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Heinrich Rickert

HEINRICH RICKERT 169

Husserl an Rickert, 25.1.1910

Göttingen 25. 1. 1910


Sehr geehrter Herr College!
Ich eile Ihnen meinen herzlichen Dank auszusprechen für Ihre,
5 in so freundliche Worte gefasste und mich sehr ehrende Bitte um
öffentlich zu bekundende "Mitwirkung" an der Herausgabe des
"Logos" .1 Ich weiß nun freilich nicht, ob ich einsamer Sinnierer und
Minierer gut daran thue, mich (u. gerade in meiner gegenwärtigen
Situation) an öffentlichen Actionen zu betheiligen und mir, in
10 unvermeidlicher Consequenz, die Abfassung irgend welcher
Beiträge für die Zeitschrift aufzuerlegen. Indessen, dem Gewichte
Ihrer Argumente kann ich nicht widerstehen und ich möchte nicht
Nein sagen, wo treffliche Männer der Überzeugung sind, daß mein
Name u. meine Mitarbeit der guten Sache nützen könnte.
15 Im Ganzen habe ich einen wahren Horror vor allem, was
philos<ophische> Zeitschrift heißt, nämlich in Hinblick auf unsere
(zumal die deutsche) Zeitschriftenliteratur. Wenn ich die neu
erschienenen Hefte durchblättere, schäme ich mich regelmäßig:
was sich da als "wissenschaftliche Arbeit" ausgiebt: und mit
20 Kummer muß ich der wenig verhüllten Verachtung ein gewisses
Recht zubilligen, mit der die Vertreter "exacter" Wissenschaften
der Philosophie, sofern sie andres sein will denn exp<erimentelle>
Psychologie, begegnen. "Es möcht kein Hund so länger leben"! 2 -
besonders als Mitglied einer "philosophischen" Fakultät.
25 Nun, hoffentlich wirds gelingen dem Logos ein höheres Niveau zu
geben, daß er seinem unübertrefflichen Namen Ehre mache. Leicht
ists nicht: denn bei den gegenwärtigen Zeitläuften ist es eine Frage,
die nur die Erfahrung beantworten kann, ob sich genug ernste Mitar-
beiter finden werden, die wirklich Selbstgedachtes und darum Lehr-
30 reiches zu bieten haben.
Mir selbst soll es an gutem Willen zu fördern, nicht fehlen,
soweit ich in einer Zeit des Zusammenschlusses und Abschlusses
vieljähriger Arbeiten irgend vermag.
Mit collegialern Gruße und dem Ausdruck großer Hochschätzung
35 Ihr
EHusserl.
1 Die Zeitschrift Logos wurde ab 1910 laut Titelblatt von Georg Mehlis "unter

Mitwirkung von" u.a. Husserl herausgegeben.


2 Goethe, Faust I, V. 376.
170 DIE NEUKANTIANER

Husserl an Rickert, 25. IV. 1910

Göttingen Hoher Weg 7


25. 4. 1910.
Hochverehrter Herr College!
5 Von einer längeren Reise zurückgekehrt finde ich Ihr
liebenswürdiges u. mir außerordentlich wertes Geschenk vor: den
S<onder> A<bdruck> Ihrer tiefdringenden Arbeit über den Begriff
der Philos<ophie>, die in so bedeutsamer Weise den I. Band des
"Logos" eröffnet. 3 Bisher konnte ich Ihren Gedanken nur in raschem
10 Fluge folgen: sie sollen mich u. meine fortgeschrittenen Schüler noch
näher beschäftigen u. das nächste Thema meiner philos<ophischen>
Nachmittage bilden. Indessen schonjetzt finde ich Anlaß genug mich
zu freuen, daß sich unsere wiss<enschaftlichen> Wege einander
immermehr nähern, so daß eine weitreichende Verständigung u.
15 Zusammenarbeit für die Zukunft wol zu erhoffen ist.
In aufr<ichtiger> Hochschätzung u. in fr<eundlicher> Erwiede-
rung Ihres Grußes
Ihr sehr ergebener
E Husserl

20 Rickert an Husserl, 28. VI. 1911

Freiburg i. Br., den 28. Juni 1911


Thurnseestraße 66.
Sehr geehrter Herr College!
Nehmen Sie mit der beiliegenden Abhandlung4 zugleich mei-
25 nen freundlichen Dank, der sich leider etwas verspätet hat, für die
liebenswürdige Zusendung des Logos-Aufsatzes. 5 Es hat mich ganz
ausserordentlich gefreut, Sie unter den Mitarbeitern dieser Zeitschrift
begrüssen zu können. Was ich inhaltlich zu Ihrem Aufsatz zu sagen
habe, würde brieflich viel zu weit führen. Damit, dass die Philosophie

3 H. Rickert, "Vom Begriff der Philosophie", Logos I (1910), S. 1-34 (Sonder-

druck in Husserls Bibliothek).


4 H. Rickert, "Das Eine, die Einheit und die Eins. Bemerkungen zur Logik des

Zahlbegriffs", Logos 2 (1911/1912), S. 26-78 (Sonderdruck in Husserls Bibliothek).


5 E. Husseri",Philosophie als strenge Wissenschaft", Logos I (1911), S. 289-341
(=Husserliana XXV, S. 3-62).
HEINRICH RICKERT 171

auf allen "Tiefsinn" verzichten soll,6 kann ich nicht ganz mit Ihnen
übereinstimmen. Gewiss ist ja das Weltanschauungsgerede, wie man
es manchmal trifft, wissenschaftlich oft geradezu unerträglich, aber
das beweist doch nicht, dass wir es überhaupt aufgeben sollen, in
5 diese letzten Fragen auch mit Hülfe der Wissenschaft einzudringen,
soweit das eben irgendwie geht. In vielem anderen natürlich stimme
ich Ihnen freudig zu, und ich glaube, dass unsere Wege sich im Gros-
sen und Ganzen doch noch immer mehr nähern werden.
Gern wüsste ich, was Sie zu der beiliegenden Abhandlung sagen.
10 Sie haben ja viel auf diesem Gebiete gearbeitet, und ich habe Ihre
Philosophie der Arithmetik mit lebhaftestem Interesse und auch mit
grossemNutzen gelesen. Die Form dieses Artikels verbot jedes Her-
anziehen fremder Literatur, sonst hätte er den Umfang, der mir im
Logos zur Verfügung steht, weit überschritten. Ich hoffe aber, man
15 wird merken, dass ich die Literatur kenne, auch wenn ich sie nicht
citiere.
Haben Sie nicht Lust wieder einmal etwas für den Logos zu schrei-
ben? Wir Alle hier in Freiburg würden uns sehr darüber freuen.
Mit den besten Empfehlungen bin ich
20 Ihr sehr ergebener
Heinrich Rickert.

Husserl an Rickert, 28. VII. 1912

Göttingen den 28. VII. 1912.


Sehr verehrter Herr College!
25 Ich danke Ihnen für die außerordentlich liebenswürdigen Zeilen,
aus denen ich mit Freude ersehe, daß auch Ihnen eine Gelegenheit
nicht unerwünscht wäre, die uns persönlich zusammenführte. Dieses
Mal wird es sich leider doch nicht machen lassen. Eine Feldbergpartie
würde, wie ich höre, einen ganzen Tag in Anspruch nehmen: so lange
30 darf ich in Freiburg nicht Station machen, ich muß aus Anlaß einer
Familienfeier zu einem bestimmten Termin im Engadin sein? Hof-
fentlich bietet sich in absehbarer Zeit eine günstigere Möglichkeit,
und sie liegt nicht ganz fern, da mein Sohn wahrscheinlich in Freiburg
weiterstudiren wird. 8
6 A.a.O., S. 339 (=Husserliana XXV, S. 59).
7 Am 6. August 1912 feierte Husser1 in Silvaplana silberne Hochzeit.
8 Gerhart Husserl studierte ab SS 1912 in Freiburg Jura.
172 DIE NEUKANTIANER

Außerordentlich erfreuliche Eindrücke habe ich und hat ein Kreis


vortrefflicher junger Leute, zu denen ich Fühlung habe, von Ihrem
Sohne gewonnen. 9 Es ist ein ganz prächtiger und vielversprechender
junger Mann, auf den Sie wohl stolz sein dürfen.
5 Mit collegialern Gruße
Ihr sehr ergebener
EHusserl.

Husserl an Rickert, 21. XI. 1912

Göttingen Hoher Weg 7


10 21. XI. 12
Hochverehrter Herr College!
Die Art wie die Marburger "philosophische" Fakultät bei der
Neubesetzung der Cohenschen Professur verfahren ist, wie sie sich
an der ruhmvollen Tradition der Marburger Philosophie und an der
15 Philosophie überhaupt versündigt hat, erfüllte auch mich mit tiefer
Indignation. 10 Es ist doch ein Jammer mit der zeitigen Lage der Phi-
losophie an den deutschen Universitäten. An den deutschen -
als ob es nicht die historische Mission des deutschen Volkes wäre,
allen anderen Völkern in der Philosophie voranzuleuchten. Die eine
20 Hälfte der Lehrstühle scheint unrettbar der experimentellen Psycho-
logie verfallen zu sein. Und leider ist das des Elends nicht genug;
denn weit gefehlt, daß nun die andere Hälfte der Philosophie selbst
reservirt bliebe, bringt es der Gegensatz der naturwissenschaftlichen
und der philologisch-historischen Gruppen in den Fakultäten mit

9 Heinrich Rickert jr. studierte ab SS 1912 bei Husserl in Göttingen,


wo er auch
Mitglied der"Göttinger Philosophischen Gesellschaft", der Vereinigung der Schüler
Husserls, war.
10 1912 war in Marburg der Lehrstuhl Hermann Cohens gegen den
Willen des
dortigen Ordinarius Paul Natorp auf Betreiben der Fakultät statt mit einem Philoso-
phen mit dem Experimentalpsychologen Ernst Jaensch besetzt worden, woraufhin
Rickert die Initiative zu einem Aufruf zugunsten der Erhaltung philosophischer
Lehrstühle ergriff, in dem die Universitäten und Regierungen aufgefordert wurden,
in Zukunft, anstatt der Philosophie Lehrstühle zu entziehen, eigene Lehrstühle für
experimentelle Psychologie zu errichten. Die von 107 Philosophen (worunter Hus-
serl) unterzeichnete Erklärung wurde veröffentlicht in der Zeitschriftfür Philosophie
und philosophische Kritik 151 (1913), S. 233f., in den Kant-Studien 18 (1913), S.
306f. und im Logos 4 (1913), S. 115f.
HEINRICH RICKERT 173

sich, daß wenn die Naturwissenschaftler ihren "naturwissenschaft-


lichen Philosophen" durchgesetzt haben, nun die Historiker ihren
"historischen" Philosophen haben wollen. Das aber bereitet einem
eklektischen Historieismus den Weg, und die lebendige, an lebendi-
5 gen Problemen arbeitende Philosophie soll erst gelten, wenn sie ein
historisches Petrefakt für historicistische Petrefaktensammler gewor-
den ist. Wie ich in diesen Sachen denke, habe ich im Logosartikel
zu scharfem Ausdruck gebracht, und mit dem vollen Bewußtsein der
Summe an Feindschaft, die ich auf mich laden würde - an der es nun
10 auch nicht fehlt.
So ist es denn selbstverständlich, daß ich mir treu bleibe und mich
an der von Ihnen geplanten Action herzlich gerne betheilige.-
Sehr erfreut haben sie mich, hochgeehrter Herr College, durch
Ihren letzten Logosartikel, 11 insbesondere auch vermöge wesentli-
15 eher Verwandtschaft Ihrer begrifflichen Unterscheidungen mit sol-
chen, die ich seit einer Reihe von Jahren in meinen logischen Vorle-
sungen behandle.
Eine größere Arbeit, die im ersten Bande (er ist soeben im Drucke)
der von mir herausgegebenen Jahrbücher f<ür> Philosophie erschei-
20 nen soll, 12 hoffe ich Ihnen im Januar überreichen zu können.
Mit collegialern Gruße
Ihr aufrichtig ergebener
EHusserl

Husserl an Rickert, 20. XII. 1912

25 Göttingen den 20. 12. 12.


Hochverehrter Herr College!
Ich eile Ihnen mit wenigen Worten mitzutheilen, daß ich mit Ihrem
Aufrufs-entwurf durchaus einverstanden bin. In Rücksicht auf den
zu erreichenden Zweck konnte er mit keinem Worte besser gefaßt
30 sein. Ganz wie Sie bin ich der Ansicht, daß wir unter dieses Mi-
nimum nicht mehr herabgehen können.- Daß Meinong nicht mit-
thun würde, habe ich erwartet. Es dürfte überhaupt zweifelhaft sein,
11 H. Rickert, "Urteil und Urteilen", Logos 3 (1912), S. 230-245 (Sonderdruck in

Busserls Bibliothek).
12 Vgl. E. Husserl, "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und
phänomenologischen Philosophie. Erstes Buch", Jahrbuch für Philosophie und
phänomenologische Forschung I (1913), S. 1-323 (=Husserliana III/1).
174 DIE NEUKANTIANER

ob wir in Oesterreich einen Widerhall finden werden. In Deutsch-


land wird es daran nicht fehlen, aber freilich auch nicht an eifrigen
Gegenerklärungen. Der Zukunft dürfen wir sicher sein.
Vor einigen Wochen hat Ihr Sohn Heinrich in meinem Seminar ein
5 Referat gehalten, das mich durch die Sorgfalt der Vorbereitung und
durch die klare u. scharfe Erfassung der wesentlichen Punkte sehr
erfreut hat.
Mit den freundlichsten Weihnachtsgrüßen
Ihr sehr ergebener
I0 EHusserl.

Husserl an Rickert, 11. VI. 1913

Sehr geehrter Herr College!


Mit großer Freude habe ich von der Siebeck'schen Handlung
die Neuausgabe Ihres großen, in die philosophischen Bewegungen
15 unserer Zeit so bedeutsam eingreifenden Werkes 13 erhalten. Ich
beglückwünsche Sie herzlich. Aufrichtig gesagt: ich beneide
Sie nicht minder herzlich, nämlich daß Sie die unerquickliche
Umarbeitung hinter sich haben, während ich bei meinen
Log<ischen> U<ntersuchungen> noch etwa 10 Druckbogen
20 durchzubessem habe. 14 Diese greulichen Compromisse mit dem
alten Text! Fast bedaure ich, daß ich nicht den bequemen Ausweg
eines anastatischen Neudrucks gewählt habe. Aber- nun Sie kennen
ja all diese Abers. . . und sind gewiß, u. mit Recht froh, daß sie
erledigt sind.
25 Mit freundlichsten Grüßen und vielem Dank
Ihr sehr ergebener
EHusserl
Göttingen 11. 6. 13.

13 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine lo-

gische Einleitung in die historischen Wissenschaften. 2. neu bearbeitete Auflage,


Tübingen 1913 (in Husserls Bibliothek). Laut Notiz auf dem Umschlag hat Husserl
das Werkam 4. März 1915 aufgeschnitten.
14 Vgl. E. Husserl, Logische Untersuchungen, I. Bd. und II. Bd., Teil I, 2. Auflage,
Halle 1913.
HEINRICH RICKERT 175

Busserl an Rickert, 12. X. 1913

Göttingen den 12. Okt<ober> 1913.


Hochverehrter Herr College!
Geyser's "Grundlagen der Logik und Erkenntnislehre" 15 hatte
5 ich seiner Zeit mit Interesse zur Hand genommen, da ich darin
in so großem Maße die neueste Literatur und meine Log<ischen>
Unters<uchungen> berücksichtigt fand. Das erste Durchblättern er-
regte sogar weitergehende Erwartungen. Bei näherem Zusehen wurde
ich aber enttäuscht und mußte mir sagen, daß ich von einer genauen
10 Lektüre kaum einen erheblichen Nutzen erhoffen dürfe: die ich denn
auch unterließ. Aber freilich gieng es mir bisher mit den systematisch-
philosophischen Schriften der deutschen katholischen Literatur nie
besser und zumeist sogar noch schlimmer. Immer dasselbe Bild:
ungeheure Gelehrsamkeit, aber nichts von ernsthafter wissenschaft-
15 lieber Forschung.
Es thut mir leid, daß ich Ihnen keinen gründlicheren Bescheid
geben kann.
Ich begrüße Sie mit aufrichtiger Hochschätzung als
Ihr sehr ergebener
20 EHusserl.

Busserl an Rickert, 26. VI. 1915

Göttingen 26. 6. 15
Sehr geehrter Herr College!
Herzlichen Dank für die gütige Zusendung der neuen Auftage Ih-
25 res Werkes "Kulturw<issenschaft> u. Naturw<issenschaft>". 16 Ich
brauche nicht zu sagen, wie sehr willkommen mir diese Gabe ist,
zumal Sie nun auch auf die neueren kritischen Einwände eingehende
Rücksicht genommen haben. Darf ich bei Gelegenheit anfragen, wie
15 Joseph Geyser, Grundlagender Logik und Erkenntnislehre. Eine Untersuchung
der Formen und Principien objektiv wahrer Erkenntnis, Münster i.W. 1909 (in Hus-
serls Bibliothek). Seit WS 1913/14 war der weltanschaulich gebundene (katholische)
Lehrstuhl für Philosophie in Freiburg vakant, für den Geyser als Kandidat in Frage
kam (Geyser wurde allerdings erst 1916 in Freiburg ernannt).
16 H. Rickert, Kulturwissenschaft und Naturwissenschaft. 3., verbesserte Auflage,
Tübingen 1915 (in Husserls Bibliothek). Laut Notiz auf dem Titelblatt erhielt Husserl
das Werkam 25. Juni 1915.
176 DIE NEUKANTIANER

es Ihrem Sohne Heinrich, dessen ich mit Sympathie gedenke, er-


geht? Steht er im Felde, ist er heil geblieben? Haben Sie noch ei-
nen zweiten Sohn im vaterländischen Dienste? Von meinen beiden
Söhnen, die von Anfang an vor Ypem nebeneinander kämpften, ist
5 der Ältere unverwundet durchgekommen und steht noch bei seinem
alten Reg<imen>t. Der Jüngere schied in Folge einer schweren Lun-
genverwundung für einige Monate aus und kämpft jetzt vor Verdun.
Mit kollegialen Grüßen und besten Wünschen für Ihr Haus
Ihr Sie aufrichtig hochschätzender
10 EHusserl

Husserl an Rickert, 5. XI. 1915

Göttingen den 5. XI. 1915


Sehr verehrter Herr Kollege!
Ihren schönen Nachruf für Emil Lask 17 habe ich mit innigem
15 Antheil gelesen. Der Tod dieses ungewöhnlichen und - wie jede
seiner Schriften erwies - um die höchsten philosophischen Ziele
ringenden Mannes hat auch mich tief ergriffen. Eine der schönsten
Hoffnungen der deutschen Philosophie ist mit ihm dahingegangen.
Ich bedaure es sehr, ihn nie persönlich kennen gelernt zu haben. -
20 Die unerhörte Verwüstung geistiger Kräfte, die dieser unselige Krieg
mit sich bringt, erfüllt mich mit schwerer Sorge.-
Mit warmem Danke bestättige ich zugleich den Empfang der drit-
ten Bearbeitung Ihres "Gegenstandes der Erkenntnis". 18 Aus der
kleinen, und doch schon so wirksamen Schrift ist nun ein großes
25 Werk erwachsen, das meines ionersten Interesses sicher ist, zumal
es mir Ihre Erkenntnistheorie in ihrer letzten und reifsten Ausge-
staltung darbietet. Ich werde nicht lange zögern es zu studieren und
fühle mich noch lange nicht zu alt um noch lernen zu können. Die
philosophischen Motive, die mich bewegen, ja ich möchte sagen,
30 mich bedrängen, mich, solange sie nicht ausgewirkt sind, fast wie
Krankheiten befallen, zwingen mich freilich nicht selten zu eigenen,

17 H. Rickert, "Emil Lask", Frankfurter Zeitung, 17. Oktober 1915, I. Morgen-

blatt. Lask war am 26. Mai 1915 in Galizien gefallen.


18 H. Rickert, Der Gegenstand der Erkenntnis. Einführung in die Transzendent-

alphilosophie. 3. völlig umgearbeitete und erweiterte Auflage, Tübingen 1915 (in


Husserls Bibliothek).
HEINRICH RICKERT 177

einsamen Wegen. Aber meine Sehnsucht geht auf Einigkeit mit allen
ernst Strebenden und kraftvoll Wirkenden, und ich hoffe noch die
Möglichkeit zu finden mich mit Ihnen literarisch auseinandersetzen
und verständigen zu können.
5 Gestatten Sie, daß ich schließlich zeitgemäße gute Wünsche für
Ihre w<erte> Familie beifüge, insbesondere für Ihren Sohn Hein-
rich, dessen ich noch mit herzlicher Sympathie gedenke. Meine
beiden Söhne, von denen der eine seine schwere Verwundung gut
überstanden hat, kämpfen an der Westfront ich habe also allen Grund
10 dem Schicksal dankbar zu sein.
Mit kollegialem Gruße und wiederhohem Danke für Ihre gütigen,
mir sehr werten literarischen Gaben
Ihr sehr ergebener
EHusserl

15 Husserl an Rickert, 20. XII. 1915

Göttingen d<en> 20. XII. 1915


Sehr verehrter Herr Kollege!
Ich lese in der Zeitung, daß Sie den erhofften Ruf nach Beideiberg
erhalten und angenommen haben u. eile, Ihnen meinen herzlichen
20 Glückwunsch auszusprechen. Daß Sie der gegebene Nachfolger für
Windelband waren, lag so sehr auf der Hand, daß wohl Jedermann
diese Berufung erwarten mußte. Daß sie wirklich erfolgte, ist aber
eine Freude. Nach so vielen unglücklichen Besetzungen philosophi-
scher Lehrstühle ist wenigstens der Heidelberger uns erhalten geblie-
25 ben, u. erhalten in seinem alten Glanze.
Sie kommen übrigens nicht in ein neues philosophisches Milieu.
Steht doch seit langer Zeit Beideibergs philos<ophisches> Leben
vorwiegend unter dem Einftuße der "Freiburger Schule". Windel-
band fehlte es zu sehr an ursprünglicher systematischer Kraft, um
30 zu einem großen Ausstrahlungspunkt philosophischer Wirkungen zu
werden. Ein eigentlich schöpferischer Denker war er nicht und mit
Recht haben Sie in Ihrem warmen und schönen Nachruf19 (einen
schöneren hatte er sich selbst nicht wünschen können) das Schwer-
gewicht seiner Bedeutung in seinen historischen Werken gesucht.
19 H. Rickert, Wilhelm Windelband (Erweiterte Sonder-Ausgabe aus der Frank-

furter Zeitung), Tübingen 1915. Windelband war am 22. Oktober 1915 gestorben.
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Diese haben auch auf mich in jungen Jahren stark gewirkt, ja mich
geradezu entzückt. Ihnen danke ich es, daß meine Seele, schon in mei-
nen naturalistischen Anfängen, mit einer geheimen Sehnsucht nach
dem alten romantischen Land des deutschen Idealismus erfüllt wurde.
5 Aber freilich, volle Realität gewann es für mich durch Windelband
nicht. Erst als ich auf meinen, mir selbst so mühseligen Wegen, im
Aufstieg von unten, mich unvermerkt im idealistischen Gelände fand,
da war ich in der Lage, unter Abstreifung aller Begriffsromantik das
Große und ewig Bedeutsame im deutschen Idealismus zu erfassen.
10 (Begreiflicher Weise zieht mich Fichte in steigendem Maße an.) So
fühle ich mich im letzten Jahrzehnt mit den Führern der deutschen
idealistischen Schulen eng verbunden, wir kämpfen als Bundesgenos-
sen gegen den Naturalismus unserer Zeit als unseren gemeinsamen
Feind. Wir dienen, jeder in seiner Art, denselben Göttern u. da uns
15 allen dieser Dienst eine ernste u. heilige Sache ist, auf die wir unser
ganzes Leben gestellt haben, so wird eben jede solche Art ihre Not-
wendigkeiten in sich tragen und für den Fortschritt der Philosophie
unentbehrlich sein.
Aufrichtig gefreut habe ich mich darüber, daß <es> Ihren tapfe-
20 ren Söhnen fortgesetzt wohl ergeht, daß sie Ihnen in diesem schwer
auf den Gemütern lastenden Kampf erhalten geblieben sind. Mögen
sie mitausharren dürfen bis an das siegreiche Ende, das unsere Sehn-
sucht u. unsere feste Zuversicht ist. Auch meinen Kindern, den beiden
Söhnen als Kriegsfreiwilligen an der Westfront, der Tochter als Hel-
25 ferin beim roten Kreuz geht es gut, sie sind noch, u. hoffentlich auch
weiter, rüstig auf ihrem Posten.
Mit kollegialen Grüßen u. allen guten Wünschen für Ihre neue
Heidelberger Lebens- u. Schaffensperiode bin ich
Ihr sehr ergebener
30 EHusserl

Husserl an Rickert, 26. XII. 1915

Göttingen d<en> 26. XII. 1915.


Sehr verehrter Herr Kollege!
Ihr Brief brachte mir eine große und schöne Weih-
35 nachtsüberraschung. Wie könnte ich anders als mich von Herzen
darüber freuen, daß die Freiburger Fakultät mir die Ehre erwiesen
HEINRICH RICKERT 179

hat, mich an 1ter Stelle zu Ihrem Nachfolger vorzuschlagen, und vor


allem auch darüber, daß Sie, lieber Herr Kollege, in großherziger
Weise für mich eingetreten sind! Schon dieser Umstand würde
mich geneigt machen, gegebenenfalls den an mich ergehenden
5 Ruf anzunehmen. Dafür würden zudem noch andere Motive stark
ins Gewicht fallen. Es bedeutet für mich viel, daß ich in jene
Athmosphäre philosophischen Geistes käme, an die der Name
Freiburg jeden Freund der Philosophie sofort erinnert; sie ist -
ich glaube damit Ihren Vorgängern Riehl und Windelband nicht
10 Unrecht zu thun 20 - Ihr eigenstes Werk. Freilich würde es mir nicht
leicht sein von dem Göttinger Boden zu scheiden, den ich, nachdem
er mit dem Abgange Lotze's 21 allmälig zur philosophischen
Wüstenei geworden war, in harter und, wie ich wohl sagen darf,
nicht unvergoltener Arbeit in Kultur genommen habe. Daß diese
15 Kultur Erziehung zum idealistischen Geiste war, konnte meinen,
bekanntlich ganz anders gerichteten Kollegen Baumann und
Mülle~ 2 allerdings nicht besonders liebsam sein, und Sie verstehen
(es handelte sich ja um Männer, die zum ältesten Bestande unserer
Fakultät gehören), daß daraus manche Schwierigkeiten erwachsen
20 mußten, die sich mir im Laufe der Jahre zum Wunsche nach
günstigeren Verhältnissen des Lebens und Wirkens verdichteten. Ich
bin also sehr geneigt einen Ruf anzunehmen, der mir, wie dieser ein
neues schönes Arbeitsfeld eröffnet. Indessen, nach wiederholten
Erfahrungen- auch der letzten Jahre (Bonn und Jena? 3 - wage ich
25 nicht mit voller Hingabe zu erwarten, daß dem Primo-Vorschlage
der Ruf wirklich folgen werde.
Vorläufig also nur diesen Ausdruck meiner herzlichen Freude und
meines warmen Dankes.
Dank auch für die freundliche Nachricht über Ihren Sohn Heinrich.
30 Man hört jetzt so viel von Truppenverschiebungen zwischen Süd und
Nord, daß ich nicht verwundert wäre, wenn seine nächste Nachricht
von ganz anderen Kriegsschauplätzen käme. Die Hauptsache ist, daß
20 Wilhelm Windelband war von 1877-1882, Alois Riehl von 1882-1895 Profes-

sor in Freiburg gewesen.


21 Hermann Lotze war von 1844--1881 Professor in Göttingen gewesen.
22 Der Lotzeaner Julius Baumann (seit 1869 in Göttingen) und der Experimental-

psychologe Georg Elias Müller (seit 1881 dort) waren die beiden Göttinger Ordina-
rien für Philosophie.
23 In Jena war Husserl 1911, in Bonn 1913 von der Fakultät primo loco vorge-

schlagen, aber ein Ruf war in beiden Fällen nicht ergangen.


180 DIE NEUKANTIANER

es ihm gut ergeht. Möge es so, u. desgleichen für seinen Bruder, weiter
bleiben. Von meinen Jungens habe ich keine neuen Nachrichten.
Mit den freundlichsten Grüßen
Ihr aufrichtig ergebener
5 EHusserl
Ihr Brief mit Poststempel v<om> 23ten ist erst heute eingegangen!

Husserl an Rickert, 7. I. 1916

Göttingen 7. l. 1916
Sehr verehrter Herr Kollege!
10 Zu meiner Freude ist der erhoffte Ruf schon gestern an mich
ergangen. Ich werde Dienstag von Geh. Rat Schwöre.-24 in Karlsruhe
erwartet und reise Sonntag nach Freiburg, da ich gerne vorher mit
Ihnen Rücksprache nehmen möchte. Ich komme Ihnen wohl Montag
Vormittag nicht ungelegen. Es soll nur ein kurzer Besuch sein, da ich
15 nach Abschluß der Verhandlung in Karlsruhe wieder nach Freiburg
komme, um die Wohnungsfrage zu regeln.
Mit den freundlichsten Grüßen
Ihr sehr ergebener
EHusserl
20 Ich werde im Parkhotel absteigen.

Husserl an Rickert, 18. I. 1916

Sehr verehrter Herr Kollege!


Nach Göttingen zurückgekehrt sende ich Ihnen noch herzlichste
Grüße und den Ausdruck meines Bedauerns, daß es mir nicht mehr
25 möglich war, nochmals bei Ihnen vorzusprechen und Ihre auf or
Scheler bezüglichen Fragen zu beantworten. 25 Zwar mußte ich wegen
der Wohnungssuche noch einen Tag für Freiburg zulegen, aber auch
dieser war bis zum späten Abend benötigt. Ich mietete schließlich
eine Etagenwohnung in der Lorettostraße. Vielleicht werde ich schon
24 Viktor Schwoerer, im Badischen Kultusministerium Karlsruhe zuständig für

Universitätsangelegenheiten.
25 Max Schelerwar in Heidelberg als Kandidat für die Nachfolgedes im Mai 1915

gefallenen Emil Lask im Gespräch.


HEINRICH RICKERT 181

Mitte März übersiedeln können, vielleicht dann noch die Freude


haben, Sie in Freiburg anzutreffen. Anderenfalls dürfte sich wohl
auch im Laufe des Sommersemesters eine Gelegenheit finden, Sie in
Heidelberg zu besuchen. - Wir dürfen Beide von unseren künftigen
5 Wirkungsstätten Schönes erhoffen und daß sich diese Hoffnungen
erfüllen mögen, dürfen wir einander im Interesse unserer Lebensar-
beit gleich aufrichtig wünschen.
Ihr sehr herzlich ergebener
EHusserl
10 Mit den freundlichsten Empfehlungen von Haus zu Haus.

Husserl an Rickert, 16. I. 1917

Freiburg 16.1.1917.
Sehr verehrter Herr Kollege.
Ich habe Ihren Nachruf für Münsterberg 26 mit großer
15 Genugthuung gelesen u. danke Ihnen herzlich. Seitdem ich seine
Philos<ophie> d<er> Werte 27 und nachher auch seine "Grundzüge
d<er> Psych<ologie>"28 studiert habe, bin ich von größter
Schätzung für ihn u. seine philosophische Bedeutung erfüllt, u.
diese Schätzung steht hinter der Ihren (obwohl bei mir keine
20 freundschaftliche Voreingenommenheit mitwirken kann) nicht
zurück. Und für diesen nicht bloß glänzenden, sondern wirklich
reichen u. schöpferischen Geist war in Deutschland kein Platz -
und was für subalterne Leute sind ihm vorgezogen worden! Er
ist allzufrüh dahingegangen, aber in den von Ihnen mitgetheilten

26 H. Rickert, "Hugo Münsterberg", Frankfurter Zeitung vom 3.-4. Januar 1917

(in Husserls Bibliothek). Münsterberg war am 16. Dezember 1916 in Cambridge,


Mass. gestorben.
27 Hugo Münsterberg, Philosophie der Werte. Grundzüge einer Weltanschauung,
Leipzig 1908 (in Husserls Bibliothek). Laut Notiz auf dem Vorblatt hat Husserl das
Werk erhalten "Vom Verf<asser> 13. I. 1908. Einige Kapitel in den Osterferien
1908 gelesen. In einem Zug durchgelesen 24.-28. VIII. 1908."
28 Hugo Münsterberg, Grundzüge der Psychologie, Bd. I: Allgemeiner Teil: Die
Prinzipien der Psychologie, Leipzig 1900 (in Husserls Bibliothek). Laut Notiz auf
dem Vorsatzblatt hat Husserl die "Lektüre begonnen 9/XI 1902, bis etwa Seite 60
schnell gelesen. Lektüre wiederum begonnen vor Ostern 1906, aber nicht gründlich
durchgeführt ... Neue Lektüre Juli 1915 von Anfang an ... Im August 1915 das
ganze Buch der Hauptsache nach durchgelesen mit Ausnahme des Schlußkapitel".
182 DIE NEUKANTIANER

Versen 29 kommt doch in schöner Weise zum Ausdruck, daß sich sein
Leben glücklich gestaltet u. vollendet hat. Er lebte aus dem Vollen.
Bei der Überfülle seiner Kraft konnte er sich nie unfrei, gehemmt
fühlen. Er konnte immer u. immer noch mehr als er schuf. Es war
5 für sein Bewußtsein nichts "über seine Kraft". 30 Wohl ihm!
Also vielen Dank u. herzliche Empfehlungen u. Wünsche v<on>
Haus z<u> Haus.
Ihr sehr ergebener
EHusserl

lO Husserl an Rickert, 9. VIII. 1920

St. Märgen 9. VIII. 1920


Hochverehrter Herr Kollege!
Verzeihen Sie meinen späten Dank für Ihr herzlich willkommen
geheißenes Geschenk der "Philosophie d<es> Lebens". 31 Bei derbe-
15 sonderen Hochschätzung, die ich für Sie hege, wollte ich es nicht mit
ein paar flüchtigen Dankesworten bewenden lassen, und ich wollte
das neue Werk vorher studiert haben. Dazu fand ich während des Se-
mesters, bedrängt durch die Neuausarbeitung einer 4stündigen Vor-
lesung (über Ethik), nicht die nötige Zeit. Erst hier in St. Märgen 32
20 habe ich mich darin vertiefen können. Bei der Lecture der ersten Ka-
pitel hatte ich, aufrichtig gesagt, den Eindruck, daß es eigentlich doch
schade sei, wenn ein schöpferischer Denker sich in einen Streit mit
philosophisch-literarischen Moden einlasse, deren einzig wirksame
Überwindung doch nur in der wissenschaftlich unanfechtbaren Kraft
25 der Gedanken liegen kann, für deren Ausgestaltung er lebt. Als ich
aber die Kernstücke des Buches, welche die Darstellung und Kritik
der modernen Biologismen enthalten, las, meinte ich doch, daß sie
auf unsere philosophische Jugend eine starke erziehliche Kraft üben
29 Gegen Schluß seines Nachrufs zitiert Rickert mehrere Verse aus einem an ihn
gerichteten Gedicht Münsterbergs.
30 Nach dem Titel von Mathilde Manns 1900 in Berlin erschienener Übersetzung

(Ober unsere Kraft) von Bj~mstjeme Bj~msons Trauerspiel Over Aevne (1. Teil
1883, 2. Teil 1895).
31 Heinrich Rickert, Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der

philosophischen Modeströmungen unserer Zeit, Tübingen 1920 (nicht in Husserls


Bibliothek).
32 Husserl hielt sich seit dem 3. August 1920 in St. Märgen im Schwarzwald auf.
HEINRICH RICKERT 183

müssen. Was mich selbst anbelangt, so liegen Biologismen jedwe-


der Art seit Jahrzehnten so weit hinter mir, daß es mir einigermaßen
schwer wird mich auf den Standpunkt der Philosophen zu verset-
zen, für die sie noch Versuchungen oder gar ernstliche theoretische
5 Überzeugungen sind. Aber Ihre Kritik fesselte doch bald mein Inter-
esse - am Meisten durch das, was Hauptlinien Ihres "Systems" der
Philosophie durchschimmern lässt. Ganz einstimmig finde ich mich
mit Ihnen in der Beurtheilung des sonst so reichen und zu schätzenden
Jaspers. 33 Natürlich nicht ebenso hinsichtlich der transeendentalen
I0 Phänomenologie34 - in der die Aufwicklung von Aequivocationen
sicherlich keine größere Rolle spielt als in Ihrer Wertphilosophie.
Selbstdenker sind nun einmal nicht die besten Leser, und das weiß
jeder aus eigener Erfahrung, dem es auferlegt ist, sich als Selbst-
denker bethätigen zu müssen. Ich sehe darin aber auch kein großes
15 Unglück: Wenn nur Jeder zur reinen Auswirkung bringt, was ihm als
dieser besonderen philosophischen Individualität anvertraut, wozu er
von innen her u. von oben her berufen ist. In dieser Hinsichthöreich
mit Freude, daß Ihnen eine Periode schwungvoller schöpferischer
Forschung vergönnt ist, ja daß Ihnen die wissenschaftliche Ausge-
20 staltung und Vollendung Ihrer Weltanschauung bereits geglückt ist,
die das Ziel Ihrer Lebensarbeit war. So darf ich Sie also dazu nur
beglückwünschen, daß Sie sich nun schon von den Mühen der reinen
Denkarbeit in kritischen Excursen erholen dürfen.
In alter Hochschätzung
25 Ihr
EHusserl.

Husserl an Rickert, 26. VIII. 1920

St. Märgen 26. VIII. 20.


Sehr verehrter Herr Kollege!
30 Vielen Dank für Ihren sehr gütigen Brief. Auch ich hege den leb-
haften Wunsch Sie endlich einmal in Heidelberg zu besuchen. Die
Ungunst der Zeit, die das Reisen so sehr erschwert u. den Aufenthalt
in der Fremde so unbehaglich macht, hat neben der noch ernstliebe-
ren Ungunst meiner wissenschaftlichen Lage meinen Wunsch nicht
33 Die Philosophie des Lebens, S. I SOff.
34 A.a.O., S. 29f. und 50f.
184 DIE NEUKANTIANER

zur Erfüllung kommen lassen. Seit Jahren, allzuviel Jahren, sind alle
meine literarischen Arbeiten, schon für fast fertig gehaltene Werke, in
Fluß u. in Stocken geraten, obschon ich nie das Bewußtsein größeren
Fortschreitens u. fruchtbringenderer Arbeit hatte. Ich bin eben noch
5 immer im Werden - u. es droht das Alter. Das macht mich in der
Austheilung meiner Ferienzeiten sparsam - allzu sparsam. Doch
will ich jetzt den Gedanken dieses Besuches wieder ernstlicher ins
Auge fassen, ich denke, wir sind beide nicht zu starr geworden, um
nicht geistige Wirkungen austauschen zu können. - Die ohne meine
10 Genehmigung in den Kantstudien für diesen Herbst angekündigte
"Phänomenologie u. Erkenntnistheorie"35 kann ich nicht in Aussicht
stellen. Ich komme jetzt von Anderem und Wichtigerem nicht los,
ich muß erst was im Werden ist zu einem innerlich klaren Abschluß
bringen.
15 Sehr erfreut es mich zu hören, daß Sie so viel weiter sind und wir
wirklich sehr bald Ihr System erwarten dürfen.
Mein Freund und ehemaliger Göttinger Schüler (aus der Zeit um
1905) Dietrich Mahnke ist Oberlehrer am Gymnasium in
Stade. Ich freue mich, daß Sie ihn schätzen.
20 In der letzten Woche begann Ihr Sohn Arnold 36 mich zu mo-
dellieren: Die Büste ist in schönem Gelingen. Leider brachte der
Wetterumschlag eine unliebsame Unterbrechung. Ich hatte in die-
ser Zeit täglichen Zusammenseins mit ihm viel Freude an seiner
Persönlichkeit, die mir dabei erst vertrauter wurde. Er, wie seine
25 reizvolle Frau - Beides ganze Menschen von reicher u. tiefer In-
nerlichkeit. - In St. Märgen geht es uns unverdient gut, fern von
dem Hoteltreiben. Ich bin in guter Arbeit. Mit den schönsten Feri-
enwünschen u. erg<ebenen> Grüßen v<on> Haus zu Haus.
In Hochschätzung
30 Ihr aufrichtig ergebener
EHusserl

35 Kant-Studien 24 (1919), S. 201 ("So werden wir voraussichtlich im Herbst


dieses Jahres eine größere Abhandlung von Edmund Husserl über: ,Das Wesen der
Phaenomenologie' als Ergänzungsheftveröffentlichen können"), bzw. 25 (1920), S.
105 ("Dann werden wir voraussichtlich im Herbst dieses Jahres eine von uns schon
wiederholt in Aussicht gestellte größere Abhandlung von Edmund Husserl über:
,Das Wesen der Phaenomenologie' als Ergänzungsheft veröffentlichen können").
Husserls Entwürfe wurden erstmals veröffentlicht in Husserliana XXV, S. 82-206.
36 Der Bildhauer Amold Rickert (1889-1976).
HEINRICH RICKERT 185

Busserl an Rickert, 11. II. 1921

Freiburg 11. II. 1921.


Hochverehrter Herr Kollege!
Ich habe Ihr Werk, 37 das schon durch seinen Titel die neue Zeit
5 der Philosophie dokumentiert, mit Dank und, ich sage es aufrichtig,
mit Ehrfurcht empfangen. Es ist Ihnen vergönnt gewesen Ihrer philo-
sophischen Lebensarbeit den höchsten Abschluß zu geben und damit
zugleich dem Sinne Ihres Lebens eine schöne Vollendung. Sie haben
sich Ihr System erarbeitet, zu Ihrer Befriedigung eine geordnete Ab-
10 Ieitung der Hauptströme philosophischer Probleme aus den letzten
Quellen der Einheit vollzogen und den Grundriß für eine idealistische
Weltanschauung gewonnen.
Was es bedeutet auf ein solches Ziel hinzustreben, ein ganzes Le-
ben lang hinstreben zu müssen, weiß ich aus eigener Erfahrung.
15 Es für mich selbst erreichen zu können erscheint mir als ein so
überschwänglich Großes, daß ich es zu erhoffen kaum noch wage. -
Was Sie erreicht haben - abgestimmt auf die innere Teleologie
Ihres Lebens - wird, denke ich, für alle Philosophen, die den tiefsten
Motiven nach die innere Gemeinschaft mit dem deutschen Idealismus
20 theilen, eine Quelle der Stärkung, Aufklärung, Belehrung sein.
Möge es Ihnen vergönnt sein die weiteren Bände des Werkes im
Bewußtsein reinen Gelingens zu vollenden.
Indem ich Ihnen für die große Freude, die Sie mir durch die
gütige Zusendung bereitet haben, herzliehst danke, bin ich in größter
25 Hochschätzung
Ihr
EHusserl.

Busserl an Rickert, 26. XII. 1928

Freiburg i. Br., den 26. XII. 1928


30 Sehr verehrter Herr Kollege!
In diesen Tagen wollte ich Ihnen endlich schreiben, Ihnen zu sa-
gen, wie sehr mich Ihr fr<eundlicher> Brief erfreut hat - und nun
37 H. Rickert, Allgemeine Grundlegung der Philosophie (System der Philosophie,

1), Tübingen 1921 (in Husserls Bibliothek). Laut Notiz auf dem Vorblatt hat Husserl
das Buch "Vom Verf<asser> erhalten 9/11 1921 ".
186 DIE NEUKANTIANER

kommt noch dieses große und mir sehr werte Weihnachtsgeschenk, 38


das mich arg beschämt, da ich seit so vielen Jahren Ihnen nichts
habe zugehen lassen können, und mich zugleich auch beschämt, weil
ich noch nicht geschrieben hatte. Ich war in den zwischenliegenden
5 Wochen etwas herabgestimmt: mitten in der Fertigstellung einer dif-
ficilen Jahrbuchs-Arbeit,3 9 die ich dem Verlage zu Jahresschluß fest
zugesagt hatte, betraf mich eine langweilige und doch angreifende
Erkältung, so daß ich um gute Arbeitsstunden kämpfen mußte, stets
in der Sorge den Gedankenzusammenhang zu verlieren. Ich bin wie-
10 der im Zuge u. hoffe mit dieser philosophischen Einleitung in die
Wissenschaftslehre, deren Grundgedanken in 3 Jahrzehnten gereift
sind, in den nächsten Wochen zu Rande zu kommen. Vielleicht daß
diese Arbeit Ihren Interessen entgegenkommt, u. mehr als die letzt-
hin von Heidegger zu Druck gebrachten, literarisch fast unmöglichen
15 Notizen zu meinen Vorlesungen von 1905.40 Doch fragt es sich, ob
Sie ernstlich Zeit haben werden, Zeit haben dürfen, meine etwas
schwierige Untersuchung durchzudenken. In unserem Alter - Sie
haben freilich einige s ich er e Jahre vollkräftiger Production vor
mir voraus, ceteris paribus, da Sie jünger sind - muß der Selbst-
20 denker den notwendigen Egoismus walten lassen, nämlich die ihm
anvertrauten Gedanken zu Ende denken, wobei keine Allotria, wie
die Lecture fremder Schriften stören dürfen. Im Sommer vorigen
Jahres habe ich mir übrigens doch Zeit genommen Ihre "Grenzen
der n<aturwissenschaftlichen> Begriffsbildung" noch einmal nach
25 den Hauptlinien durchzudenken. Ich habe in meinen 4st<ündigen>
Vorlesungen über Natur u. Geist einige Wochen lang die von Ih-
nen darin befolgte transeendentale Methode mit der Kautischen u.
meiner eigenen confrontiert, um mir selbst innere Klarheit über die
hier spielenden wissenschaftstheoretischen Probleme zu verschaffen
30 bzw. mein eigenes Vorgehen zu rechtfertigen. Einiges über den Stil
dieser Kritik wäre aus der jetzigen Arbeit zu entnehmen. Schade
daß damals die neue, so sehr bereicherte Bearbeitung nicht vorlag.
Momentan darf ich leider nicht hineinsehen.
38 H. Rickert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung. Eine logi-
sche Einleitung in die historischen Wissenschaften. 5. verbesserte um einen Anhang
und ein Register vermehrte Auflage, Tübingen 1929 (in Husserls Bibliothek).
39 Vgl. E. Husserl, "Formale und transzendentale Logik", Jahrbuchfür Philoso-

phie und phänomenologische Forschung X (1929), S. 1-298 (=Husserliana XVII).


40 E. Husserl, "Vorlesungen zur Phänomenologie des inneren Zeitbewußtseins",

Jahrbuch für Philosophie und phänomenologische Forschung IX (1928), S. 367-498


(=Husserliana X, S. 3-134).
HEINRICH RICKERT 187

Sehr erfreut hat mich Ihr Brief durch die Äußerungen über Hei-
degger- also dadurch, daß ich entnehmen konnte, wie voll Sie meine
Wahl des Nachfolgers auf Ihren ehemaligen Lehrstuhl billigen.41
Doch gabs da eine Wahl? Durch seine philosophische Originalität,
5 durch seine ganz einzige Lehrbefähigung war er der gegebene Mann.
Es ist in Deutschland Niemand, der so die Herzen der Jugend zu
sich hinreißt. Und dabei eine reine, völlig selbstlose Persönlichkeit,
so ganz den großen Sachen hingegeben. Ich bin begierig, wie er
sich weiter entwickeln wird, aber wie ich hoffe den großen Stil des
10 Aufstiegs innehalten wird, den ich erhoffen möchte.
Nun schließe ich meine wärmsten Wünsche für Sie u. Ihre verehrte
Gemahlin zum n<euen> Jahre bei, vor Allem auch für schöne Arbeit,
sich auswirkend in schönen Gedanken.
In Hochschätzung
15 Ihr
EHusserl

Husserl an Rickert, ca. Mitte April 1929

Anläßlich42 meines 7oten Geburtstages sind mir so viele Bekun-


dungen überaus gütiger Gesinnung zuteil geworden, so viele Bezeu-
20 gungen rührender Anhänglichkeit früherer Schüler und so viele eh-
rende Anerkennungen meiner wissenschaftlichen Bestrebungen, daß
es mir leider nicht möglich ist einzelnweise zu antworten. Wenn ich
mich mit diesem allgemeinen Danke begnügen muß, so möchte ich
doch zum Ausdruck bringen, daß jede dieser Bekundungen mich tief
25 ergriffen und beglückt- aber auch tief beschämt hat. Allzusehr finde
ich mich hinter der übergroßen Aufgabe zurückgeblieben, die mir
im vieljährigen Ringen um die Methode einer streng wissenschaft-
lichen Philosophie und die Gestaltung ihrer prinzipiellen Anfänge
zugewachsen ist. Noch als Siebziger möchte ich die Hoffnung nicht
30 aufgeben, besser als bisher dem, wozu ich mich berufen fühle, ge-
nug zu tun. Im Hinblick auf eine Reihe ernstgesinnter Mitarbeiter,
welche die Bereitschaft erwiesen, ihren ionersten Lebenswillen in
den Dienst der radikalen Erneuerung der Philosophie zu stellen, darf
ich jedoch mit sehr viel größerer Zuversicht die Hoffnung hegen,
41 Martin Heidegger wirkte seit WS 1928/29 als Husserls Nachfolger in Freiburg.
42 Gedruckter DankzetteL
188 DIE NEUKANTIANER

daß eine kraftvollere und reicher begabte junge Generation meine


Lebensarbeit übernehmen, meine Wege bessernd ausgestalten und so
meinem Streben letztlich Recht geben werde.
E. Husserl.
5 Freiburg i. Br., April1929.

*
Nehmen 43 Sie, sehr verehrter Herr Kollege, den Ausdruck beson-
derer Freude über Ihren gütigen Brief entgegen, der mir nach Paris
nachgeschickt und von meiner Frau für den wirklichen Geburtstag
l 0 zurückbehalten worden ist.
Eine der schönsten Überraschungen war für mich die von einem
Kreis von Freunden gespendete Büste, die Ihr Sohn Arnold vor circa
9 Jahren modellirt hatte. Es ist in der That ein schönes Kunstwerk,
das allgemein in Auffassung u. Beseelung und selbst hinsichtlich der
15 Portraitähnlichkeit gerühmt wird. Wir bedauern sehr seinen Wegzug
von Freib<ur>g, wir hegten für ihn u. seine liebe Frau stets freund-
schaftliche Gesinnungen. Doch sehr erfreulich ist, daß er nun endlich
in eine fest gesicherte Stellung gekommen ist.
Mit collegialen Grüßen und in herzlicher Erwiederung Ihrer guten
20 Wünsche
Ihr sehr ergebener
EHusserl

Husserl an Rickert, 23. VII. 1930

Freiburg 23. VII. 1930


25 Sehr geehrter Herr Kollege!
Herzlichen Dank für die gütige Zusendung Ihres neuen Werkes
über die "Logik des Prädikats und das Problem der Ontologie".44
Ich freue mich Ihnen bald eine Gegengabe überreichen zu können,
nämlich die endlich übersetzten und gedruckten "Meditations
30 Cartesiennes", die leider wegen der Ferien erst im Oktober zur
Ausgabe kommen. 45
43 Handschriftliche Zufügung.
44 H. Rickert, Die Logikdes Prädikatsunddas Problemder Ontologie, Heidelberg
1930 (in Husserls Bibliothek).
45 Tatsächlich erschienen die Meditations Cartesiennes erst im März 1931.
HEINRICH RICKERT 189

Mit den besten Wünschen für Ihre weitere Arbeit an der Vollen-
dung Ihres "Systems" und den freundlichsten Grüßen
Ihr sehr ergebener
EHusserl

5 Husserl an Rickert, 20. VII. 1932

Sehr verehrter Herr Kollege!


Vielen Dank für Ihre sehr willkommenen "Thesen".46
Mit freundlichem Gruß
Ihr sehr ergebener
10 EHusserl
Freiburg 20. VII. 1932.

46 H. Rickert, "Thesen zum System der Philosophie", Logos 21 (1932), S. 97-

102. Der Umschlag, in dem Rickert den Sonderdruck gesandt hatte, trägt einen
Poststempel vom 16.7.32 (Ms. D 10/1+17 und 54+68 des Husserl-Archivs).

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