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Maximilian Lippert
ES0228449600
Kastanienallee 14
45127 Essen
maxlippert@t-online.de
LA MA GyGe Deutsch
2. Fachsemester
2
Inhaltsverzeichnis
1 Einleitung 3
1 Einleitung
Obwohl der Begriff der Medialisierung des Erzählens in der Literaturwissenschaft verhält-
nismäßig jung ist, lässt sich das Einbinden verschiedener Medien in den Erzähltext des
Romans und der damit eng verbundene Aspekt der Genreentstehung auf eine lange Tradi-
tion zurückführen. Und so wie Genres kulturell und zeitlich bedingte Konventionsformen
darstellen, sind Medialisierungsprozesse, auch im Kontext der Gattungsentwicklung, als
„Ausdruck kultureller Veränderungen“1 zu betrachten und stehen im Dialog mit sozialen
und kulturellen Kontexten ihrer Entstehung. Dabei lassen sich auch anhand der verwandten
Gattungen Brief- und E-Mail-Roman nicht nur Veränderungen in verschiedenen Katego-
rien der narrativen Struktur sondern ebenso ein Wandel in einge- und verarbeiteten Denk-
strukturen der jeweiligen Zeit, in der das spezifische Werk verfasst worden ist, feststellen.
Eine Gegenüberstellung jeweils eines typischen Vertreters beider Genres im Deutschunter-
richt ist deshalb so interessant, da sich also hier literaturwissenschaftliche Betrachtungs-
weisen neben sprach- auch mit medien- und kulturwissenschaftlichen Fragestellungen ver-
knüpfen lassen und so im Sinne eines verzahnenden Unterrichtkonzeptes Verbindungen
zwischen vermeintlich getrennten Kompetenzbereichen und wiederum Anbindungen an die
Lebenswelt der Schüler herstellen werden können.2
So soll im Rahmen dieser Arbeit, nachdem ein kurzer Abriss über die Entwicklung vom
Briefroman des 18. Jahrhunderts bis hin zum zeitgenössischen E-Mail-Roman und eine
Vorstellung zweier Bestseller des jeweiligen Genres, Die Leiden des jungen Werthers von
Johann Wolfgang Goethe sowie Gut gegen Nordwind von Daniel Glattauer, dargeboten
worden ist, das Potential einer kontrastiven oder ergänzenden Behandlung eben dieser
Werke im Deutschunterricht aufgezeigt werden. Zuerst wird die thematische Aktualität des
Werthers für heutige jugendliche Leser bewiesen, aber auch die Verankerung der Darstel-
lungsform in einem vergangenen Jahrhundert, was zur Frage einer angemessenen zeitge-
nössischen Form und schließlich zum Roman Gut gegen Nordwind führt. Ein unterrichts-
methodisch handlungsorientierter Ansatz beschäftigt sich dann mit der Nähe beider Ro-
1
Kusche, Sabrina: Der E-Mail-Roman. Zur Medialisierung des Erzählens in der zeitgenössischen deutsch-
und englischsprachigen Literatur. Stockholm 2012. S. 30. Vgl. dazu in Bezug auf die Entstehung neuer Gen-
res Nünning, Ansgar/Rupp, Jan: Hybridisierung und Medialisierung als Katalysatoren der Gattungsentwick-
lung: Theoretischer Bezugsrahmen, Analysekategorien und Funktionshypothesen zur Medialisierung des
Erzählens im zeitgenössischen Roman. In: Dies. (Hrsg.): Medialisierung im englischsprachigen Roman der
Gegenwart. Theoretischer Bezugrahmen, Genres und Modellinterpretationen. Trier 2011. S. 3-43.
2
Vgl. Abraham, Ulf et al.: Praxis des Deutschunterrichts. Arbeitsfelder, Tätigkeiten, Methoden. Donauwörth
6
2009. S. 81.
4
mantypen zum dramatischen Erzählen und dem Theater, ein weiterer rezeptionsästhetisch-
produktionsorientierter Ansatz mit dem Verfassen eigner Texte unterschiedlicher Textsor-
ten. Zuletzt sollen mit Merkmalen konzeptioneller Mündlichkeit in den E-Mails bzw. Brie-
fen der Romane sprachliche Phänomene in Funktion betrachtet werden und so zum Aus-
gangspunkt über Reflexion über Sprache werden. Diese Darstellung endet schließlich mit
einem kurzen Ausblick zu weiteren Aspekten unterrichtlicher Behandlung von Brief- und
E-Mail-Romanen.
man ist“8. Der anfangs sittsam-natürliche (literarische) Brief mündet später bei den Stür-
mern und Drängern in kraftgenialischem, regellosen „Sichauslassen der Gefühle“9. Seine
höchste Steigerung des ihm eigenen Ausdrucksvermögens und gleichzeitig auch einen vor-
läufigen Endpunkt10 erfährt der Briefroman letztlich im 1774 erschienen Jugendroman Jo-
hann Wolfgang Goethes Die Leiden des jungen Werthers.
Briefromane sind Romane, „die eine Geschichte in einer und als Folge von Briefen präsen-
tieren“11 und somit ein schriftliches Äquivalent mündlichen kommunikativen Erzählens
bilden. Ein bezeichnendes Charakteristikum des Briefromans – ob ‚einseitig-monologisch„,
‚zweiseitig-dialogisch„ oder ‚mehrseitig-polylogisch„ – ist also in jedem Fall eine prinzipi-
ell dialogische, nähesprachliche12 Tiefenstruktur,13 die nicht zuletzt aus der Brieftheorie
des 18. Jahrhunderts resultiert. So übernahmen namhafte Briefsteller wie Christian Fürch-
tegott Gellert einen antiken Topos der Briefkultur14, der die Korrespondenz an die „Stelle
eine Gespräches“15 setzen will, und fokussierten gleichfalls die Nähesprachlichkeit von
Briefliteratur. Man solle sich der „Sprache des Herzens“16, der „freiwilligen Folge seiner
8
Honnefelder, Gottfried: Der Brief im Roman. Untersuchungen zur erzähltechnischen Verwendung des Brie-
fes im deutschen Roman (Bonner Arbeiten zur deutschen Literatur 28). Bonn 1975. S. 106.
9
Müller, Wolfgang G.: Der Brief. In: Klaus Weissenberger (Hrsg.): Prosakunst ohne Erzählen. Die Gattun-
gen der nicht-fiktionalen Kunstprosa. Tübingen 1985. S. 86.
10
Engel postuliert, dass alles, „was dem ‚Werther„ in diesem Jahrhundert noch folgte“ sei „literarisch von
minderer Qualität“ gewesen. Vgl. Engel, Ingrid: Werther und die Wertheriaden. Ein Beitrag zur Wirkungsge-
schichte (Saarbrücker Beiträge zur Literaturwissenschaft 13). St. Ingbert 1986. S. 43. Sicher lässt sich jedoch
festhalten, dass keine innovativen Neuerungen oder extremere Auswüchse des Briefromans folgten.
11
Stiening, Gideon/Vellusig, Robert: Poetik des Briefromans. Wissens- und mediengeschichtliche Perspekti-
ven. In: Dies. (Hrsg.): Poetik des Briefromas. Wissens- und mediengeschichtliche Studien (Frühe Neuzeit.
Studien zur deutschen Literatur und Kultur im europäischen Kontext 176). Berlin/Boston 2012. S. 7.
12
Zu den Konzepten von Sprache der Nähe und Sprache der Distanz bzw. konzeptioneller Mündlichkeit und
konzeptioneller Schriftlichkeit vgl. Koch, Peter/Oesterreicher, Wulf: Sprache der Nähe – Sprache der Dis-
tanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. In: Ro-
manistisches Jahrbuch 36 (1985). S. 15-43.; Dies.: Schriftlichkeit und Sprache. In: Hartmut Günther/Otto
Ludwig (Hrsg.): Schrift und Schriftlichkeit/Writing and Its Use. Ein interdisziplinäres Handbuch internatio-
naler Forschung/An Interdisciplinary Handbook of International Research 1 (Handbücher zur Sprach- und
Kommunikationswissenschaft 10). Berlin/New York 1994. S. 587-604. Vgl. ebenso die Erweiterung durch
Dürscheid, Christa: Einführung in die Schriftlinguistik (UTB 3740). Göttingen 52016. S. 43ff.
13
Auch monologisch organisierte Texte können als „Dialog[e] ohne Sprecherwechsel“ eine interne Dialogi-
zität aufweisen. Vgl. Tschauder, Gerhard: Dialog ohne Sprecherwechsel? Anmerkungen zur internen Dialo-
gizität monologischer Texte. In: Edda Weigand/Franz Hundsnurscher (Hrsg.): Dialoganalyse II. Referate der
2. Arbeitstagung, Bochum 1988 1 (Linguistische Arbeiten 225). Tübingen 1989. S. 191-205. Zur Frage, ob
Wilhelm antwortet, vgl. Anm. 88.
14
Gellert selbst bezieht sich auf einen Brief von Seneca an Lucilius: „Wie meine Rede wäre, wenn wir bei-
sammen säßen oder Seite an Seite umherspazierten, unvorbereitet und zwanglos, so sollen auch meine Briefe
sein; sie sollen nichts Gesuchtes, nicht Gekünsteltes haben.“ Vgl. Seneca, Luciuis Annaeus: Seneca seinem
Lucilius Gesundheit. In: Ders.: Philosophische Schriften. Lateinisch und Deutsch 4: An Lucilius. Briefe über
Ethik. Hg v. Manfred Rosenbach. Darmstadt 1984. S. 85.
15
Gellert, Christian Fürchtegott: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. In: Ders.:
Sämtliche Schriften. 10 Teile in 5 Bänden 4. Reprograf. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1769. Hg. v. Johann Adolf
Schlegel/Gottlieb Leberecht Heyer. Hildesheim 1968. S. 4.
16
Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. S. 44.
6
Gedanken“17 und „seinem eigenen Naturell“18 überlassen. Neben das Primat von Empfind-
samkeit und Emotivität tritt nicht nur in der Brieflehre und -praxis sowie gleichfalls im
Briefroman des 18. Jahrhunderts das Primat assoziativen Schreibens, welches Richardson
auf die Formel „written, as it were, to the moment“19 bringt, wie jenes der Individualität.
Epistolares Erzählen ist stets an die empirische individuelle Psyche gebunden und schafft
nicht zuletzt dadurch, dass die Distanz zwischen Erleben und Erzählen zumeist sehr gering
ist, neue Möglichkeiten, „das Innere des Menschen darzustellen“20. Das erzählende Ich des
Briefschreibers berichtet also in der Regel über Ereignisse, welche nicht weit zurück in der
Vergangenheit liegen. Dabei bleibt das berichtende Ich niemals statisch, sondern verändert
durch die im Briefwechsel mit dem Kommunikationspartner generierten Informationen
und die Geschehnisse, welche parallel zur Briefkommunikation in der textual actual
world21 passieren, immer wieder seinen zeitgebundenen Erlebnis- und Wissenshorizont
sowie seine Perspektive.22 So ist der Brief im Roman in der Lage, über längere Distanzen
äußerst subjektiv gefärbte, von Spontaneität geprägte Wahrnehmungen wiederzugeben.
„Niemals zuvor sind Leserinnen und Leser zu so intimen Zeugen dieses inner- und inter-
personalen Geschehens gemacht worden“23, was sicherlich mitunter zu jener hohen Korre-
lation von der Gattung des Briefromans und der Epoche der Empfindsamkeit beigetragen
hat und den Briefroman zum Vorläufer des modernen Romans macht. Jenes psychologi-
sche Interesse des Lesers im 18. Jahrhundert für das Innenleben des fühlenden Indivi-
duums wurde zudem durch eine möglichst unmittelbare, authentische und glaubwürdige
Präsentation der Briefe bedient. Der Dokumentationscharakter, welcher bereits durch die
schlichte Integration einer Aneinanderreihung von Briefen in den Roman geschaffen wird,
wurde oft durch einen weiteren Kunstgriff verstärkt: einen fiktiven Herausgeber, welcher
sich in Vor- und Nachwort sowie in Kommentaren einzuschalten vermag.24
17
Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. S. 37.
18
Ebd. S. 58.
19
Richardson, Samuel: The History of Sir Charles Grandison. In: Ders.: The Novels of Samuel Richardson.
Complete and unabriged 13: Sir Charles Grandison 1. Reprint of the 1902 edition. Hg. V. William Lyon
Phelps. New York 1970. S. XXXXIX.
20
Huber, Martin: Der Text als Bühne. Theatrales Erzählen um 1800. Göttingen 2003. S. 93.
21
Zu den von Ryan postulierten „possible worlds“ vgl. Ryan, Marie-Laure: Possible Worlds, Artificial Intel-
ligence, and Narrative Theory. Indiana 1991. [Glossary]. Die textual actual world bezeichnet „the image of
TRW [textual reference world, M.L.] proposed by the text”. Die textual reference world wiederum meint die
„world for which the text claims facts; the world in which the propositions asserted by the text are to be va-
lued”.
22
Vgl. Honnefelder: Der Brief im Roman. S. 109.; Neuhaus, Volker: Typen multiperspektivischen Erzählens.
Köln 1971. S. 32ff.
23
Stiening/Vellusig: Poetik des Briefromans. S. 7.
24
Vgl. Picard, Rudolf: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts (Studia
Romanica 23). Heidelberg 1971. Vgl. ebenso Miller, Norbert: Der empfindsame Erzähler. Untersuchungen
7
Zwar erschienen auch im 19. Jahrhundert einige Werke, die der Gattung des Briefromans
zuzuordnen sind und innovative Momente hervorbringen konnten, ohne dabei auf emp-
findsame Sprach- und Deutungsmuster zurückzugreifen,25 und auch in der Gegenwartslite-
ratur finden sich einige Veröffentlichungen epistolarer Narrativik wieder,26 doch erreichte
die Gattung nie wieder die Bedeutsamkeit und Popularität wie im 18. Jahrhundert.27 Mitte
der 1950er Jahre stellt schließlich Björck fest, dass der moderne Briefroman deshalb so
sehr im Rückgang begriffen sei, da die Menschen einfach immer weniger Privatbriefe
schreiben.28 Eines der Medien, die dem Brief seinen Platz als alltägliches Kommunikati-
onsmittel streitig gemacht haben, ist die E-Mail.29 Wie das „zum omnipräsenten Metame-
dium avanciert[e]“ Internet seit den 1990er Jahren immer wieder Eingang in die Literatur
fand,30 so wird auch die E-Mail entsprechend als Prosa-Miniatur, also als eigenständige
Textsorte,31 erprobt, wobei sich Thematik, Erzählweise und -strukturen des Erzählens
durch die neuen Möglichkeiten und Kodes des Mediums veränderten. Erste deutschspra-
chige Versuche, die E-Mail-Korrespondenz auf Romanlänge auszuweiten, erfolgten nach
anfänglichen Experimenten im Internet32 zunächst in der Kinder- und Jugendliteratur33 und
an Romananfängen des 18. Jahrhunderts (Literatur als Kunst). München 1968. S. 154ff. Der Drang hin zum
Authentischen und Dokumentarischen stellt hierbei das literarische Pendant zum philosophischen Empiris-
mus jener Zeit dar. Vgl. Stiening: Epistolare Subjektivität. S. 22.
25
Vgl. Altman, Janet Gurkin: Epistolarity. Approaches to a Form. Columbus 1982. S. 195.
26
Vgl. die Literaturangaben bei Stiening/Vellusig: Poetik des Briefromans. S. 4.
27
Honnefelder sieht diesen Rückgang der Gattung in drei Momenten begründet: einerseits in der Gewöhnung
des Publikums an die ursprüngliche Andersartigkeit der Gattungsform, andererseits und weniger plausibel
nachvollziehbar im Konflikt mit der Funktion des Romans, die Welt zu spiegeln, was der Brief als privates
Kommunikationsmittel in einer authentischen Form nur schwer leisten kann, sowie weiterhin in der Gefähr-
dung der Einheit des Erzählens, die durch konsequente Multiperspektivität gesprengt zu werden droht. Vgl.
Honnefelder: Der Brief im Roman. S. 111f. Weitere Begründungsansätze zum „Niedergang des Briefro-
mans“ mit dem Fokus auf „einer Veränderung an die ästhetischen und moralischen Anforderungen an Litera-
tur“ im Kontext von zunehmender Brüchigkeit aufklärerisch-empfindsamen Denkens liefert Scharnowski,
Susanne: Ein wildes gestaltloses Lied. Clemens Brentanos „Godwi oder Das steinerne Bild der Mutter“
(Epistemata. Reihe Literaturwissenschaft 184). Würzburg 1996. S. 29.
28
Björck, Staffan: Romanens formvärld. Studier i prosaberättelsens teknik (Natur och Kultur). Stockholm
7
1983. S. 45f.
29
So geben über 80 Prozent der Teilnehmer einer Studie an, dass die Kommunikation via E-Mail fester Be-
standteil ihres Alltags sei. Vgl. Meder, Kathrin: E-Mail-Kommunikation. Zwischen Individualität und Kon-
ventionen. Eine Untersuchung des Nutzerverhaltens im Alltag. Saarbrücken 2006. S. 107. Vgl. ebenso
Schmitz, Ulrich: Emails kommen in die Jahre. Telefonbriefe auf dem Weg zu sprachlicher Normalität. In:
Arne Ziegler/Christa Dürscheid (Hrsg.): Kommunikationsform E-Mail (Textsorten 7). Tübingen 2002. S.
38f.
30
Dupont, Bruno: Erzählen im Zeitalter des Internets. Daniel Kehlmanns Ruhm und Daniel Glattauers Gut
gegen Nordwind. In: Germanica 55 (2014). S. 189.
31
Vgl. zur Diskussion zur E-Mail als Textsorte oder Kommunikationsform Ziegler, Arne: E-Mail – Textsorte
oder Kommunikationsform. Eine textlinguistische Annäherung. In: Ders./Dürscheid (Hrsg.): Kommunikati-
onsform E-Mail. S. 9-32.
32
So beispielsweise http://www.litart.ch/email/ und http://www.scarlettunddean.de/.
8
Mitte der 2000er Jahre in diversen Varianten der ersten E-Mail-Romane.34 Dabei schreibt
Schneider-Özbeck jedoch allein dem Bestseller von Daniel Glattauer Gut gegen Nordwind
eine „echte formale Innovation“, die sich „von anderen zeitgenössischen Rettungsversu-
chen des Genres deutlich abgrenzt“35.
Alle grundsätzlichen Charakteristika des Briefromans, so die durch die Dialogizität her-
vorgerufene Nähe zum Gesprächsstil, die Bindung der Nachrichten an die individuelle
Psyche der Korrespondenten, eine mögliche Multiperspektivität aufgrund verschiedener
erzählender Personen auf der intradiegetischen Ebene, die suggerierte Authentizität sowie
hohes Potential zur Intimität, treffen dabei auch auf den prototypischen E-Mail-Roman zu.
Dabei erlaubt die von den Romanen imitierte Kommunikation via E-Mail aufgrund der
Digitalität eine Mitteilungsfrequenz, die um ein vielfaches höher als beim Briefschreiben
und sicherlich das besondere Spezifikum dieser Romangattung ist. So können die erlebten
Ereignisse viel näher an den Zeitpunkt des Erzählens heranrücken, was mitunter neue
Konfliktpotentiale und ganz andere Plotstrukturen erzeugen kann. Außerdem können so
die beiden Räume, die Lebenswelten der Schreibenden, zu einem gemeinsamem virtuellen
Raum, der textual virtual world36, zusammenfließen. Generell radikalisiert und verzerrt die
E-Mail als potentiell quasi-synchrones Kommunikationsmedium37 im Verhältnis zum Brief
auch das Spannungsfeld zwischen zeitlicher und auch gefühlter räumlicher Distanz. Gera-
de im ‚Gespräch„ über Zwischenmenschliches kommt jene „Dialektik […], zugleich zu
verbinden und zu trennen“38, zum Tragen und verschärft den Anspruch der Kommunizie-
renden auf Nähe. Dies führt auch zum Zusammenführen von virtuellem und analogem
33
Vgl. dazu die Literaturangaben bei Schneider-Özbeck, Kathrin: Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut ge-
gen Nordwind: Nur die Modernisierung eines alten Genres? In: Michael Boehringer/Susanne Hochreiter
(Hrsg.): Zeitenwende. Österreichische Literatur seit dem Millennium: 2000–2010. Wien 2011. S. 355.
34
Ein kurzer Überblick zu verschiedenen Veröffentlichungen bei Schneider-Özbeck: Daniel Glattauers E-
Mail-Roman Gut gegen Nordwind. S. 355ff.
35
Ebd. S. 358.
36
Der Term wird als Anlehnung an Ryans textual alternative possible world benutzt. “TAPWs [textual alter-
native possible worlds, M.L.] are textually presented as mental constructs formed by the inhabitants of TAW
[textual actual world, M.L.]. Vgl. Ryan: Possible Worlds, Artificial Intelligence, and Narrative Theory.
[Glossary]. Vgl. auch Anm. 19. Hier ist jene Welt eben nicht nur mental sondern auch durch moderne Tech-
nologie geformt.
37
Zur Unterscheidung von synchroner, quasi-synchroner und asynchroner Medienkommunikation vgl. Dür-
scheid, Christa: Medienkommunikation im Kontinuum von Mündlichkeit und Schriftlichkeit. Theoretische
und empirische Probleme. In: Zeitschrift für angewandte Linguistik 38 (2003). S. 37-56.
38
Flusser, Vilém: Kommunikologie (Forum Wissenschaft: Kultur und Medien 13386). Frankfurt a.M. 42007.
S. 306.
9
Raum, 39 ein Motiv, das in einer Vielzahl von Romanen aufgegriffen und von den schrei-
benden Figuren bewusst thematisiert wird.
Der E-Mail-Roman ist in der bis heute überschaubaren Anzahl wissenschaftlicher Texte zu
diesem Thema wie in feuilletonistischen Kritiken einzelner Werke immer wieder mit dem
Briefroman in Zusammenhang gebracht worden.40 So wird auch Gut gegen Nordwind als
„Briefroman im modernen Gewand“41 bezeichnet. Beide Romantypen weisen schließlich
auch die oben erwähnten narratologisch-strukturellen Parallelen auf, welche auf dem litera-
rischen Verfahren der Integration eines schriftlichen Kommunikationsmediums in Erzähl-
tes beruhen, vor allem die tendenzielle „Gegenwärtigkeit des Erzählten“42. Dazu sind wei-
terhin auch die performative Eigenschaften der geschriebenen Mitteilungen, Raum- und
Zeitstrukturen der Romane sowie das Nähe-Distanz-Verhältnis der Figuren zueinander
prägnante Merkmale beider Genres. Doch neben den grundlegenden Gemeinsamkeiten
können in allen diesen Punkten eben auch in Abhängigkeit der spezifischen Ausprägungen
der jeweiligen Medialität von Brief und E-Mail gewisse Unterschiede auftreten und ebenso
wie die durch die jeweiligen Medien typischerweise hervorgerufenen Kommunikations-
ereignisse43 zu divergenten potentiellen Inhalten und Strukturen der Romane führen.44
Beide Genres lassen sich unzweifelhaft als „Antwort auf eine kulturelle Praktik“45, als Be-
zug auf gängige gesellschaftliche Kommunikationsformen betrachten. Konträr zu dieser
systematisch-entstehungsgeschichtlichen Gemeinsamkeit erwähnt Kusche jedoch noch die
mentalitätsgeschichtlich unterschiedlichen Wertvorstellungen und fokussiert dabei das
39
Erforscht wurde dies ausführlich in der Chat-Kommunikation. Vgl. Beißwenger, Michael: Raumorientie-
rung in der Netzkommunikation. Korpusgestützte Untersuchungen zur lokalen Deixis in Chats. In: Barbara
Frank-Job/Alexander Mehler/Tilmann Sutter (Hrsg.): Die Dynamik sozialer und sprachlicher Netzwerke.
Konzepte, Methoden und empirische Untersuchungen an Beispielen des WWW. Wiesbaden 2013. S. 207-
258.
40
Vgl. Keskinen; Mikko: E-pistularity and E-loquence: Sylvia Brownrigg‟s The Metaphysical Touch as a
Novel of Letters and Voices in the Age of E-Mail Communication. In: Critique. Studies in Contemporary
Fiction 45/4 (2004). S. 383-404.; Schneider-Özbeck: Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind.;
Müller, Burkhard: Wenn Festplatten fremdgehen. In: Süddeutsche Zeitung. Ausgabe vom 15.06.2009. S. 12;
Anonymus: Sie mailen wieder! Der österreichische Autor Daniel Glattauer entlässt sein „E-Paar“ ins Leben.
In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ausgabe vom 07.02.2009. S. Z5.
41
Gaiser, Martin: Ein Briefroman im modernen Gewand. Daniel Glattauers "Gut gegen Nordwind" als Hör-
buch. 2007.
42
Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. S. 11.
43
Vgl. Siegert, Paul Ferdinand: Die Geschichte der E-Mail. Erfolg und Krise eines Massenmediums. Biele-
feld 2008. S. 286.
44
Vgl. Kusche: Der E-Mail-Roman. S. 35.
45
Ebd. S. 32.
10
Spiel mit Identitäten im Netz46 im Vergleich zum klassischen Bekenntnisbrief zur Mittei-
lung wahrer Stimmungen und Gefühle.47 Die bestehenden Gemeinsamkeiten und Unter-
schiede in Struktur, Entstehungsgeschichte und Kontext legen also nahe, den E-Mail-
Roman nicht als ‚Briefroman des 21. Jahrhunderts„, vielmehr Letzteren als „Bezugsfolie“
hinsichtlich Termini und Typologien für seinen jüngeren Verwandten zu verwenden.48
3 Die Leiden des jungen Werthers und Gut gegen Nordwind – Liebe in
medialisiertem Erzählen
Goethes Romane gehören zu den ersten im deutschsprachigen Raum, die Konflikte in der
Beziehung des einzelnen Individuums zur determinierenden Gesellschaft als Thema auf-
greifen und ästhetisch zu lösen versuchen. Allen voran und am reichsten an Subjektivismus
und Ausdrucksstärke ist sein autotherapeutischer Jugendroman Die Leiden des jungen
Werthers, welcher wie kein anderer Roman seiner Zeit Gefühle, Stimmungen, Sprache und
Welthaltung der jungen Generation trifft und „zum ersten weltliterarischen Ereignis der
deutschsprachigen Literaturgeschichte“49 rangiert. Dementsprechend zahlreich sind die
Deutungsversuche. Ob biographische Spurensuche oder psychoanalytische Untersu-
chung50, werkimmanente Mikroanalyse51, sozialgeschichtliche Einordnung52, deren sys-
temtheoretische Abänderung53 oder diskursanalytische Erweiterung54, dekonstruktivisti-
46
Vgl. Bignell, Jonathan: Media Semiotics. An Introduction. Manchester/New York 22002. S. 222. „The
social world is itself simulated by the interactive conversations of e-mail. Interacting with people remotely by
means of written linguistic signs offers the user freedom to enjoy different and fluid identities […].” Hierbei
darf man jedoch nicht allzu schnell pauschalisieren, da erst ein relativ ungefestigtes bzw. unvertrautes Ver-
hältnis der E-Mail-Schreibenden ein solches Spiel überhaupt zulassen kann. Vgl. auch mit Fokus auf Gut
gegen Nordwind Wilke, Beatrice: Computervermittelte Kommunikationsformen in literarischen Texten
(Sandra Hoffmann und Daniel Glattauer). In: Testi e Lingiaggi 1 (2007). S. 159.
47
Vgl. Kusche: Der E-Mail-Roman. S. 34.
48
Vgl. Ebd. S. 35f.
49
Jeßing, Benedikt: Johann Wolfgang Goethe (Sammlung Metzler. Realien zur Literatur 288). Stutt-
gart/Weimar 1995. S. 112.
50
Vgl. etwa Schmiedt, Helmut: Woran scheitert Werther? In: Ders. (Hrsg.): „Wie froh ich bin, dass ich weg
bin!“ Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“ aus literaturpsychologischer Sicht. Würzburg 1989.
S. 147-172.
51
Vgl. etwa Hass, Hans-Egon: Werther-Studie. In: Richard Alewyn/Hans-Egon Hass/Clemens Heselhaus
(Hrsg.): Gestaltprobleme der Dichtung. Bonn 1957. S. 83-125.
52
Vgl. etwa die marxistische Deutung Scherpe, Klaus: Werther und Wertherwirkung. Zum Syndrom bürger-
licher Gesellschaftsordnung im 18. Jahrhundert. Bad Homburg [u.a.] 1970. Sowie für die neuere Forschung
Renner, Karl N.: „Laß das Büchlein deinen Freund seyn“. Goethes Roman „Die Leiden des jungen Werther“
und die Diätetik der Aufklärung. In: Günther Häntzschel/John Ormrod/Karl N. Renner (Hrsg.): Zur Sozialge-
schichte der deutschen Literatur von der Aufklärung bis zur Jahrhundertwende (Studien und Texte zur Sozi-
algeschichte der Literatur 13). Tübingen 1985. S. 1-20.
53
Vgl. etwa Plumpe, Gerhard: Kein Mitleid mit Werther. In: Henk de Berg/Matthias Prangel (Hrsg.): Sys-
temtheorie und Hermeneutik. Tübingen/Basel 1997. S. 215-232.
11
Präsentiert wird uns die Geschichte des Werthers in Briefen, die er an seinen Freund Wil-
helm versendet. Diese einseitig-monologische Form, ein strukturelles Spezifikum des Ro-
mans ist gleichzeitig sinnstiftend im Kontext von stürmer-und-drängerischem Subjektivis-
mus. Es wird „der Wirklichkeitsgehalt des dialogischen Modells“ bestritten, da Antworten
schwer vorstellbar sind. Die in den Briefen „emphatisch geäußerte Subjektivität“ erfährt
keinerlei gesellschaftliche Resonanz, findet keinen Weg zu harmonischer interpersonaler
Verständigung.57 Dabei steht das Werk mit seiner regellosen Sprache voller Originalität
und Unmittelbarkeit sowie seinem uneingeschränkten Subjektivismus, aber auch aufgrund
des Darstellens einer scheiternden Existenz, welche ihren Platz im bürgerlich-rationalen
gesellschaftlichen Gefüge nicht findet, zu Recht exemplarisch als authentischer Ausdruck
der Tendenzen des Sturm und Drang, wobei mehrere Elemente wie etwa bereits die Ver-
wendung der Briefform und auch literarische Reminiszenzen an Klopstock, Goldsmith
oder die Bibel darauf verweisen, dass der Werther ebenso in der Tradition der Empfind-
54
Vgl. etwa die einflussreiche Studie Wegmann, Nikolaus: Diskurse der Empfindsamkeit. Zur Geschichte
eines Gefühls in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1988. S. 105ff. Vgl. ebenso Luserke, Matthias:
Die Bändigung der wilden Seele. Literatur und Leidenschaft in der Aufklärung (Germanistische Abhandlun-
gen 1977). Stuttgart/Weimar 1995. S. 237ff.
55
Vgl. etwa Forget, Philippe: Aus der Seele geschrie(b)en? Zur Problematik des ‚Schreibens„ (écriture) in
Goethes ‚Werther„. In: Ders. (Hrsg.): Text und Interpretation. Deutsch-französische Debatte (UTB 1257).
München 1984. S. 130-180.
56
Vgl. für Gesamtdarstellungen Flaschka, Horst: Goethes „Werther“. Werkkontextuelle Deskription und
Analyse. München 1987.; Mattenklott, Gert: Die Leiden des jungen Werthers. In: Bernd Witte/Peter Schmidt
(Hrsg.): Goethe-Handbuch 3: Prosaschriften. Stuttgart/Weimar 1997. S. 51-101.
57
Vgl. Mattenklott, Gert: Briefroman. In: Volker Meid (Hrsg.): Literatur-Lexikon. Autoren und Werke
deutscher Sprache 13: Begriffe, Realien, Methoden. Gütersloh/München 1992. S. 131f. Vgl. auch Luserke,
Matthias: Der junge Goethe. „Ich weis nicht warum ich Narr soviel schreibe“. Göttingen 1999. S. 115.
12
samkeit verwurzelt ist.58 Die Briefe Werthers werden dem Leser allerdings von einem fik-
tiven Herausgeber präsentiert, eingeleitet und am Ende auch kommentiert. Dieser sorgt
nicht nur für einen Unmittelbarkeits- und Authentizitätseindruck sondern vertritt auch eine
moralisch-pädagogische Absicht, wenn einerseits ein distanzierter Tonfall bei den späteren
Lücken in den Briefen verwendet, andererseits leidenschaftlich mit lyrischer Pointiertheit
zu Mitleid und Verständnis aufgerufen wird.59
Das gute zwei Millennien später erschienene Gut gegen Nordwind (2006) berichtet eben-
falls von einer Liebesgeschichte, welcher der Leser durch die von zwei schreibenden Pro-
tagonisten regelmäßig untereinander hin- und hergesendeten E-Mails folgt. Emma Roth-
ner, genannt Emmi, schickt Leo Leike durch einen Tippfehler aus Versehen eine E-Mail, in
der sie eigentlich das Abonnement einer Zeitschrift kündigen wollte, sowie eine zweite mit
Neujahrgrüßen, da Leo nun bereits in ihrem Adressbuch gespeichert worden ist. Es ent-
spinnt sich eine digitale Korrespondenz, die sich vom amüsanten Small Talk hin zu inti-
men Geständnissen entwickelt. Die verheiratete Emmi und der frisch getrennte Leo entwi-
ckeln Gefühle füreinander, weichen einem realen Aufeinandertreffen jedoch immer wieder
aus, bis schließlich Emmis schlechtes Gewissen und die vorübergehende60 Deaktivieung
von Leos E-Mail-Account auch einen letzten Versuch, sich einmal wirklich zu begegnen,
zunichtemachen und die Geschichte abreißen lassen.
Der thematische Konflikt, der ebenfalls die Zuneigung zweier Menschen zueinander be-
trifft, bewegt sich hier also nicht auf im Spannungsfeld zwischen individueller Subjektivi-
tät und gesellschaftlichen Normen sondern entlang „Rissen oder Widersprüchen, die an der
Grenze zwischen Virtualität(en) und Realität(en) erscheinen“61 und im Zuge der Informati-
sierung der Gesellschaft entstandenen sind. Dabei geht es auch um performative virtuelle
Subjektkonstitution62, damit einhergehend um die Wirksamkeit von Sprache im Cyper-
Space und das Motiv virtueller Begegnung mitsamt bestimmter sich von konventioneller
Face-to-face-Kommunikation unterscheidender Beziehungsmodi und Verhaltensweisen,
58
Zur Epochenproblematik im Hinblick auf Die Leiden des jungen Werthers vgl. Könecke, Rainer: Stunden-
blätter. Goethes „Die Leiden des jungen Werther“ und die Literatur des Sturm und Drang (Stundenblätter
Deutsch). Stuttgart 1989. S. 7, 13.
59
Vgl. Miller: Der empfindsame Erzähler. S. 154ff.
60
Dies erfährt der Leser jedoch erst im Nachfolgeroman Glattauer, Daniel: Alle sieben Wellen. Wien 2009.
61
Dupont: Erzählen im Zeitalter des Internets. S. 205f.
62
Vgl. zum Kreieren vom wahren Selbst abweichender oder idealisierter Identitäten Rotunno, Laura: User
IDs: Email Novels and the Search for Identity. In: Autobiography Studies 21/1 (2006). S. 80: „… individuals
‚created„ by each epistulary situation, individuals who, as email novels suggest, have little if any connection
to real persons.“
13
weshalb der Text von metamedialen, -sprachlichen und -fiktionalen63 Kommentaren der
Figuren durchzogen ist. Hier wird die Geschichte zudem nicht nur aus der Perspektive ei-
nes sondern zweier Verfasser von Mitteilungen beleuchtet. Da Emmi und Leo sich im Ge-
gensatz zu Werther auch fast immer auf Vorhergegangenes des E-Mail-Partners beziehen
und das am Computer verwendete quasi-synchrone Kommunikationsmedium E-Mail dies
begünstigt, wird hier eine als Utopie64 funktionierende „virtuelle Eigenräumlichkeit“ mit
„spezifischer Eigenzeitlichkeit“65 geschaffen. Eine Erzählinstanz fehlt gänzlich, nur eine
Kompositionsinstanz versieht die E-Mails mit Zeitangaben, die auf den jeweiligen zeitli-
chen Abstand zur vorangegangenen Nachricht referieren, wobei aus Gründen der „Komp-
lexitätsreduktion“66 auch auf die Darstellung des E-Mail-Kopfes verzichtet wird.
An dieser Stelle soll es nicht darum gehen, eine vorgefertigte Unterrichtsreihe zu präsentie-
ren oder die Werke in allen Facetten ihrer Möglichkeiten unterrichtlicher Behandlung zu
untersuchen. Ebenso wenig geht es um sinnvolle Unterrichtsbeschäftigungen, welche sich
jedoch nur auf eines der Werke beziehen, oder um Vergleichspunkte der beiden Romanty-
pen, die sich allerdings schwerlich für den Schulunterricht nutzbar machen lassen. Es sol-
len vielmehr Anhaltspunkte geboten werden, bei denen sich eine kontrastive, verknüpfende
oder ergänzende Betrachtung der beiden Werke oder Romantypen mit Schülern eignet. Die
Anordnung der Unterkapitel soll weiterhin nicht festlegen, in welcher Reihenfolge vorge-
gangen werden soll oder dass zuerst Die Leiden des jungen Werthers, dann im Anschluss
Gut gegen Nordwind behandelt werden muss. Es handelt sich also bei Unterkapitel 4.2 wie
im ganzen Kapitel nur um Vorschläge möglicher Vorgehensweisen.
63
Auch die beiden E-Mail-Schreibenden in Gut gegen Nordwind bezeichnen sich passenderweise gegenseitig
selbst als „Fantasie-Emmi“ und „Virtuell-Leo“. Vgl. Glattauer: Gut gegen Nordwind. S. 84.
64
Emmis Ehemann Bernhard bezeichnet den durch die E-Mail-Kommunikation der beiden konstruierten
Raum den „Kosmos ihrer [Emmis] Wunschtäume“. Vgl. Glattauer: Gut gegen Nordwind. S. 183. Ist es ein
Zufall, dass Emmi, die eigentlich Emma heißt, denselben Namen trägt wie Gustave Flauberts Hauptfigur aus
Madame Bovary, eine Frau, die am Widerspruch von Realität und Illusion zerbricht und obendrein auch noch
einen Liebhaber namens Léon hat?
65
Sandbothe, Mike: Virtuelle Temporalitäten. Zeit- und identitätsphilosophische Aspekte im Internet. In:
Herbert Willems/Alois Hahn (Hrsg.): Identität und Moderne. Frankfurt a.M. 1999. S. 378.
66
Kusche: Der E-Mail-Roman. S. 35.
14
„Wer die Werke Goethes nicht in der Schule kennenlernt, wird sie wahrscheinlich über-
haupt nicht kennenlernen“,67 schreibt Kurt Abels Anfang der 1980er Jahre und wird damit
wohl auch für die meisten jungen Lesenden oder eben nicht Lesenden dieser Tage Recht
behalten haben. Doch obwohl reziprok zur ansteigenden Produktion (literarischer) Texte
die Leseleistung vieler Schüler in den letzten Jahrzehnten nachgelassen hat,68 sollte der
Fokus nicht darauf liegen, den Komplexitätsgehalt Goethes Lektüre zu reduzieren, dem
Werther/Werther sozusagen erneut ‚Gewalt anzutun„ sondern vielmehr Wege zu finden,
den Roman für junge Leser interessant zu machen und neue Zugänge zu öffnen. Der zeit-
genössische E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind erscheint dabei als geeignete Kontrastfo-
lie, um sowohl die inhaltliche Aktualität als auch lohnenswerte Fragestellungen und Unter-
suchungsgegenstände, welche die Lebenswelt der Schüler tangieren, aufzuzeigen.
Die Meinungen über die Sprache des Werthers im Hinblick auf dessen Behandlung im
Unterricht reichen weit auseinander. So wird einerseits von einer „Sprachbarriere der Emp-
findsamkeit“69 gesprochen, wobei eine „zweihundertjährige Trivialisierung der Empfind-
samkeitssprache“, welche deshalb heute „lächerlich und übertrieben“70 wirke, bei den ju-
gendlichen Lernenden zu Skepsis und Langeweile führe.71 Andererseits gibt es auch den
regel- und zügellosen Aspekt der Sprache, weshalb Eisenträger auch unbedingt zur Fas-
sung von 1774 rät, da diese für Schüler „aufgrund der stärkeren Abweichungen vom heuti-
gen Sprachgebrauch und von der modernen Rechtschreibung den Reiz des Fremden und
Wilden hat“72. Für den Unterricht eignet sich vor allem die Taschenbuchausgabe von
Suhrkamp73, welche übersichtlich angelegt, mit Worterklärungen am Rand und im Anhang
67
Abels, Kurt: Goethe als Klassiker für die Schule. Forschungsbericht. In: Literatur in Wissenschaft und
Unterricht 16/1 (1983). S. 84.
68
Vgl. zur Heterogenität der Leseleistungen jugendlicher Leser Bertschi-Kaufmann, Andrea/Härvelid, Frede-
ric: Lesen im Wandel – Lesetraditionen und die Veränderungen in neuen Medienumgebungen. In: Andrea
Bertschi-Kaufmann (Hrsg.): Lesekompetenz, Leseleistung, Leseförderung. Grundlagen, Modelle und Mate-
rialien (Lehren lernen – Basiswissen für die Lehrerinnen- und Lehrerbildung). Seelze/Zug 42011. S. 31. so-
wie Bertschi-Kaufmann, Andrea: Lesekompetenz – Leseleistung – Leseförderung. In: Dies.: Lesekompetenz,
Leseleistung, Leseförderung. S. 8-16.
69
Hein, Edgar: Johann Wolfgang Goethe. Die Leiden des jungen Werther (Oldenbourg Interpretationen 52).
München 21997. S. 103.
70
Ebd. S. 97.
71
Klagen über dieses Phänomen ebenso bei Ulshöfer, Robert: Gesellschaftskritische Literatur – Kritik an der
gesellschaftskritischen Literatur im Deutschunterricht – Probleme einer Erziehung zur Kritik. In: Der
Deutschunterricht 25/2 (1973). S. 18.
72
Eisenträger, Ulrike: Materialien zu „Die Leiden des jungen Werthers“ von J.W. Goethe. Begleitmaterial
zur Ausstellung „… mein Werther – dein Werther – unser Werther … Ein Roman überwindet Grenzen“.
Vom 6. Februar bis 24. März 2013. Frankfurt 2013. S. 2.
73
Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werthers. Text und Kommentar (Suhrkamp BasisBiblio-
thek 5). Hg. v. Wilhelm Große. Frankfurt a.M. 1998.
15
Gut gegen Nordwind hingegen stellt mit einem überschaubaren Umfang von 219 Seiten
und jeweils großen Abständen zwischen den gedruckten E-Mails keinen besonders erhebli-
chen Leseaufwand dar. Auch wenn die Sprache streckenweise recht elaboriert ist, dürfte
sie jedoch auch Schülern der Sekundarstufe I keine Verständnisprobleme bereiten. Vor
allem aufgrund des Diskurses über moderne Kommunikationstechniken und der metame-
dialen Kommentare dürfte der Roman sehr leicht Anschluss an die Lebenswelten der Ler-
nenden finden, welche sicherlich bereits Erfahrungen mit privaten E-Mails oder Chats ge-
sammelt haben.
4.2 Werther im Kontext von Adoleszenz und Brückenschlag zu Gut gegen Nordwind
74
Lambertz, Peter/Siefer, Claus: Materialien-Handbuch Deutsch 1/I. Romane und Erzählungen I. Köln 2001.
S. 64.
75
Vgl. Silbereisen, Rainer K./Weichold, Karina: Jugend (12–19 Jahre). In: Wolfgang Schneider/Ulman Lin-
denberger (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim [u.a.] 72012. S. 252f.
16
tions of identit[ies]” in Form von „imaginative (re)constructions which are always in flux
and open to negotiation“76, lässt sich anknüpfend daran feststellen, dass sich auch Gut ge-
gen Nordwind in diesen Trend einreiht und wie viele andere E-Mail-Romane durch die
Thematisierung des Internets als Parallelwelt eine neue Facette zum Diskurs beisteuert.
Die Aktualität des Werthers soll hier auch mit den Schülern explizit thematisiert, genauer
untersucht und so anschließend eine Überleitung zum E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind
gefunden werden. Bereits Goethe war der Meinung, dass die Leiden seines jungen Prota-
gonisten „nicht dem Gange der Weltkultur“ sondern „dem Lebensgange jedes Einzelnen“
angehören, also zeitlos für die Jugend relevant seien. Ein leicht modifizierter Auszug jenes
Gespräches zwischen Goethe und seinem Sekretär Johann Peter Eckermann – in einer Art
und Weise, die den Schülern weder Urheber der Worte noch Entstehungszeitraum zugäng-
lich macht – kann als Einstieg in die Unterrichtsstunde dienen. Die Lernenden diskutieren
darüber, aus welcher Zeit die Aussage des Autors selbst, dass „das Buch auf ein gewisses
Jünglingsalter noch heute wirkt wie damals“ 77, stammt. Anschließend ließe sich mit Schü-
lern der Mittelstufe, die sich zu diesem Zeitpunkt größtenteils in der Hauptphase der Pu-
bertät mitsamt Schwierigkeiten bei der Verarbeitung emotionaler Reize befinden sollten,78
eine arbeitsteilige Gruppenarbeit zu den Themenkomplexen ‚Depression„, ‚Pubertät„ und
‚Liebeskummer„ im Hinblick auf Werther durchführen. Die Fragestellung bezieht sich auf
die Beurteilung von Werthers Verhalten nach heutigen Maßstäben. Den Lernenden soll
verständlich werden, dass alltägliche Phänomene und Symptome auf die Figur zutreffen,
diese allerdings durch die historische Differenz im literarischen Werk anders dargestellt
und gewertet werden.79
Die Schülergruppe, welche sich mit Werther als depressivem Menschen beschäftigt, wen-
det den Depressionstest Goldbergs, welcher im Internet abrufbar ist,80 auf Goethes Figur
an. Diejenigen Schüler, welche sich mit den Anzeichen pubertierenden Verhaltens bei
Werther auseinandersetzen, lesen einen Artikel der Jugendzeitschrift Bravo auf derer
76
Neumann, Birgit: Narrating Selves, (De-)Constructing Selves? Fictions of Identity. In: Dies./Ansgar
Nünning/Bo Pettersson (Hrsg.): Narrative and Identity. Theoretical Approaches and Critical Analyses (Gies-
sen contributions to the study of culture 1). Trier 2008. S. 66.
77
Eckermann, Johann Peter: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Reclam Universal-
bibliothek 2002) Hg. v. Otto Schönberger. Stuttgart 1994. S. 559f. Der leicht modifizierte Auszug befindet
sich in Anhang 1.
78
Vgl. Silbereisen/Weichold: Jugend (12–19 Jahre). S. 238ff.
79
Kernlehrplan für den verkürzten Bildungsgang des Gymnasiums – Sekundarstufe I (G8) in Nordrhein-
Westfalen. Deutsch. Hg. v. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen.
Frechen 2007. S. 40f.
80
http://www.depressionen-depression.net/goldberg/goldberg-test.htm. Hierbei ist jedoch die Anleitung zum
Test und vor allem zur Auswertung der Ergebnisse in Hinsicht auf mögliche Schlussfolgerungen genau zu
beachten. Weitere Informationen zu Depression finden sich auf selbiger Homepage.
17
Internetpräsenz81 durch und bekommen dazu einen Auszug aus einem Vortrag über die
Verschiebung der Pubertätsphase seit dem 18. Jahrhundert82 vorgelegt. Anhand dieser Ma-
terialen lässt sich erkennen, dass Werthers Stimmungsschwankungen und Gefühlsausbrü-
che schließlich auch unter anderem Folgen entwicklungsphysiologischer Hormonüberpro-
duktion sein können. Auch das letzte Thema ‚Liebeskummer„ dürfte sehr nah an der Le-
bens- und Erfahrungswelt vieler Schüler sein. Hier sollen Auszüge eines Zeitungsartikels83
die klassischen Symptome von Liebeskummer bei Werther auffindbar machen dabei hel-
fen, sein Schicksal in den thematischen Kontext einzubetten. Am Ende der Gruppenarbeit,
die bestenfalls immer zwei Lernende zusammen gestalten, können die Ergebnisse entweder
im Plenum – beispielsweise in Form einer Blitzlicht-Präsentation84 – vorgestellt und disku-
tiert oder in einer Zusammensetzung von jeweils drei Zweiergruppen, welche jeweils un-
terschiedliche Themen bearbeitet haben, untereinander besprochen werden.
Nachdem die Relevanz der Lektüre von Goethes Jugendroman nun aufgezeigt sein sollte
und die Schüler auch einen Bezug zu ihren eigenen, oftmals ihren Lebensalltag bestim-
menden, Problemen hergestellt haben sollten, lässt sich gut eine Brücke zum Roman Glatt-
auers schlagen. Man kann gemeinsam überlegen, wie man heutzutage via schriftlicher
Kommunikationsmedien über Liebe und Sorgen kommuniziert, welche Rolle Sprache da-
bei einnimmt und ob ein Briefroman im 21. Jahrhundert die geeignete Kunstform für den
Liebesdiskurs darstellt. Wie auch immer die Schülerantworten zu letzterer Frage ausfallen,
mit Gut gegen Nordwind wird eine Antwort präsentiert und im Unterricht genauer behan-
delt werden. Gerade für jüngere Schüler bietet es sich noch an, anfangs an der Tafel oder
mit dem Ausfüllen eines Arbeitsblatts die medialen Unterschiede zwischen sowie die for-
malen und technischen Modalitäten jeweils von Brief- und E-Mail-Kommunikation be-
wusst zu machen, zu klären und eventuell bereits über mögliche Folgen für den Inhalt der
Nachrichten nachzudenken.
81
http://www.bravo.de/dr-sommer/stimmungsschwankungen-warum-du-sie-hast-was-dagegen-hilft-
235605.html.
82
Hurrelmann, Klaus: Schwindende Kindheit – Expandierende Jugendzeit. Neue Herausforderungen für die
biografische Gestaltung des Lebenslaufs. Vortrag bei der Dr. Margit Egnér Stiftung in Zürich. Zürich 2003.
Der Auszug befindet sich in Anhang 2.
83
Schmidt, Nicola: Gemischte Gefühle: Liebeskummer. In: Süddeutsche Zeitung. Ausgabe vom 19.08.2010.
Der Auszug befindet sich in Anhang 3.
84
Zur Methode ‚Blitzlicht„ vgl. Wahl, Diethelm: Lernumgebungen erfolgreich gestalten. Vom trägen Wissen
zum kompetenten Handeln. Bad Heilbrunn 32013. S. 137.
18
Sowohl Brief- als auch E-Mail-Roman fallen aufgrund der fehlenden Erzählinstanz nicht
nur durch ihre Nähe zum Dialogroman sondern ebenso durch dramatisch-dialogische Er-
zählcharakteristika auf.85 Die Handlungen werden fast gänzlich durch Briefe bzw. E-Mails
erzählt, vermittelnde, kommentierende oder von außen beleuchtende Erzählinstanzen treten
kaum auf. So lassen sich beide Romantypen nach Moravetz-Kuhlmann als „episch-
dialogische Mischform[en]“ bezeichnen, wobei die beiden Modi telling und showing86,
also nacherzählende und performative Elemente, sich miteinander vermischen oder ab-
wechseln können.
Im Unterricht lässt sich anhand der Texte Die Leiden des jungen Werthers und Gut gegen
Nordwind die in der Klassenstufe 9 zu lernenden Gestaltungsmittel, welche den Modus
einer Erzählung beeinflussen,87 untersuchen. So könnte man mit einer kurzen Wiederho-
lung von Begrifflichkeiten der erzähltheoretischen Beschreibung der Darstellungsform
eines Textes beginnen. Ein Einordnung der einzelnen Passagen bzw. Sätze innerhalb der
Briefe bzw. E-Mails als Präsentation von Rede auf ihre Mittelbarkeit unter Hinzunahme
der bekannten Kategorien scheint später dann im Kontext einer Wesensbestimmung des
gesamten Romantypus nicht allzu fruchtbar zu sein, da erstens innerhalb der Nachrichten
die Form der Präsentation von Rede und zweitens auch die Erzählebene je nach Inhalt der
Nachricht und der dort auftretenden Personen wechseln kann. Da die Schüler allerdings
Kenntnisse über die verschiedenen Modi des Erzählten besitzen, ließe sich eine Diskussion
anregen, inwiefern der gesamte Roman überwiegend im dramatischen Modus verfasst ist,
indem die Briefe bzw. E-Mails als autonome direkte Rede aufgefasst werden. Für jüngere
Lernende kann als Einstieg hierbei die für Schüler relativ leicht zugängliche Definition des
Rechtschreibwörterbuches Duden, welche den Roman als „literarisches Werk erzählender
Dichtung in Prosa“88 beschreibt, nützlich sein. Dabei soll es dann um die Frage gehen, wer
denn eigentlich erzählt, wo die Romane doch nur aus Mitteilungen bestehen, die man also
85
Zur dramatischen Struktur im Briefroman vgl. Moravetz-Kuhlmann, Monika: Formen der Rezeptionslen-
kung im Briefroman des 18. Jahrhunderts. Richardsons Clarissa, Rousseaus Nouvelle Héloise und Laclos„
Liasions Dangereuses (Romanica Monacensia 34). Tübingen 1990. S. 25.; Picard: Die Illusion der Wirklich-
keit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. S. 14. und am ausführlichsten Voßkamp: Dialogische Ver-
gegenwärtigung beim Schreiben und Lesen.
86
Vgl. zu den Modi des Erzählens Bonheim, Helmut: The Narrative Modes. Techniques of the Short Story.
Cambridge 1982. S. 20ff. Der Autor wählt passenderweise einen Briefroman, um den narrativen Modus
„speech“, welcher am stärksten am Pol des showing zu verankern ist, zu beschrieben.
87
KLP Sek. I. Deutsch. S. 42.
88
Roman. In: Duden. Das Bedeutungswörterbuch (Der Duden in zwölf Bänden 10). Hg. v. der Dudenredak-
tion. Mannheim/Zürich 42010. S. 770.
19
auch als direkte Rede auffassen kann. Gut gegen Nordwind eignet sich hier wegen gänzlich
fehlender Erzählinstanz besser.
Wenn erst einmal die Affinität der Romantypen zum dramatischen Modus aufgezeigt wor-
den ist, kann auch die Nähe zum Drama selbst, die schon Zeitgenossen Goethes erkann-
ten,89 thematisiert werden. Zur Verdeutlichung dieses Charakteristikums lassen sich einige
Unterrichtsformen zum produktiv-szenischen Erarbeiten von literarischen Texten anwen-
den. Der Brief- oder E-Mail-Text kann erlesen90 oder durch agierendes Erzählen91 darges-
tellt werden. Körperhaltungen in Form von Standbildern, (dialogische) Sprechhaltungen
und Stellungen von Dialogpartnern im Raum können erarbeitet, dabei sogar innere Vor-
gänge und unterdrückte Fantasien, welche der reine Text nur sublim äußert bzw. äußern
könnte, ausgedrückt werden.92 Mit Hilfe der Inszenierungstechnik der Stimmencollage93
kann die zuvor szenisch dargestellte Thematik auch in der Klasse diskutiert werden. Zwar
sind Romantexte keine reinen Inszenierungstexte, die ohne Textinszenierung nur unvoll-
ständig rezipiert werden, allerdings kann ein darstellendes Spiel immer neue hermeneuti-
sche Interpretationen im Hinblick auf Figurenkonstellationen und Handlungsmotive sowie
die Fantasie und Vorstellungskraft des Lernenden anregen.94 Scheller spricht dabei von
einer neuen Qualität der Versinnlichung literarischer Texte sowie von einem „Lernen mit
allen Sinnen“95. Weiterhin führen dramapädagogische Elemente, bei dem kognitives mit
physischem und emotionalem Lernen verbunden wird, zu einem ganzheitlichen, nachalti-
geren Lernprozess. Die Lernenden können so auch Teamfähigkeit, Empathievermögen und
das Präsentieren vor einer Gruppe schulen.
89
So schreibt Jean Paul: „Der Roman in Briefen, welche nur entweder längere Monologe oder längere Dialo-
ge sind, gränzet in die dramatische Form hinein …“. Vgl. Paul, Jean: Vorschule der Ästhetik. Nach d. Ausg.
v. Norbert Miller (Philosophische Bibliothek 425). Hg. v. Wolfhart Henckmann. Hamburg 1990. S. 248f.
90
Ein interessantes Konzept namens Einen Text zum Klingen bringen, welches Vermutungen und Fragen
zum Romantext anregen und Mut zum Vortragen von Präsentationen, Referaten etc. schüren soll, bietet Ei-
senträger: Materialien zu „Die Leiden des jungen Werthers“ von J.W. Goethe. S. 9.
91
Zur Inszenierungstechnik des agierenden Erzählens vgl. Schewe, Manfred Lukas: DaF-Stunden dramapä-
dagogisch gestalten – wie mache ich das? In: Gerald Schlemminger/Thomas Brysch/Manfred Lukas Schewe
(Hrsg.): Pädagogische Konzepte für einen ganzheitlichen DaF-Unterricht (Deutsch als Fremdsprache.
Mehrsprachigkeit, Unterricht, Theorie). Berlin 2000. S. 94ff.
92
Vgl. zum Repertoire des szenischen Erarbeiten von literarischen Texten vgl. Waldmann, Günter: Produkti-
ver Umgang mit dem Drama. Eine systematische Einführung in das produktive Verstehen traditioneller und
moderner Dramenformen und das Schreiben in ihnen. Für Schule (Sekundarstufe I und II) und Hochschule.
Hohengehren 62010. S. 120ff. sowie Scheller, Ingo: Szenisches Spiel. Handbuch für die pädagogische Praxis.
Berlin 62012. S. 37ff.
93
Zur Inszenierungstechnik der Stimmencollage vgl. Erzählens Schewe: DaF-Stunden dramapädagogisch
gestalten. S.93f.
94
Vgl. Waldmann: Produktiver Umgang mit dem Drama. S. 117ff. Vgl. hierzu auch die Vorgaben des KLP
Sek. I. Deutsch. S. 44.
95
Scheller: Szenisches Spiel. S. 13.
20
Nun könnte abschließend über die Tauglichkeit der Romane für mögliche Theaterauffüh-
rungen nachgedacht werden. Dabei bietet sich einerseits an, die Verfilmung der Auffüh-
rung von Gut gegen Nordwind bei den Kammerspielen Wien 200996 im Unterricht anzu-
schauen oder eine Exkursion in eine Theateraufführung, die auf einem der beiden Roma-
nen beruht,97 zu organisieren, wobei Vergleiche zwischen Buch- und Bühnentext ein wei-
terer Untersuchungsgegenstand sein können.
Picard erkennt, dass die Handlung in Brief- und E-Mail-Romanen mehr oder weniger
„ruckweise […] in Schritten von jeweiligen Erlebnis- und Mitteilungseinheiten“, also einer
„Reihung derartiger Gegenwartspunkte“ voranschreitet,98 was zur Folge hat, dass der Leser
die Leerstellen zwischen jenen Gegenwartspunkten mit den ihm dargebotenen Informatio-
nen füllen und eigenständig Verknüpfungen treffen muss. Es entsteht so eine Interaktion
zwischen Text und Rezipient.99 In Brief- und E-Mail-Romanen treiben vor allem die Stel-
len zwischen den einzelnen Mitteilungen das Vorstellungsbewusstsein des Lesers an, wo-
bei die Ereignislücken bei E-Mail-Kommunikation wesentlich kürzer sein können. Gerade
solche Leer- und Unbestimmtheitsstellen regen dazu an, die Auseinandersetzung mit den
Romantexten nicht schon auf der Darstellungsebene dieser Texte enden zu lassen sondern
eine textüberschreitende Auseinandersetzung mit dem literarischen Werk einzuleiten.
Hierbei geht es im literaturdidaktischen Kontext vor allem um ein erweitertes Gesamtver-
ständnis des Textes, ein mögliches Einverständnis des Lernenden mit dem Text, seinen
Figuren, der Sprache und Form sowie um die Einstellung des Lernenden zum Text.100
96
Zemme, Ulrike/Glattauer, Daniel [Bühnenfassung]/Kreihsl, Michael [Regie]: Gut gegen Nordwind (Editi-
on Josefsstadt 46). DVD. 101 Minuten. Wien 2009.
97
Für Schüler dürfte sich die Inszenierung der Leiden des jungen Wertehrs Karsten Dahlems aufgrund der
Integration von rockig bis poppiger Live-Musik sehr gut eignen. Aktuell finden noch Aufführungen in der
Region statt. Vgl. Dahlem, Karsten [Bühnenfassung, Regie]/Krampe, Marc-Oliver [Bühnenfassung]: Die
Leiden des jungen Werther. Nach dem Briefroman von Johann Wolfgang Goethe. Casa, Essen, 2013/14.
98
Picard: Die Illusion der Wirklichkeit im Briefroman des achtzehnten Jahrhunderts. S. 26.
99
Vgl. Iser, Wolfgang: Der Akt des Lesens. Theorie ästhetischer Wirkung (UTB 636). München 1976. S.
284.
100
Vgl. Waldmann, Günter: Produktiver Umgang mit Literatur im Unterricht. Grundriss einer produktiven
Hermeneutik. Theorie – Didaktik – Verfahren – Modelle (Deutschdidaktik aktuell 1). Baltmannsweiler
8
2013. S. 37f. Vgl. dazu ebenfalls den KLP Sek. I. Deutsch. S. 45. Es sind allerdings auch früh Zweifel ge-
äußert worden, ob ein solches Vorgehen zum besseren Verstehen literarischer Texte beiträgt. Schüler neigen
dazu, in eigenen Produktionen alltägliche Wahrnehmungsmuster wiederzugeben anstatt durch Literatur na-
hegelegte neue und fremde Sichtweisen von Wirklichkeit anzuwenden. Vgl. Fingerhut, Karlheinz: Der sub-
jektive Faktor im neuen Literaturunterricht. In: Diskussion Deutsch 84 (1985). S. 353. Und nach Kügler soll
gerade ein „Ausfüllen von Leerstellen“ durch materielle Handlungen dazu führen, dass sich eine spontane
literarische Rezeption „selbst aufhebt“. Vgl. Kügler, Hans: Die bevormundete Literatur. Zur Entwicklung
und Kritik der Literaturdidaktik. In: Jürgen Belgrad/Hartmut Melenk (Hrsg.): Literarisches Verstehen – Lite-
21
Für den unterrichtlichen Umgang mit den Romanen Goethes und Glattauers bieten sich für
die Schüler aufgrund der unterschiedlichen Anzahl an im Roman dargestellten Kommuni-
kationspartnern ebenso unterschiedliche zu produzierende Texte an. Beim dialogisch funk-
tionierenden Gut gegen Nordwind könnte man eine Szene, die Emmi oder Leo erleben und
die mit der Beziehung der beiden eng verknüpft ist, erzählerisch gestalten. Dazu werden
bestimmte E-Mails als Vorgaben gegeben und eine zu diesen Nachrichten passenden Rah-
menhandlung soll – etwa als Hausaufgabe – selbst produziert werden. Die Szene im Kaf-
feehaus, welche im Roman logischerweise ausgeblendet ist, könnte sich sehr gut dazu eig-
nen, den dortigen Aufenthalt aus der Sicht einer Figur darzustellen, beispielsweise als inne-
rer Monolog Emmis oder Gespräch zwischen Leo und seiner ebenso anwesenden Schwes-
ter. Anregungen hierzu fänden die Schüler in den E-Mails, die auf den Besuch des Kaffee-
hauses folgen.101 Je nach Stand der Lernerschaft ließe sich, um gestalterische Ideen zu
sammeln und gewisse Hemmungen beim freien Erzählen abzubauen, ein leitfadenartiger
Tafelanschrieb à la Was macht eine lebendige Erzählung aus? mit Hinweisen erstellen.
Die monologisch aufgebauten Leiden des jungen Werthers eignen sich hingegen vielmehr
dazu, die nicht überlieferten oder gar fehlenden102 Antworten des Briefpartners Wilhelm
für den Unterricht fruchtbar zu machen. Die Schüler könnten versuchen, einen Antwort-
brief Wilhelms zu entwerfen, der zwischen zwei oder mehrere spezifische Briefe Werthers
passen könnte. Dazu eignen sich Briefe, in denen Werther auf eine mögliche Antwort Wil-
helms Bezug nimmt, beispielsweise die Briefe vom 3. November [1772] und 15. Novem-
ber [1772]103. Die Lernenden lesen beide Briefe, versuchen einerseits Anzeichen für die
rarisches Schreiben. Positionen und Modelle zur Literaturdidaktik. Baltmannsweiler 1996. S. 18ff. Deshalb
erscheint es einerseits ratsam, produktive Verfahren stets mit analytischer Betrachtung des jeweiligen literari-
schen Kontexts in Verbindung zu bringen und andererseits ebenso sinnvoll, im Vorfeld genau zu prüfen,
„welche Leerstellen in welcher Phase des Lernprozesses sinnvoll produktiv gefüllt werden können, ohne dass
Schüler dabei in Versuchung geraten, den komplexen literarischen Text mit Hilfe von Schemata der Alltags-
wahrnehmung zu überschreiben“. Vgl. Saupe, Anja: Epische Texte und ihre Didaktik. In: Günter Lan-
ge/Swantje Weinhold (Hrsg.): Grundlagen der Deutschdidaktik. Sprachdidaktik – Mediendidaktik – Litera-
turdidaktik. Hohengehren 52012. S. 269.
101
Vgl. Glattauer, Daniel: Gut gegen Nordwind. Wien 2006. S. 47ff.
102
Ein scharfsinnige und ebenso eigenwillige Beweisführung, die dafür plädiert, dass Werthers Briefe gar
nicht erst abgeschickt worden sind, bietet Siegert, Bernhard: Relais. Geschicke der Literatur als Epoche der
Post. 1715–1913. Berlin 1993. S. 45f. Auch Storz sieht Werthers Briefe als eigentliches Tagebuch an. Vgl.
Storz, Gerhard: Goethe-Vigilien. Oder Versuche in der Kunst, Dichtung zu verstehen. Stuttgart 1953. S. 19ff.
Martin hingegen vermag aufzuzeigen, wie sehr Werthers Briefe von Wilhelms Antworten geprägt sind. Vgl.
Martin, Dieter: Werthers Brieffreund. In: Kim Hee-Ju (Hrsg.): Wechselleben der Weltgegenstände. Beiträge
zu Goethes kunsttheoretischem und literarischem Werk. Heidelberg 2010. S. 197-217. Vgl. ebenso Weymar,
Ilse: Der deutsche Briefroman. Hamburg 1942. S. 69ff.
103
Goethe, Johann Wolfgang: Die Leiden des jungen Werther. In: Ders.: Goethes Werke 6: Romane und
Novellen 1. Hamburger Ausg. in 14 Bd. Hg. v. Erich Trunz. Hamburg 31958. S. 84ff.
22
Art und den Inhalt eines möglichen „wohlmeinenden Rat[es]“104 von Seiten Wilhelms zu
identifizieren und können andererseits eigene Ratschläge in die Textproduktion einbringen.
Die von Gellert und anderen Briefstellern des 18. Jahrhunderts geforderte Nachahmung des
natürlichen Gesprächs im Brief, die diesen in die Nähe des mündlichen Gespräches rückt,
wurde bereits thematisiert. Goethe treibt jene Anleitung des Verfassens von Briefen, zu
schreiben, „wie eine Person im Umgange ohne Zwang sprechen würde“105, sicherlich auf
die Spitze, wenn er seinen Werther sprunghaft, voller elliptischer und aposeopetischer Stil-
figuren, Auslassungen, Exklamamationen, Anakoluthen, im Ganzen also völlig kraftgenia-
lisch die Unsagbarkeit seiner Gefühle ausdrücken und kohärent lose verbundene Denkbe-
wegungen durch Gedankenstriche aneinanderknüpfen lässt. In Glattauers Roman hingegen
sind die E-Mails der beiden Protagonisten – untypischerweise für informelle E-Mail-
Kommunikation – streng an korrekter Rechtschreibung und Interpunktion orientiert und
beinhalten kaum E-Mail-typische lexikalische oder grammatikalische Erscheinungen wie
Emoticons, Fett- oder Kursivdrucke, Inflektive, Abkürzungen oder Akronyme. Bei Kusche
erwecken die Imitationen von E-Mails in Gut gegen Nordwind deshalb „einen künstlichen
bzw. wenig authentischen Eindruck“106. Dennoch thematisieren Emmi und Leo selbst die
Sprache ihrer Korrespondenz, reflektieren diese sowie die medialen Eigenschaften der
Kommunikation via E-Mail107 und verwenden Termini zur Beschreibung eines mündli-
chen Gespräches, wenn sie auf ihre Nachrichten referieren108.
Gerade bei diesen metasprachlichen Verweisen im Romantext lässt sich mit Schülern der
Sekundarstufe II ein guter Einstieg in die Thematik konzeptioneller Mündlichkeit109 hin-
sichtlich textanalytischer Fähigkeiten und eigener Textproduktion finden. Man könnte im
Plenum mediale Eigenschaften der E-Mail sammeln, was der medienaffinen Jugend durch-
104
Goethe: Die Leiden des jungen Werther. S. 85.
105
Gellert: Praktische Abhandlung von dem guten Geschmacke in Briefen. S. 8.
106
Kusche: Der E-Mail-Roman. S. 145.
107
Vgl. Glattauer: Gut gegen Nordwind. S. 171: „[Emmi:] LEO, ICH MÖCHTE JETZT GERN IHRE
STIMME HÖREN. [… Leo:] Und ich würde gerne einmal hören wie sie solche Sätze aussprechen, die Sie in
Ihren E-Mails mit Großbuchstaben schreiben. Schreien Sie die? Schrill? Kreischend?“ oder S. 13: „[Emmi:]
Trauen Sie mir aber ruhig zu, Ihre Ironie zu erkennen und verzichten Sie auf das Smiley!“
108
Vgl. Ebd. S. 18: „Oder unterhalten Sie sich nicht gern mit verheirateten Frauen?“ oder S. 99: „… – jetzt
habe ich den Faden verloren, …“
109
Vgl. hierzu Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium / Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen.
Deutsch. Hg. v. Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen. Düsseldorf
2013. S. 25. „Konzeptionelle Mündlichkeit beim Schreiben“ kann also vor allem im Hinblick auf den Roman
Daniel Glattauers passend im Kontext von „Veränderungstendenzen der Gegenwartssprache“, auch im Hinb-
lick auf „Medieneinflüsse“, thematisiert werden.
23
aus leicht fallen dürfte. Als Kern des Ergebnisses sollten die Asynchronität des Kommuni-
kationsmediums sowie jenes paradoxe Verhältnis von emotionaler Nähe und räumlicher
Distanz festgehalten werden. Gerade in der Liebeskommunikation ist diese Ambivalenz
besonders deutlich110 und dürfte von vielen Schülern ebenso bereits erfahren worden sein.
Die Lernenden könnten also zu Hause eigene E-Mails mit denen von Emmi und Leo ver-
gleichen und Gemeinsamkeiten sowie Unterschiede herausarbeiten. Alternativ – falls keine
E-Mails in der Freizeit geschrieben werden – ließe sich ein solcher Vergleich auch mit
Nachrichten, welche mit anderen (elektronischen) Kommunikationsmedien versendet wer-
den, anstellen.
In der anschließenden Unterrichtssitzung ließe sich dann ein Arbeitsblatt mit Begriffen,
welche die von Koch und Oesterreicher zusammengetragenen Kommunikationsbedingun-
gen und Versprachlichungsstrategien konzeptioneller Mündlichkeit und Schriftlichkeit
beschreiben,111 austeilen, wobei die Schüler die jeweils passenden Begriffe einer simulier-
ten Geschäfts-E-Mail bzw. einer Chat-artigen Dialogpassage aus Gut gegen Nordwind zu-
ordnen müssen. Um nun in die Theorie einzusteigen, lesen die Lernenden einen schülerge-
rechten Einführungstext112, der anschließend besprochen wird, sodass keinerlei Unklarheit
mehr bestehen sollte. Anschließend können die zum Text gehörigen Aufgaben im Unter-
richt oder als Hausaufgabe bearbeitet werden. Alternativ lässt sich vor allem auch Aufgabe
1 erweitern, indem viele weitere Textsorten auf dem Kontinuum von konzeptioneller bzw.
der Dichotomie von medialer Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Plenum gesammelt und
an der der Tafel eingetragen werden. Aufgabe 3 wiederum thematisiert passenderweise
noch einmal das Medium Brief in diesem Kontext. Für das Verständnis des Lernstoffes
muss jedoch aufgrund dessen Komplexität unbedingt genügend Zeit, auch zur Nachbespre-
chung und unter Umständen zur Bearbeitung weiterer vertiefender Aufgaben, eingeplant
werden. Falls Interesse besteht, lässt sich auch ein Exkurs zu konzeptioneller Mündlichkeit
110
Vgl. hierzu Wölfle, Holger: Liebeskommunikation in E-Mails. In: Ziegler/Dürscheid (Hrsg.): Kommuni-
kationsform E-Mail. S. 189.
111
Mögliche Begriffe sind: „Spontaneität“, „Affektivität“, „Expressivität“, „Prozesshaftigkeit“, „Vertrautheit
der Kommunikationspartner“, „geringere Planung“ oder „keine Öffentlichkeit“ bzw. auf der anderen Seite
„Reflektiertheit“, „Objektivität“, Endgültigkeit“, „größere Planung“. „Themenfixierung“ oder „Öffentlich-
keit“. Vgl. Koch/Oesterreicher: Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. S. 23. Je nach Stand der Lerner-
schaft können die Begriffe natürlich auch simplifiziert und umformuliert werden.
112
Hier bietet sich der Informationstext Mündlichkeit und Schriftlichkeit im doppelten Sinne an. Vgl. Droll,
Hansjörg/Betzel, Dirk: Mündlichkeit - Schriftlichkeit. Sprachverwendungsweisen auf ihre situative Ange-
messenheit untersuchen (Sek II) (RAAbits Deutsch/Sprache SEK I/II 60667). Stuttgart 2014. S. 7ff. Der Text
befindet sich in Form eines für den Unterricht modifizierten Scans in Anhang 4. Für weitere Hinweise vgl.
ebd. S. 10. Ein passendes Merkblatt mit dem Titel Im Überblick: Mediale und konzeptionelle Mündlichkeit
und Schriftlichkeit, welches sich zum Verteilen an die Schüler eignet, liegt ebenfalls vor. Vgl. Ebd. S. 11. Die
Grafik des Merkblatts befindet sich in Anhang 5.
24
in der Netzsprache integrieren. Jedoch sollte die Thematik nicht zu lange zu weit von den
Romanen wegführen.
Gerhard Sauders Diktum, „[d]ie Verwendung von Briefen in modernen Romanen erfolgt
ohne besonderen Effekt114“ kann hier insofern revidiert werden, dass man nun neue inter-
mediale Bezüge zu moderneren Kommunikationsmedien herstellen kann, die einerseits zu
formalen und „inhaltliche[n] Radikalisierungen“115 der bekannten Briefromancharakteristi-
113
Schede, Hans-Georg: Johann Wolfgang von Goethe. Die Leiden des jungen Werther (Interpretationshilfe
Deutsch). Freising 2005. S. 51f. Der Text befindet sich in einer für den Unterricht modifizierten Form in
Anhang 6.
114
Sauder, Gerhard: Briefroman. In: Klaus Weimar (Hrsg.): Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft
1: A–G. Berlin/New York 31997. S. 256.
115
Schneider-Özbeck: Daniel Glattauers E-Mail-Roman Gut gegen Nordwind. S. 365.
25
ka führen und diese zudem um neue Aspekte, etwa gleichzeitiges Erfahren sowie neben
„experimentellen Freiräumen zur Selbstinszenierung“116 auch die Schaffung von digitalen
Eigenräumlichkeiten bis hin zu Parallelwelten, erweitern können. Gerade diese Kontinuitä-
ten, aber auch Innovationen, die sich bei epistolarem Erzählen heute im Vergleich zu emp-
findsamer bzw. stürmer-und-drängerischer Briefromanliteratur entdecken lassen, machen
die Behandlung der beiden Romane Die Leiden des jungen Werthers und Gut gegen Nord-
wind so tauglich für den Deutschunterricht.
Neben den oben besprochenen Ansätzen einer Thematisierung der beiden Werke bleiben
noch viele weitere Vergleichs- oder Ergänzungsmöglichkeiten offen. Im Hinblick auf sich
wandelnde Alltagspraktiken ließe sich ein Vergleich des Weltfluchtmotivs in beiden Ro-
manen anstellen. Dabei kann auf Werther als identifikatorischen Leser und die von ihm
rezipierte Literatur (Ossian, Homer und Emilia Galotti), die ihm als Ablenkung dienen
soll,117 eingegangen werden, wodurch die Schüler mit Effekten von Intertextualität vertraut
werden. Oder aber das Schreiben Werthers kann thematisiert werden, 118 ebenso wie Bern-
hards E-Mail an Leo, in dem er die Sucht seiner Ehefrau Emmi nach der E-Mail-Affäre
anklagt, und die generelle Möglichkeit, durch die gesellschaftliche Informatisierung Vir-
tualitäten als Heterotopien im Sinne Foucaults119 zu schaffen.120 So lässt sich auch nach
dem Umgang mit und dem Artikulationsvermögen von Gefühlen, der Stellung gesell-
schaftlicher Konventionen sowie nach dem Gebrauch von Medien in beiden Werken, die
so als sozio- und psychohistorische Quellen fungieren, fragen und mögliche Hypothesen
hinsichtlich historischen Wandels aufstellen.
Eine weitere Vergleichsmöglichkeit stellt der Umstand dar, dass sich Glattauer unter ande-
rem aufgrund der Nachfrage der Leser dazu entschieden hat eine Fortsetzung zu schrei-
ben.121 Ein solches Vorgehen könnte als Aufhänger fruchtbar gemacht werden, um die
116
Pranz, Sebastian: Theatralität digitaler Medien. Eine wissenssoziologische Betrachtung medialisierten
Alltagshandelns. Wiesbaden 2009. S. 119.
117
Pütz sieht die Literatur Werthers in ihrer kompensatorischen Funktion als dessen „Droge“ an. Vgl. Pütz,
Peter: Werthers Leiden an der Literatur. In: William. J. Lillyman (Hrsg.): Goethe‟s Narrative Fiction. The
Irvine Goethe Symposium. Berlin/New York 1983. S. 63.
118
Erhart kommt so zu der Deutung, dass sich Werther ins Schreiben flüchten muss, um sich seiner Befind-
lichkeiten klar zu werden, letztlich aber auch daran zugrunde geht, dass er das Bedürfnis nach Gemeinschaft
außerhalb des Schreibens vollkommen ignoriert. Vgl. Erhart, Walter: Beziehungsexperimente: Goethes
„Werther“ und Wielands „Musarion“. In: Hans Peter Herrmann (Hrsg.): Goethes „Werther“. Kritik und For-
schung. Darmstadt 21993. S. 403-427.
119
Foucault, Michel: Andere Räume. In: Karlheinz Barck et al. (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder
Perspektiven einer anderen Ästhetik. Essais (Reclam-Bibliothek 1352). Leipzig 41992. S. 39ff.
120
Vgl. dazu Dupont: Erzählen im Zeitalter des Internets. S. 196ff.
121
Zahlreiche Leserkommentare finden sich auf http://www.daniel-glattauer.de/die-bucher/gut-gegen-
nordwind/.
26
Thematik rund um Autorschaft und Geniekult im Sturm und Drang zu besprechen. Genau-
so ließe sich nach dem Leserbild fragen, was zur Behandlung der didaktischen Funktion
des fiktiven Herausgebers im Werther und später zur Thematisierung der Herausgeber-
bzw. kompositorischen Instanz in den beiden Romanen führen kann. Auch die Unterschei-
dung zwischen der monologisch-einseitigen Form bei Goethe und der dialogisch-
zweiseitigen Form bei Glattauer gibt Anlass zur Frage nach den Effekten auf Rezeptions-
verhalten, Wirkung und Botschaft der jeweiligen Romanexte.122 Schließlich bieten sich
auch Sprache als Ausdruck von Empfindungen sowie sprachliche Innovationen oder Stil-
mittel als Gegenstand eines Vergleichs beider Werke an, ebenso wie sich unter erzähltheo-
retischen Gesichtspunkten nach der Zeit der Erzählung in den verschiedenen Mitteilungen
unter Berücksichtigung der jeweils verhandelten Thematik oder hinsichtlich den Gescheh-
nissen in der jeweiligen textual actual world beider Romane fragen lässt.
122
Stiening sieht hier den Unterschied zwischen „reflexionsdominierten“ einerseits und „handlungskonstui-
tuitiven“ sprachlichen Mitteilungen andererseits. Vgl. Stiening: Epistolare Subjektivität. S. 29.
27
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6.3 Zeitungsartikel
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ins Leben. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung. Ausgabe vom 07.02.2009. S. Z5 [URL:
http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/rezensionen/belletristik/daniel-glattauer-sie-ma
ilen-wieder-1775253.html (letzter Zugriff am 23. März 2016)].
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15.06.2009. S. 12 [URL: http://www.sueddeutsche.de/kultur/roman-alle-sieben-wellen-
wenn-festplatten-fremdgehen-1.466954 (letzter Zugriff am 23. März 2016)].
Schmidt, Nicola: Gemischte Gefühle: Liebeskummer. In: Süddeutsche Zeitung. Ausgabe vom
19.08.2010. [URL: http://www.sueddeutsche.de/wissen/gemischte-gefuehle-liebeskummer-
der-wert-eines-gebrochenen-herzens-1.989760 (letzter Zugriff am 23. März 2016)].
6.4 Internetquellen
http://www.bravo.de/dr-sommer/stimmungsschwankungen-warum-du-sie-hast-was-dagegen-hilft-
235605.html (letzter Zugriff am 23. März 2016).
7 Anhang
Anhang 1
Ich brachte zur Erwähnung, ob denn die große Wirkung, die der „Werther“ bei seinem Erscheineu
gemacht, wirklich in der Zeit gelegen. „Ich kann mich“, sagte ich, „nicht zu dieser allgemein ver-
breiteten Ansicht bekennen. Der ‚Werther„ hat Epoche gemacht, weil er erschien, nicht weil er in
einer gewissen Zeit erschien. Es liegt in jeder Zeit so viel unausgesprochenes Leiden, so viel heim-
liche Unzufriedenheit und Lebensüberdruß, und in einzelnen Menschen so viele Mißverhältnisse
zur Welt, so viele Conflicte ihrer Natur mit bürgerlichen Einrichtungen, daß der ‚Werther„ Epoche
machen würde und wenn er erst heute erschiene.“
„Sie haben wohl recht“, erwiederte [er], „weßhalb denn auch das Buch auf ein gewisses Jünglings-
alter noch heute wirkt wie damals. […]
Die vielbesprochene Wertherzeit gehört, wenn man es näher betrachtet, freilich nicht dem Gange
der Weltkultur an, sondern dem Lebensgange jedes einzelnen, der mit angeborenem freien Natur-
sinn sich in die beschränkenden Formen einer veralteten Welt finden und schicken lernen soll. Ge-
hindertes Glück, gehemmte Thätigkeit, unbefriedigte Wünsche sind nicht Gebrechen einer beson-
deren Zeit, sondern jedes einzelnen Menschen, und es müßte schlimm sein, wenn nicht jeder ein-
mal in seinem Leben eine Epoche haben sollte, wo ihm der ‚Werther„ käme als wäre er bloß für ihn
geschrieben.“
(Aus: Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens.)
Anhang 2
Die Lebensphase Kindheit wird immer kürzer, das Jugendalter beginnt immer früher. Der Zeit-
punkt der Geschlechtsreife („Pubertät“) hat sich von 1800 bis 2000 um fast fünf Jahre im Lebens-
lauf nach vorne verschoben, wahrscheinlich wegen ernährungs- und umweltbedingter Beschleuni-
gungen der Hormonproduktion. Es gibt heute schon neunjährige Mädchen, die biologisch gesehen
zur Frau geworden sind. Das Durchschnittsalter für das Eintreten der Pubertät liegt bei 11,5 Jahren
für Mädchen, Jungen folgen ein Jahr später.
Anhang 3
Sie randalieren, drohen mit Selbstmord, schreiben wirre Briefe - und sie weinen, weinen, weinen.
Wer unter Liebeskummer leidet, scheint jede Verhältnismäßigkeit weit hinter sich gelassen zu ha-
ben. Seit einigen Jahren können Wissenschaftler bestätigen, was Poeten schon seit Jahrtausenden
wissen: Liebeskummer schmerzt, er macht Menschen krank und verrückt. Er kann einen sogar
umbringen.
[…]
Die Anthropologin Helen Fisher an der Rutgers University und Lucy Brown, Neurowissenschaftle-
rin am Albert Einstein College of Medicine in New York, (ließen) College-Studenten Fotos ihrer
Verflossenen betrachten und legten ausreichend Taschentücher in Reichweite. Der im Hintergrund
arbeitende Kernspintomograph zeichnete in den Gehirnen der jungen Menschen eindeutige Aktivi-
täten auf: Es arbeiteten vor allem die Areale, die für Motivation zuständig sind, aber auch das nach
Erfüllung strebende Dopaminsystem sowie die Inselrinde und der Cortex cingularis anterior
(ACC), der bei physischem Schmerz und Stress eine Rolle spielt. „Liebe wirkt nicht wie ein be-
stimmtes Gefühl, sondern eher wie eine Droge“, erklärt Brown die Ergebnisse, „und entsprechend
zeigten unsere Probanden mit Liebeskummer ähnliche Aktivitätsmuster wie beim Drogenentzug.“
Liebe macht süchtig - und Liebesentzug macht krank.
[…]
Ein gebrochenes Herz kann tödlich sein. Beim Syndrom des gebrochenen Herzens reagiert der
Körper auf ein emotional belastendes Ereignis wie zum Beispiel die Trennung von einem geliebten
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Menschen. Plötzlich wird das Herz mit den Stresshormonen Adrenalin und Noradrenalin über-
schwemmt. Brustschmerzen und Atemnot sind die Folge.
[…]
[Brown] empfiehlt in schweren Fällen den kalten Entzug, also keine Treffen, keine Bilder ansehen,
nicht in Erinnerungen schwelgen. Stattdessen sollten Liebeskranke vor allem für Ablenkung sorgen
und soziale Kontakte pflegen, um Seele und Hormone wieder ins Gleichgewicht zu bringen. In
Browns Studie zeigte sich, dass auch Entlieben ein Lernprozess des Gehirns ist. Je länger die Tren-
nung bei den College-Studenten zurücklag, desto weniger sprachen die für Paarbindung zuständi-
gen Gehirnregionen auf den Anblick des Ex-Partners an. Offenbar haben die Poeten auch in dieser
Hinsicht recht. Die Zeit heilt alle Wunden, auch die der Liebe.
Anhang 4
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Anhang 5
Anhang 6
Der Briefroman berührt sich eng mit dem Privatbrief, der im 18. Jahrhundert, in der Epoche der
Aufklärung und der Empfindsamkeit, eine bis dahin ungekannte und später nie wieder erreichte
Blütezeit erlebte. Man schrieb unermüdlich und las Privatbriefe auch in geselligem Rahmen vor
und reichte sie weiter. Viele solcher Privatbriefe wurden von vornherein für einen größeren Adres-
satenkreis geschrieben und mit genauen Anweisungen versehen, wem sie mitzuteilen seien und
wem nicht. Das zeigt, dass der Privatbrief, entgegen seiner Aura von Spontaneität und Unverstellt-
heit, auch unter Briefeschreibern, die keine Schriftsteller waren, von einem gewissen Kalkül, das
man auch als bewussten Kunstwillen bezeichnen kann, getragen war. Der Briefroman imitierte
diese nicht ganz echte Unmittelbarkeit.
Sowohl das ausufernde Briefeschreiben wie auch die Konjunktur des Briefromans im 18. Jahrhun-
dert sind auf die merkwürdige Verbindung von Einsamkeit und Gesellschaftsbezug zurückzufüh-
ren, die für die gebildeten Menschen jener Zeit eine vorherrschende und geschichtlich neue Erfah-
rung war. Anders als früher kam der Einzelne viel mehr in der Welt herum, geriet in einen vielfäl-
tigeren Bezug zum gesellschaftlichen Ganzen und lief dabei, herausgelöst aus den überschaubaren
Bindungen seiner Vorfahren, ständig Gefahr zu vereinsamen. Das Netz von Briefen, das die Kor-
respondenten, die sich nicht mehr von Angesicht zu Angesicht sprachen, untereinander spannen,
dient unverkennbar dem Bedürfnis, eine verloren gegangene Intimität zurückzugewinnen. Das lässt
sich auch an der Existenz des jungen Goethe deutlich ablesen. Unentschlossen darüber, welche der
Lebensmöglichkeiten, die ihm die Gesellschaft bietet, er realisieren soll, bei aller Bekanntschaft
einsam und in sich zurückgezogen, ergreift er jede sich bietende Möglichkeit, neue intime Brief-
partner und Briefpartnerinnen zu finden, denen gegenüber er sich ganz öffnen und sein Herz aus-
schütten kann.
Aus solchen Zusammenhängen heraus ist es nicht weiter erstaunlich, dass selbst die zahlreichen
zeitgenössischen Briefsteller, also Anleitungen zum Schreiben gelungener Briefe, die Aussprache
von Herzensangelegenheiten und die freie Selbstmitteilung in individueller Sprache als die Haupt-
zwecke von Privatbriefen nannten.
Ich, Maximilian Lippert, ES0228449600, wohnhaft auf dem Taubenacker 19, 40668 Meerbusch,
versichere an Eides Statt durch meine Unterschrift, dass ich die vorstehende Arbeit selbständig und
ohne fremde Hilfe angefertigt und alle Stellen, die ich wörtlich oder annähernd wörtlich aus
Veröffentlichungen entnommen habe, als solche kenntlich gemacht habe, mich auch keiner anderen
als der angegebenen Literatur oder sonstiger Hilfsmittel bedient habe.
Ich versichere an Eides Statt, dass ich die vorgenannten Angaben nach bestem Wissen und
Gewissen gemacht habe und dass die Angaben der Wahrheit entsprechen und ich nichts
verschwiegen habe.
Die Strafbarkeit einer falschen eidesstattlichen Versicherung ist mir bekannt, namentlich die
Strafandrohung gemäß § 156 StGB bis zu drei Jahren Freiheitsstrafe oder Geldstrafe bei
vorsätzlicher Begehung der Tat bzw. gemäß § 163 Abs. 1 StGB bis zu einem Jahr Freiheitsstrafe
oder Geldstrafe bei fahrlässiger Begehung.