicht
in den Einzelwissenschaften bearbeitet werden. Diese Fragen könnten von den
Wissenschaften angegangen werden, sie werden jedoch von ihnen ignoriert in
Folge der Notwendigkeit zur Spezialisierung.“ (ders. 1999, 415 f.; unsere Über-
setzung, Hervorhebung im Original).

9
Chang stützt seine Ideen hier auf die Arbeit des Wissenschaftshistorikers und -philo-
sophen Thomas Kuhn, der in seinem Buch Die Struktur wissenschaftlicher Revoluti-
onen (Kuhn 1970) schon darauf hingewiesen hatte, dass in einer Einzelwissenschaft
in Perioden der sog. Normalwissenschaft ein Paradigma als der unbezweifelte Hin-
tergrund für die Forschung angenommen wird. Siehe dazu auch Hoyningen-Huene
1993, 175–179.
10
Für Chang ist dies nur eine, aber nicht die einzige Aufgabe von Wissenschaftsge-
schichte und Wissenschaftsphilosophie. Die klassischen Aufgaben der Wissen-
schaftsphilosophie – zu verstehen, wie Wissenschaft funktioniert, und die Methodo-
logie der Wissenschaften zu analysieren und ggf. zu verbessern – bleiben nach wie
vor bestehen. Diese beiden Aufgabenbereiche nennt Chang „deskriptive“ und „par-
tizipative“ Wissenschaftsphilosophie (vgl. Chang 1999) und benutzt den Terminus
„partizipative Wissenschaftsphilosophie“ also in einer anderen Bedeutung, als wir
ihn hier gebrauchen.
138 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

In dieser Auffassung von Wissenschaftsphilosophie und Wissenschafts-


geschichte haben diese Bereiche der Geisteswissenschaften den Anspruch,
positives Wissen über die Welt liefern zu können (vgl. ebd., 415; 2004,
237).11 Philosophen können in ihrer Arbeitspraxis in zweierlei Weisen
versuchen, diesen Anspruch zu realisieren: einmal dadurch, dass sie Dinge
in Frage stellen, die in den Einzelwissenschaften nicht hinterfragt werden
(indem sie die Paradigmen der Einzelwissenschaften analysieren) und da-
durch, dass sie neue wissenschaftliche Fragen für die Einzelwissenschaften
identifizieren und diese aufgreifen, bevor sie ggf. von den Einzelwissen-
schaften aufgegriffen werden (vgl. ders. 1999, 417).
Obwohl Hanssons und Changs Charakterisierungen der Wissenschafts-
philosophie in ihren Details unterschiedlich sind, stimmen doch beide darin
überein, dass die Wissenschaftsphilosophie gewissermaßen eine Fortset-
zung der Einzelwissenschaften ist und demnach am wissenschaftlichen
Wissensproduktionsprozess teilnimmt. Diese Auffassung der Philosophie
als interdisziplinäres und ggf. partizipatives Unternehmen, das sich sowohl
mit wissenschaftlichen als auch mit philosophischen Fragen befasst, ist
nicht gänzlich neu. So meinte z. B. der Philosoph W. v. O. Quine schon vor
etwa 40 Jahren, dass „Philosophie nicht als a priori Propädeutik oder Fun-
dierung der Wissenschaft [gesehen werden soll], sondern als kontinuierlich
mit der Wissenschaft. Ich sehe Philosophie und Wissenschaft als im selben
Boot sitzend.“ (Quine 1969, 126; unsere Übersetzung). Zwar umfasst Qui-
nes Auffassung der Wissenschaftsphilosophie nicht die Idee, dass Philoso-
phen sich aktiv an der Wissensproduktion in den Einzelwissenschaften
beteiligen, doch sieht er die Philosophie ebenfalls nicht als gänzlich außer-
halb des Wissenschaftsbetriebs stehend und die Wissenschaften aus der
Außenperspektive beobachtend. Vielmehr gibt es nach Quine keine klare
Abgrenzung zwischen Philosophie und Wissenschaft; beide Bereiche sind
mit dem gleichen Ziel beschäftigt, nämlich Wissen über die Welt zu erzeu-
gen. Auch schon wesentlich früher finden sich in der Philosophiegeschich-
te ähnliche Ideen, z. B. in einem vergleichsweise unbekannten Artikel im
prominenten Journal of Philosophy aus dem Jahre 1921:

„Die wahre philosophische Fakultät der Universität der Zukunft wird […] die
Gruppe von philosophisch denkenden Männern in allen Fachbereichen sein,
die, jeder auf seine Weise, über die ultimativen Fragen nachdenken. […] Das
philosophische Institut sollte für den gesamten Lehrkörper die Sammelstelle
sein für die verschiedenen Theorien und Probleme, die in den verschiedenen

11
Es ist jedoch fraglich, ob die Philosophie positives Wissen über die Welt liefern
kann und es überhaupt ein Ziel der Philosophie sein kann, solches Wissen bereitzu-
stellen. Siehe dazu den letzten Abschnitt unseres Beitrags.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 139

Forschungsbereichen der Universität aufkommen.“ (Brown 1921, 679 f.; unse-


re Übersetzung).12

Die gegenwärtige Philosophie der Biologie ist ein gutes Beispiel für inter-
disziplinäre Wissenschaftsphilosophie, wie sie die genannten Autoren an-
visieren. Zwar fassen manche Philosophen der Biologie ihr Fach in der
traditionellen Weise auf als ausgerichtet auf „Fragen, die aus der biologi-
schen Wissenschaft hervorgehen, aber die Biologie selbst (noch) nicht
beantworten kann, sowie auf Fragen, die sich darauf beziehen, weshalb die
Biologie eigentlich nicht in der Lage ist, diese ersteren Fragen zu beant-
worten“ (Rosenberg/McShea 2008, 3; unsere Übersetzung). Jedoch sind
auch viele Philosophen der Biologie der Meinung, dass ihr Fach sich ein
ambitionierteres Ziel setzen sollte. Zum einen könnte die Philosophie der
Biologie z. B. versuchen, Biologen dabei zu helfen, ihre Fragestellungen
schärfer zu formulieren, indem sie die genaue Bedeutung der in diesen
Fragen zentralen Begriffe klärt. Zum anderen könnte neben dem Ziel, zur
Klärung spezifisch biologischer Fragen beizutragen, die Philosophie der
Biologie sich als Ziel setzen, einen Beitrag zur Klärung klassischer Fragen
der Philosophie zu leisten, nämlich indem sie relevante Erkenntnissen aus
der biologischen Wissenschaft aufgreift und auf philosophische Probleme
anwendet (vgl. Pradeu 2011). Die Philosophie der Biologie könnte in die-
ser Weise eine vermittelnde Rolle zwischen der Philosophie und den bio-
logischen Wissenschaften spielen. Sie würde ein Arbeitsbereich sein, in
dem Philosophen und Biologen gemeinsam versuchen, sowohl spezifisch
biologische Fragen als auch klassische Fragen der Philosophie zu klären.
Sie könnte so Ergebnisse erzielen, die Philosophen oder Biologen im Al-
leingang nicht erreichen könnten.
In den vergangenen vier Jahrzehnten hat sich die Philosophie der Bio-
logie genau in dieser Richtung entwickelt. In einem Übersichtsartikel aus
dem Jahre 1969 bemängelte der Philosoph der Biologie David Hull den
damaligen Stand der Forschung in seinem Fachgebiet wie folgt:

„Was die Philosophie der Biologie nicht ist? Es muss zugegeben werden, dass
bis jetzt weder sie besonders relevant für die Biologie, noch die Biologie be-
sonders relevant für sie ist.“ (Hull 1969, 179; unsere Übersetzung).

12
Der Autor des Artikels, William Adams Brown, war Professor für systematische
Theologie am Union Theological Seminary, New York City. Obwohl Brown weder
eine prominente Persönlichkeit in der Philosophiegeschichte ist noch gegenwärtig
diskutiert wird, haben wir dieses Zitat aufgenommen, da es den Gedanken, dass die
Philosophie gewissermaßen eine Fortsetzung der Einzelwissenschaften ist und sich
daher als interdisziplinäres Unternehmen auffassen soll, klar darstellt.
140 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

Hull wies darauf hin, dass Philosophen der Biologie bislang ihre Möglich-
keiten, biologisches Wissen in philosophische Diskussionen einzubringen
und umgekehrt durch philosophische Arbeit einen Beitrag zur Lösung
biologischer Probleme zu liefern, kaum wahrgenommen haben und dass
sich diese Situation baldmöglichst ändern sollte (vgl. auch ders. 1998,
77 ff.). In späteren Übersichtsartikeln vermerkt Hull (ders. 1998; 2002)
jedoch eine deutliche Veränderung im Arbeitsmodus der Philosophie der
Biologie: Professionelle Philosophen und professionelle Biologen haben
angefangen, mehr und mehr zusammenzuarbeiten: Kooperation zwischen
den beiden Fachgebieten ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Entspre-
chend findet man mittlerweile regelmäßig Veröffentlichungen auf dem
Gebiet der Philosophie der Biologie und der Biologie selbst, die von Philo-
sophen und Biologen gemeinsam verfasst worden sind.13

IV. Schlussbetrachtung: Philosophie als fragende Wissenschaft

Im Vorangegangenen haben wir einige in der einschlägigen Literatur ver-


tretene Positionen betrachtet, die darlegen, wie die Philosophie (und insbe-
sondere die Wissenschaftsphilosophie) ihr Verhältnis zu den Einzelwissen-
schaften auffassen kann bzw. soll und was dieses Verhältnis für die
philosophische Arbeit bedeuten kann. Wie wir gesehen haben, werden die
Leitfragen dieses Bandes – Warum soll eigentlich überhaupt philosophiert
werden? Aus welchen Gründen, mit welchen Zielen und Absichten wird
Philosophie denn überhaupt betrieben? – mit Blick auf die Wissenschafts-
philosophie von den behandelten Autoren unterschiedlich beantwortet.
Zwei allgemeine Positionen sind in diesem Kontext vorgestellt wor-
den: Einige Autoren sehen als primäres Ziel der Wissenschaftsphilosophie
die Bewertung und, wenn möglich, die Verbesserung der wissenschaftli-
chen Forschungspraxis. Aus dieser Perspektive ist die pauschale Antwort
auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um „uns [zu] helfen,
Wissenschaft zu betreiben“ (Wimsatt 2007, 26; unsere Übersetzung). Wir
nennen diese Position „normative Wissenschaftsphilosophie“. Andere
Autoren haben ein ambitionierteres Ziel: Ihrer Meinung nach sollte die
Wissenschaftsphilosophie ebenfalls anstreben, wissenschaftliches Wissen
zu produzieren. Die Wissenschaftsphilosophie wird hier zu einem interdis-
ziplinären Unternehmen und der Wissenschaftsphilosoph zu einem For-

13
Einige Beispiele sind: Kummer/Dasser/Hoyningen-Huene 1990, Griffiths/Gray
1994, Sober/Wilson 1994; 1998, Ariew/Lewontin 2004, Reydon/Hemerik 2005,
Rosenberg/McShea 2008, Assis/Brigandt 2009.
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 141

scher, der selbst am Wissensproduktionsprozess der Einzelwissenschaften


teilnimmt und diesen Prozess in den Bereichen weiter fortsetzt, wo die
Einzelwissenschaften selbst nicht auftreten. Aus dieser Perspektive ist die
pauschale Antwort auf die Frage Warum Wissenschaftsphilosophie?: Um
„wissenschaftliche Fragen [zu] untersuchen, die gegenwärtig nicht in den
Einzelwissenschaften bearbeitet werden.“ (Chang 1999, 415 f). Wir haben
diese Position „partizipative Wissenschaftsphilosophie“ genannt.
Abschließend möchten wir unsere eigene Auffassung des Unterneh-
mens Philosophie vorstellen und mit diesen beiden allgemeinen Positionen
kontrastieren. In unserem Verständnis besteht der hauptsächliche Kontrast
zwischen Philosophie und Einzelwissenschaften darin, dass die Einzelwis-
senschaften primär positives Wissen hervorbringen wollen, während die
Philosophie primär Dinge in Frage stellt, vor allem bislang unbefragte
Selbstverständlichkeiten. Hier fünf Erläuterungen und Konsequenzen die-
ses Verständnisses von Philosophie.
(1) Mit dem Wort „primär“ in dieser Charakterisierung soll ausge-
drückt werden, dass der angesprochene Kontrast zwischen Einzelwissen-
schaften und Philosophie keineswegs als eine harte Dichotomie zu verste-
hen ist. Natürlich werden auch in den Wissenschaften Dinge in Frage
gestellt (in den Naturwissenschaften sehr tief gehend vor allem in wissen-
schaftlichen Krisenzeiten), und natürlich wird in der Philosophie auch
versucht, auf fragwürdig gewordene Selbstverständlichkeiten positiv zu
reagieren und positive Antworten zu formulieren. So wurden in der Entste-
hungszeit der Quantenmechanik einige Grundannahmen der klassischen
Physik in Frage gestellt, und dies wurde keineswegs als eine nicht mehr
der Physik zugehörige Tätigkeit empfunden. Aber es wird auch gesagt,
dass die Physik in dieser Zeit sehr „philosophisch“ wurde, eben weil be-
stimmte Grundannahmen in Frage gestellt wurden, deren Kritik den weite-
ren wissenschaftlichen Fortschritt erst möglich gemacht haben. Umgekehrt
gibt es durchaus philosophische Traditionen, in denen vor allem positive
Antworten auf gegebene Fragen gesucht werden. Typischerweise entstehen
solche Traditionen, nachdem eine bestimmte neuartige Frage entdeckt
worden ist, und die Antworten auf diese Frage sich als ihrerseits problema-
tisch herausstellen. Beispiele könnten die Transzendentalphilosophie oder
die Tradition des Utilitarismus sein. Erreichen solche Traditionen einiger-
maßen stabile Konsense, so kann philosophische Routinetätigkeit oder
auch eine neue Einzelwissenschaft entstehen, deren Frage- und Antwort-
richtung einigermaßen stabil ist.
(2) Selbstverständlichkeiten in Frage zu stellen kann in verschiedenen
Graden von Radikalität geschehen. Eine seit dem platonischen Sokrates
wohlbekannte Art der typisch philosophischen Infragestellung von etwas
Selbstverständlichem ist die Frage: „Was ist eigentlich X?“, wenn das X
142 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

ein Begriff oder ein Sachverhalt ist, der eigentlich wohlbekannt und ver-
traut ist. So war die analytische Wissenschaftstheorie beispielsweise lange
mit der Frage beschäftigt, was eigentlich eine wissenschaftliche Erklärung
ist. Natürlich gehört das Geben wissenschaftlicher Erklärungen zum Alltag
der Wissenschaften, aber die Frage nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung eigentlich ist, bricht aus diesem Alltag aus, indem sie etwas in
Frage stellt, was in diesem Alltag als verstanden und geläufig vorausge-
setzt wird. Grob gesprochen sind philosophische Fragen nun um so radika-
ler, je größer und gewichtiger der in Frage gestellte Bereich ist. So ist etwa
die Frage nach der Wissenschaftlichkeit des wissenschaftlichen Wissens
eine radikalere Fragestellung als die nach dem, was eine wissenschaftliche
Erklärung ist, weil die letztere Frage in ersterer enthalten ist. Noch radika-
ler ist beispielsweise die Frage nach der Möglichkeit von Wissen über-
haupt, und vielleicht noch radikaler die kritische Frage nach der Existenz
oder Existenzweise von Gegenständen (die möglicherweise Objekte des
Wissens werden können).
Akzeptiert man die verschiedenen Grade von Radikalität philosophi-
scher Fragen, so ergibt sich eine Konsequenz für die philosophische Aus-
einandersetzung. In einer potentiell fruchtbaren philosophischen Ausei-
nandersetzung müssen sich die Gesprächspartner des angestrebten Niveaus
der philosophischen Radikalität bewusst sein und es explizit machen, weil
sonst die eine Partei möglicherweise etwas stillschweigend als unproble-
matisch voraussetzt, was die andere Partei gerade in Frage stellt. Unter
diesen Umständen müssen die Gesprächspartner aneinander vorbeireden.
(3) Die typisch philosophische Infragestellung etwa eines Begriffs oder
eines (vermeintlichen) Sachverhalts kann grundsätzlich zwei verschiedene
Ergebnisse haben. Sie kann einmal zu einer Klärung des entsprechenden
Begriffs oder Sachverhalts führen, so dass man ein tieferes Verständnis des
Begriffs oder des Sachverhalts gewinnt. Sie kann aber auch zu einer De-
struktion des Begriffs bzw. Sachverhalts führen, weil sich bei der genaue-
ren Nachfrage die entsprechende Sache als unhaltbar herausstellt. So stell-
ten sich beispielsweise für Kant sowohl die rationalistische als auch die
empiristische Tradition als unhaltbar heraus. Als Beispiel einer ziemlich
erfolgreichen philosophischen Klärung kann der Begriff der logischen
Folgerung dienen. Diese Klärung war so erfolgreich, das die daraus entste-
henden Konsense die Bildung der Logik als einer eigenständigen wissen-
schaftlichen (mathematischen) Disziplin ermöglicht haben.
(4) Für die Philosophie ergibt sich eine grundsätzlich andere Konzeption
von Fortschritt als für die Einzelwissenschaften. Für die Einzelwissenschaf-
ten ist der Fortschritt primär an die Zunahme positiven Wissens gebunden.
Wie genau diese Zunahme zu charakterisieren ist, ob man hier in einem
strengen Sinn von Wissen sprechen kann u. ä., dies sind ihrerseits schwierige
Philosophie und ihr Verhältnis zu den Einzelwissenschaften 143

(philosophische!) Fragen. Nichtsdestotrotz besteht ein Kontrast zu einer


Konzeption von Fortschritt in der Philosophie, bei der der Fortschritt in der
Entdeckung immer tiefer gehender Fragen besteht. Als „tiefer gehend“ kann
man insbesondere Fragen bezeichnen, die bislang unbemerkte Präsupposi-
tionen früherer Fragen bzw. ihrer Antworten aufdecken und fraglich ma-
chen. So ließe sich die Entwicklung der abendländischen theoretischen Phi-
losophie stark vergröbert so zusammenfassen: Sie beginnt mit der Frage
nach der Natur der Dinge in Antike und Mittelalter. In der Neuzeit entdeckt
die Reflexion, dass uns diese Natur der Dinge allenfalls im Medium des
Bewusstseins zugänglich ist. Schließlich wird im 20. Jahrhundert deutlich,
dass eine solche Reflexion immer schon im Medium der Sprache stattfindet.
(5) Die unterschiedlichen Schwerpunkte von Einzelwissenschaften und
Philosophie hinsichtlich des primären Gegenstands des Fortschritts impli-
ziert ein unterschiedliches Verhältnis von Philosophie und Einzelwissen-
schaften zum Konsens. In Bezug auf akzeptables positives Wissen, wie es
die Einzelwissenschaften primär anstreben, muss sich ein (temporärer)
Konsens einstellen können, jedenfalls im Idealfall. Wissenschaft ist allen-
falls dann zum Ziel gekommen, wenn ein begründeter (temporärer) Kon-
sens erzielt worden ist. Anders in der Philosophie. Bezüglich akzeptabler
Fragen ist eine Konsenserzielung kein Qualitätskriterium, weil es unter-
schiedliche Frageperspektiven geben kann, die sich nicht notwendigerweise
gegenseitig ihre Legitimität streitig machen (das schließt aber tatsächlich
konkurrierende Fragestellungen nicht aus, etwa wenn eine philosophische
Frage die Präsuppositionen einer anderen philosophischen Frage problema-
tisiert). Infolgedessen ist in der Philosophie der ständige und tiefe Dissens
eine zu akzeptierende Begleiterscheinung, der nicht etwa eine Defizienz der
Philosophie anzeigt.
Dieses allgemeine Verständnis von Philosophie erlaubt nun auch, un-
ser Verständnis des Verhältnisses der Wissenschaftsphilosophie zu den
Wissenschaften darzulegen. Allgemein kann gesagt werden, dass die Wis-
senschaftsphilosophie Selbstverständlichkeiten der Wissenschaften im
oben erläuterten Sinne in Frage stellt. Dies bedeutet, dass die Wissen-
schaftsphilosophie selbst weder positives Wissen darüber, wie die Einzel-
wissenschaften besser funktionieren könnten, noch positives Wissen über
die Welt hervorbringt – d. h., die Wissenschaftsphilosophie trägt nicht im
positiven Sinne zur Realisierung der Ziele der „normativen Wissenschafts-
philosophie“ und der „partizipativen Wissenschaftsphilosophie“ bei. Sie
kann jedoch durchaus auf indirekte Weise zur Realisierung dieser Ziele
beitragen: Dadurch, dass sie weit verbreitete Vorgehensweisen und Me-
thodiken der Einzelwissenschaften in Frage stellt, kann die Wissenschafts-
philosophie methodologische Probleme aufdecken und – ohne im positiven
Sinne Richtlinien für die Einzelwissenschaften zu formulieren – uns „hel-
144 Thomas A.C. Reydon, Paul Hoyningen-Huene

fen Fehlerquellen zu finden und zu vermeiden“ (Wimsatt 2007, 26; unsere


Übersetzung). In der gleichen Weise kann die Wissenschaftsphilosophie
theoretische Probleme, wie z. B. begriffliche Unklarheiten, Inkonsistenzen
innerhalb von Theorien usw., in den Einzelwissenschaften aufdecken und
so zum theoretischen Fortschritt in den Einzelwissenschaften beitragen.
Es sollte daher auch nicht überraschen, dass die Philosophien der ver-
schiedenen Einzelwissenschaften und die theoretische Bereiche dieser Wis-
senschaften tatsächlich oftmals nicht deutlich von einander getrennt sind
(oder getrennt werden sollten!). So veröffentlichen Fachzeitschriften für
theoretische Physik oder theoretische Biologie nicht selten Beiträge, die
stark philosophischer Natur sind. Umgekehrt finden sich in den prominen-
ten Fachzeitschriften in der Wissenschaftsphilosophie, wie Philosophy of
Science, Studies in History and Philosophy of Modern Physics oder Biology
and Philosophy, regelmäßig Beiträge, die sich genauso gut unter theoreti-
sche Physik oder theoretische Biologie einordnen ließen wie unter Philoso-
phie der Physik oder Philosophie der Biologie. Zwischen der Philosophie
der Einzelwissenschaften und den entsprechenden theoretischen Teilen der
Wissenschaft besteht ein gleitender Übergang: Beide Arten von Unterneh-
men sind darauf gerichtet, unser theoretisches Verständnis der Welt zu
vertiefen. Worin sich Philosophie und Wissenschaft unterscheiden, ist der
Modus, in dem gearbeitet wird: Während theoretische Wissenschaft ver-
sucht, positives Wissen hervorzubringen, stellt die Philosophie dieses Wis-
sen in Frage und versucht, durch ihre kritische Betrachtung der einzelwis-
senschaftlichen Ergebnisse die Einzelwissenschaften zu motivieren, das
vorhandene Wissen zu verbessern.

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Philosophie und Wissenschaftstheorie

Rainer Enskat

I.

Das Thema der Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschaftsthe-


orie beschäftigt Philosophen und Wissenschaftstheoretiker seit dem ersten
Drittel des 20. Jahrhunderts. Die Anlässe für diese Beschäftigung waren
unterschiedlicher Art. Der Anlaß konnte dogmatische und trotzdem fried-
liche Züge zeigen wie im Fall des Satzes 6.53 der Logisch-philosophischen
Abhandlung des jungen Wittgenstein von 1921: „Die richtige Methode der
Philosophie wäre eigentlich die: Nichts zu sagen, als was sich sagen lässt,
also Sätze der Naturwissenschaft – also etwas, was mit Philosophie nichts
zu tun hat“ (Wittgenstein 1960, 82). Der Anlass für die Beschäftigung mit
dem Thema konnte aber bekanntlich auch dogmatische und kämpferische
Züge zeigen wie im Fall der berühmt-berüchtigten Aufsätze des jungen
Rudolf Carnap über Scheinprobleme in der Philosophie von 1928 und über
Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache von
1931/32 (vgl. Carnap 1928a bzw. 1931/32, 219–241).
Allerdings hat es auch in der seit damals schon länger dauernden Zeit
der ausgereifteren Beziehungen zwischen Philosophie und Wissenschafts-
theorie immer wieder einmal den einen oder anderen Bilderstürmer gege-
ben. Diese Bilderstürmer haben die Ziele der Jugend der Wissenschaftsthe-
orie wiederzubeleben gesucht – allerdings mit den im Laufe der Jahrzehnte
immer komplexer und leistungsfähiger gewordenen Methoden. Der promi-
nenteste Bilderstürmer dieses extravaganten, wenngleich gelassen gewor-
denen Typs ist bekanntlich Quine. Das von Quine am eindrucksvollsten
wiederbelebte Dogma aus der Jugend der Wissenschaftstheorie lautet in
Quines Formulierung: „Philosophy of science is philosophy enough“ (Qui-
ne 1966, 149). Diese Philosophie der Wissenschaft trägt bei Quine bekannt-
lich den altehrwürdigen Namen der Ontologie. Bei dieser Ontologie mit
ihrem philosophischen Suffizienzanspruch handelt es sich nicht um eine
abgeschlossene Theorie, auch nicht um eine in ihren Grundzügen abge-
schlossene Theorie, sondern um ein Forschungsprogramm. Dieses For-
schungsprogramm sieht vor, die Sätze, in denen wissenschaftliche Theorien
formuliert werden, mit einem einzigen Ziel zu analysieren: Es sollen die
148 Rainer Enskat

Existenzvoraussetzungen ans Licht gebracht werden, mit denen im Rahmen


von wissenschaftlichen Theorien gearbeitet wird. Im Licht des Leitkriteri-
ums dieses Forschungsprogramms existiert allerdings alles und nur das,
was sich als Referenzobjekt von unverzichtbaren gebundenen Variablen in
quantorenlogisch formalisierten Sätzen wissenschaftlicher Theorien rekon-
struieren lässt. Unverzichtbar sind dabei diejenigen gebundenen Variablen,
deren Referenzobjekte die Inhalte derjenigen Existenzvoraussetzungen
einer Theorie sind, ohne die die Sätze nicht wahr sind, durch die diese The-
orie dokumentiert wird. Es ist daher nach Quines Auffassung nicht nur
einfach die Wissenschaftsphilosophie, was genug Philosophie ist. Es ist die
logische Spurensuche nach den Referenzobjekten solcher gebundenen Va-
riablen, was nach dieser Auffassung den Königsweg zu einer auf Wissen-
schaftsphilosophie eingeschränkten Philosophie bietet.
Es liegt auf der Hand, dass diese Auffassung nicht nur von Philoso-
phie, sondern auch von Wissenschaftsphilosophie in einem Maße eng ist,
das man mit guten Gründen wahlweise extrem oder bizarr oder grotesk
finden kann. Dabei braucht man nicht zu übersehen, dass man innerhalb
der extrem engen methodischen und thematischen Grenzen dieser Konzep-
tion nicht nur mit großer Strenge, sondern auch mit großer Fruchtbarkeit
arbeiten kann und auch schon seit mehreren Jahrzehnten gearbeitet hat.
Logik und Sinnesphysiologie, Linguistik und Mengentheorie sind die
wichtigsten Hilfsdisziplinen dieser Philosophie. Doch mancher verbindet
so große Begabung und so große Leidenschaft für eine neue methodische
Einstellung und für das zu ihr passende Themenfeld, dass er sich durch die
zunehmenden Erfolge seiner Arbeit allzu sehr von seiner Methodenkultur
und seiner thematischen Orientierung gefangen nehmen lässt. Schließlich
verwechselt er sie mit dem Königsweg der Philosophie. Quines vermeintli-
cher Königsweg ist zwar alles andere als ein philosophischer Holzweg.
Aber sein philosophischer Suffizienzanspruch verrät einen Mangel an phi-
losophischer Urteilskraft, wie er schwerlich überboten werden kann.

II.

Im Vergleich mit der Spannweite der Problemstellungen und mit der Tie-
fenschärfe der Problembehandlung, die sich in Deutschland in repräsenta-
tiver Weise in Wolfgang Stegmüllers monumentalem Werk Probleme und
Resultate der Analytischen Philosophie und Wissenschaftstheorie (vgl.
Stegmüller, 1969 ff.) zeigen, mutet das Werk Quines mit seinem philoso-
phischen Suffizienzanspruch – und zwar ganz unbeschadet seiner internen
Strenge und Fruchtbarkeit – wie eine exotische Pflanze an, die zwar in
ihrer natürlichen Umgebung schon längst ausgestorben wäre, aber in einem
Philosophie und Wissenschaftstheorie 149

arbeitsteilig und spezialistisch organisierten Treibhaus sogar auf unabseh-


bare Zeit immer wieder aufschlussreiche Früchte tragen kann.
Doch um was für eine Art von natürlicher Umgebung handelt es sich ei-
gentlich bei der Umgebung, in der die Beziehungen zwischen Philosophie
und Wissenschaftstheorie entweder gedeihen oder verkümmern, blühen oder
verwelken? Diese Umgebung bildet nach wie vor eine praktische Lebens-
welt, die seit dem Beginn der Industriellen Revolution im 18. Jahrhundert
von der Dynamik des wissenschaftlich-technischen Fortschritts in exponen-
tiellen Maßen durchdrungen wird. Aus dieser praktischen Lebenswelt stam-
men die Fragen, die sich erkundigen, wie der staunenerregende, endlos
scheinende Fortschritt von Wissenschaft und Technik möglich ist. Aus die-
ser praktischen Lebenswelt stammen aber auch die Fragen, die sich danach
erkundigen, wie sich Philosophie und Wissenschaftstheorie dafür rechtferti-
gen können, dass sie die öffentlichen Mittel in Anspruch nehmen, mit deren
Hilfe ihre Arbeit an diesen Fragen weltweit alimentiert wird. Was haben
Philosophie und Wissenschaftstheorie zur Beantwortung solcher Fragen –
und damit zur Rechtfertigung dieser Alimentierung – bisher beigetragen?
Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Kinder des wissenschaftlich-
technischen Zeitalters anfangen würden, in gezielter Weise dem Bedürfnis
gerecht zu werden, das Unternehmen namens Wissenschaft, das diese Art
von Fortschritt hervorbringt, gezielt zum Thema von Untersuchungen sei-
ner Fortschrittsbedingungen zu machen. Das früheste wissenschaftstheore-
tische Zeugnis dieses Typs von Untersuchungen, das mit wichtigen Grund-
zügen bis heute aktuell ist, liefert bekanntlich das Buch von Pierre Duhem
von 1906 über Ziel und Struktur physikalischer Theorien (vgl. Duhem
1998). In keinem anderen wissenschaftstheoretischen Werk mit vergleich-
barer Orientierung und mit vergleichbarem Format ist bis heute so oft di-
rekt oder indirekt vom Fortschritt der Physik oder vom Fortschritt der Wis-
senschaft die Rede. Dennoch hat Duhems Wissenschaftstheorie bis in die
sechziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts – also rund zwei Genera-
tionen lang – fast ganz im toten Winkel der Aufmerksamkeit der wissen-
schaftstheoretischen Tradition gestanden, die vor allem mit Rudolf Car-
naps Werk von 1928 Der logische Aufbau der Welt (vgl. Carnap 1928b)
und mit Karl Poppers Logik der Forschung von 1932/33 (vgl. Popper
1963) ins Leben gerufen worden war und mit Carl Hempels Sammelwerk
von 1965 Aspects of Scientific Explanation (vgl. Hempel 1970) an ein vor-
läufiges Ende gelangt war. Dabei dokumentiert Duhems Werk auf dem zu
seiner Zeit anspruchsvollsten Niveau den Anfang nicht nur der Tradition,
die empirischen Wissenschaften von der Metaphysik abzugrenzen, sondern
auch der Tradition, für die Wissenschaftstheorie die Kompetenz in An-
spruch zu nehmen, die Legitimität solcher Abgrenzungen zu beurteilen
(vgl. Duhem 1998, bes. 4 f.).
150 Rainer Enskat

III.
Ein einfaches, aber deswegen besonders instruktives Beispiel bildet Du-
hems Analyse von Descartes’ Forschungen zu den Phänomenen des Lichts.
Descartes’ Metaphysik des Lichts wird nach Duhems Kriterium von dessen
These über die instantane Ausbreitung des Lichts und von den Erörterun-
gen der Brechungsphänomene des Lichts gebildet, die er aus dieser Instan-
tanität zu erklären sucht. Die Demarkationslinie zwischen Metaphysik und
Physik kommt bei Duhem indessen dadurch im Fall von Descartes’ For-
schungen ans Licht, dass die Zuhilfenahme dieser Metaphysik weder hin-
reichend noch nötig ist, um das gesetzförmige Verhalten des Lichts beim
Übergang von einem Medium in ein anderes zu erklären (vgl. ebd., 40).
Man hat daher gelegentlich zu Recht darauf aufmerksam gemacht, dass
Duhems Theorie in diesem Punkt eine wichtige Form der Verwandtschaft
mit Poppers berühmtem Abgrenzungskriterium der empirischen Falsifi-
zierbarkeit zeigt (vgl. Schäfer, 1998, XVII* f.). Doch gerade deswegen ist
es umso wichtiger, auf die funktionalen Unterschiede dieser beiden Krite-
rien zu achten. Denn ihre Anwendung kann unter Umständen zu ganz ver-
schiedenen Grenzziehungen zwischen Physik und Metaphysik führen. Bei-
spielsweise im Fall von Descartes’ Theorie des Lichts erweist sich Poppers
Kriterium als liberaler als Duhems Kriterium. Denn die These Descartes’,
dass sich das Licht instantan fortpflanze, die nach Duhems Kriterium zur
Metaphysik gehört, ist empirisch überprüfbar und im Zuge der Entdeckung
der Endlichkeit der Lichtgeschwindigkeit durch den dänischen Physiker
Rømer im Sinne von Poppers Kriterium falsifiziert worden (vgl. Duhem
1998, 40). Dieser Teil von Descartes’ Lichttheorie gehört insofern durchaus
nicht zur Metaphysik, sondern zur empirisch arbeitenden Physik.
Daher ist es wichtig zu beachten, dass die Tragweite solcher Abgren-
zungskriterien gespalten ist. Denn mit jedem derartigen Kriterium ist nun
einmal der Anspruch auf eine Beurteilungskompetenz verbunden, in deren
Obhut diagnostiziert werden können soll, was Metaphysik und was empiri-
sche Wissenschaft ist und was nicht. Darüber hinaus wird aber auch der ganz
und gar nicht triviale Anspruch erhoben, dass es die Wissenschaftstheorie ist,
die im Besitz dieser Beurteilungskompetenz sei. Doch nichts wäre verfehl-
ter, als diesen Anspruch uneingeschränkt zu akzeptieren. In der Theorie der
empirischen Wissenschaften ist der Name der Metaphysik ein ganz und gar
nichtssagender Name für eine Residualkategorie von Sätzen, für deren Ana-
lyse sie sich aus systematischen Gründen nicht zu interessieren braucht.
Zwar gelangt die Wissenschaftstheorie in der Regel erst durch eine sorgfälti-
ge Mikroanalyse von paradigmatischen Sätzen zu dem Ergebnis, dass es sich
um nicht-empirische nicht-wissenschaftliche und insofern um metaphysi-
sche Sätze handele. Ihr analytisches Interesse widmet die Wissenschafts-
theorie den metaphysischen Sätzen indessen ausschließlich mit dem Ziel, die
Philosophie und Wissenschaftstheorie 151

Gründe zu klären, aus denen sie berechtigt ist, sich nicht weiter für sie zu
interessieren. Doch die einschlägigen Abgrenzungskriterien enthalten nicht
die geringsten Informationen oder sonstigen Orientierungshilfen, durch die
man irgendwelchen spezifischen Gründen auf die Spur kommen könnte, aus
denen man berechtigt sein könnte, solchen Sätzen und ihren nicht-empiri-
schen Begründungen das Interesse zu widmen, aus dem sie durch Metaphy-
siker erarbeitet werden. Die Wissenschaftstheorie ist von solchen spezifi-
schen Aspekten, Kriterien und Gründen leer und für solche Aspekte, Gründe
und Kriterien blind. Die Wissenschaftstheorie hat keine spezifische Beurtei-
lungskompetenz für die Metaphysik. Die Metaphysik hat daher aber auch
keinerlei ernstzunehmende Gründe, solche Abgrenzungskriterien uneinge-
schränkt zu akzeptieren. In der Regel wird sie durch ein solches Abgren-
zungskriterium auf eine unter mehreren möglichen empiristischen Selbst-
deutungen der empirischen Wissenschaft aufmerksam gemacht. Doch wie
die Geschichte der Wissenschaftstheorie gezeigt hat, sind diese Abgren-
zungskriterien – und damit der Status der empirischen Wissenschaft – nicht
weniger strittig als der Status der Metaphysik. Wenn die Metaphysik aus der
Geschichte der empiristischen Abgrenzungskriterien irgendetwas lernen
kann, dann allenfalls – aber immerhin – dies, dass sie gut beraten ist, wenn
sie sich um Kriterien zur Abgrenzung gegen die empirische Wissenschaft
mit demselben Maß an methodischer und formaler Sorgfalt und Strenge
bemüht wie sie inzwischen für die besten wissenschaftstheoretischen Bemü-
hungen um eine Klärung empiristischer Abgrenzungskriterien selbstver-
ständlich sind.

IV.
Indessen kann man an einem in doppelter Hinsicht anspruchsvollen und
dennoch relativ einfachen Beispiel erläutern, wie Wissenschaftstheorie und
Metaphysik sogar dann dazu verurteilt sind, aneinander vorbeizureden,
wenn die Wissenschaftstheorie auf ihrem höchsten Niveau die Metaphysik
auf deren höchstem Niveau ernstzunehmen versucht. Das Beispiel möge
der von Wolfgang Stegmüller 1967/68 unternommene Versuch abgeben,
Kants Metaphysik der Erfahrung einer rationalen Rekonstruktion zu unter-
ziehen (vgl. Stegmüller 1974, 1–61).1 Es gibt keine andere Arbeit eines

1
Ich lasse hier den naheliegenden Vorbehalt auf sich beruhen, dass Kant selbst diese
Theorie im Sinne seiner eigenen Disziplinensystematik gerade nicht als eine Meta-
physik auffasst, sondern als unentbehrlichen Teil einer kritischen Propädeutik zur
Metaphysik (vgl. Kant 1976, A 841, B 869). Diese Theorie ist nach Kants Kriterien
allenfalls in dem schwächeren und unspezifischen Sinne eine Metaphysik, dass
auch sie eine nicht-empirische, apriorische Theorie ist (vgl. ebd.).
152 Rainer Enskat

Wissenschaftstheoretikers vom Format Stegmüllers, die es an Ernsthaftig-


keit und Energie mit dieser rund sechzigseitigen Untersuchung aufnehmen
könnte. Doch warum ist dieser Versuch eines konstruktiven Gesprächs
zwischen Wissenschaftstheorie und Metaphysik trotzdem gescheitert?
Stegmüller nimmt verständlicherweise Kants wissenschaftstheoretisch
klingende Frage aus den Prolegomena ernst, wie reine Naturwissenschaft
möglich ist (vgl. Kant 1903, 49–87 bzw. Stegmüller 1974, 11 f.). Diese
Frage wird von Stegmüller mit der Leitfrage von Kants transzendentalphi-
losophischem Ansatz verflochten, wie synthetische Urteile a priori möglich
sind (vgl. ebd., 10 f.). Zu Recht macht Stegmüller darauf aufmerksam, dass
diese Frage mit der Existenzvoraussetzung verbunden ist, dass es syntheti-
sche Urteile a priori überhaupt gebe (vgl. ebd.). Diese Existenzvorausset-
zung wird von Stegmüller so spezialisiert, dass sie unmittelbar zu einer
Existenzhypothese der Theorie der Naturwissenschaften wird: Einige wah-
re naturwissenschaftliche Aussagen sind synthetische Sätze a priori (vgl.
ebd., 11). Für die Begründung solcher Sätze ist es charakteristisch, dass
formallogische Mittel dazu nicht ausreichen und empirische Methoden
dazu nicht nötig sind (vgl. ebd., 24 f.). Die beiden Musterbeispiele synthe-
tischer Sätze a priori, die für eine solche spezielle wissenschaftstheoreti-
sche Rekonstruktion von Kants Konzeption in Frage kommen, bilden das
sog. Kausalitätsprinzip und das sog. Substanzprinzip (vgl. ebd.). Der neu-
ralgische Hauptpunkt in Stegmüllers Rekonstruktion ist allerdings erst
erreicht, wenn Stegmüller behauptet, dass die fraglichen Prinzipien einen
Tatsachengehalt in dem Sinne haben, dass ihre sprachlichen Formulierun-
gen etwas über die reale Welt und deren Struktur behaupten – also z. B.
über ihre kausale Struktur – und damit jedenfalls auch etwas über jene
Dinge und Ereignisse, die auch die Gegenstände unserer Sinneswahrneh-
mungen und Beobachtungen bilden (vgl. ebd., 9 f., 39 f.). Die Formulie-
rungen, die Kant diesen beiden Prinzipien in der Kritik der reinen Vernunft
gegeben hat, scheinen diese Auffassung – man kann sie kurz als die onto-
logische Auffassung dieser beiden Prinzipien apostrophieren – zu bestäti-
gen. Das Substanzprinzip lautet in der Version der zweiten Auflage: „Bei
allem Wechsel der Erscheinungen beharrt die Substanz, und das Quantum
derselben wird in der Natur weder vermehrt noch vermindert“ (Kant 1976,
B 224). Das Kausalitätsprinzip lautet in der Version der ersten Auflage:
„Alles, was geschieht (anhebt zu sein) setzt etwas voraus, worauf es nach
einer Regel folgt“ (ebd., A 189).
Wenn man diese beiden Formulierungen aus verschiedenen Auflagen
zitiert, dann erleichtert dies die logische Vergleichbarkeit zwischen den
beiden Prinzipien. Denn ein nur wenig genauerer logischer Vergleich zwi-
schen den beiden Prinzipien fördert ein logisches Indiz zutage, das eine
ontologische Lesart stützt. Eine minimale logische Stilisierung der beiden
Philosophie und Wissenschaftstheorie 153

Formulierungen kann dieses Ontologie-Indiz sichtbar machen. Das Sub-


stanzprinzip erhält dann die Version: ‚Bei allem Wechsel der Erscheinun-
gen gibt es etwas bzw. existiert etwas, was beharrt und dessen Quantum
weder vermehrt noch vermindert wird‘; das Kausalitätsprinzip erhält dann
die Version: ‚Zu allem, was geschieht (anhebt zu sein), gibt es etwas bzw.
existiert etwas, worauf es nach einer Regel folgt‘. Es liegt auf der Hand,
dass es der in Kants Formulierungen lediglich nicht explizit gemachte
Existenz-Faktor ist, der das fragliche Ontologie-Indiz gleichsam in Rein-
kultur sichtbar macht. Dennoch ist dieser Existenz-Faktor nicht nur ein
schwaches, sondern ein unzuverlässiges und sogar irreführendes Ontolo-
gie-Indiz. Warum?
Kants buchtechnische Formulierungen der beiden Prinzipien sind sys-
tematisch ganz einfach unvollständig. Diese Unvollständigkeit beruht we-
der auf einem sachlichen noch auf einem methodischen Fehler Kants, son-
dern ist einer darstellungstechnischen Vereinfachung geschuldet. Kant hat
die Formulierungen und die Beweise der beiden Prinzipien mit einer sys-
tematischen, im präzisen Sinne transzendentalen Klausel unter dem Titel
„[Die] Analogien der Erfahrung“ (ebd., A 176, B 218) verflochten. Durch
diese Klausel stellt er klar, dass durch jedes dieser beiden Prinzipien genau
eine notwendige Bedingung der Möglichkeit der Erfahrung fixiert ist. Die
systematischen Volltexte der beiden Prinzipien lauten daher:
1. Erfahrung ist nur dann möglich, wenn es bei allem Wechsel der Er-
scheinungen etwas gibt bzw. wenn etwas existiert, was beharrt und
dessen Quantum weder vermehrt noch vermindert wird.
2. Erfahrung ist nur dann möglich, wenn es zu allem, was geschieht,
etwas gibt bzw. wenn etwas existiert, worauf es nach einer Regel folgt.
Damit ist klar, dass diese beiden Prinzipien im transzendentalen Rahmen
gerade nicht als ontologische Aussagen über Strukturen der realen Welt
formuliert werden. Ihre Volltexte lassen im Gegenteil sogar systematisch
offen, ob diese reale Welt kausal strukturiert ist oder nicht und ob sie eine
Substanz enthält oder nicht. Sie lassen vielmehr ausschließlich die Mög-
lichkeit des Menschen, Erfahrung zu machen, u. a. von der doppelten
notwendigen Bedingung abhängig sein, dass er in einer kausal und sub-
stantial strukturierten Welt lebt. Deswegen fallen die Begründungsstruktu-
ren dieser Prinzipien auch völlig anders aus als es der Fall sein müsste,
wenn sie allgemeine ontologische Prinzipien oder aber ontologische Prä-
missen der Physik wären. Es ist daher auch nur allzu verständlich, dass
Stegmüller mit Kants Rede von den Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahrung nicht das Geringste anfangen kann (vgl. Stegmüller 1974,
27 f.). Ob die von diesen beiden transzendentalen Prinzipien formulierten
Bedingungen der Substantialität und der Kausalität überdies in der realen
154 Rainer Enskat

Welt, in der wir leben und in der die Physik ihren Forschungen nachgeht,
erfüllt sind oder nicht, ist eine Frage, zu der die Transzendentalphiloso-
phie mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln grundsätzlich gar nicht
Stellung nehmen kann, weil es sich dabei um eine in methodischer Hin-
sicht rein empirische Frage handelt. Bei alledem bleibt bei Stegmüller der
Umstand gänzlich ausgeblendet, dass in Kants transzendentalen Erörte-
rungen noch einem ganz anderen Typus von Bedingungen der Möglich-
keit der Erfahrung eine zentrale Rolle zufällt – den kognitiven „(Fähigkei-
ten oder Vermögen), die die Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung
enthalten“ (Kant 1976, A 94).2
Kant hat also entgegen anders lautenden Einschätzungen eine Ontolo-
gie weder intendiert noch ausgearbeitet noch sich in eine Ontologie verirrt.
Er sieht vielmehr die Möglichkeit der Erfahrung – also die Möglichkeit,
etwas über eine von uns unabhängig existierende Welt zu lernen – u. a.
auch von den Bedingungen abhängen, dass diese Welt kausale Züge hat
und von etwas Beharrlichem durchdrungen ist. Doch damit zeigt sich, dass
der Versuch der Wissenschaftstheorie, mit einer ontologischen Fundamen-
talphilosophie Kants ins Gespräch zu kommen, schon vor dem Beginn
eines solchen Gesprächs zum Scheitern verurteilt ist, weil es eine solche
ontologische Fundamentalphilosophie Kants nicht gibt. Es ist angesichts
dieses Versuchs von Stegmüller, Kants nicht-ontologische Transzendental-
philosophie in eine ontologische Wissenschaftsphilosophie zu transformie-
ren, allerdings auch nicht sonderlich überraschend, dass Quine mit seiner
ontologisch orientierten Konzeption einer auf Wissenschaftsphilosophie
eingeschränkten Philosophie der Autor ist, auf dessen Arbeiten Stegmüller
in dieser Abhandlung am häufigsten Bezug nimmt.

V.

Ihre produktivste Lektion konnte die Wissenschaftstheorie in ihrer An-


fangsphase indessen auf ihrem ureigensten Forschungsfeld lernen. Sie
lernte einzusehen, dass sie ihr wichtigstes Ziel – die Klärung der Fort-
schrittsbedingungen der Wissenschaft – nur dann würde erreichen können,
wenn sie sich in einer ersten Phase ihrer Arbeit mit einer rigorosen metho-
dischen Selbstbeschränkung bescheidet. Die Analyse dieser Bedingungen
musste so lange warten, bis man in der Lage war, ein hinreichend differen-
ziertes Bild von der Binnenstruktur der Resultate wissenschaftlicher Arbeit

2
Vgl. hierzu zuletzt den eindringlichen und erhellenden Kommentar von Wolfgang
Carl (vgl. Carl 1992).
Philosophie und Wissenschaftstheorie 155

zu entwerfen – also von den Begriffen, den Sätzen, den Satzgefügen und
den Theorien, zu denen Wissenschaftler durch ihre Arbeit gelangen. Da der
wissenschaftliche Fortschritt stets ein Schritt ist – abgesehen von den un-
zähligen Zwischenritten, die ihm vorangehen und zu ihm beitragen –,
durch den man über eine schon zur Verfügung stehende bewährte Theorie
hinausgeht und zu einer neuen, noch leistungsfähigeren Theorie gelangt,
musste man zunächst lernen, die Binnenstrukturen solcher Theorien so zu
analysieren, dass man in jedem konkreten Einzelfall zuverlässig alle Kom-
ponenten identifizieren kann, die einerseits in der alten Theorie für eine
Überwindung durch den Fortschritt in Frage kommen und die andererseits
in der neuen Theorie in der umgekehrten Richtung für diese Überwindung
in Frage kommen. Um also Theorienvergleiche durchführen zu können,
wenn man wenigstens paradigmatische Fortschrittsbedingungen analysie-
ren wollte, musste man Vergleichsstandards erarbeiten. Diese Standards
mussten aber auch so ausfallen, dass sie invariant gegenüber beliebig ver-
schiedenen konkreten in der Geschichte der Wissenschaften erarbeiteten
Theorien sind. Und für die Erarbeitung solcher invarianten Standards er-
öffnete ebenso offensichtlich weder die Metaphysik noch irgendeine ande-
re Spezialdisziplin der Philosophie, sondern ausschließlich eine rein forma-
le Disziplin, also die Formale Logik einen aussichtsreichen Weg.
Man macht sich inzwischen kaum noch klar, mit welcher völligen Hilf-
losigkeit die Philosophie – aber eben auch noch Wissenschaftstheoretiker
wie Duhem – in dieser Situation vor der Aufgabe standen, einen neutralen
Analyse- und Beurteilungsstandard für die Binnenstruktur wissenschaftli-
cher Theorien zu entwickeln. Denn wie man inzwischen längst weiß, ist an
der wichtigsten Leistung einer wissenschaftlichen Theorie, an der Erklä-
rung von individuellen Erfahrungstatsachen mit Hilfe eines Gesetzes je-
denfalls auch eine Ableitung im strengen und engen Sinne des logischen
Folgerungsbegriffs beteiligt. Doch gerade diese logische Teilstruktur einer
jeden derartigen Erklärung war für alle Wissenschaftler und Wissen-
schaftstheoretiker bis ins erste Drittel des zwanzigsten Jahrhunderts ein
undurchdringliches Rätsel. Denn keines der logischen Systeme oder Quasi-
Systeme, die seit der Aristotelischen Syllogistik bis ins letzte Drittel des
neunzehnten Jahrhunderts entwickelt worden waren, bot Kriterien und
Methoden an, mit deren Hilfe sich diese elementare logische Teilstruktur
befriedigend hätte durchsichtig machen lassen. Dies ist bekanntlich erst
möglich geworden, seit es Gottlob Frege ab dem letzten Drittel des neun-
zehnten Jahrhunderts mit Hilfe einer Vielzahl von ingeniösen formalen
Einsichten und Kunstgriffen gelungen war, der Formalen Logik und ihren
Anwendungen ein völlig neues und buchstäblich unerschöpfliches For-
schungsfeld zu eröffnen. Von hier aus wurde die logische Transparenz von
Erklärungen einzelner Erfahrungstatsachen aus empirisch bewährten uni-
156 Rainer Enskat

versellen Sätzen zum unscheinbaren Ausgangspunkt für die bis in die


sechziger Jahre hoch entwickelte Theorie wissenschaftlicher Erklärungen.
Der Preis, den die Wissenschaftstheorie auf ihrem Weg dahin für ihren
vorläufigen Verzicht auf die Ausarbeitung einer Theorie des wissenschaft-
lichen Fortschritts entrichten musste, war empfindlich. Denn die Bedin-
gungen dieses Fortschritts schienen in demselben Maß undurchsichtiger zu
werden, in dem die von Frege begründete moderne Formale Logik Metho-
den und Instrumente entwickelte, mit deren Hilfe man Licht in die lehr-
buchreifen Gestalten wissenschaftlicher Theorien bringen konnte. Die
logischen Binnenstrukturen solcher Theorien erwiesen sich im Licht der
logischen Analyse der Sprachen dieser Theorien als so kompliziert, dass
schon bald die Darstellung dieser Strukturen um ein Vielfaches komplexer
– und umfangreicher – wurde als die Lehrbuchfassungen solcher Theorien
selbst. In dem Maß, in dem die Formale Logik selbst Fortschritte machte,
konnten die Wissenschaftstheoretiker daher in immer mikroskopischere
logische Dimensionen auch schon einer einzigen wissenschaftlichen Theo-
rie eindringen.
In dieser Situation mussten die Bedingungen des wissenschaftlichen
Fortschritts, insbesondere die des Fortschritts der Physik zunehmend un-
durchsichtiger geworden sein. Denn je komplexer und mikroskopischer das
überdies kontroverse, abstrakte, formale Standardbild der Wissenschafts-
theorie von den logischen Komponenten und Geweben – also von den
Sätzen und den Begriffen – einer wissenschaftlichen Theorie wurde, umso
verwirrender musste das Bild ausfallen, wenn man sich zwei beliebigen,
aus der Geschichte vorliegenden wissenschaftlichen Theorien zuwandte,
die nach der Auffassung der Experten der zuständigen Disziplinen in einer
Fortschrittsrelation zueinander stehen. Wie diese vollständig kaum durch-
schaubaren logischen Mikrostrukturen mit der logischen Struktur der Fort-
schrittsrelation zusammenhängen, in der zwei derartige Theorien stehen, ist
dann eine Frage, die ein Komplexitätsniveau vor Augen führt, das für die
logischen Mikroanalysen der Wissenschaftstheorie endgültig in eine me-
thodische Aporie mündet.

VI.

Aus dieser Aporie sind die Beziehungen zwischen Philosophie und Wis-
senschaftstheorie nicht ohne tiefe Wandlungen hervorgegangen. Der wich-
tigste theoretische Pilot-Beitrag zu diesen Wandlungen stammt aus dem
Buch des amerikanischen Physikers und Wissenschaftstheoretikers Joseph
Sneed The Logical Structure of Mathematical Physics (vgl. Sneed 1971).
Sneeds Untersuchungen zielen darauf, unter dem neuen Leitwort einer
Philosophie und Wissenschaftstheorie 157

Theoriendynamik die Fortschrittsrelation zwischen jeweils zwei geeigneten


in der Geschichte ausgearbeiteten physikalischen Theorien einer formalen
Analyse mit Hilfe von ingeniös vereinfachten Mitteln zugänglich zu ma-
chen: An die Stelle einer die menschlichen methodischen Möglichkeiten
überfordernden, logischen Term-für-Term- und Satz-für-Satz-Analyse einer
wissenschaftlichen, speziell physikalischen Theorie, tritt eine Analyse eines
mengentheoretischen dreidimensionalen Prädikats, das die mathematische,
die begriffliche und die Dimension der paradigmatischen Anwendungen
einer solchen Theorie umfasst.3 Innerhalb dieses Rahmens bewegen sich seit
nunmehr fast vierzig Jahren die Forschungen, Untersuchungen und Analy-
sen, die der sog. Theoriendynamik gewidmet sind. Ihr Ziel ist es, nicht nur
durch exemplarische, sondern durch möglichst paradigmatische Fallstudien
den Bedingungen auf die Spur zu kommen, von denen es ganz allgemein
abhängt, dass zwei physikalische Theorien in einer Fortschrittsrelation zu-
einander stehen. Der technische Schlüsselbegriff, der sich schon in den Jah-
ren vor dem Erscheinen von Sneeds Untersuchungen für dieses Thema ein-
gebürgert hatte, ist der Begriff der Reduktion: Eine Theorie, die durch einen
Fortschritt überholt wird, muss auf die Theorie, von der sie überholt wird, in
einem präzisierbaren und nachweisbaren Sinne reduziert werden können –
und zwar in allen drei Dimensionen: in der mathematischen Dimension, in
der Dimension der Maßgrößen und in der Dimension der empirischen An-
wendungen, wenngleich eine solche Reduktion in der Regel nur partiell
oder/und approximativ, aber nicht total sein muss.
Das wohl bedeutsamste vorläufige Zeugnis dieser Entwicklung liefert
das zweibändige Werk des Philosophen, Wissenschaftstheoretikers und
Physikers Erhard Scheibe über Die Reduktion physikalischer Theorien
(vgl. Scheibe 1997, 1999). Scheibe gehört bekanntlich zu den international
renommiertesten Wissenschaftstheoretikern; er hat sich bis zum Erschei-
nen seines Buches mehr als drei Jahrzehnte mit dem Thema auseinander-
gesetzt, das dann auf den Namen der Theoriedynamik getauft worden ist;
und in dem genannten Werk analysiert er die Bedingungen des wissen-
schaftlichen Fortschritts der Physik, indem er für paradigmatische Fälle die
Bedingungen analysiert, unter denen eine konkrete physikalische Theorie
aus der Wissenschaftsgeschichte partiell bzw. approximativ auf eine ande-
re derartige Theorie reduziert werden kann – und zwar sowohl mit ihrer

3
Unter den zahlreichen Beiträgen von Wolfgang Stegmüller zur konstruktiven Aus-
arbeitung von Sneeds Ansatz vgl. vor allem die die wichtigsten Motive, Methoden,
Ziele und Überlegenheiten dieses Ansatzes plausibel machende Darstellung in
Stegmüller 1986, 468 f.
158 Rainer Enskat

mathematischen als auch mit ihrer begrifflichen und anwendungsorientier-


ten, empirischen Dimension.4
Doch auf diesem gegenwärtig anspruchsvollsten Niveau der wissen-
schaftstheoretischen Arbeit und gerade angesichts dieses wohl wichtigsten
Themas dieser Arbeit – also des wissenschaftlichen Fortschritts – muss
sich die Philosophie zumindest auf unbestimmte Zeit damit abfinden, dass
sie sich an dieser Arbeit nicht mehr produktiv beteiligen kann. Sie taucht in
Scheibes Werk lediglich noch in einem Abschnitt des ersten Kapitels the-
matisch unter der Überschrift Das Erbe der Philosophie auf. Aber noch
wichtiger als diese fast schon nostalgische Apostrophierung der Beziehun-
gen der Wissenschaftstheorie zur Philosophie ist der Anfang des letzten
Absatzes der Einleitung: „Das Buch […] kann von jedem gelesen werden,
der Physik studiert hat, sowie gewisse mathematische Kenntnisse und ei-
nen Sinn für logische Ordnung mitbringt. Philosophische Vorkenntnisse
sind nicht erforderlich“ (Scheibe 1997, 8).
Was bleibt der Philosophie im Licht – oder besser: im Schatten – die-
ses Abgesangs auf ihre wissenschaftstheoretische Kompetenz noch übrig,
wenn es um die Frage nach den Rollen, den Funktionen und den Aufgaben
der Wissenschaft in der praktischen Lebenswelt geht – also um die Fragen,
um deren Untersuchung willen sowohl die Philosophie wie die Wissen-

4
Aus guten Gründen hat Wolfgang Stegmüller (1979) darauf aufmerksam gemacht,
dass in dieser Trias der Faktor des „Geflechts von Dispositionen …, d. h. von er-
worbenen Fähigkeiten und Geschicklichkeiten“ (123) unbedingt berücksichtigt
werden sollte, ohne deren Zuhilfenahme auch kein Forscher, Wissenschaftler oder
Gelehrter auch nur einen einzigen noch so elementarer Schritt auf seinem jeweili-
gen Untersuchungsfeld tun könnte. Diese mehr oder weniger komplexen, im Kern
methodischen und technischen Fähigkeiten sind indessen ausschließlich kognitiv
strukturiert, weil sie das mehr oder weniger komplexe methodisch-technische
Know-how der wissenschaftlichen Tätigkeit bilden. Dieses Know-how ist indessen
sowohl im Blick auf den mathematischen Strukturkern wie im Blick auf das Be-
griffsnetz wie auch im Blick auf die intendierten Anwendungen einer (physikali-
schen) Theorie vonnöten. Es bildet aber auch den konstitutiven Wissenskern des
konventionellerweise sog. propositionalen Wissens. Denn propositional strukturier-
te Dokumente oder Sprechakte können auch von Personen hervorgebracht werden,
die – wie z. B. wissenschaftliche Laien – zu den propositionalen Gehalten solcher
Dokumente oder Sprechakte nicht die geringsten authentischen kognitiven Bezie-
hungen unterhalten – auch dann nicht, wenn diese Gehalte wahr sind. Erst in dem
Maß, in dem sie sich durch authentische Arbeit auf den einschlägigen Untersu-
chungsfeldern das sachgemäße methodisch-technische Know-how aneignen, mit
dessen Hilfe diese propositionalen Gehalte ursprünglich erworben worden sind,
werden sie zu Kandidaten für Inhaber eines Wissens um diese Gehalte. Kurz: Wis-
sen ist nicht proposition-abhängig, sondern person- und know-how-abhängig; ohne
sachgemäßes und authentisches, methodisch-technisches Know-how gibt es auch
kein sog. propositionales Wissen; vgl. hierzu ausführlich Enskat 2005.
Philosophie und Wissenschaftstheorie 159

schaftstheorie ursprünglich aus Mitteln alimentiert werden, die in dieser


Lebenswelt erarbeitet werden und auf deren Beantwortung die Bewohner
dieser Lebenswelt angewiesen sind, wenn sie nicht nur über die Struktur
des wissenschaftlichen Fortschritts orientiert sein wollen, sondern auch
über die praktischen Ziele aufgeklärt sein wollen, denen man diesen Fort-
schritt vernünftigerweise sollte dienstbar machen können?

VII.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass fast in demselben Jahr, in dem Joseph
Sneed der Wissenschaftstheorie einen Weg aus der Befangenheit in dem
Irrationalitätsverdacht von Thomas Kuhns Buch über Die Struktur wissen-
schaftlicher Revolutionen gewiesen hat, das Programm einer Reha-
bilitierung der Praktischen Philosophie (vgl. Riedel 1971) publiziert wur-
de. Das zu Recht berühmt gewordene, von Manfred Riedel herausgegebene
zweibändige Sammelwerk unter diesem Titel enthielt denn auch eine Ab-
teilung zu dem Thema Praktische Philosophie und Wissenschaftstheorie
(vgl. ebd., 489–534). Friedrich Kambartel (vgl. ebd., 489–503) und Wolf-
gang Wieland (vgl. ebd., 505–534) erörtern hier unter verschiedenen As-
pekten Aufgaben, deren sich diese beiden Disziplinen überhaupt in einer
gemeinsamen Anstrengung und mit berechtigter Aussicht auf Erfolg an-
nehmen können, aber auch Aufgaben, wie sie im letzten Drittel des zwan-
zigsten Jahrhunderts darauf warten, von ihnen bearbeitet zu werden.
Es dürfte unstrittig sein, dass die Geisteswissenschaften nach wie vor
die größten Schwierigkeiten bereiten, wenn es um die Frage geht, welchen
praktischen Zielen ihre Resultate vernünftigerweise dienstbar gemacht wer-
den können. Die Antworten, die bisher vorgeschlagen worden sind, leiden
unter bestimmten systematischen Mängeln. Am prominentesten ist zu-
mindest in der deutschsprachigen Diskussion das 1963 zuerst von Joachim
Ritter (vgl. Ritter 1974, 105–140) konzipierte und später von Odo Marquard
(vgl. Marquard 1985) elaborierte und popularisierte Kompensationsmodell
geworden. Nach diesem Modell haben die Geisteswissenschaften – also die
philologischen, die literaturwissenschaftlichen und die historischen Dis-
ziplinen – die Aufgabe, den Menschen der wissenschaftlich-technischen
Zivilisation möglichst authentische Dokumente, Denkmäler und Symbole
der Vorgeschichte dieser Zivilisation mit dem Ziel zugänglich zu machen,
dass sie sich durch eine imaginative und emotionale Vertiefung in diese
Vorgeschichte für die Folgelasten dieser Zivilisation entschädigen können.
Der offenkundige psychotherapeutische Kern dieses Modells hat aller-
dings einen für ein praktisches Modell entscheidenden Nachteil, auf den
übrigens Erhard Scheibe hingewiesen hat: Es lässt in der Wirklichkeit, für
160 Rainer Enskat

deren Zumutungen die Nutznießer der Geisteswissenschaften ja lediglich


kompensatorisch – also durch Surrogate – entschädigt werden sollen, alles,
wie es ist (vgl. Scheibe 1997, 12–15).
Ein anderes Modell ist eine Generation später von dem Germanisten
Wolfgang Frühwald (vgl. Frühwald 1991, 73–111) vorgeschlagen worden.
Man kann es in aller Kürze als ein Anti-Entfremdungsmodell umschreiben.
Es traut den Geisteswissenschaften – und unter den diversen Wissen-
schaftsgruppen nur ihnen – zu, zu einer Überwindung der Entfremdung
von der Natur zu verhelfen, in der sich die Menschen im Zuge der wissen-
schaftlich-technischen Dauerrevolutionierung ihrer Lebenswelt immer
mehr verfangen haben. Dieses Modell hat zunächst einmal den nicht uner-
heblichen Vorzug, dass es die kognitive oder epistemische Zentralfunktion
der wissenschaftlichen Arbeit von Anfang an ernst nimmt. Denn der Ent-
fremdungsbegriff ist nun einmal ein kognitiver oder epistemischer Begriff.
Er deutet an, dass dem in Entfremdung Befangenen ein von Erkenntnis und
Einsicht geleiteter Zugang zu der Sphäre, der er entfremdet ist, zumindest
bis auf weiteres verstellt ist. Insofern traut Frühwald den Geisteswissen-
schaften zu, Einsichten und Erkenntnisse bereitzustellen, die helfen kön-
nen, die diagnostizierte Entfremdung von der Natur zu überwinden. Doch
warum traut Frühwald diese Hilfe ausgerechnet den Geisteswissenschaften
und nicht den Naturwissenschaften zu? Das liegt offensichtlich daran, dass
die Naturwissenschaften durch das Medium der Ingenieurswissenschaften
im wahrsten Sinne des Wortes grundlegend mit den technischen Interven-
tionen verflochten sind, mit deren Hilfe die natürliche Lebenswelt der
Menschen seit dem Beginn der Industriellen Revolution systematisch um-
gestaltet wird. Die diagnostizierte Entfremdung der Menschen von der
Natur wird hier offensichtlich als eine Funktion der mit Hilfe der Natur-
wissenschaften möglich gewordenen systematischen technischen Umge-
staltung der natürlichen Lebenswelt der Menschen aufgefaßt.
Nun kann selbstverständlich nicht gut bezweifelt werden, dass diese
Umgestaltung mit Hilfe der Naturforschung erst seit den Generationen in
wohlfundierter Weise betrieben werden kann, in denen die Naturforschung
angefangen hat, den von Kant zu Recht gepriesenen ‚sicheren Gang der
Wissenschaft‘ zu gehen. Indessen konnten gerade die jüngeren geisteswis-
senschaftlichen Disziplinen – die Wissenschaftsgeschichte und die Tech-
nikgeschichte in Verbindung mit der Sozial- und der Mentalitätsgeschichte
– darauf aufmerksam machen, dass man einem Phantom nachjagen würde,
wenn man bei den Generationen vor der Industriellen Revolution nach so
etwas wie einer naturgemäßen Einstellung zur Natur suchen würde. Im
Gegenteil taucht in den Untersuchungen dieser Disziplinen ein immer eng-
maschiger und immer vieldimensionaler werdendes geschichtliches Netz
von Formen des Raubbaus, der Übernutzung und der Verwahrlosung der
Philosophie und Wissenschaftstheorie 161

naturwüchsigen Gegebenheiten auf, die sich mit den jeweils zur Verfügung
stehenden technischen Mitteln zu Nutzenressourcen umfunktionieren lie-
ßen. Die Indizien mehren sich, die darauf hinweisen, dass die Menschen
ihre Techniken zur Behandlung natürlicher Gegebenheiten niemals anders
als zur maximal möglichen Nutzung dieser Gegebenheiten verwendet ha-
ben – also in Formen, die früher oder später in lokale, in regionale und in
territoriale Dimensionen von Raubbau, Übernutzung und Verwahrlosung
ausarten mussten. Die überwältigende Mehrzahl der Menschen der bisheri-
gen Geschichte unterhielt höchstwahrscheinlich alles andere als Einstellun-
gen der Hegung, der Schonung und der Beschaulichkeit zur Natur, sondern
Einstellungen eines kurzsichtigen nutzenegoistischen Interventionismus’.
Vor diesem Hintergrund besteht der allerdings entscheidende Nachteil
von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodells trotz seiner kognitiven bzw.
epistemischen Zielrichtung darin, dass es gerade das kognitive Potential
der modernen Naturwissenschaft so gründlich verkennt, wie es gründlicher
gar nicht möglich ist. Denn eine systematische Hegung und Schonung der
Natur ist überhaupt nur mit Hilfe der unablässigen Fortschritte dieser Na-
turwissenschaft möglich. Erst wenn man über gut bewährte Hypothesen
über gesetzmäßige Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen
und Prozessen verfügt, kann man auch hinreichend zuverlässige Prognosen
über die Zustandsänderungen und Prozesse entwickeln, die durch techni-
sche Interventionen in vorfindliche natürliche Zustände und Prozesse
wahrscheinlich ausgelöst werden. Und erst wenn man über solche Progno-
sen verfügt, kann man solche Konsequenzen von technischen Interven-
tionen mit allen in Frage kommenden utilitaristischen Modellen bewerten.
Aber erst wenn man über hinreichend zuverlässige Bewertungen des rela-
tiven Nutzens, des relativen Schadens bzw. der relativen Harmlosigkeit
solcher Konsequenzen verfügt, kann man auch beurteilen, ob die beteilig-
ten natürlichen Zustände und Prozesse von einer Intervention verschont
bleiben sollten, weil die technischen Interventionsoptionen Zustands- bzw.
Prozessänderungen auslösen würden, die mehr oder weniger langfristig mit
Unzuträglichkeiten für Menschen verbunden wären. Kurz: Eine von Ein-
sicht und Erkenntnis geleitete Schonung und Hegung der Natur – also eine
Überwindung der Entfremdung von der Natur – ist überhaupt nur auf der
kognitiven oder epistemischen Basis der Fortschritte der modernen Natur-
wissenschaften möglich.5
Der Fehler von Frühwalds Anti-Entfremdungsmodell liegt also offen-
sichtlich darin, dass er irrtümlich meint, die Erkenntnisse der modernen
Naturwissenschaft seien in ebenso schicksalhafter wie verhängnisvoller

5
Vgl. hierzu die ausgewogenen Überlegungen von Lothar Schäfer (Schäfer 1993).
162 Rainer Enskat

Weise mit genau den industriellen, ökonomischen und sonstigen prakti-


schen Zwecken ihres Gebrauchs verbunden, die vor allem seit dem Beginn
der Industriellen Revolution praktiziert worden sind. Die naturwissen-
schaftlichen Erkenntnisse sind aber unabhängig von allen wissenschaftsex-
ternen Zwecken ihres Gebrauchs; und kein einziger wissenschaftsexterner
Gebrauchszweck einer naturwissenschaftlichen Erkenntnis ist durch die
kognitive, durch die propositionale oder durch die methodische Binnen-
struktur einer solchen Erkenntnis zwingend festgelegt.
Frühwalds Fehler erweist sich bei genauerem Hinsehen sogar als ein
doppelter Fehler. Er verkennt, dass der einzige nicht-entfremdete, also
authentische kognitive Zugang zur Natur in den Fortschritten der naturwis-
senschaftlichen Erkenntnis besteht; und er verkennt, dass die Fortschritte
der naturwissenschaftlichen Erkenntnisse die einzigen kognitiven oder
epistemischen Bedingungen der Möglichkeit abgeben, ebenfalls eine nicht-
entfremdete, also authentische, technische und praktische Einstellung zur
Natur zu gewinnen – also eine von Einsicht in die Natur getragene Scho-
nung und Hegung der Natur. Zwischen diese Einsicht in die Natur und eine
von dieser Einsicht getragene Schonung und Hegung der Natur ist aller-
dings in einer unumgehbaren Weise noch eine von der naturwissenschaftli-
chen Erkenntnis völlig unabhängige kognitive Instanz eingeschaltet – die
praktische Urteilskraft. Denn es ist die praktische Urteilskraft, die in jeder
konkreten Situation immer wieder von neuem bestimmen muss, um wel-
cher praktischen Zwecke willen und mit Hilfe welcher Mittel, Techniken
und Methoden es überhaupt richtig und wichtig ist, die Natur zu schonen
oder zu hegen oder partiell umzugestalten.

VIII.

Es kann unter diesen Umständen fast so scheinen, als wenn es sich bei den
Geisteswissenschaften um eine Wissenschaftsgruppe handelt, deren Resul-
tate ähnlich müßig sind, wie es z. B. eine lyrische Dichtung zu sein scheint,
die im siebenten vorchristlichen Jahrhundert auf einer großen griechischen
Insel verfaßt worden ist. Doch der Schein trügt. Die Versuche, die Wissen-
schaftstheorie und die Praktische Philosophie zu einer Verständigung über
eine sog. praktische Relevanz der Geisteswissenschaften zu bringen, die der
internen Struktur der Geisteswissenschaften Rechnung trägt, leiden unter
einem gemeinsamen Fehler: Sie versäumen es von Anfang an, die wirklich
elementaren Fragen zu stellen, mit deren Hilfe man sich einen Zugang zu
dieser praktischen Relevanz eröffnen kann. Stattdessen suchen sie Zuflucht
bei diagnostischen und therapeutischen Hilfsmitteln wie einem Kompensa-
tionsmodell oder einem Entfremdungs- bzw. Anti-Entfremdungsmodell, die
Philosophie und Wissenschaftstheorie 163

ihre Herkunft aus den unerschöpflichen Requisiten der Ideologiekritik nur


schwer verleugnen können.
Doch welches sind diese wirklich elementaren Fragen? Eine der ele-
mentarsten Fragen dieses Typs hat zweifellos die Form: ‚Was heißt, sich in
der Praxis orientieren?‘
Wenn man so fragt, dann ist es zum einen wichtig zu beachten, dass
Handlungen – also die Urelemente aller Praxis – stets auch eine räumliche
wie eine zeitliche und eine kausale Struktur haben. Zum anderen ist es wich-
tig zu beachten, dass das Orientierungsvokabular einen Teil des kognitiven
Vokabulars bildet. Mit der Frage, was es heißt, sich in der Praxis zu orientie-
ren, erkundigt man sich daher nach den spezifischen kognitiven Vorausset-
zungen, deren es in der Praxis bedarf, um den Strukturen des Handelns ge-
recht zu werden. Diese Voraussetzungen werden in der Philosophie zwar
schon von alters her erörtert, aber nicht selten werden sie in den komplizie-
renden Wandlungen der wissenschaftlich-technischen Welt so verfremdet,
dass es einer zusätzlichen Anstrengung der Reflexion bedarf, um ihnen auf
die Spur zu kommen. Die prominenteste verfremdende Gestalt taucht in
dieser Welt unter dem bekannten Namen der Technikfolgenabschätzung auf.
Doch hinter dieser Gestalt und hinter diesem Namen verbirgt sich eine der
elementarsten kognitiven Voraussetzungen der Praxis. Sie hört auf den alt-
ehrwürdigen Namen der Vorsicht. Die Vorsicht – das ist derjenige kognitive
Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen seit unvordenklichen Zeiten die
mehr oder weniger wahrscheinlichen Konsequenzen ihrer jeweiligen Hand-
lungsoptionen zu ermitteln und abzuschätzen suchen und gleichzeitig die
Nützlichkeits- bzw. Schädlichkeitsgrade dieser Konsequenzen zu ermitteln
und abzuschätzen suchen mit dem Ziel, ein möglichst zuverlässiges Urteil
über eine Handlungspräferenz zu gewinnen. Da dieser kognitive Habitus
offensichtlich im Dienst der Aufgabe steht, zu einem trefflichen praktischen
Urteil über eine Handlungspräferenz beizutragen, ist es angemessen, von
einer kognitiven Tugend der praktischen Urteilskraft zu sprechen.6 In einer
immer mehr von wissenschaftsbasierten Handlungstechniken durchdrunge-
nen Welt muss die Vorsicht immer mehr wissenschaftsbasierte Expertise –
insbesondere kausalanalytische und statistische Expertise – zu Hilfe neh-
men, um Handlungskonsequenzen ermitteln und praktisch gewichten zu
können. Das Potential für diese Expertise liegt bei allen prognosefähigen
Wissenschaften und Disziplinen – bei den Naturwissenschaften einschließ-

6
Die kognitiven Tugenden der Urteilskraft bilden einen systematischen Brennpunkt
in meinem Buch (Enskat 2008); eine vorzügliche Erörterung der intrinsischen Ver-
bindung von Tugend und Wissen in der Gestalt der kognitiven Tugenden bietet mit
Blick auf den ursprünglichen Kontext ihrer Entdeckung bei Platon das Buch von
van Ackeren 2001.
164 Rainer Enskat

lich der Ingenieurswissenschaften, bei der klinischen Forschung, bei den


Sozialwissenschaften und bei den Wirtschaftswissenschaften. Der Name der
Technikfolgenabschätzung ist lediglich der modernste Name für diese uralte
Aufgabe dieser ebenso alten kognitiven Tugend der praktischen Urteilskraft.
Bekanntlich können wir uns über Handlungskonsequenzen jedoch nur
dann orientieren, wenn wir außer der Vorsicht – und sogar noch vor der
Zuhilfenahme der Vorsicht – eine ganz andere kognitive Tugend der Ur-
teilskraft in Anspruch nehmen – die Umsicht. Die Umsicht ist derjenige
kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen ebenfalls seit unvor-
denklichen Zeiten diejenigen in ihrem jeweiligen Wahrnehmungshorizont
liegenden Umstände zu ermitteln und einzuschätzen suchen, die ihnen
erlauben, ein möglichst zuverlässiges Urteil über die für ihre praktische
Erfolgsintention günstigsten Umstände zu gewinnen (vgl. Heidegger 1960,
69 f., 83 f., 102 f.). Ohne eine möglichst genaue Kenntnis der konkreten
Umstände der jeweiligen Handlungssituation können weder deterministi-
sche noch statistische Hilfsmittel für die Ermittlung von mehr oder weniger
wahrscheinlichen Handlungskonsequenzen fruchtbar gemacht werden.
Doch der Durchdringungsgrad der modernen Welt mit wissenschaftsba-
sierten Handlungstechniken verlangt von der Umsicht eine Weite des Ho-
rizonts sowie eine Tiefenschärfe und eine Trennschärfe in der diagnosti-
schen Durchdringung solcher Umstände, die tendenziell mindestens auf
demselben Niveau wissenschaftlicher Expertise angesiedelt sein müssen
wie die jeweilige wissenschaftliche Basis der Handlungstechniken selbst.7

IX.

Doch die kognitiven Tugenden der praktischen Urteilskraft bilden eine


Trias. Es ist die dritte im Bunde dieser Tugenden, die die Geisteswissen-
schaften auf den Plan ruft – die Rücksicht. Die Rücksicht ist derjenige

7
Insofern – aber auch nur insofern – trifft Heidegger einen entscheidenden Punkt,
wenn er in seiner Analyse der kognitiven Ursprünge der Wissenschaft betont, dass
„der Aufweis der existentialen Genesis der Wissenschaft bei der Charakteristik
der Umsicht einsetzen müsse […]“ (ebd., 358). Die existentiale Genese der Wis-
senschaft auch aus der Vorsicht, die zur Kultivierung von Methoden zur Gewin-
nung von immer leistungsfähigeren Prognosen führt, bleibt bei Heidegger indes-
sen ausgeblendet. Das ist umso bemerkenswerter als in seiner existentialen
Analyse der Zeitlichkeit des Daseins durch das „Sichvorweg“ des Daseins im
Modus der Sorge (vgl. ebd., 236 f.) die Zukunft des Daseins ebenso eine dieses
Dasein umfassende und durchdringende Dimension der Zeit bildet wie die Ge-
genwart, in der sich die Um-stände der Um-welt finden, denen die Um-sicht des
Daseins gilt (vgl. ebd., 72 f.).
Philosophie und Wissenschaftstheorie 165

kognitive Habitus, mit dessen Hilfe die Menschen ebenso seit unvordenkli-
chen Zeiten diejenigen unter den jeweils mehr oder weniger wahrscheinli-
chen Handlungskonsequenzen zu ermitteln und praktisch zu gewichten
suchen, durch die andere Menschen in ihrem Wahrnehmungshorizont so
betroffen sind, dass Grad und Art dieser Betroffenheiten ihr Urteil über die
jeweilige Handlungspräferenz modifizieren. Das wichtigste Medium dieser
Betroffenheiten bilden im alltäglichen Leben die Traditionen, also die
Konventionen, die Sitten und die Gebräuche in den Lebensformen der
Menschen. In diesem Medium empfangen die Menschen ihre allermeisten
und wichtigsten praktischen und technischen Orientierungshilfen über die
Handlungs- und Verhaltensmuster, die sich in den durchschnittlichen Situ-
ationen des alltäglichen Lebens schon hinreichend lange bewährt haben.
Die kognitive Tugend der Rücksicht gilt daher den Zumutungen, die den
Menschen unter Umständen sowohl durch die banalsten wie durch die
komplexesten Interventionen in die Lebensformen angesonnen werden
können, die sie im Medium von Traditionen praktizieren. Doch keine ande-
re Wissenschaftsgruppe als die der Geisteswissenschaften ist es, die uns
seit nunmehr rund zweihundert Jahren geradezu planmäßig immer mehr
die Augen dafür öffnet, in welchem Maß sowohl die Zumutbarkeiten wie
die Unzumutbarkeiten von Interventionen in Lebensformen von Menschen
von Traditionen abhängen. Dieses Maß hängt immer offenkundiger in so
komplizierten und tief verwurzelten Formen mit unserer gemeinsamen
geschichtlichen Vergangenheit zusammen, dass es auch nur durch die
planmäßige Arbeit der Geisteswissenschaften – also der philologischen,
der literaturwissenschaftlichen und der historiographischen Disziplinen –
ausgelotet und differenziert werden kann.
Die wissenschaftsbasierte technische und ökonomische Dauerrevolu-
tionierung der praktischen Lebenswelt, die mit der Industriellen Revolution
in der Mitte des 18. Jahrhunderts angefangen hat, wird nicht zufällig von
dem zuerst bei Vico dokumentierten Bewusstsein begleitet, dass nunmehr
auch die geschichtliche Dimension der Traditionen einer neuen wissen-
schaftlichen Wachsamkeit bedarf – eben der Wachsamkeit, durch die spä-
ter sog. Geisteswissenschaften. Traditionen sind nun einmal keine müßigen
Medien zur lebensfernen Überlieferung von veralteten Ausdrucksformen
menschlichen Lebens. Traditionen haben für das Zusammenleben der
Menschen eine analoge Funktion wie Experimente für die naturwissen-
schaftliche Auseinandersetzung mit der Natur: Experimente sind die einzi-
gen und daher die wichtigsten technischen Bewährungsproben für Hypo-
thesen über Verlaufsformen von natürlichen Zustandsänderungen und
Prozessen; Traditionen bilden hingegen die einzigen und daher auch die
wichtigsten geschichtlichen Bewährungsproben für die praktischen Le-
bensformen der Menschen. Dabei ist es gleichgültig, ob es sich um soziale
166 Rainer Enskat

oder um ökonomische, um moralische oder um rechtliche, um politische


oder um religiöse oder um ästhetische Traditionen von praktischen Lebens-
formen handelt. Jede derartige Lebensform ist gerade wegen ihrer ge-
schichtlichen Erprobung mit einem respektablen, also mit einem Rücksicht
heischenden Bewährungsgrad daran beteiligt, das Maß der Zumutbarkeit
bzw. Unzumutbarkeit zu bestimmen, mit dem irgendjemand in solche Le-
bensform intervenieren kann.
Die Geisteswissenschaften bilden daher das Medium der methodisch
disziplinierten Bemühungen um die zuverlässigsten Informationen und
Orientierungshilfen über die geschichtlichen Tiefendimensionen der Tradi-
tionalität von Lebensformen und damit über das Maß an Rücksicht, auf das
die Angehörigen einer Lebensform einen Anspruch haben, sofern es um
die Fragen der Zumutbarkeit und Unzumutbarkeit, der Zuträglichkeit und
Unzuträglichkeit von Interventionen in diese Lebensformen geht. Zwar
obliegt es selbstverständlich der praktischen Urteilskraft jedes einzelnen,
immer wieder von neuem das Maß dieser Zumutbarkeit bzw. Unzumutbar-
keit dieser Zuträglichkeit bzw. Unzuträglichkeit einzuschätzen. Aber ohne
Informationen und Orientierungshilfen, wie sie von den Geisteswissen-
schaften mit Blick auf die Traditionalität von Lebensformen erarbeitet
werden, bliebe auch die scharfsinnigste praktische Urteilskraft blind – und
damit die Praxis, in deren Dienst sie tätig ist, im wahrsten Sinne des Wor-
tes rücksichtslos.8

X.

Wenn die Geisteswissenschaften zu den systematischen Erfüllungsgehilfen


der praktischen Urteilskraft gehören, indem sie der kognitiven Tugend der
Rücksicht mit Informationen und Orientierungshilfen über die Tiefendi-
mensionen geschichtlich bewährter Lebensformen zuarbeiten, dann hat
sich das Gespräch zwischen Philosophie und Wissenschaftstheorie nicht
nur in einem besonders neuralgischen Punkt bewährt. Dann eröffnet diese
Bewährungsprobe auch einen Ausblick auf eine Möglichkeit der Philoso-
phie, die nicht nur unabhängig von der Arbeit der Wissenschaftstheorie ist,
sondern die die Wissenschaftstheorie überhaupt erst über den systemati-
schen Ort orientiert, an dem ihre Arbeit in den Aufgabenfeldern der prakti-
schen Lebenswelt zuhause ist. Diese Möglichkeit ergibt sich, sobald man

8
Zur traditionsbildenden Behandlung dieser Trias der kognitiven Tugenden der
Urteilskraft in der Geschichte von Philosophie und Theologie vgl. die instruktive
Übersicht von Kobusch 2001.
Philosophie und Wissenschaftstheorie 167

nach den kognitiven Voraussetzungen der Praxis fragt. Die normativen,


also die moralischen, die utilitären, die rechtlichen und die politischen
Voraussetzungen der Praxis sind im Zuge der Rehabilitierung der Prakti-
schen Philosophie schon seit längerem zu Themen von breit gefächerten
und konzentrierten Analysen geworden. Es war von Anfang an unstrittig,
dass die Philosophie auf dem Feld der Begründungsprobleme praktischer
Normen ohne jegliche Konkurrenz durch irgendeine positive Wissenschaft
oder durch die Wissenschaftstheorie ist. Nun ist es inzwischen zwar ebenso
unstrittig, dass die Methoden, die Techniken und die Resultate der wissen-
schaftlichen Forschung schon längst zu den kognitiven Voraussetzungen
der alltäglichen Lebenspraxis gehören. Doch wenn die vorangegangenen
Überlegungen richtig sind, dann werden das praktische Maß und die prak-
tische Tragweite, mit der die Wissenschaften diese Rolle wahrnehmen
können, nicht von den Wissenschaften und irgendeiner ihnen innewohnen-
den Autonomie bestimmt. Dann sind die Wissenschaften auch im günstigs-
ten Fall nicht mehr und nicht weniger als Erfüllungsgehilfen der kognitiven
Tugenden der praktischen Urteilskraft – und zwar in einem doppelten Sin-
ne: Zum einen ist ihre Arbeit eine Fortsetzung der alltäglichen Betätigung
dieser kognitiven Tugenden mit anderen, und zwar mit endlos optimierba-
ren Methoden; zum anderen sind sie Lieferanten von Methoden, Techni-
ken, Informationen und Orientierungshilfen, von denen keine andere In-
stanz als die praktische Urteilskraft mit Hilfe dieser kognitiven Tugenden
und auf ihrem jeweiligen Reifeniveau einen autonomen Gebrauch macht
oder aber einen Gebrauch mit ebensolcher Autonomie verweigert.
Überall da also, wo es die Philosophie mit den spezifischen kognitiven
und mit den normativen Voraussetzungen der Praxis zu tun hat, befindet
sie sich weder in einer Konkurrenz noch in einem Verdrängungswettbe-
werb noch in irgendeiner anderen Form von Streit mit der Wissenschafts-
theorie, sondern auf einem Forschungsfeld mit uneingeschränkter themati-
scher und methodischer Autonomie. Die praktische Lebenswelt, aus deren
Mitteln sowohl die Arbeit der Philosophie wie die der Wissenschaftstheo-
rie alimentiert wird, würde sich daher selbst den denkbar schlechtesten
Dienst erweisen, wenn sie sich von der Allgegenwart der Wissenschaft und
der wissenschaftsbasierten Technik verführen ließe, die Philosophie weni-
ger zu alimentieren als die Wissenschaftstheorie oder die positiven Wis-
senschaften selbst. Inzwischen weiß jedes Kind, dass die drängendsten
Probleme der jüngeren Vergangenheit, der Gegenwart und der Zukunft
nicht aus Fortschritten der Wissenschaften und der Technik entspringen,
sondern aus den lokalen, den regionalen, den nationalen und den globalen
Ungleichverteilungen und Niveauunterschieden der praktischen Urteils-
kraft und ihrer kognitiven Tugenden. Spätestens seit dem VI. Buch der
Nikomachischen Ethik des Aristoteles ist die Philosophie die wichtigste
168 Rainer Enskat

reflexive Hüterin und Anwältin der praktischen Urteilskraft. Aus der philo-
sophischen Arbeit in dieser thematischen Tradition und aus der philosophi-
schen Auseinandersetzung mit dieser Tradition kann daher jede Gegenwart
– nicht nur unsere aktuelle Gegenwart – mindestens so viel und so Wichti-
ges über die kognitiven und die normativen Voraussetzungen ihrer Praxis
lernen wie aus irgendeiner Wissenschaftstheorie oder aus irgendeiner posi-
tiven Wissenschaft.

Literatur
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gendwissens in Platons Dialogen, Amsterdam/Philadelphia.
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Philosophie und Wissenschaftstheorie 169

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Die Aufgabe der Philosophie in
den Lebenswissenschaften

Michael Quante

„Zur Vermeidung möglicher Missverständnisse ein Wort. Die Gestalten von


Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht.
Aber es handelt sich hier um Personen nur, soweit sie die Personifikation öko-
nomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und
Interessen.“ (Karl Marx)

I. Einleitung

Bevor ich mich der Aufgabe stelle, über die Aufgabe der Philosophie in
den Lebenswissenschaften zu reflektieren, möchte ich kurz auf die überge-
ordnete Leitfrage dieses Bandes „Warum noch Philosophie?“ eingehen und
einige wenige einleitende Bemerkungen zum Ziel und Aufbau meines
Beitrags voranschicken.
Warum stellen wir uns die Frage „Warum noch Philosophie?“ gegen-
wärtig überhaupt? Prima facie leuchtet es ein, dass eine Konferenz, die
anlässlich des UNESCO-Welttags der Philosophie durchgeführt wird, sich
dieser Frage widmet. Suchte man nach einer Definition der Philosophie, die
in historischer und systematischer Hinsicht eine Chance hätte, als Minimal-
konsens akzeptiert zu werden, dann wäre vermutlich der Vorschlag, das
Wesen der Philosophie bestehe in Selbsterkenntnis der Philosophie durch
ihre Selbstreflexion, recht aussichtsreich. Weniger wohlwollend ließe sich
diese Leitfrage aber auch auf andere Weise verstehen: Warum ist Philoso-
phie eigentlich noch existent?1 Wofür ist sie unverzichtbar und notwendig
oder zumindest hilfreich? Weshalb ist sie nicht längst abgelöst: von empi-
risch fundierter Gesellschaftstheorie, wissenschaftlich informierter Anthro-
pologie oder solider historischer Forschung? Ist Philosophie vielleicht nur
ein kulturelles Relikt, ein erbaulicher Anachronismus und – in ihrer univer-

1
Dies ähnelt dann der Frage, die zum Teil den Überlegungen von Jürgen Habermas
zum Nichtverschwinden bzw. Wiedererstarken der Religionen zugrunde liegt.
172 Michael Quante

sitären Form – ein in Zeiten zunehmender ökonomischer Engpässe immer


weniger zu legitimierender Luxus?
Als im Jahre 2008 der XXI. Kongress der Deutschen Gesellschaft für
Philosophie in Essen unter dem Motto Lebenswelt und Wissenschaft statt-
fand, da konnte man in der FAZ vom 24.9. folgendes lesen:
„Vorbei sind die Zeiten, als sich akademische Philosophen über die Berechti-
gung ihres Tuns Gedanken und diese zum Thema von Konferenzen machen
mussten: Wozu noch Philosophie? Die Korrosion traditioneller menschlicher
Selbstbeschreibungen durch die Entwicklungen in den Lebens- und Technik-
wissenschaften hat das personell ausgezehrte Fach wieder selbstbewusst ge-
macht und mit festem Sitz in Bioethik- wie Technikfolgenabschätzungsgre-
mien ausgestattet. Die Fragen kommen auf den Philosophen zu, er muss sie
nicht erst erfinden.“

Berechtigt ist der Hinweis, man müsse auf den subtilen semantischen Un-
terschied zwischen „Warum noch Philosophie?“ und „Wozu noch Philoso-
phie?“ achten2; auch die Nachfrage, ob mit der Einschätzung, das Fach sei
personell ausgezehrt, nur auf die verbesserungswürdige Stellensituation an
deutschen Universitäten hingewiesen werden soll, drängt sich auf, da man
diese Bemerkung des Berichterstatters auch als Ruf nach neuen Genies
oder großen Geistern verstehen – oder missverstehen (?) – könnte. Unbe-
streitbar sollte es, dies ein weiterer berechtigter Hinweis, auch der FAZ
zwischenzeitlich nicht entgangen sein, dass die heutigen Fragen auch auf
Philosophinnen zukommen; oder gilt für diese aus Sicht des Bericht-
erstatters etwa, dass sie ihre Fragen erfinden?
Trotz dieser zumindest missverständlichen Bemerkungen enthält die
soeben zitierte Passage aus dem Kongressbericht der FAZ zwei für die
Fragestellung meines Beitrags relevante Behauptungen: Zum einen wird
konstatiert, dass die Philosophie der Phase der Selbstinfragestellung ent-
ronnen sei; und zum anderen wird behauptet, dass es gerade der Kontext
der Lebenswissenschaften sei, durch den Philosophie ihr neues (altes?)
Selbstbewusstsein zurück gewonnen und einen festen Platz im gesell-
schaftlich-politischen Leben wiedererlangt habe. Damit stellt sich, wenn
diese Diagnose der FAZ zutreffend ist, die Frage, ob die Leitfrage „Warum
noch Philosophie?“ nicht einen Rückfall in soeben überwundene Krisen-
zeiten der Philosophie darstellt.
Um hier klarer zu sehen, ist es wichtig, sich eine mögliche Zwiespäl-
tigkeit der Frage nach dem Warum der Philosophie zu vergegenwärtigen.
Ihre Ambivalenz verdankt sich der Tatsache, dass der sich in der Frage
ausdrückende Zweifel von unterschiedlicher Art sein kann.

2
Vgl. dazu den Beitrag von Marcel van Ackeren und Jörn Müller in diesem Band.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 173

Wenn die Selbstreflexion von der Art des existentiellen Zweifels ist,
dann haben wir es mit einer Selbstinfragestellung der Philosophie zu tun,
die sich der Unverzichtbarkeit, der Sinnhaftigkeit oder auch der Möglich-
keit, ihre selbst formulierten Ansprüche zu erfüllen, nicht mehr sicher ist.
Die daraus resultierende Selbstthematisierung stellt weniger, wie der Be-
richterstatter der FAZ möglicherweise suggerieren wollte, eine narzissti-
sche Selbstverliebtheit und Selbstbespiegelung dar; und sicher ist dieses
Phänomen auch nicht durch den Hinweis zu erklären, der Philosophie seien
halt, vielleicht verursacht durch den Mangel an ‚großen Köpfen‘, die The-
men ausgegangen, so dass ihr nur noch das Gerede über sich selbst in den
Sinn komme. Die auf einem existentiellen Zweifel beruhende Selbstthema-
tisierung ist vielmehr eine Weise, mit einer Identitätskrise, d. h. einem Riss
im Selbstverständnis umzugehen. Es liegt nahe, dass eine derart auf sich
und ihre Grundlagen zurückgeworfene Disziplin wenig Potenzial hat, auf
die Fragen und Kooperationsangebote anderer Disziplinen einzugehen.
Die Dominanz dieser Art von Selbstzweifel ist also als Krisensymptom
zu verstehen; daraus ist aber nicht der voreilige Schluss zu ziehen, dass
eine gut ‚funktionierende‘ Philosophie von dieser Form des Zweifels gänz-
lich frei wäre (bzw. sein sollte). Es gehört vielmehr zur Verfasstheit der
Philosophie (und zu ihrer spezifischen Differenz gegenüber anderen For-
men epistemischer Einstellungen zur Welt), dass ein existenzieller diszi-
plinärer (!) Zweifel für sie konstitutiv ist. Dies muss sich nicht aus einer
persönlichen existentiellen Form des Selbstzweifels der philosophierenden
Person herleiten, sondern kann auch auf die rein disziplinäre Ebene be-
schränkt sein. Die Philosophie gerät jedenfalls, wenn sie diese Dimension,
man könnte von einer für sie konstitutiven Fragilität der eigenen Grundla-
gen sprechen, ihres eigenen Tuns ausblendet, verdrängt oder meint, über-
wunden zu haben, regelmäßig in die Gefahr entweder des szientistischen
Positivismus oder der antiliberalen Ideologie.
Von dem gerade erwähnten existentiellen Zweifel, der das Philoso-
phieren in seinen Grundfesten konstituiert und zugleich beunruhigt, ist ein
methodologischer Zweifel im Sinne der Explikation der eigenen Rolle als
Moment der Selbstverständigung zu unterscheiden. Eine solche Bewusst-
machung und für andere, auch über die eigene Disziplin hinaus vermittel-
bare Darstellung des eigenen Selbstverständnisses (hinsichtlich der Funk-
tion, der Ansprüche und der Standards) gehört, wenn nicht sogar zur
Wissenschaftlichkeit überhaupt, so doch zumindest zum Wesen der Philo-
sophie. Der methodologische Zweifel lässt sich aber, das ist an dieser Stel-
le wichtig zu betonen, durchführen, ohne dass damit ein existentieller
Zweifel am eigenen Tun oder dem eigenen Selbstverständnis der Philoso-
phie einhergeht. Es liegt auf der Hand, dass eine Disziplin dann, wenn sie
sich in einen Dialog mit anderen Disziplinen begibt oder den Bereich der
174 Michael Quante

Wissenschaft in Richtung gesellschaftlicher und politischer Kontexte ver-


lässt, gut beraten ist, sich ihrer eigenen Ansprüche, Methoden und Ziele zu
versichern. So gesehen stellt die Leitfrage dieses Beitrags, worin die Auf-
gabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften bestehe, eine notwendi-
ge Aufgabe jeder redlichen Philosophie dar, die sich in Kontexte begeben
will (oder muss), in denen ein Konsens über dieses grundlegende Selbst-
verständnis der Disziplin nicht vorausgesetzt werden kann.3
Ich möchte im Folgenden einen Beitrag zur Explikation der Rolle der
Philosophie in den Lebenswissenschaften leisten, wobei ich davon ausge-
he, dass ihr faktisch diese Relevanz auf breiter Basis zuerkannt wird.4 Da-
bei ist die Selbstreflexion im Sinne einer methodologischen Selbstbesin-
nung leitend, aber auch der Selbstzweifel wird eine Rolle spielen müssen,
weil einige Interpretationen der Rolle der Philosophie im Kontext der Le-
benswissenschaften berechtigten Anlass zu einer fundamentalen Sorge
geben. Die folgenden Ausführungen erheben nicht den Anspruch, eine
erschöpfende Auflistung oder vollständige Beschreibung zu liefern, auf
welche Weisen die Philosophie derzeit ihre Rolle in den Lebenswissen-
schaften auslegt und ausfüllt. Mir geht es hier vielmehr um eine normative
Reflexion und darum aufzuzeigen, weshalb die Philosophie in diesen Kon-
texten der Gefahr ausgesetzt ist, in die schlechte Dialektik einer unfrucht-
baren Antithetik zu geraten. Aus diesem Grunde steht in diesem Beitrag
auch die kritische Diagnose eindeutig im Vordergrund, weil es nur auf der
Basis einer solchen Bestandsaufnahme möglich ist, den Herausforderun-
gen, mit denen die Philosophie im Kontext der Lebenswissenschaften kon-
frontiert ist, angemessen zu begegnen.
Bei meinen Ausführungen verwende ich den Terminus „Lebenswis-
senschaften“ in einem weiten Sinne, der für die Zwecke dieses Beitrags
aber hinreichend spezifisch ist, und fasse nicht nur die Medizin oder die
Biologie, sondern auch die Kognitionswissenschaften oder die an ihnen

3
Um dem an dieser Stelle nahe liegenden Vorwurf der Naivität gleich zu begegnen:
Das soeben Gesagte impliziert nicht die Behauptung, dass man in einem innerdis-
ziplinären philosophischen Kontext auf diese Art der Selbstverständigung verzich-
ten kann, weil es hier einen ‚Goldstandard‘ gebe.
4
Dies schließt weder aus, dass es in Gesellschaft und Politik, in den Lebenswissen-
schaften und der Philosophie selbst auch Stimmen gibt, die diese Relevanz oder die
Tauglichkeit der Philosophie in diesen Kontexten bestreiten. In manchen Zirkeln
der Geisteswissenschaften und in weiten Teilen der Gesellschaftswissenschaften,
man denke nur an die diversen Postmodernismen einerseits oder die von einer
Luhmannschen Systemtheorie geprägte Soziologie andererseits, dürfte dies sogar
die vorherrschende Meinung sein. Aus philosophischer Sicht liegt allerdings der
Verdacht nahe, dass diese Einschätzung aus unaufgeklärten philosophischen Resi-
duen der sich als Alternative zur Philosophie begreifenden Ansätze entspringt.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 175

ausgerichtete Psychologie darunter. Der von mir unterstellte Begriff des


Lebens ist nicht auf den naturwissenschaftlichen Bereich beschränkt, son-
dern soll auch das gesellschaftliche Leben mit einschließen, so dass z. B.
auch die Wissenschaften, die sich etwa mit den sozialen Systemen des
Gesundheitswesens oder der Pflege beschäftigen, unter die Lebenswissen-
schaften subsumiert werden können.
Entsprechend lege ich ein umfassendes Verständnis von „Philosophie“
zugrunde, das theoretische und praktische Philosophie gleichermaßen um-
fasst sowie die systematische als auch die historische Perspektive der Philo-
sophie einschließt. Dahinter steckt die Überzeugung, dass nur ein weites
Verständnis der Lebenswissenschaften der Komplexität der Phänomene
und Probleme gerecht werden kann, mit denen wir es zu tun haben. Ent-
sprechend ist die Philosophie in diesem Kontext in ihrer ganzen Breite ge-
fordert.
Im Hauptteil dieses Beitrags werde ich nun drei Bedeutungen von
„Aufgabe“ und damit drei Weisen, wie die Philosophie ihre Rolle im Kon-
text der Lebenswissenschaften interpretiert, unterscheiden und deren jewei-
lige Defizite sowie die schlechte Dialektik zwischen diesen Alternativen
aufzeigen.5 Danach möchte ich abschließend kurz eine Alternative andeu-
ten und erläutern, weshalb die Philosophie ihrer Aufgabe auf diese Weise
besser gerecht werden kann.

II. Drei Weisen der „Aufgabe“: eine kritische Diagnose

In diesem Abschnitt werden, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, drei


charakteristische Verhaltensweisen der Philosophie im Kontext der Le-
benswissenschaften unterschieden. Beansprucht wird damit weder eine
detaillierte Analyse oder Kritik einzelner Positionen in der so genannten
angewandten Philosophie, noch sollen die diesen Positionen zugrunde
liegenden Hintergrundannahmen erörtert werden.6 Es geht vielmehr dar-

5
Es geht in diesem Abschnitt um die dialektische Bewegung zwischen philosophi-
schen Gestalten, die als Stereotypen fungieren. Damit sind also keine individuellen
philosophischen Positionen gemeint, auf die im Folgenden entsprechend auch nicht
verwiesen wird; vielmehr ist damit zu rechnen, dass keine individuell vertretene
Position genau diesen Stereotypen entspricht. Der damit einhergehende Effekt, dass
sich vermutlich kein Leser von diesen Stereotypen selbst angesprochen fühlt, sie
dagegen aber anderen Philosophen zuordnen kann, ist zwar nicht im engeren Sinne
beabsichtigt, wohl aber wissentlich in Kauf genommen.
6
Dabei kann es sich um metaethische, epistemologische, methodologische, wissen-
schaftstheoretische oder auch ganz allgemein metaphilosophische Annahmen han-
deln.
176 Michael Quante

um, drei fundamentale Tendenzen zu identifizieren und die dialektische


Bewegung zwischen ihnen zu erläutern. Diese drei Tendenzen sind:
(1) Selbstaufgabe durch Nachahmung
(2) Selbstaufgabe durch Akkommodation
(3) Selbstmarginalisierung durch Eskapismus
Die ersten beiden Tendenzen stellen unterschiedliche Formen der Selbst-
aufgabe der Philosophie dar: In der szientistisch orientierten philosophy of
mind lässt sich ein rapider Verlust des methodologischen Selbstbewusst-
seins der Philosophie beobachten, während die zweite Tendenz eine schlei-
chende Erosion der im normativen Sinne kritischen Philosophie mit sich
bringt. Gegen diese beiden Formen der Selbstaufgabe tritt dann die dritte
Tendenz auf, welche es sich zu ihrer Aufgabe macht, diesem Verfall der
Philosophie Einhalt zu gebieten.

II.1 Selbstaufgabe durch Nachahmung


Die Philosophie ist nicht nur als praktische Philosophie in Anwendungskon-
texte involviert. Im Bereich der Hirnforschung oder der Kognitionswissen-
schaften übernimmt z. B. die Philosophie des Geistes eine begleitende oder
sogar leitende Funktion. Gleiches gilt im Kontext technologischer Entwick-
lungen, die zum Ziel haben, ausgefallene Hirnfunktionen zu kompensieren
oder zu verbessern.
Als Abkehrbewegung einer langen Tradition in der Philosophie oder
Theologie, die das Mentale von körperlichen oder empirisch-psycholo-
gischen Merkmalen gänzlich frei halten und in die Sphäre eines reinen
Apriori verlagern will, hat es in der Philosophiegeschichte eine ebenso lange
Tradition gegeben, die mentalen Aspekte menschlichen Lebens ‚materialis-
tisch‘ oder gar ‚rein naturwissenschaftlich‘ zu analysieren, zu reduzieren
oder notfalls zu eliminieren. Der antiklerikale Kampf der französischen
Aufklärer steht genauso in diesem Kontext wie heutige Verteidigungen der
naturwissenschaftlichen Erforschung des Gehirns und der Psyche im Namen
der Forschungsfreiheit und des wissenschaftlichen Fortschritts.7 Die jeweils
aktuellste naturwissenschaftliche Forschung – von den Atomen über die
Chemie hin zu den Neuronen und ihren konnektionistischen Netzwerken
oder dem Gewirr der kognitionswissenschaftlichen Computermetaphorik –
dient dabei jeweils als das diesmal aber nun abschließend gefundene Para-
digma, das den unmittelbar oder zumindest nahe bevorstehenden endgülti-

7
Ein schlagendes Beispiel für diese Tendenz waren in den letzten Jahren die in die-
sem Sinne (!) aufgeklärten Attacken auf die Willensfreiheit, die bis zur Forderung
nach einer Entideologisierung und Umgestaltung des Strafrechts gingen.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 177

gen Durchbruch verheißt. Mit Ausnahme der kommunistischen Heilserwar-


tungen gibt es vermutlich nur weniges aus dem Bereich der menschlichen
Großprojekte, das dermaßen von eschatologischen Annahmen geprägt ist
wie das moderne Projekt der naturwissenschaftlichen Entzauberung des
Menschen bzw. seine philosophierende Begleitmusik.
Die sich von der Theologie emanzipierende Philosophie hat immer
wieder in diesen naturwissenschaftlichen Projekten den Bündnispartner für
ihren Befreiungskampf gesucht und gefunden. Geschichtsvergessen nimmt
sie jedoch häufig ihre eigene Motivationslage gar nicht mehr wahr, mög-
licherweise auch deshalb, weil der philosophy of mind diese Art selbstkri-
tischer Reflexion lediglich als historisches Bildungsornament und damit als
schlicht irrelevant gilt. Der entscheidende Fehler ist allerdings nicht in
dieser philosophiegeschichtlichen Blindheit zu sehen. Die Selbstaufgabe
einer auf das Mentale (oder „das Selbst“) verzichtenden philosophy of
mind liegt darin, dass nicht etwa die empirischen Befunde der Hirnfor-
schung oder der Kognitionswissenschaften auf ihre philosophische Rele-
vanz hin befragt werden. Eine solcherart empirisch informierte Philosophie
des Geistes ist angesichts der conditio humana sowohl systematisch plau-
sibel als auch ein hinreichender Schutz gegen manche substanzdualisti-
schen Theologumena, die sich unter dem Etikett der Philosophie des Geis-
tes, besonders gerne im Kontext der Debatte um personale Identität,
tummeln. Gegen eine Integration empirischer Befunde, die zuvor kritisch
auf ihre philosophische Relevanz hin befragt worden sind, in die Philoso-
phie des Geistes ist überhaupt nichts einzuwenden. Problematisch für die
Philosophie des Geistes und die Philosophie insgesamt wird es erst dann,
wenn die Philosophie ihr Geschäft der kritischen Prüfung dieser Wissen-
schaften, d. h. ihrer Methoden, Prämissen oder Befunde, vernachlässigt und
sich den zumeist impliziten, häufig auch undurchschauten methodologi-
schen oder ontologischen Voraussetzungen dieser Wissenschaften distanz-
los ausliefert. Die Aufgabe der Philosophie des Geistes kann es nicht sein,
evolutionäre oder kausale Erklärungen des Mentalen zu liefern. Sie sollte
auch nicht, nur weil sie gegen eine arm-chair- oder rein begriffliche Analy-
se des Geistigen opponiert, der Suggestion bildgebender Verfahren oder
anderen pseudokonkreten Fetischismen erliegen. Dass in klinischen An-
wendungskontexten oder für naturwissenschaftliche Erkenntnisinteressen
die kategoriale Exaktheit der Philosophie verzichtbar ist und z. B. die Irre-
duzibilität der Teilnehmerperspektive auch bei der Interpretation der na-
turwissenschaftlichen Beobachtung nicht berücksichtigt werden muss,
bedeutet ja nicht, dass man bei einer philosophischen Deutung dieser Be-
funde ebenso großzügig oder nachlässig sein dürfte. Reduktions- oder gar
Eliminationsthesen aber sind, wie auch Identitätsaussagen, eben keine rein
naturwissenschaftlichen Aussagen, auch wenn sie auf der Grundlage na-
178 Michael Quante

turwissenschaftlicher Befunde formuliert werden. Wenn die Philosophie,


eventuell fasziniert von den experimentellen und technischen Fortschritten,
beginnt, die ontologischen und methodologischen Voraussetzungen der
diversen Wissenschaften schlicht zu übernehmen oder in philosophischen
Jargon zu verbrämen, und wenn sie in den Argumentations- und Begrün-
dungsmustern der Naturwissenschaften das allein gültige Allheilmittel
sieht, dann verliert sie unweigerlich ihre Eigenständigkeit. So betrieben
kann die Philosophie letztlich zur Diskussion nur noch die Erkenntnis bei-
tragen, dass es sich bei der Ursprungsfrage eigentlich gar nicht um ein
philosophisches, sondern eben um ein rein empirisches und damit natur-
wissenschaftlich zu klärendes Problem gehandelt habe.8
Es liegt auf der Hand, dass eine Philosophie, die sich in dieser Weise
mit ihrem Gegenüber identifiziert, für die Naturwissenschaften kein attrak-
tiver oder die eigene Perspektive dieser Disziplinen bereichernder Dialog-
partner sein kann. Lässt man den kurzzeitigen und zumindest für wissen-
schaftliche Zwecke irrelevanten Aspekt beiseite, dass der Beifall der
Philosophie der Hirnforschung oder den Kognitionswissenschaften gefal-
len und beim Einwerben von Drittmitteln möglicherweise sogar helfen
mag, dann können die anderen Disziplinen von einer sich derart selbst
aufgebenden und ihr eigenes Wesen missverstehenden Philosophie länger-
fristig nicht profitieren. Interdisziplinäre Kooperation mit der Philosophie
setzt deren Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit voraus. Der scheinbare
Gewinn an Relevanz und Respektabilität, den die Philosophie des Geistes
durch ihre Wandlung zu einer szientistischen philosophy of mind zu erlan-
gen versucht, ist in letzter Instanz ein dramatischer Verlust an Relevanz,
denn Naturwissenschaft wird letztendlich immer noch von den Naturwis-
senschaftlern betrieben und nicht von einer sich naturwissenschaftlich
gebärenden Philosophie; und dieser kurzfristige Prestigegewinn wird er-
kauft mit einem nachhaltigen Verlust philosophischer Identität.
Um an dieser Stelle keine Missverständnisse aufkommen zu lassen, sei
auf zwei Punkte nochmals explizit hingewiesen: Erstens sind nicht die

8
Im sozial- und gesellschaftswissenschaftlichen Bereich liegen die Dinge häufig
etwas anders. Auch wenn die Philosophie weder eine Sozial- oder Gesellschafts-
noch eine Geisteswissenschaft ist, führt ihre scheinbare größere Nähe zu diesen
Disziplinen doch dazu, dass es auf der methodologischen Ebene ein stärkeres Ab-
grenzungsbedürfnis gibt. Dafür kommt es dann auf der inhaltlichen Ebene häufig zu
kurzschlüssigen Allianzen: So gelten z. B. den Ökonomen regelmäßig solche Philo-
sophen als ‚groß‘, die mit ihnen bestimmte inhaltliche Positionen – z. B. in Bezug
auf die Unverzichtbarkeit liberaler Märkte oder die Unantastbarkeit des Privat-
eigentums – teilen. Die geteilte ‚Wahrheit‘ der Weltanschauung ersetzt dabei gerne
einmal die Qualität der Argumentation.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 179

Naturwissenschaften als solche das Problem, sondern szientistische An-


sprüche (egal ob von Naturwissenschaftlern oder Philosophen erhoben);
und zweitens besteht die angemessene Antwort auf den Szientismus nicht
in einem (wie immer sonst motivierten) Apriorismus oder Substanzdualis-
mus, sondern in einer empirisch gehaltvollen Philosophie des Geistes.

II.2 Selbstaufgabe durch Akkomodation


Der neoliberalistische Zeitgeist und die Ökonomisierung aller sozialen
Beziehungen der Lebenswelt machen bekanntlich selbst vor den Universi-
täten nicht halt. Auch die philosophischen Institute stellen hier keine Aus-
nahme dar. Wenn sich der Wert und die Bedeutung des eigenen For-
schungsbeitrags, zumindest sobald man sich in den Evaluationswelten
außerhalb des eigenen Faches bewegt, nur noch nach den Faktoren „Dritt-
mittel“ und „impact“ bemisst, und wenn diese Faktoren dann unter dem
Stichwort der leistungsorientierten Mittelvergabe unmittelbar in die For-
schungsrealität der Philosophie einschlagen, spätestens dann erlangt die
angewandte Philosophie Attraktivität, verspricht sie doch durch ihre Ko-
operation mit Wissenschaften, für die diese schöne neue Welt der autono-
men Wissenschaft eher gemacht zu sein scheint, den Anschluss an die
ökonomisch bedeutsamen Reviere zu halten.
Wer als Philosoph in der biomedizinischen Ethik arbeitet, begibt sich
sprichwörtlich auf den Markt, da es hier häufig auch um direkte Verwer-
tungsinteressen geht. In vielen Bereichen ist überdies die politische Macht
(in Gestalt diverser politischer Mächte) nahe. Und die Geschichte der Phi-
losophie belegt schmerzhaft, dass ein zu enges Bündnis mit letzterer lang-
fristig keinem nutzt: Weder der legitimierten politischen Ordnung noch der
sich zur reinen Legitimationsinstanz degradierenden Philosophie.
Es liegt also in der Natur der Sache der ‚angewandten‘ Philosophie,
d. h. an ihrer Beschäftigung mit den Themen der Lebenswissenschaften,
dass ökonomische und politische Interessen Einfluss auf die philosophi-
sche Arbeit nehmen. Dies bedeutet selbstverständlich nicht, dass die Philo-
sophie (oder: alle Philosophinnen und Philosophen) generell nicht in der
Lage sind (oder gar: sein können), mit diesen Einflüssen verantwortlich
umzugehen. Aber es liegt nahe, dass auch die Philosophie (oder: einzelne
ihrer Vertreter) den mit dieser Nähe einhergehenden Versuchungen genau-
so erliegen, wie Vertreter anderer Berufsgruppen auch. Bedenkt man, dass
die soeben erwähnten, durch die Umstrukturierung des Wissenschaftsbe-
triebs erzeugten Zwänge einen zusätzlichen externen Druck ausüben, dann
sollte sich die Philosophie dieses Problems selbstkritisch annehmen und
mit den ihr eigenen Instrumenten der kritischen Erörterung versuchen, ihre
Würde zu bewahren, und es nicht einzig darauf abstellen, ihren Preis auf
dem Markt zu halten oder zu steigern.
180 Michael Quante

Bevor ich mich der dritten Tendenz zuwende, seien drei Anmerkungen
zur Vermeidung möglicher Missverständnisse eingefügt: Erstens spricht
nichts dagegen, sondern (aus Sicht des Faches) alles dafür, den Preis der
Philosophie hoch zu halten, solange die Würde der Philosophie dabei nicht
beschädigt wird. Damit ist zweitens gesagt, dass die Philosophie, wenn sie
sich in die Felder der Lebenswissenschaften begibt, nicht notwendig schei-
tern, d. h. ihre Würde verlieren muss. Schließlich möchte ich drittens dar-
auf hinweisen, dass es zusätzlich zu den oben genannten ‚Zwängen‘ und
‚Versuchungen‘ noch einen weiteren Punkt gibt, der ein Abgleiten in bloße
Akzeptanzbeschaffungsforschung befördern kann. Wenn die Philosophie
ihre Aufgaben im Bereich der Lebenswissenschaften ernst nimmt, dann
wird sie immer auch berücksichtigen müssen, welche normativen Forde-
rungen in einem gegebenen gesellschaftlichen Kontext eine realistische
Chance auf Umsetzung haben. Dies ist ohne Zweifel ein schmaler Grat (ich
komme darauf im letzten Abschnitt dieses Beitrags noch einmal zurück).

II.3. Selbstmarginalisation
Die beiden soeben beschriebenen Tendenzen stellen keine lediglich hypo-
thetischen Gefährdungslagen dar. Vielmehr gibt es Entwicklungen in der
gegenwärtigen Philosophie, die zu einer kritischen Selbstreflexion berech-
tigten Anlass geben, die über eine bloße methodologische Selbstverständi-
gung hinausgehen müssen. Die dritte Tendenz, die ich jetzt kurz skizzieren
möchte, reagiert auf derartige Fehlentwicklungen explizit normativ und
versteht die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften als
sittliche Mission, betreibt diese jedoch auf eine Weise, die zur Selbstmargi-
nalisation der Philosophie führt. Dabei lassen sich grob drei Varianten der
Philosophie, die auf die beiden soeben beschriebenen Formen der Selbst-
aufgabe der Philosophie mit der Aufgabe der sittlichen Mission in den
Lebenswissenschaften antworten, unterscheiden:
(a) die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff,
(b) die ‚schöne‘ Seele,
(c) die Diktatur der reinen Moralität.
(a) Die Flucht in den ‚reinen‘ Begriff treten Philosophinnen und Philoso-
phen sowohl im Bereich der Philosophie des Geistes, besonders gerne im
Bereich der Philosophie der personalen Identität, als auch im Bereich der
Ethik in den Lebenswissenschaften an. Nicht nur als Radikalkur gegen die
diversen Versuchungen, der Welt verwertbares Wissen zur Verfügung zu
stellen, sondern auch als Sicherheitsmaßnahme, die der Philosophie einen
eigenständigen Gegenstandsbereich bewahren soll, der vor der feindlichen
Übernahme durch die empirischen Wissenschaften generell und ein für alle
mal gefeit ist, zieht sich die Philosophie auf das Prinzipielle zurück, das
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 181

lediglich noch philosophisch erreichbar ist. Dort angelangt entbrennt dann


ein Streit, der aus prinzipiellen Gründen nur innerphilosophisch geführt
werden kann und sich um die Frage dreht, ob es einen solchen genuin phi-
losophischen Gegenstandsbereich überhaupt gibt. Eine Philosophie, die
dies als ihr einziges Geschäft betrachtet, wirkt von außen selbstverliebt,
sich selbst zerfleischend oder autistisch; bei aller Faszination, die sie so auf
andere ausüben mag, ist ihre Relevanz für andere Wissenschaften oder
auch die Gesellschaft insgesamt nur gering.
Anders als Logik oder Mathematik, deren Grundlagenfragen für andere
Wissenschaften aus offensichtlichen Gründen nicht bedeutungslos sein
können, fällt es der Philosophie häufig schwer, die Relevanz ihrer Spezial-
debatten auszuweisen. Will man sich aber nicht aus dem interdisziplinären
und gesellschaftlichen Diskurs in den sprichwörtlichen ‚Elfenbeinturm‘
zurückziehen oder die Arroganz von l’art pour l’art für sich in Anspruch
nehmen, ist die Philosophie aufgefordert, die Bedeutung ihrer Fragen und
Argumente verständlich zu machen. Dies heißt selbstverständlich, analog
zur Bedeutung der Grundlagenforschung beispielsweise in Physik oder
Medizin, nicht, dass nur die direkt angewandte Philosophie eine Daseins-
berechtigung hätte. Aber es bedeutet, die – wenn womöglich auch nur
indirekten – Auswirkungen philosophischer Reflexion auf andere Bereiche
kenntlich zu machen.
(b) Die schöne Seele tritt in der Philosophie in zwei Formen auf: Auf
den Spuren der reinen Vernunft und des perfekten Wissens scheut sie sich
zum einen vor der Komplexität des wirklichen Lebens, sei es im Mentalen,
sei es im ethischen Bereich. Fragen personaler Identität, der Freiheit oder
des Mentalen werden im Prinzipiellen gestellt und beantwortet sowie in
abstrakten Modellen und in immer weniger nachvollziehbaren Szenarien
möglicher Welten, die von Zombies, Subjekten mit inverted oder absent
qualia oder auch allmächtigen Hirnchirurgen bevölkert werden, themati-
siert. Fragen der Gerechtigkeit werden in abstrakten, gerne auch exakt ma-
thematisch gefassten Formeln diskutiert, wobei man sich zugleich der die
prinzipielle Argumentation ‚vereinfachenden‘ Vorannahme bedient, die
gegebenen Eigentumsverhältnisse als gerechtfertigt und gegeben vorauszu-
setzen. Es werden Gehirne halbiert, fallen gelassen und vertauscht, um
Antworten auf die Frage zu geben, wer nach solchen Ereignissen noch wer
ist. Die Komplexitäten der Realität, sei es in den Psychiatrien oder unter
Bedingungen der globalisierten Ungerechtigkeit, kommen nur als später zu
behandelnde Sonderfälle in den Blick. Ist man aber erst einmal auf twin
earth angekommen oder in den Feinheiten von Rationalitäts- und Entschei-
dungstheorie verstrickt, fällt der Weg zurück in die raue Wirklichkeit
enorm schwer. Zum anderen scheut die schöne Seele eine allzu große An-
näherung an unsere alltägliche und auch politische Praxis, um sich nicht der
182 Michael Quante

Gefahr auszusetzen, in gesellschaftlich relevanter Weise Verantwortung


übernehmen und eventuell (Mit-)Schuld auf sich laden zu müssen. Dies sei
bloß politisch und eben nicht philosophisch, mit rein philosophischen Mit-
teln nicht zu bewältigen und setze die Philosophie überdies der Gefahr aus,
sich ‚die Hände schmutzig zu machen‘ oder sich zu korrumpieren.
Selbstverständlich ist zugestanden, dass die sozialen und politischen
Fragen, die sich z. B. im Bereich der Lebenswissenschaften stellen, nur im
allerkleinsten Umfang mit rein philosophischen Mitteln zu klären sind
(zumeist in negativer Form durch die Aufdeckung schlechter Begründun-
gen). Daraus folgt aber nicht, dass philosophisches Argumentieren keine
hilfreiche, vielleicht sogar unverzichtbare Größe in diesem Kontext sein
kann. Und daraus folgt nicht, dass sich die Philosophie der Herausforderung
in den Lebenswissenschaften nicht stellen sollte. Denn gepaart mit der
Einbildung, sich dem eigentlichen Geschäft der Philosophie zu widmen,
führt ein derartiger Eskapismus nicht nur zur gesellschaftlichen Irrelevanz
der Philosophie, deren Leerstelle dann dankend von anderen Disziplinen
(bis hin zu philosophierenden und die Grundlagen des Rechts erneuernden
Hirnforschern) ausgefüllt wird, sondern auch zu einer inhaltlichen Verar-
mung der Philosophie. Selbst wenn auf diese Weise gewisse Gefahren der
Korruption und des Verlusts der philosophischen Identität vermeidbar zu
sein scheinen, ist der Preis für diese ‚innere Emigration‘ zu hoch: esote-
risch und exoterisch.
(c) Es kann daher nicht verwundern, dass angesichts der beiden For-
men der Selbstaufgabe und der Unzulänglichkeit dieser beiden Formen,
sich auf die eigentliche Aufgabe der Philosophie zu besinnen, noch eine
weitere Gestalt, die Aufgabe der Philosophie zu interpretieren, auftritt, die
ihre Rolle offensiv und kämpferisch interpretiert. Da sich diese dritte Vari-
ante im Bereich der Philosophie des Geistes nur schwer von der Flucht in
den reinen Begriff unterscheiden lässt, beschränke ich mich hier auf eine
kurze Skizze ihres Auftritts im Bereich der Ethik in den Lebenswissen-
schaften. Als Diktatur der reinen Moralität tritt dort eine philosophische
Ethik auf, die – prinzipientreu und an Folgen- oder Aspektabwägungen
gänzlich uninteressiert – ohne Rücksicht auf institutionelle Rahmen oder
konkrete Handlungskontexte anzugeben versucht, was das sittlich Richtige
ist und unsere Gesellschaft zu tun oder zu lassen hat. Weder das, was die
lebensweltlich betroffenen Subjekte faktisch wollen, noch das, was sich
aus der Urteilskraft oder der Handlungsperspektive z. B. des medizinischen
Personals als ethisch relevant erweist, gilt dieser philosophisch gestählten
Expertenkultur als ethisch bedeutsam. Vielmehr ist es die philosophische
Erkenntnis, sei sie deontologischer oder utilitaristischer Couleur, die fest-
legt, was das ethisch Richtige oder Gute ist. Zwar mag eine so verstandene
praktische Philosophie ein Schutzschild gegen die schleichende Korruption
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 183

der grau schattierten Handlungswirklichkeit und deren prinzipienuntergra-


benden Effekte sein. Den von einer solchen Expertenethik von außen
heimgesuchten Subjekten, seien es die Betroffenen, seien es die in den
jeweiligen Handlungskontexten involvierten Personen- oder Berufsgrup-
pen, muss eine so betriebene philosophische Ethik jedoch zwangsläufig als
paternalistische oder dogmatische Bevormundung erscheinen. Die Reinheit
einer so betriebenen Ethik steht daher häufig im umgekehrten Verhältnis
zu ihrer Anschlussfähigkeit und motivierenden Kraft in den fraglichen
gesellschaftlichen Kontexten. Daher ist es nicht vollkommen unverständ-
lich, wenn eine derartige reine Moralkonzeption als bloße Sonntagsrede
ohne praktisch-politische Relevanz zurückgewiesen wird.9
Es liegt auf der Hand, dass sich auch Bündnisse zwischen diesen drei
Formen, die Aufgabe der Philosophie in Abkehr von den beiden Selbstauf-
gaben der Philosophie zu definieren, einstellen. So ist es beispielsweise
nahe liegend, die metaethischen Grundlagen der Diktatur der reinen Mora-
lität ausschließlich im Bereich des ‚reinen‘ Begriffs anzusiedeln. Und eine
sich vor sich selbst verbergende schöne Seele wird zur stabilen Grundhal-
tung, indem die angemessenen ethischen Forderungen zugleich solche
sind, deren gesellschaftliche oder politische Umsetzbarkeit aussichtslos ist
(beispielsweise nach dem Modell, statt den Einsatz von Verhütungsmitteln
sexuelle Enthaltsamkeit zu predigen).

III. Ethik in Anwendung: Skizze einer Alternative

Angesichts der Schwierigkeit der Aufgabe, die sich der Philosophie im


Kontext der Lebenswissenschaften stellt, liegt es nahe, dass sie sich in die
soeben dargestellte schlechte Dialektik verstrickt. Wie kann sie sich ver-
antwortlich der Aufgabe stellen, ohne den angeführten Fallstricken zu er-
liegen? In einem Beitrag wie diesem kann diese Frage nicht befriedigend
beantwortet werden, und zwar nicht nur deshalb nicht, weil eine Antwort
den üblicherweise an dieser Stelle genannten Rahmen sprengen würde. Der
tiefer liegende Grund ist vielmehr, dass diese Antwort nur darin bestehen
kann, die gestellte Aufgabe in der Praxis befriedigend zu lösen. Dennoch
lassen sich einige allgemeine normative Konsequenzen aus den Überle-
gungen meines Beitrags ziehen.

9
Für eine Analyse solcher konstitutiv unaufrichtigen Gestalten des Bewusstseins sei
hier neben Hegels Phänomenologie des Geistes auf die Arbeiten Bruno Bauers oder
Jean-Paul Sartres verwiesen.
184 Michael Quante

Zuerst einmal ist es wichtig, dass sich die Philosophie den anderen
Disziplinen auf Augenhöhe und mit Augenmaß zuwendet. Ersteres bedeu-
tet, dass sie in den Dialog im Bewusstsein der (methodologischen und
begründungstheoretischen) Eigenständigkeit unter klarer Einforderung der
prinzipiellen argumentativen Gleichberechtigung eintritt. Dies erfordert die
permanente Ausübung ihrer konstitutiven Fähigkeit zur kritischen Reflexi-
on der disziplinenübergreifenden Kooperation und zur kritischen Selbstre-
flexion ihrer eigenen Rolle dabei.10
Augenmaß ist von Nöten, um die Fragestellungen der anderen Diszip-
linen zu erkennen und in ihrem Eigenrecht anzuerkennen. Angesichts der
Faszination des Konkreten, seien es Kausalerklärungen, konkrete Daten
oder auch Visualisierungen von Gehirnprozessen, ist die Philosophie auf-
gefordert, sich die philosophische Relevanz dieser Daten klar zu machen
und genau zu bestimmen, welchen Beitrag die einzelnen Disziplinen zur
jeweiligen Problemstellung beizutragen haben. Um Missverständnisse und
Reibungsverluste durch Kompetenzstreitigkeiten oder soziale Konflikte zu
vermeiden, ist es an dieser Stelle unerlässlich, zwischen einer horizontalen
und einer vertikalen Form interdisziplinärer Kooperation zu unterscheiden.
Ersterer ist das Ideal der Gleichberechtigung aller Diskursteilnehmer auf
allen Ebenen eingeschrieben; letztere akzeptiert, dass je nach Problemdefi-
nition bestimmte Disziplinen die Fragestellungen oder Beweisziele vorge-
ben, also eine arbeitsteilige Struktur vorliegt.11
Dabei muss sie, immer wieder und aufs Neue, auf der Relevanz ihres
philosophischen Beitrags bestehen, auch wenn dieser in der Regel, man
denke an Begriffsklärungen und die Unterscheidung von Argumenta-
tionsarten oder -ebenen, quer zu den methodologischen Vorgaben und
Üblichkeiten der meisten anderen Disziplinen steht. Das Beharren auf dem
Unterschied zwischen deskriptiv-prognostischen und normativen Aussagen
oder der Relevanz begrifflicher Klärungen auch in Kontexten empirischer
Fragestellungen erfordert dabei ebenfalls Augenmaß (und Geduld auf allen
Seiten). Es liegt auf der Hand, dass die Philosophie dies nur umsetzen
kann, wenn sie über ein klares Bewusstsein ihrer eigenen Kompetenz qua
Philosophie verfügt.
Wo aber bleibt, so wird man vermutlich an dieser Stelle einwenden
wollen, in diesem Geschäft die Moral? Bei vielen, wenn auch nicht allen
Fragestellungen, die durch die Lebenswissenschaften aufgeworfen werden,

10
Gerade in dieser Fähigkeit zur kritischen Selbstreflexion und zur kritischen Refle-
xion der interdisziplinären (oder auch transdisziplinären) Kooperation ist ein genui-
ner Beitrag der Philosophie zu verorten.
11
Ich habe diese Unterscheidung an anderer Stelle ausführlicher erörtert; vgl. hierzu
Quante 2002.
Die Aufgabe der Philosophie in den Lebenswissenschaften 185

geht es um ethische Urteilsfindung im interdisziplinären und gesellschaftli-


chen Diskurs. Hier kann die Philosophie nur überzeugen und sich verant-
wortungsvoll sowie konstruktiv einbringen, wenn sie in ihrer Argumenta-
tion sowohl für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen als auch für die
jeweiligen Kontexte der Problemkonstellation sensitiv bleibt.12 Neben
dieser Aufgabe, deren Erfüllung als Vorbedingung für eine rationale ge-
sellschaftliche Diskussion unerlässlich ist, muss die philosophische Ethik
die Herausforderung meistern, die darin besteht, zwei Extreme gleicher-
maßen zu vermeiden: Zum einen darf sie nicht dem Irrtum erliegen, es
gäbe hinsichtlich der konkreten Bewertung ethischer Fragen so etwas wie
philosophische Expertise. Zum anderen darf sie daraus aber auch nicht in
das umgekehrte Extrem verfallen, dieses Feld des normativen Diskurses
technokratischen Lösungen oder Experten anderer Disziplinen zu überlas-
sen (beispielsweise die Frage der Gerechtigkeit sozialer Systeme an die
Ökonomie zu delegieren). Auch wenn der Philosophie, obwohl sie sich
dies gelegentlich immer wieder einmal angemaßt hat, keine genuine Exper-
tenrolle hinsichtlich der Beantwortung von Norm- und Wertfragen zu-
kommt, die nur im gesellschaftlichen Diskurs entschieden werden können,
hat sie doch eine unverzichtbare kritische Kompetenz, die darin besteht,
argumentative Fehler und Übergriffe anderer Disziplinen in diesen Kontex-
ten aufzudecken und zurückzuweisen.13
Diesen Herausforderungen kann die Philosophie natürlich nur durch
die Philosophinnen und Philosophen, die sich ihnen stellen, gerecht wer-
den. Für diese gilt es, sich weder von der Nähe zur politischen Macht noch
von denen zu ökonomisch einflussreichen Kontexten, seien es Drittmittel
oder unmittelbare Verwertungsinteressen, korrumpieren zu lassen.
Selbstverständlich ist keine Philosophin und kein Philosoph persönlich
darauf verpflichtet, sich dieser Aufgabe zu widmen.14 In einer Gesellschaft,
die auch in Zeiten knapper Finanzmittel nicht darauf verzichtet, Philoso-
phie in Schulen und an Universitäten zu lehren, ist die gesellschaftliche

12
Als Beispiel für letzteres verweise ich auf die unterschiedlichen Ebenen von Vertei-
lungsfragen im Gesundheitssystem, die einen überaus differenzierten Gebrauch des
Gerechtigkeitsbegriffs verlangt; ersteres erfordert z. B., die in gesellschaftlichen
Kontexten vorfindliche oder zu erwartende Konnotation von Termini mit zu beden-
ken (Beispiele sind etwa „Euthanasie“, „Humanexperiment“, „verbrauchende Em-
bryonenforschung“ oder „Zwangssterilisation“).
13
Denkt man an die rechtsphilosophischen Eskapaden mancher Hirnforscher oder die
neoliberalen Schnellschüsse mancher Ökonomen beim Versuch der Abwicklung
des Sozialstaats, so wird man nicht sagen wollen, dass dies eine irrelevante oder
leichte Aufgabe ist.
14
Und selbstverständlich feit die Philosophie, genauso wenig wie irgendeine andere
wissenschaftliche Disziplin, vor der Gefahr, sich korrumpieren zu lassen.
186 Michael Quante

Anfrage an die Philosophie, im Kontext der Lebenswissenschaften Orien-


tierung zu bieten, ohne Zweifel legitim; als Fach sollten wir ihr daher auf
jeden Fall nachkommen. Bedenkt man überdies, dass eine generelle Ver-
weigerung der Philosophie nicht nur nach außen (durch gesellschaftliche
Marginalisierung und interdisziplinäre Isolation) schadet, sondern sie
(Stichwort „einseitige Diät“) auch nach innen auszehren kann, gibt es auch
fachintern gute Gründe, sich mit den Herausforderungen der Lebenswis-
senschaften philosophisch auseinanderzusetzen. Auch wenn die Lebens-
wissenschaften ohne die Philosophie nicht blind, sondern nur kurzsichtig
und die Philosophie ohne Interdisziplinarität nicht leer, sondern nur mager
wäre, dürfen wir optimistisch sein, dass sich auch in Zukunft genügend
Philosophinnen und Philosophen den Herausforderungen stellen werden.

Literatur
Quante, M., 2002: Interdisziplinarität und Politikberatung, in: K. Bizer/M. Führ/C. Hüttig
(Hg.), Responsive Regulierung – Beiträge zur interdisziplinären Institutionenanalyse
und Gesetzesfolgenabschätzung, Tübingen, 175–193.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein?

Wilhelm Schmid

I. Die Situation in moderner Zeit

Hat die Philosophie etwas mit dem Leben zu tun? Diese Frage stellen Men-
schen zuweilen, wenn sie mit den Überlegungen zu einer Philosophie der
Lebenskunst konfrontiert sind. Das also ist das Bild, das Philosophen von
ihrer Disziplin erzeugt haben; es ist nicht zu beurteilen, nur zur Kenntnis zu
nehmen. Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? Da sind es
wohl viele Philosophen selbst, die offen ablehnend oder diplomatisch aus-
weichend reagieren. „Hilfe für das Leben“: Das erscheint ihnen suspekt,
und nicht nur ihnen, sondern vielen Intellektuellen überhaupt. Es sind diese
Hoffnungen, die Intellektuelle in Furcht und Schrecken versetzen: Die Su-
che nach „Lebenshilfe“ einer wachsenden Zahl von Menschen trifft auf das
Entsetzen der Gebildeten, die nichts damit zu tun haben wollen.
Woher die Heftigkeit der Nachfrage, warum die Entschiedenheit der
Verweigerung? Die Nachfrage rührt her von all denen, die sich in ihrer
Lebensbewältigung auf sich selbst gestellt sehen, eine Folge der verlorenen
Tradition, Konvention, Religion, die bis ins Detail des Alltags hinein defi-
nieren konnten, wie zu leben ist. Praktisches Lebenwissen wird in der Mo-
derne nicht mehr von Person zu Person, von Generation zu Generation
weitergereicht; die fortschreitende Befreiung hat diese Kette unterbrochen.
So findet sich das Individuum allein in seinem begrenzten Lebenshorizont
wieder, die Ressourcen eines überlieferten, gemeinsamen Lebenwissens
bleiben ihm verschlossen und es beginnt danach zu fragen, wo Lebenshilfe
zu bekommen sei. Die Situation wird verschärft von Ängsten und der Emp-
findung von Schwäche angesichts der Komplexität moderner Gesellschaf-
ten und der stets neuen Herausforderungen durch Wissenschaft und Tech-
nik, auf die nicht von vornherein schon Antworten bereitstehen.


Dieser Beitrag erschien erstmals in: V. Steenblock (Hg.), Philosophisches Lese-
buch. Von den Vorsokratikern bis heute (Reclam-UB 18496), Stuttgart 2009, 437–
448. Wir danken dem Herausgeber sowie dem Reclam-Verlag für die Genehmigung
des Wiederabdrucks.
188 Wilhelm Schmid

Eine ganze Skala von Lebensfragen bricht auf, Einzelfragen und


grundlegende Fragen, bürokratische, gestalterische, therapeutische und
existenzielle Fragen. Für die bürokratische Seite der Lebensbewältigung
stehen spezifische Kompetenzen zur Verfügung, mit deren Hilfe zuweilen
banale, aber im situativen Lebensvollzug einer modernen Gesellschaft
drängende Probleme wie Finanz-, Steuer-, Rechtsfragen zu bewältigen
sind. Auch für die gestalterische Seite der Lebensbewältigung lässt sich je
besonderer Sachverstand konsultieren, wenn es um berufliche Möglichkei-
ten, Gesundheitsvorsorge, Ernährungsfragen, Fragen des Verbraucher-
schutzes, Reiseplanung etc. geht. Einzelkompetenzen sind verfügbar zur
therapeutischen Seite, um eine Krankheit im Organischen oder Psychi-
schen zu behandeln, eine „Störung“ in einer Kommunikation oder Bezie-
hung zu beheben und nach dem richtigen Umgang mit Gefühlen und Lei-
denschaften, mit Lüsten und Ängsten zu fragen. Was aber ist mit der
existenziellen Seite, bei der es, in Überschneidung mit therapeutischen
Fragen, die gestalterischen tangierend, die bürokratischen Fragen weit
übergreifend, um die eigentlichen Lebensfragen geht: Ist dieses Leben, das
individuelle, das gesellschaftliche, auf dem richtigen Weg? Was ist Leben
für mich? Was halte ich für wichtig: Freundschaft, Liebschaft, ein Leben in
Zurückgezogenheit oder in der Öffentlichkeit? Wie kann ich mein Leben
führen? Welchen Sinn haben Lüste, Ängste, Schmerzen, Krankheit und
Leid? Welches Verhältnis habe ich zum Tod? Woran kann dieses Leben
orientiert werden? Was ist schön und bejahenswert für mich, was sind die
Werte, denen ich in meinem Leben Bedeutung geben will? Was ist in mei-
nen Augen Glück, was der Sinn des Lebens? Was ist das überhaupt,
„Glück“, „Sinn“?
Um Antworten zu finden, suchen Menschen in wachsendem Maße
nach einem Raum, in dem die Erörterung dieser Fragen möglich ist. Einen
solchen Raum des Innehaltens und Nachdenkens bieten die Theologie,
auch die Therapie im weiteren Sinne – und die Philosophie. Darin besteht
bereits ein Teil ihrer Lebenshilfe: den „logischen“, geistigen Raum zur
Verfügung zu stellen, in dem die eigenständige Urteilskraft zu gewinnen
ist, mit deren Hilfe das Leben neu orientiert werden kann. Dass dieser
Raum der umfassenden Besinnung und Selbstbesinnung offen steht, dass in
ihm abseits aller Aktivität die Passivität der Nachdenklichkeit gelebt wer-
den kann, ist zweifellos ein Grund für die wachsende Bedeutung der Philo-
sophie in orientierungsloser Zeit, immer wieder in der Geschichte seit der
Antike. Die Lebenshilfe der Philosophie ist keine Form von Therapie. Wer
Lebensfragen hat, ist nicht therapiebedürftig, jedenfalls nicht im engeren,
modernen Sinne des Wortes, das einen pathologischen oder dysfunktiona-
len Hintergrund voraussetzt, allenfalls im weiteren, antiken Sinne der grie-
chischen therapeía, die eine Pflege und Sorge meint, wie dies auch in
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 189

mancher Psychotherapie wieder entdeckt wird. Erst recht ist die Sorge um
eine „Heilung der Seele“ (psychƝs iatreía) nicht zwangsläufig ein Fall für
die Psychiatrie.

II. Die Hilfestellung der Philosophie

Die Philosophie „behandelt“ nicht, sie trägt vielmehr zu einer Klärung von
Lebensfragen bei. Die Klärung geschieht mithilfe der Philosophie, nicht
etwa durch sie. Der Klärungsprozess zielt nicht darauf, definitive Klarheit
zu erreichen, sondern diejenige operative Klarheit, die das Leben wieder
ermöglicht. Das philosophische Angebot zur Klärung, seit Sokrates ein
Angebot zum Gespräch, besteht in einer Art von Geburtshilfe, maieutikƝ,
um das je eigene Denken hervorzubringen. Es ermöglicht den Gesprächs-
partnern, jeweils für sich selbst die Orientierung zu gewinnen, die im Di-
ckicht des alltäglich gelebten Lebens verloren gegangen oder noch nie
gefunden worden ist. Der Philosoph kann der Gesprächspartner in diesem
Lebensgespräch sein, unabhängig davon, ob das Gespräch real (gespro-
chen) oder imaginär (gedacht) geschieht. Die Stärke der Philosophie liegt
dabei in der Tat eher in ihrer Schwäche: keine letztgültige Klärung erden-
schwerer Fragen, keine absolute Klarheit über Leben und Welt erlangen zu
können – Tausende von Anläufen dazu in Tausenden von Jahren haben
dies jedenfalls nicht erbracht. Gerade diese Schwäche lässt den Raum der
Philosophie so attraktiv erscheinen: Sie offeriert den Raum zur Erörterung
all der Fragen, die andernorts keinen Platz finden; sie vermittelt die Erfah-
rung, dass es Fragen gibt, die kaum jemals definitiv zu beantworten sind;
sie regt die Einsicht an, dass die Lebenskunst wohl zu einem guten Teil
darin besteht, sich mit diesem Stand der Dinge zu bescheiden. Das Ge-
spräch aber zu verweigern, treibt Menschen erst in die Arme derer, die
fragwürdige Formen von „Lebenshilfe“ anbieten und Verklärung an die
Stelle von Klärung setzen.
Wie dieses Gespräch unter heutigen Bedingungen aussehen kann, lässt
sich im Experiment erproben. Was meinen Beitrag dazu angeht, versuche
ich seit 1998 in regelmäßiger Arbeit an einem Krankenhaus in der Nähe
von Zürich einige Arbeit zu leisten: in Vorträgen, Seminaren, Arbeitsgrup-
pen, vor allem aber Gesprächen, nicht nur mit den Patienten, sondern auch
mit den Mitarbeitern und Ärzten. Was geschieht in diesen Gesprächen?
Erwartet wird etwas Spektakuläres. Aber es sind in aller Regel unspektaku-
läre Gespräche, und es ist beinahe unerheblich, was ihr Inhalt ist. Das blo-
ße Faktum des Gesprächs scheint bereits wichtig zu sein, um zu entlasten,
zu ermuntern, anzuregen, etwas zu klären, zu bereinigen, zu befreien. Der
„Trost der Philosophie“ besteht wohl in einer Erweiterung des Horizonts,
190 Wilhelm Schmid

um den Raum der Möglichkeiten des Denkens zu erschließen und auf diese
Weise die Möglichkeiten des Lebens besser zu sehen. Was viele suchen, ist
das Gespräch über das Leben, aus dem Bedürfnis heraus, sich mehr Klar-
heit über das eigene Leben und „das Leben“ überhaupt zu verschaffen. Es
bedarf keiner physiologischen oder psychologischen Pathologie, um Fra-
gen an das Leben zu haben, die in der Situation des Krankenhauses jedoch
mehr kulminieren als irgendwo sonst, und für die doch gewöhnlich kaum
jemand als Gesprächspartner zur Verfügung steht.
Eine andere Art von Arbeit ist die als Gastdozent an der Staatlichen
Universität in Tiflis in Georgien (seit 1997). Die Frage liegt nahe: Wie
kommen Menschen in einem Land mit 60 Prozent Arbeitslosigkeit und ohne
nennenswerte Sozialleistungen auf die Idee, Philosophie, also die brotlose
Kunst par excellence, zu studieren? Aber die Antwort ist einfach: Um ihr
Leben besser zu verstehen und möglicherweise darauf Einfluss zu nehmen;
nicht nur auf das individuelle, sondern mehr noch auf das gesellschaftliche
Leben, von dem das individuelle wiederum abhängig ist. Eine Modernisie-
rung erscheint unumgänglich, wenn die Lebensverhältnisse jemals verbes-
sert werden sollen. Aber was ist Moderne? Von vornherein muss sie hier den
beharrenden Kräften Rechnung tragen; sie hat eine Antwort zu suchen auf
den Umstand, dass die Menschen in Georgien massenhaft in die orthodoxe
Kirche zurückströmen, die eine radikale Anti-Moderne vertritt. Wichtig ist,
darüber nachzudenken – und wir tun das anhand der Analyse von Texten der
frühen christlichen Kirchenväter –, was Religion denn ist, um sie nicht
umstandslos mit einem starren System von Dogmen zu verwechseln, viel-
mehr mithilfe hermeneutischen Verstehens und einer freieren Religiosität
die Brücke zu bauen, die eine Modernisierung ermöglicht. Und auch die
Schwächen der Moderne und mögliche Antworten darauf kommen von
vornherein in den Blick, vorzugsweise anhand der frühen Kritik der Moder-
ne bei den deutschen Frühromantikern; die Verehrung für deutsche Roman-
tik ist in Georgien ohnehin groß.
Das sind nur Beispiele. An vielen Orten ist heute eine andere Art des Phi-
losophierens im Entstehen begriffen: Viele Philosophen gründen eine „phi-
losophische Praxis“, überall gibt es „philosophische Cafés“, im Bereich der
kritischen Journalistik oder der ethischen Unternehmensberatung sind zahl-
lose Philosophen tätig. Es hätte nun jedoch keinen Sinn, die im Entstehen
begriffene freie Philosophie gegen die akademisch gebundene auszuspielen.
Zweifellos muss es eine akademische Philosophie geben, auch eine Philoso-
phie als „l’art pour l’art“, vor allem eine, die die solide historische und sys-
tematische akademische Ausbildung des philosophischen Nachwuchses
sicherstellen kann. Die Brücke zu den verschiedensten Bereichen der Praxis
zu schlagen, ist dagegen die natürliche Aufgabe einer freien Philosophie, um
auf die Nachfrage nach einer Reflexion des Lebens zu antworten.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 191

Auch wenn es dabei nicht um einen definitiven Rat geht, so doch um


einen Prozess der Beratung, was zu tun sei: eine Erörterung der Aspekte,
die im Spiel sind, der Optionen, die zur Verfügung stehen, der Argumente,
die für und wider die in Frage kommenden Optionen sprechen. Entschei-
dend ist das optative Vorgehen, das die Verantwortung bei demjenigen
belässt, der sein Leben selbst lebt, und ihn dennoch mit seinen Fragen nicht
allein lässt. Die Autonomie des Einzelnen zu achten ist ein hohes Gut, aus
gutem Grund: Schließlich muss er auch selbst, nicht irgendein „Ratgeber“,
der vielleicht nur eine zufällige und belanglose Meinung vertritt, die Ver-
antwortung für sich und sein Leben tragen – eine existenzielle Wahrheit.
Selbst eine „Empfehlung“ wäre noch zu normativ, daher bleibt es im Pro-
zess der Beratung beim Verfahren der Anregung, die hilfreicher sein kann
als ein konkreter Rat und zudem wechselseitig ist: Sie kann den Gesprächs-
partnern den Anstoß dazu geben, herkömmliche Bahnen des Denkens zu
verlassen, eine Situation mit anderen Augen zu sehen und neue Möglichkei-
ten in den Blick zu bekommen. Der historisch und systematisch umfassende
Horizont der Philosophie bietet einiges an „Stoff“ für all die Anregungen,
die in der Sicht derer, die sich davon inspirieren lassen, als „geistige Nah-
rung“ verstanden werden, die sie nicht entbehren möchten. Und eine Rolle
kommt im Prozess der Beratung dem eigenen Beispiel zu, wenn auch expli-
zit nur exemplarisch, denn es kann nicht darum gehen, vorbildhaften Cha-
rakter für sich selbst zu beanspruchen, eher darum, einen Anlass zur Ausei-
nandersetzung zu bieten, in deren Verlauf ein Gegenüber sein Eigenes zu
finden vermag. Das eigene Beispiel stärkt zudem die Glaubwürdigkeit als
Gesprächspartner, der nicht nur theoretisch beschlagen ist, sondern selbst
auch einen praktischen Lebensvollzug vorzuweisen hat.

III. Die begriffliche Dimension

Von Bedeutung für die bewusste Lebensführung sind letztlich vor allem
begriffliche, also terminologische Aspekte. Ins Blickfeld kommt die Arbeit
des „Geistes“, des nous: neben der Prägung von Begriffen für das, was an
Erfahrungen zu machen ist, auch die Klärung von Begriffen, mit denen
hantiert wird, als verstünden sie sich von selbst, wie etwa „Leben“,
„Kunst“, „Selbst“, „Glück“, „Sinn“ ... Begriffe können in die Irre führen,
sie können krank machen und man kann gesunden an ihnen, je nach ihrer
Definition. In Begriffen steckt, über das bloße Wort hinaus, ein Vorver-
ständnis, ein Konzept, eine Vorstellung, eine Idee, was eine Sache ist oder
sein soll und welche Bedeutung ihr zukommt. Entscheidender als die Rea-
lität kann diese Idee sein, die von ihr im Umlauf ist, ja die Idee kann ur-
sächlich für die Realität sein, etwa im Falle einer Revolution. Oft ist es die
192 Wilhelm Schmid

innere Logik von Begriffen, die das individuelle Denken vorstrukturiert


und organisiert, und niemand wüsste im Nachhinein zu sagen, wodurch
oder durch wen diese Logik ins Werk gesetzt worden ist. So bergen Be-
griffe Eigenschaften in sich, die ihnen zugeschrieben werden und die viel-
leicht noch anders zu beschreiben wären, Wahrheiten, die auch anders
wahr oder von Grund auf falsch sein könnten. Der Inhalt von Begriffen ist
niemals normativ, immer optativ zu verstehen: Das jeweils herrschende
Verständnis ist eine Option unter anderen. Die Lebenskunst besteht darin,
nicht zum Gefangenen von Begriffen mit angeblich „allein gültigen“ Be-
deutungen zu werden.
Das gilt vor allem für den Begriff des „Lebens“, dem das Selbst beim
Vollzug seines Lebens folgt, womöglich unbewusst, ohne die jeweils
zugrunde liegende Idee vom Leben selbst gedacht zu haben. Der Begriff
wird zunächst gebildet, um das Leben ausgehend von den jeweiligen Erfah-
rungen in eine kommunizierbare Form zu bringen (Induktion). Um nicht von
jeder Einzelheit jeder Erfahrung jedes Mal aufs Neue erzählen zu müssen,
kommt es zur Verallgemeinerung und Festschreibung: „Leben ist...“, und um
nicht stets in vollem Umfang diese Definition wiedergeben zu müssen, bleibt
nur „Leben“ noch übrig, der Rest wird mitgedacht. Das ist die eine Hälfte des
Prozesses, die andere besteht darin, dass der definierte Begriff seinerseits auf
das Leben zurückwirkt, sodass das Leben zu einer Ableitung des Begriffes
wird (Deduktion), bis letztlich nicht mehr klar ist, was zuerst da war, Begriff
oder Leben. Die Wechselseitigkeit dieses Prozesses ist kaum aufzulösen,
und so folgt der Begriff dem Leben, und das Leben dem Begriff. Das Leben
ist eine Komödie? Dann entspricht ihm das Lachen am besten. Das Leben
ist eine Tragödie? Dann ist das Weinen am ehesten angemessen. Das
Leben ist ein Kampf? Dann sollte das Selbst sich dafür rüsten. Das Leben ist
ein langer ruhiger Fluss? Dann bietet es sich an, träge mitzufließen. Leben
heißt glücklich zu sein? Dann wäre noch zu klären, was unter „Glück“ ver-
standen werden soll. Glück ist das Positive und der Erfolg, die Maximierung
von Lust und Eliminierung von Schmerz? Aber Leben heißt auch, unglück-
lich zu sein, und wenn schon glücklich, dann hat dies mit ausschließlicher
Lust und aufgehobenem Schmerz womöglich wenig zu tun. Die jeweiligen
Definitionen zeigen nur, wie unterschiedlich die Begriffe ausfallen können
und welche Folgen für das Leben dies jeweils hat. So abstrakt Begriffe auch
erscheinen mögen, so konkret können ihre Auswirkungen sein, denn mit
ihrer Hilfe wirkt das Denken auf die Existenz ein. Eine bewusste Lebensfüh-
rung bedarf daher der Aufmerksamkeit auf die innere Logik der Begriffe, um
sie aufzuspüren und gegebenenfalls, wenn sie zum Problem wird, umzufor-
mulieren. Es gibt keinen Grund, sich einer herrschenden Auffassung von
„Leben“ zu unterwerfen, um ihr nur nachzuleben und, wenn ihr nicht Genüge
getan werden kann, zu verzweifeln.
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 193

Droht damit nicht Beliebigkeit? Sind Begriffe nicht dazu da, eine Re-
alität möglichst genau wiederzugeben? Zweifellos, aber sie halten sich
nicht daran. Sinnvoll erscheint, jede Begriffsbildung an den Kriterien von
Plausibilität und Evidenz, Nachvollziehbarkeit und Offensichtlichkeit zu
messen, aber auch in diesen Kriterien bleiben subjektive Sichtweisen wirk-
sam. So kommt es, dass unter einem Begriff wie „Leben“, jeder Verallge-
meinerung zum Trotz, kaum zwei Menschen genau dasselbe verstehen.
Nur das Wort bleibt dasselbe und täuscht über die unterschiedlichen Be-
deutungen gänzlich hinweg. Missverständnisse und Enttäuschungen sind
zu beklagen, könnten jedoch zum Anlass genommen werden, eine Klärung
des je eigenen Begriffs in der Auseinandersetzung mit anderen und vor
allem mit sich selbst vorzunehmen. „Einen Begriff von etwas zu haben“,
heißt dann soviel wie: eine bewusste Auffassung von einer Sache und ihrer
Bedeutung gewonnen zu haben und diese Sache von anderen unterscheiden
zu können. Etwas wird fassbarer, „greifbarer“ auf diese Weise: Ein Begriff
vereinfacht das Vielfältige und macht es handhabbar, wenn auch zwangs-
läufig um den Preis der Kritik, dem Vielfältigen nicht gerecht zu werden.
Sich klarer zu werden über den eigenen Begriff etwa des Lebens, ihn für
sich selbst zu definieren, ermöglicht, diese Definition anderen mitteilen zu
können, um sich über unterschiedliche Auffassungen zu verständigen,
sofern es um Verständigung gehen soll.
Die Klärung von Begriffen und die Verständigung darüber mit sich
selbst und anderen ist eine Schulung der Aufmerksamkeit und Selbstauf-
merksamkeit, trägt zur Klärung des Selbst und seines Verhältnisses zur
Welt bei und dient auf diese Weise der Orientierung des Lebens. Ein Forum
für diese Klärung bietet, da Begriffe das Handwerkszeug der Philosophen
sind, traditionell die Philosophie, auch wenn der Zweck der Klärung im
Verlaufe des Prozesses gelegentlich aus den Augen verloren wird. Medizin,
Psychologie, Soziologie, Biologie haben die somatischen, psychischen,
sozialen, ökologischen Strukturen des Menschseins im Blick, die Philoso-
phie aber die Strukturen des Denkens, durch die all die Begriffe definiert
sind, die ihrerseits das Menschsein prägen. Begriffe sind geformte Gedan-
ken, und Gedanken „erzeugen den Menschen“, so Bettina von Arnim in
ihrem Roman Die Günderode (1840). Philosophie kann dabei behilflich
sein, die „objektive“, heteronome Definition eines Begriffes ausfindig zu
machen, sie für sich selbst zu prüfen und gegebenenfalls „subjektiv“, auto-
nom zu modifizieren oder neu zu fassen. So wird das Selbst zum Souverän
seiner Begrifflichkeit. Es käme darauf an, die Logik der Begrifflichkeit
überhaupt und einzelner Begriffe im Besonderen zu studieren, um sie sich
anzueignen und ein bewusstes Verhältnis dazu zu gewinnen. Was zualler-
erst im Geistigen geschieht, eröffnet Bewegungsspielräume fürs Leben,
Anderes wird denkbar und lässt sich in Begriffen konzipieren. Ebenso geht
194 Wilhelm Schmid

es jedoch darum, das Denken offen zu halten für die Erfahrungen der Exis-
tenz, um diese auf die Begriffe zurückwirken zu lassen, Bedingung einer
Begrifflichkeit, die den Phänomenen des Lebens nahe bleibt. Die Be-
grifflichkeit stets im Auge zu behalten, wird in der philosophisch inspirier-
ten Lebenskunst zur Aufgabe des einzelnen Selbst, die über der vordring-
lich erscheinenden Alltäglichkeit allzu leicht vernachlässigt wird.

IV. Was es heißt, „eine Philosophie zu haben“

Resultat der Klärung und Beratung kann sein, eine Philosophie zu haben.
Im individuellen wie im gesellschaftlichen Leben, in der Wirtschaft, in der
Politik ist zuweilen unbedacht davon die Rede, dass man „eine Philosophie
habe“. Gemeint sind damit meist Einsichten und, darauf aufruhend, Grund-
sätze, die für wesentlich erachtet werden und denen in der alltäglichen
Praxis zu folgen versucht wird. In der philosophischen Lebenskunst wird
eine durchdachte Angelegenheit, eine „Lebensphilosophie“ daraus, eine
bewusste, überlegte eigene Auffassung vom Leben, von seinen Eigentüm-
lichkeiten, seinen Möglichkeiten; eine Auffassung davon, worauf es im
Leben ankommt, was wichtig ist und was als „schön“ erscheint. Der reflek-
tierte Prozess der Klärung erlaubt, Grundüberzeugungen zu gewinnen, die
nicht einfach nur behauptet werden, sondern aus der philosophischen
Grundfrage hervorgehen, was denn „eigentlich“ wesentlich ist. Die Philo-
sophie liegt in der Grundhaltung, die fürs Leben gewählt wird; und sollte
sie auch zunächst durch Erziehung und Kultur vorgegeben sein, so ist sie
doch zu überdenken, um zu entscheiden, ob sie beibehalten oder verändert
werden soll. Eine Philosophie zu haben heißt nicht etwa, „die Wahrheit“,
sehr wohl aber eine Lebenswahrheit für sich gefunden und formuliert zu
haben, die gut genug begründet erscheint, um das ganze Leben darauf zu
bauen: Lässt sich ohne eine solche Lebenswahrheit überhaupt leben?
Hilfreich auf dem Weg zur eigenen Lebensphilosophie ist eine freie, in-
stitutionell nicht gebundene Philosophie, die sich wie zu sokratischen Zeiten
in ständiger Tuchfühlung zum individuellen und gesellschaftlichen Leben
bewegt. Sie vermittelt Anstöße und Anregungen, wie sie die Geschichte der
Philosophie reichlich bereit hält, philosophische Lebensentwürfe, die im
Laufe der Zeit aus der Besorgnis und dem Nachdenken über das Leben ent-
standen sind. Man hat es nicht mit „toten Texten“ zu tun, wenn man diese
alten Denker neu liest, die mit allzu moderner Geste als „überholt“ abgetan
werden. Schon ihre zeitliche Ferne ermöglicht den distanzierten Blick auf
die Aktualität und das eigene Selbst und erleichtert die Besinnung auf den
„Sinn“, die Zusammenhänge der Lebensphänomene, und ihre Bedeutung,
ihre Gewichtigkeit. Aus guten Gründen hat die philosophía als „Liebe zur
Kann die Philosophie eine Hilfe für das Leben sein? 195

Weisheit“, als Verlangen nach Kenntnis des Wesentlichen fürs Leben die
Zeiten überdauert. Einzelne Grundzüge antiker Philosophien lassen sich
wieder aufgreifen, um der eigenen Lebenskunst Konturen zu verleihen: eine
ausgeprägte Liebe zum Schönen aus der Philosophie Platons, eine nie er-
lahmende Bereitschaft zur Reflexion aus der Schule des Aristoteles, eine
bemerkenswerte Freimütigkeit aus dem Kynismus des Diogenes, eine wäh-
lerische Genussfähigkeit aus dem Garten Epikurs eine nachhaltige Skepsis
aus der Tradition Pyrrhons, eine unzerstörbare Unerschütterlichkeit aus
dem Stoizismus etwa Senecas, ergänzt vielleicht durch die immer neue Be-
reitschaft zum Wagnis, zum Versuch aus der Essayistik eines Montaigne,
der im 16. Jahrhundert die antike Philosophie in ihrem ganzen Reichtum an
Lebensweisheit wieder entdeckt hat. Dies alles durchzogen von der Philoso-
phie der Selbstsorge, des gekonnten Umgangs mit sich selbst, der zur
Grundlage des Umgangs mit anderen und einer Sorge um sie wird; denn es
ist augenfällig, dass das Bemühen um diese doppelte Sorge die meisten
philosophischen Schulen in der Antike charakterisiert. Das könnte für das
intellektuelle und philosophische Selbstverständnis in einer anderen Mo-
derne wieder von Bedeutung sein.

Literatur
Wilhelm Schmid:
– Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung, Frankfurt a.M. 1998. (112009).
– Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst, Frankfurt a.M. 2000.
– Mit sich selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst,
Frankfurt a.M. 2004.
– Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen, und warum es nicht das Wichtigste
im Leben ist, Frankfurt a.M. 2007 (82009).
– Die Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen, Berlin 2010.
Philosophie als Lebensform

Theo Kobusch

Die akademische Zunft der Philosophie wird mit der Zeit nicht umhin
kommen, jene Form der Philosophie wieder ernst zu nehmen, die das anti-
ke und frühmittelalterliche Denken schlechthin bestimmte, die auch im
Mittelalter parallel zur theoretisch abstrakten Form der Philosophie, wenn-
gleich in ihrem Schatten, präsent war und die schließlich in großen reprä-
sentativen Figuren der Philosophiegeschichte, wie z. B. Montaigne, Pascal,
Maine de Biran, Nietzsche und Heidegger bis in unsere Tage überlebte:
Die Philosophie als Lebensform oder Lebenskunst, die zugleich eine „Le-
benshilfe“ ist. Der Gedanke der Lebenshilfe stammt von Platon. Er macht
bewusst, wie weit sich die traditionell akademische Philosophie inzwi-
schen vom Leben entfernt hat. R. Shusterman wird schon recht haben,
wenn er vermutet, dass die Idee von Philosophie als einer Selbsthilfe im
Sinne der Lebenskunst bei den meisten Berufsphilosophen „ein abschätzi-
ges Feixen“ (Shusterman 2001, 4) hervorrufen wird. Doch ungeachtet des-
sen sollte sie als das wahrgenommen werden, was sie inzwischen wieder
geworden ist: ein Allgemeines, dem auf den Grund gegangen werden
muss. Die Philosophie der Lebenskunst hat sich, das Erbe Nietzsches und
Heideggers übernehmend, in Gegensatz zur traditionellen Metaphysik und
zur wissenschaftsbeflissenen Philosophie unserer Tage gesetzt. Sie ist be-
sonders im Werk zweier Autoren präsent, nämlich im Werk Foucaults auf
der französischen Seite und in den zahlreichen Arbeiten Wilhelm Schmids
auf der deutschsprachigen Seite.

I. Lebenskunst und Lebenspraxis

Seit einiger Zeit ist es üblich geworden, die Philosophie im Sinne des aka-
demischen theoretischen Betriebs und die Philosophie, verstanden als Le-
benskunst oder Lebensform, auseinanderzuhalten. Im Hintergrund stehen


Dieser Beitrag wurde erstmals unter dem Titel „Apologie der Lebensform“ in der
Allgemeinen Zeitschrift für Philosophie (Heft 34.1, 2009, S. 99–115) veröffentlicht.
Wir danken Tilman Borsche für die Genehmigung des Wiederabdrucks.
198 Theo Kobusch

die Werke von P. Hadot und M. Foucault, die sich in gleicher Weise auf
die antike Philosophie zurückbeziehen. Während jedoch die in dieser Hin-
sicht einschlägige Erstlingsarbeit Hadots Exercices spirituelles im Deut-
schen als Philosophie als Lebensform übersetzt wurde, hat sich gleichzei-
tig, wohl wegen der entsprechenden Werke W. Schmids, der dabei dem
Kunstbegriff Foucaults folgt, für diese Art des Philosophierens auch der
Titel „Lebenskunst“ durchgesetzt. Doch obwohl auch die moderne Le-
benskunst vielfach Bezug nimmt auf die antike Philosophie, handelt es sich
um zwei verschiedene Denkwelten.
Die Philosophie der Lebenskunst ist jüngst einer eingehenden Kritik
unterzogen worden, die das gesamte gedankliche Gebäude zum Einsturz zu
bringen bestrebt ist (vgl. Kersting/Langbehn 2007). Sie hat dabei ausdrück-
lich auch die antike und mittelalterliche Philosophie, soweit sie in den
grundlegenden Darstellungen von P. Hadot berücksichtigt sind, mit einbe-
zogen: „Hadot ist sicherlich der entschiedenste Verfechter der Lebens-
kunst“ (Kersting 2007, 28). Doch steht gerade die Einheitlichkeit der Tra-
dition der Lebenskunstphilosophie zur Debatte. Die moderne Kritik der
Lebenskunst trifft, so sucht der folgende Beitrag zu zeigen, nur die Ent-
wicklung der Philosophie nach Nietzsche und nicht, obwohl dieser an die
antike Philosophie anzuknüpfen sucht, die Philosophie der Antike und des
Mittelalters. Es ist daher notwendig, zwischen der modernen Lebenskunst
und der antiken Lebensform, die man auch, mit guten Gründen, Lebens-
praxis nennen könnte, zu unterscheiden. Mit der Lebenskunst verbinden
wir ein artifizielles Modell, mit der Lebensform im Sinne Hadots ein prak-
tisches (vgl. Hadot 1999; 2002).
Der Hauptvorwurf an die Adresse der Lebenskunst ist die Ästhetisie-
rung des Lebens. An die Stelle der Vernunftautonomie Kants tritt in der
Lebenskunst, die sich dabei von Gedanken Nietzsches leiten lässt, „eine
ästhetische Autonomie, die an der Wohlgestaltetheit des Lebens Wohlge-
fallen findet“, die W. Kersting zurückführt bis zur „Lebenskunst der helle-
nistischen Philosophie“ (Kersting 2007, 18). Am deutlichsten ist die Ästhe-
tisierung des Lebens, wie die Kritik gut nachvollziehbar darstellt, bei
Foucault zu bemerken. Die Ästhetik der Existenz löst die religiös begrün-
dete Ethik der Griechen ab. Das Leben wird zum Kunstwerk. Die Lebens-
kunst ist die poietische Kunst des Lebens. Die Kritik hält dagegen: „Vor
allem ist es abwegig, den Umgang mit dem ‚Eigenleben‘ des Lebens nur in
der Form der poietischen Selbstbeziehung, also der Selbsterfindung oder
Selbstherstellung vorzusehen“ (Thomä 2007, 251). Doch die Foucault-
Epigonen gehen noch einen Schritt weiter: Das Selbstverhältnis ist selbst
als etwas Spielerisches zu denken. J. Früchtl knüpft an Foucaults „Ästhetik
der Existenz“ die Konzeption der „spielerischen Selbstbeherrschung“, in
der das Subjekt sich in ein „spielerisch-zwangloses Verhältnis“ zu sich
Philosophie als Lebensform 199

selbst setzt, eine dritte Stufe der Wertungen, die der Autor ausdrücklich
auch „Ethik“ nennt (vgl. Früchtl 1998). Spätestens hier weiß man nicht
mehr, was dieser Begriff noch besagt im Unterschied zu dem der Ästhetik.
Hier verschwimmen Beliebigkeit und Notwendigkeit.
Tatsächlich ist das ästhetische Modell auch nicht geeignet, die Wirklich-
keit der antiken Gedankenwelt zu erfassen. Vielmehr handelt es sich um eine
moderne Umdeutung des alten Begriffs der „technê tou biou“, wenn er in
einem poietischen Sinne aufgefasst wird. Denn ursprünglich meint der grie-
chische Begriff nichts anderes als die sittliche Selbstformung des Subjekts.
Das Leben erscheint in diesem Zusammenhang als etwas dem Menschen
Innerliches, nicht Äußerliches. Gerade an der Stelle, wo wörtlich das Leben
als Gegenstand der Lebenskunst bezeichnet wird, nämlich bei Epiktet, – so
dass die moderne Lebenskunst auf den ersten Blick bestätigt zu werden
scheint – wird das Leben doch als das dem Menschen Innere und somit seiner
sittlichen Freiheit Anheimgegebene begriffen.1 Die „Kunst des Lebens“ ist
hier gleichbedeutend mit der Übung der Wahrheit, mit der Einübung in die
„kalokagathia“.2 Die Tugend selbst kann in diesem Sinne die Kunst des gan-
zen Lebens genannt werden.3 Strabo, der Geograph, ist das Sprachrohr einer
ganzen Epoche, wenn er es als die Sache der Philosophie bezeichnet, sich um
die Lebenskunst und das Glück zu kümmern.4 Die Lebenskunst nimmt, wie
J. Sellars richtig sagt, den sokratischen Gedanken der Selbstsorge bzw. der
Sorge um die Seele wieder auf (vgl. Sellars 2007, 95 f.) Sokrates soll auf die
Frage, was Wissen sei, geantwortet haben: Sorge um die Seele.5 Das Wissen
der Lebenskunst, das steht für griechische Ohren fest, ist weder ein artifi-
ziell-ästhetisches noch ein abstrakt-theoretisches Wissen. Es ist das Wissen
der Sorge um sein Selbst.6 Aristoteles bezeichnet es im Unterschied zum
Herstellungswissen als das praktische Wissen. Es drückt ein praktisches
Selbstverhältnis aus, das sich nach den Vorstellungen der gesamten antiken
Philosophie, der platonischen wie der aristotelischen, der stoischen wie der
epikureischen und nicht zuletzt auch der christlichen Philosophie in ver-
schiedenen geistigen, intellektuellen wie auch imaginativen Übungen äu-
ßert. Zu den wichtigsten gehören die Übungen der Aufmerksamkeit. Es war

1
Vgl. Epiktet, Dissertationes I 15, 2. Siehe dazu Sellars 2007, 95.
2
Vgl. Maximus, Dialexeis 16, 3 e1: Toàto ¹ diatrib», toàto ¹ scol», ¢lhqe…aj
melšth, kaˆ tšcnh b…ou kaˆ ·èmh lÒgou, kaˆ paraskeu¾ yucÁj, kaˆ ¥skhsij
kalokagaq…aj.
3
Philo, Legum allegoriarum I 57: Ólou g¦r toà b…ou ™stˆ tšcnh ¹ ¢ret», […].
4
Vgl. Strabo, Geographica I 1, 1.
5
Vgl. Stobaeus, Anthologium II 31, 79: Swkr£thj ™rwthqe…j, t… ™pist»mh,
œfh· ™pimšleia yucÁj.
6
Vgl. auch Jamblich, Protrepticus 38, 21: dÁlon Óti kaˆ perˆ yuc¾n kaˆ t¦j
yucÁj ¢ret£j ™st… tij ™pimšleia kaˆ tšcnh [...].
200 Theo Kobusch

besonders die Stoa, die die philosophische Haltung einheitlich als die Auf-
merksamkeit auf sich selbst aufgefasst hat. Die Aufmerksamkeit ist eine
Bewusstseinshaltung, die ständige Übung der Anspannung des Bewusst-
seins. Sie ist von der Sorge um das Selbst bestimmt, aber zugleich verschafft
sie dem in diesem Sinne Philosophierenden die Freiheit von den Sorgen
dieser Welt (¢merimn…a).7 Durch die Aufmerksamkeit wird dem Subjekt
bewusst, wie es um es selbst steht im Ganzen des Kosmos. Deswegen sind
schon der platonische Timaios, die stoische Physik und die christlichen
Genesis- und Ecclesiastes- Kommentare Formen der – wie P. Hadot es nennt
– „gelebten Physik“. Durch die Aufmerksamkeit auf sich selbst erlangt das
Subjekt aber auch das Bewusstsein vom Stellenwert seiner Gedanken und
sprachlichen Äußerungen. Nicht zuletzt aber hat sie auch eine moralische
Bedeutung. Denn durch die Aufmerksamkeit achtet das Subjekt auf die
Reinheit seines Willens und seiner Absicht, es ist in diesem Sinne wachsam
auf sich bedacht. Die Selbstbewahrung solcher Art nennt die gesamte antike
Philosophie, die christliche eingeschlossen, die Hut oder Wachsamkeit, mit
der der Philosophierende um sein Inneres besorgt ist. Die moralische Selbst-
aufmerksamkeit ist somit die Sorge um den eigenen Willenszustand. Sie
sucht nach allen Seiten die moralischen Gefahren vom Subjekt abzuwenden.
Solches besorgendes Umsehen, das nicht mit dem sorgenfreien Umher-
schauen des Theoretikers verwechselt werden darf, heißt nach dem stoisch-
christlichen Philosophieverständnis die „Umsicht“. Die Umsicht ist das von
der Sorge um sich selbst getriebene Wahrnehmen des Nützlichen und Schäd-
lichen, die praktische Form des dem Philosophen eigenen Sehens, die in der
antiken, in der antik-christlichen und der mittelalterlichen Philosophie, be-
sonders in der Mystik, bis hin zu Heidegger immer von der Theorie-Konzep-
tion der aristotelischen Tradition unterschieden wurde.8

7
So heißt es etwa bei Clemens von Alexandria, Stromata II 20, 120: DiÒ moi doke‹ Ð
qe‹oj nÒmoj ¢nagka…wj tÕn fÒbon ™part©n, †n' eÙlabeˆv kaˆ prosocÍ t¾n
¢merimn…an Ð filÒsofoj kt»shta… te kaˆ thr»sV, ¢di£ptwtÒj te kaˆ
¢nam£rthtoj ™n p©si diamšnwn.
8
Zu den Termini technici der Aufmerksamkeit und der Umsicht vgl. Kobusch 2000;
2001. Neben den dort genannten Belegstellen vgl. auch Ephraem Syrus, In illud: At-
tende tibi ipsi 6, Bd. II, 160: PrÒsece oân seautù, ¢gaphtš: m¾ ¢mšlei tÁj ˜autoà
swthr…aj: […]; ders., Sermo asceticus, Bd. I, 162: `O dä prosšcwn ˜autù, ›xin
¢gaq¾n ¢nalabèn, ebd., 152: PrÒsece dä seautù, m» pote e„j ·vqum…an ™kdèsVj
sautÒn. (Ps.)-Johannes Chrysostomus, Epistula ad monachos 128: PrÒsece
seautÕn kaˆ pantacÒqen seautÕn periskšptou. Macarius, Sermones 1, 3, 5,
p. 261: ¢ll¦ met¦ p£shj n»yewj kaˆ prosocÁj kaˆ mer…mnhj ¢gaqÁj t¾n œreu-
nan kaˆ prosoc¾n toà noà ˜k£stote mšn, m£lista dä ™n tÍ proseucÍ poie‹sqai
spoud£swmen (Mit aller Nüchternheit und Aufmerksamkeit und guter Sorge wollen
wir uns bemühen, die Forschung und Achtung des Geistes zwar eigentlich immer, be-
sonders aber während des Gebetes durchzuführen).
Philosophie als Lebensform 201

Die Selbstaufmerksamkeit ist in der Antike selbst schon als die prakti-
sche Form des an Sokrates gerichteten pythischen Spruches „Erkenne Dich
selbst“ und damit des Themas der Selbsterkenntnis verstanden worden.9
Die christliche Philosophie hat ausdrücklich dem pythischen Spruch eine
praktische Nuance abgewonnen. In der praktischen Selbsterkenntnis prüft
sich die Seele in einer Gewissensprüfung, ob sie eine gute oder böse Dis-
position hat und ob ihr Handeln ihrem Charakter als Bild Gottes entspricht
oder nicht.10 Die besorgende Umsicht bezieht sich insbesondere auf das
Gewissen und wird so zum prüfenden Blick.11
Der praktische Charakter der Selbstaufmerksamkeit wird noch deutli-
cher erkennbar, wenn man bedenkt, dass das so verstandene gnîqi seautȩn,
dessen zweifache Übersetzung „nosce te ipsum“ und „scito te ipsum“ Am-
brosius ausdrücklich akzeptiert, den geistigen Hintergrund der Abaelard-
schen Ethik mit dem Titel Scito te ipsum darstellt.12
Was darüber hinaus für die antike und frühmittelalterliche Philosophie
im Zusammenhang der Aufmerksamkeit, d. h. der um das Selbst besorgten
Erkenntnis typisch und prägend ist, das ist die Tatsache, dass auch die
Phantasie in die Dienste dieser praktischen Selbsterkenntnis gestellt wird.
Besonders die Stoiker, aber auch weite Kreise der christlichen Philosophie
haben die Funktion der Phantasie darin gesehen, dem menschlichen Leben
den Charakter des Als-Ob zu verleihen. Nach dieser Vorstellung wird die
Wahrheit des Lebens offenbar, wenn in imaginativen Übungen ein Blick
von außen auf es möglich wird. Die wahre philosophische Haltung besteht
darin, sich immer die gesamte condition humaine „vor Augen zu halten“
und alles, was meistens geschieht, im Geist zu antizipieren. Der philoso-
phische Mensch hat so seine Freunde, „als ob“ er sie eines Tages verlieren
werde, und er verliert sie, „als ob“ er sie noch hätte. Das Leben im Als-Ob
ist ein Leben unter ständigem Vorbehalt, unter ständiger Prüfung. In diesen
Zusammenhang gehört auch die imaginative Übung, sich und sein Tun den

9
Zur Verbindung von Selbsterkenntnis und Aufmerksamkeit auf sich selbst vgl. auch
Clemens von Alexandria, Stromata II 15, 71, 3 (Anm. 14), p. 151: safšsteron dä
tÕ `gnîqi sautÕn` paregguîn Ð MwusÁj lšgei poll£kij `prÒsece seautù`.
10
Vgl. Origenes, In Canticum Canticorum II 5, 1–40.
11
Vgl. z. B. Laktanz, Divinae Institutiones VI 13, 1, p. 532: „circumspice conscien-
tiam tuam et quantum potes, medere vulneribus.“ Siehe auch Cassiodor, Expositio
psalmorum 10, 6, 106, p. 115: „sed unusquisque circumspiciat conscientiam suam,
de qua nouit solum dominum ferre iudicium.“
12
Vgl. Ambrosius, Expositio Psalmi 118, 2, 13, p. 27: „tibi ergo adtende ibi, ubi
potiorem esse te nosti. nosce te ipsum, quod Apollini Pythio adsignant gentiles uiri,
[…]“; ebd. 118, 10, 10, p. 208: „nosce te ipsum, homo; tuae animae dicitur in Can-
ticis: nisi cognoueris te formosam in mulieribus“; und Exameron VI 7, 42, p. 233:
„Tibi igitur adtende, te ipsum scito […].“
202 Theo Kobusch

prüfenden Blicken eines möglichen idealen Beobachters ausgesetzt zu


fühlen. „Lebe so mit den Menschen“, heißt es bei Seneca, „als ob Gott es
sähe, und sprich so mit Gott, als ob die Menschen es hörten“ (Epistula 10,
5). Der imaginative Blick aus kosmischer Höhe vermittelt dem Menschen,
wie es wahrhaft um ihn steht, nämlich „dass du nach nicht langer Zeit nie-
mand und nirgends sein wirst“ und „dass die Zeit nahe ist, da du alle ver-
gisst und alle dich vergessen“.13 Die imaginative Vergegenwärtigung des
Todes schließlich bringt das menschliche Leben in seiner Ganzheit vor sich
selbst. Das stoisch-christlich verstandene Leben im Als-Ob ist also nicht
die Vorspiegelung einer alternativen Lebensweise, nicht die Flucht in ein
anderes Leben, nicht die Hypothetisierung des jetzigen Zustands, sondern
im Gegenteil ist es der absolute Ernst, die absolute Vergegenwärtigung, die
Vergegenwärtigung des Todes (vgl. Kobusch 2002a). Den Tod zu beden-
ken ist aber seit alters die Sache der Philosophie. Genauer gesagt ist es der
kathartische Teil der Philosophie, der später Ethik genannt wird. Die geis-
tigen Übungen der Antike haben somit allesamt einen ethischen Charakter.

II. Kritik der Lebenskunst

Was der modernen Lebenskunst von ihren Kritikern besonders vorgeworfen


wird, ist die These von der Selbsterschaffung des Subjekts, die sich schlüs-
sig aus dem ästhetischen Modell der Lebenskunst zu ergeben scheint und in
Nietzsches Philosophie prominent vorgezeichnet ist. Nietzsche selbst hatte
das Thema vorgegeben: „Es ist Mythologie zu glauben, dass wir unser ei-
gentliches Selbst finden werden, nachdem wir dies und jenes gelassen oder
vergessen haben. So dröseln wir uns auf bis ins Unendliche zurück: sondern
uns selber machen, aus allen Elementen eine Form gestalten – ist die Aufga-
be! Immer die eines Bildhauers! Eines produktiven Menschen!“14 Foucault
hat die Grundidee aufgenommen. Der Selbsterschaffungsprozess ist danach
eine Art creatio ex nihilo, jedenfalls ist es das Erschaffen von „etwas ganz
anderem, eine vollständige Innovation“. W. Kersting, der Lebenskunstkriti-
ker, hat herausgestellt, dass es zum Programm des ästhetischen Lebens-
künstlers gehört, ein besonderes Leben, keins wie die anderen zu führen
und: „er ist sein eigenes Gesetz“ (Kersting 2007, 29).
Die ästhetische Lebenskunst W. Schmids scheint der Kritik eine Stufe
tiefer zu stehen als die auf dem Fundament der Machtanalytik angesiedelte
Lebenskunsttheorie Foucaults. Sie ist die postmoderne Variante der Fou-
caultschen Position. Dementsprechend ist auch das Zentrum der modernen

13
Marcus Aurelius, Selbstbetrachtungen XII, 21.
14
F. Nietzsche, KSA 9, 361.
Philosophie als Lebensform 203

Lebenskunstphilosophie, die Illusion von der Selbsterschaffung, bei Wil-


helm Schmid mit der Vorstellung von einem „postmodernen Jahrmarkt der
Existenzmöglichkeiten“ verbunden.
Was die moderne Kritik dieser Lebenskunstkonzeption entgegenhält,
läuft auf eine vernichtende Ablehnung hinaus. Die ästhetische Lebenskunst
wird vor allem dem menschlichen Leben nicht gerecht: „Dieses ästhetische
Modell romantischer Lebensgenies hat nichts mit der Wirklichkeit mensch-
lichen Lebens zu tun. Und eine Lebenskunst ist nicht gut beraten, wenn sie
sich dieses Kreativitätsparadigma einreden lässt.“ (Kersting 2007, 33) Die
Idee der Selbsterschaffung weist zudem nur in die Zukunft, sie lässt jeden
Sinn für die Vergangenheit vermissen. Die Kritik erinnert demgegenüber
an die aristotelische Einsicht, dass wir Hypoleptiker sind, d. h. unter End-
lichkeitsbedingungen leben und an Vorgegebenes anknüpfen müssen. Wie
weit diese Abhängigkeit vom Vorhergehenden und Anderen geht, darin
scheint sich die Kritik nicht einig zu sein. W. Kersting sagt: „Wir erschaf-
fen uns nicht, und wir erfinden uns nicht: wir widerfahren uns“ (ebd., 38).
D. Thomä dagegen, der ebenfalls eine lesenswerte Kritik an der Lebens-
kunst im selben Band verfasst hat, sieht es anders: „Das Leben ist nichts,
das uns nur widerfährt“ (Thomä 2007, 238).
Als Kritik der Lebenskunst bzw. der Nietzscheschen Konzeption der
Selbsterfindung muss auch jene Theorie des Selbst gelesen werden, die den
praktischen Charakter der Selbstverhältnisse durchschaut hat. R. Jaeggi
stellt dem in ihrer Arbeit Entfremdung das Modell der „Selbstaneignung“
gegenüber. Selbstaneignung ist ein praktischer Vorgang. Mit Recht kenn-
zeichnet R. Jaeggi ihn als einen Prozess, der „immer mit der Existenz eines
‚Vorgängigen‘ rechnet, das er einholt und transformiert“ (Jaegi 2005,
223).15 Die Kritik an der Lebenskunst wäre freilich noch besser gelungen,
wenn der Eindruck vermieden worden wäre, als stammte diese Konzeption
wie auch der Gegenbegriff der Entfremdung von K. Marx. Es war vielmehr
– was in unserem Zusammenhang von Bedeutung ist – die Lebensformphi-
losophie schlechthin, nämlich die Stoa, die die Lehre von der „Oikeiosis“
und der Selbstentfremdung des Menschen erstmals entfaltet hatte. Die
Kirchenväter haben sie kolportiert.16

15
Zur stoischen Selbstaneignung vgl. auch Schmid 1999, 393.
16
Vgl. z. B. Galen, De placitis Hippocratis et Platonis V 5, 16: e„ g¦r m¾ ta‹j
fwna‹j, ¢ll¦ tÍ ge dun£mei tîn legomšnwn Ðmologe‹n œoiken Ð CrÚsippoj
æj œstin o„ke…ws…j tš tij ¹m‹n kaˆ ¢llotr…wsij fÚsei prÕj ›kaston tîn
e„rhmšnwn. Siehe außerdem Clemens von Alexandria, Stromata IV 13, 94: o‰ män
di¦ t¾n o„ke…wsin, o‰ dä di¦ t¾n ¢pallotr…wsin t¾n ™k proairšsewj prosa-
goreuqšntej·
204 Theo Kobusch

Die sachliche Berechtigung der Kritik an der Lebenskunst kann kaum


in Zweifel gezogen werden. Tatsächlich führt die ästhetische Lebenskunst
zu jenem einseitigen Blick auf die Zukunft, der gänzlich vergisst, woher
wir kommen. Tatsächlich bleibt der Sinn für Schicksal und Zufall – gemäß
dem scharfsichtigen Urteil von O. Marquard vor über 30 Jahren (vgl. Mar-
quard 1977; Kersting 2007, 36) – in allen Allmachbarkeitsillusionen auf
der Strecke, und so auch in der Selbstmachbarkeitsillusion der ästhetischen
Lebenskunst. Tatsächlich kann das Leben nicht als Material für die Ge-
staltung des Lebens verwendet und so auch das Leben nicht als Kunstwerk
begriffen werden.
So sehr man dieser konzeptionellen Kritik an der Lebenskunst wird zu-
stimmen müssen, so sehr fällt einem auch das zugrunde liegende historische
Durcheinander, von dem die Kritik sich zum Teil nährt, in den Blick. Es ist
nicht nur die grobe Subsumierung der antiken von P. Hadot sogenannten
Lebensformphilosophie unter das Dach der Lebenskunst, die unsachgemäß
ist, weil sie – woran erinnert werden soll – unterstellt, dass die antike Le-
bensform auch als eine Form der ästhetischen Lebenskunst erscheinen
könnte. Vor allem scheint die Kritik an der Lebenskunst jedoch zu verken-
nen, dass die gesamte Lebensformphilosophie praktischen Ursprungs ist
und diesen Charakter auch in jenen Disziplinen beibehält, die, wie zum
Beispiel die Metaphysik, traditionell für spekulative Wissenschaften gehal-
ten wurden (vgl. Kobusch 2006a, 145 ff.; 226 ff.). Der praktische Charakter
der Lebensform ist gerade an dem Beispiel am deutlichsten zu erkennen,
das Nietzsche zur Veranschaulichung des Selbsterschaffungsparadigmas
diente, nämlich das Bildhauergleichnis, das, nachdem es Mark Aurel vorge-
formt, von Plotin in seine klassische Form gebracht wurde, ehe es von
Meister Eckhart im Zentrum seiner „Lebemeister“-Philosophie rezipiert
wurde.17 Der Sinn des Gleichnisses ist bei Plotin und Eckhart ein ganz an-
derer. Was beide Autoren sagen wollen, ist, dass die Seele einer materiellen
Statue gleicht, die vom Bildhauer, d. h. von uns selbst so lange zu bearbei-
ten ist, bis das wahre Selbst der Seele zum Vorschein kommt. Die Arbeit
des Menschen an seinem Selbst besteht in der Offenlegung eines in ihm
selbst Verborgenen. Es ist ein Reinigungsakt, eine moralische Läuterung,
eine praktische Selbstformung, die hier gemeint ist und die nichts mit einer
individuellen Selbsterschaffung im ästhetischen Sinne zu tun hat.18

17
Vgl. Plotin, Enneade I 6, 9; Meister Eckhart, Von dem edlen Menschen, DW V, 17–
24, 113. Zu Eckharts Lebemeister-Begriff vgl. Kobusch 2005.
18
Shusterman 2001, 31 erkennt freilich gerade in dem Bildhauergleichnis Plotins das
„ästhetische Modell“. Doch gilt es, den Schönheitsbegriff der modernen ästheti-
schen Existenz von der griechischen „Kalokagathia“ zu unterscheiden. Vgl. dazu
Kersting 2007, 28.
Philosophie als Lebensform 205

Die Kritik an der Lebenskunst hat darüber hinaus einen historischen


Bezug hergestellt, der ganz irreführend ist. Sie sagt, dass die Idee des de-
miurgischen Selbst sich bis Giovanni Pico della Mirandola zurückverfol-
gen ließe (vgl. Kersting 207, 21). Doch geht Picos Idee eines das Wesen
formenden Willens ihrerseits auf das Denken der griechischen Kirchenvä-
ter zurück, die – gegen Aristoteles – den Vorrang der „Prohairesis“ vor der
„Usia“ proklamiert hatten (vgl. Kobusch 2008). Es ist jedoch absolut evi-
dent, dass diese Lehre, wie auch die entsprechende Umdeutung der plato-
nischen Seelenwanderungslehre, in einem moralischen Sinne aufzufassen
ist. Wenn die Kirchenväter und so auch Pico von einer nicht festgelegten
und erst durch den Willen zu bestimmenden Natur des Menschen sprechen,
so gehört dies also in den Kontext einer Philosophie als Lebensform, nicht
aber der Lebenskunst. Zwischen der ästhetischen Selbsterschaffung und
dem totalen Widerfahrnischarakter des Lebens gibt es ein Drittes, ein Mitt-
leres, nämlich die moralische Selbstgestaltung, die per definitionem, sei es
im Sinne der aristotelischen „Hypolepsis“, sei es im Sinne der stoischen
„Oikeiosis“, an ein Vorgängiges anknüpft und es zu einer neuen Gestalt
transformiert. Das bei Foucault und Schmid allenthalben antreffbare Novi-
tätspathos ist der Lebensformtradition völlig fremd. Sie weiß nämlich wie
keine zweite Formation der Philosophie, dass die Wahrheit niemals das
ganz Neue, sondern das Alte ist, an das neu angeknüpft werden muss. Die
Überzeugung, dass die Wahrheit das Neue ist, ist selbst – historisch gese-
hen – ganz neu. Die Lebenskunst aber und ihre Kritik tun so, als sei es ein
alter Hut.
Was merkwürdigerweise von der Kritik der Lebenskunst kaum bean-
standet bzw. zum Teil auch mitgetragen wird, ist die individualistische
Umdeutung der antiken Konzeption durch die Lebenskunst. Ob M. Fou-
cault, W. Schmid oder auch R. Rorty von der Selbsterschaffung des Men-
schen oder der Selbsttransformation des Subjekts sprechen – sie meinen
alle das individuelle, ja sogar das empirisch kontingente Selbst. Die Antike
aber hatte durchweg kein positives Verhältnis zum Individuellen. Nicht
zuletzt in Platons Auffassung vom philosophischen Dialog wird das deut-
lich. Denn die Dialoge werden zwar von individuellen Personen bestritten,
aber im Verlauf des Dialogs tritt ihre Individualität immer mehr in den
Hintergrund. Der Dialog selbst, in dem durch den Elenchos die gemeinsa-
me Wahrheit ausfindig gemacht wird, ist schon eine Weise jener (aus dem
Phaidon bekannten) Übung im Sterben, insofern die partikuläre Individua-
lität aufgegeben wird, um dem allgemeinen Logos zu folgen (vgl. Schaerer
1936, 41; Hadot 1999, 88). Auf diese Weise muss als das Subjekt des
Transformationsprozesses in der antiken Philosophie immer ein Allgemei-
nes angesehen werden. Deswegen ist das Selbst, von dem die antike Philo-
sophie spricht, kein individuelles.
206 Theo Kobusch

Schließlich ist da der berühmte Blick des Selbst von außen auf sich
selbst. B. Williams hat in einem berühmten Buch Shame and Necessity das
griechische Denken überhaupt als eine Schamkultur bezeichnet. Nach
dieser Konzeption ist die Scham eine Antizipation eines Gefühls, das ent-
steht, wenn man sich von jemandem beobachtet weiß. Genauer gesagt
handelt es sich um die Vorstellung eines idealisierten, gewissermaßen
nicht beteiligten Beobachters von außen, eines „generalized other“ (vgl.
Williams 1993). W. Schmid hat das Thema des Blicks von außen – be-
rechtigterweise – insbesondere mit der stoischen Philosophie in Zusam-
menhang gebracht. Er hat aber zugleich diesen Blick im ästhetischen Sin-
ne umgedeutet, indem er ihn als die – dem Blick der Ironie sehr verwandte
– Abstandnahme von dem „Ernst des Faktischen“ begreift (vgl. Schmid
1999, 256; 376; 394). Die Kritik an der Lebenskunst hat ihn in enge Ver-
bindung mit der Idee der Selbsterschaffung gebracht. Falsch sei es, so sagt
sie, das menschliche Leben als eine Selbsterschaffung aus dauerhafter
Außenperspektive auszulegen und ihm von außen seine Qualitätsvorstel-
lungen aufprägen zu wollen. Doch scheint weder die eine noch die andere
Deutung der griechischen Konzeption des Blicks von außen gerecht wer-
den zu können. Er ist weder, was B. Williams unterstellt, ein verobjekti-
vierender Blick, der die Wahrheit des in seiner Situation verflochtenen
Selbst quasi theoretisch aufscheinen lassen könnte, noch ist er die ästheti-
sche Abstandnahme, die erst eine Selbsterschaffung ermöglichte. Der
Blick von außen, die Perspektive eines idealisierten oder auch konkreten
Anderen gehört vielmehr auch in den Zusammenhang des weiter oben
schon berührten Themas des Lebens im Als-Ob. Lebe, als ob Du von ei-
nem solchen Anderen beobachtet würdest – das ist die griechische Maxi-
me. Der Blick von außen ist also in Wahrheit der Blick der Sorge auf das
Selbst. Es ist ein Abstand nehmender Blick, der gewissermaßen mehr sieht
und in umfassenderem Sinne besorgt sein kann als das in der konkreten
Lebenssituation verwobene Selbst.

III. Selbsttransformation und Selbsterschaffung

Was die antike Lebenspraxis und die moderne Lebenskunst hauptsächlich


miteinander verbindet, ist die Idee der Selbsttransformation bzw. der Selbst-
erschaffung. Will man das Eigenartige der modernen Idee erkennen, so ist es
notwendig, die Geschichte des Grundgedankens zu berücksichtigen.
Die Umgestaltung der Seele gehörte offenbar schon bei den Stoikern
zu den üblichen praktischen Übungen. Seneca berichtet, dass Ariston von
Chios die intensivste und innerlichste Aneignung bestimmter philosophi-
scher Lerngegenstände, wie zum Beispiel dessen, was gut und böse ist, in
Philosophie als Lebensform 207

der entsprechenden inneren Umwandlung gesehen hat.19 Auch die berühm-


te Formulierung der „Homoiôsis theô“ im Dialog Theätet Platons, die ja
selbst einen eindeutig praktischen Charakter verrät, war in der Rezeptions-
geschichte vielfach der Anstoß für die Konzeption der Selbsttransforma-
tion. Nicht nur, weil Plotin und Porphyrios unterstreichen, dass die Tugend
allein die Verähnlichung mit Gott darstelle; auch nicht nur die Tatsache,
dass die Neupythagoreer dies mit dem Thema der Selbsterkenntnis verban-
den, spricht für diese Sicht der Dinge. Darüber hinaus wird nämlich diese
platonische Formel besonders in der Ammoniusschule gebraucht, um das
Wesen der Philosophie überhaupt zu bezeichnen – neben vielen anderen
möglichen Bezeichnungen. Das zeigt, dass die Idee der sittlichen Vergot-
tung allen anderen Formen des Philosophierens zugrundeliegend gedacht
wurde.
Die christliche Philosophie hat in diesem Zusammenhang ein Übriges
getan. Sie hat nicht nur öfter auf die Theätetstelle Bezug genommen bzw.
sie auch auszitiert,20 sondern den Verähnlichungsprozess auch ausdrücklich
als eine Selbsttransformation der Seele gedeutet. Besonders Gregor von
Nyssa hat innerhalb einer – im Vergleich mit der aristotelischen – neuen
Metaphysiktradition die Metaphysik selbst als eine derartige Übung des
Geistes angesehen, in der sich das erkennende Subjekt verwandelt. Der
Mensch ist ein Verwandlungskünstler. Nicht zufällig steht der Begriff der
„TropƝ“ im Zentrum der Gregorschen Anthropologie.21 Allem so genannten
Essentialismus abhold hat Gregor den Willen als das das Wesen bestim-
mende Element angesehen. In berühmten Worten ausgedrückt: „Und wir
sind gewissermaßen die Väter unserer selbst, indem wir uns selbst als die
hervorbringen, die wir sein wollen, und durch unseren Willen uns nach dem
Modell bilden, welches wir wollen.“22 In eben diesem Sinne ist auch die
Verähnlichung mit Gott zu verstehen. Sie ist eine Selbsttransformation der
Seele.23 Die Erkenntnis des Göttlichen besteht nicht länger in der bloßen
Betrachtung eines vorgegebenen höchsten Gegenstandes, sondern in der
„Gottwerdung“. Gregor sagt ausdrücklich, dass die Seele göttlich „wird“,
indem sie auf das Gleichnis der unzerstörbaren Schönheit und das Abbild

19
Seneca, Epistula 94, 4: „Philosophia, inquit, dividitur in haec, scientiam et habitum
animi; nam qui didicit et facienda ac vitanda percepit nondum sapiens est nisi in ea
quae didicit animus eius transfiguratus est.“
20
Vgl. z. B. Clemens von Alexandria, Stromata II 22, 133; Eusebius, Praeparatio
Evangelica XII 29, 15; Theodoret, Graecarum affectionum curatio XII 21, 6.
21
Vgl. z. B. Gregor von Nyssa, De perfectione christiana, 213. Siehe dazu Kobusch
2006a, 68 f.
22
Gregor von Nyssa, De vita Moysis II, 34, u. 56. Vgl. auch ders., In Ecclesiasten 6, 318.
23
Zu diesem Aspekt vgl. die Belege in Kobusch 2000, 483.
208 Theo Kobusch

der wahren Gottheit, das sie selbst ursprünglich ist, schaut und in der Nach-
ahmung „jenes wird, was jener ist“.24 Auf diese Weise kann von einer
„Verwandlung“ oder „Veränderung des Lebens“ durch die Philosophie
gesprochen werden.25 Wenn Gregor gefragt wird, was das Christentum,
also das Christsein sei, so antwortet er bezeichnenderweise: „Homoiôsis
theô“.26 Die Verähnlichung mit Gott besteht aber in der moralischen Rein-
heit, Leidenschaftslosigkeit und der „Entfremdung“ gegenüber allem Bö-
sen. Sie ist es, wodurch das Leben „geformt“ wird.27
Es ist zwar eine durch den Willen des Menschen bewirkte Selbsttrans-
formation, um die es sich hier handelt, aber sie ist nach Gregor trotzdem
nicht eigentlich ein Werk der menschlichen Schöpferkraft, denn in der sog.
ersten Schöpfung wurde schon der menschlichen Natur die Ähnlichkeit mit
dem Göttlichen verliehen, so dass die sittliche Gottverähnlichung die Ak-
tualisierung einer ursprünglichen Verwandtschaft darstellt.28 Was Gregor
durch diese dogmatische Lehre sagen will, liegt auf der Hand: Die aktuelle
Natur des Menschen, das, wozu der Mensch sich jeweils macht, hat schon
eine Geschichte. Die Gestaltung des Selbst, die in gewisser Weise eine
Selbsterschaffung ist, ist keine creatio ex nihilo, sondern die Formung
eines schon Vorliegenden.
Gregors Lehre von der Selbsttransformation der Seele als einer prak-
tisch-metaphysischen Tätigkeit, die auch in gewissem Sinne eine Selbster-
schaffung genannt werden kann, gehört in das Umfeld der neuplatonischen
Vergöttlichungslehren, aus dem sie zugleich hervorragt. Sie ist, ohne dass
sie im Mittelalter völlig vernachlässigt würde, in der Renaissancezeit, be-
sonders bei Giovanni Pico della Mirandola wiederaufgenommen worden.
Schelling und Schopenhauer haben die Grundidee aufgegriffen und erläu-
tert, inwiefern der Wille sein „eigener Schöpfer und sein eigenes Ge-
schöpf“ sein kann. J.-P. Sartre hat in diesem Sinne es als das erste Prinzip
des Existentialismus bezeichnet, dass der Mensch nichts anderes ist, als
wozu er sich macht.29 Gerade vor dem Hintergrund dieses existenzialisti-
schen Grundgedankens wird der Anspruch der ästhetischen Theorien
M. Foucaults und der „Lebenskunst“ einerseits und der Selbsterschaffungs-

24
Gregor von Nyssa, In Canticum Canticorum or., 2, 68.
25
Gregor von Nyssa, In diem luminum, 238: tÍ metabolÍ toà b…ou […]. Vgl. auch
ders., Canticum Canticorum or., 7, 223.
26
Gregor von Nyssa, De creatione hominis, 33.
27
Vgl. Gregor von Nyssa, De hominis opificio, PG 44, 137.
28
Vgl. Gregor von Nyssa, De virginitate, 300.
29
Zur Geschichte der Selbsterschaffungsidee von den Kirchenvätern bis zur biologi-
schen Selbsterschaffung im Rahmen des transhumanen Denkens der Hypermoderne
vgl. T. Kobusch 2006b.
Philosophie als Lebensform 209

lehre R. Rortys andererseits, die beide auf ihre Weise der Philosophie
Nietzsches folgen, deutlich. Während Sartre in der Geworfenheit oder
Faktizität des menschlichen Daseins seine Kontingenz sieht, wird entwe-
der, wie die Kritik an der Lebenskunst herausstellt, alles Kontingente und
Zufällige in der Theorie an die Seite gedrückt oder, wie bei Rorty, lediglich
als idiosynkratische Bedürfniskumulation begriffen.30 Zweifellos stellen
die Selbsterschaffungslehren Foucaults und Rortys noch einmal eine Stei-
gerung gegenüber Sartres Idee der schöpferischen Existenz dar: „Indem
sich beide Nietzsches Diktum aneignen, sich selber zum Kunstwerk zu
machen, verfechten sie das philosophische Leben als radikale originelle
Selbsterschaffung“ (Shusterman 2001, 8).
Und doch relativieren sich diese radikalen Selbsterschaffungslehren,
die nicht nur, wie im Falle von Foucault und Rorty, das Leben als ein im
Sinne des avantgardistischen Künstlers oder Baudelaireschen Dichters
radikal neu zu Schaffendes begreifen, sondern auch, wenngleich im An-
schluss an Nietzsche, die eigene Theorie für ein ganz Neues halten.
R. Shusterman, der Pragmatist, hat gezeigt, dass die Selbsterschaffung des
Baudelaireschen Dandy oder des ironischen Ästheten ebenso von öffentli-
chen Zwängen eines vorgegebenen Ethos bestimmt ist wie andere individu-
elle Handlungen auch. Er hat sie sogar als die philosophische Widerspiege-
lung des Warenkonsums unserer spätkapitalistischen Konsumgesellschaft
entlarvt, insofern sich die Anbetung des Neuen auf höherer Ebene vollzieht
(vgl. Shusterman 1994, 239).
Auch die philosophischen Ansprüche dieser Theorien relativieren sich
mit Blick auf die Geschichte. Außer dem Anspruch auf Neuheit ist kaum
etwas an ihnen wirklich neu. Zieht man die lange Tradition der Lehre von
der Selbstverursachung mit in Betracht, so schrumpft ihre Originalität noch
mehr (vgl. Kobusch 2002b). Sie sind in ihrer Substanz alte Ethik und
Theologie, denen das Mäntelchen des „Ästhetischen“ umgehängt wurde.
Selbst jenes von Shusterman ausgemachte einheitliche Dewey-Wittgen-
stein-Foucault-Modell (vgl. Shusterman 2001, 87), nach dem die Trans-
formation des Selbst in einem ständigen Wachstum, in stetigem Fortschritt,
in unaufhörlicher Selbsterweiterung und Selbsttranszendierung besteht,
erscheint doch, auch wenn die Autoren sich auf Nietzsche berufen, als
jener auf den Boden geholte metaphysische Gemeinplatz, den wir gerade
wieder von dem großen Kirchenvater Gregor von Nyssa kennen. Seine
These war, dass das menschliche Glück, auch das jenseitige, in einem im-
merwährenden Wachsen und Fortschreiten, im Immer-tiefer-eindringen in

30
Zur Kritik an Rortys Kontingenzbegriff vgl. Shusterman 2001, 106.
210 Theo Kobusch

die Gottheit besteht. Die These war ganz neu, aber Gregor wusste, im Un-
terschied zu den postmodernen Neuerern, dass die Wahrheit das Alte ist.

IV. Die Mystik: Lebemeisterphilosophie

Die moderne Lebenskunst hat jedoch der Selbsterschaffungstheorie gewis-


sermaßen nicht uneingeschränkt das Wort geredet. Vielmehr hat sie den
Blick von außen als ein Element einer Tugend verstanden, die auch von
der Lebenskunstkritik geschätzt wird, nämlich der Gelassenheit. So sagt
W. Schmid: „Zur Gelassenheit gehört […] der Blick von außen“ (Schmid
1999, 394), und sein Kritiker W. Kersting betont: „Wir müssen sie [scil.
die Autonomie] mit der Gelassenheit vermählen“ (Kersting 2007, 38). Auf
diese Weise kommt die Idee einer Haltung des Selbst ins Spiel, die aus der
Geschichte der philosophischen Lebenspraxis stammt, jedoch nicht antiken
Ursprungs ist.
W. Schmid behauptet, die Haltung der Gelassenheit gehe zurück auf
die stoische Vorstellung der Seelenruhe und habe, in ihrer theologischen
Gestalt, den mittelalterlichen und modernen Voluntarismus freigesetzt.
Doch die Gelassenheit ist gar keine antike Tugend, und der Voluntarismus
hat andere Gründe als die Theologisierung der Gelassenheit.
M. Heidegger hat in seiner Gelassenheitsschrift, in der es um die rechte
Einstellung gegenüber der modernen Technik geht, mit Recht auf die Mys-
tik verwiesen, wo, besonders bei Meister Eckhart, der Begriff der Gelas-
senheit erstmals entwickelt wird. Nach Meister Eckhart meint die Gelas-
senheit jene Haltung, in der der Mensch alle Dinge dieser Welt hinter sich
lässt und sie als ein Nichts, d. h. als für sein Selbst Unbedeutendes ansieht.
Es ist keine Weltverachtung oder Weltverneinung, die aus solchen Worten
spricht. Denn die Welt ist dem gelassenen Menschen gerade wieder auf
neue Weise zuteil geworden.31 Dies Motiv des Loslassens der Dinge dieser
Welt verrät ein weiteres Mal den Einfluss des Neuplatonismus. Plotin hat
die Dialektik von Loslassen und Präsenz in neuer Weise durchdacht. Eck-
hart fügt dem ein wichtiges Element wahrer Gelassenheit hinzu: das Sich-
los-lassen – obwohl auch dieses Motiv im Neuplatonismus schon vorge-
prägt worden zu sein scheint. Nur derjenige Mensch ist wahrhaft gelassen,
der „sich selbst und diese ganze Welt gelassen“ hat und „niemals mehr nur
einen Augenblick auf das sieht, was er gelassen hat“. Ein solcher lebt, weil
er gegenüber sich selbst und „allen geschaffenen Dingen tot“ ist, so dass er

31
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 42, DW II, 306.
Philosophie als Lebensform 211

seiner selbst so wenig achtet wie eines tausend Meilen Entfernten.32 Der
gelassene Mensch achtet somit nicht auf sich selbst.33 Doch, so wird man
fragen müssen, verträgt sich das denn mit dem Grundgedanken aller Le-
bensformphilosophie, nämlich mit dem Gedanken der Sorge um sich
selbst? Die Frage führt hin zum Grundgedanken einer Dialektik, die das
ganze Werk Meister Eckharts, ja der Mystik insgesamt bestimmt. Je mehr
die philosophische Vernunft sich aus Sorge um das wahre Selbst zu sich
selbst hinwendet, je stärker sie aus diesem Grund die Achtung und Auf-
merksamkeit auf sich selbst intensiviert, je angestrengter sie die Konzentra-
tion auf sich durchführt, um so gelassener wird sie, d. h. um so mehr lässt
sie sich los, um so weniger achtet sie auf sich, um so mehr vergisst sie sich
selbst. Die besorgte Hinwendung zum eigentlichen Selbst macht die indivi-
duellen Neigungen und partikulären Triebe des kontingenten Selbst verges-
sen. Die Gelassenheit ist so die Verwirklichung der Selbstsorge. Sie ist kein
augenblickhaftes Erlebnis, sondern eine geistige Übung, durch die das
menschliche Bewusstsein die Transformation seiner selbst vollzieht. Der
gelassene Mensch ist der in der Gelassenheit geübte Mensch.34 Die Gelas-
senheit gehört zum Reigen jener geistigen Übungen, die, wie zum Beispiel
das Durchbrechen, der mystische Tod, die Gottesgeburt oder die Selbstver-
gessenheit, die Ichwerdung, d. h. die Gottwerdung des Menschen fördern.
Diese Elemente der Eckhartschen Philosophie sind aber nicht die
Merkmale eines Einzelgängers, sondern konstitutive Elemente des mysti-
schen Denkens aller Zeiten. H. Seuse und J. Tauler haben sie übernommen.
Meister Eckhart hat in diesem Sinne zwischen dem Lesemeister und dem
Lebemeister unterschieden. Der Lesemeister – dem nach scholastischem
Brauch eine bestimmte Funktion im akademischen Leben zukam – steht
bei Eckhart für den lebensfernen, abstrakt-theoretischen Denker, der Le-
bemeister dagegen ist der Philosoph der Lebenspraxis, der in geistigen
Übungen sein Selbst gottwürdig formen kann.
Es ist somit die Mystik, die im Mittelalter als die legitime Erbin der anti-
ken Lebensformphilosophie anzusehen ist. Sie ist es auch später im Wesent-
lichen, die neben einer immer stärker auftrumpfenden abstrakt-theoretischen

32
Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 201 ff. Dem Sinn nach ähnlich: Ebd. 198:
Vünde ich mich einen ougenblik in disem wesene, ich ahtete als wênic ûf mich sel-
ben als eines mistwürmelîns.
33
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 28, DW II, 61. Zum neuplatonischen Hintergrund
vgl. Kobusch 1986. Bei Plotin, Enn. III 8, 9, 30 ist vom „Zurückweichen“ und
„Sich-lassen“ des Geistes die Rede (oŒon e„j toÙp…sw ¢nacwre‹n kaˆ oŒon
˜autÕn ¢fšnta…)
34
Vgl. Meister Eckhardt, Predigt 12, DW I, 203; Werke I, 879, 959 ff.
212 Theo Kobusch

Philosophie das antike Bewusstsein von der dem Leben verpflichteten Philo-
sophie wachgehalten hat.

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Philosophie als Lebensform 213

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III.
Gesellschaftliche Positionen: Die Außenperspektive
Die deliberative Gesellschaft:
ein Brückenschlag von der philosophischen Reflexion
zur politischen Konstitution

Christoph Böhr

Im nachfolgenden Beitrag soll die Frage nach der bleibenden Bedeutung


der Philosophie aus der Sicht der Politik beantwortet werden. Dieser Ver-
such einer Beantwortung der Frage vollzieht sich in fünf gedanklichen
Schritten: Zuerst wird die Bedeutung herausgearbeitet, welche die Philoso-
phie für die konstitutive Inkraftsetzung der Politik hat; ein Schwerpunkt
liegt hierbei auf der Betonung einer personalistischen Philosophie, die um
den Begriff der Menschenwürde kreist (Teile I–III). Anschließend soll ein
Bild der gegenwärtigen Gesellschaft gezeichnet werden, in dem besonders
der konstruktive Beitrag der philosophischen Reflexion zu den Prinzipien,
Prozeduren und der Praxis einer deliberativen Demokratie in den Blick
gerückt wird (Teil IV). Zum Abschluss (Teil V) werden die vorangegange-
nen Erträge im Blick auf die titelgebende Frage nach dem „Warum“ der
Philosophie aus der Sicht der Politik erörtert. Dass die Entfaltung der Theo-
rie des Politischen und der Prinzipien der deliberativen Demokratie durch-
gängig auf historische wie auf rezente Überlegungen der politischen Philo-
sophie verweist, ist vielleicht schon ein erstes Indiz für den Stellenwert,
der ihr in diesem Unternehmen zukommt.

I. Die Konstitution von Intersubjektivität:


eine phänomenale Evidenz

In jenem Augenblick, in dem ein Mensch beginnt, die Nähe anderer Men-
schen zu suchen und es darauf anlegt, anderen Menschen in deren Blick-
feld zu erscheinen, beginnt die Geschichte einer Beziehung, die bis zu
seinem Lebensende andauert und tagtäglich an Vielschichtigkeit gewinnt:
nämlich die Lebensgeschichte des Menschen als Austritt aus seiner Sub-
jektivität und dem damit einhergehenden Eintritt in die Intersubjektivität,
die sich später zur Interpersonalität entfaltet. Dieser Aufbruch kommt je-
doch keinem Abschied gleich: Der Mensch gibt seine Subjektivität nicht
218 Christoph Böhr

auf wie jemand, der Haus und Hof verlässt. Lebenslang bleibt sie der Ort,
an dem er zu Hause ist. Aber er tritt, als Bewohner dieses Hauses, hinaus
in den größeren Raum, der seine Subjektivität umschließt: die Agora. Die-
ser die eigene Subjektivität bergende Raum ist nichts anderes als die frem-
de Subjektivität der Anderen. So konstituiert sich Intersubjektivität, wie
immer sie im Einzelnen beschaffen sein mag, als jener Raum, in dem ein
Mensch lebt – als Forum des Politischen.
Wenn nun der Mensch – sei es am Anfang seines Lebens noch unbe-
wusst, sei es später bewusst und willentlich – in den seine Subjektivität
umgebenden größeren Raum der Intersubjektivität eintritt, entdeckt er die
Vielschichtigkeit der Wechselbeziehungen, in die er sich freiwillig begibt
oder in die er unfreiwillig einbezogen wird. Eine Spielart des Intersubjek-
tivismus nennen wir Interaktion: als eine Weise – neben anderen Formen –
der Gestaltung von Kommunikation, mit der wir die Art unserer Bewälti-
gung von Intersubjektivität bezeichnen.
Tritt der Mensch in eine Interaktion ein – hier verstanden als die hand-
lungsbezogene Form der Entfaltung und Gestaltung von Intersubjektivität
und deren Bewältigung durch Kommunikation – und handelt er im Bezugs-
feld zu anderen Menschen, bedarf es bestimmter Regeln, die sein Handeln –
wie sich später zeigen wird: unter der Bedingung von Wechselseitigkeit –
leiten. In einer Interaktion stellt sich allen Beteiligten auf Schritt und Tritt die
Frage, wie der Abgleich zwischen den eigenen Erwartungen und den Er-
wartungen des Gegenübers geregelt werden kann – und wie in gelingender
Weise ein Ausgleich zwischen eigenen und fremden Absichten vorzuneh-
men ist. Denn wenn jemand sich weigert, nach einem solchen Ausgleich zu
suchen, wird ihn eine Ausgrenzung treffen, die ihn aus dem Raum der
Intersubjektivität vertreibt, den zu betreten er sich gerade entschlossen
hatte. Also sucht er den Ausgleich – und um ihn nicht von Fall zu Fall
wagen zu müssen, sucht er nach Regeln, die sein Handeln in die Richtung
des gesuchten schiedlichen und auskömmlichen Miteinanders lenken.
Wer setzt diese Regeln in Kraft? Und wer zwingt sie solchen Mitspie-
lern auf, die nicht daran denken, nach Regeln zu handeln? Und welche
Mittel stehen zur Verfügung, um Regeln jene Geltung zu verschaffen, die
eine Handlungsleitung allererst zur Regel macht? Doch nur die eine und
einzige Gewalt, die wir mehr oder weniger bereit sind, über unseren Kopf
hinweg schalten und walten zu lassen: die staatliche, genauer: die politi-
sche Gewalt.
Politik ist die ihrem Anspruch nach verbindliche Organisation von
Gewalt in einem allgemeinen und in einem besonderen Sinn. Sie aktuali-
siert eine Potenz, die wir gemeinhin Macht nennen. Unter Macht verstehen
wir nichts anderes als die Potentialität einer fallweise zu aktualisierenden
Gewalt. Das Telos, dem Macht und Gewalt unterliegen, ist nicht einfach zu
Die deliberative Gesellschaft 219

beschreiben und nimmt seinen Ausgang in den beiden ganz unterschiedli-


chen Sichtweisen derjenigen, die Macht besitzen, einerseits, und derjeni-
gen, die sich der Macht zu fügen haben, andererseits. Wer Macht besitzt,
will sie in der Regel behalten, und wer sich der Macht zu fügen hat, ist in
der Regel darauf bedacht, dies mit einer gewissen inneren Zustimmung
und nur in bestimmten verbindlichen Grenzen zu tun. Die Politische Philo-
sophie seit Platon müht sich um die Aufdeckung dieser Zusammenhänge
und hat dabei eine Neigung entwickelt, die Frage des Machterwerbs und
der Machtgestaltung im Rahmen eines – von mir hier so genannten – auto-
ritativen Paradigmas zu beantworten: Beide Seiten, Herrscher und Be-
herrschte, haben sich unter das Joch einer Autorität zu begeben: Dieses
Joch ist die normative Theorie gerechter Machtgestaltung (durch die Herr-
schenden) und des ihr geschuldigten billigen Gehorsams (seitens der Be-
herrschten).1
Warum jemand nach der Macht greift, bedarf im Umfeld einer Erörte-
rung der Politischen Philosophie nicht nur der Begründung, sondern gar
einer Rechtfertigung. So will es die Theorie der Politik. Der Mächtige
schuldet den normativen Ansprüchen der Theorie gerechter Herrschaft
Gehorsam. Das wirkliche Leben ist dieser Vorstellung allerdings nie ge-
folgt. In ihm ist der Wille zur Macht allein ausschlaggebend. Und auch aus
der anderen, entgegengesetzten Sichtweise derjenigen, die sich der Macht
zu beugen haben, hat die Politische Philosophie einen Maßstab entwickelt,
dem im wirklichen Leben wenn überhaupt, dann nur aus Höflichkeit nicht
widersprochen wird: Gehorsam schuldet der Beherrschte in dem Maß, in
dem es den Herrschenden gelingt, ihren Machtanspruch gemäß den Vorga-
ben der Gerechtigkeit zu begründen. Auch dieser Vorstellung ist das wirk-
liche Leben selten gefolgt – schon deshalb, weil das, was gerechte Herr-
schaft ist, mit verbindlicher Gewissheit selten auf der Hand liegt und meist
nicht mit jener Schnelligkeit bestimmt werden kann, mit der eine politische
Entscheidung zu fallen hat. So gleicht die normative Theorie oft genug der
Eule, die erst am Ende des Tages die Lage überblickt, nachdem die Würfel
längst gefallen sind.

1
Für den Gegenentwurf, mit dem Herrscher und Beherrschte in unterschiedliche
Ordnungen gestellt werden, steht am Beginn des neuzeitlichen Denkens die Theorie
von Niccolò Machiavelli, der Abstand nahm von der Überzeugung, dass Herrscher
und Beherrschte – bei unterschiedlichen Rechten – sich in ein- und denselben Ord-
nungsrahmen einer ihnen gleichermaßen vorgegebenen Wahrheit einzufügen haben;
Sternberger 1978, 159 ff., hier bes. 193, nennt Machiavelli den Begründer des zwei-
ten, neuzeitlichen, von ihm dämonologisch genannten Begriffs von Politik – nach
dem klassischen politologischen und vor dem modernen eschatologischen.
220 Christoph Böhr

Aus diesen – und manch anderen Gründen – erwuchs jene Fremdheit


zwischen Politischer Philosophie und realer Politik, die fast immer, wenn
sie überwunden zu sein schien – man denke an den Antimachiavell Fried-
richs des Großen und dessen Anziehungskraft auf die Philosophen seiner
Zeit –, gleich auch schon wieder zerbrochen ist. Realpolitik bedarf der So-
zialphilosophie nicht. Die Handlungsbedingungen der Politik unterscheiden
sich grundlegend von den Maßstäben der Philosophie. Sucht diese bei-
spielsweise nach Schlüssigkeit, so ist in der Politik das Durcheinander dem
Erfolg keinesfalls abträglich. Im Kern geht es um zwei ganz verschiedene
Bestimmungen dessen, was unter Erfolg – durchaus auch im Sinne eines
Telos verstanden – zu verstehen ist: Der politische Erfolg bemisst sich, bis
heute, einzig an der Bestätigung eines Machtanspruchs, ein Erfolg der Phi-
losophie hingegen – ich greife bewusst zu dieser Wortwahl, weil sie die
Inkompatibilität der beiden Sachbereiche zum Ausdruck bringt – bemisst
sich, wie immer man ihn bestimmt, auf jeden Fall anders: als Erkenntnis.
Die vita activa und die vita contemplativa mögen sich im Einzelfall auf eine
nette Weise ergänzen, aufeinander angewiesen sind sie nicht.
Ist nun diese nüchterne Bestandsaufnahme gleichbedeutend mit der Ab-
dankung der Politischen Philosophie? Ist die in die Formel „Warum Philoso-
phie?“ gekleidete Frage nach dem Sinn und der Bedeutung philosophischer
Bemühungen aus Sicht der Politik bzw. des Politikers einfach nur abschlägig
zu beantworten? Mitnichten. Denn die Politische Philosophie ist Philoso-
phie, die ihre Bedeutung und ihren Zweck keinesfalls von ihrer Brauchbar-
keit für die Realpolitik ableitet. Philosophie ist, so nützlich sie von Fall zu
Fall auch im wirklichen Leben sein mag, immer Erkenntnis um der Erkennt-
nis willen. Dass damit vielfältige Segnungen für die Gesellschaft einherge-
hen – und manchmal auch Verführungen verbunden sind –, steht auf einem
anderen Blatt. Im vorliegenden Zusammenhang ist nur der Hinweis wichtig,
dass sich das Denken nicht einfach abschalten lässt. Und wenn auch die Poli-
tik der Philosophie nicht bedarf, um sich ihres Erfolges zu vergewissern, so
kommt doch eine Gesellschaft nicht umhin, mit Philosophie umgehen zu
lernen, die – als philosophisch-politische Reflexion – nichts anderes ist als
das Gespräch über die Frage nach der Selbstbestimmung von Gesellschaft.
Darum soll es im Folgenden gehen: Was verbirgt sich hinter der Frage nach
dem Anspruch und der Aufgabe gesellschaftlicher Selbstbestimmung?
Oben war davon die Rede, dass Politische Philosophie, seitdem es sie
gibt, auf ein autoritatives Paradigma Bezug nimmt: also Herrscher wie Be-
herrschte unter das Joch zwingen will, einer so oder so bestimmten Vorstel-
lung geglückten Lebens zu folgen. Diese Bestimmung, je mehr wir an die
Gegenwart heranrücken, fiel dabei immer minimalistischer aus: Folge einer
europäischen Programmidee, die man, wenn auch unscharf, mit dem Be-
griff der Individualisierung beschreiben kann. Individualisierung beschreibt
Die deliberative Gesellschaft 221

die politische Konsequenz einer philosophischen Theorie – die Theorie des


Subjektivismus, die alles im Erkennen und im Handeln zuletzt festmacht
am Subjekt. Alle ernstlichen Widersprüche – man denke nur an die Wirk-
mächtigkeit der marxistischen Theorie, die das Subjekt als Erscheinung
eines abgeleiteten Überbaues verstehen wollte – sind am offenkundigen
‚Erfolg‘ der Theorie des Subjektivismus gescheitert – nur am Rande sei
bemerkt: Hier übrigens zeigt sich ein neues Sinnverständnis eines Erfolgs-
maßstabes einer philosophischen Theorie. Im Ergebnis hat der Siegeszug
der Subjektphilosophie, die ihren politischen Ausdruck in einer voran-
schreitenden Individualisierung fand, zu einem der größten Beben der Neu-
zeit geführt: dem Zusammenbruch der kontinentaleuropäischen totalitären
Regime, die man, wenn man ihrem Verständnis als politische Religion
folgt, auch als ein letztes Aufbäumen einer Denkhaltung verstehen muss,
der zufolge sich das Zusammenleben der Menschen im Gehorsam einer
höheren, dem Menschen übergeordneten Wahrheit gestalten soll. Dabei
waren die in ihrer Substanz eher platten Ideologien (von rechts und links)
des letzten Jahrhunderts nur noch die Schwundstufe vorangegangener (mit-
telalterlicher und neuzeitlicher) Versuche, die gesellschaftliche Ordnung als
Abbild einer vorangehenden höheren Ordnung des Seins zu denken.
Das so verstandene autoritative – also Gehorsam für die dem Menschen
vorausgehende Wahrheit fordernde – Paradigma für den Entwurf einer
gesellschaftlichen Ordnung ist 1989 endgültig zerbrochen, zunächst jeden-
falls in Europa. Die Bürger Europas ringen um ein neues Verständnis von
Freiheit und beginnen allmählich mit einer Beratschlagung darüber, welche
Möglichkeiten und Gefahren ein Leben in Freiheit bietet. Kurzum: Die
Europäer haben sich – notgedrungen – aufgemacht, zum ersten Mal in ihrer
Geschichte sich mit der Frage zu beschäftigen, was es bedeutet, in einer
Gesellschaft zu leben, die in ihrem Selbstverständnis nicht einem autoritati-
ven, sondern einem deliberativen Paradigma folgt.
Was ist unter diesem Begriff zu verstehen? Bevor der Begriff selbst er-
läutert werden kann, muss noch einmal daran erinnert werden, dass jede
Gesellschaft eines Bezugspunktes bedarf, der aller Realpolitik vorausgeht,
indem er diese allererst in Kraft setzt. Dieser Bezugspunkt findet sich in der
Entscheidung, das Beziehungsverhältnis der Intersubjektivität, wie sie sich
zwischen sich begegnenden Subjekten einstellt, unter politischen Aspekten
– also Machtgesichtspunkten – zu ordnen. Für diese Ordnung bedarf es
eines Kriteriums, und zwar nicht nur unter legitimatorischen, sondern zu-
nächst und vor allem unter organisatorischen Gesichtspunkten, wie Thomas
Hobbes mit heute noch beeindruckender Klarheit erkannt hat. Die Staatsor-
ganisation folgt, alles in allem, der gesellschaftlichen Vorstellung, wie zu-
lässige und wirksame Rollenbestimmungen – im Raum der Intersubjektivi-
tät – festgelegt werden können. Diese Vorstellungen folgen ihrerseits einer
222 Christoph Böhr

Teleologie – einer Zielbestimmung, in deren Dienst die Vorstellung von der


Ordnung der Verhältnisse steht. Die Grundfrage lautet demnach: Wem oder
was verdankt sich die Vorstellung, der eine Ordnung folgt?
Die Politische Philosophie hat in ihrer langen Geschichte unterschiedli-
che Zielbestimmungen entwickelt und erörtert. Seit Platon waren es vor
allem die Konzepte der Wahrheit und der Gerechtigkeit, die als eine solche
Zielbestimmung galten. Hobbes hat dem als gebranntes Kind seiner Zeit
widersprochen und einen klugen Gegenentwurf entwickelt, weil er erkannt
hat, zu welcher Friedlosigkeit der erbitterte Kampf um die Wahrheit führen
kann. So läutet er scheinbar eine neue Epoche ein – nicht durch die Außer-
kraftsetzung der Idee, die auch Hobbes anerkennt, sondern durch die Unter-
ordnung der Bestimmung dieser zugunsten eines ihr übergeordneten Zieles,
nämlich der Gewährleistung von Schutz und Sicherheit. Wohl in der inhaltli-
chen Festsetzung dieser Zielbeschreibung, nicht aber im Rang, den Hobbes
ihr zuerkennt2, unterscheidet er sich von seinen Vorgängern. Zwar ist seine
Zielbeschreibung – die Gewährleistung von Sicherheit – der Sache nach als
Zweck aller politischen Zwecke neu, aber auch sie zwingt die Menschen
unter ihr Joch: Denn auch sie macht eine höhere Wahrheit geltend, der Men-
schen sich unter Zwang zu beugen haben. Auch Hobbes entwickelt sein Ge-
sellschaftsbild – und die Maßstäbe gesellschaftlicher Ordnung – unter den
Vorzeichen eines autoritativen Paradigmas: als Ableitung von einem Telos,
das aller Subjektivität vorausgeht und dieser immer vorgeordnet bleibt.
Erst Immanuel Kant hat die Subjektivität des Menschen politisch in ihr
Recht gesetzt und nicht nur zum Schein, sondern tatsächlich die Grundlage
für die Überwindung des autoritativen Paradigmas gelegt. Er zeichnet ein
Bild von Gesellschaft, das nicht mehr Maß nimmt an einer ihm vor- und
übergeordneten Wahrheit. Seit Kant verzichtet die Politische Philosophie
endgültig darauf, gesellschaftliche Streitfragen als Wahrheitsfragen miss-
zuverstehen – und begibt sich, in Folge dieses dem Recht auf Freiheit ge-
schuldeten Verzichts, doch erneut auf schwankenden Grund: Denn an die
Stelle von Wahrheit kann offenbar nicht schlechterdings die Beliebigkeit
treten. Nicht der anarchische Liberalismus, sondern der staatliche Libera-
lismus – die Ordnung der Freiheit – entspricht Kants Vorstellung philoso-
phischer und politischer Konstitution im Subjekt.

2
Thomas Hobbes erlebte zu seiner Zeit das Verhältnis von Glaube und Vernunft –
Wahrheit und Gesetz – als einen Dualismus, der seiner Meinung nach schnurstracks
in den politischen Bellizismus führt, und setzte an die Stelle dieses Dualismus ein
neues monistisches Prinzip, den Machtspruch. Dabei übersah er allerdings, dass die
Verbannung des Glaubens aus der staatlichen Sphäre eine Leere entstehen lässt, die
regelmäßig schon bald durch einen anderen Glauben, schlimmstenfalls durch einen
Aberglauben, gefüllt wird; vgl. dazu Böhr 2009a, 74 ff., hier 88 f.
Die deliberative Gesellschaft 223

Damit erhält der Begriff der Ordnung eine Schlüsselbedeutung, besser


gesagt: Er behält die Bedeutung, die er immer schon hatte. Aber in seinem
Sinn wird er jetzt neu gedeutet: als die Mitte zwischen Zwang und Willkür.
Er leitet sich – anders als in der mittelalterlichen Philosophie – jetzt, in
seinem neuzeitlichen Verständnis, nicht mehr ab von der dem Menschen
vorangehenden Ordnung des Seins. Doch hat er sich von der Wahrheit des
Seins und dessen Ordnung auch nicht völlig gelöst. Aber er nimmt eine
andere Bedeutung von Wahrheit in sich auf. Der neuzeitliche Begriff der
Ordnung baut eine Brücke zwischen dem, was in der Gesellschaft zur Ent-
scheidung freigestellt, und dem, was eben nicht verhandelbar ist. Er achtet
die Freiheit, die er gleichzeitig unter Regeln stellt. Aber nach welchem
Gesichtspunkt tut er das, wenn als Voraussetzung seiner Anerkennung gilt,
dass darauf verzichtet wird, die Freiheit einzuschränken?
Der Gesichtspunkt, nach dem sich die Regeln der freiheitlichen Gesell-
schaft bemessen, findet sich in ihrer Zielsetzung der Ermöglichung von
Freiheit. Jede Regel in der Gesellschaft der Freiheit muss sich messen las-
sen an dieser Zielsetzung: nicht als Restriktion des Handelns, sondern als
Option zum Handeln. Regeln in der freiheitlichen Gesellschaft entwickeln
sich aus der Entfaltung des Prinzips der Reziprozität3, das nichts anderes
meint, als Räume der Selbstbestimmung so zu vermessen, dass ein Opti-
mum an wechselseitiger Optionalität zum selbstbestimmten Handeln er-
reicht wird.
Nur am Rande sei auf die Voraussetzung dieses Verständnisses gesell-
schaftlicher Regeln verwiesen: Vorausgesetzt wird, dass im Recht der Sub-
jektivität die Freiheit zur Selbstbestimmung gründet, die wiederum den
Zweck jeder Ordnung bestimmt. Eben dieser Vorstellung, dass alles im
Subjekt seinen Ausgang nimmt, verdankt sich demnach die Ordnung der
Gesellschaft: Die Wahrheit der freiheitlichen Gesellschaft ist der Mensch,
ihre Methodologie ist der Anthropozentrismus. Die Folge der philosophi-
schen wie politischen Konstitution im Subjekt findet sich im Regelwerk
einer gesellschaftlichen Deliberation, die nichts voraussetzt, nichts für
unverfügbar hält und nichts, die kleinen wie die großen Fragen, von der
Beratschlagung ausnimmt – mit einer einzigen Ausnahme: nämlich die
Überzeugung von der Unverfügbarkeit des Subjekts.

3
Zum philosophischen Motiv des Prinzips der Reziprozität vgl. Sepp 2009, 449 ff.,
hier 460: „Im gelingenden Ausgleich übersteigen wir uns wechselseitig, und diese
Übersteigung ist nur dann wirklich, wenn ihr ein metaphysisches Begehren zugrun-
de liegt: die Lösung vom Verhaftetsein an das Eigene ebenso wie die Einsicht, das
Andere (und das Eigene) nie ausloten und nie wirklich haben zu können.“ In die-
sem Sinn baut Reziprozität eine Brücke über die Differenz von Subjektivität und
Intersubjektivität.
224 Christoph Böhr

II. Die vorgängige Konstitution des konstituierenden Subjekts

Das hat weitreichende Folgen. Bevor darüber zu sprechen sein wird, bedarf
es noch eines kurzen Blicks auf die grundlegende Bedeutung des Subjekts,
das aller politischen Konstitution vorausgeht. In dieser phänomenalen Evi-
denz erkennt die freiheitliche Gesellschaft ihre eigene, die ihr unmittelbar
zugehörige und sie beatmende Wahrheit. Deren Entfaltung spannt den
Rahmen der freiheitlichen Gesellschaft auf. In ihr gibt es nichts, was unter
den Bedingungen der Freiheit nicht der Verfügbarkeit preisgegeben wäre –
außer dem, was die Freiheit als Freiheit begründet. Was also begründet die
freiheitliche Gesellschaft, das nicht preisgegeben werden kann, ohne damit
zugleich die freiheitliche Gesellschaft selbst preiszugeben?
Die Antwort auf diese Frage haben die Mütter und Väter der deutschen
Verfassung mit dem ersten Satz des Grundgesetzes gegeben: Die Würde
des Menschen ist unantastbar. In diesem Satz – seinem Bekenntnis zum
Menschen als Bekenntnis zu seiner unantastbaren Würde – findet sich die
Wahrheit, durch die eine freiheitliche Verfassungsordnung, innerhalb derer
eine Gesellschaft sich selbst und frei bestimmt, zuallererst durch ihren
Schöpfer, den Souverän, in Kraft gesetzt ist. Diese Wahrheit wird anthro-
pologisch, ja anthropozentrisch bestimmt: Das alleinige Fundament des
Verfassungsstaates, seine Wahrheit, findet sich in der Freiheit seines
Schöpfers, des Menschen. Es sind also die Deutung und die Auslegung
dieses Satzes, genauer: die Art und Weise der Entfaltung des Verständnis-
ses menschlicher Würde, von denen Wohl und Wehe einer freiheitlichen
Gesellschaft im Sinne ihres dauerhaften Gelingens abhängen.
Dieser Satz bedarf der Erläuterung. Denn seinem Sinn nach versteht er
den Begriff der unantastbaren Würde als Telos einer freiheitlichen Ord-
nung – ein Telos freilich, dass die Gesellschaft, wenn sie sich als freie
verstehen will, sich selbst vorzugeben4 gehalten ist: ein Menschenbild, das

4
Als Programmidee am Beginn der Neuzeit findet sich dieser Gedanke, dessen Wur-
zeln weit in die Antike reichen und der in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten
zu einem Sinnverständnis fand, wie es uns heute noch zu eigen ist, bei Giovanni Pi-
co della Mirandola: Dem Menschen ist „es gegeben, das zu haben, was er wünscht,
und das zu sein, was er will.“ (Pico 1988, 11) Pico hat diesem Satz eine Deutung des
Menschen durch seinen Schöpfer vorausgeschickt, gleichsam als eine theologische
Legitimation seiner philosophischen Anthropologie: Er, der Mensch, ist weder als
Himmlischer noch als Irdischer, weder als Sterblicher noch als Unsterblicher ge-
schaffen, damit er selbst die Form bestimmt, in der er zu leben wünscht. Picos Be-
stimmung menschlicher Würde erklärt auch, warum niemand einem Menschen die
Würde, sich selbst zu bestimmen, nehmen, er sie schlimmstenfalls nur selbst verfeh-
len kann. Gedruckt wurde die Schrift erstmals 1496, rund zehn Jahre nach ihrer Ent-
stehung. Es hat fast ein halbes Jahrtausend gedauert, bis Picos Gedanke Eingang ge-
funden hat in unser amtliches Verständnis der Legitimität staatlicher Konstitution.
Die deliberative Gesellschaft 225

nicht aufgegeben werden kann, wenn die Gesellschaft entschlossen bleibt,


nicht den einzigen Grund ihrer Selbstgründung und Selbstbestimmung
preiszugeben. Gerade weil die freiheitliche Gesellschaft sich im Bekennt-
nis zu einem Menschenbild verankert, kann es nicht verwundern, dass in
ihr – die immer und vorrangig dissentierende Gesellschaft ist – weltweit
und allerorten über die Bedeutung des Begriffs der Würde gestritten, gar
erbittert gekämpft wird. Ausgetragen wird diese Auseinandersetzung im
Streit zwischen zwei Schulen: derjenigen, die dem Begriff der Würde in
seiner sachlichen Bedeutung eine Teilhabe am Absoluten zuerkennt, und
der anderen, die in diesem Begriff keinen Widerspruch zum Relativismus
zu sehen vermag. Je nach Verständnisweise kann der Begriff nämlich sehr
Unterschiedliches bezeichnen, selbst dann, wenn ihm als bestimmendes
Beiwort die Unantastbarkeit hinzugefügt wird. So beziehen sich Befürwor-
ter und Gegner geradezu gegensätzlicher politischer Programme auf ein
und denselben Begriff.
Die Befürworter eines relativen Begriffsverständnisses verweisen vor
allem auf seine Herkunft, die ihnen Anlass ist, den Begriff zu historisieren
– als Hinterlassenschaft eines vormaligen naturrechtlichen Denkens, das
sich seinerzeit selbst als unmittelbare Antwort auf die Rechtsbeugung im
Dritten Reich verstanden hat. Jede Verfassung hat ihren geschichtlichen
Ort, auf den diejenige verweisen, die für ein angeblich zeitgemäßes Ver-
ständnis dieses Begriffs werben – ein Verständnis, das Deutungsspielräu-
me eröffnet, was hier und heute unter Würde zu verstehen ist. Andere natu-
ralisieren den Begriff der Würde, wie das eine Minderheit der Hirnforscher
tut, die ihm die Anerkennung seiner Bedingungslosigkeit verweigern, in-
dem sie geltend machen, das Bewusstsein des freien Willens beruhe auf
einer unterstellten Täuschung des Ich durch sein Gehirn.
Versuche solcher Historisierung und Naturalisierung des Begriffs fin-
den sich heute in Hülle und Fülle. Ihnen widerstreitet ein Verständnis,
das unter Würde – anders als die von ihm abgeleiteten Rechte, die oft
genug gegeneinander abgewogen und miteinander vereinbart werden
müssen – die Teilhabe des Menschen am Unbedingten schon innerhalb
der Grenzen seiner Endlichkeit begreift. Kant hat diese Anlage des Men-
schen als dessen Grundbefindlichkeit beschrieben und in einem treffen-
den Bild zum Ausdruck gebracht:

„Wenn wir die Natur als den Continent unserer Erkenntnisse ansehen, und un-
sere Vernunft in der Bestimmung der Grenzen derselben besteht, so können
wir diese nicht anders erkennen, als sofern wir das, was die Grenzen macht,
den Ocean, der sie begrenzt, mit dazu nehmen, davon wir aber nur noch die
Ufer erkennen, nämlich Gott und die andere Welt, die notwendig als Grenzen
der Natur betrachtet werden, obzwar von ihnen unterschieden und für uns un-
bekannt.“ (Kant 1992, 822)
226 Christoph Böhr

Folgt man dieser Anthropologie, die der Natur des Menschen über die
Bestimmung der Möglichkeiten seiner Erkenntnis – und den Grenzen sei-
ner Vernunft – Kontur verleiht, dann bringt der Begriff der Würde eben
diese Fähigkeit, über die Enge aller sinnlichen Wahrnehmung hinausbli-
cken zu können, zur Geltung: Als Mensch hat der Mensch einen Blick für
das Unbedingte, das Absolute. Diesen Blick hält ein Begriff von Würde
offen, der die metaphysische Wahrheit als eine anthropologische Wahrheit
bestimmt – und zwar nicht, wie diesem Satz von seinen Gegnern gerne
unterstellt wird, im Sinne einer Ableitung der anthropologischen von der
metaphysischen Wahrheit, sondern ganz im Sinne einer Ablösung: An die
Stelle einer metaphysischen Wahrheit tritt die anthropologische Wahrheit.
Sie allein kann jene Anthropozentrik5 begründen, die wir voraussetzen
müssen, wenn die freiheitliche Gesellschaft nicht als einmalige Deduktion6
(von einer höheren Wahrheit), sondern als ständige Konstitution (ihrer
selbst) – als eine in allen Fragen sich selbst bestimmende Gesellschaft –
verstanden werden soll, mit Ausnahme eben jener einzigen, nämlich des
die Gesellschaft in ihren Rechten überhaupt erst begründenden Bekennt-
nisses zur unantastbaren menschlichen Würde. Im Kampf um den Begriff
der Würde geht es letztlich um die Frage nach dem Selbstverständnis frei-
heitlicher Gesellschaften schlechthin.
Weil sich in der Forderung, Würde bedingungslos zu schützen, die al-
leinige Ausnahme vom ansonsten in jeder Hinsicht dissentierenden Selbst-
verständnis einer freiheitlichen Gesellschaft findet, kann der Begriff nicht
historisch oder naturalistisch relativiert werden, ohne zugleich den perspek-
tivischen Punkt einer sich aus sich selbst begründenden gesellschaftlichen
Freiheit zu verlieren. Der Begriff der Würde ist der vor jeder Relativierung
geschützte Bezugspunkt, der erst ermöglicht, dass in der freiheitlichen Ge-
sellschaft ansonsten und fernerhin alles relativiert, also nach Gesichtspunk-
ten der Willkür beliebig gedeutet und gestaltet werden darf, und zwar nach
Maßstäben, die ebenfalls in der Verfügungsmacht der Gesellschaft liegen –
mit jener einen genannten Ausnahme: Und diese Ausnahme ist der Mensch,
genauer: seine Würde. Dieser Begriff, wie wir ihn heute verstehen, ist nicht
das Ergebnis einer philosophischen Deduktion, sondern erfüllt die Aufgabe

5
Vgl. Schweidler 2008, 384 ff., hier: 387: „Der Mensch wird im Konstitutionsgefüge
des modernen Staates nicht deshalb vor jeder Definition geschützt, weil er keine
hat, sondern weil er sie nur selbst geben kann und weil der Staat auf diese von dem
Menschen selbst in seiner Freiheit gegebene, man kann auch sagen: gelebte Defini-
tion vertraut und vertrauen muss.“
6
An diesem Missverständnis der Bedeutung des Würdebegriffs für die Begründung
von Gesellschaftlichkeit halten viele seiner Gegner fest; vgl. beispielhaft Wetz
2005, 206.
Die deliberative Gesellschaft 227

der politischen Konstitution. Seinem Sinn nach zielt er auf die „Manifesta-
tion des Verbots jedweder Relativierung des Menschen gegenüber anderen
Zwecken als demjenigen, der in seiner eigenen bewandtnislosen Unableit-
barkeit existiert.“ (Schweidler 2008, 385)7
Es ist eben jene bewandtnislose Unableitbarkeit, die begründet, warum
diese Präsumtion – um eine solche handelt es sich zweifellos auch hier –
von allen anderen Präsumtionen nicht graduell, sondern substantiell unter-
schieden ist. Die bewandtnislose Unableitbarkeit des Begriffs der Würde
ist eine Präsumtion im Dienst der Freiheit. Im Recht bekennt sich der Staat
zu dieser Präsumtion um der Freiheit des Menschen willen, anders und
nüchterner gesagt: Er verpflichtet sich auf die Bedingung, dass der Mensch
selbst über seine Möglichkeiten entscheidet. Alles ist erlaubt in der frei-
heitlichen Gesellschaft, könnte man sagen, außer dass der Mensch sich
selbst als Mensch in Frage stellt.
Tut er es gleichwohl, stellt er damit unverzüglich und im gleichen
Atemzug den Grund (und damit sein Recht zu) eigener gesellschaftlicher
Freiheit in Frage. Wenn nämlich deren Grund widerspruchsfrei gedacht
werden soll, so gelingt das nicht ohne jene Anthropozentrik, die als Grund
gesellschaftlicher Freiheit zugleich die Begründung ihrer Verfassungsord-
nung ist. Ist nicht mehr die Selbstbezeugung des Menschen jene Wahrheit,
die sein Recht begründet, dann sind es andere, jedoch außerhalb seiner
Selbstbezeugung liegende Wahrheiten – wie beispielsweise die Zugehö-
rigkeit zu einer Rasse oder einer Klasse –, die mehr gelten und höher be-
wertet werden als das Recht, anderer Meinung, nämlich eigensinnig sein
zu dürfen.
Der Grund allen Rechts, die Würde des Menschen, gilt, wenn nicht an-
dere, außerhalb seiner Selbstbezeugung liegende Wahrheiten sich der Poli-
tik bemächtigen sollen, uneingeschränkt und unbedingt: eben bedingungs-
los, zu jeder Zeit und unter allen Umständen. Nur der bedingungslose Grund
rechtfertigt und ermöglicht den uneingeschränkten Schutz: universell und
universal, anders und in den Worten von Udo Di Fabio ausgedrückt: „disku-

7
Darum kommt dem Begriff der Würde im Gefüge des Selbstverständnisses zeitge-
nössischer Rechtsstaatlichkeit „eine eigentümliche, im ganz strikten, präzisen Sinne
transzendentale Bedeutung zu. Das heißt: Im Verhältnis zu einer politischen Ord-
nung […] markiert der Würdebegriff eben dieses Grundprinzip innerhalb des
Diskurses, der die Konstitution dieser sich so legitimierenden Ordnung rechtlich
formuliert. Entsprechend […] zieht der Würdebegriff dem rechtlichen Diskurs die
Grenzen, auf Grund derer das Recht den Grund seiner Geltung in den entscheidenden
Verboten findet, die es auch noch der rechtlichen, also seiner eigenen Zugriffsmacht
auf seinen Träger, den Menschen, zieht und ziehen muss, um sich selbst zu verstehen.
Die Menschenwürde […] hat die Funktion, das Verbot jeder […] Definition, die das
Menschsein dem Urteil von Menschen aussetzen würde, zu begründen.“ (ebd., 387)
228 Christoph Böhr

tierbar, aber eben nicht disponierbar“ (Di Fabio 2008, 65 f.). Denn jeder
Grund, der an Geltungsbedingungen geknüpft ist, unterliegt nur einer einge-
schränkten Gültigkeit und unterwirft folgerichtig den Anspruch des Schut-
zes eben diesen Bedingungen seiner Geltung. Das aber bedeutet: So verfüg-
bar wie die Bedingungen sind, so gestaltbar wird der Schutz (vgl. Böhr
2008). Mit anderen Worten: Würde besteht dann nur unter der Maßgabe
ihrer Anerkennung – und wird damit zu einer attribuierten Eigenschaft,
vergleichbar der Schönheit eines Menschen. Wer sich von Schönheit nicht
beeindrucken lässt, für sie nicht empfänglich ist oder einen ungewöhnlichen
Geschmack hat, kann nie gezwungen werden, sie anzuerkennen.
Wer aber bestimmt, was einem verbindlichen Verständnis von Würde
entspricht, heute – im Wissen darum, dass auch unser zeitgenössisches
Rechtsempfinden so wandelbar ist, wie es das früher und immer war? Auf
der Suche nach einer Antwort auf diese Frage zeigt sich der Grund für die
Zerbrechlichkeit freiheitlicher Gesellschaften und deren ständiger Bedarf
an einem selbstvergewissernden Gespräch: Von Mal zu Mal und von Tag
zu Tag muss die Gesellschaft, weil sie die Voraussetzungen und Bedin-
gungen ihrer Freiheitlichkeit nur selbst schaffen und gewährleisten kann,
ihr Selbstverständnis prüfen, entwickeln und erneuern, um es dann festigen
zu können. Das ist eine anstrengende und zeitraubende Aufgabe. Aber es
ist die Bedingung der Überlebenskraft der Freiheit, dass sich ihrer täglich
nicht nur im Bewusstsein der Bürgerinnen und Bürger erinnert wird, son-
dern, wichtiger noch, lebhaft – und streitig – Regeln entwickelt und ange-
passt werden, deren Sinn es ist, die Bedingungen gelingenden Freiheits-
vollzugs zu gewährleisten. Der Preis der Freiheit ist zu zahlen in der
Münze anstrengender Auseinandersetzung: als zeitraubender und kräfte-
zehrender Streit über die Bedingungen, die Freiheit ermöglichen. Eine
Gesellschaft, die dieses Streites müde wird, steht im Begriff, ihre Freiheit
zu verspielen.

III. Die deliberative Gesellschaft

Unser Land hat sich erst vor kurzem auf den Weg gemacht, diese Kultur
der Freiheit für sich zu entdecken. Der Westen Deutschlands befand sich
bis vor sechzig Jahren, der Osten des Landes bis vor zwanzig Jahren in
einem ganz anderen politischen Paradigma: Die Gesellschaft entfaltete sich
im Rahmen eines Autoritätsschemas, das nicht zuließ, letzte Fragen der
Orientierung und der Identität streitig zu stellen. Seit zwei Jahrzehnten nun
haben sich diese Voraussetzungen grundlegend geändert: Nach einer Ent-
autorisierungsphase, die in der westlichen Welt in den 60er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts einsetzte, die übrige Welt spätestens seit 1989
Die deliberative Gesellschaft 229

erfasst hat und deren Ausmaß uns erst allmählich bewusst wird, ist an die
Stelle des vormaligen Autoritäts- ein Deliberationsschema getreten: Die
Gesellschaft ist seitdem auf sich gestellt: Weder Siegermächte noch Bünd-
niszugehörigkeit, weder säkulare Gewalten noch religiöse Mächte legen
Disponibilitäten und Indisponibilitäten fest.
Gerade aber aus diesem Grund muss sie sich jederzeit bewusst blei-
ben, auf welchem axiologischen Fundament – hier verstanden als die Le-
gitimität aller Legalität – sie steht: als ihrem Daseins-, Ermächtigungs-
und Gelingensgrund. Die Axiologie einer freiheitlichen Gesellschaft ist
schwach (in ihrem Umfang) und stark (in ihrer Wirkung) zugleich: Sie
erschöpft sich im Willen zur Gesellschaftlichkeit – unter der Bedingung
der Freiheit. Das klingt zunächst minimalistisch, ist aber tatsächlich eine
gravierende Angelegenheit, weil ohne den Begriff der Würde dieser Wille
zur Gesellschaftlichkeit unter den Bedingungen der Freiheit nicht dauer-
haft aufrecht erhalten werden kann. Ohne den Begriff der Würde gibt es
keine Architektur der Freiheit, weil Freiheit nur vom Begriff der Würde
her zu denken ist. Dieser Satz beschreibt nicht, wie es zunächst scheinen
mag, eine Tautologie, sondern erinnert daran, dass die Entscheidung zur
gemeinschaftlichen Selbstbestimmung ihre Begründung nur finden kann in
einem Bild vom Menschen, das diesen „in seiner Dignitas absolut und als
Subjekt axiomatisch“ (ebd., 17) denkt: nicht als Wertentscheidung, die
dieses Menschenbild selbstverständlich auch enthält, sondern zunächst und
vor allem als vernünftige, in sich widerspruchsfrei gedachte Geltungs- und
Gültigkeitsbedingung eines Gesellschaftsbildes, von dem gesagt werden
kann, dass es freiheitlich ist: also dem Eigensinn des Menschen seinen
Raum zur Entfaltung und Jedermann Schutz vor unzulässiger Beeinträch-
tigung zusichert.
Diese Begründung der freiheitlichen Gesellschaft in der Bezugnahme
auf ein Menschenbild, das die Würde absolut und das Subjekt axiomatisch
denkt, beinhaltet keinesfalls, wie oft vermutet, eine Entscheidung zuguns-
ten einer Gesellschaft, die den Individualismus vergöttert und die Solidari-
tät missachtet. Denn die absolut gedachte Würde ist immer auch die unmit-
telbare Folge der Erfahrung des Pluralismus und der Überwindung des
Solipsismus zugunsten von Reziprozität: Weil Menschen sich ihrer Ver-
nunft unterschiedlich bedienen und gleichermaßen unterschiedlichen Über-
zeugungen folgen – die Anerkennung des logischen wie des moralischen
Pluralismus demnach als unhintergehbares phänomenales Faktum voraus-
gesetzt wird8 –, bedarf es grundlegender Regeln zur Gestaltung der Bezie-
hungen zwischen Menschen auf der Grundlage wechselseitiger Achtung und

8
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2009b, 119 ff.
230 Christoph Böhr

Wertschätzung.9 Dabei ist jedoch immer im Blick zu behalten, dass nur ein
maximal, das heißt hier: absolut gedachter Begriff der Würde mit dem Ge-
danken einer immer auf Universalität zielenden Reziprozität vereinbar ist,
ja, die Regel der Reziprozität gerade die Universalität des unbedingten An-
spruchs fordert (vgl. Bruni 2008). Wenn Würde durch Dritte attribuiert wird,
beziehungsweise durch eine freiwillige oder erzwungene Selbst- oder
Fremdbegrenzung von Reziprozität der Begriff der Würde für die Entschei-
dung über Inklusion und Exklusion von Menschen in Dienst genommen
wird, kann sie nicht ungeteilt und ausnahmslos, sondern nur nach der jeweili-
gen Stufe ihrer – durch den Machtspruch Dritter festgelegten – Attribuierung
gelten. Damit aber verliert der Begriff seinen Sinn als gleichermaßen be-
gründendes wie gefolgertes Prinzip universaler Reziprozität – und als Ma-
xime sozialer Interaktion. Das Bekenntnis zur Gleichheit in der Würde als
dem gemeinsamen anthropozentrischen Nenner aller Beziehungsregeln ist
also mitnichten nur der Individualität, sondern ebenso der Solidarität ge-
schuldet – und, wie sich zeigt, mehr als nur ein Bekenntnis; in ihm findet
sich die denknotwendige Voraussetzung einer Freiheit, die Voraussetzung
aller, jedoch ausnahmslos auf Freiwilligkeit abstellender Beziehungen ist.10
Dieses Verständnis von Freiheit ist fundamental, nämlich letztbegrün-
dend für die Grundlagen eines Gesellschaftsbildes, das nicht die (durchaus
gut gemeinte) Bevormundung, sondern die (oft lästige) Selbstbestimmung
zum Kern ihres Selbstverständnisses wählt – in Folge der Entscheidung für
ein Bild vom Menschen, das diesen als den schlechthin Unverfügbaren an-
erkennt. Es hat lange, sehr lange gedauert, bis sich im europäischen Denken
diese Überzeugung durchsetzen konnte, und nach vielen leidvollen Erfah-
rungen das Recht der Person schließlich das Recht der Wahrheit ablöste.
Der Mensch ist der schlechthin Unverfügbare. Was wird von uns erwar-
tet, wenn wir diesen Satz bekennen? Gerade haben wir begonnen, darüber
nachzudenken – und darüber zu streiten. Das kann gar nicht anders sein.
Und vermutlich wird sich die freiheitliche Gesellschaft in ihrer Antwort auf
diese Frage nie einig sein. Wichtig ist nur, dass uns bewusst bleibt: Die
Frage, was von uns erwartet wird, wenn wir uns zur Wahrheit der Person
bekennen, ist keine als Zumutung von außen an uns herangetragene Frage.
Es geht vielmehr um die Erwartung, die wir an uns selbst richten müssen,

9
Diese Bedingung der Regel wird hier nicht als normative Präsumtion, sondern als
Voraussetzung der Rechtfertigung eines allgemeinen Gültigkeitsanspruches einge-
führt; vgl. dazu Böhr 2011.
10
Deshalb kann die freiheitliche Gesellschaft Zwangsverheiratungen nicht dulden,
auch wenn der Hinweis ihrer Befürworter, Eltern wüssten lebensalterbedingt oft
besser, was für ihre minderjährigen Kinder gut sei, im Einzelfall vielleicht nicht
wenig einleuchtend erscheint.
Die deliberative Gesellschaft 231

wenn der Mensch – die Wahrheit der Person – zum letzten Maßstab seiner
Ordnung wird: Es ist die Frage der freiheitlichen Gesellschaft nach dem
eigenen Selbstverständnis als Inbegriff der für alle verbindlichen Regeln
des Zusammenlebens. Niemand wird der Gesellschaft die Beantwortung
dieser Frage abnehmen können. Nur auf dem Wege ihrer Beratschlagung
lernt die Gesellschaft, sich selbst zu verstehen, und, je mehr sie berat-
schlagt, umso fester und beständiger gründet sich jenes Bild, das sie von
sich selbst entwirft.

IV. Politik und Deliberation

Nachdem bisher davon die Rede war, welche vorangehende Bedeutung die
Philosophie für die Politik – als deren konstitutive Inkraftsetzung – hat,
soll jetzt danach gefragt werden, welche Rolle die Politik in einer Gesell-
schaft der Deliberation spielt.
Wie es scheint, hat sich die deutsche Politik längst im neuen Paradig-
ma der deliberativen Gesellschaft eingerichtet – und lässt es sich dort wohl
gehen. Entlastet von dem Anspruch, Führung zu zeigen, und befreit von
der Last, sich selbst über Lösungen den Kopf zu zerbrechen, verweist die
Politik auf ihre Bedeutung als Spiegelbild der Gesellschaft; was in der
Gesellschaft ein gewisses Maß an Aufmerksamkeit erreicht, findet flugs
Eingang in die politische Debatte – weniger um der Sache willen, als mit
dem Ziel, Menschen, die ein bestimmtes Anliegen in die Öffentlichkeit
tragen, mehrheitsbeschaffend an sich zu binden. Diese Rolle der Politik als
Reflektor der Gesellschaft – samt ihres organisationspolitischen Einfalls-
reichtums, wenn es um den Erwerb und den Erhalt der Macht geht – ist
weder neu noch unheimlich.
So ergibt sich, alles in allem, dem Schein nach im Medium unterhalt-
samer Plauderei, dem Fernsehen, eine Beratschlagung, bei der nichts und
niemand, keine Gruppe, kein Anliegen, keine Botschaft und keine Frage
unberücksichtigt bleiben. Das einzige, was am Ende fehlt, ist ein Ergebnis
– das es aber auch schon deswegen nicht geben darf, weil dem Medium,
das die Plattform für die Plauderei bietet, dem Fernsehen, ansonsten sofort
eine ungebührliche Schlagseite vorgeworfen wird. Für das Medium ist
allein wichtig, alles bis zum Schluss unentschieden und unverbindlich zu
belassen. Nur dann, so vermutet man, bleiben Zuschauer und Zuhörer bei
der Stange, wenn nicht zu erkennen ist, wer die besseren Gründe hat. Im
visuellen Medium werden nicht Gründe (für Ziele) erwogen, sondern Stile
(der Selbstdarstellung) gepflegt.
Diese ritualisierte Medialität ist nun das ziemliche Gegenteil einer Deli-
beration. Zwar fördert sie, wie in der deliberativen Gesellschaft unverzicht-
232 Christoph Böhr

bar, die Positionierung und die Profilierungen von Botschaften und Men-
schen. Aber dabei bleibt es dann auch. Das, was die Logik des Argumentie-
rens seit je ausmacht, findet nicht statt: das vorrangige Aufspüren von Un-
terschieden, um folgerichtig die Gemeinsamkeiten beschreiben zu können.
Die Antithesen mit ihrem (meist sehr bescheidenen) Unterhaltungswert
bleiben unvermittelt neben- und gegeneinander stehen – und das Publikum
bleibt bei der Stange, weil jeder bis zum Ende des Gesprächs seinem gemie-
teten Rollenträger zur Seite steht. Diese Form verfehlter Beratschlagung lebt
von den fiktiven Identitäten ihrer Akteure: Von der erhofften Wirkung einer
Meinung wird die Identität desjenigen, der sie vertritt, abgeleitet. Nicht die
geprüfte Überzeugung in Kenntnis eines Sachverhalts führt zur Urteilsbil-
dung, sondern der auf dem Politiker lastende übermenschliche Druck, wahr-
genommen werden zu müssen, ist Anlass dafür, in eine Rolle zu schlüpfen,
von der man sich eben diese überlebensnotwendige Wirkung erhofft.
Dabei bestimmt sich das, was jemand sagt, oft nicht nach dem, was in
der Sache zu sagen wäre, sondern erschöpft sich im Widerspruch zum
Anderen, dem man konfrontativ gegenüber sitzt. Demnach sind es die ver-
schiedenen Rollen, die sich in wechselseitiger Abgrenzung gegeneinander
bestimmen – und genau an diesem Punkt zeigen sich Anknüpfungspunkte
einer Weiterentwicklung zur deliberativen Gesellschaft.
Wenn unter diesem Begriff eine Gesellschaft verstanden werden soll,
in der alles und jedes der Beratschlagung offensteht, dann bedeutet das ja
in der Tat, dass alles und jedes aufgespalten werden muss in eine Vielzahl
mehr oder weniger wechselseitig im Widerspruch zueinander stehender
Meinungen. Insoweit zeigt die deutsche Gesellschaft allererste, wenn auch
noch sehr zarte Umrisse einer deliberativen Gesellschaft, die den Amerika-
nern lange schon zur Gewohnheit geworden ist. Eine solche Gesellschaft
kennt keine Tabuisierungen, auch wenn sie von einem Tabu ins andere
fällt. Das klingt zunächst paradox, zeigt sich aber bei näherem Hinsehen
als Regelfall: Die täglich neu entstehenden Tabus sind die Probe aufs Ex-
empel – sie sind Zwischenstationen auf dem Weg zur dauerhaften Geltung
verbindlicher neuer Regeln. Weil keine Gesellschaft an jedem Tag alles
und jedes neu bestimmen kann, andererseits aber die Übernahme alter und
hergebrachter Verhaltenslenkungen nicht ungefragt übernehmen will,
schafft sie tagtäglich neue Verhaltenssteuerungen, von denen die wenigs-
ten lange überleben oder gar prägende Kraft entwickeln, bis sich dann am
Ende eine Meinung herausschält, von der man erwarten kann, dass sie über
den Tag hinaus Bestand hat.
Manches in dieser Entwicklung erscheint von Fall zu Fall lächerlich,
manchmal auch ärgerlich, wenn beispielsweise vorübergehende Moden
schon bald zur Bildung neuer Tabus führen, die wir als political correct-
ness verhaltenssteuernd und verbindlich autorisieren. Dieser komplexe
Die deliberative Gesellschaft 233

Prozess allerdings verweist, so willkürlich er manchmal dem Betrachter


erscheint, auf einen wichtigen Befund: Eine freiheitliche – deliberative –
Gesellschaft ist über weite Strecken damit beschäftigt, sich selbst verstehen
und sich selbst bestimmen zu lernen. Das kostet Zeit und Kraft – und es
geht nicht ohne Schlagseiten, Übertreibungen und Einseitigkeiten, die dann
ihrerseits wieder zum Gegenstand kontroverser Deliberation werden. Stän-
dig müssen Regeln überprüft, angepasst und erneuert werden.
Der Bedarf nach Regeln wächst mit steigender Unübersichtlichkeit –
und sich überstürzender Steuerungsbedürfnisse: gestern die Ökologie, dann
der Feminismus, heute das Klima und die Pädophilie, morgen die Ökono-
mie. Ein Krisenszenario löst das andere ab. Und so entstehen inmitten
dieser turbulenten Debatten über die Anpassung von Verhaltensregeln
immer wieder und oft unbemerkt hinter den Kulissen der Deliberation neue
Lebensräume, die gar keine Regeln kennen – wie zuletzt die Casinoöko-
nomie, die als künstliche Welt erschaffen wurde, bis zum Schluss für die
meisten Beobachter undurchschaubar blieb und bewusst auf Regeln – mit
Ausnahme einiger weniger rudimentärer Basisfunktionen – verzichtete.
Zu den bis heute ungelösten Kernaufgaben der sich selbst bestimmen-
den Gesellschaft gehört demnach, ein Selbstverständnis zu entwickeln, das
dem – wegen der Fülle der Optionen – steigenden Bedarf an Regeln Rech-
nung trägt. Und an eben dieser Stelle kommt wieder die Philosophie ins
Spiel – umso mehr übrigens, als der zumindest in Amerika seit einigen
Jahrzehnten zu beobachtende Versuch, den Regelbedarf über die mediale
Reflexion zu decken, zwar keinesfalls gescheitert, aber doch zu nur unbe-
friedigenden, ergänzungsbedürftigen Ergebnissen geführt hat.

IV.1 Prinzipien der Deliberation


Am Anfang der abendländischen Denkgeschichte steht eine Einsicht, die
wir als das sokratische Nichtwissen11 bezeichnen. Sokrates war vermutlich
der erste Philosoph, der sich und seinen Zuhörern klar gemacht hat, dass
unser ganzes Wissen am Ende unser Leben nicht trägt. Wir wissen immer
mehr, und wissen doch immer weniger Bescheid. Je größer unser Wissen
wird, umso mehr Fragen kommen uns in den Sinn. Und das, was wir zu
wissen glauben, beruht allermeist auf erst noch zu prüfenden Annahmen
und Vermutungen. Schlimmer noch: Je mehr wir wissen, umso mehr wird
uns bewusst, was wir alles nicht wissen – und dass alles, was wir wissen,

11
Das Leben als ganzes bleibt unberechenbar; um die Tragfähigkeit seiner jeweiligen
Lebensplanungen und Lebensziele weiß der Mensch erst am Ende des Tages Bescheid
– und oft genug machen ihm nicht vorausgesehene Nebenfolgen seines Handelns ei-
nen Strich durch die Erfolgsrechnung; vgl. Hinske 2003, 319 ff., hier bes. 328 f.
234 Christoph Böhr

im Vergleich zu dem, was wir nicht wissen, so ziemlich dem Verhältnis


zwischen der Größe eines Stecknadelkopfes und den Weiten des Alls ent-
spricht. Als Sokrates den Anspruch des Wissens entmachtete, fand die
europäische Philosophie zu ihrem Thema: der Frage nämlich, wie der
Mensch handeln soll, wenn er so gut wie nichts wirklich wissen kann.12
Die auf diese Frage gegebene Antwort ist eine doppelte.
Wenn der Mensch kein belastbares, verlässliches Wissen über die Fol-
gen des eigenen Handelns besitzt, kann er sein Handeln nicht über die zwar
beabsichtige, ihm aber nicht hinreichend vorhersehbare Wirkung bestim-
men – sondern nur über seine Form, die Sokrates Tugend nennt. Sicher
sein kann ich mir im Augenblick des Handelns nur dessen, was mich zu
meinem Handeln im eigenen Inneren bewegt. Alles andere verschwimmt,
weil dem, der handelt, das Wissen, das er benötigt, um treffsicher seine
Absichten zu erreichen, fehlt. Alles Handeln ist ein Handeln in Ungewiss-
heit – und damit, in unserer heutigen Sprache ausgedrückt, Risikokommu-
nikation. Da wir uns Tag für Tag und Stunde für Stunde auf diese Risiko-
kommunikation einlassen müssen, gibt uns die erhoffte Sicherheit im
Handeln nur dessen Form. In ihr vergewissert der Handelnde sich seiner
Subjektivität.
In einer weiteren, zweiten Hinsicht können wir die Ungewissheit um
eine Kleinigkeit mindern: Indem wir nach Regeln handeln, die aus dem
Prinzip der Reziprozität heraus entwickelt sind. Im Blick auf die hand-
lungsleitende Regel vergewissert sich der Handelnde der Intersubjektivität
seines Tuns. Reziprokes Handeln hält dazu an, Andere so zu behandeln,
wie ich selbst von Anderen behandelt werden möchte. Damit kann ich mir
zwar nicht sicher sein, dass der Andere tatsächlich so handelt, wie er von
mir behandelt werden möchte. Aber alles spricht dafür, dass am ehesten
diese Regel freiwillige Zustimmung findet, weil sie sich zum wechselseiti-
gen Nutzen aller Beteiligten auswirkt. Folglich ist das Prinzip der Rezipro-
zität der Grundsatz, der allen handlungsleitenden Regeln, sofern diese
Verbindlichkeit beanspruchen wollen, zugrunde liegen muss.
Die Weise des Handelns, die angesichts der Unsicherheit über seine
Nebenfolgen am ehesten auf Gewissheit bauen kann, ist demnach ein Han-
deln, das der Form innerer Schlüssigkeit in den Beweggründen und – damit
verbunden – einer Regel der Berücksichtigung von Wechselseitigkeit folgt.
Diese Regel vernünftiger Verallgemeinerungsfähigkeit als Voraussetzung
der Unbedenklichkeit menschlichen Handelns im Einzelfall hat den Rang
eines kategorischen Imperativs, während alle Handlungsleitungen, die es

12
Genau an diesem Punkt, der Unterscheidung von Wissen und Glauben, setzt die
Verhältnisbestimmung von Religion und Politik an.
Die deliberative Gesellschaft 235

auf eine bestimmte beabsichtigte Wirkung abgesehen haben, nur den Rang
eines hypothetischen Imperativs besitzen; sie bleiben Hypothese, weil wir
uns weder ausreichend sicher sein können, dass unser angepeiltes Ziel
richtig ist, noch hinlänglich wissen können, ob wir mit unserem Handeln
tatsächlich die ihm zugrunde liegende Absicht erreichen.
Die Form des Handelns und seine formgebende Regel lüften zwar
nicht den Schleier des Unwissens, der die Folgen allen Handelns vor unse-
ren Augen verbirgt. Aber sie machen den Menschen fähig zum Handeln,
weil sie ihm zu seiner Hilfe ein Kriterium an die Hand geben, nach wel-
chen vernünftigen Gesichtspunkten eine Entscheidung zu treffen ist. Da
ihn sein Wissen im Stich lässt, wenn er es am dringlichsten benötigt –
nämlich im Augenblick einer Entscheidung –, bleibt ihm gar keine andere
Wahl, als mangels Wissen auf seine Überzeugung zu bauen: als formge-
bende Regel für ein Handeln in Ungewissheit. Damit werden auf den ers-
ten Blick Handlungsoptionen eingeschränkt. Aber auf den zweiten Blick
bewirkt die formgebende Regel das Gegenteil: Der Mensch bewahrt auf
diese Weise seine Handlungsmöglichkeiten, die er verlöre, wenn der Stär-
kere den Schwächeren willkürlich beherrschte.
Was folgt aus alledem für die Gesellschaft? Die Aufgabe, über die Re-
gel als der Form des Handelns zu reflektieren, ist in der deliberativen Ge-
sellschaft – anders als früher – eine tagtäglich neu gestellte Aufgabe gewor-
den. In einer Welt, die verbindliche Tugendkataloge nicht mehr kennt – was
keinesfalls bedeutet, dass Tugenden nicht mehr anerkannt werden –, muss
die Begleitmusik der Tugenden, die nichts anderes zu Gehör bringt als Vor-
schläge zur Beschreibung der Formgebung des Handelns, von Fall zu Fall
neu intoniert werden. Und entsprechend gilt das auch für die Regel, unter
die das Handeln gestellt ist. Ihre Anwendung muss von Fall zu Fall bedacht
werden, weil die Vielfalt der Handlungsoptionen gar keine andere Regel als
eine auf Verallgemeinerungsfähigkeit zielende sinnvoll erscheinen lässt.
Das aber ist nicht allein in den schwierigeren Fällen eine Aufgabe, die
nur gemeinschaftlich zu lösen ist. Und eben diese Aufgabe steht im Mittel-
punkt der deliberativen Gesellschaft. Ein gutes Beispiel dafür bietet die
Politische Ökonomie, die besonders in Deutschland – und nicht nur dort –
seit Jahrzehnten am Boden liegt. Es werden keine Regeln mehr entwickelt,
die dem wirtschaftlichen Handeln die Richtung weisen – auch deshalb,
weil die Politik keine Ziele mehr bedenkt. Worin bestand in den zurücklie-
genden Monaten das Ziel der Politik zur Zeit der Bewältigung der Krise
der Ökonomie? Die Politik war – und ist – weit davon entfernt, eine neue
Ordnung der Wirtschaft stiften zu wollen, sondern begnügt sich damit,
Wunden zu verbinden, damit der Kranke bald schon wieder in den Zustand
zurückversetzt wird, in dem er sich vor Ausbruch der Krise befand. Eine
deliberative Gesellschaft kann sich damit nicht zufrieden geben. Und so
236 Christoph Böhr

beteiligen sich an dem Gespräch über eine dringend erforderliche neue


Politische Ökonomie in Amerika weit mehr Menschen als vergleichsweise
in Europa. Denn eine Gesellschaft und ihre Wirtschaft bedürfen, wenn sie
aus dem Tritt geraten sind, nichts dringlicher als einer neuen Ordnung –
also neuer Regeln, weil ja gerade deren vormalige Unzulänglichkeit dazu
geführt hat, dass sie außer Tritt geraten sind.

IV.2 Die Struktur des deliberativen Arguments


Wie aber kann man sich eine solche gesellschaftliche Beratschlagung über
ein neues Regelwerk vorstellen? Niemand wird diese Frage heute schon
mit ausreichender Klarheit beantworten können. Augenblicklich ist zu
beobachten, wie in den europäischen Gesellschaften neue Regeln erprobt
werden, nach denen eine öffentliche Beratschlagung stattfinden kann – auf
der Suche nach Regeln zur Bildung von Regeln. Dabei spielen die Medien
eine herausragende Rolle.
Veränderungen zeigen sich hier etwa im Blick auf die Berichterstat-
tung über die Politik. Zwar hält dort die Entwicklung zur Personalisierung
und zur Trivialisierung13 immer noch an, aber die Angebote einer sachge-
rechten Unterrichtung auch über schwierige Sachverhalte haben in den
letzten Jahren – vor allem dank der Möglichkeiten, die das Internet bietet –
spürbar zugenommen. In den Nachrichtensendungen des öffentlich-recht-
lichen deutschen Fernsehens wird kaum noch eine wichtige Meldung ver-
lesen, ohne auf weiterführende Erklärungen im Netz zu verweisen.
Gleichwohl bleibt das Problem: die Neigung zur Selbstbezüglichkeit,
wie sie gleichermaßen bei Politik und Medien festzustellen ist: Autorefe-
rentialität14 als das wohl größte Hindernis, das einer Deliberation im öf-
fentlichen Raum der Medien entgegensteht. Denn die Beschäftigung mit
sich selbst, die im Regelkreis der jeweiligen Teilzuständigkeit gefangen
bleibt, stellt in der modernen Gesellschaft ohnehin eine große Verführung
dar und ist so ziemlich das Gegenteil von dem, was man sich unter einer
Beratschlagung über die Regeln und Ziele des verbindlichen gemeinschaft-
lichen Zusammenlebens vorstellen kann.

13
In diesem Zusammenhang spielt die „symbolische Politik“, wie Thomas Meyer sie
beschreibt, als „eine strategische Form politischer Kommunikation, die nicht auf
Verständigung zielt, sondern durch Sinnestäuschung Gefolgschaft produzieren
will“, eine wichtige Rolle (Meiyer 1994, 139).
14
Vgl. Kepplinger 1998, 222. Seitdem die Politik die wechselseitige Skandalierung
als eigene Strategie verfolgt, suchen sich die Medien vor ihrer Instrumentalisierung
zu schützen. Allmählich wächst die Einsicht, dass „die Anprangerung kein Er-
kenntnisverfahren, sondern ein Machtmittel“ ist (ders. 2001, 143) und ihre Analyse
folglich unter Macht-, nicht unter Erkenntnisgesichtspunkten zu erfolgen hat.
Die deliberative Gesellschaft 237

Die in einer arbeitsteiligen Gesellschaft unvermeidbare Aufsplitterung


des Wissens in mehr oder weniger selbständige Teilbereiche, ihre Spezia-
lisierung und Fragmentierung, begünstigen in hohem Maße die Gründung
von Subsystemen nach dem Prinzip systemischer Autoreferentialität, die
dann entsteht, wenn sich das Innenleben eines Subsystems von seiner
Außenwelt abschottet und seine Teleologie nicht mehr auf eine außer sei-
ner selbst liegende Referenzbasis bezieht. Eine selbstbezügliche Ordnung
bestimmt ihr Telos autopoietisch. Der Regisseur, dessen Inszenierung
niemand außer ihm selbst versteht, baut keine Beziehung mehr auf zu den
Zuschauern des von ihm auf die Bühne gebrachten Stücks. Die Entfrem-
dung eines ursprünglich bekannten Inhalts führt am Ende zu einer Um-
formung, die einen neuen Inhalt in neuen Zeichen zur Aufführung bringt,
über die ihr Erfinder eine alleinige Deutungsmacht besitzt. Ähnlich verhält
es sich hinsichtlich mancher wissenschaftlicher Forschungen, die ihre
Fragestellung selbstbezüglich festlegen und deren sprachliche Darstellung
sich selbst dem fachkundigen Leser verschließt. Dabei ist es wichtig, im
Blick zu behalten, dass Autoreferentialität sich im Widerspruch und als
Alternative zum Grundsatz der Reziprozität begründet. Sie zielt nicht auf
die Wechselseitigkeit, sondern, im Gegenteil, auf die Einseitigkeit bei der
Durchsetzung von Handlungszielen. Ihr Mittel ist immer die Macht, näm-
lich die Macht zur Inszenierung: in der Rolle des Künstlers, des Unter-
nehmers, des Wissenschaftlers – und des Politikers.
Gerade der letztgenannte Fall ist deshalb von Bedeutung, weil er über
eine besondere Tarnung verfügt und deshalb oft schwer zu erkennen ist.
Denn die Politik ist in der Demokratie in einer besonderen Weise davor
geschützt, ihre Neigung zur Autopoiesis offen zu erkennen geben zu müs-
sen: Weil regelmäßige Wahlen ihre Abschottung gegenüber der Außenwelt
verhindern sollen und sie auf diese Weise den Nachweis meint führen zu
können, ihre Ziele in ständiger Abstimmung mit der Außenwelt zu
bestimmen. Die Gründung des politischen Subsystems als selbstbezügliche
Ordnung vollzieht sich deshalb hintergründiger: Sie beginnt mit dem Ver-
zicht auf inhaltliche Angebote in Zeiten des Wahlkampfes, geht über die
Bestimmung des Wählerauftrages als einer allgemeinen Handlungsermäch-
tigung zur Mehrheitsbildung, schließt die Bevorzugung des Streites über
Köpfe statt über Meinungen und Vorschläge ein, und endet bei dem schon
erwähnten Verständnis symbolischer politischer Kommunikation, der es
ausschließlich um die Stiftung von Gefolgschaft ohne vorherige Einigung
in der Sache geht.
Am Ende dieser voranschreitenden Entwicklung zur Selbstbezüglich-
keit neigt die Politik dazu, jeden Ausgriff über die Grenzen des eigenen
Binnenlebens hinaus zu meiden. Sie nimmt den Teil, nämlich sich selbst,
für das Ganze, nämlich die Gesellschaft. An die Stelle ihres Gestaltungs-
238 Christoph Böhr

anspruchs tritt ihr Selbsterhaltungsbemühen. Das hat Folgen: Wenn bei-


spielsweise – wie sich bei fast allen umfangreicheren Gesetzgebungen, die
in die Lebenswirklichkeit, also die Außenwelt jenseits der Grenzen der
politischen Organisation, eingreifen, zeigt – die unbeabsichtigten Neben-
folgen bestimmter Eingriffe mangels der Bereitschaft, Anreizwirkungen
vorab zu bedenken, die beabsichtigten Hauptfolgen um ein vielfaches
übersteigen. Der Grund hierfür liegt auf der Hand: In einer komplexen
Umwelt muss, wer Wirkung entfalten will, seine Wahrnehmungsfähigkeit
steigern. Die aber wird durch die autoreferentielle Organisation der Politik
eher gemindert. Von der Politik getroffene Entscheidungen laufen so zu-
nehmend ins Leere. Infolgedessen wird der Entscheidungsbedarf verrin-
gert, indem vorsorglich schon seine Veranlassung geleugnet wird: Die
Politik verzichtet auf eine ihre Außenwelt einbeziehende Teleologie –
oder, in ihrer eigenen Sprache ausgedrückt: Sie verzichtet auf Programma-
tik und nennt sich ab sofort, zustimmungsheischend, pragmatisch.15
Dabei zeigt sich im Blick auf das Subsystem der Politik mit größerer
Klarheit noch als bei anderen Subsystemen: Wo immer systemische Auto-
referentialität festzustellen ist, geht es um Macht. Reziprozität als Regel
zwingt dazu, den Anderen in den Blick zu nehmen. Autoreferentialität als
Regel legt es darauf an, einseitig über Andere zu bestimmen. Selbstbezüg-
liche Ordnungen werden um der Macht willen begründet und dienen kei-
nem anderen Ziel als der Festigung von Machtansprüchen – bis zu dem
Zeitpunkt, an dem sie wegen ihrer schwindenden Fähigkeit zur Wahrneh-
mung der Außenwelt in sich zusammenbrechen.
Es kann kaum verwundern, dass ein Gespür für Selbstbezüglichkeit
dem, der in der Außenwelt keine Bezugsebene seines Handelns mehr sieht,
schnell abhanden kommt. Denn die Entwicklung dieses Gespürs setzt ja
gerade die Wahrnehmung der Differenz zwischen dem, was innerhalb der
Grenzen des Systems, und dem, was außerhalb dieser Grenzen liegt, vor-
aus. Wird die Wahrnehmung dieser Differenz systemisch unterbunden,
kann auch die so entstandene Selbstbezüglichkeit nicht mehr wahrgenom-
men werden.
Philosophie nun, die aus der Wahrnehmung von Differenz geboren wur-
de und die aus dieser Wahrnehmung heraus lebt, hat in arbeitsteiligen Ge-
sellschaften vielleicht diese eine Aufgabe vor allem: Witterung aufzuneh-
men, wenn die Neigung zur Selbstbezüglichkeit ein Ausmaß angenommen
hat, das gefährlich wird – im Sinne der Abschottung und Selbstbestätigung

15
Vgl. Walter 2006, 199 ff., hier 207: „Der sinnentleerte Pragmatismus hat der Politik
und den Parteien die normativen Fluchtpunkte genommen. Nicht zuletzt deshalb ist
die ‚Reformpolitik‘ beider Volksparteien so unpopulär, wird sie so wenig unter-
stützt. Denn die Parteien können nicht angeben, wohin die Reise gehen soll.“
Die deliberative Gesellschaft 239

von Eliten und Systemen. Dabei ist es nicht Aufgabe der Philosophie, in der
Geste des Besserwissers schwierige Sachverhalte und Zusammenhänge zu
popularisieren, wo es nichts zu popularisieren gibt, sondern ihre Aufgabe ist
es, Selbstbezüglichkeit in den sozialen Subsystemen einer Gesellschaft zu
erkennen und immer wieder danach zu fragen, wie aus dem Inneren eines
Subsystems die Brücke zu dessen Außenwelt gebaut werden kann. Denn
ansonsten bleibt alle Beratschlagung vergeblich. Ein autopoietisches System
weist das deliberative Argument regelmäßig ab. Es kennt keine Berat-
schlagung, sondern zielt nur auf die Sicherung der eigenen Machtstellung.
Eine Beratschlagung, wie sie hier gefordert wird, ist aber umso wichti-
ger, als seit jetzt zwei Jahrzehnten in Deutschland ausnahmslos jede Re-
formkommunikation16, sofern sie überhaupt versucht wurde, gründlich
misslungen ist. Die Umsetzung nicht eines einzigen Projektes, so begründet
es der Sache nach auch war, glückte. Das ist besonders erklärungsbedürftig
dort, wo die Notwendigkeit einer Veränderung auf der Hand liegt – bei-
spielsweise im Blick auf den unübersehbaren Zusammenhang, der zwischen
der Sicherung der Altersversorgung und der Dauer der Lebensarbeitszeit
besteht. Und wenn Reformen in einem Kraftakt durchgesetzt wurden – wie
es beispielsweise bei der Hartz-Gesetzgebung der Fall war –, kosteten sie
nicht nur die federführende Regierung Kopf und Kragen, sondern entpupp-
ten sich auch schon kurze Zeit nach ihrer Inkraftsetzung als völlig blauäugig
hinsichtlich ihrer zahlreichen unbeabsichtigten Nebenfolgen, so dass der
Reform unzählige Reformreparaturen auf dem Fuße folgten, für die ihrer-
seits wiederum das Gleiche galt: Auch sie waren, jede für sich, blauäugig
hinsichtlich ihrer Nebenfolgen, vor allem im Blick auf Anreizwirkungen,
die regelmäßig das Gegenteil der vom Gesetzgeber verfolgten Absichten
bewerkstelligten.17 Gerade dieses Beispiel verunglückter Reformkommu-
nikation – mit der Folge einer sich verbreitenden Scheu vor Reformrisiken
bei einem gleichzeitig stetig steigendem Anpassungsbedarf hochentwickel-
ter Gesellschaften – zeigt, wie notwendig, ja überlebensnotwendig der
Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation in freiheitlichen Gesell-
schaften ist.

16
Über den Zusammenhang von Reformteleologie, Reformstrategie, Reformkommu-
nikation und Reformpolitik vgl. Böhr 2005a, 20 ff.
17
Damit ist ein beispielhafter Anlass für eine schon im Ansatz missglückte Kommu-
nikation gegeben. Während die einen – zum Beispiel Guido Westerwelle zu Beginn
des Jahres 2010 im Blick auf die Empfänger von Ersatzeinkommen – über die An-
reizwirkung einer Regel und deren unbeabsichtigte Nebenfolgen sprechen, beruft
sich die widersprechende Seite auf die vom Gesetzgeber verfolgte Absicht. Das
Beispiel zeigt, dass politische Kommunikation unter den ausschließlichen Vorzei-
chen von Rede und Gegenrede zwar mit Aufmerksamkeit belohnt wird, aber jede
Deliberation verfehlt.
240 Christoph Böhr

Allerdings scheint bis heute nicht nur für die Medien der Satz zu gel-
ten: „Wer argumentiert, verliert.“18 Die Gesellschaft ist – samt ihrer Eliten
– offenbar davon überzeugt, dass diese Warnung den Kern trifft. Das kann
auch nicht verwundern. Denn Deutschland – und die anderen europäischen
Gesellschaften – stehen ganz am Anfang ihrer Entwicklung zu sich selbst
bestimmenden Gesellschaften. Gleichwohl spricht manches dafür, dass in
ihnen der Aufbau einer Struktur deliberativer Argumentation wenigstens
doch in Ansätzen begonnen hat. Und gerade hier zeigt sich ein entschei-
dender Beitrag, den die Philosophie leisten kann, um diese Entwicklung
voranzutreiben – wie sie das in der Geschichte des Kontinents vielfach
getan hat, wenn sie sich selbst nichts anderem verpflichtet wusste als der
Macht des Arguments. Die europäische Kultur hat sich von ihren Anfän-
gen an immer wieder als deliberative Kultur selbst verstanden – als eine
Kultur, deren deliberativer Charakter sich mit Norbert Hinske vor allem in
drei Gesichtspunkten (vgl. Hinske 2009, 83 ff.) beschreiben lässt: Ihr Fun-
dament ist das Wissen um die Wahrheit im Gegenargument, ihre Prämisse
ist die Überzeugung von der Unmöglichkeit des völligen Irrtums und ihr
systematischer Topos ist die Lehre von der Vernunft, genauer gesagt: die
Lehre von den Stärken und Schwächen der Vernunft. Darüber nachzuden-
ken ist nun allerdings das Kerngeschäft der Philosophie. Sie ist, mehr als
jede andere Disziplin, gefragt, wenn es darum geht, die Struktur deliberati-
ver Argumentation in sich selbst bestimmenden Gesellschaften zu entwi-
ckeln. So verstanden, geht es nicht um ein utopisches Projekt, sondern um
die Methodologie freier gesellschaftlicher Selbstbestimmung: dass Gesell-
schaften lernen müssen, sich in und über Regeln, auf die hin sie sich für
längere oder für kürzere Zeit verpflichten, selbst zu verstehen.
Das nun, was hier als deliberativer Charakter sich selbst bestimmender
Gesellschaften beschrieben wird, ist nichts anderes als Reflexivität: So wie
die Philosophie nie mehr hinter die Einsicht der Reflexivität einer sich auf
sich selbst zurückbeugenden Vernunft zurück kann, so gewinnen Gesell-
schaften allmählich Einsicht in die Reflexivität des Handelns ihrer Mit-
glieder: als Einsicht in die Rückwirkung, die mit jeder privaten und politi-
schen Entscheidung verbunden ist – sowie als die Einsicht, dass im
Bewusstsein dieser nicht vorhersehbaren Rückwirkungen Handlungsregeln

18
So titelte die Wirtschaftswoche in ihrer Ausgabe vom 24. September 2007 und resü-
mierte die Erkenntnisse der Populärpsychologie: „Wir verhandeln täglich: im Büro,
zu Hause, mit Freunden. Psychologen haben die geheimen Spielregeln des Verhal-
tens analysiert. Ergebnis: Für den Erfolg ist die Form des Gesprächs viel wichtiger
als dessen Inhalt.“ Bei näherem Hinsehen allerdings zeigt sich, dass die Überschrift
den Sachverhalt nicht ganz zutreffend wiedergibt: Es geht auch in diesem Beitrag um
einen bestimmten Stil der Erwägung in Verhandlungen, den man durchaus als dem
Stil einer deliberativen Argumentation angemessen bezeichnen kann.
Die deliberative Gesellschaft 241

vor allem den Sinn haben, Freiheit im Sinne wechselseitiger Handlungs-


möglichkeiten dauerhaft zu gewährleisten. Es geht, weniger allgemein
gesagt, um Regeln zur Begrenzung wechselseitiger Zumutungen mit dem
Ziel der Erweiterung wechselseitiger Handlungsspielräume, also um Re-
ziprozität im umfassenden Sinne. Über diesen Zusammenhang nachzuden-
ken gehört zum Alltag einer deliberativen Gesellschaft. Aus diesem Nach-
denken erwachsen die Strukturen deliberativer Argumentation – Formen
der Beratschlagung über alles, was zur Beurteilung ansteht – mit der einen
und einzigen Ausnahme: Ausgenommen vom Prozess der Deliberation ist
deren letzte Finalität. In dieser reflexiven Normativität – dem Bekenntnis
des Menschen zu sich selbst – verankert sich die freiheitliche Gesellschaft
als eine Gesellschaft freier Beratschlagung. In der Anthropologie, die die-
sem Selbstverständnis vorausgeht, findet sich ihr zivilreligiöses Funda-
ment: als Bekenntnis zur unverwirkbaren menschlichen Würde.

IV.3 Finalität und Prozess der Deliberation


Im Blick auf das, was anfangs über Subjektivität und Intersubjektivität
gesagt wurde, soll hier nur noch einmal erinnernd festgehalten werden: Die
Folge der philosophischen wie politischen Konstitution im Recht des Sub-
jekts findet sich im Regelwerk einer gesellschaftlichen Deliberation, die
nichts voraussetzt, nichts für unverfügbar hält und nichts von der Berat-
schlagung ausnimmt – mit einer einzigen Ausnahme: nämlich dem Be-
kenntnis zur Unverfügbarkeit des Subjekts. Diese Unverfügbarkeit ist kei-
ne willkürliche Festsetzung, sondern die Bedingung der Möglichkeit von
Deliberation, der Form wie dem Inhalt nach. Weil nur der Mensch als Sub-
jekt der Beratschlagung in Frage kommt, ist er gleichermaßen ihre Bedin-
gung wie ihr Ziel. Aus diesem – und nur aus diesem – Grund ist einzig die
Bedingung der Möglichkeit von Deliberation nicht selbst Gegenstand einer
Beratschlagung und bleibt von ihr ausgenommen.
So sehr eine deliberative Gesellschaft auf den ersten Blick den An-
schein erweckt, in ihr sei alles relativ – nämlich zur freien und unbehinder-
ten Erörterung gestellt –, so wenig kann dieser Gesellschaft bei näherem
Hinsehen der Vorwurf des Relativismus19 gemacht werden. Denn erstens

19
Die Gefahr der deliberativen Gesellschaft besteht weniger in einem nivellierenden
Relativismus als in einer kommunikativen Radikalisierung von Überzeugungen:
weil Aufmerksamkeit eher gewinnt, wer sich pointiert positioniert, und Abgrenzung
leichter möglich ist, wo Positionen radikalisiert werden. Die kommunikative Radi-
kalisierung kann dann schnell in eine aggressive Militanz einmünden, wie man das
zum Beispiel an verschiedenen Sekten in den Vereinigten Staaten beobachten kann.
Über genau diesen Zusammenhang hat in den Vereinigten Staaten nach dem An-
schlag auf die Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords am 8. Januar 2011 erneut
eine öffentliche Beratschlagung begonnen.
242 Christoph Böhr

gründet diese Gesellschaft in einer Überzeugung von dem, was bedin-


gungslos gilt – der Wahrheit der Person, ihrer nicht einschränkbaren Wür-
de – und zweitens bedarf eine solche Gesellschaft in besonderer Weise der
Überzeugungen, damit eine Beratschlagung überhaupt zustande kommt.
Denn was ist der Gegenstand von Beratschlagung? Nichts anderes als ein
Ringen um die Vereinbarkeit von Überzeugungen. Und der Maßstab dieser
Vereinbarkeit – sozusagen die Scheidemünze im beratschlagenden Verfah-
ren – ist der Mensch: die Unantastbarkeit seiner Würde.
Im Kern geht es in der deliberativen Gesellschaft immer um diese eine
Frage: „Wie muss eine Entscheidung aussehen, damit sie dem Gesichts-
punkt des Schutzes menschlicher Würde ausreichend Rechnung trägt?“
Also ist nichts von größerer Bedeutung, als eine behutsame Entfaltung der
Vorstellung vom Sinn und von der Bedeutung menschlicher Würde, so
dass diese Finalität der deliberativen Gesellschaft sich wiederfindet nicht
nur in der Richtung ihrer Beratschlagung, sondern auch in der Art und
Weise, wie sie dem Prozess der Deliberation seine Struktur verleiht.
Darunter ist zu verstehen, dass die Überzeugungskraft freiheitlicher
Gesellschaften gerade dann, wenn sie keiner äußeren Bedrohung unterlie-
gen, sehr stark davon abhängt, dass sie ihre eigenen inneren Abläufe so
regelt und ordnet, wie es dem Anspruch ihrer Finalität entspricht. Wo im-
mer sichtbar wird, dass dies nicht geschieht, tappen freiheitliche Gesell-
schaften in eine Glaubwürdigkeitsfalle, die sie mit hohen Ansehens- und
Zustimmungsverlusten bezahlen müssen. Das ist der Grund für ihre innere
Verletzbarkeit, weil natürlich – wie könnte es auch anders sein? – Tag für
Tag individuell und kollektiv gegen den eigenen Anspruch verstoßen wird
– bis heute Anlass für moralistische Kritik. Nun ist Moralismus immer nur
ein untauglicher Ersatz für den Verzicht auf eine Lösung von Schwierig-
keiten. Deswegen ist in Deutschland nicht anders als in den Vereinigten
Staaten und anderen freiheitlichen Gesellschaften zu beobachten, wie um
Regeln gerungen wird, die im Fall des Verstoßes gegen den eigenen An-
spruch den ursprünglichen Zustand moralischer und sozialer Stringenz
wiederherzustellen in der Lage sind.
Ein Beispiel für die Suche nach einer solchen Regel findet sich in der
Bestimmung dessen, was als political correctness gilt: dem Versuch, im
Rahmen einer gesellschaftlichen Beratschlagung Regeln zu bestimmen,
wie Beziehungsverhältnisse in einer Gesellschaft ‚korrekt‘ – also ‚richtig‘
– zu gestalten und zu benennen sind. Die political correctness will ‚richti-
ge‘ Einstellungen und Sichtweisen festlegen – und dabei insbesondere alle
Handlungen und Ausdrucksweisen gesellschaftlich ächten, die Menschen
aufgrund ihrer Rasse, ihres Geschlechts, ihrer Zugehörigkeit zu einer be-
stimmten Gruppe, ihrer körperlichen oder geistigen Behinderung, ihrer
Neigungen, Empfindungen und Vorlieben verunglimpfen. Dieser – gut
Die deliberative Gesellschaft 243

gemeinte – Versuch gerät nicht selten zu einer Karikatur seiner selbst und
findet entsprechend heftigen Widerspruch. Gleichwohl: Das Ringen um
political correctness gehört zu den alltäglichen Aufgaben einer deliberati-
ven Gesellschaft, die – wie auch anders? – nie den kürzesten Weg zum Ziel
einschlagen kann, weil ansonsten keine Beratschlagung stattfände. Viel
Gutes ist auf diesem Weg in den letzten Jahrzehnten bewirkt worden. Ein-
stellung haben sich tiefgreifend verändert und eine Umgestaltung vieler
gesellschaftlicher Regeln bewirkt: Zu denken ist, um nur ein Beispiel zu
nennen, an den langen Weg von der Gleichberechtigung zur Gleichstel-
lung. Dabei lauert hinter solchen Versuchen einer Feststellung von correct-
ness immer die Gefahr ihrer Ideologisierung, die nach politischer Zensur
ruft. Wo dieses Ziel jedoch unterschwellig oder betont angepeilt wird,
findet es Widerspruch und Widerstand – und wird seinerseits zum Gegen-
stand gesellschaftlicher Beratschlagung.
Eine sich mit sich selbst beratschlagende Gesellschaft ist ständig auf
der Suche nach angepassten Regeln, weil alte Ordnungsvorstellungen als
erneuerungsbedürftig erscheinen. Dieses Verfahren der Suche nach den
Grundsätzen des eigenen Selbstverständnisses macht eine freiheitliche
Gesellschaft zu einem spannenden Abenteuer – mit offenem Ausgang. Die
unübersehbare Zahl der Irrungen und Wirrungen, die mit dieser Heuristik
verbunden sind, dürfen dabei nicht den Blick verstellen für die produktive
Kraft, die aus der Überzeugung, sich selbst zu bestimmen, erwächst. Die
deliberative Gesellschaft zeigt sich damit als eine heuristische Gesell-
schaft: Tag für Tag auf der Suche nach Regeln, in denen sie sich wieder-
findet. Jede Regel ist vorläufig und gilt nur unter Vorbehalt, bis eine ande-
re, bessere Regel gefunden ist. Die Suche nach der neuen Regel gleicht
dabei keinesfalls einem geradlinigen Verfahren – und das hat sie mit der
wissenschaftlichen Forschung gemeinsam. Im Hin und Her der Pendel-
schwünge von Überzeugungen, Moden und Strömungen, der Vorschläge
und ihrer Zurückweisungen, von Rede und Gegenrede, im Kräftemessen
der Interessen, dem Schlagabtausch von Lobbyisten und Publizisten sowie
nicht zuletzt in der Balance von Exekutive und Judikative sucht sich die
deliberative Gesellschaft ihren Weg. Dabei läuft das Schiff häufig auf
Grund. Aber es nimmt auch immer wieder Fahrt auf, wenn in freier Berat-
schlagung über eine Richtungsänderung entschieden wurde.
Ein letztes Beispiel soll in diesem Zusammenhang genannt werden:
nämlich im Blick auf die dringliche Neubestimmung der Regeln der Politi-
schen Ökonomie unter dem Eindruck der Finanzkrise.20 Dabei geht es um
den Versuch, Regeln neu zu erfassen – oder, häufiger noch, neu zu

20
Vgl. dazu weiterführend Böhr 2011.
244 Christoph Böhr

bestimmen –, um sicherzustellen, dass die Spekulations- und Casinoöko-


nomie dort, wo beide ein hohes Maß an Autoreferentialität erreichen und
ihre Bedeutung für die Realökonomie verlieren, im Falle des Scheiterns
nicht von der Allgemeinheit, nämlich der Gemeinschaft aller Steuerzahler,
aufgefangen werden müssen. Ganz anders als in Deutschland, wo über
neue Regeln so gut wie gar nicht gesprochen wird, steht seit vielen Mona-
ten das Ringen um die Zielsetzung und die Anreizwirkung solcher Regeln
im Mittelpunkt der öffentlichen Auseinandersetzung über eine neue Politi-
sche Ökonomie in den Vereinigten Staaten. Hier kann man beobachten,
wie in der Beratschlagung über Vorschläge – beispielsweise in einem har-
ten Ringen über den Vorschlag, eine von 1932 bis 1999 geltende Vor-
schrift des Glass-Steagall-Gesetzes, das eine Vermischung von Geschäfts-
und Investmentbanking verbot, wieder einzuführen – die Gesellschaft (ein-
schließlich ihrer Politiker) einen Weg sucht, dessen Richtungsbestimmung
allerdings voraussetzt, dass die an der Beratschlagung Beteiligten ein Ge-
sellschaftsbild entwerfen, in dessen Dienst alle Regeln stehen, anders ge-
sagt: Nur in der ständigen Vergewisserung der Hinordnung des Gesell-
schaftsbildes auf ein Menschenbild kommt eine Deliberation an ihr Ziel.

V. Schlussbetrachtung: „Warum Philosophie?“ –


aus Sicht der Politik
Warum Philosophie, wenn es dann am Ende doch um Politische Ökonomie
geht? Die Frage soll abschließend beantwortet werden: Weil nur die Refle-
xion, die wir eine philosophische nennen, zu erkennen vermag, dass frei-
heitliche Gesellschaften, wenn sie zusammenbleiben wollen, sich verstehen
lernen müssen – und weil nur die Reflexion, die wir eine philosophische
nennen, zu begründen vermag, wie das Recht auf Beratschlagung in dem
von dieser Beratschlagung einzig ausgenommenen Bekenntnis zum Men-
schen verankert ist; in der deliberativen Gesellschaft beratschlagt die Philo-
sophie über die Präsumtionen der Politik, während die Politik über die
Konklusionen der Philosophie beratschlagt – unter der Bedingung, dass
Politik den Menschen zu ihrem Maß nimmt und die Macht als ihr Mittel
erkennt.
Seit Sokrates hat sich die Aufgabe der Philosophie, wenn sie der Poli-
tik begegnet, nicht geändert: Es ist die Aufgabe der Hebamme, die nicht
selbst Politik betreibt bzw. gebiert, sondern der Politik zur Seite steht, um
ihre Zielvorstellungen zur Welt zu bringen. Allerdings hat sich seit Sokra-
tes die Abneigung der Politik nicht geändert, sich dieser Hebammenkunst
zu versichern, weil sie seitdem – und bis heute – immer wieder der Verfüh-
rung erlegen ist, ihre Mittel mit ihrem Zweck zu verwechseln. Wo die
Die deliberative Gesellschaft 245

Macht vom Mittel zum Zweck aufsteigt, vermag auch die Philosophie
nichts mehr auszurichten, scheint es. Aber dieser Schein trügt: Denn die
Gesellschaft wirkt, vorbeugend, darauf hin, dass diese Verführung, wenn
die Politik ihr erliegt, in ihren Folgen abgemildert wird. Sie hat das Heft in
die Hand genommen, den Einfluss der Politik begrenzt und die Macht der
Selbstbestimmung für sich entdeckt, allerdings ohne selbst jetzt schon so
recht zu wissen, wie es weitergehen soll. Sie, die Gesellschaft, von der die
Wissenschaft ein wichtiger Teil ist, braucht die Hebammenkunst der Philo-
sophie: bei der Entwicklung zeitgemäßer Strukturen deliberativer Argu-
mentation auf dem von ihr selbst zu bestimmenden Weg.
Die Politik heute erlebt – im Gegenzug zum neu erwachten Selbstbe-
wusstsein der Gesellschaft – einen Rollenwechsel. Sie hat sich von der
Aufgabe, der Gesellschaft Gestaltungsziele vorzulegen, über die dann in
allgemeinen Wahlen eine meinungsbildende Abstimmung herbeigeführt
wird, freigemacht, und stattdessen ein Selbstverständnis entwickelt, nach
dem sie sich als Spiegel gesellschaftlicher Strömungen und Stimmungen
versteht. Unverkennbar wurde dieser Rollenwechsel gerade in jüngster
Zeit: Zur Bewältigung der Finanzkrise beispielsweise hat nicht die Politik
Vorschläge gemacht und zur Abstimmung gestellt; vielmehr hat die Poli-
tik beglaubigt und nachvollzogen, was ihr, jeweils als Sachzwang ausge-
wiesen, von den Betroffenen – zunächst den gefährdeten Banken, dann
den überschuldeten Ländern – zu stets eigenem Nutzen und Frommen
vorgeschlagen wurde. Der im Rahmen der Finanzkrise so oft rechtferti-
gend angeführte Satz „too big to fail“ ist dafür ein schönes Beispiel. Wer
diesem Sachzwang folgt, ohne im Anschluss unverzüglich die Regeln so
zu ändern, dass es zu einem solchen Sachzwang zukünftig nicht mehr
kommen kann, darf sich über die ungebrochen fortdauernde Wirkung die-
ses Fehlanreizes – dem die Politik bis zum heutigen Tag erlaubt hat, die
Krise gänzlich unbeschadet zu überstehen – nicht wundern. Das Beispiel
zeigt, dass die Entmachtung der Politik in weiten Teilen eine Selbstent-
machtung ist, indem darauf verzichtet wird, von eigenen Zuständigkeiten
Gebrauch zu machen.
Wenn also Politik sich nun nicht mehr über ihren Gestaltungswillen
rechtfertigt, sondern sich vorrangig über ihre Bedeutung als Spiegelbild
gesellschaftlicher Strömungen bestimmt, dann obliegt es mehr und mehr
der Gesellschaft, Gestaltungsziele zu bedenken – es sei denn, die Gesell-
schaft überlässt dieses Feld der Lobby verbandsangehöriger Einflüsterer.
Lässt sie das, wie es erfreulicherweise den Anschein hat, nicht zu, wird sie
selbst, als Gesellschaft, zum Mittelpunkt der Beratschlagung und damit
zum vorrangigen Rezipienten philosophischer Reflexion. Diese Entwick-
lung hat im Übrigen längst eingesetzt. Mehr als in den politischen Parteien
werden heute im gesellschaftlichen Raum Fragen der künftigen Entwick-
246 Christoph Böhr

lung des Landes bedacht und erörtert. Der Einfluss solcher – formellen wie
informellen – „think tanks“ ist zwar in Deutschland noch lange nicht so
groß wie in den Vereinigten Staaten. Aber er nimmt stetig zu. Für die Poli-
tik, wie sie sich heute begreift, ist es dabei von Vorteil, sich dieser Bera-
tung von Fall zu Fall, nämlich immer dann, wenn gerade wieder einmal
eine Entscheidung unvermeidlich geworden ist, versichern zu können.
Denn sie muss sich, wenn ausnahmslos nur fallweise auf Handlungs- und
Zielbestimmungen zurückgegriffen wird, selbst nicht langfristig an Ge-
staltungsziele binden – jedenfalls solange nicht, wie sie davon überzeugt
zu sein scheint, dass es von wählerwirksamem Vorteil ist, die Bindungsbe-
reitschaft der Bürger durch das Angebot langfristiger inhaltlicher Festle-
gungen nicht zu überfordern. Folglich wird die philosophische Reflexion
heute politisch vermittelt über ihre zunehmende Institutionalisierung im
Kontext gesellschaftlicher Deliberation.
Philosophie ist keine „pressure group“, die Lobbying betreibt. Sie
sucht die Öffentlichkeit, aber nicht, um dieser zu Gefallen zu sein. Das ist
auch schon deshalb gar nicht möglich, weil sie – seit dem sokratischen
Daimonion – eher abratend als zuratend in Erscheinung tritt. Das Denken
der Philosophie ist reflexiv und deliberativ, niemals autoritativ. Das ist der
Grund, warum sie selbst jeder Eitelkeit abhold zu bleiben hat: Philosophie
bildet sich nicht ein, den Königsweg gefunden zu haben. Einer Selbstüber-
schätzung steht schon ihr reflexiv-deliberativer Habitus im Wege, der im
Übrigen einer der Gründe dafür ist, dass die Politik sich so schwer tut, ein
auskömmliches Verhältnis zur Philosophie zu finden: Was hilft dem Poli-
tiker eine weitere Problematisierung – selbst aus dem berufenen Mund der
Philosophie? Er sucht die Bestätigung seiner Macht und die Festigung
seines Einflusses und gerade nicht deren – und sei es auch nur mittelbare –
Infragestellung. Mit Bestätigung und Festigung aber kann die Philosophie
nicht dienen: Denn die Frage nach dem „Warum“ der Philosophie mündet
immer in ein und dieselbe Antwort: Weil sie nun einmal nicht anders kann,
als bei jeder Gelegenheit die Frage nach dem „Wozu“ zu stellen – und sich
nicht abspeisen lässt mit der Bemerkung, dass diese Frage nach dem „Wo-
zu“ sinnlos sei, da es im Augenblick ohnehin keine anderen Möglichkeiten
gebe als eben diese eine, die nicht zeitraubende Beratschlagung, sondern
schnelle Umsetzung erfordere. Wenn die Philosophie nach dem „Wozu“
fragt, dann fragt sie nach Gründen in der Sache. Wird die Politik nach dem
„Wozu“ gefragt, dann antwortet sie mit dem Verweis auf die jeweiligen
drängenden Umstände.
Ist es demnach ein düsteres Bild, das sich demjenigen zeigt, der die
Frage nach der Bedeutung philosophischer Reflexion im Kontext der heu-
tigen politischen und medialen Situation beantworten will? Ja und Nein.
Ein düsteres Bild zeigt sich dem, der nach dem unmittelbaren Einfluss der
Die deliberative Gesellschaft 247

Philosophie auf die Ausrichtung und Ausgestaltung der politischen Struk-


turen sucht. In dieser Hinsicht hat sich seit Sokrates nichts geändert. Ein
gar nicht düsteres Bild zeigt sich hingegen dem, der in den Blick nimmt,
was das Geschäft der Philosophie wirklich ist – und immer war: nämlich
nicht die Suche nach Einfluss und Beeinflussung, sondern das Ringen um
Erkenntnis im Widerstreit von Gründen und Gegengründen. Die Frage
nach dem „Warum“ von Philosophie lässt sich nie und nimmer beantwor-
ten mit dem Hinweis auf einen Erfolg ihres Bemühens. Welchen Erfolg
will auch derjenige verbuchen, der fragt und sucht? Sein Glück – seinen
Erfolg – findet der Fragende nicht, wenn er jemanden findet, den er für
sich vereinnahmen oder gar verpflichten kann. Sein Erfolg und seine Wir-
kung bemessen sich anders, nämlich über die Spuren, die er im Denken
seiner Zeit – und darüber hinaus – hinterlässt: Spuren, die oft erst nach
langer Zeit entdeckt oder wiederentdeckt werden.
Und eben das ist die Wirkung – und zugleich der Trost – der Philoso-
phie: kein billiger Trost und keine eingebildete Wirkung. Philosophie setzt
auf die Kraft des Arguments, also die Kraft der Freiheit. Die Philosophie
selbst kann deshalb – der Utopie vom ‚philosophus rex‘ zum Trotz – nicht
wollen, dass ihr die Herrschaft übertragen wird. Sie folgt anderen Zielen
und Maßstäben als die Politik. Und nicht selten sind diese Ziele und Maß-
stäbe mit denen der Politik kaum zu vereinbaren. Diese Unvereinbarkeit
nimmt der Philosophie nichts von ihrer Wirkung und der Politik nichts von
ihrer Bedeutung. Philosophie und Politik bleiben aufeinander verwiesen –
aber immer in dem Verhältnis, das die Reflexion zur Poiesis hat. Philoso-
phie muss deshalb nicht nur nacheilend erklären, sondern kann gerne auch
vorauseilend beratschlagen – wenn sie es dabei bewenden lässt und nicht
dem falschen Ehrgeiz folgt, politischen Einfluss gewinnen zu wollen. Wer
die Metamorphose der Philosophie zur Politik anpeilt, muss wissen, dass
jede Metamorphose mit der unwiederbringlichen Zerstörung der Gestalt
verbunden ist, die umgewandelt wird. Anders gesagt: Die Metamorphose
der Philosophie zur Politik wäre ihr Ende.
Sokrates blieb von diesem Schicksal verschont, Voltaire hat es – in
seinem Verhältnis zu den beiden Großen, dem großen Friedrich und der
großen Katharina – erlitten. Weil sich Philosophie über ein Privileg und ein
Postulat bestimmt, nämlich frei zu sein und keine Rücksicht nehmen zu
dürfen, hat sie immer einen schweren Stand, viele Neider und noch mehr
Gegner. Das ist der Preis, den sie für ihre Freiheit zu zahlen hat. Dieser
Preis ist nicht zu hoch für eine Lebensform, die schon Aristoteles als die
dem Menschen zugängliche letzte und höchste Erfahrung von Glück vor
Augen stand.
Eine ganz andere Frage ist, ob nicht die Politik auf die Philosophie an-
gewiesen ist. Die Beantwortung dieser Frage hängt allein ab vom Selbst-
248 Christoph Böhr

verständnis, dem die Politik jeweils folgt. Erschöpft sich dieses Selbstver-
ständnis im Ringen um die Macht, kann die Philosophie nur im Wege ste-
hen. Es gelten dann die Regeln des Koalitionspokers. Erhebt die Politik
allerdings den Anspruch, Gestaltungsziele zu verfolgen, kann sie vom
reflexiv-deliberativen Habitus der Philosophie nur großen Nutzen haben.
Denn wo es um Ziele geht, da geht es immer auch um Abwägung und Be-
ratschlagung. Beides kann für die Belastbarkeit einer Zielbestimmung nur
förderlich sein.
Welchem Selbstverständnis folgt Politik heute? Doch wohl eher dem
erstgenannten, das im Ringen um die Macht ihre raison d’être findet. Es
scheint, dass die Zeit vorbei ist, in der diese Macht um bestimmter Ziele
willen erkämpft wurde. Dieser zumindest seit geraumer Zeit weit verbreite-
te Eindruck gibt Anlass, die Frage nach dem „Warum“ von Philosophie
gegenwärtig zu beantworten mit dem abschließenden unmissverständlichen
Hinweis, dass menschliches Handeln – auch in der Form der Praxis des
bios politikos – sich immer verirrt, wenn es sich nicht an Zielen ausrichtet.
Die Philosophie kann der Politik nicht ihre Ziele an die Hand geben. Aber
sie kann – ja: sie muss – diese Frage öffentlich stellen: die Frage nach dem
„Wozu“ und „Wohin“, die Frage eben nach der Teleologie der Praxis des
bios politikos – als die Frage nach dessen Zweck und Ziel. Kurz: Aufgabe
und Auftrag der Philosophie ist es, die Frage nach dem Sinn allen Tuns
immer wieder neu zu stellen. In der Demokratie ist es diese Frage nach der
Zielbindung öffentlichen Handelns, die, wenn er sie stellt, den Wähler zum
Bürger macht.

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—, 2008: Das Uneinholbare. Beiträge zu einer indirekten Metaphysik, Freiburg/Mün-
chen.
Sepp, H.R., 2009: Europa oder Vom Nutzen der Philosophie. Thesen zu einer Disziplin
im Umbruch, in: H.-B. Gerl-Falkovitz u. a. (Hg.), Europäische Menschenbilder,
Dresden, 449–465.
Sternberger, D., 1978: Drei Wurzeln der Politik, Frankfurt/M.
Walter, F., 2006: Die ziellose Republik. Gezeitenwechsel in Gesellschaft und Politik,
Köln.
Wetz, F.J., 2005: Illusion Menschenwürde. Aufstieg und Fall eines Grundwerts, Stuttgart.
Vom Nutzen der Philosophie

Jürgen Mittelstraß

Vorbemerkung

Die Philosophie, von deren Nutzen hier die Rede sein soll, hat es nicht
leicht – mit ihresgleichen, den Wissenschaften, wenn es um akademische
Anerkennung geht, mit der Welt, die meist sonderbare Vorstellungen von
ihr besitzt, und mit sich selbst, wenn sie zu sagen sucht, was sie ist. Alle
reden von ihr, und niemand kennt sie wirklich (nicht einmal, so mag es
manchmal scheinen, die Philosophie selbst). Außerdem traut man ihr alles
und nichts zu. Alles, insofern sie auch dort noch zu Hause zu sein scheint,
wohin weder unsere Erfahrungen noch die Wissenschaften reichen, nichts,
insofern ihr weder der alltägliche noch der wissenschaftliche Verstand
zutrauen, Probleme, die der Welt auf den Nägeln brennen, zu lösen. Wo
von der Philosophie gesprochen wird, ist gleich auch von Tiefsinn, Dun-
kelheit, Unverständlichkeit und Folgenlosigkeit die Rede. Die Philosophie,
so scheint es, fühlt sich nur in tiefen Gedanken wohl, in der Nähe eines
absoluten Geistes und natürlich bei ihren Klassikern, die längst nicht mehr
unsere Welt und unsere Probleme teilen. Sie wird gewissermaßen als eine
Philosophie über den Wolken wahrgenommen, eben in der Nähe eines
absoluten Geistes, nicht unter den Wolken, wo auch unsere Probleme sind.
Außerdem kommt sie beharrlich zu spät, wenn man Hegels Vergleich der
Philosophie mit der Eule der Minerva folgt, die ihren Flug in der Dämme-
rung beginnt, wenn sich die Wirklichkeit, wie Hegel sagt, „fertig gemacht“
hat. Also nicht, wenn sich etwas verändern lässt, und nicht, wenn man sie
braucht. Hat Christian Morgenstern recht?
„Es pfeift der Wind. Es stöhnt und gellt.
Die Hunde heulen im Hofe. –
Es pfeift auf diese ganze Welt, der große Philosophe“
(Morgenstern 1987–2001, I, 580).


Vortrag anlässlich der von der „Europäischen Akademie zur Erforschung von Folgen
wissenschaftlich-technischer Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler“ im Frühjahr
2004 veranstalteten Tagung unter dem Titel „Die interdisziplinäre Funktion der
Philosophie“. Erstabdruck in Gethmann 2011.
252 Jürgen Mittelstraß

Doch dies könnte ein Irrtum sein, zumindest ein reichlich verzerrtes Bild
der Philosophie und des Philosophen. Es entspricht der Neigung des wis-
senschaftlichen Verstandes, jedenfalls eines sich am Empirischen festhal-
tenden Verstandes, Philosophie mit purer Spekulation zu identifizieren,
und es entspricht der Neigung des alltäglichen Verstandes, in ihr etwas
Unpraktisches, Exotisches, der Lebensform der Mystiker und Magier Be-
nachbartes zu sehen. Von ganz ungefähr kommt das allerdings nicht. Tat-
sächlich wohnen nur allzu oft neben der Philosophie, der ordentlichen,
gedankliche Unordnung, spekulative Ausschweifungen und begriffliche
Schwärmereien, neben dem Philosophen, der sich dem Rationalen, der
Vernunft verpflichtet fühlt, der Schwärmer, der Schamane und manchmal
auch der modische Zeitgeistverstärker. Der klingt dann vertraut, aber man
vertraut ihm nicht. Zu Recht.
So ist denn auch die Geschichte der Philosophie begleitet vom Geläch-
ter einer thrakischen Magd, die Thales, den ersten der europäischen Philo-
sophen, den Blick zu den Sternen gewandt, also forschend und nachden-
kend, in einen Brunnen fallen sah, und vom Verdacht der Lebensunfähigkeit
ihrer Vertreter. Nach Platon, der doch selbst mit Recht als einer der Großen
der Philosophie gilt, wissen Philosophen „nicht einmal den Weg zum
Markt“, „Feste mit Flötenspielerinnen“ zu besuchen, „fällt ihnen im Traum
nicht ein“, ihre Seelen schweifen „unter der Erde“ und „über dem Himmel“,
nur nicht „im Staate“, wo allein ihr Körper wohnt (Theaitetos 173c ff.). Aber
Platon ist es auch, der der Thales-Anekdote philosophischen Ausdruck ver-
schafft. Einerseits in der Weise, dass es nunmehr für den Philosophen cha-
rakteristisch sei, aus Unerfahrenheit in „Gruben und allerlei Verlegenhei-
ten“ zu fallen (ebd., 174c), andererseits in Würdigung des Umstandes, dass
der Philosoph, unbemerkt von fröhlichen Mägden und dem, was man gern
als den gesunden Menschenverstand bezeichnet, nicht ins Wanken gerät,
wenn von Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit, von Glück und Elend die
Rede ist (ebd., 175c-d). Der aufrechte Gang führt zwar häufig in „Gruben“
und „allerlei Verlegenheiten“, aber er führt, nach Platon, unter der sterbli-
chen Natur auch zur „Verähnlichung mit Gott“ (ebd., 176b). Das wiederum
ist eine zweischneidige Sache. Es ist ja gerade die beanspruchte oder zuge-
schriebene Gottähnlichkeit, die der Philosophie bis auf den heutigen Tag zu
schaffen macht, vor allem in einer nicht-griechischen Welt, in der die Götter
knapp geworden oder, eben im Gewande der Philosophen, wieder der Lä-
cherlichkeit preisgegeben sind.
Wo also könnte der Nutzen der Philosophie, wo könnten ihre Aufga-
ben liegen, die für sie selbst zugleich ein Weg aus der misslichen Alterna-
tive von Lebensunfähigkeit und Gottähnlichkeit wären? Es müssten wohl
in der Tat Aufgaben sein, die nicht über den Wolken liegen, dort, wo nach
alter Vorstellung die Götter wohnen und ein absoluter Geist vermutet wird,
Vom Nutzen der Philosophie 253

sondern unter den Wolken, dort, wo auch unsere Probleme sind. Von der-
artigen Aufgaben und ihrer vermuteten Lösung, damit auch vom Nutzen
der Philosophie, soll im Folgenden die Rede sein, zuvor jedoch – jenseits
aller Metaphorik – von der eigentümlichen Schwierigkeit, genau sagen zu
können, was Philosophie, nun vor allem aus einem akademischen Winkel
betrachtet, eigentlich ist. Schließlich geht es ja auch nicht darum, die Phi-
losophie zu erfinden. Sie ist, jedenfalls als akademische und damit wissen-
schaftliche Disziplin, da, und mit ihr verbindet sich, nicht nur philosophie-
historisch gesehen, der Anfang der Vernunft. Als das griechische Denken
aus dem Schatten des Mythos trat, war dies die Geburtsstunde von Philo-
sophie und Wissenschaft, d. h. des Entschlusses, in der Welt auf eine ra-
tionale Weise Fuß zu fassen.

I. Was ist Philosophie?

Der Grund, warum es üblicherweise schwerfällt, genauer zu sagen, was


Philosophie ist, liegt vor allem in dem Umstand, dass die Philosophie,
akademisch betrachtet, im Unterschied zu den Fachwissenschaften keinen
ihr eigentümlichen Gegenstand hat – wie etwa die Biologie als Wissen-
schaft von Geschichte, Struktur und Funktion lebender Systeme oder die
Jurisprudenz als Wissenschaft des Rechts –, über dessen Definition ihre
Bestimmung gegeben werden könnte, und dass sie, wiederum im Unter-
schied zu den meisten Fachwissenschaften, von Ausnahmen abgesehen,
kein verlässliches Wissen, im Sinne eines Lehrbuchwissens ausgebildet
hat, das allgemein als ein philosophisches Wissen gelten könnte.1
Im Unterschied zur Problemwahrnehmung in den Fachwissenschaften
können Probleme, die sich einer philosophischen Behandlung zuführen
lassen, prinzipiell überall, in lebensweltlichen wie in wissenschaftlichen
Zusammenhängen, auftreten. Treten sie im Bereich der Wissenschaften auf,
dann in der Regel dort, wo fachspezifische Methoden und Definitions-
möglichkeiten zu kurz greifen, z. B. bei der Definition des Lebens in der
Biologie oder der Definition des historischen Bewusstseins in der Ge-
schichtswissenschaft, aber auch dort, wo es allgemein um erkenntnistheore-
tische, methodologische und andere Grundlagen der Wissenschaften geht.
Dabei bleiben philosophische Lösungsbemühungen (wenn sie von den
Wissenschaften überhaupt als solche angesehen werden) in der Regel kon-
trovers, d. h. an sogenannte philosophische Standpunkte oder Überzeugun-

1
Das Folgende im engen Anschluss an meinen Philosophie-Artikel in: Mittelstraß
(Hg.) 1995, 131–139.
254 Jürgen Mittelstraß

gen gebunden, und dies trotz der Tatsache, dass sich die Philosophie unge-
achtet der historischen und systematischen Vielfalt ihrer Standpunkte in
einem bestimmten Sinne als voraussetzungslos begreift. Ihre Vorausset-
zungslosigkeit beruht in der seit Platon (explizit oder implizit) formulierten
und methodisch eingelösten Absicht, auch dort noch nach Gründen zu fra-
gen bzw. auf Begründungen zu dringen, wo sich das alltägliche Bewusst-
sein, aber auch das wissenschaftliche Bewusstsein, mit faktisch akzeptier-
ten Überzeugungen zufriedengibt. In ihr, so ein höchst anspruchsvoller
Begriff von Philosophie, gilt der Grundsatz, dass nichts für (theoretische
oder praktische) Orientierungsbemühungen Relevante einem begründungs-
orientierten und in diesem Sinne philosophischen Diskurs entzogen werden
kann und soll. Der Versuch, über eben diesen sich in einem Vorausset-
zungslosigkeitspostulat artikulierenden Grundsatz eine Wesensbestimmung
der Philosophie zu geben, fällt allerdings höchst allgemein aus, z. B. wenn
Philosophie als „Bewusstsein des Nichtwissens“ (Sokrates) oder als „Wis-
senschaft der Vernunft“ (Hegel) bezeichnet wird.
Nun wird die Frage, was Philosophie ist, nicht so sehr außerhalb einer
philosophischen Praxis, in institutioneller Form z. B. in den Universitäten,
gestellt und den Philosophen zur Beantwortung vorgelegt; sie lenkt viel-
mehr als eine bereits selbst philosophische Frage die philosophische Refle-
xion und lässt sich daher auch von dieser Reflexion nicht isolieren. Wer
z. B. davon ausgeht, dass es der historische Gang der philosophischen Re-
flexion ist, der die Ausbildung eines philosophischen Lehrbuchwissens
eher behindert als gefördert hat, der wird selbst konkrete Aufgaben der
Philosophie, z. B. gegenüber den Fachwissenschaften, formulieren und sich
um ihre Bewältigung in systematischem Geiste bemühen. Wer hingegen
davon ausgeht, dass der Begriff des Lehrbuchwissens und mit ihm der Be-
griff eines in den Wissenschaften ausgebildeten positiven Wissens auf die
Philosophie nicht anwendbar ist bzw. die philosophische Reflexion gerade
in der Hinsicht verfälscht, in der sie sich von der Wissensbildung der
Fachwissenschaften unterscheidet, wird selbst entweder eine systematische
Unterscheidung zwischen philosophischer und wissenschaftlicher Rationa-
lität vorschlagen oder (wie Hegel) Philosophie als ein „System in der Ent-
wicklung“ (Hegel 1970, 47) zu verstehen suchen, d. h. das, was die Philo-
sophie, in der Regel auf eine höchst kontroverse Weise, weiß, als Ausdruck
einer bestimmten Phase innerhalb einer historischen Entwicklung einord-
nen. Deren Deutung, etwa als „Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit“
(Hegel), gilt dann natürlich selbst als eine sehr philosophische.
Im Allgemeinen herrschen hier, nicht weiter überraschend, Mischfor-
men vor, d. h., es werden sowohl historische als auch systematische Ge-
sichtspunkte dafür ins Feld geführt, dass die Philosophie kein einheitli-
ches Lehrbuchwissen ausgebildet hat bzw. kein allgemein akzeptiertes
Vom Nutzen der Philosophie 255

Wissen ausbildet. Unterschiedliche Philosophieverständnisse wiederum


gelten selbst als ein philosophisches Faktum. Deshalb ist auch die Ver-
wendung des Ausdrucks „Philosophie“ im Plural geläufig bzw. die Mög-
lichkeit gegeben, mit einem Philosophiebegriff zu arbeiten, der prinzipiell
alles das umgreift, was sich bisher als Philosophie verstanden hat oder als
Philosophie gilt. Das hat dann unter anderem dazu geführt, dass der Phi-
losophiebegriff der philosophischen Forschung heute weitgehend iden-
tisch ist mit dem Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung.
Der sich hier nahe legende Relativismus philosophischer Verständnisse
lässt sich vermeiden, wenn man den Begriff des Lehrbuchwissens, der für
die Philosophie unbequem ist, an dem sie aber zumeist gemessen wird,
selbst relativiert. Ein Lehrbuchwissen besteht in der Regel in Form von
Theorien, deren Geltung überprüft und deren Anwendung in Problemlö-
sungszusammenhängen gesichert ist. Ein derartiges Wissen bzw. die Be-
mühung um ein derartiges Wissen gibt es durchaus auch in der Philoso-
phie, etwa in der Logik, der Erkenntnistheorie, der Sprachphilosophie, der
Wissenschaftstheorie und selbst in der Ethik. In diesen Fällen handelt es
sich um Teile der Philosophie, die in ähnlicher Weise strukturiert sind wie
das fachwissenschaftliche Wissen. Dennoch wäre es unzweckmäßig und
der besonderen Wissensform der Philosophie unangemessen, sie in diesem
Sinne als die Gesamtheit philosophischer Sätze aufzufassen und von dieser
womöglich auch noch zu verlangen, dass sie ein „System philosophischer
Erkenntnisse“ (I. Kant) darstelle. Umgekehrt wäre es zu kurz gegriffen, mit
Wittgenstein zu sagen, die Philosophie sei keine Lehre, sondern eine Tä-
tigkeit, und ihr Resultat seien keine philosophischen Sätze, sondern das
Klarwerden von Sätzen (vgl. Tractatus 4.112). Tatsächlich lässt sich die
philosophische Reflexion als eine ihrem Wesen nach begründungsorien-
tierte Tätigkeit auffassen. Eine solche Auffassung lässt sich auch mit der
Sokratischen Vorstellung verbinden, Philosophie primär nicht in Form von
Wissen, sondern in Form einer kritischen, auf Begründung insistierenden
Analyse faktischen oder beanspruchten Wissens zu begreifen.
Die philosophische Reflexion, die sich sowohl in Form philosophi-
scher Sätze als auch in Form einer philosophischen Tätigkeit (wie im er-
wähnten begründungsorientierten Sinne) darstellen lässt, nimmt insofern
gegenüber der wissenschaftlichen Rationalität bzw. dem wissenschaft-
lichen Verstand eine besondere Rolle ein, die es weder angezeigt sein lässt,
Philosophie mit Wissenschaft zu identifizieren bzw. der Philosophie an-
heimzustellen, sich gegenüber der Wissenschaft tendenziell überflüssig zu
machen, noch dazu zwingt, Philosophie, ihre Aufgaben und ihre Leistun-
gen, völlig außerhalb von Wissenschaft anzusiedeln. Ihre Rolle ist viel-
mehr die einer Begründungen sowohl allgemein als auch wissenschafts-
spezifisch ausarbeitenden Orientierung.
256 Jürgen Mittelstraß

Der Versuch, die Frage, was Philosophie sei, über die Bildung philo-
sophischer Sätze oder über den Hinweis auf philosophische Systeme zu
beantworten, aber auch der entgegengesetzte Versuch, Philosophie als den
Prozess einer Klarwerdung von (nicht notwendigerweise allein philosophi-
schen) Sätzen zu verstehen, sind beide Ausdruck einer Verselbständigung
der Philosophie gegenüber dem wissenschaftlichen Verstand. Dies war
keineswegs immer so. Im Gegenteil, Philosophie und Wissenschaft waren
bis ins 19. Jahrhundert hinein eines, d. h., in beiden Fällen ging es allein
um die Aufgabe, in der Welt auf eine rationale Weise Fuß zu fassen. Im
übrigen sind die Aufgaben der Philosophie nach wie vor durch die von
Kant formulierten Fragen: „Was kann ich wissen?“, „Was soll ich tun?“,
„Was darf ich hoffen?“ und „Was ist der Mensch?“ bestimmt (Kant 1956–
1964, III, 447 f.). Eben diese Fragen sind bzw. ihre Beantwortung ist es
denn auch, die die (für die Philosophie oft bange) Frage beantworten lässt,
was die Philosophie ist bzw. über welche Bemühungen und Orientierungen
sie sich definieren soll. Es sind zugleich Fragen, die in die Welt hinein-,
nicht aus der Welt herausführen. Letzteres wäre nur dort der Fall, wo die
gegebenen Antworten keinen Zusammenhang mehr mit den Problemen
unserer Welt, den allgemeinen, die conditio humana spiegelnden, wie den
besonderen, den durch die jeweilige Situation des Menschen in der Welt
gegebenen Problemen erkennen lassen. Dies wäre dann keine Philosophie
unter den Wolken, sondern eine über denselben.

II. Ein Beispiel

Was hier zunächst auf eine sehr allgemeine Weise zur Bestimmung der
Philosophie und ihrer Aufgaben gesagt wurde, lässt sich bezogen auf die
Welt, in der wir leben, bzw. auf die Probleme, mit denen wir umzugehen
haben, auch auf eine sehr konkrete Weise demonstrieren. Ich wähle dazu
bewusst ein Beispiel, das in einem hohen Maße kontrovers ist, sowohl den
wissenschaftlichen, als auch den nicht-wissenschaftlichen Verstand bewegt
und tief in weltanschauliche Dinge führt: die Debatte um ein neues Repro-
duktionsverfahren, das man Klonen nennt, insbesondere um die mögliche
Erzeugung menschlicher Klone. Diese Debatte begann mit dem spektakulä-
ren Auftreten von Dolly, d. h. der von schottischen Tierzüchtern zum ersten
Mal erfolgreich betriebenen Herstellung eines Säugetiers mit dem identi-
schen Erbgut eines anderen, erwachsenen Tieres, und setzte deshalb so
schockartig ein und wird seitdem auch deshalb so hektisch geführt, weil
hier mit neuen gentechnischen Möglichkeiten auf einmal das, was ein für
allemal den menschlichen Einwirkungsmöglichkeiten entzogen schien,
nämlich die „künstliche“ Erzeugung eines Menschen, disponibel zu werden
Vom Nutzen der Philosophie 257

beginnt. Hier scheinen Grenzen zu fallen, die die Natur selbst gezogen hat.
Was ist gemeint, und ist diese Vorstellung richtig?
Die Erzeugung von Klonen ist die Erzeugung von Lebewesen mit glei-
chen Erbinformationen entweder durch Zellkernaustausch oder durch Tei-
lung von Embryonen im frühen Entwicklungsstadium. Klon sein bedeutet
also, dass der Genotyp zweier (oder mehrerer) Individuen, also das Erbgut,
identisch ist, was im übrigen nicht besagt, dass auch der Phänotyp, das sind
die vom Genotyp beeinflussten äußeren Merkmale, identisch sein muss.
Nicht alle Merkmale eines Organismus sind allein durch Genwirkung be-
stimmt; auch die Entwicklungsbedingungen eines Organismus, darunter im
menschlichen Falle kulturelle und soziale Bedingungen, spielen eine wich-
tige Rolle. Bei eineiigen (monozygoten) Zwillingen ist dies seit langem zu
studieren. Heute leben viele Millionen Menschen, die als (monozygote)
Zwillinge genetisch identische Geschwister haben. Dieser Hinweis macht
im übrigen deutlich, dass Klonbildung durchaus ein natürlicher Vorgang
ist; sie stellt einen in der Natur, z. B. bei Bakterien und Mikroorganismen
(Hefen, Pilzen, aber auch mehrzelligen Tieren), vorkommenden Vermeh-
rungsmechanismus dar. Neu ist allein, dass dieser Mechanismus, den wir
auch bei höheren Pflanzen beobachten können (z. B. sind alle Kartoffeln
eines Ackers Klone) „künstlich“, d. h. in Form eines Klonierungsverfah-
rens, auch auf höhere Säugetiere angewendet werden kann; und von ethi-
scher Relevanz ist die Frage, ob ein derartiges Verfahren auf den Men-
schen angewendet werden darf.
In der Regel wird – insbesondere wenn von theologischer Seite argu-
mentiert wird – das Klonen von Menschen als ein schwerer Verstoß gegen
die Menschenwürde aufgefasst, insofern hier die natürliche Individualität
des Menschen aufgehoben werde. Dabei wird vor allem auf das Selbst-
zwecksein des Menschen hingewiesen, das vor jeder Instrumentalisierung,
als die nun das Klonen von Menschen angesehen wird, geschützt werden
müsse. Das sind schwere Geschütze, gegen die kein argumentatives Kraut
mehr gewachsen zu sein scheint.
Nun bleibt zunächst einmal festzustellen, dass gegen das Klonen von
Menschen nicht die Übereinstimmung des Genoms des einen mit dem Ge-
nom des anderen spricht – auch Zwillinge sind schließlich Personen und als
solche Träger von Menschenwürde –, auch nicht das Klonierungsverfahren
selbst – schließlich gibt es in diesem Verfahren noch gar keine Person,
gegen deren Würde verstoßen werden könnte –, sondern allein „die Tatsa-
che, dass ein Mensch als Mittel zu einem Zweck hergestellt wird, der nicht
er selbst ist, und dass ihm zu diesem Zweck die genetische Gleichheit mit
einem anderen Menschen auferlegt wird“ (Eser u. a. 1997, 11). Dies wäre
z. B. beim Klonen aus Gründen von Organ- und Gewebespenden, d. h. der
Anlage individueller Organbanken, der Fall. Hier würde „die genetische
258 Jürgen Mittelstraß

Identität um eines Zweckes willen manipuliert, dem der hergestellte


Mensch dienen soll. Er soll der sein, dem sein Genom gleicht, oder existie-
ren, um durch seine genetische Gleichheit einem anderen zu dienen“ (ebd.).
Doch diese Vorstellung – der Klon als Ersatzteillager für den Klonierten –
ist ohnehin absurd, weil der Klon, ebenso wie der natürliche Zwilling,
selbstverständlich ein Individuum ist mit allen Rechten, die wir mit einem
Individuum verbinden. Dass hier der eine (der Klon) wie der andere (der
Klonierte) ist, ist schließlich ein Umstand, den wir bei monozygoten Zwil-
lingen seit langem gewohnt sind, ohne dass jemand auf den Gedanken ge-
kommen wäre, der eine sei (nur) für den anderen da. Auch Zwillinge sind
Personen wie jeder Nicht-Zwilling und darin von allen Gesetzen, die sich
aufgeklärte Gesellschaften geben, geschützte Individualitäten.
Im übrigen gibt es auch Argumente, die für das Klonen bzw. für die Be-
reitstellung einer derartigen Fortpflanzungsmöglichkeit sprechen. Was
nämlich wäre, wenn das Klonierungsverfahren bei der Behandlung von
Unfruchtbarkeit und zur Vermeidung schwerer genetischer Krankheiten
eingesetzt würde? Selbst der Wunsch nach einem Kind, das einem verlore-
nen ähnlich ist (vgl. Kitcher 1997, 336), könnte ein (zugelassener) Grund
für eine Anwendung des Klonierungsverfahrens sein. In diesen Fällen wür-
de weder gegen das Prinzip der Unverletzlichkeit der Würde des Menschen
noch gegen die damit zusammenhängende Bestimmung des Menschen als
Selbstzweck verstoßen. Dagegen spricht auch nicht die in diesem Zusam-
menhang gern zitierte Zweckeformel des Kategorischen Imperativs Kants,
also ein philosophisches Argument: „Handle so, daß du die Menschheit,
sowohl in deiner Person, als in der Person eines jeden andern, jederzeit
zugleich als Zweck, niemals bloß als Mittel brauchest“ (Kant 1956–1964,
IV, 61). Schließlich heißt es hier, dass eine Person nicht bloß als Mittel,
sondern immer auch als Zweck behandelt werden müsse. Von einem völli-
gen Ausblenden des Mittelaspekts ist hier nicht die Rede. Hieße es: nie und
unter keinen Umständen als Mittel, wäre z. B. jede menschliche Fortpflan-
zung moralisch verwerflich, weil sie stets, und auch der Akt, der zu ihr
führt, nicht nur durch die zukünftige Person als Zweck bestimmt ist. Wer
ein Kind zeugt, denkt nicht nur an das Glück des Kindes, sondern auch an
sein eigenes Glück. Oder anders formuliert: Nur völlige Weltfremdheit
ließe behaupten, dass es bei der Erzeugung eines Menschen bisher allein
um das Glück des Gezeugten ginge und nicht z. B. um das Glück der Eltern
oder den Ausgleich des Verlusts eines Kindes. Auch Thronfolger wurden
früher aus anderen Zwecken als denen ihres eigenen Glücks gezeugt (vgl.
Gethmann 1998, 2).
Damit ist aber – gegen allzu gewaltig daherkommende Argumente aus
dem Arsenal der Theologie und selbst der Philosophie (vgl. Birnbacher
1998, 114) – klar, dass das Klonen nicht an sich verwerflich ist, sondern
Vom Nutzen der Philosophie 259

nur im Zusammenhang mit bestimmten menschlichen Zwecksetzungen


(vgl. Gethmann 1998, 2). Es bleibt allerdings die grundsätzliche Frage, wie
viel Technik wir an die Stelle traditioneller und als natürlich empfundener
Verhaltensweisen setzen wollen. Schließlich verändern sich mit der Tech-
nik des Klonens nicht nur künftige Generationen, sondern wir verändern
uns auch selbst, zumindest in unserem Selbstverständnis. Mit anderen
Worten: Wo Grenzen überschritten werden, die bisher wie bei der mensch-
lichen Reproduktion durch die Natur selbst gesetzt schienen, muss eben
sehr genau, ohne Rekurs auf individuelle Intuitionen oder ideologische
bzw. weltanschauliche Voreingenommenheiten, erörtert werden, wo derar-
tige Grenzen in Zukunft liegen sollen. Auch Grenzen der Machbarkeit
wären in diesem Sinne gemachte Grenzen, d. h. durch den Menschen ge-
setzte, ethische Grenzen. Schließlich ist der Mensch ein maßloses Wesen,
das nur unter Maßen leben kann. Diese genau zu bestimmen, und damit
auch die richtigen Grenzen zu setzen, aber ist schwer, und das selbst dort,
wo sie, wie im Falle unseres Beispiels, für viele, aus welchen Gründen
auch immer, schon klar zu sein scheinen.
Warum in unserem Zusammenhang, im Zusammenhang der Frage
nach dem Nutzen der Philosophie, dieses Beispiel? Es zeigt auf eine gera-
dezu dramatische Weise, wie sich in der modernen Welt wissenschaftliche,
gesellschaftliche und politische Problemlagen, und über diese hinaus, je
nach Perspektive, viele andere, miteinander verbinden, und zwar so, dass
weder der wissenschaftliche, noch der gesellschaftliche, noch der politi-
sche, geschweige denn der weltanschauliche Verstand allein in der Lage
wären, die betreffenden Probleme zu lösen. So führen die neuen Möglich-
keiten der Gentechnik und der Reproduktionsmedizin in Situationen, in
denen nicht nur ein partikularisierter Sachverstand an seine Grenzen stößt,
sondern auch Orientierungsdefizite auftreten, die nicht einfach durch ein
überkommenes Denken, in seiner ganzen Breite vom wissenschaftlichen
bis zum weltanschaulichen Denken, bewältigt werden können. Es ist ja,
nebenbei gesagt, häufig gerade dieses Denken, das in entsprechende Ver-
legenheiten führt. Man könnte auch sagen: Wir graben mit unserem parti-
kularen Wissen Tunnel in den Berg, der die Welt ist, und wir begreifen
tunnelblind den Berg nicht mehr.
Hier ist, und auch das sollte das Beispiel vor Augen führen, die Philo-
sophie, jedenfalls in ihrer zuvor beschriebenen Form als ein begründungs-
orientiertes, nicht tunnelblindes Denken, aufgefordert, ihren Teil zur Lö-
sung entsprechender Probleme, die oft auch Orientierungsprobleme sind,
und Schwierigkeiten, die stets auch begriffliche Schwierigkeiten sind, bei-
zutragen. Oder bescheidener formuliert: Hier liegen Aufgaben, die sich
auch die Philosophie zu Eigen machen sollte. Tut sie dies nicht, und zwar
auf eine ihrem begründungsorientierten Wesen entsprechende Weise, geht
260 Jürgen Mittelstraß

sie an ihren wesentlichen Aufgaben vorbei und macht sie sich im Grunde,
sowohl aus der Sicht der Welt als auch aus ihrer eigenen, wohlverstande-
nen Sicht, überflüssig. Denn welche Aufgabe, welchen Nutzen könnte eine
Philosophie noch haben, die über den eigenen, selbst gestellten Problemen
die Probleme einer gemeinsamen Welt vergisst bzw. der es nicht mehr
gelingt, ihre Probleme mit gemeinsamen Problemen zu verbinden? Das
mag sehr rigoros klingen, hat aber direkt etwas mit jenen Legitima-
tionsproblemen zu tun, denen sich auch in anderen Zusammenhängen der
philosophische Verstand durch den wissenschaftlichen und den lebenswelt-
lichen Verstand ausgesetzt sieht. Im übrigen, um noch einmal auf das Bei-
spiel zurückzukommen, ging es hier nicht darum, für das reproduktive
Klonen zu werben – dessen Möglichkeit, auf das humane Klonen bezogen,
ohnehin noch in den (wissenschaftlichen) Sternen steht –, sondern allein
darum, mit philosophischen Mitteln, d. h. auf eine philosophisch reflektier-
te, „voraussetzungslose“ Weise, zu zeigen, dass die wesentlichen, bisher
gegen diese Form der Fortpflanzung vorgetragenen Argumente genauer
betrachtet nicht greifen. Auch das gehört zu den wohlverstandenen Aufga-
ben einer weltzugewandten Philosophie.

III. Philosophie und Bildung

„Es ist ein altes Vorurteil, dass das, wodurch sich der Mensch von dem
Tiere unterscheidet, das Denken ist; wir wollen dabei bleiben“ (Hegel
1970, 23). Hegels Diktum aus seinen Berliner Vorlesungen über die
Geschichte der Philosophie wiederholt die klassische Definition des Men-
schen als eines vernünftigen Wesens (animal rationale) und weist der Phi-
losophie gleichzeitig die Rolle zu, institutionalisierter Ausdruck dieser
Definition zu sein. Dies ist ein hoher Anspruch; vielleicht ein zu hoher
Anspruch, neben dem die Enttäuschung wohnt. Und doch drückt sich gera-
de in ihm jene zuvor hervorgehobene Auffassung von Philosophie als eines
in einer bestimmten Weise voraussetzungslosen, allein begründungsorien-
tierten Denkens aus. Das heißt: Besonderheit und aus dieser Besonderheit
abgeleitete Aufgabe des philosophischen Denkens bzw. einer in dieser
Weise identifizierbaren philosophischen Rationalität liegen (noch einmal)
darin, auch dort noch in analytischer und konstruktiver Form auf Klarheit
zu dringen, wo sich das alltägliche und das wissenschaftliche Bewusstsein
mit gewohnten und in diesem Sinne auch akzeptierten Überzeugungen
schon zufriedengegeben hat.
Daher konnte die Philosophie ihren Anspruch, begründungsorientiertes
Denken zu sein, bzw. ihren Anspruch auf begründete Orientierungen in
ihrer langen europäischen Geschichte am überzeugendsten stets in der
Vom Nutzen der Philosophie 261

Rolle von Aufklärung – gegenüber mythischen Lebensformen, fixen Welt-


bildern und repressiven Institutionen – zur Geltung bringen. Philosophi-
sche Reflexivität also im Wesentlichen als Widerstand, als etwas das Be-
stehende zur Disposition Stellende, als das das Selbstverständliche zum
Tanzen Bringende? Auch dies war und ist gewiss eine wichtige Rolle der
Philosophie. Nur beschränkt sich diese nicht auf eine Kritik oder Demon-
tage des Bestehenden; vielmehr orientiert sie sich stets an der Idee des
Menschen als eines Vernunftwesens bzw. an der Idee vernünftiger Ver-
hältnisse. Nicht subjektive Neigungen, nicht dominante Entwicklungen
oder ideologische Verhältnisse sollen die Organisation unserer Verhältnis-
se, der wissenschaftlichen ebenso wie der lebensweltlichen Verhältnisse,
bestimmen, sondern allein das Denken. Denken hier aufgefasst als begriff-
liche Arbeit und als Orientierungsleistung, als – wie die Philosophie sagt –
theoretische und praktische Vernunft.
In Kants Analyse unter der Frage: „Was heißt: sich im Denken orien-
tieren?“ führt dies auf den Begriff des „Vernunftglaubens“ (Kant 1956–
1964, III, 276).2 Darunter ist ein Glaube verstanden, „welcher sich auf
keine andere Data gründet, als die, so in der reinen Vernunft enthalten
sind“ (ebd.):

„Ein reiner Vernunftglaube ist also der Wegweiser oder Kompaß, wodurch der
spekulative Denker sich auf seinen Vernunftstreifereien im Felde übersinnli-
cher Gegenstände orientieren, der Mensch von gemeiner doch (moralisch) ge-
sunder Vernunft aber seinen Weg, so wohl in theoretischer als praktischer Ab-
sicht, dem ganzen Zwecke seiner Bestimmung völlig angemessen vorzeichnen
kann“ (ebd., 277).

„Freiheit im Denken“ setzt entsprechend „die Unterwerfung der Vernunft


unter keine andere Gesetze als: die sie sich selbst gibt“ (ebd., 281), voraus,
d. h., Vernunft muss nach Kant methodisch und begründungsorientiert
verfahren. Wo dies nicht der Fall ist, „zerstört Freiheit im Denken […]
endlich sich selbst“ (ebd., 282). Der Begriff des Vernunftglaubens steht
hier folglich nicht für die bloße Hoffnung, dass das, was ist, vernünftig ist
(Hegel), sondern für den entschiedenen Willen, Vernunft, eine auf begrün-
dete Orientierungen verpflichtete Vernunft, in allen Verhältnissen – wis-
senschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen Verhältnissen, und natürlich
auch in den philosophischen Verhältnissen selbst – durchzusetzen. Die
Frage, wann sich sagen lässt, dass etwas vernünftig sei, ist dann nur unter
Rekurs auf die Leistungen der Vernunft selbst (unter den genannten Be-
stimmungen) beantwortbar.

2
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1981, 119 f.
262 Jürgen Mittelstraß

Dem Begriff des Vernunftglaubens, wie ihn Kant versteht, ist der Be-
griff eines Vernunftinteresses zuzuordnen. Dieses Interesse besagt, Ziele
und Handlungsregeln vernunftorientiert auszuarbeiten. Gegensatz dieses
Interesses wäre ein solches, das sich allein auf subjektive oder auch soge-
nannte objektive Zwecke stützt. In der Wendung „sich im Denken orientie-
ren“ ist das Denken stets in einem emphatischen Sinne als ein vernunftori-
entiertes Denken begriffen. Insofern lässt sich auch sagen, dass die Sache
der Philosophie in der Entwicklung und in der Durchsetzung eines ver-
nunftorientierten Denkens besteht.
Tatsächlich – und das war gemeint, wenn es hieß, dass neben einem
hohen Anspruch, der sich in diesem Sinne mit der Philosophie verbindet,
die Enttäuschung wohnt – kommt die Philosophie einer derartigen Aufgabe
nur noch in wenigen Fällen nach. Wer sich heute in einer philosophischen
Bibliothek umsieht, versieht sich unversehens in die Geschichte versetzt.
An die Stelle einer systematischen Bildung steht heute im wesentlichen
eine historische Bildung, und selbst wo philosophische Titel – über Gott
und die Welt, das Leben und den Tod – systematische Reflexionen erwar-
ten lassen, verbirgt sich hinter ihnen meist doch nur eine historische Ana-
lyse (z. B. über Gott bei Thomas von Aquin, die Welt bei Kant, das Leben
bei Nietzsche oder den Tod bei Heidegger). Wie schon gesagt: der Philo-
sophiebegriff der philosophischen Forschung entspricht heute weitgehend
dem Philosophiebegriff der Philosophiegeschichtsschreibung. Diese liest,
aber denkt nicht, interpretiert, aber begreift nicht. Kants spöttische Bemer-
kung, dass den Gelehrten, „die aus den Quellen der Vernunft selbst zu
schöpfen bemüht sind“, solche gegenüberstehen, „denen die Geschichte
der Philosophie (der alten sowohl als neuen) selbst ihre Philosophie ist“
(Kant 1956–1964, III, 113), ist aktueller denn je. Man könnte auch sagen,
dass die Philosophie weitgehend zu einer Geisteswissenschaft geworden
ist; sie denkt und forscht wie diese, nämlich historisch, philologisch und
hermeneutisch. Dafür gibt es wiederum historische Gründe. Die im 19.
Jahrhundert erfolgende Akademisierung der Philosophie, die ihre Einord-
nung in die Geisteswissenschaften und ihre Institutionalisierung in einer
von den Naturwissenschaften „befreiten“ Philosophischen Fakultät bedeu-
tete, hat die Philosophie domestiziert, ihren Handlungsspielraum und ihre
konstruktive Kraft eingeschränkt. Die Philosophie ist unter das Joch histo-
rischer und philologischer Methodenideale geraten und liebt diese seither
mehr als ihre eigene analytische und konstruktive Kraft.
Auch die Philosophischen Fakultäten, in denen es heute durch die
Bank geisteswissenschaftlich zugeht, haben, so scheint es, ihre Zukunft
schon hinter sich. Diese lag einmal in der Artistenfakultät der europäischen
Tradition, die das heimliche Herz und zugleich der Kopf der Universität
war. Kants selbstbewusste Darstellung dieser Fakultät erscheint nunmehr
Vom Nutzen der Philosophie 263

als der hübsche Einfall eines Philosophen, dessen Vorstellungen der histo-
risierende Fleiß längst eingeholt hat:

„Auf einer Universität muss […] eine philosophische Fakultät sein. In Anse-
hung der drei obern dient sie dazu, sie zu kontrollieren und ihnen eben da-
durch nützlich zu werden, weil auf Wahrheit (der wesentlichen und ersten Be-
dingung der Gelehrsamkeit überhaupt) alles ankommt; die Nützlichkeit aber,
welche die oberen Fakultäten zum Behuf der Regierung versprechen, nur ein
Moment vom zweiten Range ist. – Auch kann man allenfalls der theologischen
Fakultät den stolzen Anspruch, daß die philosophische ihre Magd sei, einräu-
men (wobei doch noch immer die Frage bleibt: ob diese ihrer gnädigen Frau
die Fackel vorträgt oder die Schleppe nachträgt); wenn man sie nur nicht ver-
jagt, oder ihr den Mund zubindet; denn eben diese Anspruchslosigkeit, bloß
frei zu sein, aber auch frei zu lassen, bloß die Wahrheit, zum Vorteil jeder
Wissenschaft, auszumitteln und sie zum beliebigen Gebrauch der oberen Fa-
kultäten hinzustellen, muß sie der Regierung selbst als unverdächtig ja als un-
entbehrlich empfehlen.“ (Kant 1956–1964, VI, 290 f.)

Auf Wahrheit kommt in der Tat alles an. Nur nicht länger in einer Philoso-
phischen Fakultät, die eine geisteswissenschaftliche geworden ist?
Kant vertritt den anspruchsvollen Begriff einer Philosophie vor ihrer
Entmündigung: durch die empirischen Wissenschaften, denen nunmehr die
Natur verlässlicher und geordneter erscheint als der Geist, und durch die
Geisteswissenschaften, die den Geist erst wahrnehmen wollen, wenn er alt,
d. h. Teil der Geschichte oder gesicherter historischer Bestände, geworden
ist. Kant wäre wohl der erste gewesen, der die Philosophie aus einer Uni-
versität herausgeführt hätte, die ihren Abschied nicht nur von der Universi-
tät Kants, sondern auch von der Universität Humboldts genommen hat
(dazu gleich) und in diesen nur noch Mythen des universitären Geistes,
etwa den Mythos Humboldt, wahrzunehmen vermag.
Damit verbindet sich das Schicksal der Philosophie in einem gewissen
Sinne mit dem Schicksal der Universität. Ein anderes Stichwort dafür lau-
tet, die Philosophie einschließend, Bildung durch Wissenschaft. Es ist vor
allem dieses Stichwort, mit dem Humboldt beschworen wird, dessen Uni-
versitätsreform durchaus in einem Kantischen Geiste erfolgte. Auch von
dieser Reform aber ist nicht viel übrig geblieben. Auf den Gesichtspunkt
Bildung durch Wissenschaft bezogen ist die faktisch bestehende Situation
die, dass im allgemeinen öffentlichen Bewusstsein, aber auch im Bewusst-
sein der Universität selbst, Wissenschaft und Bildung weitgehend vonein-
ander entkoppelt sind.3 Die Vermittlung einer wissenschaftlichen Arbeits-
form, der die moderne Welt ihr Wesen verdankt, und – wenn es sie denn

3
Vgl. zum Folgenden Mittelstraß 1999, 22–25.
264 Jürgen Mittelstraß

noch geben sollte – einer wissenschaftlichen Lebensform mit den nicht-


wissenschaftlichen Arbeits- und Lebensformen der Gesellschaft gehört
schon lange nicht mehr zu den von der Universität wahrgenommenen Auf-
gaben. Ausbildung im üblichen, Sachverstand und Expertentum auf nur
noch begrenzten Feldern vermittelnden Sinne ist an die Stelle einer Einheit
von Forschung, Lehre und Bildung getreten. In einer Welt, die ihre Bil-
dungs- und Ausbildungsgewohnheiten vornehmlich an Märkten orientiert
und in der sich der Wissenschaftler nicht mehr als Träger einer allgemei-
nen Bildungsidee versteht, hat die Vorstellung, dass Bildung sich an den
Idealen einer durch Wissenschaft aufgeklärten Gesellschaft orientiert,
kaum mehr eine Chance.
Dabei wird sich Bildung gewiss nicht mehr auf die aufklärerische Vor-
stellung berufen können, dass allein das wissenschaftliche Bewusstsein
wahrhaft gebildet ist. Sie wäre aber auch als eine mehr oder weniger betu-
liche Alternative zur fortschreitenden Verwissenschaftlichung der Welt
gründlich missverstanden. Bildung hat schließlich stets etwas mit dem
Wesen einer rationalen Kultur, anspruchsvoll formuliert: mit Identitäts-
findung in einer rationalen Kultur zu tun. Sie ist ein Medium, in dem es
dem Einzelnen, der Subjektivität, gelingen soll, in seiner besonderen Le-
bensform das Allgemeine (im Sinne einer überwundenen reinen Subjektivi-
tät) zu verwirklichen. Das gilt auch in einer Welt, in der der wissenschaft-
liche Verstand herrscht, und das könnte daher auch, in eins mit dem
wissenschaftlichen Verstand, die Stunde der Philosophie in der Universität
und weit über die Universität hinaus sein. Ihre Rationalitätsform als be-
gründungsorientiertes Denken und spezifische philosophische Reflexivität
ist schließlich auch eine – auf wissenschaftliche und durch Wissenschaft
geprägte Verhältnisse abgestimmte – Bildungsform.
Die Philosophie hat sich eine Erinnerung an den Zusammenhang von
Wissenschaft und Bildung bewahrt, aber sie lebt diesen Zusammenhang
nicht mehr, jedenfalls nicht in einem ihr eigenes Bild in der Wissenschaft
und in der Öffentlichkeit prägenden Maße. Davon zeugen, wie erwähnt, ihr
dominantes historisches Interesse, eine weitverbreitete Unklarheit über die
Wahrnehmung eines begründungsorientierten Interesses und die mangeln-
de Durchsetzungsfähigkeit eines, wie Kant sagt, Vernunftglaubens. Von
eben diesem bzw. von der Wirklichkeit einer begründungsorientierten, im
erläuterten Sinne voraussetzungsfreien philosophischen Rationalität aber
wird weitgehend die Zukunft der modernen Welt abhängen. Diese erweist
sich derzeit als eine Welt, die in ihren Wissenschafts- und Technikstruktu-
ren stark, in ihren Orientierungsstrukturen aber eigentümlich schwach ist.
Gemeint sind begründete Orientierungen, also auch und gerade solche, die
es einer durch Wissenschaft und Technik geprägten Welt, in diesem Sinne
technischen Kulturen, ermöglichen, mit ihren eigentümlichen Schwierig-
Vom Nutzen der Philosophie 265

keiten fertig zu werden. Die Entwicklung von Biologie und Medizin


(Stichwort: Klonen) war als ein Beispiel derartiger Schwierigkeiten ange-
führt worden. Hier helfen nicht noch mehr Wissenschaft und noch mehr
Technik weiter, sondern nur ein kluger Umgang mit wissenschaftlichen
und technischen Entwicklungen.
Das aber macht noch einmal deutlich, welche Aufgaben der Philoso-
phie in der modernen Welt zufallen könnten, wenn diese nur willens ist,
derartige Aufgaben auch wirklich zu übernehmen. Dass sie dazu fähig
wäre, ja dass eine derartige Orientierung eigentlich mit ihrem wohlverstan-
denen Wesen aufs engste zusammenhängt, sollten die hier angestellten
Überlegungen zum Können und zum Sollen der Philosophie, damit auch
zum Nutzen der Philosophie, deutlich machen. Philosophie, so Lichtenberg
in seinen Sudelbüchern, „ist immer Scheidekunst“ (Lichtenberg 1967–
1974, II, 393) – mit dem richtigen Unterscheiden fängt alle Orientierung
an, und in der Orientierung liegt der Nutzen der Philosophie.

Literatur

Birnbacher, D., 1998: Die Fortpflanzung hat ihre Unschuld verloren. Ein Gespräch, in:
Information Philosophie, H. 3/1998, 112–116.
Eser, A., u. a., 1997: Klonierung beim Menschen. Biologische Grundlagen und ethisch-
rechtliche Bewertung. Stellungnahme für den Rat für Forschung, Technologie und
Innovation, Bonn.
Gethmann, C.F., 1998: Ethische Argumente gegen das Klonieren von Menschen, in:
Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissenschaftlich-technischer
Entwicklungen Bad Neuenahr-Ahrweiler GmbH. Akademie-Brief Nr. 9 (4/1998),
1–3.
—, 2011: Die interdisziplinäre Funktion der Philosophie (Ethics of Science and Tech-
nology Assessment, 30), Heidelberg/Berlin/New York. [im Druck]
Hegel, G. W. F., 1970: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in
zwanzig Bänden, hg. v. E. Moldenhauer/K.M. Michel, Bd. XVIII, Frankfurt/M.
Kant, I., 1956–1964: Werke in sechs Bänden, hg. v. W. Weischedel, Frankfurt/Darmstadt.
Hierin bes.:
– Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird
auftreten können, Bd. III, 109–264.
– Was heißt: sich im Denken orientieren? Bd. III, 265–283.
í Logik, Bd. III, 417–582.
í Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, Bd. IV, 7–102.
í Der Streit der Fakultäten in drey Abschnitten, Bd. VI, 261–393.
Kitcher, Ph., 1997: The Lives to Come. The Genetic Revolution and Human Possibili-
ties, New York.
Lichtenberg, G. Chr., 1967–1974: Schriften und Briefe, 4 Bde., hg. v. W. Promies,
München/Darmstadt.
266 Jürgen Mittelstraß

Mittelstraß, J., 1981: Was heißt: sich im Denken orientieren?, in: O. Schwemmer (Hg.),
Vernunft, Handlung und Erfahrung. Über die Grundlagen und Ziele der Wissen-
schaften, München, 117–132.
—, 1995: Art. Philosophie, in: Mittelstraß, J. (Hg.), Enzyklopädie Philosophie und
Wissenschaftstheorie, III, Stuttgart/Weimar.
—, 1999: Philosophie in der Universität, in: K. Buchholz u. a. (Hg.), Wege zur Ver-
nunft. Philosophieren zwischen Tätigkeit und Reflexion, Frankfurt/M., 17–25.
Morgenstern, Chr., 1987–2001: Werke und Briefe. Kommentierte Ausgabe, 6 Bde., hg.
v. R. Habel u. a., Stuttgart.
Platon, 1990: Werke in 8 Bänden. Griechisch und Deutsch (Sonderausgabe), hg. v.
G. Eigler, Darmstadt.
Wittgenstein, L., 1960: Tractatus-Logico-Philosophicus. Logisch-philosophische Ab-
handlung (11921), Frankfurt/M.
Fragen, die keiner braucht?
Zur Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem

Martin Thomé

Das Wissenschaftsjahr 2007, das achte, das vom Bundeministerium für


Bildung und Forschung ausgerufen wurde, war ein Sonderfall in der Reihe
der Wissenschaftsjahre: Erstmals war es nicht einem einzelnen klar umris-
senen Fach gewidmet, sondern den Geisteswissenschaften insgesamt, also
einem ganzen Strauß von Fächern – je nach Zählung bis zu 97 – die sich
mit der Deutung und Erschließung der Hervorbringungen menschlichen
Geistes beschäftigen. Eine solche Vielfalt erschien einerseits diffus, ande-
rerseits aber auch als die große Chance der Geisteswissenschaften, insge-
samt und in ihren vielfältigen Bezogenheiten aufeinander öffentlich sicht-
bar zu werden und ihre Bedeutung für die Gesellschaft in einen breiten
Diskurs einzuspeisen.
Um es gleich zu sagen: Die Geisteswissenschaften haben diese Gele-
genheit genutzt und sich unter dem Motto des Jahres ‚Die Geisteswissen-
schaften – ABC der Menschheit‘ quer durch alle Fächer mit weit über tau-
send Veranstaltungen bundesweit beteiligt. Sie haben Ausstellungen und
öffentliche Vorlesungen organisiert, haben szenische Lesungen und audio-
visuelle Umsetzungen ihrer Themen entwickelt, sie haben aktiv Debatten
rund um zentrale Themen wie Arbeitsmarkt, interkulturelle Verständigung
oder die Zukunft des Sozialstaates initiiert.1
Zugleich aber wurde in jenem Jahr deutlich, dass die Geisteswissen-
schaften nach wie vor ein höchst disparates Bild abgeben – ihre Vielfalt ist
ihre Stärke, aber zugleich auch eines ihrer Probleme: Sichtbar wird Wis-
senschaft ja meist dann, wenn sie mit einer starken Stimme spricht und mit
vereinten Kräften Lösungen für die großen Probleme der jeweiligen Zeit
und aktuellen Weltlage vorstellt. Es wird noch einmal hierauf zurückzu-
kommen sein – an dieser Stelle genüge der Hinweis auf dieses Charakteris-
tikum der weithin sichtbaren Wissenschaften, die gegenwärtig zumeist mit
den Naturwissenschaften identisch sind.
Geisteswissenschaften dagegen werden als einzelne viel weniger of-
fensichtlich und öffentlich sichtbar, sie bleiben zumeist knapp unterhalb

1
Näheres auf der Website des Wissenschaftsjahres: www.abc-der-menschheit.de
268 Martin Thomé

der Wahrnehmungsschwelle: weil sie eben nicht die großen Antworten


anbieten, sondern an vielen ‚kleinen‘ Lösungen arbeiten; sie bauen an vie-
len unterschiedlichen Stellen an dem Puzzle, das unsere Lebenswelt aus-
macht und das man nur von weitem als Gesamtbild erkennt. Die Frage
nach den Geisteswissenschaften und ihrer Bedeutung in der Gesellschaft
stellt sich damit als die Frage nach der Möglichkeit einer Gesamtperspekti-
ve – und dieser Anspruch ist seit jeher der der Philosophie: Das Gesamt
der Wirklichkeit in den Blick zu nehmen, den Überblick zu gewinnen und
zu beschreiben, die Grundfragen zu stellen, die dem ganzen Puzzle, dem
Zusammenspiel der Einzelteile, aus denen sich unsere Wahrnehmung der
und unser Umgang mit der Wirklichkeit zusammensetzen, ein Gesicht und
eine Gestalt geben. ‚Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr
nichts?‘ – diese Grundfrage der Philosophie illustriert ihre Perspektive:
Grundsätzlicher kann man kaum mehr fragen, umfassender kann man die
Wirklichkeit kaum in den Blick nehmen, als es in dieser Frage beschlossen
liegt.2 Wenn wir also nach der Philosophie fragen und ihrem Warum, dann
stellen wir eben auch die Frage, ob eine solche grundsätzliche Perspektive
noch sinnvoll ist, ob sie sich noch ‚lohnt‘, derart fundamental zu fragen
und beharrlich davon auszugehen, dass eine wie auch immer geartete Ge-
samtperspektive auf die Wirklichkeit grundsätzlich möglich, ja sinnvoll
und angezeigt sei.3 Und bezogen auf die Rolle der Philosophie im Wissen-

2
Es soll damit nun keineswegs gesagt werden, dass alle Philosophie sich dauernd nur
mit dieser Grundfrage befasse. Philosophie ist selbst wieder in zahlreiche Disziplinen
und Untergliederungen differenziert – ‚die‘ Philosophie gibt es in dem Sinne nicht.
Gleichwohl aber darf sicher angenommen werden, dass die Fragen, mit denen sich die
verschiedenen Disziplinen und Anwendungsgebiete der Philosophie befassen, ihren
grundlegenden Impetus eben daraus haben: Dass sie alle nämlich zu ihren Fragestel-
lungen und ihren Weisen der Wirklichkeitsbeschreibung dadurch gelangen, dass sie
sich aus dem Anfang jener Grundfrage an die Sachverhalte herantasten. Philosophie
in diesem Sinne ist durchaus ‚eine‘ – nämlich eine Wissenschaft, die die Grundfrage
des menschlichen Wirklichkeitsverhältnisses in ihren vielfältigen Differenzierungen
und Ableitungen je eigens zu stellen und durchzuführen versucht.
3
Natürlich wird hier keineswegs einem leichtfertigen Integralismus das Wort geredet,
auch soll nicht einer längst sowohl gedanklich als auch praktisch überholten Einheit-
lichkeit der Wirklichkeit sentimentalerweise nachgetrauert werden. Gleichwohl aber
ist es m.E. sinnvoll, den Grundimpuls der Philosophie – die Frage nach dem integrati-
ven Moment in der Vielfalt und Desintegriertheit der Wirklichkeit – im Auge zu be-
halten und vielleicht gerader in einer Zeit, die die gesellschaftlichen Konsequenzen
der nicht mehr hintergehbaren Desintegration durchaus auch schmerzhaft zu spüren
beginnt, nach neuen Ansätzen für eine „Integrative Wissenschaft“ zu suchen, die jen-
seits von Nivellierung und Rückwärtsgewandtheit weiterführende Fragen zu stellen
versucht. Vgl. hierzu u. a. die Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft für Integrative Wissenschaft (Daiseion-ji e.V. 2006–2009).
Fragen, die keiner braucht? 269

schaftssystem fragt sich an dieser Stelle: Kann ein Wissenschaftssystem


sich solche Grund-Fragen überhaupt leisten? Will es sie, kann oder sollte
es sie vielleicht sogar wollen? Und wenn ja: Wie müsste, wie könnte Phi-
losophie heute ansetzen, um sich in dieser Rolle des Fragenstellens zu
entwickeln und zu bewähren?
Ein erster Blick auf die Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem
zeigt ein eher düsteres Bild: An den Universitäten vielfach in eine Nische
abgedrängt, aus den Exzellenzclustern weitgehend herausgefallen, macht
sie schon hier, in ihrer ureigenen Heimat, nicht mehr sehr viel her, wird sie
vielerorts als eine zwar noch ansehnliche, aber eben doch eher durch ihren
exotischen Charakter als durch ihre fruchttragende Nützlichkeit ausgewie-
sene Orchidee angesehen. Dazu kommt, dass es in keiner der vier großen
außeruniversitären Forschungsorganisationen – Max-Planck-Gesellschaft,
Fraunhofer-Gesellschaft, Helmholtz-Gemeinschaft und Leibniz-Gemein-
schaft – ein philosophisches Institut gibt und die Philosophie allenfalls in
den Akademien der Wissenschaften und deren Programmen außeruniversi-
tär vorkommt, dazu noch in einigen verstreuten Instituten wie etwa im For-
schungsinstitut für Philosophie in Hannover, in einigen privat gegründeten
und unterhaltenen Spezialinstituten und in den mittlerweile allerdings recht
zahlreichen philosophischen Praxen.4 Kurz: kein sehr rosiges Bild vom
Vorkommen der Philosophie im Wissenschaftssystem. Aber – und das ist
der Punkt, von dem die folgenden Überlegungen entfaltet werden sollen –
vielleicht ist der Wunsch nach einer ‚systemischen‘ Verortung der Philoso-
phie in diesem Wissenschaftssystem ja auch gar nicht der Wunsch, den man
der Philosophie wünschen möchte, gar nicht die Perspektive, die ihr wirk-
lich angemessen wäre? Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Es
folgt an dieser Stelle kein Plädoyer für die ‚luxuriöse Unwahrscheinlich-
keit‘ der Philosophie, die sich nicht gemein machen sollte mit einem maro-
den und geschlossenen Wissenschaftssystem, sondern ihr Draußen vor der
Tür in lebhafter Einsamkeit vor sich hin kultivieren möge. Vielmehr soll
deutlich gemacht werden, dass Philosophie tatsächlich eine maßgebliche

4
Gerade das zunehmende Florieren der Philosophischen Praxis als eigener Vermitt-
lungs- und Anwendungsform der Philosophie jenseits der akademischen An- und
Einbindung kann als ein Indiz dafür gelesen werden, dass das Bedürfnis nach Philoso-
phie in der Gesellschaft durchaus groß ist und viele Menschen sich von der Philo-
sophie diejenige Orientierungsstiftung erwarten, die sie in ihrer Lebenswelt zuneh-
mend vermissen. Wenn auch das Niveau und die Leistungsfähigkeit der Philoso-
phischen Praktiker durchaus unterschiedlich sein mögen, so verdient das Phänomen
als solches Aufmerksamkeit, spiegelt sich in ihm doch ein Aspekt von Philosophie
wider, der – cum grano salis – weder in einem reinen Nutzenkalkül noch in einer el-
fenbeinturmenen Selbstgenügsamkeit aufgeht.
270 Martin Thomé

Rolle in diesem Wissenschaftssystem spielt und zu spielen hat – allerdings


so, dass die Umrisse dieser Rolle von einer anderen Perspektive als der
Konfrontation oder dem Jammer her zu zeichnen sind.
Die Frage nach der Rolle von Philosophie im Wissenschaftssystem
kann mit einigen Gründen zurückgeführt werden auf die Frage, welche
Rolle die Philosophie eigentlich unter (und gegenüber) den Wissenschaften
insgesamt spielt oder spielen könnte, welche Bedeutung ihr zukommen
könnte im Gesamt der Voraussetzungen und Konsequenzen von Wissen-
schaft heute, ihrem Selbstverständnis und ihrer Außenansicht. Und deshalb
sollen zunächst einige Anfragen an dieses Selbstverständnis und dieses
Fremdbild von Wissenschaft formuliert werden – in einer Gesellschaft, die
wie keine andere zuvor durch Wissenschaft geprägt, von ihr beeinflusst ist
und die selbst wiederum die Wissenschaft durch ihre Ansprüche und Er-
wartungen massiv prägt und beeinflusst.5
Im November 2006 erschien ein von Julian Nida-Rümelin herausgege-
benes Buch, das einiges Licht auf unser Thema werfen kann. Unter dem
vielsagenden Titel Wunschmaschine Wissenschaft6 loten 27 Wissenschaft-
ler in pointierten Beiträgen die Frage aus, was gegenwärtig aus Politik,
Wirtschaft, Medien und den diversen gesellschaftlichen Gruppen an An-
sprüchen und Wünschen an die Wissenschaft herangetragen wird – die, das
vergisst der Herausgeber im Vorwort nicht zu betonen, selbst eigentlich
vor allem den Wunsch hat, in Ruhe gelassen und vor weiteren Wünschen
verschont zu werden.
Und in der Tat: Wissenschaft hat in der Gegenwart in vieler Hinsicht
tatsächlich die Rolle einer ‚Wunschmaschine‘ erhalten (und sicher auch
zum Teil selbst eingenommen, ja gewählt): Wissenschaft ist für viele Men-
schen so etwas wie ein deus ex machina geworden, eine black box, in die
man ein Problem hineingibt und am Ausgang die gewünschte Lösung er-
hält. Was soll die Wissenschaft nicht alles richten: den Klimawandel, den
CO2-Ausstoß, das Bruttosozialprodukt und die gerechte Verteilung der
Ressourcen auf der Erde, die optimale Bildung für alle und die Automati-
sierung ungeliebter Dienstleistungen, die saubere Energiegewinnung und
den friedlichen Dialog zwischen den Kulturen: Überall hier und vielerorts
mehr wird wie selbstverständlich ‚die Wissenschaft‘ herangezogen und in
Dienst genommen, man wünscht sich von ihr Antworten auf alle Fragen –
fast so wie in dem alten Wiener Straßensängerlied: „Der Papa wird’s scho
richtn, dös g’hert zu seine Pflichten als Papa.“

5
Eben dieses spannungsvolle und vieldimensionale Wechselverhältnis war eines der
zentralen Themen des Wissenschaftsjahres 2009 „Forschungsexpedition Deutsch-
land“; vgl. auch www.forschungsexpedition.de.
6
Vgl. Nida-Rümelin 2006.
Fragen, die keiner braucht? 271

Das rührt sicher ein wenig auch daher, dass vor gar nicht so langer Zeit
viele Wissenschaftler der Ansicht waren, Stephen Hawking habe recht mit
seiner These, dass man in einigen Jahren die Weltformel entdecken werde,
mit der sich alle stellbaren Fragen beantworten ließen. Hawking hat, wie
wir wissen, diese Vermutung mittlerweile revidiert – und damit ein wenig
Unsicherheit in die Allmachtsideen der Wissenschaft gebracht. Und damit
sind wir, was die Reichweite der Wissenschaft und ihrer Antworten angeht,
allem Anschein nach nicht wesentlich weiter als an dem Punkt, den Lud-
wig Wittgenstein im Tractatus Logico-Philosophicus unter der Num-
mer 6.52 formuliert hat: „Wir fühlen, dass selbst wenn alle möglichen wis-
senschaftlichen Fragen beantwortet sind, unsere Lebensprobleme noch gar
nicht berührt sind. Freilich bleibt dann eben keine Frage mehr; und eben
dies ist die Antwort.“7
Vielleicht aber – und das wäre eine erste weiterführende Frage – ist ge-
rade ihre Indienstnahme als Antwortmaschine der Wissenschaft mittlerwei-
le fast schon zum Verhängnis geworden?
Denn zum einen kann man auch in diesem enger gefassten Sinne kaum
noch von ‚der‘ Wissenschaft sprechen. Wissenschaft ist längst schon in
eine Vielzahl von kleinen und kleinsten Fachbereichen, Sachgebieten und
Einzelthemen aufgesplittert, in zwar weltweit vernetzte, aber dafür auch
nur noch unter einer Handvoll weltweit verteilter Spezialisten diskutierbare
Spezialisierungen differenziert. Freilich erbringen diese zahllosen Spezia-
listen in ihren Spezialbereichen luzide und bombenfest abgesicherte Er-
gebnisse und Antworten – aber unter Umständen kann schon der Kollege
am selben Fachbereich zwei Türen weiter damit nichts mehr anfangen.
Kurz: eine Unmenge richtiger, guter und weiterführender Antworten – aber
niemand, der sie zusammenführen könnte und die übergeordnete Frage
formulierte, durch die die Antworten erst in einen sinnvollen Zusammen-
hang kommen. Hin und wieder erinnert die Situation fast ein wenig an die
Trilogie Per Anhalter durch die Galaxis von Douglas Adams,8 wo ein
Supercomputer nach Millionen von Jahren Rechenzeit die ultimative Ant-
wort auf alles, die Antwort auf das Universum im Ganzen ausspuckt – die
Zahl 42. Allerdings hat man in der Zwischenzeit die Frage dazu vergessen
und kann infolgedessen auch mit der Antwort nichts Rechtes mehr anfan-
gen …
Zum anderen ist die Verengung von Wissenschaft auf Naturwissen-
schaft, auf empirische Wissenschaft eine Reduktion ihrer selbst, die sie von
wesentlichen Quellen ihrer Erkenntnis abschneidet. Denn die meisten gro-

7
Wittgenstein 1963, 114.
8
Vgl. Adams 1981ff.
272 Martin Thomé

ßen Fragen, die sich den Wissenschaften stellen oder die ihnen gestellt
werden, stammen ja gar nicht aus ihnen selbst: Die wesentlichen Fragen,
die die Wissenschaft seit alters her und bis heute immer wieder bewegen
und auf den Weg der Forschung bringen, sind Fragen, die aus der Selbst-
verständigung der Gesellschaft über ihre eigenen Grundlagen, Ziele und
Probleme erwachsen. Wissenschaftliche Fragestellungen entstehen aus den
Themen, die die Menschen bewegen und denen sie nachforschen, um sich
und ihre Welt besser verstehen zu lernen.
Um hier nicht missverstanden zu werden: Natürlich generiert Wissen-
schaft ihre eigenen Fragen und Themen, natürlich bringt jede Forschung
neue Nachforschung hervor, natürlich kann letztlich nur der Wissenschaft-
ler selbst mit den Differenzierungen und Teilproblemen seines Faches
etwas Sinnvolles anfangen. Aber die ‚Initialzündung‘ für Wissenschaft
kommt eben nicht aus ihr selbst, sie kommt aus dem, was Menschen be-
wegt und beschäftigt, sie kommt aus den Bedingungen des Menschseins
selbst, die ebenso aus Neugier wie aus Zukunftssorge, aus Verantwor-
tungsgefühl wie aus Entdeckerlust bestehen.
Diese Bedingungen des Menschseins aber sind gerade nicht mehr
selbst Gegenstand der Naturwissenschaften, sie sind seit alters her Gegen-
stand der Geistes- und Sozialwissenschaften – und in der Frühzeit der Wis-
senschaft, als diese beiden Bereiche noch gar nicht strikt voneinander ge-
trennt waren, sondern (eben aufgrund eines anderen Verständnisses von
‚Wissenschaft‘) ineinander übergingen und eigentlich einen einzigen bilde-
ten, waren diese Bedingungen des Menschseins zugleich Bedingungen von
Wissenschaft. Das ist der Ort, wo Philosophie ihren Ursprung hat – nicht
nur als Wissenschaft für sich, sondern als Wissenschaft in der Gesellschaft
und für die Gesellschaft.
Nebenbei bemerkt: Als Folgeband zu dem eingangs zitierten Buch
über die Wunschmaschine Wissenschaft erschien Ende Oktober 2008 ein
weiterer Sammelband mit dem Titel Keine Wissenschaft für sich, der der
Frage nachgeht, was gesellschaftlich relevante Wissenschaft eigentlich
sei.9 Und nicht ohne Grund spielen dabei die Geisteswissenschaften – und
hier immer wieder die Philosophie – eine wichtige Rolle (die manchmal
explizit, meist aber implizit in den Argumentationslinien sichtbar wird und
die insofern eine Art ‚basso continuo‘ der Texte bildet): Vielleicht, weil
man der Philosophie nach wie vor zutraut (oder heute mehr denn je? oder
endlich wieder?), die Brücke zwischen Wissenschaft für sich und Wissen-
schaft für uns zu schlagen, indem sie nach Relevanzen fragt und sie auch
zu erhellen vermag.

9
Vgl. Schavan 2008.
Fragen, die keiner braucht? 273

Dieser Frage – was eigentlich gesellschaftlich relevante Wissenschaft


ausmacht – soll im Folgenden ein wenig weiter nachgegangen werden: mit
Blick auf die Philosophie und ihre Besonderheiten gegenüber anderen
Agenten im Wissenschaftssystem.
Wichtig ist dabei allerdings vor allen Dingen eine grundlegende Klar-
stellung: Relevanz darf nicht mit Nutzen verwechselt werden (und dieser
dann auch noch einseitig als Ertrag definiert werden). Denn sonst gleitet die
Frage ab in eine unselige Nutzen-Diskussion, die im Jahr der Geisteswis-
senschaften von einigen Protagonisten besonders intensiv geführt wurde
und die unserer Meinung nach im Ansatz verfehlt ist: Weder die These von
der hehren Nutzlosigkeit der Geisteswissenschaften, die sie von allen ande-
ren abhebt und derentwegen sie als letzte Bastionen der Freiheit in einer
verzweckten Welt alimentiert werden müssen, noch die dagegen aufge-
brachten Argumente für einen dezidierten Nutzen der Geisteswissenschaf-
ten, der sich in Creative Industries und im Kulturbereich als Arbeitsplatz-
Motoren niederschlage oder z. B. durch das Kennenlernen anderer Kulturen
neue globale Märkte erschließen helfe, sind unseres Erachtens auf das Ent-
scheidende fokussiert. Denn sie betrachten – wie alle anderen auch – die
Geisteswissenschaften und hier speziell auch die Philosophie eben auch
wieder nur unter dem (aus dem Verständnis der Naturwissenschaften abge-
leiteten, aber auch dort vielleicht nicht wirklich angemessenen) Blickwin-
kel einer antwortzentrierten Wissenschaft und diskutieren dann in der ers-
ten Ableitung hieraus die Frage, ob die gegebenen Antworten nützlich sind
bzw. sein dürfen oder nicht. Mit anderen Worten: In der Debatte um Nutzen
und Ertrag der Philosophie wie der anderen Geisteswissenschaften wird das
Paradigma von Wissenschaft als Antwortmaschine fraglos vorausgesetzt
und als selbstverständlich angenommen. Niemandem indes fällt ein, diese
vorausgesetzte und stillschweigend von allen geteilte Antwortorientierung
von Wissenschaft generell einmal zur Debatte zu stellen.
Aber ist unter den gegenwärtigen Bedingungen, unter denen Wissen-
schaft stattfindet, eine solche Debatte überhaupt möglich, überhaupt sinn-
voll führbar? Das Wissenschaftssystem lebt schließlich zum allergrößten
Teil eben davon, dass mit seinen Ergebnissen Erträge erwirtschaftet wer-
den. Einmal abgesehen von der Forschung, die in Wirtschaft und Industrie
geleistet wird und die primär naturwissenschaftlich-technisch ausgerichtet
und zum allergrößten Teil an Markterfordernissen ausgerichtet ist: Muss es
nicht auch bei der Forschungsförderung durch die öffentliche Hand eben-
falls in erster Linie um Erträge aus Wissenschaft gehen, da der Einsatz von
öffentlichen Fördermitteln ja auch öffentlich verantwortet und gerechtfer-
tigt werden muss? Und eine solche Rechtfertigung geschieht nun einmal
zunächst durch Erträge – sehr schön illustriert durch die Aussage der frühe-
ren Bundesforschungsministerin Edelgard Bulmahn, dass ‚gefördert wird,
274 Martin Thomé

was Arbeitsplätze schafft‘. Nun: Die Philosophie schafft deren relativ we-
nige. Und man könnte mithin die schöne Frage stellen, was denn eigentlich
von der Philosophie an Ertrag erwirtschaftet wird, der dann die Förderung
von Forschungsvorhaben durch den Staat rechtfertigen würde. Und gerade
wenn der Förderer nicht etwa eine Stiftung ist, sondern der Staat, dann wird
die Frage nach diesem Ertrag auch nicht etwa nur in den reinen wissen-
schaftlichen Ergebnissen ihre Antwort finden, sondern zumindest indirekt
auch die Interessen dieses Staates, sprich politische Vorgaben und Maßga-
ben im Blick haben.
Das soll nun nicht insinuieren, dass etwa die Philosophie quasi als ‚an-
cilla rei publicae‘ die Rolle der Begründungs- und Legitimationsinstanz für
politische Entscheidungen übernehmen solle – ein solches Ansinnen würde
ebenso von der Philosophie zurückgewiesen werden wie es von Seiten der
Politik nicht an sie herangetragen wird. Gleichwohl aber wird hier ein Be-
reich berührt, der eines der wichtigsten Schnittfelder zwischen Wissen-
schaft und Staat ausmacht und in einer komplexen, pluralen Gesellschaft
und unter den Zeichen fortschreitender Globalisierung immer wichtiger
werden dürfte: der Bereich der wissenschaftlichen Politikberatung.
Es sei hier nur kurz daran erinnert, dass Deutschland seit dem Frühjahr
2008 eine Nationale Akademie der Wissenschaften hat: Die Akademie der
Naturforscher Leopoldina zu Halle wurde dazu berufen, als Nationale
Akademie einerseits die Stimme der deutschen Wissenschaft im interna-
tionalen Konzert zu sein und andererseits der Politik die notwendige Bera-
tungsleistung aus der Wissenschaft heraus angedeihen zu lassen. Und es ist
hierbei durchaus erwähnenswert, dass die Leopoldina als Nationale Aka-
demie ausdrücklich gehalten und aufgerufen ist, sich – als zunächst primär
naturwissenschaftlich ausgerichtete Akademie – der Kompetenzen der
anderen Akademien der Wissenschaften (die ja bekanntlich geisteswissen-
schaftlich ausgerichtet sind – mit Ausnahme von acatech) zur Erfüllung
ihrer Aufgaben zu versichern; und vielleicht liegt darin ja auch schon ein
Nukleus der Anerkennung einer über das rein Fachliche hinausweisenden
Relevanz der Philosophie.
Hier ist nun nicht der Ort, das breit gefächerte Thema ‚Wissenschaftli-
che Politikberatung‘ in seinen verschiedenen Facetten zu entfalten – zumal
vieles von dem, was unter diesem Stichwort subsumiert wird, nur wenig
bzw. gar nichts mit Philosophie zu tun hat, sondern sich sehr stark im Be-
reich der Technik und Naturwissenschaften bewegt. Es soll auch keine
kritische Bestandsaufnahme der real existierenden Politikberatung in
Deutschland unternommen werden, ebenso wenig wie ein naives Loblied
auf die schlussendlich sich doch erweisende Unverzichtbarkeit der Philoso-
phie für die Begründung richtiger politischer Entscheidungen angestimmt
werden soll. Der Hinweis auf die Politikberatung zielt auf etwas anderes.
Fragen, die keiner braucht? 275

Wissenschaftliche Politikberatung kann in drei grundlegende Aufga-


benfelder differenziert werden: Erstens besteht ihre Aufgabe in der Durch-
sicht zurückliegender Themenstellungen und Fragefelder auf Offengeblie-
benes, auf blinde Flecken und unerkannte bzw. unbearbeitete Aspekte von
möglicherweise heutiger oder morgiger Relevanz. Ihre zweite Aufgabe
liegt in der systematischen Zusammenschau gegenwärtiger Themen und
Fragen auf ihre Zusammengehörigkeit und ihre vielfachen Wechselwir-
kungen hin, so dass aktuelle Probleme und Lösungsversuche seitens der
Wissenschaft miteinander verknüpft und effizient in anstehende Entschei-
dungsprozesse eingebunden werden können. Drittens schließlich hat sie die
Aufgabe, das Fragen der Politik, der Gesellschaft und der Wissenschaft auf
mögliche künftige Horizonte hin zu perspektivieren, also prospektiv Fra-
gehorizonte zu entwerfen, in die hinein sich die Gesellschaft bewegt und
von denen her Politik und Wissenschaft auch auf längere Sicht ihre The-
men und Herausforderungen beziehen werden. Diese drei Aufgabenfelder
gehören notwendig zusammen, sie sind nicht strikt voneinander zu trennen:
Wenn sie auch durchaus von verschiedenen Akteuren auf unterschiedli-
chen methodischen Grundlagen und mit divergierenden Handlungsop-
tionen bearbeitet werden, so stellen sie doch ein Gesamtgefüge dar, dessen
Elemente einander ständig gegenseitig beeinflussen.
Und gerade deswegen brauchen sie ein Einheitsmoment, eine Perspek-
tive, die ihren Zusammenhang sichtbar macht, sie benötigen einen Inter-
pretationskontext, von dem aus frühere Lösungen durch den Filter aktueller
Herausforderungen in den Horizont kommender Fragen eingehen können
und damit die Gesamtleistung eines komplexen Wissenschaftssystems in
politische Entscheidungen und gesellschaftliche Weichenstellungen ein-
fließen kann.
Diesen Interpretationskontext – das ist die erste zentrale These dieses
Beitrags – stellt Philosophie bereit. Philosophie ist geradezu die Schlüssel-
disziplin, die das Einheitsmoment dieser vielfachen Aufgabe darstellt und
erschließt, sie ist dasjenige Fach, ohne das die geforderte Beratungsleis-
tung sich im bloßen Bereitstellen von Antworten auf tagesaktuelle Proble-
me erschöpft, jedenfalls aber keinen Zusammenhang über die genannten
drei Aufgabenfelder und damit über die Gesamtentwicklung von Wissen-
schaft und Gesellschaft über lange Sicht erkennen lässt noch bereitstellen
kann. Das bedeutet auch, dass die Philosophie sich im Gesamt des Wissen-
schaftssystems und hier auch mit ihrer Bedeutung für die wissenschaftliche
Politikberatung eben nicht in einer reinen praxis- und umsetzungsorientier-
ten Beratungsleistung erschöpft, sondern dass ihr Beitrag zu den großen
Fragen der Gesellschaft viel grundsätzlicher ist: als Strukturierung, als
Vermessung des Feldes, in dem diese Fragen sich abspielen, als Auslotung
der Handlungsspielräume und Frageaspekte, zwischen denen sich Gesell-
276 Martin Thomé

schaft und Politik bewegen. Das bedeutet natürlich andererseits nicht, dass
Philosophie sich nun doch wieder verstehen könnte als diejenige Wissen-
schaft, die allen anderen sagt, wo es langgeht und wie sie handeln müssen,
wenn sie denn recht und richtig handeln wollen. Um es im Bild zu sagen:
Philosophie ist nicht die Disziplin, die die oberste, am hellsten erleuchtete
und weithin ins Land strahlende Etage im Elfenbeinturm bewohnt – aber
ebenso wenig ist sie die Disziplin, die als Magd aller anderen die Stiege zu
putzen und die Kohlen aus dem Keller zu holen hat.
Wie kann aber nun die Rolle der Philosophie zwischen diesen beiden
Polen näher beschrieben werden? Denn einerseits hat sie nach dem oben
Gesagten eine deutlich kritische Funktion gegenüber gesellschaftlichen
und politischen Entwicklungen, andererseits aber wird sie in dieser Posi-
tion auch verpflichtet auf eine Moderatorenrolle zwischen den verschiede-
nen Gruppen und Positionen. Und in dieser zweifachen Rolle bleibt sie
natürlich immer abhängig von der Förderung durch eben jene, die sie ei-
nerseits kritisch begleiten und andererseits moderierend verbinden soll.
Wenn man diese Überlegung ein wenig verlängert, ist man dann auch sehr
rasch bei der Frage, ob ein Wissenschaftssystem, das vielfältig von Interes-
sen unterschiedlicher Gruppen geprägt ist (und vom sinnvollen und kon-
struktiven Ausgleich dieser Interessen), sich eine Philosophie in solch einer
immerhin recht herausgehobenen Rolle überhaupt leisten will: Wird die
Philosophie dann, wenn sie diese Doppelrolle übernehmen will, nicht zwi-
schen der Notwendigkeit der Unabhängigkeit und dem Druck zur Anpas-
sung zerrieben werden – und dies sowohl was ihre finanzielle Abhängig-
keit von eben diesem Wissenschaftssystem angeht als auch was ihre
öffentliche Akzeptanz und Autorität angeht?
Die Diskussion um Philosophie und ihre Rolle im Wissenschaftssys-
tem ist nicht zu führen entlang der Scheidelinie ‚Konformismus – Nonkon-
formismus‘ mit Blick auf Fördertöpfe und allgemeine Anerkennung – ja
diese Diskussion ist überhaupt nicht aus der Perspektive der Fördertöpfe
entscheidbar. Es gibt hinreichend Programme für die Förderung von Geis-
teswissenschaften, die – und das ist völlig natürlich – den Bedingungen der
jeweiligen Fördergeber angepasst sind. Es gibt aber auch genügend Bei-
spiele dafür, dass Philosophie, wenn sie sich nur auf das Stellen der richti-
gen Fragen besinnt und kapriziert, eben dazu ohne Ertragserwartungen
gefördert wird.
Wichtig wird in diesem Zusammenhang – einmal abgesehen von einer
wohlfeilen Schelte auf verständnislose und gegenüber der Freiheit des
Denkens bürokratisch verbohrte Fördermittelverwalter – noch etwas ande-
res: Dass nämlich die Philosophie auch ein wenig von ihrer manchmal
doch recht larmoyanten Art abrückt, in der sie sich einerseits beklagt, dass
sie nicht genügend beachtet und geschätzt wird, andererseits aber aus ei-
Fragen, die keiner braucht? 277

nem sehr hohen Selbstgefühl heraus sich auch nicht genötigt sieht, sich mit
denen, von denen sie Mittel und Anerkennung will, dergestalt zusammen-
zusetzen, dass auch deren Fragen ernst genommen und nicht als Fußnote
zur Philosophiegeschichte abgetan werden. Dies wäre ein wichtiger Schritt
der Philosophie selbst in Richtung ihrer beschriebenen doppelten Rolle im
Wissenschaftssystem. Und wenn sie ihn tut, wird man mit hoher Wahr-
scheinlichkeit feststellen, dass ihr das Ernstnehmen der Fragen der Men-
schen und der Gesellschaft, die zumeist doch aus Nichtphilosophen be-
steht, durchaus gut zu Gesicht stehen kann.
Denn es ist nicht apriori schandbar, wenn Philosophen sich mit The-
men beschäftigen, die nicht in erster Linie auf dem nächsten Fachkongress
als Entdeckung der Bedeutung des Apostrophs im Gesamtwerk Kants oder
als Erhellung der Position von A zur Kontroverse zwischen B und C ange-
sichts einer Auseinandersetzung zwischen D, E und F über die Wirkungs-
geschichte der Debatte zwischen G und H vorgestellt und gefeiert werden
können. Man kann sich ja auch durchaus einmal mit der Frage nach philo-
sophischen Kriterien einer Arbeitsmarkt- oder Bildungsreform befassen
oder auch mit anthropologischen Aspekten der Konfliktforschung, mit
Wirtschaft und mit Nachhaltigkeit, mit Politik und mit Neurobiologie.
Und man wird feststellen: Je mehr die Philosophie sich in diesen Kontex-
ten engagiert, desto eher und stärker wird sie gehört, desto höher wird ihre
Relevanz und ihre Anerkennung gerade dort, wo sie ansonsten nicht oder
nur als Underdog repräsentiert zu sein scheint. Natürlich ist diese Gegen-
überstellung überzeichnet, und natürlich gib es zahlreiche Philosophen, die
sich mit eben diesen genannten Themen befassen. Aber die Philosophie
als akademische Disziplin und als Akteur innerhalb des Wissenschaftssys-
tems ist doch immer noch ein gutes Stück davon entfernt, sich derlei
Themen als ihr ureigenstes Geschäft vorzunehmen und zu bearbeiten –
jenseits der Inszenierung von Feuilleton-Debatten um ihre zunehmende
Marginalisierung.
Die Philosophie ist gegenwärtig in der Situation, ihre Rolle im Wissen-
schaftssystem, in der Gesellschaft insgesamt neu finden und definieren zu
müssen – aber auch zu können. Sie hat angesichts der Pluralität der Fragen,
die sich der Gesellschaft heute und in Zukunft stellen, die einmalige Chan-
ce, sich nicht nur anpassen zu müssen, sondern sich auch mit ihren eigenen
Kompetenzen neu positionieren zu können und sich als tatsächlich ertrag-
reich für Wissenschaft und Gesellschaft zu zeigen. Die Philosophie sollte
sich angesichts dieser Sachlage dabei einerseits hüten, in die Diktion von
ihrer ‚luxurösen Unwahrscheinlichkeit‘ zu verfallen – sie sollte sich aber
auch hüten, sich von vorneherein unter einem rein materiell interpretierten
Nutzen-Diktat zu sehen. Das, was hier mit Ertrag gemeint ist, ist das, was
jede Wissenschaft aus ihrem originären Können zum Gesamt einer Gesell-
278 Martin Thomé

schaft beitragen kann – und der originäre Beitrag der Philosophie in den
genannten Zusammenhängen ist nun eben nicht das Beischaffen der richti-
geren, der besseren, der abschließenderen und endgültigeren Antworten,
sondern das Herausfinden und Formulieren der richtigen, der guten, der
weiterführenden Fragen.
Weiterführende Fragen: Das sind, wie schon gesagt, die ‚richtigen‘
Fragen: weder eine beliebige Fragerei um ihrer selbst willen noch die rein
rhetorischen Fragen, die nur gestellt werden, damit die längst schon ferti-
gen Antworten um so strahlender präsentiert werden können. Richtige
Fragen: Das sind die Fragen, die dem Forschen neue Horizonte eröffnen
und neue Zusammenhänge erschließen und die daher niemals wirklich zu
einem Ende kommen, sondern für die Wissenschaft immer neuer Anreiz
zum Weitertreiben der Grenzen der Erkenntnis sind – und auch diesen
Impetus der Wissenschaft selbst noch einmal zur Frage machen und die
Wissenschaft damit immer wieder an ihre Verantwortung im größeren
Kontext erinnern. ‚Richtige‘, gute Fragen sind Fragen, die den Denkhori-
zont öffnen, aus dem heraus sich diejenigen Fragen zeigen können, die in
Zukunft das Denken ebenfalls offen halten. Man könnte vielleicht so for-
mulieren: Gute Fragen sind Fragen, die die Vorläufigkeit der Antwort be-
rücksichtigen und in eine asymptotische Näherung eintragen – denn Fragen
als Denkprinzip ist eine E-Funktion, und die ist nun einmal dadurch ge-
kennzeichnet, dass sie nicht endgültig an ein Ende kommt.
Der Ansatz beim Fragen – das ‚Fragende Denken‘ – gründet in der
Auffassung, dass eine richtige Fragestellung nicht zugleich mit einem
Problem gegeben ist und dass erst eine wirkliche Besinnung auf die ange-
messene Frage zum produktiven Umgang mit dem Problem führen kann:
Fragen öffnen den Denkhorizont, Antworten schließen ihn. Im Ansatz des
Fragenden Denkens liegt die Frage nach der je angemessenen Frage be-
gründet. Er geht davon aus, dass in einer Situation nicht primär die Ant-
wort wichtig ist, sondern dass zunächst einmal Klarheit über die richtige
Frage herrschen muss, damit auch gegebenenfalls eine zutreffende Antwort
entstehen kann.
Die ‚richtigen‘ Fragen sind daher plural, sie sind nicht eindeutig. Denn
sie machen, wenn sie gestellt werden, die ganze Komplexität der Wirklich-
keit, auf die sie sich beziehen, erst sichtbar. Sie bringen die Wissenschaft
nicht auf die ‚sichere Seite der Gleichung‘, weil sie nicht auf eine lineare
Wissensmehrung zielen, sondern auf den Überblick über die Zusammen-
hänge von Wissenschaft, Gesellschaft und Lebenswelt. Und sie haben
zugleich integrativen Charakter, weil sie die Vielfalt von Wissenschaft mit
der Vielfalt ihrer Gestaltungsmöglichkeiten und Resonanzräume vermitteln
und auf diese Weise den heute mehr denn je notwendigen Zusammenhang
von Wissenschaft und Lebenswelt ausweisen.
Fragen, die keiner braucht? 279

Das könnte eine zentrale Rolle der Philosophie im Wissenschaftssys-


tem sein: nicht das Einstimmen in den gängigen und öffentliche Anerken-
nung verheißenden Antwort-Gestus von Wissenschaft, der reiche Erträge
verspricht und das Bild von ‚der Wissenschaft‘ als Allheilmittel gegen die
Unbilden der modernen Welt verfestigt. Wissenschaft ist nicht die black
box, in die man ein Problem hineingibt, um als Ausgabe das Rezept für
seine Lösung zu erhalten, sie ist nicht das Wundermittel, das für jede mög-
liche Lebenssituation das richtige Verfahren bereitstellt – und gerade die
Philosophie könnte dies sichtbar und (was mindestens ebenso wichtig ist)
verständlich und plausibel machen. Philosophie könnte die Aufgabe über-
nehmen, das Fragende Denken im Wissenschaftssystem wieder zu etablie-
ren und die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der Wissenschaft als
Antwortmaschine fungiert, als fraglich und damit einer ernsthaften Nach-
Frage wert zu zeigen.
Die Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem bestünde dann we-
der darin, im Wissenschaftsbetrieb regelmäßig die Einhaltung bestimmter
Regeln anzumahnen, noch darin, einer auf Ertrag fokussierten Forschungs-
szene den Mantel des L’art pour L’art umzuhängen, um solcherart das
finstere Zerrbild einer rein nutzenorientierten Wissenschaft ein wenig
freundlicher zu gestalten; sie bestünde weder darin, das Feigenblatt für das
Land der Dichter und Denker in seiner Selbstwahrnehmung und Außendar-
stellung abzugeben, noch darin, hieb- und stichfeste Legitimationen für
Ziele und Methoden der ‚exakten‘ Wissenschaften zu präsentieren. Die
Rolle der Philosophie im Wissenschaftssystem bestünde dann darin, die
Suche nach den ‚richtigen‘ Fragen in der Wissenschaft und vor allem auch
ihn ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung wieder salonfähig zu machen, ja
letztlich damit der Wissenschaft selbst wieder mehr von ihrer Unberechen-
barkeit und jenseits allen Nutzenkalküls notwendigen Freiheit zurückzu-
gewinnen.
Was die ‚richtigen‘ Fragen sind: Das muss die Wissenschaft, müssen
die Wissenschaften selbst herausfinden – aber nicht im stillen Kämmerlein
und unter sich, sondern im erneuerten Dialog untereinander und mit der
‚Welt da draußen‘, mit Gesellschaft, Kultur, Politik, Wirtschaft usw.
Eine solche ‚richtige‘ Frage könnte etwa lauten: Welche Fragen müs-
sen wir heute stellen, damit wir in 10 Jahren die richtigen Fragen stellen
können? Das wäre eine Aufgabe der Philosophie, und es ist durchaus denk-
bar, dass sie damit auch bei Förderorganisationen punkten kann. Es gibt
genügend Programme im staatlichen wie privaten Umfeld, die sich mit der
Förderung von Langzeiteditionen oder philologischen Akribie-Arbeiten
befassen. Und das ist gut und wichtig so. Aber das, was eigentlich die Leis-
tung der Philosophie sein könnte: das Öffnen von Fragehorizonten für
Themen, die sie selbst gar nicht oder nur am Rande ihre eigenen nennt, das
280 Martin Thomé

könnte sie auch in der Außenwahrnehmung in ein neues Licht rücken, das
könnte ihre Relevanz für die Gesellschaft deutlich machen, das könnte
ihren Ertrag jenseits ökonomischer Bemessungen oder antwortverliebter
Akutproblemstellungen ausweisen.
Philosophie ist diejenige Disziplin, die die Fragen stellen kann, die alle
brauchen – gerade weil sie jenseits der schnellfertigen Antworten auf die
Erweiterung des Denkhorizontes zielen, gerade weil sie Folgefragen eröff-
nen und das Denken nicht bei einer ‚wissenschaftlichen‘ Antwort zur Ruhe
kommen lassen. Philosophie stellt – gerade in einem Wissenschaftssystem,
das von vielfältigen Differenzierungen geprägt ist, das nachgerade unüber-
schaubar wird und in dem die Verständigung der Wissenschaften unterein-
ander immer mühsamer wird, das zudem unter dem Druck vieler Interes-
sengruppen und Anteilseigner immer mehr zur Antwortmaschine wird, das
schließlich von einem höchst unübersichtlichen Konglomerat an Förder-
und Finanzierungsvarianten geprägt ist – diejenigen Fragen, die alle brau-
chen: die Fragen nach Sinn, Zusammenhang und Perspektive, ohne die
auch das Wissenschaftssystem insgesamt seine Relevanz in Frage gestellt
sieht. Philosophie: Fragen, die keiner braucht? Fragen, die alle brauchen!

Literatur
Adams, D., 1981ff: Per Anhalter durch die Galaxis/Das Restaurant am Ende des Uni-
versums/Das Leben, das Universum und der ganze Rest, München.
Daiseion-ji e.V. (Hg.), 2006–2009: Symposiums-Publikationen der Deutsch-Japanischen
Gesellschaft für Integrative Wissenschaft, Bde. 2–5, Dettelbach.
Nida-Rümelin, J., (Hg.) 2006: Wunschmaschine Wissenschaft. Von der Lust und dem
Nutzen des Forschens, Hamburg.
Schavan, A. (Hg.) 2008: Keine Wissenschaft für sich. Essays zur gesellschaftlichen Rele-
vanz von Forschung, Hamburg.
Wittgenstein, L., 1963: Tractatus logico-philosophicus. Logisch-philosophische Abhand-
lung (edition suhrkamp 12), Frankfurt a.M. (urspr.: London 1922).
Warum noch mit Schülerinnen und
Schülern philosophieren?

Klaus Draken

Als Überschrift für meinen Beitrag habe ich den Titel der Tagung, für den er
konzipiert wurde, leicht abgewandelt. Zum einen ist aus dem Gegenständ-
lichkeit suggerierenden Substantiv „Philosophie“ das Tätigkeit in den
Blickpunkt rückende „Philosophieren“ geworden. Zumindest philosophie-
didaktisch betrachtet nämlich lassen sich wohl schwerlich „vom Philo-
sophieren Ergebnisse erwarten, die in letzthinniger Weise für alle konsens-
fähige Inhalte formulierten. Dies liegt daran, dass das Philosophieren so
gegenwärtig und so vielfältig sein muss, wie die Menschen, die es betreiben.
Mit Ausnahme der Universitätsprofessoren, einiger Lehrer, Dozenten der
Erwachsenenbildung und verschwindend weniger ‚philosophischer Prakti-
ker‘ ist ‚Philosophie‘ schwerlich ein Beruf, sondern eher eine ‚Einstellung‘,
eine Orientierungsweise. Bedeutung erhalten philosophische Einsichten
primär ‚für uns‘, im ‚existentiellen‘ Rückbezug an den Philosophierenden.
Jeder erfährt dies an sich selbst: Sinn und Bedeutung kann etwas im Wesent-
lichen ‚für mich‘ haben, es haftet der Sache nicht einfach an, sondern wird
ihr beigemessen. Philosophische Bildung steht für unser aller Bemühen um
ein selbst verantwortetes und gestaltetes Wissen, bei dem sozusagen die
ganze Person mitschwingt, und das uns in unserer begrenzten Lebenszeit die
Welt und unsere Existenz erklären soll.“ (Steenblock 2009, 11 f.)
Dass ich mich im Folgenden auf Schülerinnen und Schüler begrenze,
liegt an meinem Arbeits- und Erfahrungsfeld. Dort steht der auf die Leit-
wissenschaft Philosophie bezogene Schulunterricht im Zentrum, sei es im
eigenen Unterricht, in der Lehrer/innenaus- und -fortbildung, bei der
Schulbucharbeit, in fachdidaktischen Diskursen oder in der Vorstandsar-
beit für den Fachverband Philosophie in Nordrhein-Westfalen, in dem die
Unterrichtenden der Fächer Philosophie und Praktische Philosophie orga-
nisiert sind. Aus dieser Perspektive werde ich von den vielfältigen Verän-
derungen ausgehen, welche die Rahmenbedingungen schulischen Lernens
und Unterrichtens – insbesondere mit Blick auf unsere Fächer Philosophie
und Praktische Philosophie – am Beispiel Nordrhein-Westfalens bestim-
men. Diese Veränderungen sind aber in vielerlei Hinsicht nicht auf ein
Bundesland beschränkt, sondern beziehen sich
282 Klaus Draken

1. auf die Gesamtgesellschaft und damit auf Transformationen, die uns


alle, in besonderer Weise aber Kinder und Jugendliche betreffen,
2. auf die föderal unterschiedlich umgesetzten, aber in ihrer Tendenz
bundesweit ähnlichen Veränderungen in den Schulen selbst,
3. auf sich verändernde Fächer mit Bezug zur Leitwissenschaft Philoso-
phie, d. h. auf das klassische Oberstufenschulfach Philosophie und das
für Nordrhein-Westfalen neu entstandene Fach der Sekundarstufe I
Praktische Philosophie,
4. auf die neue Form der kultusministeriellen Vorgaben für diese Fächer
im Sinne der heute angestrebten Kompetenzorientierung,
5. auf die wiederum bundesweit im Diskurs entwickelten Veränderungen
in den Reflexionen ihrer Didaktik und Methodik und somit
6. auf die länderübergreifend zu formulierenden Anforderungen, vor die
sich die Ausbildung von Lehrerinnen und Lehrer gestellt sehen sollte.

I. Transformationen in der Gesellschaft – veränderte Jugend

Zwar leben Menschen seit Anbeginn in sich verändernden gesellschaftli-


chen Kontexten. Schon im antiken Athen, in dem Sokrates seine Mitbürger
mahnt, haben wir es mit einer Zeit des Umbruchs zu tun. Heute haben wir
allerdings grundlegende Veränderungsprozesse unter anderen Bedingun-
gen zu bewältigen. Neben Globalisierung, Ökonomisierung und dem
wachsenden Bewusstsein für die selbst geschaffenen existentiellen Zu-
kunftsbedrohungen wird soziologisch vor allem auf die Individualisierung
sowie den Einfluss der neuen Medien verwiesen, die deutlich spürbar auf
unsere Kinder und Jugendlichen einwirken.
Individualisierung und ihre Folgen gelten dabei als wirkmächtiges
Modell zur Erklärung manch problematischer Entwicklung. Ulrich Beck
spricht bekanntlich von „einer dreifachen ‚Individualisierung‘: Heraus-
lösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sin-
ne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (‚Freiset-
zungsdimension‘), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf
Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (‚Entzauberungsdimen-
sion‘) und – womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegen-
teil verkehrt wird – eine neue Art der sozialen Einbindung (‚Kontroll-
bzw. Reintegrationsdimension‘)“ (Beck 1986, 206).
Konkret kann dies für unsere Schülerinnen und Schüler bzw. deren Er-
leben bedeuten: Traditionelle Eltern-Kind(er)-Familien gibt es zwar noch,
aber bei hohen Scheidungsraten und ökonomisch geforderter Mobilität
stehen daneben Wochenendehen, alleinerziehende Elternteile oder so ge-
nannte „Patchworkfamilien“ als normal gewordener Hintergrund unserer
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 283

heutigen Schülerinnen und Schüler. Hier hat das postmoderne „Anything


goes“ für Kinder und deren Entwicklung oftmals problematische Realität
gewonnen. Der flexible Mensch (wie Richard Sennett ihn nennt) wird
bereits in äußerst frühem Alter eingefordert. Aber flexibel heißt oft auch
haltlos, ohne Orientierung, ohne den Rückhalt einer gefestigten Persön-
lichkeit. Dies kann als Folge des Erlebens der o. g. „Freisetzungsdimensi-
on“ von Individualisierung in unserer Gesellschaft verstanden werden.
Nicht nur sprachlich, sondern auch wertemäßig steht in unseren Schulen
oft Deutsches neben Türkischem, Osteuropäischem, Afrikanischem, Asiati-
schem usw. Daraus erwächst nicht nur ein viel diskutiertes Problem mit der
Frauenrolle, wie es sich im Kopftuchstreit immer wieder konkretisiert. Auch
der Begriff der „Ehre“ feiert heute beachtenswerte Renaissance in unter-
schiedlichsten – auch hoch fragwürdigen und problematischen – Facetten.
Der Verlust von traditionalen Sicherheiten findet dabei auf allen Seiten statt:
Sich auf Nationalstolz zurückziehende „Deutsche“ tun dies aus der gleichen
Verunsicherung heraus wie Ehrenmorde bejahende Jugendliche aus Zu-
wanderungsfamilien. Man kann dies als Symptom der Konsequenzen aus
der von Beck beschriebenen Entzauberungsdimension verstehen.
Dabei wird der Blick hinter die Fassaden von Peergroups für Lehrerin-
nen und Lehrer durch den Wandel und die Vielfalt der unterschiedlichen
individuellen Hintergründe immer schwieriger. Zwar gibt es auch die von
Beck sogenannte neue „Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension“ für unse-
re Jugendlichen, aber ihre Mechanismen spielen sich vielfach nur in der
Popkultur, über moderne Medien, Internetchats, Handykontakte u. a. m. ab,
die von den Erziehern zudem kaum noch überschaut werden können. Ge-
waltvideos oder Mobbing über Internet-Netzwerke können problematische
Folgephänomene dieser unkontrollierten neuen „sozialen Kontrolle“ bzw.
medial vollzogenen virtuellen Integration sein.
Die Politik erkennt hier einen Handlungsbedarf vor allem dann, wenn
Fehlentwicklungen über die Presse ins öffentliche Bewusstsein gerückt wer-
den. Der Soziologe Wilhelm Heitmeyer erklärt solche Fehlentwicklungen
durch Anwendung des Ansatzes von Beck auf seine empirischen Forschun-
gen (vgl. Heitmeyer 1991) so, dass in Folge der Individualisierungsdimensi-
onen immer häufiger Vereinzelungserfahrungen, Handlungsunsicherheiten
und Ohnmachtserfahrungen entstehen. Diese Erfahrungen wiederum können
in das umschlagen, was er als „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“
(vgl. Heitmeyer 2007, 15 ff.) bezeichnet. In seinem Modell eines allgemei-
nen „Syndroms von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit in dieser
Gesellschaft“ sieht er die Tendenzen zu Rassismus, Fremdenfeindlichkeit,
Antisemitismus, Heterophobie, Islamphobie, Etabliertenvorrecht und klassi-
schem Sexismus zusammenlaufen (vgl. Heitmeyer 2003). Tatsächlich über-
trägt die Herauslösung aus verlässlichen Sozialbezügen und das Fehlen einer
284 Klaus Draken

alles erklärenden und für alle verbindlichen Erzählung dem Einzelnen ein
Maß an Selbstbestimmung und Eigenverantwortung, für dessen Bewälti-
gung die Fächer Praktische Philosophie und Philosophie, von denen es er-
wartet wird, nur begrenzt gerüstet erscheinen. Wenn die nordrhein-
westfälische Schulministerin den Philosophielehrer auf einer Tagung des
Fachverbandes Philosophie als „Erzieher und Bildner der Kinder und Ju-
gendlichen“ bezeichnet, dann erwartet sie von ihm in besonderer Weise
einen Beitrag, in dem die „Ermöglichung von Orientierung […] systema-
tisch“ geschieht. „Zur schulischen Bildung und Erziehung gehört untrennbar
die Entwicklung von persönlicher und sozialer Kompetenz. […] Vor diesem
Hintergrund sind reflektierende Auseinandersetzungen der jungen Men-
schen in unseren Schulen um die ‚richtige‘ Orientierung von großer Bedeu-
tung. Ich bin fest davon überzeugt, dass die eigene Standortbestimmung
erheblich dazu beiträgt, dass ein Mensch den für sich ‚richtigen‘ Platz in der
Gesellschaft findet.“ (Sommer 2007, 3 ff.) Diese Zuschreibung verlangt ein
intensives Nachdenken über das Leistbare und die personell notwendigen
Kompetenzen derer, die diese Fächer unterrichten.
Insbesondere ein veränderter Medienumgang prägt unsere Kinder.
Neil Postman analysierte die von ihm prophezeiten Konsequenzen einer
medial bestimmten Gesellschaft bereits 1985 in seinem Bestseller Wir
amüsieren uns zu Tode. Seine Überlegungen setzen beim „Niedergang des
Buchdruck-Zeitalters und dem Anbruch des Fernseh-Zeitalters“ an. „Ins-
gesamt brachte dieser Komplex elektronischer Technologien eine neue
Welt hervor – eine Guckguck-Welt, in der mal dies, mal das in den Blick
gerät und sogleich wieder verschwindet. In dieser Welt gibt es kaum Zu-
sammenhänge, kaum Bedeutung; sie fordert uns nicht auf, etwas zu tun, ja,
sie lässt es gar nicht zu […], wir haben uns seine Definitionen von Wahr-
heit, Wissen und Wirklichkeit so gründlich zu eigen gemacht, dass uns die
Belanglosigkeit von tiefem Sinn und die Inkohärenz von tiefer Vernunft
erfüllt scheinen.“ (Postman 1985, 99/101 f.) 1999 legte der Autor nach mit
der Formulierung: „Das Problem, das im einundzwanzigsten Jahrhundert
gelöst werden muss, ist sicher nicht die Verbreitung von Information. Die-
ses Problem ist seit langem gelöst. Das anstehende Problem ist, wie man
Informationen in Wissen verwandelt und wie Wissen in Erkenntnis. Kön-
nen wir dieses Problem lösen, dann erledigt sich der Rest von selbst.“
(Postman 2007, 124) Von dieser Diagnose bestätigt sich m.E. in der von
Lehrerinnen und Lehrern erlebten Praxis viel. So wird es zur Herausforde-
rung, gerade die kulturell verloren gegangene Dimension des Denkens in
Bedeutsamkeit herstellenden Zusammenhängen, d. h. der rational fundier-
ten persönlichen Bewertung und Beurteilung im Unterricht wieder neu
entstehen zu lassen. Dies aber ist eine grundlegende Aufgabe des Philoso-
phie- und Praktische Philosophie- bzw. Ethikunterrichts.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 285

In der aktuellen Diskussion finden wir dieses Thema noch anders mit
Blick auf die Entwicklungschancen der einzelnen Jugendlichen beschrie-
ben. „Je mehr Zeit sie [die Jugendlichen K.D.] vor dem Fernseher oder der
Playstation verbringen, desto schlechter sind die Noten.“ 1 Diese durch
Korrelationen zwischen Medienkonsum und Schulleistung belegte These
wird in weiterem Datenabgleich sogar zur Erklärung des unterschiedlichen
Abschneidens bestimmter Regionen in der PISA-Studie, zur Erklärung
von Geschlechterunterschieden, Unterschieden zwischen Schülerinnen und
Schülern mit und ohne Migrationshintergrund und zwischen dem unter-
schiedlichen Leistungsvermögen der Schülerinnen und Schüler in Gymna-
sium und Hauptschule herangezogen. „Bereits als Viertklässler verfügen
die vier PISA-Verlierergruppen in ihren Kinderzimmern über eine erheb-
lich größere Ausstattung mit Fernseher, Spielkonsole und Computer als
ihre jeweilige Gegengruppe. Als Folge dessen weisen sie schon als 10-
Jährige und später als 15-Jährige einen weit höheren und auch inhaltlich
problematischeren Medienkonsum auf als ihre bei PISA besser abschnei-
denden Vergleichsgruppen.“ (Pfeiffer/Mößle/Kleimann/Rehbein 2007)
Auch wenn damit sicher nicht alles erklärt ist, scheint der Faktor Medien-
nutzung doch eine gravierende Rolle bei der Entwicklung des Leistungs-
und Denkvermögens unserer Jugendlichen zu spielen. „Ein Übermaß an
Medienkonsum macht dick, dumm, krank und traurig.“2 Diese noch weiter
greifende Aussage wird u. a. von Manfred Spitzer bestätigt. Vorsicht Bild-
schirm lautet der Titel seines Buches über Elektronische Medien, Gehirn-
entwicklung, Gesundheit und Gesellschaft (Spitzer 2005). Neben Daten
der empirischen Sozialforschung greift er vor allem auf neurobiologische
Erklärungsansätze zurück. Er verweist dabei auf die gravierenden Defizite
für die Entwicklungschancen des jungen Gehirns als Folge von hohem
Bildschirmkonsum gerade bei Kleinkindern: „Mit jeder Erfahrung, jedem
Wahrnehmungs-, Denk- und Gefühlsakt gehen flüchtige, wenige Millise-
kunden dauernde Aktivierungsmuster im Gehirn einher. Die Verarbeitung
eines einzelnen Aktivierungsmusters (einer einzelnen Erfahrung) verändert
das Gehirn, aber jeweils nur ein winzig kleines Stück. […] Bildschirme
liefern dem kleinen Kind weniger Struktur als wirkliche Realität. Man kann
daher annehmen, dass ein substantieller Konsum von Bildschirm-Medien
eine geringere bzw. unklarere Strukturierung des kindlichen Gehirns und
damit wiederum der kindlichen Erfahrungswelt nach sich zieht. […] Dass
dies nicht graue Theorie darstellt, zeigt der empirisch nachgewiesene Zu-

1
Diese plakative Formulierung entstammt einer Vorabmeldung zur Veröffentlichung
der im Folgenden zitierten Studie. In: Der Spiegel, 39/2005. zitiert nach:
http://www.spiegel.de/spiegel/vorab/0,1518,376396,00.html.
2
Siehe Anmerkung 1.
286 Klaus Draken

sammenhang von Fernsehkonsum im Kleinkindalter und Aufmerksam-


keitsstörung im Schulalter.“ (ebd., 90 f.) Unter Beachtung solcher Verän-
derungen erscheint eine Schulung von rationaler Reflexionsfähigkeit durch
Philosophie und Philosophieren offensichtlich dringlich, um ein tragfähi-
ges Angebot zur Unterstützung von sinngebender Orientierung zu bieten.

II. Veränderte Schule

Wie reagiert unsere Gesellschaft in der Gestaltung ihrer Schulen auf die
angesprochenen Phänomene? Wenn Tendenzen einer Individualisierung
die Übernahme von Verantwortung für das eigene Leben immer stärker auf
das einzelne Individuum verlagern, und wenn ein Versagen in dieser Ver-
antwortung in Krisenzeiten immer stärker durch ökonomische Konsequen-
zen sanktioniert wird, dann muss wohl die Qualifizierung für den sich
globalisierenden (Arbeits-)Markt im Vordergrund stehen. Wenn zudem der
wachsende Medienkonsum die Leistungsfähigkeit von Kindern und Ju-
gendlichen behindert, müssen auch deswegen die entsprechenden Ausbil-
dungsbemühungen verstärkt werden. Das relativ schlechte Abschneiden
bei den PISA-Studien wurde hier zu Anlass, Initialzündung oder Katalysa-
tor für entsprechende Folgemaßnahmen genommen. Die Schulzeitverkür-
zung durch G8 zur besseren internationalen Konkurrenzfähigkeit jüngerer
Bewerber am Studien- und Arbeitsmarkt, die Diskussionen um Ganztags-
betreuung in den nordrhein-westfälischen Schulen als ein Folgeproblem,
zentrale Lernstandserhebungen, zentrale 10er Abschlussprüfungen und das
Zentralabitur als Überprüfungsinstrumente einer standardorientierten Leis-
tungsmessung sowie ministeriell angeordnete Qualitätsanalyse für Schulen
sind beispielhafte Veränderungen in Nordrhein-Westfalens Schulsystem.
Wenn aber zugleich auch ein Mangel an Orientierungswissen benannt
werden muss, dann ist dies nichts, was lediglich im Sinne zentraler Stan-
dardorientierung in der Leistungsmessung und Bewertung ausgeglichen
werden kann. Die von Eltern real erlebten Probleme mit ihrem Nachwuchs
sehen auch häufig ganz anders aus. Viele Kinder leiden unter Stress, Über-
forderungssymptomen usw. bereits in sehr frühem Alter, weil die Anforde-
rungen der sich wandelnden Schule als übermächtig erlebt werden. Frei-
räume für eine persönliche Entwicklung und Sinnfindung scheinen als
Chance zu individueller Lebensorientierung nötig, werden aber nur unzu-
länglich realisiert. Dies zeigt sich z. B. darin, dass die Stellung der geistes-
und gesellschaftswissenschaftlichen Fächer in der gymnasialen Oberstufe
des Landes NRW immer weiter zurückgedrängt wurde. Sprachen sind für
die globalisierte Welt wichtig, Naturwissenschaften für die technisch ge-
prägte Gesellschaft notwendig usw.: So oder ähnlich könnte man den Duk-
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 287

tus der in den letzten Jahrzehnten vollzogenen Veränderungen zusammen-


fassen. Zwar hat die Philosophie eine gewisse Art der Bestandssicherung
dem Umstand zu verdanken, dass sie in NRW als obligatorischer Kurs für
Religionsabwähler von jeder Schule angeboten werden muss. Aber schon
die Möglichkeit, Philosophie zusätzlich mit einem Religionskurs zu bele-
gen, scheitert häufig an den Ressourcen der Schulen oder den anderweiti-
gen Belegungsanforderungen für den einzelnen Schüler in seiner Lauf-
bahnplanung. Die ehemalige nordrhein-westfälische Schulministerin wie
auch ihr Staatssekretär haben bei mehreren Gelegenheiten öffentlich gegen-
über dem Fachverband Philosophie beteuert, dass eine Werteerziehung im
Sinne ethischer Orientierung, also Erziehung im Sinne dessen, was eine
der Aufklärungskultur verpflichtete Philosophie zu reflektieren vermag,
dringend notwendig ist und bleibt. Hier setzt der politische Wille an, „warum
noch Philosophie“ in die Schule gehört. Allerdings steht die Philosophie
dabei im Kontext der konfessionellen Religionsunterrichte der Kirchen
bzw. Glaubensgemeinschaften: Katholischer und evangelischer Religions-
unterricht, Islamunterricht usw. Die Instrumentalisierung des Faches Phi-
losophie als Ersatz für Religionsabwähler birgt zwar die Gefahr einer Ver-
engung und ist aus dem Selbstverständnis des Faches als Mutter aller
Wissenschaften weder wünschenswert noch als Perspektive angemessen.
Dennoch bleibt die Nutzung hier entstehenden Freiraums für Muße zu
Selbstbesinnung und Austausch im Sinne rationaler Reflexion durch Philo-
sophie überaus wünschenswert.

III. Sich verändernde Fächer

Während in Nordrhein-Westfalen Philosophie seit langem als Unterrichts-


fach der gymnasialen Oberstufe mit klarer Orientierung an der universitä-
ren Leitwissenschaft Philosophie etabliert ist, ist das Fach „Praktische
Philosophie“ noch jung. Ebenfalls an die Leitwissenschaft Philosophie
angebunden – aber daneben auch auf Religionswissenschaft, Soziologie
und Psychologie verwiesen – ist dieses Fach erst 1997 mit einem Schulver-
such gestartet und in allen Schulformen von den Klassenstufen 9 und 10
her im Jahr 2007 auf die gesamte Sekundarstufe I, also Klasse 5 bis 10
(bzw. 9 im Gymnasium bei G8) ausgeweitet worden. Während Philosophie
als eigenständiges Fach im gesellschaftswissenschaftlichen Aufgabenfeld
vor etwa 15 Jahren nur zusätzlich eine Ersatzfachfunktion für den Religi-
onsunterricht in der gymnasialem Oberstufe erhalten hat, hat Nordrhein-
Westfalen mit „Praktische Philosophie“ als letztes Bundesland ein obliga-
torisches Ersatzfach für nicht am Religionsunterricht teilnehmende Schü-
ler/innen der Jahrgangsstufen 5 bis 10 geschaffen. Der Zusatz „praktisch“
288 Klaus Draken

ist dabei als Gegensatz zu „abstrakt“ zu verstehen. Entsprechend gibt es für


die Praktische Philosophie keine „Philosophen“ oder „Philosophien“ als
curriculare Vorgabe, sondern „Fragenkreise“, die im konkreten Leben und
der Lebenswelt der Schüler/innen verankert sind. In die Behandlung dieser
Fragenkreise soll explizit eine „Personale Perspektive“ der jeweils zu un-
terrichtenden Schülerinnen und Schüler sowie eine „Gesellschaftliche Per-
spektive“ eingebunden werden. Daneben allerdings steht als dritte eine
„Ideenperspektive“ – das ist der Bereich, in dem vor allem auf die Fach-
philosophie zurückgegriffen werden soll, kann und muss. Konkret klingt
das in den curricularen Vorgaben zum neuen Fach so:
„Das Fach Praktische Philosophie ist auf die zusammenhängende Be-
handlung von Sinn- und Wertefragen gerichtet. Während dies im Religi-
onsunterricht auf der Grundlage eines bestimmten Bekenntnisses ge-
schieht, übernimmt Praktische Philosophie diese Aufgabe auf der
Grundlage einer argumentativ-diskursiven Reflexion im Sinne einer sitt-
lich-moralischen Orientierung ohne eine exklusive Bindung an eine be-
stimmte Religion oder Weltanschauung. Bezugspunkt für die Ausrichtung
des Faches ist die Werteordnung, wie sie in der Verfassung des Landes
Nordrhein-Westfalen, im Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland
und in den Menschenrechten verankert ist. […] Der Unterricht im Fach
Praktische Philosophie vermittelt dafür das methodische Instrumentarium,
die erforderlichen Kenntnisse, Strategien und Arbeitstechniken. Er orien-
tiert sich am sokratischen Methodenparadigma eines dialogischen Philoso-
phierens und berücksichtigt dabei phänomenologische, hermeneutische,
analytische, dialektische und spekulative Zugänge.“ (MSW 2008, 9 f.)
Anders ausgedrückt wird von unserem Fach erwartet, dass es „die
Entwicklung der Gesamtpersönlichkeit zu sozialer Verantwortung, zur Ge-
staltung einer demokratischen Gesellschaft, zur Orientierung an Grundwer-
ten, zur kulturellen Mitgestaltung sowie zu verantwortlicher Tätigkeit in
der Berufs- und Arbeitswelt“ (ebd., 9) unterstützt.

IV. Veränderte Vorgaben in Form von Kernlehrplänen

Aber nicht nur ein neues Fach, sondern auch eine neue Art der Vorgaben
begleitet uns in der Schule: Ein „kompetenzorientiert formulierter Kern-
lehrplan“. Für die Philosophie in NRW wurde bereits an einem solchen
gearbeitet – allerdings ist das Ergebnis noch nicht veröffentlicht oder in
Kraft gesetzt, weil zunächst die länderübergreifenden Vereinbarungen über
„nationale Bildungsstandards in den Kernfächern Deutsch, Mathematik,
den Fremdsprachen und den Naturwissenschaften“ der Kultusministerkon-
ferenz abgewartet werden sollten. Für das neue Fach Praktische Philoso-
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 289

phie aber gibt es seit Sommer 2008 tatsächlich einen solchen Kernlehrplan.
Kernlehrpläne „legen Kompetenzerwartungen fest, die […] zu einem be-
stimmten Zeitpunkt erreicht sein müssen.“ (ebd., 7) Und diese bildungspo-
litisch gewollte neue Form der fachspezifischen Vorgaben verrät viel über
die Erwartungen der Bildungspolitik. Deshalb stelle ich im Folgenden eine
der entsprechend formulierten Listen ungekürzt vor.
„Warum noch Philosophie?“ Weil dann „am Ende der Sekundarstufe I
[…] die Schülerinnen und Schüler über die nachfolgenden Kompetenzen
verfügen:

Personale Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler


– entwickeln ein Bewusstsein der eigenen Fähigkeiten und Anlagen und
bringen dies in symbolischer Darstellung zum Ausdruck
– artikulieren die Bewertung von Gefühlen als gesellschaftlich mitbe-
dingt und erörtern Alternativen
– entwickeln bei starken Gefühlen einen rationalen Standpunkt und tref-
fen eine verantwortete Entscheidung
– bewerten komplexe Sachverhalte und Fallbeispiele und diskutieren
diese angemessen
– diskutieren Beispiele von Zivilcourage hinsichtlich ihrer Motive
– reflektieren und antizipieren verschiedene soziale Rollen und stellen
sie authentisch dar
– treffen begründet Entscheidungen im Spannungsfeld von Freiheit und
Verantwortung
– erörtern Antworten der Religionen und der Philosophie auf die Frage
nach einem sinnerfüllten Leben und finden begründet eigene Antworten.

Soziale Kompetenz: Die Schülerinnen und Schüler


– formulieren Anerkennung und Achtung des Anderen als notwendige
Grundlage einer pluralen Gesellschaft und wenden diese Erkenntnis
bei Begegnungen mit anderen an
– denken sich an die Stelle von Menschen unterschiedlicher Kulturen
und argumentieren aus dieser fremden Perspektive
– reflektieren und vergleichen Werthaltungen verschiedener Weltan-
schauungen und gehen tolerant damit um
– erkennen Kooperation als ein Prinzip der Arbeits- und Wirtschaftswelt
– lassen sich auf mögliche Beweggründe und Ziele anderer ein und ent-
wickeln im täglichen Umgang miteinander eine kritische Akzeptanz
– argumentieren in Streitgesprächen vernunftgeleitet
– reflektieren verantwortliches Handeln in der Gesellschaft und erörtern
die dahinter stehenden Werte.
290 Klaus Draken

Sachkompetenz: Die Schülerinnen und Schüler


– erfassen gesellschaftliche Probleme in ihren Ursachen und ihrer ge-
schichtlichen Entwicklung, diskutieren diese unter moralischen und
politischen Aspekten und formulieren mögliche Antworten
– reflektieren die Bedeutung der Medien und medialen Kulturtechniken
und gestalten bewusst das eigene Medienverhalten
– entwickeln verschiedene Menschen- und Weltbilder sowie Vorstellun-
gen von Natur und vergleichen sie
– erfassen ethische und politische Grundbegriffe und wenden diese kon-
textbezogen an
– begründen kriteriengeleitet Werthaltungen
– beschreiben differenziert Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozesse und
ordnen sie entsprechenden Modellen zu
– reflektieren philosophische Aspekte von Weltreligionen
– nehmen gesellschaftliche Entwicklungen und Probleme in ihrer inter-
kulturellen Prägung wahr, bewerten sie moralisch-politisch und entwi-
ckeln Toleranz gegenüber anderen Sichtweisen.

Methodenkompetenz: Die Schülerinnen und Schüler


– beschreiben Komplexität und Perspektivität von Wahrnehmung
– erarbeiten philosophische Texte und Gedanken
– erwerben ein angemessenes Verständnis von Fachbegriffen und ver-
wenden diese sachgerecht
– erkennen Widersprüche in Argumentationen und ermitteln Vorausset-
zungen und Konsequenzen dieser Widersprüche
– führen Gedankenexperimente zur Lösung philosophischer Probleme
durch
– analysieren in moralischen Dilemmata konfligierende Werte und beur-
teilen sie
– führen Gespräche im Sinne eines sokratischen Philosophierens
– legen philosophische Gedanken in schriftlicher Form dar.“ (ebd., 24 f.)3
Ich kann nicht einschätzen, wie diese Erwartungen auf Fachphilosophinnen
bzw. Fachphilosophen am Lernort Hochschule wirken, also auf diejenigen,
die einen großen Teil ihrer Studierenden auf deren Einlösung hin ausbil-
den. Man könnte eine nicht legitime Instrumentalisierung der immer wie-
der ihre Zweckfreiheit postulierenden Philosophie darin sehen, ggf. auch
eine Überforderung der wissenschaftlichen Disziplin. Als Schulpraktiker

3
In dieser Formulierung sind die Kompetenzen bezogen auf die Jahrgangsstufen 9/10
aller Schulformen außer dem Gymnasium mit G8, zu dem es aber analoge Formulie-
rungen gibt.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 291

erkenne ich vor allem eine gesellschaftliche Herausforderung in dieser


Form, auf die Frage „Warum noch Philosophie?“ zu antworten. Und die in
dieser Antwort formulierten Erwartungen haben m.E. auch eine Berechti-
gung aus der philosophischen Tradition heraus. Nicht nur der antike Sokra-
tes verstand sich als Erzieher für die Bürger Athens – und wandte sich zu
diesem Zwecke vor allem an deren Jugend. Die Frage nach der Gestaltung
eines gelingenden Lebens stand lange im Zentrum philosophischer Refle-
xion. Anita Rösch (vgl. Rösch 2009, 42) verweist auf Parallelen der aktuel-
len Kompetenzorientierung zu Immanuel Kants Schrift Was heißt: sich im
Denken orientieren (Kant 1959). Sie kann durchaus mit der Leitwissen-
schaft verbunden werden, „fasst man Philosophieren als ein Tun, eine Klä-
rung von Gedanken auf, das durch bestimmte Methoden definiert ist und
sich durch eine Abkehr von passiver, konsumistischer Haltung hin zum
Selbstdenken, zum aktiven Denken, zur Kritikfähigkeit auszeichnet. Dabei
geht es nicht nur um eine gedankliche Leistung, sondern um die Gestaltung
des (individuellen/gesellschaftlichen) Lebens, die idealerweise durch Re-
flexion beeinflusst wird. Handeln wiederum bleibt nicht ohne persönliche
und soziale Folgen, die erneut in das Nachdenken zurückgeführt werden.
Im Mittelpunkt stehen somit angewandte Ethik und Philosophie vor dem
Hintergrund tradierter Wissensbestände, praktiziert wird angewandtes
Philosophieren. Diese Überlegungen korrelieren mit dem modernen Kom-
petenzbegriff. Zur Erinnerung – Kompetenzen sind Verhaltensdisposi-
tionen, Probleme in variablen Situationen zu lösen.“ (Rösch 2009, 43 f.).
So war es immer wieder ein Anliegen von Philosophen, aus ihrer Reflexi-
on heraus in die Gesellschaft hinein zu wirken. Dies muss nicht allein in
ZEIT- oder FAZ-Kommentaren geschehen, d. h. in der Ansprache der er-
wachsenen intellektuellen Elite unseres Landes. Als Pädagoge bin ich fest
davon überzeugt, dass eine Einwirkung auf die Gesellschaft früher, breiter
und grundlegender sein kann und muss – und dass auch die Geschichte der
Philosophie bzw. der Philosophen ausreichend Grundlage und Potential für
diese Herausforderung bietet, die es in der Weiterentwicklung ihrer Didak-
tik sichtbar und nutzbar zu machen gilt, „besteht doch die Möglichkeit,
durch Philosophieren zu einer autonomen Persönlichkeit zu werden.“
(Münnix 2002, 12) Beispielhaft sei hier auf die Entwicklung einer „Sokra-
tischen Didaktik“ (Raupach-Strey 2002) hingewiesen oder das Projekt von
Johannes Rohbeck, der „philosophische Denkrichtungen“ in Bezug auf
ihre „didaktischen Potentiale“ und die hierdurch in Schule zu erreichenden
„philosophischen Kompetenzen“ hin untersucht und exemplarisch in unter-
richtspraktisch umsetzbare Methodiken transformiert hat (Rohbeck, 2008).
Insofern verweisen die hier formulierten Ansprüche, die durch den Rück-
bezug auf Philosophie und Philosophieren eingeforderte Kompetenzorien-
tierung, auf die Notwendigkeit einer intensiven Zusammenarbeit von
292 Klaus Draken

Fachwissenschaft und Fachdidaktik Philosophie, die es zu fördern und


weiterzuentwickeln gilt.

V. Veränderte Didaktik
Noch vor wenigen Jahren war die Fachdidaktik vor allem mit der Streitfra-
ge nach Philosophie oder Philosophieren beschäftigt, d. h. dem Widerstreit
zwischen „Philosophie-orientiertem“ Unterricht und „Philosophieren-
orientiertem“, eher dialogisch, die philosophiegeschichtlichen Äußerungen
lediglich als Anregungen aufgreifenden, auf Selbstdenken basiertem Un-
terricht. Diese beiden Positionen gelten nach meiner Wahrnehmung mitt-
lerweile als versöhnt, da in der Praxis seit längerem eine sinnvoll sich er-
gänzende Verbindung beider Seiten der Debatte praktiziert wird. Dies
wurde unter anderem durch die Konstruktivismusdebatte in der allgemei-
nen Didaktik befördert, die die konstruierende Eigentätigkeit des Lerners
auch beim Bemühen um Verständnis historischer Schriften bzw. die Un-
möglichkeit einer Übertragung von Wissen aus Texten erklärte. In den
letzten Jahrzehnten wurde auch das Methodenparadigma in der allgemei-
nen Didaktik neu bewertet. In den Schulen „Klipperte“4 es gewaltig, d. h.,
es wurden Fortbildungen für Lehrer/innen in großem Stile anberaumt, die
neues Bewusstsein für Methoden der Unterrichts und Methodenlernen der
Schüler/innen schaffen sollten. In einer gewissen Analogie gibt es seit
2003 eine viel beachtete „Methodik des Ethik- und Philosophieunterrichts“
von Ekkehard Martens, die „Philosophieren als elementare Kulturtechnik“
auszuweisen versucht. Mit seinem „Fünf-Finger-Modell“ der Phänomeno-
logischen, der Hermeneutischen, der Analytischen, der Dialektischen und
der Spekulativen Denkmethode versucht er ein Fundament für die grundle-
genden „Werkzeuge“ der Philosophie und des Philosophierens zu legen.
Mit einem anderen Aspekt der allgemeinen didaktischen Entwicklung,
die entscheidenden Einfluss auf Kultusbürokratie zu nehmen scheint, tut sich
die Philosophiedidaktik aber noch schwer: mit der empirischen Lehr-/Lern-
forschung, wie sie seit einiger Zeit die öffentliche Diskussion bestimmt.
Hohen Einfluss auf politisch-administrative Vorgehensweisen hatte hierbei
der Schulpädagoge Hilbert Meyer. Seine als Metastudie empirischer Unter-
richtsforschung angelegte Schrift Was ist guter Unterricht? bestimmt derzeit
die in den Schulen NRWs durchgeführte Qualitätsanalyse. Allerdings weist
Meyer ausdrücklich darauf hin, dass die von ihm ausgewerteten empirischen

4
Heinz Klippert war hier als Akteur der Lehrerfortbildung äußerst wirksam. Seine
Vorstellungen finden sich u. a. in seinem Buch Methodentraining von 1994 und
zahlreichen Nachfolgeveröffentlichungen wieder.
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 293

Befunde sich „im Wesentlichen […] auf das kognitive Lernen“ beschränken.
„Die Studien klammern so wichtige Zielbereiche wie das Methodenlernen
oder die Entwicklung von Sozialkompetenz und Kreativität – zumeist aus
forschungspraktischen Gründen und nicht aus Desinteresse – aus.“ (Meyer
2004, 127) Hier aber setzten viele politische Erwartungen an den Unterricht
Philosophie und Praktische Philosophie an. Zu dem Bereich der Sozialkom-
petenz könnte man darum eine etwas ältere Metastudie über Die Mittel der
Moralerziehung und ihre Wirksamkeit von Siegfried Uhl (Uhl 1996) in
Erinnerung rufen, der über mehrere hundert Seiten empirische Studien aus
diesem Bereich analysiert. Deren ernüchternde Ergebnisse: komplexere
Methoden der Erziehung bzw. des Unterrichts, die vielfach nach Erfah-
rungsberichten Erfolg versprechend wirken, sind in ihrer Wirksamkeit empi-
risch nur schwer zu fassen. Lediglich der Förderung des Einfühlungsver-
mögens bzw. dem Erproben eines Perspektivwechsels gibt er hinsichtlich
einer empirisch belegten Wirksamkeit gute Noten – aber das klingt noch
nicht in einem wünschenswerten Maß nach philosophischer Ausrichtung.
Eine bessere Verbindung besteht zu den bereits als „Neurodidaktik“
(vgl. Herrmann 2006) gehandelten Übertragungen aus neurobiologischen
Befunden auf den allgemeindidaktischen und fachdidaktischen Diskurs.
Hier hat sich insbesondere Heinz Schirp Verdienste erworben, der Folge-
rungen für den Bereich der Werteerziehung zog. An erster Stelle steht für
ihn dabei der „Lebensweltbezug: Unsere neuronalen Strukturen sind auf
Sinn, Relevanz und Muster angelegt. Unser Gehirn lernt und behält des-
wegen auch das am besten, was sich in unseren Lebenssituationen als be-
deutungsvoll und als ‚viabel‘ erweist. Im Gegensatz zu einem Computer
etwa speichert unser Gehirn nicht einfach Informationen ab, sondern es
verarbeitet sie – vorausgesetzt sie ‚machen Sinn‘ und sind von offensicht-
licher Bedeutung für die Bewältigung von Lebenssituationen.“ Dies kann
beim Philosophieren mit Schülerinnen und Schülern, wie bereits gezeigt, in
besonderer Weise eingelöst werden. Aber auch „vielfältige Anwendungs-
bezüge“, „emotionale Ansprache“ und „emotionale Beteiligung“ (Schirp
2004, 228 ff.) weiß er aus diesem Kontext heraus neu zu begründen. Die
neuere Diskussion um das Verhältnis von „Emotion und Kognition“5 zeigt,

5
Am 10. Oktober 2009 fand in Kooperation zwischen der Arbeitstelle Praktische
Philosophie und dem Philosophischen Seminar der Universität Münster, der Philo-
sophisch-Politischen Akademie und der Gesellschaft für Sokratisches Philosophie-
ren eine Tagung zum Thema „Emotion und Kognition“ statt, auf der u. a. Eva Maria
Engelen und Achim Stefan referierten. Hier wurde zum einen die Notwendigkeit
von Emotionen zur Motivation jeglicher rationaler Reflexion als auch ihr notwen-
diger Beitrag zu schnellen rationalen Entscheidungen auf heutigem Forschungs-
stand diskutiert (vgl. auch Blesenkemper 2006, 92-129).
294 Klaus Draken

dass wir es hier nicht mit zwei konkurrierenden, sondern sich notwendig
ergänzenden Phänomenen zu tun haben, und dass Philosophie- und Prakti-
sche Philosophie- bzw. Ethikunterricht unter Berücksichtigung dieser Tat-
sache auch diesem Kriterium entsprechen kann. Hier stehen wir als Fach
aber sicher noch vor Herausforderungen, die insgesamt für die Schule als
nicht gemeistert angesehen werden können. Dennoch: Auch dieses Feld
darf die Philosophie in der Schule nicht ausschließen, sondern muss es
aktiv angehen.
Zusammenfassend lässt sich über das Verhältnis des Philosophierens
in der Schule zu neueren didaktischen Tendenzen etwa Folgendes sagen:
Der Philosophieunterricht hat sich – z. T. in durchaus experimentell anmu-
tender Weise – mittlerweile zumindest punktuell fast allem geöffnet, was
auf dem pädagogisch-schulischen Marktplatz gehandelt wird. Vieles hier-
von scheint Bereicherungen für Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweils
individuell unterschiedlichen Zugangsweisen zu philosophischem Denken
zu bergen. Dass am Ende immer wieder das Bemühen um die Abstraktion,
um das Zielen auf das Allgemeine, der genaue Umgang mit den Begriffen
– kurz: die philosophische Qualität des Umgangs mit den Phänomenen des
Alltags erreicht werden muss, steht dabei für mich außer Frage. Aber der
Zugriff auf diese Dimension muss sich bei einem Unterricht, der bereits in
Klasse 5 beginnt, wandeln – und er hat sich längst mit den sich verändern-
den Generationen von Jugendlichen in der gymnasialen Oberstufe zu wan-
deln begonnen.
Warum also noch Philosophie, wo die Anforderungen so vielfältig und
keineswegs in allen Aspekten genuin philosophisch erscheinen? Die Ant-
wort lautet, weil wir auf den unterschiedlichsten Wegen viele Kinder und
Jugendliche zur notwendigen, zur authentischen und zur tief greifenden
Reflexion der Grundfragen des Lebens bringen können und sollten. Die
Schülerinnen und Schüler können ein wichtiges Rüstzeug für eine rational
kontrollierte und gelingende Lebensgestaltung aus dem „Philosophieren“
in der Schule gewinnen, und die akademische Philosophie könnte aus dem
Potential dieser zukünftigen Erwachsenen sowohl offene und engagierte
Studierende für ihr Fach als auch eine höhere Beachtung in der öffentli-
chen Diskussion erhoffen, die im besten Falle zu einem Mehr an Ra-
tionalität im politisch-gesellschaftlichen Diskurs führen könnte.

VI. Sich verändernde Lehrer/innenausbildung

Wir haben mittlerweile ein neues Lehrerausbildungsgesetz in NRW, das


dem Bologna-Prozess, der neuen Eigenständigkeit der Hochschulen, dem
Wunsch nach Verkürzung der Ausbildungszeiten und der Erfordernis nach
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 295

mehr Praxisorientierung in der Ausbildung gleichzeitig Rechnung tragen


soll. Diese Anforderungen stehen aber in z. T. nicht unerheblicher Span-
nung zueinander.
Bachelor- und Masterstudiengänge für das Lehramt entsprechen ober-
flächlich der Europäisierung, aber in vielen Aspekten konnte die erstrebte
Angleichung nicht durchgehalten werden. Der Anspruch auf Polyvalenz
des Lehramtsbachelors ist z. B. kaum eingelöst, weil der zukünftige Lehrer
mit einem anderen Blick in das Fachstudium geht als Studierende mit ande-
ren Berufszielen. Dafür ist der Master im Grunde für alle den Bachelor
abschließenden Studierende notwendig, wenn sie es bis in die Schule schaf-
fen sollen.
Dem Wunsch nach Verkürzung der Ausbildungszeiten steht entgegen,
dass nun nicht mehr acht bzw. sechs sondern zehn Semester Regelstudien-
zeit für alle Lehrämter zum notwendigen akademischen Abschluss führen.
Auch wenn es zu begrüßen ist, dass die alte Unterteilung in eine längere
Universitätsausbildung für die Gymnasiallehrer und eine kürzere für Leh-
rer der Sekundarstufe-1-Schulen damit überwunden wurde, so ist die Er-
höhung der Gesamtdauer nur durch eine umstrittene Kürzung des Referen-
dariats zu kompensieren.
Aber dadurch wird der Wunsch nach mehr Praxisbezug gefährdet, wie
er durch das Referendariat bisher deutlich stärker gewährleistet war als
durch die Hochschule. Also steigen die quantitativen wie qualitativen An-
forderungen an Praktika und Praxissemester, ohne dass alle Hochschulen
hierfür in Ruhe Konzepte entwickeln konnten. Die Fragen nach einer ent-
sprechenden Logistik, Praxiserfahrungen des Hochschulpersonals und
entsprechender Ressourcen für diese Bereiche ist nach meiner Wahrneh-
mung noch weitgehend ungeklärt. Insofern erscheint es derzeit fraglich, ob
die begonnene Umstrukturierung eine postulierte Stärkung zielführender
Praxisorientierung wirklich erreicht.
Von den gegebenen und weiterhin bestehenden Institutionen her wäre
eine enge Zusammenarbeit zwischen Hochschulen, ehemaligen Studien-
seminaren (bald „Zentren für schulpraktische Lehrerausbildung“) und
Schulen sinnvoll einzufordern, aber diese wird durch die Eigenständigkeit
der Hochschulen und die Staatlichkeit von Studienseminaren und Schulen
zugleich systemisch erschwert. Personaleinsatz und Arbeitsleistungen aus
den drei genannten Bereichen können institutionell nur schwer miteinander
koordiniert und verrechnet werden. Dennoch müssen für eine sinnvolle
Lehramtsausbildung Schulpraxis, Studienseminare und akademische Wis-
senschaft systematisch zusammenwirken.
Ich sehe die genannten Probleme zu einem Zeitpunkt, an dem sich die
Lehramtsausbildung neu organisieren muss, ohne damit behaupten zu wol-
len, früher wäre alles zufriedenstellend eingerichtet gewesen. Aber ich
296 Klaus Draken

möchte im Kontext dieser Veröffentlichung einige Wünsche an die Hoch-


schule, wie ich sie aus der Perspektive des schulischen Lernens für unsere
Fächer als Lehrer, Seminarausbilder und Lehrerfortbildner sehe, äußern:
– Natürlich ist es für angehende Lehrerinnen und Lehrern unabdingbar,
dass sie fachwissenschaftlich solide ausgebildet werden. Dabei gilt al-
lerdings – früher wie heute – dass es mit einem hohen Maß an stark
spezifiziertem Fachwissen für den zukünftigen Lehrer nicht getan ist,
sondern dass daneben ein Überblick über Arbeitsweisen und Themen
der Philosophie mit lediglich punktuell exemplarischer Vertiefung auf
dem Stand der wissenschaftlich hoch spezialisiert geführten Detailde-
batten sinnvoll erscheint.
– Daneben brauchen die Studierenden Kompetenz- und Reflexionsange-
bote zur Didaktik und zur Methodik der Philosophie und des Philoso-
phieunterrichts. Hiermit ist nicht gemeint, sie per Lehrauftrag mit
freundlichen Kollegen aus der Schule in Kontakt zu bringen, die über
ihre Praxis plaudern. – Ich weiß, dass ich mit dieser karikaturhaften
Überspitzung keineswegs dem Bemühen vieler Kolleginnen und Kol-
legen mit Didaktiklehraufträgen an Hochschulen gerecht werde, die
dort solide Arbeit leisten. – Aber dennoch denke ich, dass es institu-
tionell mehr als nur dieser Lehraufträge bedarf, wenn man Praxisori-
entierung mit regelmäßiger Rückkopplung an sich ständig verändernde
schulische Verhältnisse an den Hochschulen etablieren will. Wenn die
Hochschulphilosophie ihren Auftrag der Lehrerausbildung, der einen
großen Anteil ihrer Studierenden betrifft, ernst nehmen will, müssen
hierfür auch Ressourcen im Sinne entsprechender Stellen bereit ge-
stellt werden.
– Es gibt einen institutionellen Widerspruch zwischen Berufungspraxis
und Praxisbedarf in der Ausbildung: Diejenigen Menschen, die sich
tatsächlich in etwas breiterem Maße auf die Praxis von Schule einge-
lassen haben, erscheinen in den Augen der Hochschulen i. d. R. aka-
demisch nur unzureichend qualifiziert. Die aber akademisch heraus-
ragend qualifizierten Bewerber hatten i. d. R. aus nachvollziehbaren
Gründen kaum Gelegenheit, angemessene Praxiserfahrung in Bezug
auf Schule zu sammeln. Hierüber sollte in Zukunft noch systemati-
scher nachgedacht werden.
– Wenn demnächst die Hochschule Praktika zu betreuen hat, dann darf
sie nicht übersehen, dass Schule in diesem Zusammenhang nicht mehr
reines Forschungsfeld ist, sondern dass die auszubildenden Studieren-
den Teilnehmer in diesem Geschehen werden sollen. Es geht dann
nicht mehr allein um Wissen, um Kenntnis über bestimmte Zusam-
menhänge, sondern es treten Fertigkeiten und Handlungskompetenzen
Warum noch mit Schülerinnen und Schülern philosophieren? 297

für die Schule in den Vordergrund. Ein hervorragender Philosoph ist


noch lange keine guter Philosophielehrer. (Allerdings sollte ein guter
Philosophielehrer schon auch ein guter Philosoph sein.)
Philosophie und Philosophieren gehört an die Schule, um unseren Kindern
und Jugendlichen zu helfen, zu reflexionsfähigen Erwachsenen zu werden,
um ihnen den Wert des rationalen Durchdringens der sich konkret stellen-
den Grundfragen des Lebens nahe zu bringen und um ihnen damit sowohl
Unterstützung bei eigener Identitäts- und Sinnfindung zu erleichtern als
auch die Möglichkeit eines rational kritischen Hinterfragens zu stärken.
Dabei kann die Philosophie bzw. das Philosophieren einen grundle-
gend wichtigen Beitrag in der Schule leisten, wodurch sicherlich auch die
Philosophie auf Dauer in der öffentlichen Wahrnehmung und damit in
ihrer Stellung an den Hochschulen hinzu gewinnen wird.

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Steenblock, V., 42009: Philosophische Bildung. Einführung in die Philosophiedidaktik
und Handbuch: Praktische Philosophie, Berlin/Münster.
Uhl, S., 1996: Die Mittel der Moralerziehung und ihre Wirksamkeit, Bad Heilbrunn.
Philosophie und UNESCO

Lutz Möller

Dieser Beitrag besteht aus vier Teilen. Nach einer einleitenden Klärung der
Zuständigkeiten der Vereinten Nationen und der UNESCO und einem kur-
zen Rückblick auf sechzig Jahre UNESCO-Geschichte wird die Frage der
Rechtfertigung der Beschäftigung der UNESCO mit der Philosophie disku-
tiert. Abschließend soll eine konkrete Erwartungshaltung an die Philoso-
phie diskutiert werden, nämlich zur Klärung von Konzepten, welche in der
Politik der Vereinten Nationen eine wichtige Rolle spielen, beizutragen.

I. Vereinte Nationen und UNESCO:


Organisationen der Staaten oder der Intellektuellen?

Die Vereinten Nationen sind in ihrer Gesamtheit die weitestgehende, wenn


auch nicht die erste institutionelle Antwort auf die auch von Philosophen,
nicht zuerst von Immanuel Kant, gestellte Frage nach dem Völkerbund
souveräner Einzelstaaten und dem ewigen Frieden.
Die Vereinten Nationen haben sich seit dem Zweiten Weltkrieg als Sys-
tem von zwischenstaatlichen Organisationen mit einer klaren Aufgabentei-
lung etabliert. 23 Sonderorganisationen sind bei den Vereinten Nationen für
einzelne weltpolitisch als wichtig erachtete und multilateral zu verhandeln-
de Fragen zuständig. Die Arbeitsteilung ergibt sich dabei teilweise aus einer
Binnenlogik, was teils zu einem erheblichen Koordinierungsaufwand führt.
Über zwanzig UN-Organisationen kümmern sich zum Beispiel um das
Thema „Wasser“ – die FAO aus der Sicht der Landwirtschaft, die WHO aus
der Sicht der Gesundheit und so weiter. Die UNESCO hat das breiteste und
am wenigsten scharfe Mandat aller UN-Organisationen und sitzt daher in
vielen der Koordinierungsgremien mit am Tisch, meist weil es alle Themen
auch als wissenschaftliche Fragestellungen oder Disziplinen gibt, auch weil
diese für die Bildung einschlägig sind und wichtige kulturelle Querbezüge
und Auswirkungen haben.
Die UNESCO wurde 1945 als Sonderorganisation für Bildung, Kultur,
Wissenschaft und Medienpolitik gegründet, wobei die Sciences erst in
300 Lutz Möller

letzter Minute in das Mandat und das „S“ in das Akronym der UNESCO
aufgenommen wurden. Bis heute gibt es verschiedene Ansichten darüber,
ob und inwiefern die Geisteswissenschaften, die Humanities, von diesem
Mandat abgedeckt sind, was vor allem auf die angelsächsische Tradition
des Begriffs „Sciences“ zurückzuführen ist. Auf formaler und prinzipieller
Ebene ist diese Frage klar beantwortet: Die UNESCO besitzt das Mandat
für Geisteswissenschaften und sie hat es im System der Vereinten Nationen
exklusiv. Die Weltwissenschaftskonferenz von 1999 in Budapest hat die
Einheit des Wissenschaftssystems nachdrücklich unterstrichen.1
Die Vereinten Nationen, wenn man sie für einen Moment auf die Orga-
nisation mit den drei Hauptgremien Generalversammlung, Sicherheitsrat
und ECOSOC sowie das Sekretariat in New York reduziert, beschäftigen
sich nicht mit philosophischen Fragen: Wie eine Recherche im UN-Internet-
Dokumentenserver ergeben hat, hat sich die UN-Generalversammlung of-
fenbar nie mit Philosophie oder philosophischen Fragen als solche beschäf-
tigt. Selbstverständlich beschäftigen sich die Vereinten Nationen fortlau-
fend mit politischen Fragen, die philosophisch sehr interessant sind.2 Ein
Beispiel sind die Diskussionen, die seit Beginn der 1990er Jahre auf höchs-
ter politischer Ebene um ein Grundkonzept der Vereinten Nationen geführt
werden: Unter den Stichworten der „Responsibility to Protect“ und der
„Human Security“ finden Diskussionen statt, die den in der Frühzeit der
Vereinten Nationen unangreifbaren Grundsatz der staatlichen Souveränität
unter bestimmten Voraussetzungen einschränken wollen, zum Beispiel in
Fällen des Völkermords, der ethnischen Säuberung oder von systematischen
Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Der Nationalstaat ist demnach nicht
mehr alleiniges Subjekt des Völkerrechts; auch der einzelne Mensch spielt
eine Rolle, dessen Sicherheit zu schützen in Extremsituationen Verantwor-
tung der Völkergemeinschaft ist. Auch wenn diese Diskussion manchmal
eine machtpolitische Schlagseite besitzt, ist unverkennbar, dass sich die
philosophische Konzeption des Völkerbundes von Immanuel Kant inzwi-
schen im politischen Rahmen der Vereinten Nationen deutlich weiter entwi-
ckelt, wobei diese Entwicklung natürlich auch von Philosophen und Intel-
lektuellen vorbereitet wurde.
Somit ist unter den UN-Organisationen für die Philosophie als solche
nur die UNESCO strukturell zuständig, genauer seit dem Jahr 2000 die
UNESCO-Abteilung für Geistes- und Sozialwissenschaften. Je nach Res-

1
Philosophie wird im Abschlussdokument dieser Konferenz übrigens kaum erwähnt:
Wo sie genannt wird, firmiert sie als Hilfswissenschaft, um Fragen des wissen-
schaftlichen Fortschritts – Schlagwort Bioethik – zu thematisieren.
2
Vergleiche den vierten Abschnitt dieses Beitrags.
Philosophie und UNESCO 301

sortzuschnitt war die Philosophie in den sechzig Jahren der UNESCO-


Geschichte für kurze Zeit auch der „Kultur“ zugeordnet oder war Thema
einer eigenen Stabsstelle.
Die Philosophie ist für die UNESCO, einer zwischenstaatlichen Orga-
nisation, aus demselben Grund Gegenstand, weshalb die UNESCO insge-
samt ein Mandat für Wissenschaft besitzt. Der UNESCO haben ihre Grün-
dungsväter und -mütter folgendes Leitmotiv mit auf den Weg gegeben:
„Da Kriege im Geist der Menschen entstehen, muss auch der Frieden im
Geist der Menschen verankert werden.“ Dieses Leitmotiv steht in der Prä-
ambel der Verfassung der UNESCO, die 37 Staaten 1945 unterzeichnet
haben. Aus der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges wurde folgende Lehre
gezogen: „Ein ausschließlich auf politischen und wirtschaftlichen Abma-
chungen von Regierungen beruhender Friede kann die einmütige, dauernde
und aufrichtige Zustimmung der Völker der Welt nicht finden. Friede muss
– wenn er nicht scheitern soll – in der geistigen und moralischen Solidarität
der Menschheit verankert werden.“ Es geht der UNESCO somit zu aller-
erst um den internationalen Austausch in der Wissenschaft, unabhängig
von der einzelnen Wissenschaft, zur Schaffung von mehr Solidarität und
damit Frieden. Dass internationaler Austausch und internationale Kontakte
zwischen einzelnen Individuen zur Völkerverständigung das „Übel des
Krieges mitsamt seinen Wurzeln“ ausreißen können, hat Aldous Huxley
bereits 1934 in einem Artikel unterstrichen.
Ein gelungenes Beispiel, wie die UNESCO diesen Kernverfassungsauf-
trag erfolgreich erfüllt, stammt aus der Physik. Die Gründung des Genfer
Forschungszentrums CERN fand in den 1950er Jahren unter der Schirm-
herrschaft der UNESCO statt. Ein aktuelles Beispiel, ebenfalls aus der Phy-
sik, ist die erste internationale Großforschungseinrichtung SESAME im
Nahen Osten, die Israel und Iran, Palästina und Syrien sowie fünf andere
Staaten gemeinsam betreiben und an der Wissenschaftler dieser Länder
zusammen forschen werden.
Die internationale Zusammenarbeit in den Gesellschaftsbereichen, die
vom UNESCO-Mandat abgedeckt werden, kann nur dann wirklich erfolg-
reich sein, wenn die Zivilgesellschaft möglichst intensiv auf allen Ebenen
einbezogen ist. Dies wurde schon bei der Gründung der UNESCO erkannt:
Mit den UNESCO-Nationalkommissionen wurde ein Ansatz für eine zwi-
schenstaatliche Organisation gefunden, der über einen Völkerbund im
kantischen Sinn hinausgeht. Die UNESCO-Nationalkommissionen sollen
zwischen den beiden entgegen gesetzten Modellen eines Völkerbunds der
souveränen Staaten und einer Weltorganisation der Intellektuellen vermit-
teln. Die UNESCO-Vorgängerorganisation vor dem Zweiten Weltkrieg,
das Internationale Institut für geistige Zusammenarbeit, war hingegen al-
302 Lutz Möller

lein eine Weltorganisation der Intellektuellen gewesen. Der Weltrat der


Klimaexperten IPCC ist ein ähnliches Modell. Die UNESCO von heute
findet sich im Spannungsfeld zwischen den beiden Polen. Ohne ihren zwi-
schenstaatlichen Charakter, als reine Weltorganisation der Intellektuellen,
hätte sie in der heutigen Welt sicher kaum politische Bedeutung. Zugleich
reicht sie über eine Vielzahl von Netzwerken von Institutionen und Perso-
nen und vor allem über ihre Nationalkommissionen immer weiter hinaus in
die Gesellschaft.
Ein wichtiges Tätigkeitsfeld der UNESCO in den Wissenschaften und
ein klassisches Beispiel, durch das die zwischenstaatliche Dimension der
Arbeit der UNESCO deutlich wird, sind die Umweltwissenschaften. Wer
in Zentralasien oder Afrika ein Feldforschungsprojekt durchführen möchte
und dadurch dazu beiträgt, dass globale oder regionale Umweltprobleme
dieser Länder besser verstanden werden und die Forscher dort besser aus-
gebildet sind, sollte so einfache Rahmenbedingungen haben wie möglich.
Jedoch spielen in solche Forschungsprojekte häufig hoheitliche Fragen
hinein, sei es der Zugriff auf genetische Ressourcen oder Rohstoffe im
Kontinentalsockel. Hier kann die UNESCO Rahmenbedingungen für inter-
nationale Feldforschungsprojekte oder Verfahren der Forschungsgenehmi-
gung definieren oder Empfehlungen zum Aufbau von Kapazitäten ausspre-
chen. Ein weiteres wichtiges Beispiel ist der Austausch von Daten über
Staatsgrenzen, auch im Hinblick auf einheitliche Standards, zum Beispiel
Flusspegelstände oder Daten über Erdbeben für Tsunami-Frühwarnsys-
teme. Weitere Beispiele für zwischenstaatliche Arbeit ist der freie Zugang
zu wissenschaftlichen Veröffentlichungen z. B. über Open Access Modelle
oder die Beratung von Regierungen im Hinblick auf die Schaffung von
wissenschaftspolitischen Gesetzen, Strukturen und Institutionen. Weltweite
Mindeststandards setzt die UNESCO auch für die biomedizinische und
biotechnologische Forschung.
Diese Beispiele zeigen, dass ein zwischenstaatliches Forum für man-
che Wissenschaften große Bedeutung hat, um sie überhaupt erst internatio-
nal arbeitsfähig zu machen. Damit stellen sich die Schlüsselfragen dieses
Beitrags: Gibt es zwischenstaatlich zu vereinbarende Rahmenbedingungen
der Philosophie, die diese überhaupt erst möglich machen und die von
einer zwischenstaatlichen Organisation wie der UNESCO definiert werden
müssen? Falls es diese nicht gibt: Welche Ziele und welche politische Le-
gitimität hat die Beschäftigung einer zwischenstaatlichen Organisation wie
der UNESCO mit einer Disziplin wie der Philosophie? Wenn es richtige
und legitime Ziele gibt: Wie kann sie die Ziele erreichen, wenn die
UNESCO selbst über nur sehr überschaubare finanzielle Ressourcen ver-
fügt und daher keine umfangreichen Förderprogramme auflegen kann?
Philosophie und UNESCO 303

II. Ein Rückblick

Die UNESCO selbst hat diese offensichtlichen Fragen immer wieder ver-
sucht zu beantworten. 2003 erschien die von Patrick Vermeren verfasste
Publikation La philosophie saisie par l’UNESCO, aus der die folgenden
historischen Bezüge stammen (vgl. Vermeren 2003).
Dem stellvertretenden Vorsitzenden der Gründungskonferenz der
UNESCO von 1945, Léon Blum, zufolge hat der Zweite Weltkrieg gezeigt,
dass Bildung, Wissenschaft und Kultur gegen das gemeinschaftliche
Menschheitsinteresse gewendet werden können und dass sie daher ausge-
richtet werden müssen auf die Idee von Fortschritt und Demokratie als
psychologische Voraussetzung von Solidarität und Frieden.3
Man kann diesen Gedanken von Léon Blum so auslegen, dass die Aus-
richtung auf wissenschaftlichen Fortschritt und Erkenntnis und auf Freiheit
von Meinung und Forschung eine erste Rahmenbedingung von Philosophie
ist. Man kann ihn aber auch so interpretieren, dass hier eine Norm von
Philosophie gesetzt wird, sie in den Dienst von Fortschritt und Demokratie
gestellt wird und somit nicht mehr Selbstzweck ist. Der Spagat zwischen
dem Eintreten für Selbstzweck und Freiheit von Wissenschaft und Philo-
sophie einerseits und der Förderung einer besonders den Menschenrechten
und der Demokratie verpflichteten Wissenschaft und Philosophie anderer-
seits, als Beitrag zum Verfassungsauftrag der UNESCO, war und ist für die
Philosophieprogramme der UNESCO charakteristisch.4 In vielen Weltre-
gionen ist dieser Spagat heute noch so aktuell und politisch brisant wie in
Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.
In den ersten Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg lagen die Aufgaben
der UNESCO in der Philosophie auf der Hand. Die ersten UNESCO-
Philosophieprogramme halfen, in Europa und zunehmend weltweit den
internationalen Austausch von Akademikern und Literatur zu fördern,
philosophische Gesellschaften einzurichten, neue Fachzeitschriften zu
gründen und die Universitäten international zu öffnen. Zudem setzte sich
die UNESCO dafür ein, die Philosophie in den Dienst der Gesellschaft zu
stellen, insbesondere im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit zeitge-
mäßen Fragestellungen wie den Menschenrechten.
Inhaltlich war den meisten von Anbeginn klar, dass sich die UNESCO
eben so wenig an bestimmten philosophischen Schulen wie dem Existen-

3
Weiter unten wird diskutiert, inwiefern diese psychologische Voraussetzung tat-
sächlich gegeben ist.
4
Weiter unten wird auch diskutiert, dass diese beiden Aspekte nicht als Gegensatz
gesehen werden müssen.
304 Lutz Möller

zialismus oder dem Marxismus ausrichten darf, wie sie sich an einer be-
stimmten Religion ausrichten darf. Der erste UNESCO-Generaldirektor
Julian Huxley meinte hingegen, „die grundsätzliche Philosophie der
UNESCO muss ein allgemeiner, wissenschaftlicher Humanismus sein, der
die verschiedenen Aspekte des menschlichen Lebens vereint und von der
Evolution inspiriert ist“. Julian Huxley war Biologe, sein Humanismus
war nicht-materialistisch, monistisch und evolutionär-dynamisch. Sein
sich seit 1946 abzeichnender Plan, vor dem Hintergrund der Kriegserfah-
rung und auf der Grundlage moderner wissenschaftlicher Erkenntnisse mit
Hilfe der UNESCO eine neue Weltphilosophie zu etablieren, traf auf hef-
tigen Widerstand von allen Seiten. Vor allem der französische Delega-
tionsleiter auf der zweiten UNESCO-Generalversammlung, Jacques Mari-
tain, ein katholischer Philosoph, wandte sich entschieden und erfolgreich
gegen eine eigenständige „UNESCO-Philosophie“. Ihm zufolge gibt es zu
den Menschenrechten sowie zu den Idealen der Freiheit, Gleichheit und
Brüderlichkeit Einverständnis auf einer praktischen Ebene, und zwar un-
abhängig von den jeweiligen philosophischen Schulen, die zur Begrün-
dung der Ideale herangezogen werden. Diese konsensuelle, praktische
Ebene habe ein UNESCO-Philosophieprogramm zu vertiefen, eine eigene
Philosophie lehnte er nachdrücklich und erfolgreich ab. Seine Vision war
es vielmehr, praktische Fortschritte zu erreichen, zum Beispiel einen uni-
versellen Konsens über die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte.
Die divergierenden Begründungen für Menschenrechte müssen und sollen
zwar in einer fairen Debatte aufeinander prallen und sichtbar werden, ohne
dabei jedoch eine Einigung oder auch nur Annäherung der Begründungen
anzustreben.
In den folgenden zehn Jahren legte die UNESCO die auch heute noch
publizierte Zeitschrift Diogène auf und gründete mit dem Conseil Interna-
tional de la Philosophie et des Sciences Humaines (CIPSH) eine Nicht-
regierungsorganisation mit globaler Mitgliedschaft, die philosophische
Grundsatzfragen frei diskutieren konnte, ohne dabei Anforderungen von
Regierungen berücksichtigen zu müssen. Der CIPSH übernahm von der
UNESCO auch all jene Programmaspekte, die eher akademischer Natur
sind, wie die Organisation von Kongressen und die Fortführung von Bib-
liographien.
Ab 1966 verstärkte sich das Engagement der UNESCO erneut, es wur-
de eine Philosophieabteilung gegründet, die die Genfer Philosophin und
Karl Jaspers-Schülerin Jeanne Hersch zwei Jahre lang leitete. Sie blieb
weit über die UNESCO heraus in Erinnerung durch die Publikation Le
droit d’être un homme zum zwanzigsten Jahrestag der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte. Diese Publikation unterstrich vor allem nach-
drücklich die Universalität der Allgemeinen Erklärung. Sie ist ein Meilen-
Philosophie und UNESCO 305

stein in der Geschichte der UNESCO, auch wenn das Werk ohne hohen
akademischen Anspruch konzipiert ist.
Vergleichende Werke über den Stand der Philosophie weltweit, ein
Band zum Aristoteles-Jubiläum, Kongresse zu anderen Jubiläen und Ta-
gungsreihen waren charakteristische Aktivitäten der folgenden zwanzig
Jahre. Viele weltweit bekannte Philosophen haben sich an diesen Projekten
beteiligt, wobei vor allem französische Philosophen wie Jacques Derrida,
Jean-Paul Sartre oder Claude Lévi-Strauss der UNESCO über Jahrzehnte
besonders eng verbunden waren.
Als eigenständige sektorale UNESCO-Programme haben sich seit
Langem der Kampf gegen den Rassismus etabliert, insbesondere gegen
pseudo-wissenschaftliche Begründungen für Rassismus; seit Anfang der
1990 die angewandte Ethik, insbesondere die Wissenschaftsethik, die Bio-
ethik und die Umweltethik; und die Begriffsbildung rund um die positiven
Voraussetzungen des Friedens. Seit 1950 hat die UNESCO mehrere Erklä-
rungen, Übersichtswerke und Stellungnahmen gegen den Rassismus mit
politischem Niederschlag publiziert. In der Bioethik hat sie durch drei
Erklärungen 1997, 2003 und 2005 zur Herausbildung von weltweit konsi-
stenten Normen beigetragen.
Ab 1989 wurde das Konzept der „Kultur des Friedens“ für einige Jahre
prägend für das Verhältnis der UNESCO zur Philosophie: Es ging der
UNESCO nicht mehr um eine Philosophie des Friedens, sondern eine Phi-
losophie der Kultur des Friedens. „Kultur des Friedens“ wurde und wird
verstanden als das trilaterale Spannungsverhältnis von Demokratie, Men-
schenrechten und Entwicklung. In diesem Geist wurde 1995 von verschie-
denen Philosophieprofessoren aus allen Weltregionen eine Pariser Erklä-
rung zur Philosophie verabschiedet. Ein internationales Jahr widmete sich
2000 der „Kultur des Friedens“; eine internationale Dekade zum gleichen
Thema schloss sich an.
Mit der Gründung des Netzwerks der UNESCO-Lehrstühle Anfang der
1990er Jahre wurde eine neue Form der strukturierten Zusammenarbeit mit
der akademischen Welt etabliert, die auch mehrere Philosophielehrstühle
umfasst und die sich bis heute als ertragreich erwiesen hat. Die ersten
UNESCO-Lehrstühle in der Philosophie wurden in Santiago de Chile,
Caracas, Paris, Seoul, Tunis, Ankara und Montreal eingerichtet. Ab 1995
fanden auch regelmäßig die Rencontres philosophiques statt. In öffent-
lichen Diskussionen diskutierten Philosophen, Intellektuelle und Künstler
aktuelle Weltprobleme. In diesem Rahmen widmete sich die UNESCO
Ende der 1990er Jahre wiederholt dem Projekt Weltethos, auch unter Be-
teiligung von Hans Küng und Karl-Otto Apel. Der 2002 in die Wege gelei-
tetet Welttag der Philosophie, der seit 2005 ein offizieller UNESCO-
Welttag ist, ist das jüngste Projekt einer strukturierten Auseinandersetzung
306 Lutz Möller

mit der Philosophie: Mehr als andere Instrumente der Vergangenheit hat er
das Zeug dazu, die Breite der Bevölkerung zu erreichen.
Auf dem Gebiet der Philosophielehre wurden vergleichende Studien
im globalen Maßstab 1951 und 1952 durchgeführt, sowie auf kontinentaler
Ebene 1980 (Afrika), 1983 (Asien), 1985 (Lateinamerika und Arabische
Welt) und 1993 (Europa). Der Zusammenhang zwischen Philosophie und
der Demokratisierung wurde 1994 für verschiedene Staaten und Kontinen-
te systematisch erhoben, unter anderem auch durch Ulrich Johannes
Schneider für Deutschland. Auch wurden zu dieser Zeit die Wechselwir-
kungen zwischen Philosophie und anderen gesellschaftlichen Strömungen
analytisch beschrieben und in verschiedenen Sprachen publiziert. 2007
erschien Philosophy – A school of freedom, eine erneut global vergleichen-
de Studie über die Philosophielehre auf allen Bildungsebenen. 2009 wer-
den in vier „high-level regional meetings“ die Ergebnisse dieser Studie
wieder zurückgespielt in die Länder.
Weitere aktuelle Projekte sind „Inter-regional philosophical dialogues“
zum Beispiel zwischen Asien und der Arabischen Welt oder Afrika und
Lateinamerika; ein globales Netzwerk von inzwischen über 2.000 Philoso-
phinnen. Eine globale Vergleichsstudie über philosophische Forschung ist
in Vorbereitung,
Die UNESCO-Generalkonferenz, die sich heute aus 193 Staaten zu-
sammensetzt, hat 2005 eine Philosophiestrategie verabschiedet, die für die
UNESCO folgende drei Aufgabenfelder definierte:
1. Für einen Platz für die Philosophie in den Bildungssystemen zu werben
– um der Philosophie selbst willen, um die Demokratie zu fördern und
um junge Menschen zu verantwortungsvollen Staatsbürgern zu erzie-
hen.
2. Für die Philosophie in der Öffentlichkeit zu werben und die Bedeutung
der Philosophie herauszustellen.
3. Innerhalb der Philosophie als Disziplin für eine Auseinandersetzung
mit Weltproblemen zu werben.
Die UNESCO-Philosophiestrategie von 2005 setzt sich eher konservative
Ziele und unterfüttert diese mit Maßnahmen, die in der Außensicht eher
defensiv wirken. Diese unspektakuläre Herangehensweise ist jedoch realis-
tisch angesichts der sehr begrenzten finanziellen und humanen Ressourcen
der UNESCO. Die UNESCO als globale Organisation muss ihre Prioritä-
ten, Ziele und Maßnahmen im Hinblick auf alle Länder festlegen und ver-
treten. Sie muss sich in ihrem Handeln auf ihre schwächsten Mitglieder
konzentrieren. Das Handeln der UNESCO würde bereits dann als erfolg-
reich gewertet werden, wenn sie zum Beispiel hilft, dass sich Philosophie
als ernsthafte akademische Disziplin in einer Reihe von Entwicklungslän-
Philosophie und UNESCO 307

dern besser oder überhaupt erst etabliert. Insofern kann mit Blick auf Ent-
wicklungsländer durchaus davon gesprochen werden, dass die UNESCO in
einigen Ländern dazu beiträgt, Rahmenbedingungen zu schaffen – wozu
auch Forschungsfreiheit gehört.
Der Fokus auf Entwicklungsländer hat aber zur Folge, dass sie für die
Regierungen, Zivilgesellschaften und akademischen Gemeinschaft in weiter
entwickelten Staaten wie in Deutschland scheinbar wenig anzubieten hat.
Natürlich hat die Philosophie auch Voraussetzungen und Rahmenbedingun-
gen in Industrieländern – die Veränderungen auf diesem Feld durch die
Reform der Studiengänge wurden auf diesem Symposium angesprochen.
Die UNESCO besitzt hierzulande derzeit aber nicht die politische Kraft, um
im Blick auf die Veränderung solcher Rahmenbedingungen politisch wirk-
sam zu werden. Die UNESCO kann aber ideelle Unterstützung anbieten, sie
kann den symbolischen Gehalt und die Legitimität einer globalen Organi-
sation in die Waagschale werfen. Sie ist dabei aber auch auf Kooperationen
angewiesen und darauf, dass sich die von der UNESCO-Strategie ange-
sprochenen Communities im Hinblick auf die Erreichung der Ziele der
UNESCO-Strategie selbst organisieren. In Industriestaaten braucht es gut
etablierte Partnerschaften zwischen allen zentralen Akteuren, um auf dem
Hintergrund starker Konkurrenz um Schlagzeilen ein Thema wie die Philo-
sophie auf die politische Agenda und, losgelöst von Anlässen wie Bestsel-
lern oder Skandalen, in das öffentliche Bewusstsein zu bringen.

III. Warum Philosophie?

Allerdings besteht auch für Entwicklungs- und Schwellenländer Gefahr,


dass die Ansatzpunkte der UNESCO-Philosophiestrategie ins Leere laufen,
wenn die UNESCO nicht ambitionierter ansetzen kann als mit Öffentlich-
keitsarbeit und Appellen. Gerade in diesen Ländern reichen weiche Maß-
nahmen oft allein deshalb nicht aus, weil zum Beispiel Philosophen an
Universitäten oft einfach keine finanziellen Mittel haben, um Veranstal-
tungen zum Beispiel zu einem Welttag der Philosophie zu gestalten.
Die fehlende Verfügbarkeit substanzieller finanzieller Mittel stellt die
Frage nach dem Zweck einer Schwerpunktsetzung der UNESCO in der
Philosophie neu, ergänzt durch eine praktische Dimension. Da die
UNESCO als UN-Organisation für Wissenschaft a priori für die gesamte
Spannweite der akademischen Disziplinen zuständig ist, muss sie jede
Schwerpunktsetzung zugunsten jeder Disziplin sehr gut begründen. Der
Verweis auf die Förderung internationaler Kooperation zur Friedenssiche-
rung reicht nicht aus, dieses Argument kann zugunsten jeder wissenschaft-
lichen Disziplin vorgebracht werden.
308 Lutz Möller

Wie bereits erwähnt, gibt es generische Disziplinen wie die Erd- oder
Umweltwissenschaften, wo die Arbeit der UNESCO auf der Ebene zwi-
schenstaatlich zu treffender Voraussetzungen für die Wissenschaft für die
Verbesserung von Rahmenbedingungen der internationalen Wissenschafts-
zusammenarbeit von intuitiv nachvollziehbarem gesellschaftlichem Nutzen
ist. In Bereichen wie der Bioethik (als Hilfswissenschaft für die Biomedizin
und Biotechnologie) ist ein Handeln der UNESCO ebenfalls relativ einfach
nachzuvollziehen. Das wirkungsvolle und international sichtbare Agieren
der UNESCO auf diesem Feld seit Anfang der 1990er Jahre, um weltweit
gültige Standards zu etablieren, ist eine Erfolgsgeschichte. Hier geht es um
die Formulierung von völkerrechtlichen Erklärungen, Aufbau von Kapazi-
täten wie nationalen Ethikkomitees oder den Austausch von Erfahrungen,
zum Beispiel zu Ethikausbildungsprogrammen an Universitäten.
Die Schwerpunktsetzung in der Philosophie hingegen ist zumindest
dem ersten Anschein nach nicht von externen oder exogenen Faktoren
(zwischenstaatliche Voraussetzungen der Forschungstätigkeit, Notwendig-
keit als Hilfswissenschaft wegen schnellen technologischen Fortschritts)
bestimmt. Die Begründung der erwähnten UNESCO-Philosophiestrategie
lautet: “The importance of philosophy to the work of UNESCO is evident,
since philosophical analysis and reflection are undeniably linked to the
establishment and maintenance of peace. By developing the intellectual
tools to analyze and understand key concepts such as justice, dignity and
freedom, by building capacities for independent thought and judgment, by
enhancing the critical skills to understand and question the world and its
challenges, and by fostering reflection on values and principles, philosophy
is a ‘school of freedom’.”
Die UNESCO rechtfertigt also ihre Schwerpunktsetzung zugunsten der
Philosophie aus einer vagen Andeutung einer Verantwortung als „intellek-
tuelle Agentur“ des UN-Systems zugunsten des Friedens, ein direkter Bezug
zum Verfassungsauftrag. Die UNESCO geht in dieser Passage zudem davon
aus, dass die Philosophie mehr als jede andere Wissenschaft Grundlegendes
beizusteuern habe zur Klärung der ihr und allen UN-Organisationen
zugrunde liegenden Werte, genannt werden Gerechtigkeit, Würde und Frei-
heit – also ein ganz anderes Argument. Das wirft folgende Fragen auf:
1. Sind diese Rechtfertigungen stimmig?
2. Wie werden die genannten Werte und somit die Philosophie verstan-
den? Sehr weit oder sehr konkret? Politisch oder philosophisch?
Die genannte Rechtfertigung erscheint wenig stimmig. Es bräuchte starke
Gründe für die Behauptung, dass philosophische Analyse für die Herstel-
lung und Aufrechterhaltung von Frieden bedeutsam ist; diese werden hier
und auch anderswo nicht gegeben. In der Friedens- und Konfliktforschung
Philosophie und UNESCO 309

geht es wie in jeder Wissenschaft auch um die Klärung konzeptioneller Fra-


gen, ohne dass diese Begriffsklärung dadurch als philosophisch bezeichnet
werden könnte. Natürlich kann Philosophie im Zuge des Aufbaus neuer
gesellschaftlicher Strukturen wichtige Beiträge leisten, aber nicht notwen-
dig mehr als andere Disziplinen. Ein Argument, das einen Zusammenhang
zwischen Philosophie und Frieden herstellen könnte, wäre, dass die Funk-
tionsfähigkeit und Differenzierung von Wissenschaftssystemen durch Kon-
flikte stark beeinträchtigt werden und die Philosophie in solchen Situationen
zurückschlüpft in die Rolle einer Leit- oder Schirmwissenschaft, ein Status,
den sie in der Frühzeit der Wissenschaftsgeschichte innehatte. Dieser Ge-
danke soll hier nicht weiter verfolgt werden.
Aus dem zweiten Teil der oben zitierten Rechtfertigung kann hingegen
ein anderes Argument abgeleitet werden, dass die Philosophie eine wichtige
Rolle hat zur Schaffung demokratischer Verhältnisse. In der Tat schult die
Philosophie unabhängiges und kritisches Denken und hinterfragt herge-
brachte Dogmen. Daher spielt sie eine wichtige Rolle als Gegengewicht zu
Fundamentalismen aller Art und spielt daher wohl eine Rolle für die Her-
ausbildung freiheitlich-demokratischer Gemeinwesen. Dennoch ergibt sich
daraus erst dann ein Beitrag zum Frieden, wenn überzeugend argumentiert
und nicht nur wie von Léon Blum behauptet wird, dass freiheitlich-
demokratische Gemeinwesen friedlicher sind als nicht-demokratische Ge-
meinwesen. Selbst wenn dieser argumentative Brückenschlag gelingt, ist die
Argumentation eher indirekt und überzeugt wenig. Der Bezug zum Verfas-
sungsauftrag der UNESCO erscheint daher insgesamt kaum schlüssig.
Die zweite oben aufgeworfene Frage bezieht sich auf das Verständnis
der genannten Werte „Gerechtigkeit, Würde und Freiheit“. Da die Philoso-
phie hier in den Dienst der Gesellschaft gestellt wird, muss die geforderte
Klärung der genannten Begriffe in einem weiten Verständnis stattfinden,
das Platz für vielfältige Ansätze und Interpretationen lässt. Auch wenn die
Klärung der Begriffe eine politische Funktion erfüllt, müssen die Klärung
selbst und der eigentliche Gehalt der Begriffe philosophisch sein. Wenn das
Ziel nämlich ist, das Individuum und dadurch die Gesellschaft durch Philo-
sophie demokratischer und freiheitlicher zu machen, muss die philosophi-
sche Tätigkeit, und bleibt sie auch noch so oberflächlich, selbst freiheitlich
sein und nicht politisch instrumentalisiert; ansonsten ergäbe sich ein
Selbstwiderspruch. Insofern löst sich auch der vorher angedeutete, häufig
genannte Vorwurf einer Instrumentalisierung der Philosophie auf: Wenn die
Philosophie ein politisches Ziel haben soll, dann kann sie es nur dann errei-
chen, wenn die Zielerreichung für sie keine praktische Vorgabe ist.
Aus diesen kurzen Skizzen kann gefolgert werden, dass es durchaus
ein zeitgemäßes und legitimes, politisches Ziel der UNESCO auf dem
Feld der Philosophie geben kann, nämlich unabhängiges und kritisches
310 Lutz Möller

Denken zu fördern und damit zu fundamentalistischen Weltsichten ein


Gegengewicht zu bilden. Zugleich kann dieses politische Ziel nur durch
authentische Philosophie erreicht werden; eine Instrumentalisierung findet
tatsächlich nicht statt. Es kann also aus Sicht der UNESCO eine stimmige
Antwort auf die Frage „Warum Philosophie?“ geben; damit kann es auch
eine Legitimation der UNESCO für Programme im Feld der Philosophie
geben, auch wenn diese nicht auf ihren zwischenstaatlichen Charakter
zurückzuführen ist.
Was kann die UNESCO aber praktisch tun, um sich für die Philosophie
– bzw. unter Zuhilfenahme der Philosophie für Gerechtigkeit, Würde und
Freiheit sowie für Demokratie – einzusetzen? Popularisierung von Philo-
sophie durch einen Welttag, durch Eintreten für Philosophie in Fernsehen
und Hörfunk oder durch Übersetzungen von philosophischen Werken kann
sicher nicht genügen. Müsste sie nicht Programme entwickeln, um die
Philosophie in Entwicklungsländern mit wenig ausgeprägten akademischen
Institutionen auf dem Feld der Philosophie voranzubringen? Mit welchen
Instrumenten könnten solche Programme arbeiten? Müsste die UNESCO
gemeinsam mit nationalen Regierungen „nationale Philosophiestrategien“
formulieren? Müsste sie die existierenden akademischen Institutionen ma-
teriell und ideell stärken? Welche Rahmenbedingungen braucht eine le-
bendige und lebhafte Philosophie?
Leider werden diese Fragen derzeit bei der UNESCO zu wenig disku-
tiert, auch wenn sich viele Länder gerade aus dem Süden in jüngster Zeit
sehr nachdrücklich für die Philosophie aussprechen; daher soll auch hier
keine Antwort versucht werden. Bemerkenswert ist jedoch, dass es auch
auf dem Feld der handfesten Politikberatung durchaus Fortschritte gibt,
wie die in Vorbereitung befindliche globale Vergleichsstudie über philoso-
phische Forschung zeigt. Wichtig ist jedoch, dass vor der Klärung des
„Wie?“ das „Warum?“ geklärt ist. Diese Frage zu klären ist das Ziel dieses
Symposiums, die Antwort auf diese Frage im Hinblick auf die UNESCO
wurde soeben versucht.

IV. Die dritte Säule

Der folgende abschließende Abschnitt nimmt die dritte der drei „Säulen“
der UNESCO-Philosophiestrategie in den Blick: Innerhalb der Philosophie
als Disziplin selbst für eine Auseinandersetzung mit Weltproblemen zu
werben. Die UNESCO-Philosophiestrategie spricht davon, „philosophische
Reflektionen und Dialoge über Programmprioritäten der UNESCO“ unter-
stützen zu wollen: „dialogue among civilizations, education for all, bio-
ethics, knowledge societies, cultural diversity, ethics of the environment,
Philosophie und UNESCO 311

poverty, sustainable development, etc.“ Einerseits richtet sich die UNESCO


an alle Philosophen, zeitgenössische Herausforderungen aufzugreifen, an-
dererseits bietet sie selbst den „öffentlichen Raum an, in dem Dialog eine
internationale und für alle zugängliche Dimension erhält.“ Diese Forderung
ist also zugleich ein Angebot.
Klar ist, dass es nicht die Aufgabe der Philosophie sein kann, getrieben
von Brandaktualität, Spektakel und Unerhörtheit dem jeweils neuesten
Phänomen hinterher zu laufen und die Bedürfnisse der Feuilletons zu be-
friedigen, angeblich in dieser Form am Puls der Zeit zu sein. Ich stimme
der im Rahmen dieses Symposiums formulierten Forderung von Volker
Gerhardt uneingeschränkt zu.
Jedoch bietet das Feld der internationalen Politik eine große Vielfalt von
Themen und Begriffen, die jenseits der Medienaktualität drängende Fragen
der Menschheit beschreiben. Die oben genannte, kurz zitierte Liste der
UNESCO überzeugt dabei eher wenig. Man betrachte hingegen die Begriffe
Nachhaltigkeit, Frieden, Menschenrechte, Vielfalt oder Dialog. Alle diese
Begriffe sind im Bereich der Vereinten Nationen, in der nationalen Politik
und in der Alltagssprache aus einer bestimmten Perspektive gesehen kaum
mehr als vage positiv besetzte Schlagworte. Bei den Vereinten Nationen
kann man diese Begriffe bzw. Schlagworte fast in jede Resolution einflech-
ten, im Alltag kann man sie in jeder Konversation verwenden, ohne dabei
Widerspruch oder Verwunderung zu bewirken. Diese Begriffe werden in
den Medien, der Werbung und im gedankenlosen Alltagsgerede meist nahe-
zu beliebig verwendet. Welch Debakel! Aus einer zweiten Perspektive ste-
hen diese Begriffe nämlich für die Konzepte, entlang derer wir eine gerechte-
re und tragfähigere Welt der Zukunft entwickeln wollen.
Beispiel Nachhaltigkeit: In der Sprache der Werbung wird „nachhal-
tig“ identisch mit „wirksam“ oder auch nur „wirklich“ verwendet. Dabei
besagt der Begriff etwas ganz anderes: Das Konzept der Nachhaltigkeit
stammt in Deutschland aus der Waldwirtschaft, wurde politisch vom Club
of Rome im Sinne der Aufrechterhaltbarkeit geprägt und besagt den „Zu-
stand eines Systems, das sich so verhält, dass es über unbeschränkte Zeit-
räume ohne grundsätzliche oder unsteuerbare Veränderungen (Zusam-
menbruch) […] existenzfähig bleibt und vor allem nicht in den Zustand
der Grenzüberziehung gerät“. Der Brundtland-Bericht von 1987 definierte
dagegen: „Nachhaltige Entwicklung ist Entwicklung, die die Bedürfnisse
der Gegenwart befriedigt, ohne zu riskieren, dass zukünftige Generationen
ihre eigenen Bedürfnisse nicht befriedigen können.“ Mit dem Brundtland-
Bericht kommt in den zunächst eher technischen Begriff der Nachhaltig-
keit ein Element der globalen und intergenerationalen Gerechtigkeit hin-
ein. Diese Definition ist bis heute die international am häufigsten ge-
brauchte.
312 Lutz Möller

Was hat das mit Philosophie zu tun? Ich knüpfe noch einmal an den
Beitrag von Volker Gerhardt zu diesem Symposium an. Er betont, dass im
Hinblick auf die Menschenrechte viel stärker anerkannt werden muss, dass
die in den Verfassungen verankerten einklagbaren Menschenrechte eine
Umkehrung von Idealismus und Realismus bedeuten, das heißt, sie müssen
als zivilisatorische Leistung und geistesgeschichtlich bedeutsame Ver-
schiebung anerkannt werden. Die Niederlegung von Menschenrechten in
den Verfassungen der USA und deren Proklamation in der französischen
Revolution haben zu den Menschenrechtspakten der Vereinten Nationen
geführt, die von über 160 Staaten ratifiziert wurden. Zwar fehlt in vielen
dieser Staaten die Rechtsstaatlichkeit, so dass die Menschenrechte vieler-
orts nur auf dem Papier stehen; dennoch sind Menschenrechte weiter ein
zentrales Thema auch für die Philosophie. Und sie sind kein Thema, mit
dem Philosophen in den Ruf geraten würden, Trends hinterherzulaufen.
Gleiche fundamentale Bedeutung haben aus meiner Sicht die Begriffe
„Vielfalt“ und „Nachhaltigkeit“. Es wäre eine geistesgeschichtlich ebenso
große Errungenschaft wie die Verankerung der Menschenrechte, sollte die
Gesellschaft eines Tages tatsächlich und nicht nur deklamatorisch Vielfalt
als Wert anerkennen und wertschätzen lernen. Dabei verwende ich einen
weiten Begriff von Vielfalt und decke sowohl Vielfalt von kulturellen
Ausdrucksformen, von Herkunft, von persönlichen Lebensumständen oder
von sexueller Orientierung, Alter oder Behinderung ab. Die Arbeit an die-
sem Begriff ist aus meiner Sicht noch nicht abgeschlossen und stellt weiter
eine Aufgabe für die Philosophie dar.
Auch der Begriff der „Nachhaltigkeit“ bietet spannende Anknüpfungs-
punkte: Umfasst dieses Konzept auch „Gerechtigkeit“, wenn ja, welchen
Inhalt jenseits einer rein symbolischen Behauptung besitzen interkontinen-
tale und intergenerationelle Gerechtigkeit? Was fällt unter dieses Konzept,
ist es operationalisierbar? Ich halte es für ein enorm ambitioniertes Projekt,
eine tatsächlich „nachhaltige Gesellschaft“ bzw. Wirtschaft zu realisieren.
Wollen wir es schaffen, brauchen wir für diese enorme gesellschaftliche
Umwälzung Beiträge aus allen wissenschaftlichen Disziplinen, auch aus
der Philosophie.
„Frieden“ und „Dialog“ sind zwei weitere Begriffe, die durch die häu-
fig unscharfe Verwendung ihres interessanten Gehaltes beraubt wurden.
Dass Frieden mehr ist als Abwesenheit von Konflikt, ist trivial. Was zeich-
net aber den Frieden aus, den wir in der Europäischen Union seit dem Ende
des Zweiten Weltkrieges genießen dürfen? Was zeichnet den Frieden in
Nordirland aus? Dialog: Ja, aber warum? Und mit wem?
Wenn ich darauf hinweise, dass die Klärung dieser Konzepte nicht aus-
reichend in der internationalen Politik oder in der Öffentlichkeit angekom-
men ist, verkenne ich in dieser Kürze natürlich die hunderte und tausende
Philosophie und UNESCO 313

wichtiger Beiträge und Antworten, die Philosophen und andere Wissen-


schaftler tatsächlich bereits gegeben haben. Sicher werden manche sagen,
dass die eine oder andere Frage längst beantwortet ist. Jedoch sind viele
dieser Antworten in der internationalen Politik zu wenig wirksam geworden.
Auch daher setzt die UNESCO sich dafür ein, dass sich Philosophen
fortlaufend mit diesen Fragen beschäftigen und gegebene Antworten auf
diese Weltprobleme fortlaufend hinterfragen und sich einbringen.

Literatur
Vermeren, P., 2011: Philosophie in der Perspektive der UNESCO, im Auftrag der
Deutschen UNESCO-Kommission aus dem Französischen übersetzt von H.J. Sand-
kühler, Bern u.a.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch?

Karl Heinz Bohrer

Wem ist es nicht schon passiert, dass ihm ein akademischer Gesprächs-
partner gesagt hätte: „Ich lese zum gedanklichen Gewinn eigentlich keine
zeitgenössischen Philosophen, sondern intelligente Schriftsteller?“ Gewiss,
ein solcher Satz war auch schon in den zwanziger und dreißiger Jahren des
vorigen Jahrhunderts möglich: Man hätte sagen können, Robert Musils Der
Mann ohne Eigenschaften enthielte mehr theoretische Phantasie als Nicolai
Hartmanns philosophische Ästhetik. Aber das wäre letztlich doch eher eine
Prävalenz für eine spezifische Textsorte gewesen, noch keine symptomato-
logische Aussage. Nunmehr aber könnte man diese Beobachtung nach-
drücklich damit erklären, dass seit spätestens Ende der siebziger Jahre
systematisch formulierte Ideen wenn nicht in Misskredit geraten sind, dann
doch an Attraktivität für die theoretische Phantasie verloren haben.
Es handelt sich dabei nicht bloß um eine Mode der intellektuellen Sai-
son: Die von der poststrukturellen Lehre ausgehende Kritik an der philoso-
phischen Theorie, nicht zuletzt die Methode der sogenannten Dekonstruk-
tion, hat Wirkungen gezeitigt, die weit über das hinausgingen, was Paul de
Mans Kritik der Hermeneutik ursprünglich an Abwertung von Systemge-
bäuden geleistet hatte. Aber diese Bewegung hat seit dem Tode ihrer nam-
haften Vertreter an Einfluss verloren. Nichtsdestotrotz ist die Skepsis gegen-
über der Philosophie geblieben. Oder sagen wir es so: Ein erzählender
Philosoph wie Montaigne, der im Zeitalter des Descartes’schen Ratio-
nalismus an Bedeutung völlig verloren hatte, ist seit Jahren wieder zu Aner-
kennung und Wirkung gekommen, während Descartes selbst nur noch als
Formel über die erkenntnistheoretisch verbürgte Evidenz des Ich präsent ist.
Eine analoge Beobachtung: Noch nie sind die Fragmente Friedrich Schlegels
so aktuell behandelt worden wie heute, selbst seinen partiell enigmatischen
Notaten zur römisch-griechischen Literatur wird mehr Aufmerksamkeit
zuteil als den eher historisch-philosophischen Abhandlungen zum Thema.


Dieser Text erschien erstmals in der Juli-Ausgabe der Zeitschrift „Merkur“, Heft 7,
2010, S. 559–570. Wir danken Herrn Bohrer für die freundliche Genehmigung des
Wiederabdrucks.
316 Karl Heinz Bohrer

Und das eben hat etwas mit der eingangs erwähnten Beobachtung zu
tun: Philosophie hat keinen Einfluss mehr, der dem bis Ende der sechziger
Jahre gliche. Wenn man darüber mit einem unserer namhaften Universi-
tätsphilosophen sprechen würde, könnte man wahrscheinlich als Wider-
spruch hören: „Wieso? Im Gegenteil! Noch nie haben Philosophen in prak-
tischen Fragen so viel Einfluss gehabt wie heute. Nehmen Sie nur das
Beispiel des Ethikrats.“ Nun würde eine solche Antwort gerade die Wider-
legung dessen, was sie sagen will, enthalten: Denn eine Philosophie, die in
der Praxis angekommen ist oder die Praxis beeinflussen will, verliert ihren
spezifischen philosophischen Charakter.
Man kann diesen Vorgang das Gesetz des Siebten Briefs Platons über
sein sizilianisches Abenteuer nennen. Denn dieser Brief beschreibt das
Scheitern der philosophischen Lehre vor der Praxis als ein notwendiges
Scheitern: Dreimal eingeladen von den Herrschern von Syrakus, vor allem
auf Betreiben des philosophisch inklinierten jungen Dion, der schließlich
seinen Vorgänger Dionysios vertrieb, beschreibt Platon im Siebten Brief,
inwiefern ein ehrgeiziger Herrscher von der Substanz des philosophischen
Gedankens nichts begreift. Im Zentrum steht Platons Erklärung, wie es zur
Erkenntnis kommt. Oder: welcher einzelnen Schritte es bedarf, dass man
von Erkenntnis sprechen kann. Es ist die für den Erkenntnisakt zentrale
Einlassung Platons neben dem sechsten Buch der Politeia, wo er die „größ-
te Erkenntnis“, die „Idee des Guten“, entwickelt.
Die Begründung des Erkenntnisgewinns stellt also die philosophische
Essenz oder das Paradigma für eine philosophische Rede dar; das erkennt-
nistheoretische Stück ist aber nur der kurze Mittelteil des Siebten Briefs.
Der Anfang und das Ende handeln von der Erfahrung des Philosophen
angesichts rein weltlicher Ambition, ja vom Scheitern der Idee in der prak-
tischen Welt. Natürlich hat Platon die Philosophie weiterhin als Grundlage
für einen gerechten Staat angesehen, was heißt, dass nur durch eine Betei-
ligung der Philosophie an der Regierung das Unglück des Staates aufzuhe-
ben sei. Das war der Ausgangsgedanke des Siebten Briefs.
Umso mehr spricht das Ende dieses Paradigmas für unsere Frage: So-
lange man die Idee durch die Wirklichkeit nicht letztlich beeinträchtigt
findet í und das haben die Zeitgenossen Platons auch nicht radikal getan í,
solange sich sozusagen noch eine Zwei-Welten-Lehre denken lässt, solan-
ge kann die Philosophie noch Meister des Diskurses bleiben. Und das ist
die Philosophie ja, nicht zuletzt auf Platon gestützt, bis weit in das
20. Jahrhundert hinein gewesen. Dass Schleiermachers Übersetzung von
Platons Schriften eine unmittelbar einsetzende zustimmende und polemi-
sche Reaktion hervorrief í die Debatte zwischen esoterischer und exoteri-
scher Auslegung í, ist ein Beleg dafür.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 317

Hegels polemische Reaktion auf den wichtigsten Platoninterpreten des


ausgehenden 18. Jahrhunderts, Wilhelm Gottlieb Tennemann, demonstriert
das Selbstbewusstsein der Philosophie in der Welt, nach dem man heute
vergeblich sucht. Es wird von Hegel nämlich der philosophische Gedanke,
die philosophische Idee, von objektivierbarem Gedankeninhalt unterschie-
den: Gedanken sind für Hegel keine äußerlichen Dinge, die man, wie er
sagt, einfach in die Taschen stecken kann, sondern: „Die philosophische
Idee besitzt umgekehrt den Menschen“, heißt es in den Vorlesungen über
die Geschichte der Philosophie.1 Die Auslegungsdebatte bezüglich Platon
im frühen 19. Jahrhundert ist noch nicht als interne Fachhermeneutik ein-
zugrenzen. Es geht noch immer ums Ganze. Man braucht nicht nur auf die
majestätischen Selbsterklärungen der Meisterdenker der Epoche, die Ein-
leitungen von Hegels Phänomenologie des Geistes und Fichtes Wissen-
schaftslehre, zu schauen.
Auch bei Hegels Widerpart Friedrich Schlegel, dem Theoretiker der
Frühromantik, ist die Philosophie nicht ins Abseits gestellt worden, auch
wenn er sie als aporetisches Sprungbrett zum Verständnis des ästhetischen
Phänomens benutzte: Spinoza ist sein neuer Gott, sein Eintritt zur frühro-
mantischen Welt- und Kunsterklärung, also der Moderne. Mit anderen
Worten: Das ganze innovatorische romantische Begriffs- und Metaphern-
feld der Novalis, Hölderlin und Kleist ist fundiert in der Philosophie des
deutschen Idealismus. Wenn deren Kategorien so etwas darstellen wie
erste Bausteine zu einer ästhetischen Moderne, dann ist die systematische
Philosophie deren Voraussetzung gewesen. Kein Wunder, dass Walter
Benjamin, der Betreiber des Surrealismus unter der deutschen Intelligenz
der zwanziger und dreißiger Jahre, mit der Darstellung der Schlegelschen
Kunsttheorie sein Werk begann.
Der andere, anspruchsvollere Widerspruch zur Philosophieskepsis
könnte an dieser großen Tradition anschließen und mit Otfried Höffes
Kleiner Geschichte der Philosophie noch immer unverblümt sagen: „Philo-
sophieren tut not“, nach wie vor, nämlich zu „kaum vermeidbaren Grund-
fragen überzeugende Antworten“2 zu geben. Damit sind wir aber wieder
bei der eingangs gemachten Beobachtung einer neuen literarischen Kon-
kurrenz zur Philosophie. Die Wirkungsgeschichte von Philosophie in einer
jeweiligen Gegenwart í das ist bei der Frage nach ihrer Macht immer im
Auge zu behalten íist natürlich nicht identisch mit der Geschichte ihrer
internen universitären Diskussion.

1
G.W.F. Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, in: Werke in
20 Bänden, hg. von Eva Moldenhauer und Karl Markus Michel, Bd. 19, Frank-
furt/M. 1971, 28.
2
O. Höffe: Kleine Geschichte der Philosophie, München 2005, 8.
318 Karl Heinz Bohrer

Anders ausgedrückt: Es existiert eine Geschichte philosophischer Her-


meneutik, also der Erforschung der logischen und historischen Bewandt-
nis einzelner Denkmotive einzelner Philosophen, die mitnichten ein Beleg
für deren Lebendigkeit im intellektuellen Leben einer Bildungsnation ist.
Die Mehrheit der heutigen Philosophieprofessoren schreibt keine eigene
Philosophie, sondern erklärt die Philosophie anderer. Das haben die meis-
ten Philosophen schon immer getan, und das ist kein Einwand gegen sie
und gegen die Relevanz der Universitätsphilosophie an sich. Aber der
Maßstab hat neuartige Konsequenzen: Es gab bis vor kurzem an den
meisten deutschen Universitäten circa drei Philosophielehrstühle. Bei
etwa hundert Universitäten, nicht alle erwähnenswert, sind das gut drei-
hundert Philosophieprofessoren. Von diesen sind keineswegs alle durch
Publikationen über ihre Habilitationsschrift hinaus hervorgetreten. Wirk-
lich bekannt bei ihren geisteswissenschaftlichen Kollegen, bei Literatur-
und Kunstwissenschaftlern, bei Historikern und Soziologen, ist nur eine
dünne Minderheit.
Als Ernst Tugendhat, Michael Theunissen und Dieter Henrich vor
fünfundzwanzig Jahren nach Berlin berufen wurden, da galt Berlin fortan
als philosophische Hochburg. Außerhalb dieser Namen gab es zu jener Zeit
niemanden von vergleichbarem Renommee, sieht man von der Ausnah-
meerscheinung Jürgen Habermas ab. Dieser hatte noch 1985 kritisch von
einer „Rückkehr zur Metaphysik“ gesprochen.3 Das galt Dieter Henrichs
Erklärung, dass die „Philosophie zu einem neuen Beginn zu finden“ schei-
ne. Rehabilitierungsimpulse der Metaphysik, wie sie Habermas damals am
Beispiel von Henrichs Büchern Selbstverhältnisse und Fluchtlinien charak-
terisierte, sind heute nicht mehr erkennbar.
Was zeigt sich daran? Offensichtlich doch, dass Philosophie im alten
Sinne einer intellektuellen Generalinstanz zurückzutreten begann hinter
Philosophie als einer fachwissenschaftlichen Disziplin (was sie per defini-
tionem nicht sein sollte) im Sinne des Forschungsbetriebs, in dem sich
jeweilige Erkenntnisse zur Philosophiegeschichte oder zu philosophischen
Denkmotiven sowohl akkumulieren als auch verbrauchen. Anlässlich der
Auszeichnung eines der bedeutendsten Vertreter des Faches bemerkte ein
junger Professor, jener berühmte Name wirke nur noch wie das verschwin-
dende rote Rücklicht eines Zuges im Tunnel.
Die aktuellste Bilanz des Verschwindens der metaphysischen Tradition
der kontinentalen Philosophie gibt nicht ohne Arroganz Joseph Margolis in
Pragmatism’s Advantage. American and European Philosophy at the End
of the Twentieth Century (2010). Das geht schon ans Eingemachte und ist

3
Vgl. Merkur, Nr. 439/440, 898–905.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 319

mehr als von nur fachwissenschaftlicher Bedeutung. Allerdings steht die


deutsche Philosophie von Kant und Hegel bis Apel und Habermas noch
einmal triumphierend auf, um dann im historischen Abgrund zu versinken.
Die abschließende Pointe ist hier die Feststellung, Habermas, also der
deutsche Kritiker des Rückgewinns der Metaphysik, habe den Kantschen
Transzendentalismus trotz „pragmatischer Argumentation“ nie verlassen.
Ende vom philosophischen Lied. Dass ein solcher Parforceritt gegen die
kontinentale Philosophie von einem amerikanischen Vertreter des philoso-
phischen Pragmatismus kommt, gibt dem Eindruck vom Machtverlust eine
aktuelle Würze.
Gewiss, auch im 18. und 19. Jahrhundert gab es philosophische Debat-
ten im fachwissenschaftlich engeren Sinne. Wer erinnert heute noch den
Platon-Forscher Tennemann, der Hegel zu einer seiner grandiosen Defini-
tionen der Philosophie als Macht provoziert hat? Aber solche internen
Debatten hatten lange Zeit auch externe Wirkung. Das seit einiger Zeit
gewusste Faktum, dass die Einzelwissenschaften der Philosophie das Was-
ser abgraben, ist keine befriedigende Antwort. Das liefe auf eine endgülti-
ge Resignation des alten Anspruchs hinaus. Eher schon ist der Niedergang
der Geisteswissenschaften als Parallelvorgang im großen Ganzen der Bo-
logna-Reform zu sehen.
Im Falle des Neukantianismus, der Benjamin noch anregte, bedeutete
die akademische Wiederlektüre Platons unter betont erkenntnistheoreti-
schen Gesichtspunkten nicht nur eine fachwissenschaftliche Veranstaltung.
Das war noch viel weniger der Fall bei Edmund Husserls phänomenologi-
schem Erneuerungsversuch der philosophischen Theoriebildung im Namen
des Prinzips „Zu den Sachen“. Sein Nachfolger Martin Heidegger entfach-
te bis in unsere Epoche hinein, nicht zuletzt bei französischen Denkern,
geradezu ein Feuer des Gedankens, so wie es Hegels Satz beschrieben
hatte. Aber die geniale Intuition eines Einzelnen ist nicht allein Kriterium
der Lebendigkeit des philosophischen Gedankens. Dafür zeugen auch die
Auslegungen, die Kants Kritik der reinen Vernunft zu Ausgang des 18. Jahr-
hunderts gefunden hat.
Es gab indes eine Zäsur, die unsere Frage erneuert: Friedrich Nietz-
sche und seine Attacke auf den deutschen Idealismus. Sein Witz über
Kants „synthetische Urtheile apriori“, sein Sarkasmus über die Wahrheits-
suche der deutschen Jünglinge von Tübingen, vor allem aber die Neube-
gründung der Moral im unterbewussten Willen zur Macht waren die in-
haltliche Seite der Zäsur. Als Metaphysikkritik ist sie zunächst von der
zeitgenössischen Philosophie nicht wirklich rezipiert worden. Es war Mar-
tin Heidegger, der meinte, den Destruktionsversuch Nietzsches richtiger
angehen und vollenden zu können. Die andere Seite, die formale hingegen
zeigt die Zäsur im Sinne der Unterbrechung des philosophischen Diskur-
320 Karl Heinz Bohrer

ses in ihrer wahren Schärfe: Es ist Nietzsches aphoristische Sprache gewe-


sen, die das Ende der philosophischen Systematik ansagte. Darüber ist seit
dem Zweiten Weltkrieg viel geschrieben worden. Mehr im Ausland als in
Deutschland, wo ein durch politische Korrektheit und ideengeschichtliche
Voreingenommenheit bedingter Originalitätsverlust es nicht zuließ, Nietz-
sches Sprache produktiv zu rezipieren. Die Karriere des Begriffs der „Me-
tapher“ lief an der deutschen Nachkriegssystematik und -historik bis vor
kurzem vorbei.
Es kann daher nicht behauptet werden, Nietzsches Denken habe die
Bedeutung der deutschen, der europäischen systematischen Philosophie
beendet. Das hat eher die angelsächsische, von deutschen Philosophen wie
Ludwig Wittgenstein und Gottlob Frege inaugurierte analytische Sprach-
philosophie versucht, scheinbar auch zunächst erreicht. War es doch Witt-
genstein, so Chantal Bax in ihrem Essay Wittgenstein and the Fate of The-
ory (2010), der der philosophischen Theorie überhaupt ein Ende gesetzt
hatte í jedenfalls wenn diese definiert wird als ein Versuch, in die Essenz
der Dinge einzudringen. Dann hat sie, sprachphilosophisch gesehen, keinen
Grund zu existieren. Die Widersprüche, in die Wittgensteins These gerät
mit ihrem eigenen Anspruch, die Natur der Dinge zu verstehen, haben den
Einschnitt, den seine „grammatische These“ bedeutete, nie verringert. Auch
nicht, wenn selbst ihm nahestehende Philosophieprofessoren behaupteten,
sie verständen das, was Wittgenstein denke, schon dann nicht mehr, wenn
er aufhöre, es ihnen zu erklären. Dennoch hinterließen Wittgensteins Sätze
í hierin Kafkas Sätzen ähnlich í einen unüberwundenen Zweifel gegen-
über philosophischen Denkgewissheiten. Der Hohn von A. J. Ayer, dem
frühen Star der Oxforder Analytiker, über die kontinentalen Kollegen zeigte
deren Prestigeverlust: Philosophen wie Heidegger, von Sartre ganz abgese-
hen, wurden als Scharlatane behandelt. Nur die Phänomenologie von Mau-
rice Merleau-Ponty war eben noch zugelassen.
Bis man inzwischen wieder eines Besseren belehrt wurde í auch wenn
viele deutsche Lehrstühle ebenfalls von Vertretern der analytischen, anti-
metaphysischen Richtung besetzt sind. Mit Blick auf die Entwicklung des
philosophischen Denkens der letzten Jahrzehnte ist unübersehbar, wie
systematische Philosophie verdrängt worden ist durch eine essayistische,
von Nietzsche angeregte. Man hat sie in den fünfziger, sechziger und noch
siebziger Jahren als Inspiration für Schriftsteller und Künstler gelesen. Sie
wurde seit den Achtzigern aber zunehmend das Modell eines Gedanken-
flugs, der in alle geisteswissenschaftlichen Spezialgebiete vorstieß. Man
müsste einschlägige Paragraphen von Nietzsches Werk, vornehmlich die
Texte zur Ästhetik und Moralphilosophie, auf ihr argumentatives Verfah-
ren hin lesen und fragen, warum und wie sie die traditionelle Philosophie
überholen konnten.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 321

Entscheidend war also í das ist seit der französischen Neulektüre


Nietzsches generell akzeptiert í der Stil. Ob man nun auf dessen fragmen-
tarischen Charakter eingeht, auf sein rhetorisches Interesse, auf die Rele-
vanz des von ihm erfundenen Aphorismus oder auf eine Stilkonzeption als
Schutz gegen die Drohung einer Wahrheitsprätention: Immer zielt die
Identifikation von Nietzsches Stil, also die sprachliche Form seiner Texte,
auf einen innovatorischen Gehalt. Nicht von ungefähr ist die einst vernein-
te Frage, ob Philosophie etwas mit Stil zu tun habe, neuerdings positiv
beantwortet worden.
Ich gehe nicht auf die unterschiedlichen erkenntnistragenden Einlas-
sungen der Blanchot, Lacoue-Labarthe, Derrida und Nehamas ein. Vor
allem aber nicht auf die Problematik des aporetischen Befunds, dass Nietz-
sches Sätze eigentlich den Sinn eines Ganzen verweigern würden. Ob ich
nun den Sinn eines Ganzen, eines Teils oder auch nur eines Satzes im Au-
ge habe, immer ist natürlich eine Sinnvermutung ausgesprochen, ohne die
Nietzsches Infragestellung von Wahrheit oder Tatsachen zugunsten von
„Interpretationen“ keinen Sinn hätte. Hier hilft eine paradoxe Passage aus
Der Fall Wagner weiter:

„Was das Ahnen-machen betrifft: so nimmt hier unser Begriff ‚Stil’ seinen
Ausgangspunkt. Vor Allem kein Gedanke! Nichts ist compromittirender als
ein Gedanke! Sondern der Zustand vor den Gedanken, das Gedräng der noch
nicht geborenen Gedanken, das Versprechen zukünftiger Gedanken, die Welt,
wie sie war, bevor Gott sie schuf, í eine Recrudeszenz des Chaos (…) Das
Chaos macht ahnen (…).“4

Nietzsches Stil, das wird hier klar, sucht die Vermeidung eines absehbar
Gewussten, das jeder „Gedanke“ wohl enthält. Ganz gewiss der tradi-
tionelle philosophische Gedanke. Nicht zu reden von der geistesgeschicht-
lich vermittelten „Idee“. So sarkastisch wie das Vermeidungsgebot des
Gedankens ausgesprochen ist, so wird die Leerstelle, also der „Stil“, quali-
fiziert: als ein neues Medium der Philosophie, als Ausdrucksform eines
anderen Kreators. Und noch etwas Neues ist im Gedankenspiel: der Ges-
tus, dass der traditionelle, der abgegoltene, der konventionelle Gedanke í
kurz gesagt die Banalität an der philosophischen Tradition í nur vermieden
werden kann, wenn der zukünftige Gedanke Ausdruck eines bis dahin
nicht gekannten Impulses ist, eines Lebenselixiers, offenbar etwas autobio-
graphisch Verbürgtes.

4
F. Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden, hg. von
Giorgio Colli und Mazzino Montinari, 2. durchges. Aufl., München/Berlin/New York
1988, Bd. 6, 24.
322 Karl Heinz Bohrer

Das hat nach Nietzsche nur Robert Musil ähnlich geäußert, wenn er im
Mann ohne Eigenschaften die Abnutzung der „Idee“, die einen besonders
ausgezeichneten Zustand des Ichs begleitet, beschreibt:

„Das bewirkt oft eine einzige Idee. Aber nach einer Weile wird sie allen ande-
ren Ideen, die du schon gehabt hast, ähnlich, sie ordnet sich ihnen unter, sie
wird ein Teil deiner Anschauungen und deines Charakters, deiner Grundsätze
oder deiner Stimmungen, sie hat die Flügel verloren und eine geheimnislose
Festigkeit angenommen.“5

Die Musilsche Erkenntnis vom Energieverlust der „Idee“ für die vom Ich
gesuchte Erfahrungskapazität des noch nicht Erfahrenen, noch nicht Ge-
sagten, ist die Fortsetzung der Absage Nietzsches an den „Gedanken“ qua
Stil. Umgekehrt wird die Originalität der subjektiven Wendung bei Nietz-
sche von Musils Sätzen her beleuchtet. Es versteht sich, dass Musil den
Begriff „Idee“ nicht mehr im objektiven Sinne Platons oder Hegels be-
nutzt. Seine Subjektivierung auf einen quasi autobiographischen Anlass
hin ist ein weiterer Hinweis auf unser Thema: was aus der Macht der Idee,
was aus der Philosophie geworden ist.
Aber der Stil implizierte natürlich schwerwiegende Inhalte. Unter
Nietzsches schwerer Munition war das Wort „Leben“ gewesen, also nicht
mehr das Denken selbst, sondern die große Totalität, innerhalb deren es
sich vollzieht. Henri Bergson vollendete die Richtung: auch er ein Analyti-
ker von Bewusstseinsvorgängen wie Nietzsche, aber mit neuem Erkennt-
nisinteresse. Das Wort „Leben“ hätte jedoch auch ohne die beiden Denker
nach 1900 Karriere gemacht í nicht nur als Referenzvokabel der „Lebens-
philosophie“. Die ganze neue Prosa der klassischen Moderne war ja voll
davon. Man suchte „moments of being“. Nicht bloß Virginia Woolf, son-
dern ebenso James Joyce und Marcel Proust oder Robert Musil. Und der
Surrealismus!
Virginia Woolf legte großen Wert darauf zu sagen, ihre „Seinsmomen-
te“ hätten nichts mit Platon zu tun. Das Gleiche gilt für Joyce hinsichtlich
der scholastischen Philosophie des „Scheins“. Heidegger hat das nur in
gewisser Weise intellektuell vertieft beziehungsweise „objektiviert“. Je-
denfalls kam Nicolai Hartmanns zum Teil noch heute beeindruckendes
Kategorienschema dagegen nicht mehr an. Die Niederlage der alten Sys-
tematik ist bewerkstelligt worden durch eine neue Nuance der Momentbe-
obachtung. Und die Abrechnung mit den Erben des Momentanismus wird

5
Musil, R.: Der Mann ohne Eigenschaften, Erstes und Zweites Buch, hg. von Adolf
Frisé, 24. Aufl., Reinbek bei Hamburg 2009, 354.
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 323

dort sofort schwach, wo man den Momentanismus glaubt ideologiekritisch


entlarven zu können.
Die aktuelle Lage des die philosophische Systematik ablösenden Den-
kens ist nun durch zwei unterschiedliche Tendenzen gekennzeichnet: Es
gibt einmal eine, wie angedeutet, systematische Praxisphilosophie, die von
publikumswirksamen Stichwortgebern in allen ungelösten Lebensfragen
bis zum Kompetenzanspruch im Ethikrat reicht. Dazu gehören auch Befra-
gungen von Universitätsphilosophen zu religiösen Debatten, die charakte-
ristischerweise nicht theologisch, sondern moralisch geführt werden: eine
Tendenz, die eigentlich mit Platons erwähntem sizilianischen Abenteuer zu
Ende gegangen sein sollte. Die andere, die interessantere, weil zur klassi-
schen Philosophie gedanklich konkurrierend, wird in Deutschland vom
Typus Peter Sloterdijk repräsentiert. Er hat Gefährten im essayistischen
Philosophiespiel: Autoren wie Slavoj Žižek, Dieter Thomä (Totalität und
Mitleid), vielleicht darf man sogar den Kulturtheoretiker Joseph Vogl zu
dieser Gruppe zählen. Und selbst strikt philosophische Autoren wie Wolf-
ram Hogrebe und Martin Seel ließen sich einbeziehen. Seels jüngstes Buch
ist die betont aphoristische Vermeidung jeder Systematik.
Als Jürgen Habermas das Phänomen Sloterdijk erstmals öffentlich
wahrnahm, qualifizierte seine durchaus sympathisierende Charakteristik
diesen als den Vertreter eines literarischen Denkstils, der eigentlich nicht
in Deutschland, sondern nur in Frankreich Tradition habe. Wie weit Ha-
bermas dabei sogar Derrida und Deleuze einschloss, ist nicht eindeutig zu
sagen. Jedenfalls besetzten die „nouveaux philosophes“ seit den achtziger
Jahren die französischen Feuilleton- und Fernsehdebatten. Dass sie dabei
auf Sartre und Camus zurückgreifen konnten, auch auf den philosophi-
schen Dissens zwischen beiden, gab ihnen eine zusätzliche Akzeptanz,
während man jenseits der Grenze doch das Leichtgewicht der viel Enga-
gierten etwas zu auffällig fand, deren typischer Fall der elegante Bernard-
Henri Lévy oder der elegische André Glucksmann geworden sind. Was
sich an Sloterdijk zeigte, das Übergehen jedes systematischen Anschlie-
ßens an strikt systematische Denkansätze zugunsten aktueller „Lebens“-
Motive, ist bei Autoren wie Lévy oder Glucksmann noch deutlicher zum
politischen Besinnungsaufsatz geworden. Deshalb ist nicht zu erwarten,
dass es zu Rezeptionen ihrer Gedanken über die Befriedigung aktueller
»Intellektuellen«-Themen hinaus kommt.
Für die französische Intelligenz bietet sich besonders die Unterschei-
dung zwischen philosophischen Literaten und literarischen Philosophen an.
Danach gehörten selbst Sartre und Camus zum ersten Typus. Der Heideg-
ger-Schüler Sartre hat schließlich außer der Abhandlung L’être et le néant
keine philosophischen Texte im strengen Sinne geschrieben, sondern nach-
drücklich literarische Prosa und Dramen. Bei Camus liegt die Sache noch
324 Karl Heinz Bohrer

eindeutiger in Richtung Literatur. Trotzdem begründeten beide den Exis-


tentialismus, der nicht bloß eine Mode für die urbane Intelligenz wurde,
sondern als neue Subjektbestimmung von systematischen Philosophiepro-
fessoren, zum Beispiel Manfred Frank, ernst genommen worden ist. Bei
uns ließe sich der enorme Einfluss Theodor W. Adornos und Walter Ben-
jamins unter einer ähnlichen Kategorie verstehen: Die Kritik am falschen
Bewusstsein in der Kulturindustrie brachte ebenfalls die Utopie eines neu-
en freien Menschen in Anschlag.
Damit kommen wir zum Ausgangspunkt zurück: der Erkenntnis, dass
die Wiederentdeckung von Montaigne in unserer Epoche auf die Existenz
von zwei Denktypen, die seit langem vorherrschen, verweist. Nietzsche,
der wegen seines ambivalenten Skepsisbegriffs ein zwiespältiges Verhält-
nis zu Montaigne hatte, verehrte dagegen die anderen französischen Mora-
listen, vor allem La Rochefoucauld und Vauvenargues. Man wird also bei
der Beurteilung des gegenwärtigen essayistischen Typus, das heißt des
Bedeutungsverlusts des systematischen Typus, auf das gedankliche Niveau
jener ersten philosophischen Essayisten zurückschauen müssen.
Großen Erkenntnisgewinn bietet dabei der Philosophiehistoriker Kurt
Flasch mit seiner Darstellung der mittelalterlich-frühneuzeitlichen Philoso-
phie als Minenfeld intellektueller Konflikte, als Schauplatz agonaler Ar-
gumente. Danach war schon damals das Interessante nicht dieVermittlung
großer Ideen, sondern eher deren Aufkündigung. Dieser Umstand lässt im
Kontext der Systeme häretisch inklinierte Geister wie Abaelard oder Meis-
ter Eckhart oder Ockham an Bedeutung gewinnen. Mit anderen Worten:
Die Absage ans System ist offenbar nicht erst eine moderne Tendenz des
Denkens, sondern wohnt der Philosophie als Denkereignis seit jeher inne.
Die „Essayisten“ waren immer schon da.
Aber was lag dem als Ursache zugrunde, sieht man davon ab, dass je-
der Satz einen Gegensatz impliziert und provoziert? Wahrscheinlich liegt
es an dem Umstand, dass im Prozess des philosophischen Denkens schon
früh die Säkularisation der „Idee“ zu erkennen ist. Objektive Wahrheitszu-
schreibungen werden durch subjektive Erfahrungskategorien relativiert.
Schon Abaelard bezweifelt die Realität des „Allgemeinen“ zugunsten der
einzigen Realität, die es gebe, nämlich der von Individuen. Und Eckhart
polemisierte gegen die Begriffe einer ontologischen Theologie. Auch Ock-
ham musste wegen seiner neuen Wirklichkeitskonzeption und individuel-
len Freiheitserfahrungen der Verfolgung durch die Kurie entfliehen.
Was ist Nietzsches, Bergsons und Heideggers Emphatisierung von
„Daseins“-Empfindungen anderes gewesen als ein abermaliger Bruch ge-
genüber der Metaphysik? Dabei verlor die „große“ Philosophie mächtig an
Boden: Es kamen nämlich Gedanken auf, die von intelligenten, literarisch
vermögenden Geistern ebenfalls gedacht wurden. Der schon genannte
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 325

Musil ist das klassische Beispiel hierfür. Kafka wäre ein anderes. Gewiss,
man müsste etwas genauer auf die Frage eingehen, was denn an Musils
oder Kafkas Prosa „philosophisch“ relevant ist. Vor allem: wodurch sie
denn zeitgleiche philosophische Systeme gedanklich überboten haben
könnten. Das ist hier nur anzudeuten: Man müsste dazu Musils Metaphern-
theorie und Kafkas paradoxe Parabolik untersuchen. Aber die Andeutung
des Sachverhalts einer subjektiven Gedanklichkeit mag genügen, um plau-
sibel zu machen, inwiefern der traditionelle universitäre Philosophiekata-
log, in dem von Platon und Aristoteles über Augustinus und Thomas bis zu
Hume und Kant und schließlich Heidegger plus Wittgenstein die Inhalte
von Systemen angeboten werden, heute nicht mehr ausreichte, Menschen
mit theoretischer Phantasie bei der Stange zu halten.
Eine weitere Veränderung jenseits des Systemverlusts ist zu bedenken:
Ein besonderes Element der Philosophie des 20. Jahrhunderts, vielleicht
schon ein Schritt zu ihrer Auflösung, war die Kulturkritik, von Sigmund
Freuds Unbehagen in der Kultur (1919) bis zur Dialektik der Aufklärung
(1947) von Horkheimer und Adorno. Es ließen sich eine Reihe weiterer
jüngerer Namení Arnold Gehlen, Herbert Marcuse, Gilles Deleuze, Giorgio
Agamben, Michel Foucault í anführen. Alle haben wohl in Friedrich Nietz-
sches Kulturkritik ihre Wurzeln. Die 1886 geschriebene zweite Vorrede
zum Aphorismustext Menschliches, Allzumenschliches enthält ihre Charak-
teristik, angefangen mit dem Untertitel Ein Buch für freie Geister. Ein freier
Geist ist für Nietzsche kein Freigeist im Sinne des 18. Jahrhunderts und
dessen moralischen und geschichtsphilosophischen Kategorien. Ein freier
Geist ist derjenige, der „gewohnte Wertschätzungen“ umkehrt, den die
„Neugierde“ nach einer „unentdeckten Welt“ antreibt, die „große Loslö-
sung“ von philosophischen Traditionen. Für Nietzsche war es vor allem die
idealistische Philosophie, Platon und der deutsche Idealismus. Aber davon
kann man hier absehen: Es geht um das neue Prinzip der originellen Sehwei-
se oder „Perspektive“, das Wort, das Nietzsche in die Moderne einführte.
Der spezifische kulturkritische Gestus, nämlich unabhängig zu denken,
die „Schule des Verdachts“ zu hegen, ist aber seit langem zu einer gängigen
Münze des modernen kritischen Intellektuellen geworden. Ist also Nietz-
sches Prinzip, „geschätzte Gewohnheiten“ umzukehren, heute noch anwend-
bar? Hinzu kommt ein Paradox von Nietzsches Kulturkritik: Sie warnt vor
dem metaphorischen Stil, den er selbst erfand: Der „Wahrheitssinn des
Künstlers“ sei nur schwach ausgebildet, er habe „in Hinsicht auf das Erken-
nen der Wahrheiten eine schwächere Moralität als der Denker“. Und dann
setzt Nietzsche zu einer Charakteristik an, die jede Hoffnung auf außersyste-
matische Philosophie enttäuschen könnte: Der Künstler wolle „sich die glän-
zenden, tiefsinnigen Deutungen des Lebens durchaus nicht nehmen lassen“
und wehre sich „gegen nüchterne, schlichte Methoden und Resultate“.
326 Karl Heinz Bohrer

Diese Sätze stammen aus Nietzsches sogenannter positivistischer Peri-


ode und gelten vornehmlich dem Dichter, nicht dem Intellektuellen. Sie
bekommen aber eine aktuelle und generellere Pointe, wenn man liest, man
müsse metaphysische, das heißt letztlich abgegoltene Bedürfnisse, wie sie
der Dichter noch immer suche, distanzieren. Das sei die Probe auf den
„intellectualen Charakter“ jedes geistig Ehrgeizigen. Es gehört zu diesem
Argument, dass auch Inspiration und Improvisation beim Denken abge-
lehnt werden und statt dessen die Analyse gefordert ist. Inwieweit Nietz-
sches eigene Schriften, vor und nach diesen Statements, diesem neuen
puritanischen Prinzip entsprechen oder inwieweit ihre Semantik diesem
zumindest nicht widerspricht, ist ein eigenes interessantes Thema, das in
der zur Flut gewordenen Nietzsche-Diskussion meines Wissens nicht be-
handelt worden ist.
Auf jeden Fall aber kommentieren solche fragmentarischen Sätze unse-
re Frage nach der Alternative zur systematischen Schulphilosophie. Inso-
fern diese pseudoreligiöse oder utopische Bedürfnisse befriedigt oder auf
eine hyperbolische Weise den Status der derzeitigen Zivilisation kritisiert,
fällt sie ziemlich genau unter Nietzsches Verdikt. Dabei allerdings wird
eine Grenzschärfe deutlich: Es ist manchmal nicht die zeitgenössische
bedeutende Dichtung, die sich „tiefsinnigen Deutungen“ überlässt, sondern
eher die zeitgenössische kulturkritische Philosophie. Um es an einem Bei-
spiel zu erläutern: Die Festungssymbolik W.G. Sebalds öffnet in legitimer
Weise den Blick auf den technisch organisierten modernen Staat. Ob dies
auch die KZ-Allegorik Agambens vermag oder ob sie, verführt durch „In-
spiration“, fahrlässige Analogiebildung betreibt, ist doch sehr die Frage.
Andererseits beeindrucken neue Texte der schon genannten philosophi-
schen „Essayisten“ durch theoretische Originalität, Joseph Vogls Über das
Zaudern oder Wolfram Hogrebes Riskante Lebensnähe, auch Martin Seels
Theorien wären hier erste Kandidaten.
Das sind alternative Möglichkeiten des Denkens jenseits der systemati-
schen Philosophie. Ob sie im einen oder anderen Fall „Macht“ gewinnen,
hängt mehr denn je von intellektuellen Stimmungen ab. Sie zeigen aber,
inwiefern unsystematisches Denken nicht notwendigerweise unter das
Verdikt des bloß „Tiefsinnigen“ fällt. Man kann diese Einsicht mit Richard
Rorty, dem kritischen Leser Nietzsches und der Frühromantik, ergänzen
und aktualisieren. Mithilfe des für ihn methodisch zentralen Begriffs der
„Ironie“ hat Rorty 1989, also Jahre nach seiner Trennung von der analyti-
schen Philosophie, dem unsystematischen Denken eine Art systematische
Begründung gegeben: Contingency, Irony, and Solidarity. Er wollte als
„Nominalist“, also als jemand, der die Priorität der Sprache behauptet, „die
Romantik von den letzten Resten des deutschen Idealismus reinigen“. Er
rekurrierte dabei ungeniert auf den romantischen Phantasiebegriff, um
Welche Macht hat die Philosophie heute noch? 327

seine Idee von der Kontingenz der Sprache, des Selbst und des Gemeinwe-
sens zu begründen. Und ging so weit, sogar Derridas Denken als „freies
Phantasieren“ im Sinne einer „Verkehrung systematischer Pläne“ als End-
phase einer „ironistischen Theorie“ zu beglaubigen.6 Entscheidend ist í
auch wenn nicht alle Beispiele Rortys einleuchten í, dass der systemati-
schen Philosophie abgesagt wird im Namen einer neuen Sprache des Den-
kens. Dabei machte Rorty zwischen Dichtern und Denkern keinen Unter-
schied, insofern sie das Kriterium erfüllen: die Kapazität einer neuen
Sprache. Dann geraten Nietzsche, Proust und Hegel in die gleiche „literari-
sche“ Reihe. Denn die Phänomenologie des Geistes wird als ironistische
Theorie verstanden, also als eine Überholung der kognitiv-metaphysischen
Elemente der Philosophie. Rorty hat unsere Frage klar beantwortet:

„Der Aufstieg der Literaturkritik an die führende Stelle in der demokratischen


Hochkultur í die allmähliche, nur halb bewusste Übernahme der kulturellen
Rolle, auf die vorher zuerst die Religion, danach die Naturwissenschaft und
dann die Philosophie Anspruch erhoben hatten í ging mit dem Steigen des
Anteils der Ironikerinnen im Vergleich zu den Metaphysikern unter den Intel-
lektuellen einher.“7

Ist die Frage aber so zu beantworten? Als Jürgen Habermas zum Tode des
Freundes in Stanford 2007 die Abschiedsrede hielt, ging er mit keinem
Wort auf diese Frage ein. Warum sollte er auch? Er hatte ja buchstäblich
das letzte Wort. Und das wird überall sehr gehört. Allerdings: vornehmlich
und vor allem in Fällen der öffentlichen Moral und der Politik. Diese poli-
tische Rede des Philosophen aber würde das zu Eingang genannte Gesetz
von Platons Siebtem Brief nicht überstehen. Bei unserer Frage nach der
verlorengegangenen Macht der Philosophie spielte Nietzsche die zentrale
Rolle. Habermas hat dessen Denken und Argumente mehrfach scharf hin-
terfragt und gemeint, Nietzsche außerhalb des relevanten Diskurses setzen
zu können. Das muss ein anderer Grund dafür sein, dass er zu Rorty als
Leser Nietzsches nichts sagen zu müssen glaubte und Rorty mehr oder
weniger in der Reihe systematischen Denkens ansprach. Damit wich der
systematische Philosoph Habermas der Infragestellung der systematischen
Philosophie durch Rorty aber aus, wenn auch aus einem Anlass, der Takt
und Konsens empfahl, nicht Kritik und Dissens. Die Frage nach der Rele-
vanz der systematischen Philosophie hat heute vom Fall der öffentlichen
Verantwortlichkeit der Philosophie abzusehen, will sie nicht in die banale

6
Vgl. R. Rorty: Kontingenz, Ironie, Solidarität, übers. von Christa Krüger, Frank-
furt/M. 1989, 207.
7
Ebd., 141.
328 Karl Heinz Bohrer

Semantik der Tagespolitik geraten. Was könnten systematische Philoso-


phen bezüglich ihres systematischen Denkens aber sonst antworten?
Vielleicht träte bei dieser unbeantwortet gebliebenen Frage am Ende
doch die amerikanische politische Philosophie in die Schranken: vor allem
John Rawls und auch Charles Taylor, und sicherlich auch einige ihrer
Schüler. Rawls’ A Theory of Justice (1971/75) und Taylors The Ethics of
Authenticity (1991) könnten das zu Anfang aufgestellte Gesetz des Siebten
Briefs Platons umstandslos aufheben. Denn was ist es anderes, was sie tun,
als die aktuelle Politik und die einflussreiche Öffentlichkeit mit prinzipiel-
len Gedanken zu konfrontieren und dabei sogar gehört und verstanden zu
werden? Das ist, so scheint es, etwas anderes, als wenn Karl Popper einen
hochintelligenten Bundeskanzler die Prinzipien der Offenen Gesellschaft
verstehen lässt. Poppers politische Kritik an Platons Staat war Kulturkritik,
keine Philosophie. Taylors und vor allem Rawls’ Werk hingegen ist von
allerhöchster philosophisch-theoretischer Relevanz und gleichzeitig von
enormer öffentlicher Bedeutung im amerikanischen geistigen Kosmos.
Weil sie Amerikaner sind und deshalb die Politeia ernster nehmen als ihre
frivolen kontinentaleuropäischen Kollegen, hat man ihrem Denken wohl
doch das Attribut von Mächtigkeit zuzugestehen. Aber: Ist es wirklich
Philosophie oder nicht doch eher „political science“? Und wirkt diese
Mächtigkeit heute noch nach? Ich bin nicht berufen, diese Frage zu beant-
worten, nicht einmal, ob sie wirklich wichtig ist. Doch Taylors letztes
Werk A Secular Age (2007) wirft selbst die Frage nach der schwindenden
Bedeutung starker Kategorien auf. Das ist Kulturkritik im besten Sinne.
Das galt auch schon für sein Werk Ethics of Authenticity, dessen Kulturkri-
tik zivilisationskritische Bedenken fortsetzt, wie sie Nietzsche und Adorno
formuliert haben. Damit sind wir abermals zu unserem skeptischen Beginn
zurückgekommen.
Vor elf Jahren warf ein Merkur-Doppelheft die Frage auf: „Wer ist
Gott?“ Von den eingeladenen protestantischen und katholischen Theologen
gab eigentlich keiner eine klare Antwort. Der einzige, der die Frage ohne
Wenn und Aber affirmativ beantwortete und über die konkrete Existenz
Gottes Aussagen machte, war der katholische Philosoph Robert Spaemann.
Es bleibt weiterem Nachdenken überlassen, ob der systematischen Philo-
sophie das Schicksal Gottes widerfuhr.
Die Macht liegt in der Vielfalt.
Eine Antwort auf Karl Heinz Bohrers Kritik an der
deutschen Philosophie der Gegenwart

Volker Gerhardt

1. Der Gewinn der Verfremdung. Bei der Evaluierung wissenschaftlicher


Vorhaben macht man gute Erfahrungen mit fachfremden Prüfern. Sie sind
nicht durch den disziplinären Komment belastet, stellen Fragen, die kein
auf die Standards bedachter Kollege zu fragen wagte, und nötigen die Spe-
zialisten, Selbstverständliches zu formulieren. Das ist ein probates Mittel
herauszufinden, ob es solche Selbstverständlichkeiten wirklich gibt und ob
die Geprüften in der Lage sind, sie nicht nur verständlich, sondern auch
überzeugend zu formulieren. Dabei muss man wissen, dass die Physiker,
Mediziner oder Ingenieure, die sich an der Begutachtung geisteswissen-
schaftlicher Vorhaben beteiligen, nicht selten über bemerkenswerte Kennt-
nisse über die andere Disziplin verfügen. Die Bereitschaft mitzuwirken,
schließt in der Regel das Wohlwollen gegenüber den Quellensammlungen,
Grabungsprojekten oder Gesamtausgaben ein, um die es jeweils geht. Das
vergrößert den Erkenntnisgewinn der kritischen Bewertung. Im Wechsel
der Perspektive liegt bereits der Gewinn für ein kritisches Urteil.
Karl Heinz Bohrer stellt seine Frage: „Welche Macht hat die Philoso-
phie heute noch?“ mit großer intellektueller und emotionaler Anteilnahme.
Sie kommt erkennbar von außen, ist aber so umsichtig und kenntnisreich
geschrieben, dass man schon gleichgültig gegenüber der Philosophie sein
müsste, die Antwort schuldig zu bleiben.
Bohrers Nähe zur Philosophie ist so groß, dass man es für einen plum-
pen Schachzug halten könnte, den vielfach preisgekrönten Literaturwissen-
schaftler, Essayisten und Publizisten auf die Rolle eines fachfernen Gut-
achters eingeschränkt zu sehen. Er hat in seinen Büchern und Aufsätzen,
vor allem in den neueren Untersuchungen über die Ästhetische Negativität,
Die Ekstasen der Zeit und Das Tragische, die Problemlage der Philosophie
auf souveräne Weise behandelt. Er schreibt als ein Wahlverwandter und


Ausführliche Fassung der im Dezemberheft 739/2010 des Merkur erschienenen
Replik.
330 Volker Gerhardt

Liebhaber des philosophischen Denkens, der in Kenntnis neuerer Publika-


tionen und vor einem nicht nur weitgespannten, sondern auch Tiefenschär-
fe vermittelnden historischen Hintergrund urteilt. Es ist nicht zu bestreiten:
Dieser Autor hängt an der Philosophie, die er zum Verständnis der literari-
schen Welt benötigt. Dazu wünscht er sich ein Denken in dem von ihm in
seinen frühen Jahren erfahrenen Format.

2. Der starke Impuls der reinen Theorie. In seiner kritischen Einlassung


zur Lage der deutschen Gegenwartsphilosophie arbeitet Karl Heinz Bohrer
mit einer Unterstellung, die ich mir bei einem Kollegen vom Fach nur
schwer vorstellen kann: „Eine Philosophie“, so sagt er, „die in der Praxis
angekommen ist oder die Praxis beeinflussen will, verliert ihren spezifisch
philosophischen Charakter.“ Gewiss, eine Philosophie, die ernsthaft glaubt,
in der Praxis „angekommen“ zu sein, muss einen bescheidenen Begriff von
Praxis haben. Aber kann man es ausschließen, dass ein Philosoph sich das
Ziel setzt, seinen eigenen Einsichten zu folgen? Wer denkt, tut es ernsthaft
nur, wenn er selbst so zu leben sucht, wie er es für richtig hält.
Und wie ist es mit einem Philosophen, der den Anspruch hat, den
Menschenrechten wenigstens im eigenen Land zur Anerkennung zu verhel-
fen? Warum sollte er nicht nach der Verabschiedung einer die Grundrechte
wahrenden Verfassung oder nach dem erlösenden Urteil des obersten Ge-
richts (vorerst) zufrieden mit der erreichten politischen Praxis sein? Wenn
die Philosophie sich in ihren Erfolgen auf die Abfassung von Schriften, die
Gründung von Schulen oder die Edition von Gesamtausgaben beschränken
sollte, würde sie ihre Aufgabe verfehlen. Es ist vielmehr so, dass es jeder
Denker für möglich erachten muss, der Selbsterkenntnis näher zu kommen.
Das ist bereits ein lebenspraktischer Akt. Er muss hoffen können, der Na-
tur, der Geschichte oder der Kunst eine Erkenntnis abzugewinnen, nach der
es sich leben lässt.
Somit ist gegen Bohrer festzuhalten, dass die Philosophie Erfolg mit
der ihr wesentlichen Erkenntnis haben können muss. Sie muss ihn sich
zumindest wünschen dürfen. Ein Ausschluss dieses Verlangens schneidet
den Anspruch auf das, was einmal Weisheit hieß (und alle Tugenden um-
fasste), definitorisch ab. Bohrer arbeitet mit dem Anspruch auf eine reine
Theorie, die von keinem Philosophen, der einen konsequenten Begriff von
seiner Aufgabe hat, je vertreten werden könnte. Auch insofern steht er
außerhalb.

3. Literarisierung der Philosophie. Bohrers Wunsch, die Praxis auf Distanz


zu halten, kann man dennoch gut verstehen. Die Ökonomisierung des Wis-
senschaftsbetriebs fordert den Nachweis von Erträgen selbst dort, wo die
Leistung schon in der bloßen Tätigkeit liegt. Wenn Philosophie sich wirk-
Die Macht liegt in der Vielfalt 331

lich auf das beschränkte, was zu ihrer so genannten „gesellschaftlichen


Relevanz“ gehört, ließe sich gut und gern auf sie verzichten. Wer von ihr
nicht mehr begreift, als dass sie nützlich ist, sollte von ihr lassen.
Im Bewusstsein dieser richtigen Einsicht erneuert Bohrer das antike
Verdikt gegen die fremdbestimmte Technik, indem er die Philosophie vor
der Kontamination durch Praxis zu schützen sucht. Und wenn er es für
unter ihrer Würde hält, auch nur Einfluss auf die Praxis nehmen zu wollen,
greift er die klassischen Vorbehalte gegen die unselbstständige Poiesis auf,
die in der Moderne, merkwürdig seitenverkehrt, im ästhetischen Aristokra-
tismus Nietzsches wiederkehren.
Doch trotz Aristoteles, Nietzsche oder Hannah Arendt wissen wir
längst, dass sich Arbeiten, Herstellen und Handeln nicht wirklich von ein-
ander trennen lassen. Die Zeit, in der man sie in anerkannte soziale Hierar-
chien pressen und gewaltsam auseinander halten konnte, ist vorbei. Was
dies für das Selbstverständnis des Menschen bedeutet, hat die Philosophie
zu erörtern. Indem sie dies tut und schon darin zeigt, dass sie keinen durch
Physik, Physiologie, Soziologie und Politik vollständig bestimmten Platz
im Leben hat, wirkt sie an der Realisierung der menschlichen Freiheit mit,
für die sie auch theoretisch zu argumentieren hat.
Das hat sie angesichts der von der Neurophysiologie erhobenen Zweifel
auf durchaus neue Weise getan. Peter Bieri hat die klassischen Argumente
für die Freiheit auf bewundernswert klare Weise erneuert. Im Anschluss an
Plessner und Jonas ist es anderen gelungen, auch die Naturgeschichte der
Freiheit aufzuhellen. Man kann die Selbstorganisation des Lebendigen
nicht erklären, wenn sich ihr keine operativen Alternativen unterstellen
lassen. Andererseits bliebe der humanen Selbstbestimmung nichts zu tun,
wenn sie sich nicht als eine auf Sachverhalte ausgreifende Selbstorganisa-
tion selbstbewusster, im sozialen Raum agierender Lebewesen beschreiben
ließe. So gesehen findet die menschliche Praxis ihren Ort auch im evolu-
tionären Kontext des Lebens. Er erlaubt uns zu erkennen, warum die Philo-
sophie, im Interesse ihrer Freiheit, den Anspruch erheben muss, selbst eine
Lebenspraxis zu sein.
Davon lenkt Bohrer ab, wenn er der Philosophie die Praxis auszureden
und sie für eine Theoriebildung zu gewinnen sucht, die den Regeln der
Kunst gehorcht. Natürlich wissen wir es zu schätzen, dass ein Ästhetiker
von Rang die Philosophie in so große Nähe zur künstlerischen Leistung
bringt. Ohne Zweifel liegt in der Erinnerung an die seit alters bestehende
Verbindung zur Literatur eine Herausforderung an die Philosophie, der sie
sich nie versagen sollte; sie steigert überdies die ernsten Erwartungen an
die Kunst. Aber eine Identifikation zwischen Philosophie und Kunst muss
im Interesse des Fachs und aus Respekt vor der Kunst zurückgewiesen
werden.
332 Volker Gerhardt

4. Praxisbezüge im aktuellen Kontext. In Zeiten, in denen die Suche nach


gesellschaftlicher Wirksamkeit alles andere fast vergessen lässt, bringt
Bohrers Lob der reinen Theorie das Spektrum theologischer, metaphysi-
scher, kosmologischer, anthropologischer und ästhetischer Fragen in Erin-
nerung, mit denen die Philosophie vor mehr als zweitausendfünfhundert
Jahren begonnen hat. Und er macht augenblicklich bewusst, dass diese
Probleme auch heute nichts von ihrer Aktualität verloren haben.
Sein eigenes Werk ist dafür Beleg genug; doch sein Hinweis auf die
von den Philosophen achtlos behandelte Gottesfrage gibt zu erkennen, dass
er mehr im Auge hat. Nur ist es eben nicht nur Robert Spaemann, der das
Gottesproblem ernst nimmt. Analytische Philosophen haben aus der ra-
tionalen Theologie längst wieder eine scholastische Disziplin gemacht.
Hans Jonas hat in seiner aus alttestamentlichen Quellen schöpfenden, aber
von den jüngsten Sorgen über die Zukunft des Menschen angestoßenen
Theologie nach Auschwitz das schier unglaubliche Wort vom „werdenden
Gott“ erneuert. Dagegen steht die Sinnkonzeption des rationalen Existenzi-
alismus, der zu sagen sucht, dass der Glaube die souveräne Einstellung zu
einem Wissen ist, auf das wir angewiesen sind, gerade weil dessen Gren-
zen mit jeder Vermehrung deutlicher werden. Schließlich gibt es die seit
dem 11. September 2001 wieder auferstandene Religionssoziologie, die
sich, je nach Kontext, auch als Philosophie zu profilieren sucht und dabei
so tut, als würden die Philosophen die Gottesfrage nur unter moralischen
Aspekten behandeln. Auch Bohrer unterliegt diesem Missverständnis.
Wenn es nötig wäre, könnte man es allein durch Hinweis auf den nicht nur
in seiner Ernsthaftigkeit qualifizierten Atheismus entkräften, den es in
Deutschland gibt. Es genügt, Herbert Schnädelbach als Beispiel zu nennen.
Auch in den derzeit intensiv bearbeiteten Fragen nach der Natur der
Zeit, nach den Prinzipien des Lebens, der Stellung des Geistes, den Funk-
tionen des Bewusstseins, den Leistungen der Sprache, der Rolle der Kultur
oder den Kennzeichen der Wahrheit wirken die klassischen Theorieinteres-
sen nach. Unter den verschärften methodologischen Ansprüchen des analy-
tischen Denkens werden sie keineswegs bloß trivialisiert; in vielen Fällen,
wie in den Debatten über Verkörperung und Bildproduktion, über ethische
Regeln und Entscheidungsfindung, über die kognitive Leistung der Sinne
und den Beitrag der Erinnerung, haben sie an Prägnanz gewonnen und sind
für Nachbardisziplinen anschlussfähig geworden. Durch den innovativen
Impuls der Phänomenologie konnten sie sich im deutschen Sprachraum
besonders produktiv verstärken.
Die Phänomenologie blendet Bohrer völlig aus. Angesichts seines Inte-
resses an der Verknüpfung von Philosophie und Literatur ist das nicht
leicht zu verstehen. So lässt er sich das große Werk Hans Blumenbergs
entgehen, das allein schon in der Lage wäre, die kritische Bilanz mit einem
Die Macht liegt in der Vielfalt 333

positiven Saldo abzuschließen. Die für die Kulturwissenschaften inzwi-


schen zum Paradigma gewordene Metaphorologie Blumenbergs wird, wie
es scheint, absichtlich übergangen und die folgenreichen Anregungen für
die Konzeption der Geschichtlichkeit und der Narration, für die Theorie
des Lebens, die Anthropologie und die Ästhetik werden nicht erwähnt.
Wem wäre es vorher eingefallen, die tiefsinnige, aber beantwortbare Frage
nach der „Sichtbarkeit“ der Welt zu stellen? Welch ein Gewinn für die
Theorie im Sinn der theoria! Und welche Auszeichnung der auf Techniken
gestützten menschlichen Praxis.
Blumenbergs philosophiehistorische Leistung darf seinen Rang als sys-
tematischer Denker nicht verdecken. Ich nenne nur ein Detail, das auch
seine interdisziplinäre Stellung kenntlich machen kann: In der Parallele
von Funktion bei Blumenberg und System bei Luhmann scheint die deut-
sche Philosophie der Gegenwart wieder Anschluss an das von Leibniz,
Kant und Hegel vorgegebene Theorieniveau zu finden. Überdies wird hier
eine Lösung für den Brückenschlag zwischen Natur, Gesellschaft und Kul-
tur angeboten. Das ist in der Tat eine hochtheoretische Angelegenheit, mit
der man jedoch der deutschen Politik aus einer geistigen Notlage helfen
könnte. Wer nicht begreift, dass auch der Geist zur Natur des Menschen
gehört, muss natürlich bestreiten, dass an ihr auch etwas erblich sein könn-
te. Bohrers Bekenntnis zum „Dualismus“ dürfte hier nicht weiterhelfen.

5. Eine Shortlist der Gegenwartsphilosophie. Mit der Erwähnung Blumen-


bergs und Luhmanns ist, nebenbei bemerkt, kenntlich gemacht, dass Ha-
bermas nicht die einzige „Ausnahmeerscheinung“ in der deutschen Philo-
sophie der Gegenwart ist. Gewiss, beide sind tot, aber es erscheinen immer
noch Texte aus ihrem Nachlass, die der Debatte weitreichende Impulse
geben. Man könnte auch Namen von noch lebenden deutschen Denkern
der älteren Generation hinzufügen. Auf Henrich, Theunissen und Tugend-
hat und den brillanten Kurt Flasch verweist Bohrer selbst. Doch im Rück-
blick auf das Berliner Revirement der Philosophie durch Peter Glotz ver-
wechselt er Henrich mit Karlfried Gründer, der sich ganz dem Weltprojekt
des Historischen Wörterbuchs der Philosophie geopfert hat.1

1
Wenn aber schon Namen der älteren noch lebenden Denker genannt werden, sollten
auch Karl-Otto Apel, Hermann Lübbe, Robert Spaemann, Odo Marquard, Günther
Patzig, Peter Janich und Hans Poser nicht vergessen werden. Hinzu kommen Jürgen
Mittelstraß, Peter Rohs, Wolfgang Bartuschat, Otfried Höffe, Wolfgang Künne,
Wolfram Hogrebe, Henning Ottmann, Ludwig Siep, Wolfgang Kersting, Manfred
Sommer, Martin Carrier, Oswald Schwemmer, Wilhelm Vossenkuhl, Axel Hon-
neth, Julian Nida-Rümelin, Matthias Lutz-Bachmann, Dorothea Frede und Brigitte
Falkenburg. Auch Reinhard Brandt, Gerold Prauss, Günter Abel, Dieter Birnbacher,
334 Volker Gerhardt

Wenn es um die Einschätzung individueller Leistungen geht, stellt sich


die verwunderte Nachfrage ein, warum sich ein Theoretiker der ästheti-
schen Ausnahme wie Karl Heinz Bohrer die Chance entgehen lässt, etwas
zu der veritablen Ausnahme zu sagen, die Habermas tatsächlich darstellt.
Hier haben wir einen jener „Stichwortgeber“, der mit den Begriffen des
„Strukturwandels“, der „kritischen Gesellschaftstheorie“, der „Herrschafts-
freiheit“, des „kommunikativen Handelns“ und der „deliberativen Öffent-
lichkeit“ stets das gesagt hat, was die nachfolgende Debatte bestimmte.
Dabei hat ihm die profunde Kritik aus den Fachdisziplinen der Geschichte,
der Soziologie und der Philosophie nie etwas anhaben können. Sein strate-
gischer Umgang mit Kant, dem er das absprach, was er selbst entdeckt zu
haben glaubte, wurde im Diskurs der Moderne nach Art eines Fortschritts
verbucht. Das konnte gelingen, weil der Diskurstheoretiker auch im eige-
nen Sprachraum über ein interdisziplinäres Geflecht von Diskurspartnern
verfügte, die es intern nicht bei kritischen Einwänden beließen, aber nach
außen eine Schule bildeten, in der aus den Stichworten Forschungspro-
gramme wurden. Forschungspolitisch ist das vorbildlich und kann eben-
falls dazu beitragen, Bohrers düsteres Bild von der deutschen Gegenwarts-
philosophie aufzuhellen.

6. Theoria sine praxi. Die Neigung ist groß, Bohrers Grau in Grau gemal-
tes Portrait der Gegenwartsphilosophie, das vor dem mit starken Farben
ausgefüllten historischen Hintergrund nur noch blasser wirkt, durch ein
anderes zu ersetzen. Das auch deshalb, weil er nicht erkennt, dass die The-
oriebildung in Deutschland in einem Aufbruch ist. Die Phase der doktrinä-
ren Selbstgenügsamkeit der sprachanalytischen Philosophie geht ihrem
Ende entgegen. Die jungen Philosophen sind auf Ausweitung und Anwen-
dung ihrer Fähigkeiten bedacht. Sie arbeiten zunehmend interdisziplinär,
vollziehen endlich die Hinwendung zu den Lebenswissenschaften, mit

Ansgar Beckermann, Holm Tetens, Thomas Rentsch, Lutz Wingert, Wilfried


Hinsch, Christoph Hubig, Carl-Friedrich Gethmann, Dieter Sturma, Günter Figal
sowie Sybille Krämer, Bettina Schöne-Seifert, Birgit Recki, Birgit Sandkaulen, Pet-
ra Gehring und Lore Hühn müssen genannt werden. In der jüngeren Generation
zeichnen sich Dominik Perler, Markus Gabriel und Christof Rapp vor allen anderen
aus. Aber auch Michael Hampe, Geert Keil, Marcus Willaschek, Rainer Forst,
Christoph Menke, Michael Quante, Stefan Gosepath, Hubertus Busche, Thomas
Schmidt, Olaf Müller, Michael Pauen, Thomas Grundmann, Mathias Gutmann,
Oliver Müller sowie Andrea Esser, Barbara Merker, Weyma Lübbe und Kirsten
Meyer sind durch bemerkenswerte Leistungen aufgefallen. Zu großen Hoffnungen
berechtigen Nikola Kompa und Rahel Jaeggi. Das gibt schon ein etwas anderes
Bild, obgleich es nur ein kleiner Ausschnitt aus der breiten Spitzenlage ist und der
Frauenanteil wahrlich besser sein könnte.
Die Macht liegt in der Vielfalt 335

deren Erfolgen auch die Bioethik zu einer kreativen Wachstumsdisziplin


geworden ist. Das breite Feld der (leider so genannten) „angewandten
Ethiken“ ist nicht nur notwendig interdisziplinär, sondern bringt selbst das
methodologisch hoch elaborierte Philosophieren zu den elementaren Fra-
gen von Geburt, Lebensführung, Sterben und Tod zurück. Man unterschät-
ze nicht, wie sehr die Probleme der Ökologie, der gesunden Ernährung, der
Tierhaltung, des Katastrophenschutzes oder des Hungers in der Welt die
jungen Menschen zum Denken und zur systematischen Arbeit motivieren.
Hier werden wissenschaftliche Aktivitäten freigesetzt, die ursprünglich
theoretisch und praktisch und, auch das ist neu, von vornherein interna-
tional angelegt sind.
Mit den Umweltthemen hat sich auch das Verhältnis zur Natur entideo-
logisiert. Das zeigt sich auch am Interesse an den vergleichenden Studien
über tierisches und menschliches Verhalten sowie an der kulturellen Anth-
ropologie. Längst werden die in den Feuilletons zwischen Neurobiologen
und Philosophen ausgetragenen Kontroversen über Freiheit und Bewusst-
sein in konkreten Forschungsprojekten fortgeführt. Auch das lange unter-
brochene Gespräch mit der Psychologie ist auf der Ebene der Forschung
wieder aufgenommen worden. Hier hat die fällige Wiederentdeckung der
Gefühle eine stimulierende Rolle gespielt. Dass an dieser Entwicklung
auch die Kunst- und Kulturwissenschaften Anteil haben, sollte dem Litera-
turwissenschaftler wichtig sein.
Immer seltener wird die Geschichte als bloßes Arsenal für Extrembei-
spiele verwendet, mit denen man in der nächsten Rätselecke überwintern
kann. Es gibt eine, wenn auch noch junge Blüte der Wiederbeschäftigung
mit der Antike, dem Mittelalter und der frühen Neuzeit. Leider kann man
ein Gleiches nicht für die von Bohrer mit Recht gerühmten Klassiker sa-
gen. Mit der Ausnahme von Kant und Nietzsche werden alle bedeutenden
Denker des deutschen Sprachraums sträflich vernachlässigt. Bei Leibniz,
Fichte, Schelling, Hegel und Marx gibt es immerhin gerade abgeschlossene
oder zügig voranschreitende Gesamtausgaben. Das gleiche gilt für Simmel
und Cassirer. Aber die Forschung über sie kommt nur schleppend voran,
weil Nachwuchskräfte nicht ausreichend gefördert werden. Wer heute
Neues über Herder, Dilthey oder Jaspers hören will, muss nach Italien
fahren. Husserl wird wie ein Emigrant behandelt, den es nach Leuven ver-
schlagen hat. Bei Heidegger, der, weiß Gott, eine kritische Beschäftigung
verdient, haben wir das Kuriosum, dass alle Welt ihn liest und für bedeu-
tend hält, im eigenen Land aber nur ein Lehrstuhl zur vorrangigen Beschäf-
tigung mit seinem Werk zur Verfügung steht. Wie ein einziger Hochschul-
lehrer in der Lage sein soll, die Heerscharen der jungen Amerikaner,
Italiener, Japaner und Chinesen zu betreuen, die über Heidegger promovie-
ren wollen, ist ein Rätsel. Gleichwohl gehört das lebendige Interesse an
336 Volker Gerhardt

Sein und Zeit und dem Denken nach der „Kehre“ zur deutschen Gegen-
wartsphilosophie.
Doch ich widerstehe der Versuchung, ins Detail der jüngeren deutschen
Philosophenszene zu gehen, und wende mich stattdessen dem Ansatz von
Karl Heinz Bohrer zu. Denn in den Prämissen seiner Evaluation liegt der
Grund für deren negatives Ergebnis. Dazu sei festgehalten, wie erfreulich
es ist, einmal von außen zu hören, dass von den Philosophen reine Theorie
erwartet wird. Gleichwohl ist dem darin liegenden Missverständnis mit
aller Entschiedenheit zu widersprechen: Aus dem Desinteresse an gesell-
schaftlicher Relevanz lässt sich kein Gütezeichen des Philosophierens ge-
winnen. Die Auszeichnung der theoria (also der bloßen „Schau“ des reinen
Denkens) war schon bei Aristoteles nicht eliminativ gemeint. Sie sollte nur
das äußerste Ziel des Philosophierens kenntlich machen. Die vita contem-
plativa stand als säkulare Gnade am Ende eines Wegs, der lebenslang
durch ein von Sorgen überschattetes philosophisches Gelände führte.
Unter neuzeitlichen Konditionen wird der Weg zum Ziel. Für ihn gilt
die kritische Einsicht Kants, dass der „praktischen Vernunft“ selbst in den
unaufgebbaren spekulativen Fragen der „Primat“ zukommt. Doch die histo-
rischen Stationen mögen sein, wie sie wollen: Als lebendige Wesen kom-
men wir nicht umhin, für alles, was wir tun, organische Ursachen, psychi-
sche Energien und soziale Triebkräfte anzunehmen. Also haben wir in allen
Fällen auch von einem Erkenntnisinteresse auszugehen. Es leitet uns selbst
dann noch, wenn wir davon überzeugt sind, dass der Distanzgewinn gegen-
über den Interessen zu den wichtigsten Leistungen des Erkennens gehört.

7. Abgrenzungsfragen. Es ist hier nicht der Ort, über Bohrers Platon-


Deutung zu streiten. Nach meinem Urteil darf der Siebente Brief nicht als
Abschied von der Politischen Philosophie oder gar von der Praxis gelesen
werden. Er ist ein bewegendes literarisches Zeugnis für den durch dreima-
liges Scheitern erzwungenen Verzicht auf eigene politische Ambitionen.
Aber der Anspruch, die politische Existenz des Menschen zu bedenken und
zu bessern, besteht unverändert fort. Der Philosoph muss in die Höhle
zurück. Anders wäre Platons Alterswerk, die Verfassungslehre der Nomoi,
nicht zu verstehen.
Im Übrigen könnte man sich an Platon, der als Philosoph und Dichter
unübertroffen ist, vor Augen führen, dass die Grenzlinie zwischen Kunst
und Wissenschaft nicht notwendig zwischen verschiedenen Texten ver-
läuft. Sie kann sich, wie das Symposion anschaulich lehrt, im selben
Kunstwerk dort ergeben, wo es mitten in der Fiktion um die Wahrheit und
ihre Folgen für das menschliche Handeln geht.
Warum Robert Musil gleich mehrfach als Autorität in den Grenzstreitig-
keiten zwischen Literatur und Philosophie angerufen wird, könnte ebenfalls
Die Macht liegt in der Vielfalt 337

eine Frage sein. So groß er als Dichter auch sein mag, so eingeschränkt ist er
in seinem Urteil über die Philosophie. Natürlich steht auch er unter dem Ein-
fluss Nietzsches. Aber er folgt doch eher dem Strom der analytischen Er-
nüchterung, die von dessen Sprach-, Psychologie- und Metaphysikkritik
ausgeht und die im Wiener Positivismus zu großer Form gefunden hat. Hier
wären Fritz Mauthner, der Wittgenstein des Tractatus sowie Schlick und
Carnap zu nennen. Aber sind das die philosophischen Größen, die Bohrer
imponieren? Könnte er den späten Wittgenstein so loben, wie er es tut, wenn
er Musils Auffassung vom Philosophieren teilte? Müsste dann bei ihm nicht
auch die sprachanalytische Philosophie in höherem Ansehen stehen?
Ich räume ein, dass der Wiener Dichter gegenüber dem notorisch un-
terschätzten Nicolai Hartmann modern erscheint. Das Gleiche gilt, wenn es
um Musils ebenfalls von Nietzsche angeregte Theorie der Metapher geht.
Aber ist Musil die erste Instanz, um in Grenzfragen zwischen Literatur und
systematischer Philosophie herangezogen zu werden? Wie wäre es, wenn
wir einen der anderen großen Denker des 20. Jahrhunderts, sagen wir:
Thomas Mann zu Rate ziehen? Trotz der opulenten philosophischen Pas-
sagen in allen seinen Romanen, trotz seiner brillanten literarischen und
politischen Essays beharrt er auf der im Nachwort zum Doktor Faustus
gewissenhaft protokollierten Differenz zwischen Kunst und Wissenschaft,
die den Anspruch beider Seiten wahrt, und die auch bei Thomas Mann
inmitten seiner Texte verläuft.

8. Die Ironie in der betonten Ironie. Bohrers großes Lob für Kurt Flasch
teile ich uneingeschränkt und auch für Richard Rorty habe ich, trotz man-
cher Einwände, große Sympathie. Er hat dem philosophischen Denken
auch in Deutschland wichtige Impulse gegeben. Die von ihm vollzogene
Selbstkritik der sprachanalytischen Philosophie, sein entspannter An-
schluss an die grundlegenden Einsichten des Pragmatismus sowie sein
Brückenschlag zum poststrukturalistischen Denken bezeugen seine intel-
lektuelle Kraft nicht weniger als seinen persönlichen Mut. Bei Bohrer er-
folgt die Auszeichnung dieses Denkers jedoch auf einer epochenkritischen
Leistungsskala. Am Ende muss ein kategorialer Modernitätsgewinn he-
rausspringen. Ich kann nicht sagen, dass mir ein Fortschritt dieser Art un-
lieb oder gar unheimlich wäre. Doch ich erkenne ihn nicht.
Mit dem Romantiker Friedrich Schlegel und mit dem Spätromantiker
Friedrich Nietzsche verknüpft Bohrer paradigmatische Veränderungen, die
das Vorangehende grundsätzlich veraltet erscheinen lassen. Das Versöhnli-
che an dieser diachronen Antithetik ist, dass im Neuesten das Älteste, wie
zum Beispiel der antike Mythos oder die Tragödie, wiederkehren. Aber in
der historischen Erkundung der modernen Geistesgeschichte führt sie zu
einem Notengefälle zwischen der für den Augenblick offenen, nur dem
338 Volker Gerhardt

eigenen Stil verpflichteten literarischen Assoziation und dem zur Schwer-


fälligkeit und Umständlichkeit neigenden philosophischen Traktat: Hier
die leichtfüßige Behändigkeit der Ironie und dort das sich selbst fesselnde
Schema des Systems. Und nach diesem – selbst einem Schema gehorchen-
den – Bewertungsprinzip wird dann auch über die deutsche Philosophie der
Gegenwart geurteilt.
Bohrer weiß natürlich, dass der ästhetische Topos der Leichtfüßigkeit
in Platons früher Ästhetik eine Rolle spielt. Die Plötzlichkeit und das Un-
wiederbringliche des Augenblicks haben in der Lehre vom kairos ebenfalls
eine platonische Herkunft, die den Aufklärern des 18. Jahrhunderts gegen-
wärtig war, als sie die Urteilskraft theoriefähig machten. Und dass die Iro-
nie ein sokratisches Stilmittel ist, hat Wieland noch vor ihrer romantischen
Wiederentdeckung populär gemacht. Es fällt also nicht leicht, das radikal
Neue in der von Bohrer ausgezeichneten Epoche einer in heroischer Gebro-
chenheit über sich selbst hinauswachsenden Romantik zu entdecken.
Wie nahe sich System und Ironie auch an der für Bohrer entscheiden-
den Geschichtsschwelle sind, kann hier nur angedeutet werden: Als der für
sein Systemdenken sprichwörtliche Kant im Alter von siebzig Jahren we-
gen seiner unbotmäßigen Äußerungen zur Religion in Konflikt mit seinem
König geraten war und miterleben muss, dass der geistlose Herrscher seine
Truppen in Frankreich einrücken lässt, um der von Kant begrüßten Revolu-
tion ein Ende zu machen, greift der unter verschärfter Zensurbeobachtung
stehende Systematiker – zur Ironie. Er schreibt den Traktat Zum ewigen
Frieden. Die kleine Schrift ist zu einem der wirkungsmächtigsten Texte
der neuzeitlichen Philosophie geworden. Völkerbund, Menschenrechts-
charta und die Konzeption der internationalen Föderationen folgen den hier
entwickelten Ideen. Aber in Titel, Aufbau und Durchführung ist der Text
eine Parodie auf die damaligen Friedensverträge, die das Papier nicht wert
waren, auf dem sie geschrieben sind. Und damit die Zensurbehörde von
ihren dummen Gedanken nicht auf richtige Schlüsse kommt, ironisiert
Kant die Macht der Philosophie als ein reines, unter allen Bedingungen
gelingendes, aber absolut folgenloses Gedankenspiel.
Wer aber liest und kommentiert den kleinen Text als erster, um darauf
in ernstester Absicht Kants republikanische Lehre zu radikalisieren? Es ist
niemand anderes als der nun von Bohrer für seine ironische Abkehr vom
Systemdenken belobigte Friedrich Schlegel.

9. Essayistisches Philosophiespiel. Bohrers systematische Bewertung his-


torischer Konstellationen steht hinter seiner Abgrenzung zwischen „syste-
matischer Praxisphilosophie“ auf der einen Seite und dem „essayistischen
Philosophiespiel“ auf der anderen. Die philosophische Essayistik findet er
natürlich „interessanter“, dies aber nicht, weil sie seinem Metier näher
Die Macht liegt in der Vielfalt 339

steht, sondern weil sie sich, wie er findet, „zur klassischen Philosophie
gedanklich konkurrierend“ verhalte.
Die Unterscheidung setzt voraus, dass die klassische Philosophie we-
der essayistisch noch aphoristisch ist. Wäre dem so, würde sich der Be-
stand an philosophischen Klassikern beträchtlich dezimieren. Außerdem
entfielen jene Denker, deren Brief- und Nachlass-Editionen uns mit ihrer
aus dem Augenblick geborenen, ganz und gar „momentanistischen“ Apho-
ristik vertraut gemacht haben. Hierzu zählt der Systematiker Kant. Bohrers
Abgrenzungskriterium kann somit nicht als trennscharf bezeichnet werden.
Der Befund ändert sich nicht, wenn man die Reihe der Autoren durch-
geht, die als Beispiele für die Spielphilosophie der Essayisten genannt
werden: Sloterdijk, Žižek, Thomä, Vogl, Hogrebe und Seel. Die beiden
zuletzt Genannten sind durch mehrere, höchst beachtliche systematische
Arbeiten im Bereich der klassischen Philosophie hervorgetreten. Thomä ist
nach einer Aufsehen erregenden philosophiehistorischen Untersuchung
über Heideggers Verständnis des Selbst wesentlich durch die von Bohrer
wenig geschätzte, der „systematischen Praxisphilosophie“ zugeschlagene
Ratgeberliteratur hervorgetreten. Vogl ist als anerkannter Kulturwissen-
schaftler ein mit Recht viel beachteter Grenzgänger zwischen der französi-
schen und der deutschen Philosophie. Und die Heterogenität dieser Gruppe
verringert sich nicht, wenn man ihr Sloterdijk und Žižek voranstellt. Beide
allerdings sind, wenn ich so sagen darf, ausgemachte Praxisphilosophen.
Slavoj Žižek ist zwar für jede These gut, aber er hat vor noch gar nicht
langer Zeit für den „Mut“ plädiert, den „ersten Stein zu werfen“. Und Peter
Sloterdijk hat jüngst aus Rilkes religiös gestimmter Umkehrformel sein
brachiales: „Du musst dein Leben ändern“ gemacht.
Alle von Bohrer genannten Autoren nehmen aktuelle Themen auf, be-
handeln sie geistreich, schreiben gut und finden Aufmerksamkeit. Was
immer man von ihren Überlegungen im Einzelnen hält: Es wäre abwegig,
darüber zu streiten, ob sie Philosophen sind oder nicht. Ihr Erfolg bestätigt
die unverminderte Aktualität philosophischer Fragen, macht die Verbin-
dung zwischen Theorie und Lebenspraxis offensichtlich und gibt ein Bei-
spiel dafür, dass auch anspruchsvolles Denken ein größeres Publikum fin-
den kann. Es ist eine Stärke der Philosophie, dass sie so vielfältig sein kann,
und sie hat sich dagegen zu wehren, durch eine von außen stammende, ihrer
inneren Lebendigkeit und Vielfalt fremde Systematik in zwei Teile zerlegt
zu werden. Eine Separierung dieser Art muss zwangsläufig in die Frage
münden, auf welcher Seite denn die „wahre“ Philosophie betrieben wird.
Bohrer ist, wie man gleich sieht, um die Antwort nicht verlegen.

10. Systematische Praxisphilosophie. Die an erster Stelle genannte Gruppe


von Philosophen wird ohne Erwähnung von Namen vorgeführt. Man darf
340 Volker Gerhardt

aber davon ausgehen, dass der vorher beiläufig zitierte Otfried Höffe dazu-
gehören soll. Da ich es war, der Bohrer vor Jahresfrist in einem freundschaft-
lichen Gespräch auf die disziplingeschichtliche Bedeutung der Ethikräte
hingewiesen hat, nehme ich mir die Freiheit, mich auch hinzu zu zählen. Im
Übrigen braucht man nur die Mitgliederlisten der nationalen, regionalen,
kommunalen, universitären, klinischen, und ständepolitischen Ethikräte
durchzugehen, kann die „publikumswirksamen Stichwortgeber für alle un-
gelösten Lebensfragen“ hinzu addieren und braucht nur noch jene „Universi-
tätsphilosophen“ aufzunehmen, die sich auf „religiöse Debatten“ (zwar nicht
„theologisch“, aber doch immerhin „moralisch“) einlassen – und schon hat
man die bunte Schar beisammen, die Bohrer unter seinem Systemtitel der
„systematischen Praxisphilosophie“ versammelt. Hier also findet man die
Repräsentanten der „Tendenz, die eigentlich mit Platons sizilianischem
Abenteuer zu Ende gegangen sein sollte“. Sie haben, so müssen wir das Dik-
tum aus dem Off der Literaturwissenschaften verstehen, den schon vor etwa
zweitausenddreihundertsechzig Jahren geschlagenen Gong nicht gehört.
Wer die große Zahl derer in den Blick nimmt, die unter Bohrers Katego-
rie der „systematischen Praxisphilosophen“ fallen, der wird leicht feststel-
len, dass hier reichlich großzügig geurteilt wird. Doch das soll kein Streit-
punkt sein, denn das Kriterium der „Praxis“ ist so weit gefasst, dass es alles
einschließt, was bewusstes Denken unter den Konditionen des menschli-
chen Daseins meint. Natürlich gehören auch Sloterdijk, Žižek, Thomä,
Vogl, Hogrebe und Seel dazu, die damit kein alternatives Gegenüber, son-
dern nur eine Teilmenge in der Gesamtheit der Philosophen bilden.
So gedeutet könnten vermutlich alle mit Bohrers Vorschlag leben. Das
Problem ist nur, dass dann alle Philosophen dem angeblichen Verdikt des
Siebenten Briefs verfallen. Die gesamte Philosophie, die mit einigem Recht
von einem bedeutenden Denker des 20. Jahrhunderts als Fußnote zu Platon
bezeichnet worden ist, wäre dann unter einem Missverständnis angetreten.
Für wahrscheinlich halte ich das nicht.

11. Ein Nachtrag zum Ethikrat. Die Arbeit in den zahlreichen Ethikräten,
die inzwischen in so gut wie allen Ländern der Erde tätig sind, hat einen
prinzipiellen Aspekt, den es bei einer Bewertung der Lage der Philosophie
zu Beginn des 21. Jahrhunderts zu bedenken gilt. Er hängt mit einer grund-
sätzlichen Wandlung zusammen, die neben der Philosophie vor allem das
Recht betrifft. Wer sie nicht beachtet, läuft Gefahr, die Epoche zu verfeh-
len, über die er spricht.
Das grundlegend Neue in der Geistesgeschichte der letzten zwei Jahr-
hunderte liegt weniger darin, dass Philosophen ältere Weltbilder revolu-
tionieren oder Dichter mit neuen poetischen Formen experimentieren.
Selbst ihr vereintes Bemühen, gesellschaftliche Revolutionen in Gang zu
Die Macht liegt in der Vielfalt 341

bringen, ist ohne nennenswerte Folgen geblieben. Die vollkommen andere


Konditionen schaffende Veränderung liegt vielmehr darin, dass bloße
Ideen zu realgeschichtlichen Bedingungen politischer Machtausübung ge-
worden sind.
Das ist in der Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika erst-
mals ausdrücklich geschehen, wurde wenig später in der Gesetzgebung der
ersten Französischen Republik wiederholt und ist nach einem schwierigen,
mit zahllosen Rückschlägen verbundenen Prozess zur Generalbedingung
des politischen Handelns nicht nur in der westlichen Hemisphäre gewor-
den. Freiheit, Gleichheit und menschliche Würde sind zu einklagbaren
Rechtsprinzipien geworden, nach denen sich eine rechtsstaatlich verfasste
Politik zu richten hat. Die grundlegenden Ideen des politischen Handelns
müssen nun nicht mehr bloß von außen an die überlegene Macht herange-
tragen werden; sie dienen mit der Autorität des in drei Gewalten aufgeteil-
ten Staates der Kontrolle politischer Macht. Souverän ist nicht mehr die
Regierung, sondern das Menschenrecht, dem sie zu folgen hat, wenn sie an
der Macht bleiben will.
John Rawls hat dies begriffen. Darauf basiert der einzigartige Erfolg
seiner politischen Philosophie, die nur auf Ideen gründet, aber ihre Prinzi-
pien und Verfahren so anlegt, dass sie in Vertrags- und Gerichtsverhand-
lungen umgesetzt werden können. Was seiner Theorie fehlt, ist die Integra-
tion der bleibenden Tatsache, dass es auch unter diesen Bedingungen eines
ständigen Kampfes um das Recht bedarf.
Die Arbeit der Ethikkommissionen erfolgt auf dem grundrechtlichen
Niveau politischen Handelns: Da die beschleunigten Veränderungen der
modernen Lebenswelt neue Konventionen fordern, müssen sie nach den
verfassungsrechtlichen Prämissen, unter Aufnahme des neuesten Wissens
und mit Einbindung gesellschaftlich relevanter Gruppen neu verhandelt
und gesetzlich verankert werden. Wenn daran, neben der Medizin, den
Natur- und Rechtswissenschaften und der Theologie, auch die Philosophie
beteiligt ist, lässt sich das gewiss als Indiz für ihren disziplinären Einfluss
werten. Philosophisch entscheidend aber ist, dass sie mit ihren Begriffen
der Freiheit, der Gleichheit und der menschlichen Würde längst zum aus-
legenden Teil der politischen Macht geworden ist. So erleben wir, dass die
höchstrichterlichen Urteile dem bereits Rechtskraft verleihen, wofür die
Philosophen in den Ethikkommissionen noch vergeblich argumentieren.
Mehr Macht hatte die Philosophie, trotz der Schwäche ihrer einzelnen
Vertreter und trotz der Mängel in der Ausstattung ihrer Institute, noch nie.

12. Der Blick von außen. Die These des letzten Punktes wird man schwer-
lich unter die Selbstverständlichkeiten rechnen können, die aus der dis-
ziplinären Sicht der Philosophie zu Bohrers wahrhaft anregendem Lage-
342 Volker Gerhardt

bericht zu sagen sind. Alles andere ist Auslegung eines Selbstverständnis-


ses, nach dem ich die Philosophie gerade in ihrer Vielfalt als Einheit be-
greife. Nach meinem Urteil kann man von Philosophie überhaupt nur spre-
chen, wenn man diese Einheit in der phantastischen Heterogenität der
Anlässe, Absichten, Aufgaben und Erwartungen sowie in der Pluralität der
Methoden bereits angenommen hat.
Sie habe ich verteidigt, weil ich in Bohrers Grenzziehung zwischen
schwerfälligen Systematikern und einfallsreichen Experimentatoren die
Gefahr einer Abwertung angeblich mittelmäßiger Arbeit gegenüber der in
geistige Höhenlagen vorstoßenden Kunst erkenne. Diesen Unterschied gibt
es im Einzelnen natürlich oft genug und er kann auf beiden Seiten ein
Glück bedeuten. Aber er ist nicht mit der Tätigkeit selbst verbunden. Es
gibt geniale Systematiker und triviale Aphoristiker. Also muss man die
Philosophie vor der – selbst wieder – systematischen Installation eines
solchen Schemas schützen.
Doch ich gestehe zu, dass ich mich irren kann. Die Kritik von Karl
Heinz Bohrer beruht auf einer geschichtsphilosophischen Überzeugung,
die einen Epochenwandel unterstellt. Deren Beweis kann erst die Zukunft
bringen. Vielleicht kommt es ja so, dass die Zukunft der Philosophie nur
dem Spiel gehört und die systematische Anstrengung entweder nicht mehr
benötigt oder von den elektronischen Rechnern erledigt wird. Deshalb
reicht meine Verteidigung der deutschen Philosophie tatsächlich nur bis zu
dieser Gegenwart. Sie schließt allenfalls jenen Fetzen Zukunft ein, den wir
vorherzusehen glauben. Bisher ist alle Geschichtsphilosophie an dieser
Gegenwart gescheitert. Wie sollte ich ausschließen können, dass es in Zu-
kunft anders ist?
Meine Kritik an Karl Heinz Bohrer steht aber nicht nur unter dem Vor-
behalt der Zeit. Der ehemalige Feuilletonchef und unerschrockene London-
Korrespondenz der FAZ und preisgekrönte Literaturordinarius in Bielefeld
(mit Wohnsitz in Paris und London), der nunmehr schon seit Jahren in
Stanford lehrt, verfügt über eine Welterfahrung, die für sich schon Grund
genug ist, sein Urteil ernst zu nehmen. Es nimmt Wertungen auf, die im
internationalen Diskurs der Kulturwissenschaften zu vernehmen sind und
die sich auch bei zahlreichen an der Philosophie interessierten Journalisten
finden. Darüber kann die Philosophie nicht hinweg gehen, nur weil sie die
Epochenmechanik oder die Systematik nicht teilt, die solchen Urteilen
zugrunde liegt. Es ist allemal interessant zu hören, was an ihrer Arbeit als
aufregend oder langweilig empfunden wird. Im Übrigen kann es ihr nicht
schaden, den Ehrgeiz zu haben, leicht und spielerisch zu erscheinen.
Schließlich bekenne ich, dass mich Bohrers Leiden an den deutschen Ver-
hältnissen, dem er in seinen Essays beredten Ausdruck gegeben hat und
das auch in seiner Philosophiekritik zum Ausdruck kommt, berührt.
Die Macht liegt in der Vielfalt 343

Durch dies und einiges Andere erhöht sich das Gewicht der schlechten
Note, die Bohrer der deutschen Gegenwartsphilosophie gibt. Deshalb wi-
derspreche ich mit meiner ausführlichen Antwort auch jenen, die seine
Schelte erst gar nicht an sich herankommen lassen. Es wäre auch falsch, sie
nur deshalb beiseite zu schieben, weil sich im Vergleich mit anderen Län-
dern andere Einsichten aufdrängen. Wer von China aus auf die deutschen
Verhältnisse blickt, der kann nur beklagen, dass wir die großen Problem-
felder der philosophischen Theorien, also die Theoretische und Praktische
Philosophie, die Ästhetik, die Anthropologie, die Kultur- und Religions-
philosophie sowie die Metaphysik, nicht mehr mit dem gebührenden schu-
lischen Ernst traktieren und die weiten Felder unserer philosophischen
Überlieferung brach liegen lassen.

13. Alles andere als positiv. Blicke ich zurück auf meine Erwiderung, die
in einer gekürzten Fassung bereits für den Merkur in Druck gegangen ist,
stellt sich die Befürchtung ein, Leser, die mich nicht kennen, könnten mei-
ne Replik für eine vorbehaltlose Verteidigung des Bestehenden halten. Das
ist sie gewiss nicht! Um das kenntlich zu machen, schließe ich mit einer
Handvoll kritischer Anmerkungen zur gegenwärtigen Verfassung der Phi-
losophie in Deutschland:
An erster Stelle ist das geringe Interesse der akademischen Philosophie
an ihrer eigenen philosophischen Überlieferung zu beklagen. Wer aus dem
Ausland kommt, ist entsetzt zu sehen, wie wenig Personal bei uns zur Er-
forschung der Tradition nicht nur von Meister Eckhart bis Pufendorf, son-
dern auch von Leibniz bis Cassirer und Blumenberg zur Verfügung steht.
Wir haben uns auch vorzuwerfen, dass wir die Geschichte des Denkens in
anderen Sprachräumen sowie in den außereuropäischen Kulturen vernach-
lässigen. Wer arbeitet über die Traditionen des Denkens in China und In-
dien? Nur ein paar rühmenswerte Einzelgänger, die aber in der die stan-
dards behauptenden community nicht ernst genommen werden. Wo findet
eine Auseinandersetzung mit der großen arabischen Philosophie des Mit-
telalters statt, der Europa so viel verdankt?2

2
Hier, wie vermutlich auch in anderen Punkten meiner Darstellung, bestätigen Aus-
nahmen die Regel. Um die Verbindungen der westlichen Tradition zur arabischen
Philosophie hat sich nun schon seit einigen Jahren die von der Volkswagen-Stiftung
mitfinanzierte Forschungsstelle „Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte der
griechisch-arabisch-lateinischen Tradition” am Institut für Philosophie der Univer-
sität Würzburg unter Leitung von Professor Dag Hasse verdient gemacht. An der
Humboldt-Universität in Berlin besteht ebenfalls die Erwartung, die spätantike Phi-
losophie in Byzanz und die frühmittelalterliche Wissenschaft im arabischen Raum
näher zu erforschen.
344 Volker Gerhardt

Auch die Jahrzehnte lange Vernachlässigung von Mittelalter und Anti-


ke darf nicht unerwähnt bleiben, obgleich hier immerhin die Hoffnung
besteht, dass es durch die Bemühungen in München, Berlin und Bonn zu
einer Trendwende kommt. Doch es steht unverändert schlecht um die Auf-
arbeitung der Theoriegeschichte, wenn ein Philosoph wie Henning Ott-
mann es schafft, eine große, originell konzipierte und exzellent geschrie-
bene neunbändige Geschichte des politischen Denkens vorzulegen, aber
nicht befürchten muss, dafür in eine Akademie gewählt zu werden.
An zweiter Stelle steht das im Einzelnen zwar große, in der Breite aber
viel zu geringe Interesse an der philologischen Erhaltung unserer philoso-
phischen Tradition. Die Leistungen der Erschließung, Sicherung und Ver-
gegenwärtigung der gedanklichen Überlieferung werden zu wenig ge-
schätzt. Wer an Gesamtausgaben arbeitet, wird im Kollegenkreis eher
mitleidig belächelt. Schlägt man eine in den Archiven erfolgreich tätige
Editorin, die seit mehr als drei Jahrzehnten eine große, international ver-
breitete Gesamtausgabe dem Abschluss nahe gebracht hat, für die Verlei-
hung einer philosophischen Ehrendoktorwürde vor, muss man sich sagen
lassen, Edieren sei keine philosophische Leistung. Wer hätte das je behaup-
tet. Aber sie gehört wesentlich zu dem, was vom Fach zu bewältigen ist.
An dritter Stelle steht die Selbstvergessenheit, mit der sich eine ganze
Generation deutscher Philosophen der sprachanalytischen Methode ver-
schrieben hat, so als wäre sie selbst schon eine philosophische Theorie.
Wüssten wir nicht, dass in England und den USA (sowie in allen Ländern,
deren philosophischer Nachwuchs sich an ihnen orientiert) der gleiche
Fehler gemacht worden ist, könnten wir die sprachanalytische Vereinsmei-
erei für eine typisch deutsche Charakterschwäche halten. Immerhin hat sie
sich hier mit der Gründung ihrer eigenen Gesellschaft für Analytische Phi-
losophie (GAP), die sich als gleichrangiger Konkurrent der Deutschen
Gesellschaft für Philosophie begreift, eine auf ewig im Vereinsregister
festgehaltene Blöße gegeben.
Man verstehe mich nicht falsch: Die sprachanalytischen Methoden
können produktiv sein. Ihre schulmäßige Normierung kann eine Präzisie-
rung der Argumentationsstandards mit sich bringen, die aber nur so weit
reicht wie der Konsens über die Methode. Auch gegen den Ansatz bei der
Alltagssprache ist nichts einzuwenden. So hatten schon Xenokrates und
Platon eingesetzt. Aber wenn ganze Philosophiekarrieren auf die sich
kleinteilig zuspitzende Analyse einer einzigen Konjunktion oder Präposi-
tion oder auf die Beantwortung der Frage, was es heiße, einer Regel zu
folgen, gegründet sind, dann ist der akademische Grenznutzen erreicht. Ich
bin sehr dafür, diese für die vergleichende Sprachforschung und für den
Aufbau elektronischer Verständigung hilfreichen Untersuchungen durch
Projektmittel zu fördern. Aber Spezialisten diesen einsamen Ranges auf
Die Macht liegt in der Vielfalt 345

Philosophielehrstühle zu berufen, ist ruinös – nicht zuletzt deshalb, weil


man aus Erfahrung weiß, dass diese Exponenten des Details ihr Amt in der
Überzeugung exekutieren, dass nur sie die Philosophie vertreten, der die
Zukunft gehört.
An vierter Stelle möchte ich den Hang zur Schulbildung nennen, der
die Berufungspraxis schon immer verdorben hat, und der auch heute im-
mer wieder zu verhängnisvoller Einseitigkeit führt. Fragt man einen
Sprachanalytiker, was Sprachanalytische Philosophie ist, erklärt er, dass es
sie gar nicht gebe. Hört man ihn in einer Berufungskommission argumen-
tieren, kann man sicher sein, dass er nur Sprachanalytiker wirklich gut
findet. Da niemand alles kennt und stets nur einen kleinen Kreis von Wis-
senschaftlern aus näherer Kenntnis beurteilen kann, ist es menschlich ver-
ständlich, wenn man bei denen ausführlich wird, die im eigenen Theorie-
kontext tätig sind. Aber gerade weil das so ist, sollte man erwarten können,
dass man sich bei Personalentscheidungen von den eigenen Präferenzen
distanziert und sich besonders für jene Bewerber interessiert, die einen
anderen Ansatz vertreten und gerade dadurch interessant sein könnten, weil
sie zu anderen Ergebnissen kommen.
Das philosophische Fragen, so belehren wir die Erstsemester, entsteht
aus der Distanz zum Selbstverständlichen, vornehmlich aus der Distanz zu
sich selbst. Es ist ein von Generation zu Generation neu aufgeführtes Trau-
erspiel, dass die professionelle Philosophie dies in der Selbstergänzung
ihres eigenen Personals immer wieder vergisst. Natürlich steht die Eitelkeit
des je Einzelnen dagegen. Aber da die Zunft durch Kommissionsarbeit und
Gutachterverfahren an den Entscheidungen beteiligt ist, sollte es zum
Ethos der Institution gehören, Gegengewichte zu schaffen. Man tut keiner
Person und auch keiner Schule einen Gefallen, wenn man zulässt, dass sie
ihre Schüler berufen, schon deshalb nicht, weil die Berufenen mit dem
Makel des Epigonalen belastet sind. Denn diese Glücklichen haben mit
Motiven zu kämpfen, die dem sachhaltigen Nachdenken nicht günstig sind.
Zur Beförderung des Gegenteils lohnt es sich zu fragen, welches
Schicksal philosophische Schulen haben. Sie zerfallen, vor allem wenn am
Anfang ein machtbewusstes Schulhaupt steht, oft schon in der zweiten Ge-
neration. Nicht selten ist dann die einzig verbleibende Frage, wer denn
eigentlich dazu gehört. So ist es der Ritter-Schule, der Erlanger Schule und
den beiden Varianten der Heidelberger Schule mit dem Gadamer- und dem
Henrich-Zweig ergangen. Einzig die Frankfurter Schule macht eine Aus-
nahme, dies aber um den Preis, dass die von Habermas repräsentierte zwei-
te Generation nur noch das Thema der Gesellschaft und den Anspruch der
Kritik beibehalten, ansonsten aber alles geändert hat. Da die Gesellschaft
ein seit Heraklit im Zentrum des Philosophierens stehendes Dauerthema ist
und Kritik, namentlich seit Kant, der Sache aber seit Sokrates, das konstitu-
346 Volker Gerhardt

tive Verfahren des philosophischen Denkens ist, ist dieser Schule ihre Auf-
lösung in Philosophie schon vorgezeichnet. Dass es sie unter dem redun-
danten, aber werbewirksamen Titel einer „kritischen Theorie“ immer noch
gibt, hat politische Ursachen, die mit der nachwirkenden Aktualität des
Marxismus unter den Bedingungen der deutschen Teilung zusammen hängt
und den noch nicht bewältigten Folgen ihrer Überwindung.
An fünfter und letzter Stelle stehe ein Wort zur Abspaltung der Kul-
turwissenschaften, die sich im Bewusstsein mancher ihrer Vertreter in
ausdrücklicher Abgrenzung von der Philosophie vollzogen hat. In irrtümli-
cher Identifikation des in den Geisteswissenschaften in Anspruch genom-
menen Geistes mit Hegels Geistbegriff, in abwegiger Deutung der dialekti-
schen Geistkonzeption als „substanzialistisch“ und in der unzutreffenden
Annahme, die Philosophie erschöpfe sich darin, eine Geisteswissenschaft
zu sein, wurde mit dem wesentlich in der deutschen Philosophietradition
zwischen Herder und Cassirer entwickelten Begriff der Kultur dem nach-
geeifert, was sich mit den Cultural Studies in den Vereinigten Staaten ent-
wickelt hatte. Dabei kam auch einiges zur Geltung, was in den Humanities
amerikanischer Provenienz betrieben wurde. Das führte rasch zu einer
großen Palette von Lehr- und Forschungsgebieten, die inzwischen ihren
eigenen Rang gewonnen haben. Es ist daher gar nicht mehr nötig, dass die
Professoren der Kulturwissenschaften im Außenverhältnis Wert darauf
legen, als Philosophen bezeichnet zu werden; es tut der Philosophie aber
auch keinen Abbruch, wenn es geschieht.
Auch wenn man nach einer relativ kurzen Zeit von etwa dreißig Jahren
noch nicht sicher sagen kann, ob sich die Kulturwissenschaften auf Dauer
etabliert haben, plädiere ich dafür, es so zu sehen. Es ist ein Zeichen der
Lebendigkeit der Philosophie, wenn sie neue Disziplinen aus sich entlässt.
Allein die Vervielfältigung der Medien und ihre enge Beziehung zu allem,
was mit der Kommunikation und Produktion des Menschen zu tun hat,
verdient eine besondere disziplinäre Aufmerksamkeit, die von der akade-
mischen Philosophie nicht auch noch erbracht werden kann. Das Gleiche
gilt mit Blick auf das Anwachsen des kulturellen Sektors unter den arbeits-
teiligen Bedingungen einer modernen Zivilisation. Schließlich kommen die
Fragen hinzu, die mit der aktualisierten Interdependenz der Kulturen im
beschleunigten Prozess der Globalisierung aufgeworfen sind. Das alles
erfordert theoretisch wie praktisch eine Beschäftigung mit den Problemen
der Vermittlung, der Erinnerung und der Vergegenwärtigung. Die Not-
wendigkeit eigener Forschung und spezialisierter Ausbildung ist, so meine
ich, offenkundig.
Das ist aus der Sicht der Philosophie nicht zuletzt deshalb so nach-
drücklich zu betonen, weil die Politik endlich einsehen muss, dass die Kul-
turwissenschaften für Aufgaben eigenen Rechts zuständig sind. Es kann
Die Macht liegt in der Vielfalt 347

nicht länger hingenommen werden, wenn der Aufbau der neuen kulturwis-
senschaftlichen Disziplinen auf Kosten der Philosophie betrieben wird, die
durch das Neue in keinem Punkt entlastet wird. Bisher aber ist die begrü-
ßenswerte Förderung der Kulturwissenschaften aus den mitunter brachial
freigesetzten Ressourcen der Philosophie erfolgt.
Das hat Spuren hinterlassen, die wohl zu erwägen sind, wenn man die
Defizite der deutschen Gegenwartsphilosophie beklagt. Sie selbst darf
darin jedoch keine Entschuldigung für die bestehenden Mängel sehen,
sondern hat mit ihren Leistungen innerhalb wie außerhalb der Institutionen
davon zu überzeugen, dass sie nach gut zweitausendfünfhundert Jahren, in
denen sie außer Medizin, Astronomie, Rhetorik und Geschichtsschreibung
so gut wie alle anderen Wissenschaften aus sich entlassen hat, so reich an
Fragen ist wie nie zuvor. Dem kommt das wachsende öffentliche und pri-
vate Sinnbedürfnis sowie das an die Philosophie herangetragene Interesse
an Weltorientierung entgegen.
Hinweise zu den Autoren

Marcel van Ackeren, geb. 1971, studierte Pädagogik, Soziologie, Politische


Wissenschaft (Dipl. 1995) und Philosophie in Duisburg, Bochum und Glas-
gow. Promotion (2001) in Bochum; Habilitation (2010) in Köln. For-
schungsaufenthalte in Oxford (1996–1998), Cambridge (2003 und 2007)
und Bern (2004–2005). Wissenschaftlicher Mitarbeiter in Bochum (1998),
Bonn (2003–2004) und Köln (seit 2007). Veröffentlichungen: Das Wissen
vom Guten (2003), Eric Voegelin. Kritische Einführung (2004), Hannah
Arendt. Kritische Einführung (2004), Leo Strauss. Kritische Einführung
(2004), Platon Verstehen (2004, ed.), The Political Identity of the West
(2005, co-ed.), Heraklit (2005), Understanding Ancient Philosophy / Antike
Philosophie Verstehen (2006, co-ed.), Meditations and Representations.
Marcus Aurelius in Interdisciplinary Light (2011, co-ed.), Blackwell Com-
panion to Marcus Aurelius (2011, ed.), Die Philosophie Marc Aurels, 2 Bän-
de (2011). Zahlreiche Aufsätze zur Antiken und Praktischen Philosophie.

Ansgar Beckermann, geb. 1945, studierte an der Universität Hamburg und


der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in Frankfurt/M. Philosophie, So-
ziologie und Mathematik. Promotion (1974) in Frankfurt/M., Habilitation
(1978) in Osnabrück. Von 1982–1992 Professor für Philosophie an der
Georg-August-Universität Göttingen; von 1992–1995 Professor für Philo-
sophie an der Universität Mannheim und von 1995–2010 Professor für
Philosophie an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen: Gründe und
Ursachen (1977), Descartes’ metaphysischer Beweis für den Dualismus –
Analyse und Kritik (1986), Einführung in die Logik (32011), Analytische
Einführung in die Philosophie des Geistes (32008, dritte Auflage), Das
Leib-Seele-Problem (2008), Gehirn, Ich, Freiheit. Neurowissenschaften
und Menschenbild (2008). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zu den
Arbeitsgebieten Handlungstheorie, Philosophie des Geistes, Willensfrei-
heit, Erkenntnistheorie und Religionsphilosophie.

Roland Bernecker, geb. 1961 in Bendorf, ist seit dem 1. Dezember 2004
Generalsekretär der Deutschen UNESCO-Kommission. Nach dem Studi-
um der Literaturwissenschaft und Philosophie an der Universität Frankfurt
am Main und nach Forschungs- und Lehrtätigkeiten in Deutschland, Italien
und Frankreich war er Direktor des deutsch-französischen Kulturinstituts
350 Hinweise zu den Autoren

in Nantes. 1998 kam er als Kulturreferent zur Deutschen UNESCO-Kom-


mission. Von April 2002 bis Juli 2004 war er im Auswärtigen Amt in Ber-
lin tätig. Promotion 1995 an der Johann-Wolfgang-Goethe-Universität,
Frankfurt am Main, mit einer Arbeit über Die Rezeption der „idéologie“ in
Italien. Sprachtheorie und literarische Ästhetik in der europäischen Auf-
klärung.

Karl Heinz Bohrer, geb. 1932 in Köln; Studium der Germanistik, Geschich-
te und Philosophie in Köln und Göttingen; Promotion 1962 in Heidelberg;
Habilitation 1977 in Bielefeld. 1967–74 Literaturkritiker und Literaturblatt-
chef der Frankfurter Allgemeinen Zeitung; 1974–82 Kulturkorrespondent
der FAZ in London. 1982–1997 Ordentlicher Professor für neuere deutsche
Literaturgeschichte und Ästhetik an der Universität Bielefeld; seit 2003
Visiting Professor an der Stanford University. Seit 1984 Herausgeber des
Merkur. Veröffentlichungen: Surrealismus und Terror. Oder die gefährdete
Phantasie (1970), Der Lauf des Freitag. Utopie und Dichtung (1973), Die
Ästhetik des Schreckens (1978), Plötzlichkeit. Zum Augenblick des ästheti-
schen Scheins (1981), Der romantische Brief. Zur Entstehung ästhetischer
Subjektivität (1987), Die Kritik der Romantik. Der Verdacht der Philoso-
phie gegen die literarische Moderne (1989), Das absolute Präsens. Die
Semantik ästhetischer Zeit (1994), Der Abschied. Theorie der Trauer
(1996), Die Grenzen des Ästhetischen (1998), Ästhetische Negativität
(2002), Ekstasen der Zeit (2003), Imaginationen des Bösen (2004), Großer
Stil. Form und Formlosigkeit in der Moderne (2007), Das Tragische. Er-
scheinung, Pathos, Klage (2009). Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Mythos
und Moderne (1983), Sprachen der Ironie und Sprachen des Ernstes (2000)
sowie die Reihe Ästhetica bei Suhrkamp (1994–2000).

Christoph Böhr, geb. 1954, studierte Philosophie, Politikwissenschaft,


Germanistik und Neuere Geschichte, Promotion 2000. Er war über zwei
Jahrzehnte Abgeordneter und Oppositionsführer im Landtag, 1983 bis
1989 Bundesvorsitzender der Jungen Union Deutschlands und von 2002
bis 2006 Stellvertretender Vorsitzender der CDU Deutschlands sowie Mit-
glied des Präsidiums der Partei; er unterrichtet derzeit Sozialwissenschaf-
ten an der Universität Düsseldorf und bekleidet eine Dozentur für zeitge-
nössische Philosophie an der Hochschule Heiligenkreuz (Wien). Böhr war
von 2007 bis 2010 Vorsitzender der Deutschen Cusanus-Gesellschaft.
Veröffentlichungen: Politischer Protest und parlamentarische Bewäl-
tigung. Zu den Beratungen und Ergebnissen der Enquete-Kommission
„Jugendprotest im demokratischen Staat“ (21986), Liberalismus und Mi-
nimalismus. Kritische Anmerkungen zur philosophischen und politischen
Entfaltung einer zeitgenössischen Minimalstaatskonzeption (1985), Der
Hinweise zu den Autoren 351

schwierige Weg zur Freiheit. Europa an der Schwelle zu einer neuen Epo-
che (21995), Die Vision der Verantwortungsgesellschaft. Politik in einer
Zeit des Umbruchs (1996), Philosophie für die Welt. Die Popularphilo-
sophie der deutschen Spätaufklärung im Zeitalter Kants (2003), Der Maß-
stab der Menschenwürde. Christlicher Glaube, ethischer Anspruch und
politisches Handeln (2003), Gesellschaft neu denken. Einblicke in Umbrü-
che (2004), Arbeit für alle – kein leeres Versprechen (2005), Friedrich
Spee und Christian Thomasius. Über Vernunft und Vorurteil. Zur Ge-
schichte eines Stabwechsels im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert
(22006), Eine neue Ordnung der Freiheit (2007, co-ed.), Ethik in der Krise
der Ökonomie (2011). Er ist Mitherausgeber der philosophischen Schriften
Karol Wojtyáas und seit 2008 Mitglied im International Editorial Advisory
Board der Zeitschrift ETHOS (Lublin).

Klaus Draken, geb. 1959, Studium der Sozialwissenschaften, Musik, Er-


ziehungswissenschaften, Philosophie und Praktischen Philosophie in Sie-
gen, Wuppertal und Münster. 1. Staatsexamen 1985, Erweiterungsprüfun-
gen für Philosophie 1995, für Praktische Philosophie 2006. 1986–1987
Referendariat in Wuppertal. 2. Staatsexamen 1987. 1988–2008 Lehrer an
der Städt. Gesamtschule Solingen, seit 2007 am Städt. Gymnasium Bay-
reuther Straße (Wuppertal). Seit 2003 StD als Fachleiter für Philosophie,
seit 2006 auch als Hauptseminarleiter am Studienseminar Solingen/Wup-
pertal. Seit 2004 Landesvorsitzender NRW im Fachverband Philosophie
e.V. Einsatz in Lehrerfortbildung und Kommissionstätigkeit für Bezirks-
regierungen und Ministerium. Veröffentlichungen u. a.: Philosophieunter-
richt in Nordrhein-Westfalen. Beiträge und Informationen (jährl. seit 2005),
Philosophieren 1 – Einführung in die Philosophie, Anthropologie, Erkennt-
nistheorie (2005, co-ed.); Philosophieren 2 – Ethik, Politische Philosophie,
Geschichtsphilosophie (2006, co-ed.); Methoden III: Lernen lassen (EU,
Heft 2/2007, co-ed.); Orientierung durch Philosophieren (2007, co-ed.);
philopraktisch Bd. 1–3 (Mitautor; hg. von J. Peters u. B. Rolf, 2008–2010);
Aufsätze zu Fachdidaktik und Methodik der Fächer Philosophie und Prak-
tische Philosophie.

Rainer Enskat, geb. 1943, Studium der Philosophie, Politischen Wissen-


schaft und Soziologie an den Universitäten Hamburg, Marburg und Göt-
tingen; seit 1984 Professor an der Universität Heidelberg, seit 1992 Pro-
fessor an der Universität Halle. Veröffentlichungen: Kants Theorie des
geometrischen Gegenstandes (1976), Wahrheit und Entdeckung. Logische
und erkenntnistheoretische Untersuchungen über Aussagen und Aussagen-
kontexte (1986); Die Hegelsche Theorie des praktischen Bewußtseins
(1986), Authentisches Wissen. Prolegomena zur Erkenntnistheorie in prak-
352 Hinweise zu den Autoren

tischer Hinsicht (2005), Bedingungen der Aufklärung. Philosophische


Untersuchungen zu einer Aufgabe der Urteilskraft (2008). Zahlreiche Ab-
handlungen zu Problemen und zur Problemgeschichte der Erkenntnistheo-
rie, der Philosophie des Geistes und der Praktischen Philosophie.

Volker Gerhardt, geb. 1944, Prof. Dr. Dr. h.c., Promotion 1974, Habilitati-
on 1984. 1985 Professor für Philosophie in Münster; nach Stationen in
Zürich, Köln und Halle seit 1992 Professor für Philosophie an der HU
Berlin. Honorarprofessor an der University of Wuhan/China. Seit 1998
Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften; Vorsitzender der
Nietzsche-, der Kant-Kommission sowie der Wissenschaftlichen Kommis-
sion der Union der Akademien; Senator der Deutschen Nationalstiftung;
Nationaler und Deutscher Ethikrat; Hochschulbeirat der EKD; Grundwer-
tekommission der SPD; Vorsitzender des Konzils der HU Berlin. Buch-
veröffentlichungen: Vernunft und Interesse (1976), Immanuel Kant (zus.
mit F. Kaulbach, 1980), Pathos und Distanz (1989), Friedrich Nietzsche
(42006), Immanuel Kant: Zum ewigen Frieden (22006), Vom Willen zur
Macht (1996), Selbstbestimmung. Das Prinzip der Individualität (1999),
„Berliner Geist“. Zur philosophischen Tradition der Berliner Universität
(zus. mit R. Mehring u. J. Rindert, 1999), Individualität. Das Element der
Welt (2000), Der Mensch wird geboren. Kleine Apologie der Humanität
(2001), Immanuel Kant. Vernunft und Leben (2002), Die angeborene Würde
des Menschen (2004), Partizipation. Das Prinzip der Politik (2007), Exem-
plarisches Denken (2008), Existenzieller Liberalismus (2009), Die Funken
des freien Geistes (2011), Öffentlichkeit. Die politische Form des Geistes
(2011). Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zur Ethik, Politik, Ästhetik
sowie zur Philosophie Nietzsches, Kants und Platons.

Paul Hoyningen-Huene, 1946 in München geboren, studierte Physik und


Philosophie in München, London und Zürich. 1984–1985 arbeitete er als
Visiting Scholar am Massachusetts Institute of Technology (Cam-
bridge/MA) bei Prof. Thomas S. Kuhn und 1987–1988 als Senior Visiting
Fellow am Center for Philosophy of Science der Universität Pittsburgh.
1988 wurde er mit einer Arbeit zur Wissenschaftsphilosophie habilitiert.
1990 wurde er Professor an der Universität Konstanz für Grundlagentheorie
und Geschichte der Wissenschaften, insbesondere der exakten Wissenschaf-
ten. Seit 1997 ist er Leiter der Zentralen Einrichtung für Wissenschafts-
theorie und Wissenschaftsethik an der Leibniz Universität Hannover. Ver-
öffentlichungen u. a.: Wozu Wissenschaftsphilosophie? Positionen und
Fragen zur gegenwärtigen Wissenschaftsphilosophie (1988, co-ed.), Die
Wissenschaftsphilosophie Thomas S. Kuhns. Rekonstruktion und Grund-
lagenprobleme (1989, englische Übers. 1993). Incommensurability and
Hinweise zu den Autoren 353

Related Matters (2001, co-ed.), Formale Logik. Eine philosophische Ein-


führung (1998, englische Übers. 2004), Ethische Probleme in den Biowis-
senschaften (2001, co-ed.), Rethinking Scientific Change and Theory Com-
parison: Stabilities, Ruptures, Incommensurabilities (2008, co-ed.), Der
universale Leibniz: Denker, Forscher, Erfinder (2009, co-ed.).

Theo Kobusch, geb. 1948, Studium der Philosophie und der Klassischen
Philologie in Gießen und Bern, Promotion 1972 (Bern), Habilitation 1982
(Tübingen), 1983–1988 Professor für Philosophie an der Ruhr-Universität
Bochum, 1990–2003 Lehrstuhl für Philosophisch-Theologische Grenzfra-
gen in Bochum, seit 2003 Professor für Philosophie an der Universität
Bonn. Veröffentlichungen u.a.: Studien zur Philosophie des Hierokles von
Alexandrien. Untersuchungen zum christlichen Neuplatonismus (1976),
Sein und Sprache. Historische Grundlegung einer Ontologie der Sprache
(1987), L. Oeing-Hanhoff: Metaphysik und Freiheit. Gesammelte Abhand-
lungen (1988, co-ed.), Platon. Seine Dialoge in der Sicht neuerer For-
schungen (1996, co-ed.), Platon in der abendländischen Geistesgeschichte
(1997, co-ed.), Die Entdeckung der Person. Metaphysik der Freiheit und
modernes Menschenbild (21997), Philosophen des Mittelalters (2000, ed.),
Religion – Metaphysik(kritik) – Theologie im Kontext der Moderne/Post-
moderne (2001, co-ed.), Metaphysik und Religion. Zur Signatur des spät-
antiken Denkens (2002, co-ed.), Selbst – Singularität – Subjektivität. Vom
Neuplatonismus zum Deutschen Idealismus (2002, co-ed.), Querdenker.
Visionäre und Außenseiter in Philosophie und Theologie (2005, co-ed.),
Christliche Philosophie. Die Entdeckung der Subjektivität (2006). Seit
1986 Mitherausgeber des Historischen Wörterbuchs der Philosophie, zahl-
reiche Aufsätze zu den verschiedenen Epochen der Philosophiegeschichte.

John Marenbon, born 1955, BA 1976, MA, PhD 1980, LittD 2001 (all
Cambridge); Title A (junior research) Fellow, Trinity College, Cambridge
(1978), Title C (teaching) Fellow, Trinity College, Cambridge (1979–2004),
Title B (senior research) Fellow, Trinity College, Cambridge (since 2005);
Honorary Professor of Medieval Philosophy in the University of Cam-
bridge (since 2010); Fellow of the British Academy (2009). Publications:
From the Circle of Alcuin to the School of Auxerre (1981), Early Medieval
Philosophy (480–1150): an introduction (1983), Later Medieval Philoso-
phy (1150–1350): an introduction (1987), The Philosophy of Peter Abelard
(1997), Aristotle in Britain during the Middle Ages (ed. 1996), Medieval
Philosophy (1998, ed.), Aristotelian Logic, Platonism and the Context of
Early Medieval Philosophy in the West (2000), Poetry and Philosophy in
the Middle Ages (2001, ed.), Boethius (2003), Le temps, l’éternité et la
prescience de Boèce à Thomas d’Aquin (2005), Medieval Philosophy. An
354 Hinweise zu den Autoren

historical and philosophical introduction (2007), The Cambridge Compan-


ion to Boethius (2009, ed.), Methods and Methodologies. Aristotelian logic
in East and West, 500–1500 (2011, co-ed.).

Jürgen Mittelstraß, geb. 1936, Studium der Philosophie, Germanistik und


evangelischen Theologie in Bonn, Erlangen, Hamburg und Oxford. Promo-
tion 1961 (Erlangen), Habilitation 1968 (Erlangen), 1970 bis 2005 Ordina-
rius für Philosophie und Wissenschaftstheorie in Konstanz, seit 1990
zugleich Direktor des Zentrums Philosophie und Wissenschaftstheorie.
1997–1999 Präsident der Allgemeinen Gesellschaft für Philosophie in
Deutschland, 2002–2008 Präsident der Academia Europaea (der Europäi-
schen Akademie der Wissenschaften mit Sitz in London), seit 2005 Vorsit-
zender des Österreichischen Wissenschaftsrates. Veröffentlichungen u. a.:
Die Rettung der Phänomene (1962), Neuzeit und Aufklärung (1970), Die
Möglichkeit von Wissenschaft (1974), Wissenschaft als Lebensform (1982),
Der Flug der Eule (1989), Geist, Gehirn, Verhalten (mit M. Carrier, 1989,
engl. [erweitert] 1991), Leonardo-Welt (1992), Die unzeitgemäße Universi-
tät (1994), Die Häuser des Wissens (1998), Wissen und Grenzen (2001).
Herausgeber: Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, 4 Bde.
(1980–1996; 2. Aufl. in 8 Bänden, 2005ff.).

Lutz Möller, geb. 1973, studierte Physik an der LMU München und Philo-
sophie an der Hochschule für Philosophie München und der University of
Oxford. Diplom (2000) und Promotion (2004) in theoretischer Physik in
München. Seit 2004 Leiter des Fachbereichs „Wissenschaft, Menschen-
rechte“ der Deutschen UNESCO-Kommission in Bonn. Veröffentlichun-
gen: Zahlreiche Herausgaben, u. a.: Allgemeine Erklärung der Bioethik
(2006), UNESCO-Biosphärenreservate: Modellregionen von Weltrang
(2007), UNESCO Science Report: Zusammenfassung (2010).

Jörn Müller, geb. 1969, Studium der Philosophie, Geschichte und Pädago-
gik an den Universitäten Bonn und Edinburgh, Promotion (2001) und Ha-
bilitation (2008) in Bonn, 2000–2001 Unternehmensphilosoph bei der
Biodata Information Technology AG, 2002–2007 wissenschaftlicher As-
sistent am Institut für Philosophie der Universität Bonn, 2007 Visiting
Scholar am de Wulf-Mansion Centre for Ancient and Medieval Philosophy
der Universität Leuven, 2007–2010 Lehrstuhlvertretungen für Geschichte
der Philosophie in Würzburg und Bochum, seit Oktober 2010 Akademi-
scher Rat am Institut für Philosophie in Würzburg. Veröffentlichungen
u.a.: Natürliche Moral und philosophische Ethik bei Albertus Magnus
(2001); Physis und Ethos. Der Naturbegriff bei Aristoteles und seine Rele-
vanz für die Ethik (2006); Das Problem der Willensschwäche in der mittel-
Hinweise zu den Autoren 355

alterlichen Philosophie (2006, co-ed.), Antike Philosophie verstehen / Un-


derstanding Ancient Philosophy (2006, co-ed.); Die Lüge. Ein Alltagsphä-
nomen aus wissenschaftlicher Sicht (2007, co-ed.); Grundpositionen philo-
sophischer Ethik. Von Aristoteles bis Jürgen Habermas (2009, co-ed.);
Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung (2009, co-ed.); Willensschwä-
che in Antike und Mittelalter. Eine Problemgeschichte von Sokrates bis
Johannes Duns Scotus (2009); Wille und Handlung in der Philosophie der
Kaiserzeit und Spätantike (2010, co-ed.); zahlreiche Aufsätze zur Philoso-
phie der Antike und des Mittelalters sowie zur Praktischen Philosophie.

Ada Neschke, geb. Hentschke (*Berlin 1942), Dr. phil. habil., emeritierte
Professorin. 1961–1968 Studium in Frankfurt und Heidelberg der Klassi-
schen Philologie, Philosophie und Politikwissenschaft, Promotion 1968,
Habilitation 1977 in Frankfurt für Klassische Philologie und Antike Philo-
logie. Seit 1969 Lehrtätigkeit in Frankfurt, Gastprofessorin in Lille III/F
und Louvain-la-Neuve (Lehrstuhl Cardinal Mercier).Von 1991–2006 or-
dentliche Professorin für antike Philosophie und ihre Wirkungsgeschichte
an der Universität Lausanne. Veröffentlichungen: Politik und Philosophie
bei Platon und Aristoteles (22004), Die Poetik des Aristoteles (1981), Pla-
tonisme politique et théorie du droit naturel, Vol. I: Le platonisme politi-
que dans l’Antiquité (1995), Platonisme politique et théorie du droit na-
turel,vol II: Platonisme et jusnaturalisme chrétien (2003), La naissance du
paradigme herméneutique (22008, co-ed.), Politischer Aristotelismus. Die
Rezeption der aristotelischen „Politik“ von der Antike bis zum 19. Jahr-
hundert (2008, co-ed.), Philosophische Anthropologie. Ursprünge und
Aufgaben (2008, co-ed.), Argumenta in dialogos Platonis, Teil I: Platonin-
terpretation und ihre Hermeneutik von der Antike bis zum Beginn des
19. Jahrhunderts (2010, ed.). Zahlreiche Aufsätze zur antiken Philosophie,
politischen Philosophie, philosophischen Anthropologie und Hermeneutik.

Michael Quante, geb. 1962, studierte an der FU Berlin und der WWU
Münster Philosophie und Germanistik. Staatsexamen (1989), Promotion
(1992) und Habilitation (2001) in Münster. Von 2004–2005 Professor für
Rechts- und Sozialphilosophie an der Universität Duisburg Essen; von
2005–2009 Professor für Praktische Philosophie der Neuzeit und Gegen-
wart an der Universität zu Köln und seit dem WS 2009 Professor für Philo-
sophie mit dem Schwerpunkt Praktische Philosophie an der Westfälischen
Wilhelms-Universität Münster. Veröffentlichungen: Hegels Begriff der
Handlung (1993), Ethik der Organtransplantation (2000), Personales
Leben und menschlicher Tod (2002), Hegel’s Concept of Action (2004,
pbk. 2007), Enabling Social Europe (2005), Einführung in die Allgemeine
Ethik (32008), Person (2007), Karl Marx: Ökonomisch-Philosophische
356 Hinweise zu den Autoren

Manuskripte (2009), Menschenwürde und personale Autonomie (2009).


Zahlreiche Herausgaben und Aufsätze zu den Arbeitsgebieten Deutscher
Idealismus (Schwerpunkt Hegel und Marx), Philosophie des Geistes und
der Person, Rechts- und Sozialphilosophie sowie Ethik und biomedizini-
sche Ethik.

Thomas Reydon, geb. 1969 in Den Haag; Doppelstudium der Physik und der
Wissenschaftsphilosophie in Leiden, Promotion in Philosophie der Biologie
in Leiden mit einer Arbeit zum Artbegriff in der Biologie; 2004–2008
wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Zentralen Einrichtung für Wissen-
schaftstheorie und Wissenschaftsethik der Leibniz Universität Hannover, im
Zeitraum 2006–2008 mit einem Forschungsstipendium der Deutschen For-
schungsgemeinschaft zum Thema natural kinds in den Lebenswissenschaf-
ten; seit Ende 2009 Juniorprofessor für Philosophie der Biologie and der
Leibniz Universität Hannover. Arbeitsschwerpunkte: Philosophie der Bio-
logie, allgemeine Wissenschaftstheorie; daneben auch Interessen in Bio-
ethik & Wissenschaftsethik, Philosophie der Physik und Philosophie der
Sozialwissenschaften. Veröffentlichungen: Current Themes in Theoretical
Biology: A Dutch Perspective (2005, co-ed.), Der universale Leibniz: Den-
ker, Forscher, Erfinder (2009, co-ed.). Mitherausgeber der Zeitschrift Acta
Biotheoretica (Dordrecht: Springer).

Wilhelm Schmid, geb. 1953, studierte Philosophie und Geschichte in


Berlin, Paris und Tübingen und lehrt Philosophie als außerplanmäßiger
Professor an der Universität Erfurt. Viele Jahre lang war er als Gast-
dozent in Riga/Lettland und Tiflis/Georgien sowie als „philosophischer
Seelsorger“ an einem Krankenhaus bei Zürich/Schweiz tätig. Homepage:
www.lebenskunstphilosophie.de. Veröffentlichungen: Die Geburt der Phi-
losophie im Garten der Lüste (1987), Auf der Suche nach einer neuen
Lebenskunst (1991), Philosophie der Lebenskunst – Eine Grundlegung
(1998), Schönes Leben? Einführung in die Lebenskunst (2000), Mit sich
selbst befreundet sein. Von der Lebenskunst im Umgang mit sich selbst
(2004), Die Kunst der Balance (2005), Die Fülle des Lebens (2006),
Glück – Alles, was Sie darüber wissen müssen und warum es nicht das
Wichtigste im Leben ist (2007), Ökologische Lebenskunst (2008), Die
Liebe neu erfinden. Von der Lebenskunst im Umgang mit Anderen (2010).

Ludwig Siep, geb. 1942, Studium der Philosophie, Germanistik, Geschichte


und politischen Wissenschaft an den Universitäten Köln und Freiburg.
Promotion (1969) und Habilitation (1976) an der Albert-Ludwigs-Univer-
sität Freiburg. Von 1979 bis 1986 Professor für Philosophie an der Uni-
versität Duisburg, von 1986 bis zur Emeritierung im Frühjahr 2011 Profes-
Hinweise zu den Autoren 357

sor für Philosophie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster.


Diverse Gastprofessuren in den USA. Veröffentlichungen: Hegels Fichte-
kritik und die Wissenschaftslehre von 1804 (1970, japan. Übersetzung
2001), Anerkennung als Prinzip der Praktischen Philosophie (1979, ital.
Übersetzung 2007), Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus
(1992), Der Weg der Phänomenologie des Geistes (2000), Konkrete Ethik
(2004, japan. Übersetzung 2007), Aktualität und Grenzen der praktischen
Philosophie Hegels (2010). Hrsg. u. a.: G.W.F. Hegel, Grundlagen der
Philosophie des Rechts (22005, Klassiker auslegen), John Locke, Zweite
Abhandlung über die Regierung. Hrsg. und Kommentar (2007). Weitere
Herausgaben und zahlreiche Aufsatzveröffentlichungen auf den Gebieten
der Geschichte der praktischen Philosophie, der Philosophie des Deutschen
Idealismus sowie der Allgemeinen und angewandten Ethik.

Martin Thomé, geb. 1960, Studium der Katholischen Theologie und der
Philosophie in Saarbrücken, Wien, Freiburg und Jerusalem, Promotion
1997 (Freiburg), 1992 Referent für Theologie und Philosophie an der
Thomas-Morus-Akademie Bensberg, 2005 Wissenschaftsmanager in der
Geschäftsstelle der Wissenschaftsgemeinschaft Gottfried Wilhelm Leibniz,
Bonn, 2006 Koordinator des Wissenschaftsjahres 2007: ‚Die Geisteswis-
senschaften – ABC der Menschheit‘ im Bundesministerium für Bildung
und Forschung (BMBF) in Bonn, 2008 Koordinator des Wissenschaftsjah-
res 2009 ‚Forschungsexpedition Deutschland‘ ebd., seit Oktober 2009 im
Referat ‚Kulturelle Bildung‘ im BMBF; geschäftsführender Vorstand der
Deutsch-Japanischen Gesellschaft für Integrative Wissenschaft; zahlreiche
Lehraufträge an verschiedenen Hochschulen und Beratungstätigkeit für
Unternehmen, Bildungseinrichtungen, Hochschulen und Kulturinstitutio-
nen. Veröffentlichungen: Existenz und Verantwortung. Untersuchungen
zur existenzial-ontologischen Fundierung von Verantwortung auf der
Grundlage der Philosophie Martin Heideggers (1998), Theorie Kirchen-
management: Potentiale des Wandels (1988, ed.), Einander zugewandt.
Die Rezeption des christlich-jüdischen Dialogs in der Dogmatik (2005,
ed.), Coincidentia. Zeitschrift für Europäische Geistesgeschichte, Kueser
Akademie für Europäische Geistesgeschichte (erscheint seit 2010).
Personenregister

Der nachfolgende Index enthält im Haupttext oder in den Anmerkungen


genannte Personen. Nicht berücksichtigt wurden Autorennamen, die bloß
als Referenz in bibliographischen Verweisen bzw. in den Literaturver-
zeichnissen angeführt sind.

Abel, G. 333 Benjamin, W. 317, 319, 324


Ackeren, M. van 1ff., 17ff., 349 Bergson, H. 322, 324
Adams, D. 271 Berkeley, G. 111
Adorno, T. W. 324–328 Bernecker, R. 3, 13f., 349
Agamben, G. 325f. Bieri, P. 331
Anselm von Canterbury 66, 74 Birnbacher, D. 333
Apel, K.-O. 305, 319, 333 Blanchot, M. 321
Arendt, H. 40, 331 Blum, L. 303, 309
Aristides von Athen 91 Blumenberg, H. 29, 332f.
Ariston von Chios 206 Böhme, H. 31
Aristoteles 4, 23 27, 40–46, 51, Böhme, J. 79
57, 61, 65, 67f., 70f., 77, 80f., Böhr, C. 8, 217ff., 350
85, 91, 167, 195, 199, 205, Boethius, A. M. S. 65, 76
325, 301 Bohrer, K. 11, 315ff., 329–342,
Arnim, B. von 193 350
Ashley-Cooper, A. (Earl von Boliay, J. 117
Shaftesbury) 86 BonJour, L. 117
Assheuer, T. 17 Brandt, R. 333
Augustinus 25, 76, 325 Brock, E. 12
Averroes 76 Brown, W. A. 139
Avicenna 65, 77 Bubner, R. 29, 40
Ayer, A. J. 320 Buhlmann, E. 273
Busche, H. 334
Bacon, F. 27, 79
Bartuschat, W. 333 Camus, A. 323
Bauer, B. 183 Carnap, R. 108–114, 147, 149,
Bax, C. 320 336
Beck, U. 282 Carrier, M. 132, 333
Beckermann, A. 5, 105ff., 334, Cassirer, E. 335, 346
349 Chang, H. 137f.
360 Personenregister

Chrysipp 77 Friedrich II. von Preußen (d. Gr.)


Cicero, M. T. 25 220
Clarke, S. 120 Früchtl, J. 198
Cousin, V. 76 Frühwald, W. 160–162

Darwin, C. 122, 123 Gabriel, M. 334


Deleuze, G. 323, 325 Gadamer, H.-G. 345
Derrida, J. 305, 321, 323, 327 Gauß, J. C. F. 117
Descartes, R. 65, 67, 77, 79, 83, Gehlen, A. 44, 325
106, 115, 150, 315 Gehring, P. 334
Dewey, J. 209 Gerhardt, V. 11, 311f., 329ff.,
Di Fabio, U. 227 352
Dilthey, W. 335 Gethmann, C.-F. 333
Diogenes von Sinope 195 Giffords, G. 241
Dion von Syrakus 316 Glock, H. 110
Dionysius II. von Syrakus 316 Glotz, P. 333
Draken, K. 10, 281ff., 351 Glucksmann, A. 323
Duhem, P. 6, 149f. Goethe, J. W. von 70
Gosepath, S. 334
Engelen, E.–M. 293 Gregor von Nyssa 207–210
Enskat, R. 6, 132, 147ff., 351 Grote, T. 12
Epiktet 199 Grotius, H. 91, 93–96, 101
Epikur 195 Gründer, K. 333
Esser, A. 334 Grundmann, T. 334
Euklid 116f. Gutmann, M. 334

Falkenburg, B. 333 Habermas, J. 30, 171, 318f., 323,


Feyerabend, P. 134 327, 333f.
Fichte, J. G. 335 Hadot, P. 198, 200, 204
Ficino, M. 76 Hahn, H. 108
Figal, G. 334 Hampe, M. 334
Filmer, R. 84 Hansson, S. O. 136, 138
Flasch, K. 324, 333, 336 Hartmann, N. 315, 322, 336
Flew, A. 118 Hasse, D. 344
Forst, R. 334 Hauréau, J.-B. 76
Foucault, M. 7, 197f., 202, 205, Hawking, S. 271
208f., 325 Hegel, G. W. F. 79, 90–92, 97f.,
Frank, M. 324 100f., 183, 251, 254, 260f.,
Frede, D. 333 317, 319, 322, 327, 333, 346
Frege, G. 67, 72, 119f., 155f., Heidegger, M. 24, 27, 164, 197,
320 210, 262, 319–325, 335
Freud, S. 325 Heitmeyer, W. 283
Personenregister 361

Henrich, D. 318, 333, 345 Keil, G. 334


Heraklit 27, 52 Kenny, A. 69f.
Herder, J. G. 42, 335, 345 Kersting, W. 198, 202f., 210, 333
Hersch, J. 304 Kleist, H. von 317
Hinsch, W. 334 Klippert, H. 292
Hinske, N. 240 Kobusch, T. 1ff., 197ff., 353
Hobbes, T. 79, 81–87, 90, 93, Kompa, N. 334
221f. Küng, H. 305
Höffe, O. 317, 333, 340 Künne, W. 333
Hölderlin, F. 317 Kuhn, T. 137, 159
Hogrebe, W. 323, 326, 333, 339f.
Homer 70 Lacoue-Labarthe, P. 321
Honneth, A. 333 Ladyman, J. 133
Horkheimer, M. 325 La Rochefoucauld, F. de 324
Hoyningen-Huene, P. 5f., 127ff., Leibniz, G. W. 65, 77, 120, 33,
352 335
Hubig, C. 334 Lévi-Strauss, C. 305
Hühn, L. 334 Lévy, B.-H. 323
Hull, D. 139f. Lichtenberg, G. C. 265
Humboldt, W. von 263 Lobatschewski, N. I. 112
Husserl, E. 319 Locke, J. 83f., 86f., 89, 92, 101
Huxley, A. 301 Losee, J. 133
Huxley, J. 304 Lübbe, H. 29, 333
Lübbe, W. 334
Jaeggi, R. 203, 334 Luhmann, N. 21, 83, 174, 333
Jamblichos 80 Luig, K. 95
James, W. 130 Lutz-Bachmann, M. 333
Janich, P. 333
Jaspers, K. 304, 335 Machiavelli, N. 79, 83, 219
Johannes Duns Scotus 65f., 70f., MacPherson, C. B. 83
74f. Maimonides, M. 65, 74
Jonas, H. 331 Maine de Biran, F.-P.-G. 197
Joyce, J. 322 Man, Paul de 315
Mann, T. 336
Kafka, F. 320, 325 Marcuse, H. 329
Kambartel, F. 159 Marenbon, J. 4, 65ff., 353
Kant, I. 28, 40, 65, 67, 77, 89f., Margolis, J. 318
92, 95–98, 100f., 106, 119f., Maritain, J. 304
124, 142, 151, 152, 154, 160, Mark Aurel 204
198, 222, 225, 255f., 258, Marquard, O. 31, 159, 204, 333
261–264, 291, 299, 319, 325, Martens, E. 292
333, 335f., 338 Marx, K. 171, 203, 221, 335
362 Personenregister

Mauthner, F. 337 Platon 4, 11, 23, 27, 39, 43–57,


Meister Eckhart 204, 210f., 324 59–61, 68, 77, 80, 195, 197,
Menke, C. 334 205, 207, 219, 222, 252f.,
Merker, B. 334 316f., 319, 322f., 325, 327f.,
Merleau-Ponty, M. 320 336, 338, 344
Meyer, H. 292 Plessner, H. 331
Meyer, K. 334 Plotin 46, 51, 77, 204, 207, 210
Meyer, T. 236 Popper, K. 110f., 149f., 328
Mittelstraß, J. 9, 251ff., 333, 354 Porphyrios 207
Möller, L. 10f., 299ff., 354 Poser, H. 333
Montaigne, M. De 195, 197, 315, Postman, N. 284
324 Prauss, G. 333
Moore, A. 71 Proklos 76
Müller, J. 1ff., 17ff., 355 Proust, M. 322, 327
Müller, Olaf 334 Pufendorf, S. 95
Müller, Oliver 334 Pyrrhon von Elis 195
Mulla Sadra 76 Pythagoras 52f.
Musil, R. 315, 322, 325, 336
Quante, M. 6f., 171ff., 334, 355
Nehamas, A. 321 Quine, W. v. O. 111–115, 138,
Neschke-Hentschke, A. 4, 39ff., 147f., 153f.
355
Neurath, O. 108, 111, 115 Rapp, C. 334
Nida-Rümelin, J. 1f., 11, 270, Rawls, J. 113, 328, 341
333 Recki, B. 334
Nietzsche, F. 7, 11, 197f., 202, Rentsch, T. 334
204f., 262, 319–322, Reydon, T. 5f., 127ff., 356
324–328, 331, 335f. Riedel, M. 159
Normore, C. 69 Rilke, R.-M. 339
Novalis (F. von Hardenberg) Ritter, J. 159
317 Rösch, A. 291
Rohbeck, J. 291
Ottmann, H. 333, 343 Rohs, P. 333
Rorty, R. 205, 209, 326f., 336
Parmenides 52 Ross, D. 133
Pascal, B. 197 Rousseau, J.-J. 96
Patzig, G. 333 Russell, B. 29, 130
Pauen, M. 334
Perler, D. 334 Saint-Pierre, Abbé de 96
Peter Abaelard 65, 324 Sandkaulen, B. 334
Pico della Mirandola, G. 205, Sartre, J.-P. 183, 20f., 305, 320,
208, 224 323
Personenregister 363

Scheibe, E. 157–159 Sturma, D. 334


Schelling, F. W. J. 208, 335 Suárez, F. 76
Schirp, H. 293
Schlegel, F. 315, 317, 336, 338 Tauler, J. 211
Schleiermacher, F. 316 Taylor, C. 328
Schlick, M. 337 Tennemann, W. G. 317, 319
Schmid, W. 7, 187ff., 197, 202f., Tetens, H. 334
205f., 210, 356 Thales von Milet 18, 26, 252
Schmidt, T. 334 Theunissen, M. 318, 333
Schnädelbach, H. 332 Thomä, D. 203, 323, 339f.
Schöne-Seifert, B. 334 Thomé, M. 9, 267ff., 357
Schopenhauer, A. 208 Tugendhat, E. 318, 333
Schwemmer, O. 333
Sebald, W. G. 326 Uhl, S. 293
Seel, M. 31, 323, 326, 339f.
Sellars, J. 199 Vauvergnes, Marquis de 324
Seneca 195, 202, 206 Vergil 70
Sennett, R. 283 Vermeren, P. 303
Seuse, H. 211 Vico, G. 165
Shakespeare, W. 70, 120 Vogl, J. 323, 326, 339
Shusterman, R. 197, 209 Vossenkuhl, W. 333
Sidney, A. 84
Siep, L. 4f., 45, 79ff., 333, 356 Weber, M. 80
Simmel, G. 335 Weinberg, S. 128
Simplikios 76f. Wells, H. G. 118
Skinner, Q. 83 Westerwelle, G. 239
Sloterdijk, P. 323, 339f. Wieland, W. 159
Sneed, J. 156f., 159 Wilhelm von Ockham 74, 324
Sokrates 9, 43f., 48, 55, 59f., 80, Willaschek, M. 334
141, 199, 201, 233f., 244, Williams, B. A. 71f., 206
254, 282, 291 Wimsatt, W. 134ff.
Sommer, M. 333 Wingert, L. 334
Sommermann, K.-P. 88 Wittgenstein, L. 27, 106f., 110,
Spaemann, R. 328, 332f. 147, 205, 255, 271, 320, 325,
Spinoza, B.de 77, 86f., 116, 336
317 Wolff, C. 81
Spitzer, M. 285 Woolf, V. 322
Stefan, A. 293
Stegmüller, W. 6, 148, 152–154, Xenokrates 344
157f. Xenophon 44
Strabo 199
Striker, G. 67f. Žižek, S. 323, 339f.

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