Zur Moralität
persönlicher Beziehungen
Herausgegeben von
Axel Honneth und Beate Rössler
In der Liebe, in der Freundschaft oder in der Familie scheinen andere mo-
ralische Regeln zu gelten als in Beziehungen zu Fremden: Offenbar haben
wir andere moralische Erwartungen an Personen, die uns nahestehen, als
an Fremde. Wie aber müßte man eine solche Moral beschreiben? Welche
anderen Rechte oder Pflichten, welche anderen moralischen Einstellungen
herrschen in den persönlichen Beziehungen? Welche moralischen Pflichten
haben Kinder gegenüber ihren Eltern, bzw. was heißt Gerechtigkeit inner-
halb der Familie? Handeln wir in Liebesbeziehungen nur aus Liebe oder
auch aus Pflicht? Mit diesen Fragen ist das Feld umrissen, mit dem sich die
in diesem Band versammelten Artikel beschäftigen. Zum ersten Mal liegt
damit im deutschsprachigen Raum ein Band vor, der sich ausschließlich
der schwierigen Frage einer moralischen Binnenperspektive persönlicher
Beziehungen widmet.
Vorbemerkung 7
Samuel Scheffler
Beziehungen und Verpflichtungen 26
Universitätsbibliothek
I. Liebe
Axel Honneth
Einführung 55
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation J. David Velleman
der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten Liebe als ein moralisches Gefühl 60
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Neil Delaney
suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 1756
Romantische Liebe und Verpflichtung aus Liebe:
Erste Auflage 2008
© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2008
Die Artikulierung eines modernen Ideals 105
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,
des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung
durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. II. Freundschaft
Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form
(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)
Axel Honneth
ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert
oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, Einführung 143
vervielfältigt oder verbreitet werden.
Umschlag nach Entwürfen von Marilyn Friedman
Willy Fleckhaus und Rolf Staudt Freundschaft und moralisches Wachstum 148
Druck: Druckhaus Nomos, Sinzheim
Printed in Germany
I S B N 978-3-518-29356-0 Arne Johan Vetlesen
Freundschaft in der Ära des Individualismus 168
1 2 3 4 5 6 - 13 12 11 10 09 08
III. Eltern und Kinder, Kinder und Eltern Vorbemerkung
Beate Rössler
Einführung 211
Aus vielerlei Gründen hat sich die Arbeit an diesem Buch immer
Diane Jeske wieder verzögert: Doch nun sind wir froh, endlich den schon lan-
Familien, Freunde und besondere Verpflichtungen 215 ge geplanten Sammelband zur Moralität persönlicher Beziehungen
veröffentlichen zu können. Ohne die Bereitschaft des Suhrkamp
James Rachels Verlages, auch größere Zeitverschiebungen geduldig in Kauf zu
Eltern, Kinder und die Moral 254 nehmen, hätten wir unsere Pläne schon frühzeitig aufgeben müs-
sen; daher geht unser erster Dank an Eva Gilmer, die als Lektorin
von seiten des Verlages das Projekt nicht nur über die Jahre hinweg
IV. Die Familie sachkundig betreut, sondern uns auch stets zur "Weiterarbeit ermu-
tigt hat. Karin Wördemann und Käthe Trettin danken wir für ihre
Beate Rössler kundigen und sorgfältigen Ubersetzungen, Gunhild Mewes für ih-
Einführung 279 re souveräne technische Hilfestellung, die uns vor allem am Ende
die Arbeit sehr erleichtert hat.
Pauline Kleingeld undJoel Anderson
Die gerechtigkeitsorientierte Familie: Jenseits der Spannung Axel Honneth und Beate Rössler, im Juni 2008
zwischen Liebe und Gerechtigkeit 283
Bibliographie 343
Nachweise 358
Hinweise zu den Autorinnen und Autoren 360
7
Axel Honneth und Beate Rössler
Einleitung: Von Person zu Person
Zur Moralität persönlicher Beziehungen
I.
9
Beziehungen Motiven folgen, Verpflichtungen empfinden, (mora- meine Hausärztin ist ersetzbar). Man kann solche persönlichen
lische) Gefühle zeigen, die allesamt nicht leicht in das Raster einer Beziehungen deshalb als Person-qua-Person-Beziehungen beschrei-
unparteiischen universalistischen Moral einzupassen sind. Williams ben:4 zu dieser Person hat man eine spezielle Beziehung deshalb,
geht dabei so weit, der unparteiischen - sei es der Kantischen, sei weil sie gerade nicht ersetzbar ist, es geht um sie als diese Person. In
es der utilitaristischen - Moral generell vorzuwerfen, persönlichen Liebe und Freundschaft, aber auch im Verhältnis zu den Eltern, zu
Beziehungen und dem Stellenwert, den diese im je eigenen Leben den eigenen Kindern oder auch zu Geschwistern geht es also um
und für das je eigene Leben besitzen, nicht Rechnung tragen zu genau diese Person-qua-Person-Beziehungen. Das heißt auch, daß
können. Praktische Identität, also auch unsere moralische Identität, die Interaktionen in diesen Person-qua-Person-Beziehungen zumeist
wird konstituiert - jedenfalls auch und vor allem - durch persön- geleitet sind durch ein besonderes persönliches, sorgendes Interesse
liche Beziehungen, in denen wir leben, und persönliche Projekte, an der anderen um ihrer selbst willen, nicht um bestimmter Ziele
die wir verfolgen: Wenn die Kantische Moral den Konflikt, der willen, die erreicht werden müssen. Zumeist - und vielleicht: not-
zwischen praktischer Identität und unparteiischer Moral zumindest wendigerweise - hat man nämlich zu diesen besonderen Personen
entstehen kann, nicht bereit ist zu sehen, dann kann sie umgekehrt auch eine besondere affektive Beziehung: Es sind solche Personen,
ihrerseits nicht einmal erklären, wie wir uns praktische moralische die wir lieben und schätzen, gerade in ihrer Einzigartigkeit für uns,
Identitäten aneignen, die allererst moralisches Denken - auch un- in ihrer Unverwechselbarkeit.5 Aber eine der Fragen, auf die wir
parteiisches moralisches Denken - ermöglichen. Das ist letztlich in den folgenden Überlegungen und Aufsätzen stoßen werden, ist
die Herausforderung an eine unparteiische Moral, wie Williams sie genau die, ob der spezielle moralische Charakter persönlicher Bezie-
formuliert.3 hungen notwendig in der Affektivität der Beziehungen begründet
ist, also in Liebe und Zuneigung zu der anderen Person, oder in
einem anderen Kennzeichen solcher Person-zu-Person-Beziehun-
II. gen, wie zum Beispiel Verpflichtungen, die wir - als Tochter oder
Sohn, als Mutter oder Vater - haben, weil sie einfach konstitutiv für
Wir wollen in dieser Einleitung den Rahmen abstecken, innerhalb solche Beziehungen sind.6
dessen die ganz unterschiedlichen Fragen und Probleme der Moral Wir verfolgen mit diesem Band nicht allein das Interesse, das
persönlicher Beziehungen diskutiert werden, und damit zugleich Verhältnis zwischen der Moralität persönlicher Beziehungen zu
einen Uberblick über die in diesem Band gesammelten Aufsätze den Forderungen der unparteiischen Moral zu klären, und damit
geben. Als persönliche Beziehungen verstehen wir dabei solche den moralischen Status persönlicher Beziehungen. Sondern uns
Beziehungen, die Personen untereinander als genau diese und nur geht es dabei auch um die Frage, welche Rolle diese Problema-
diese Personen haben: nicht aufgrund bestimmter austauschbarer tik im ethischen Selbstverständnis von Personen spielt und spielen
Rollen, die sie erfüllen (wer mein Auto repariert, ist mir egal), also muß, welchen Status diese Beziehungen in unserem (moralischen)
auch nicht aufgrund bestimmter Fähigkeiten, die sie haben (auch
4 So Graham und LaFollette (1988), S.18; vgl. auch Blum (1980); vgl. zu den ver-
3 Vgl. Williams (1984), S.27: »[...] tiefgreifende Bindungen an andere Personen schiedenen Positionen etwa die Einleitung von Graham und LaFollette (1982),
[gehen] das Risiko ein [...], gegen [die unparteiische Sicht] zu verstoßen [...], S. 7 f.; vgl. LaFollette (1997); vgl. auch die Diskussion bei Krebs (2002).
wenn sie überhaupt bestehen; dennoch wird das Leben eines Menschen nicht 5 Der Vorbehalt des »zumeist« ist wichtig deshalb, weil sich die Frage stellen wird,
genug an Substanz oder innerer Überzeugung aufweisen [...], sofern es sie nicht ob etwa Erwachsene gegenüber ihren Eltern spezielle moralische Pflichten haben,
gibt. Das Leben braucht Substanz, wenn überhaupt etwas, einschließlich der An- auch wenn dies eventuell keine affektiven Beziehungen (mehr) sind; vgl. dazu
hänglichkeit an das unparteiische System, Sinn haben soll.« Vgl. dagegen Herman genauer unten Teil III.
(1993), Kap. 2, die sich genau und kritisch mit den Argumenten von Williams 6 Vgl. zu den unterschiedlichen Beziehungen und Modellen gleich noch genauer
auseinandersetzt. Teil I I I und I V ; vgl. auch den Beitrag von Diane Jeske in diesem Band.
102 10
Leben haben und haben sollten, und damit um die Frage, in wel- lität.10 In diesem Rahmen wird die Frage nach speziellen Pflichten
cher Weise dies für die Subjektbildung und die praktische Identität oder Rechten gleichsam als ein Anwendungsproblem allgemeiner
von Personen relevant ist. Was bedeutet es für unser praktisches ethischer Prinzipien behandelt, also als ein Problem der Konkreti-
Selbstverständnis, daß wir, wie Harry Frankfurt schreibt, »not sierung und Kontextualisierung.
always feel that it is necessary or important to be meticulously Zum zweiten geht die gegenwärtige Thematisierung der Moral per-
evenhanded«?7 sönlicher Beziehungen auf die Wiederentdeckung tugendethischer
Ansätze zurück. Dies hängt damit zusammen, daß sich tugendethi-
sche Ansätze - etwa bei Bernard Williams, Philippa Foot, aber auch
III. Iris Murdoch oder Elizabeth Anscombe - geradezu von der Idee her
verstehen lassen, universalistische Regelmoralen als unangemessen
Williams' ethische Kritik an der Kantischen Moral bietet nur eine gegenüber der ethischen Integrität und Identität von Personen, wie
Möglichkeit, die spezifischen moralischen Strukturen persönlicher sie charakteristisch und paradigmatisch in affektiven Beziehungen
Beziehungen systematisch zu diskutieren und historisch zu situie- zum Ausdruck kommen, zu begreifen.11 So schreibt Blum im An-
ren, nur eine Möglichkeit unter anderen, das Konfliktfeld zu be- schluß an Murdoch: »The moral task is not to generate action based
schreiben. Mittlerweile ist diese Problematik der Moralität persön- on universal and impartial principles but to attend and respond to
licher Beziehungen wieder ein geläufiges Thema in ganz verschie- particular persons.«12
denen moralphilosophischen Ansätzen geworden. Der Kantische Wird die Tugendethik von dieser Perspektive der universalismuskri-
Bezugsrahmen ist zwar vielleicht der nächstliegende - nicht nur, tischen Pointe her verstanden, dann kann man hier auch noch eine
weil »wir alle Kantianer« sind,8 sondern auch, weil er es erlaubt, andere moralphilosophische Richtung nennen, die die persönlichen
mögliche Konflikte am leichtesten zu beschreiben. Das Thema der Beziehungen und ihre Moral wieder in den Vordergrund stellt: die
Moralität persönlicher Beziehungen wird heute jedoch sehr viel Kommunitaristen. Sie berufen sich in ihren philosophischen Argu-
breiter diskutiert.9 menten allerdings meist nicht nur auf einen anderen philosophi-
Für dieses neu entstandene Interesse lassen sich leicht drei un- schen Stammvater - nicht nur Aristoteles, sondern auch Hegel - ,
terschiedliche Gründe und drei unterschiedliche Perspektiven und daher auf ein anderes Gegenmodell: nicht die einzelne Person,
ausmachen. Zum einen ist die wiedererwachte Aufmerksamkeit si- ihre Identität, ihre Tugenden, stehen im Vordergrund, sondern die
cherlich dem Aufschwung der sogenannten angewandten Ethik in Person in ihren institutionalisierten Beziehungen zu anderen. Bei-
den letzten Jahrzehnten zu verdanken. In jedem Sammelband, der
in den vergangenen Jahren zu Problemen der angewandten Ethik 10 Vgl. zum Beispiel LaFollette (1997) und (2003); Frey und Wellman (2003); Gra-
erschienen ist, finden sich mittlerweile Kapitel zu speziellen morali- ham und LaFollette (1988); vgl. auch Thomä (2000).
schen Problemen persönlicher Beziehungen: zu Freundschaft, zum 1 1 Vgl. z.B. Murdoch (1970) und (1997); Foot (2004).
Verhältnis zwischen Kindern und Eltern, zu Liebe und zu Sexua- 1 2 Vgl. Velleman, in diesem Band S.63; die handelnde Person wird hier, und das
werden wir noch öfter sehen, in doppelter Weise moralisch problematisch: im
Blick darauf, wer es ist, der moralisch handelt; als welcher besondere Mensch,
7 Frankfurt (2006), S. 35; vgl. Blum (1980) und Vellemans Kritik an Blum im Blick mit besonderen (Williamsschen) Projekten, also einer spezifischen praktischen
auf dessen Murdoch-Interpretation: Velleman, in diesem Band S. 63 f. Identität, er handelt und die Situation wahrnimmt; aus welchen (partikularen,
8 Vgl. Leist (2005), S. 15 ff.; vgl. Rachels (2003), S. 127 f. universalistischen) Gründen also er so handelt. Und, andererseits, im Blick auf
9 Vgl. Blum (2003) und seine These, daß der parteiische Standpunkt der unmit- sein moralisches Gegenüber: Ist es eine Person, zu der er eine besondere, persön-
telbar plausible sei und daß deshalb Kantianer und Utilitaristen immer wieder liche Beziehung hat, oder eine Person wie jede andere moralische Person, zu der er
versuchten, den parteiischen Standpunkt mit dem Kantischen oder utilitaristi- (deshalb) eine unparteiische Beziehung der Achtung hat. Partikularität cuts both
schen zu verbinden, statt gegen die Parteilichkeit selbst zu argumentieren. Eine ways. Dies bezweifelt dann allerdings Velleman, in diesem Band S. 64 ff. Vgl. zum
- vorsichtige - Ausnahme bildet allerdings Rachels, in diesem Band S. 254-276. Problem auch Herman (1993); Annas (2000).
102 13
spielhaft lassen sich hier etwa Sandel und Maclntyre nennen: Für lieh geworden, wie Konflikte situiert, artikuliert und gelöst werden
beide bildet die Familie das Paradigma moralischer Beziehungen sollten.
und Verpflichtungen.13 Es ist also die (familiale oder anders kon- Es lassen sich nun - zumindest heuristisch17 - verschiedene Hin-
stituierte) Gemeinschaft, von deren moralischen Bindungen und sichten ausmachen, in deren Zusammenhang Konflikte zwischen
Pflichten aus die unparteiische und universalistische Moral kriti- einer Moral der Unparteilichkeit und persönlichen Beziehungen
siert wird. Dies hat natürlich Konsequenzen für die Begründung sich artikulieren können. Da ist zunächst die Frage nach den Moti-
moralischen Handelns, denn Referenzpunkt sind nicht mehr die ven moralischen Handelns: Wie der Hinweis auf Williams' Beispiel
universalistischen Prinzipien, sondern die moralische Bindung an zeigt, kann es Situationen geben, in denen wir moralisches Han-
die partikulare Gemeinschaft. Für die Frage nach dem Status der deln aus der Perspektive der ersten Person so beschreiben würden,
Moral persönlicher Beziehungen ist dies evidenterweise zentral. daß es ausschließlich motiviert wird durch die affektive Beziehung
Zum dritten waren es vor allem die feministische Kritik und die zwischen den Personen und nicht durch einen Gedanken an mora-
Ansätze der Fürsorgeethik (»ethics of care«), die die persönlichen lische Pflichten. Aber kann ein solches (erklärendes) Motiv auch als
Beziehungen erneut in den Mittelpunkt der Moralphilosophie (rechtfertigender) Grund zählen?18 Oder ist es in solchen Situatio-
rückten: Motiviert durch die empirischen Befunde der psychologi- nen überhaupt unangemessen, die Frage nach dem Motiv mit der-
schen Forschung, die bei Mädchen und Frauen eine stärker perso- jenigen nach einem moralischen Grund zu verbinden? Die Antwort
nengebundene und weniger prinzipienorientierte Moralität festge- auf diese Fragen wird je nach dem moralphilosophischen Erklä-
stellt hatte (Gilligan14), wurde hier eine normative Ethik (Ruddick, rungsrahmen differieren, den man zugrunde legt, und wir werden
Held 15 ) entworfen, die die liebende Beziehung zwischen Personen später, in den einzelnen Kapiteleinleitungen, genauer sehen, welche
als moralische Beziehung par excellence begreift. So schlägt Virgi- Konsequenzen dies jeweils für die Begründung und Konzeptualisie-
nia Held beispielsweise vor, die Beziehung zwischen Mutter und rung des moralischen Handelns in den je unterschiedlichen persön-
(kleinem) Kind als Paradigma moralischer Beziehungen überhaupt lichen Beziehungen haben wird.
aufzufassen und an dieser fürsorgenden und liebenden Beziehung Eine zweite Hinsicht neben der Frage nach Gründen und Mo-
moralische Prinzipien im ganzen auszurichten.16 Wie kein anderer tiven moralischen Handelns ist die Artikulation des Konfliktes als
moralphilosophischer Ansatz stellt folglich gerade die Fürsorge- einem zwischen allgemeinen, abstrakten Regeln und konkreten,
ethik die Moralität persönlicher Beziehungen ins Zentrum ihrer partikularen Situationen oder Personen. So lautet bekanntlich ein
normativen Überlegungen. zentraler Vorwurf gegenüber der Kantischen Moral, sie könne nur
abstrakte Prinzipien generieren, deshalb jedoch nicht den beson-
deren Situationen oder Personen Rechnung tragen, mit denen wir
IV. es im moralischen Alltag zu tun haben. Hampshire formuliert die-
sen Einwand so: »An abstract morality places a prepared grid upon
Damit haben wir nicht nur einen ersten Überblick, der zeigen conduct and upon a person's activities and interests, and thereafter
kann, innerhalb welcher Traditionen die Problematik der Moral one only tends to see the pieces of his conduct and life as they are
persönlicher Beziehungen wieder relevant geworden ist; vielmehr divided by lines on the grid.«19
sind damit auch unterschiedliche systematische Perspektiven deut-
1 7 Diese Hinsichten sind zwar schwer voneinander zu trennen, sie überschneiden
13 Vgl. Sandel (1982); Maclntyre (2007), Kap. 8. sich, lassen aber dennoch verschiedene Perspektiven auf die Problematik erken-
1 4 Vgl. Gilligan (1988) und die verschiedenen Anschlußdiskussionen, z.B. in Nagl- nen.
Docekal und Pauer-Studer (1993). 18 Zum Problem von Internalismus und Externalismus vgl. Gosepath (2002), den
15 Ruddick (1993); Held (1993). einleitenden Überblick.
16 Held (1993); vgl. dagegen etwa Friedman (2003); Mackenzie und Stoljar (2000). 19 Vgl. Hampshire (1978), S.40; vgl. Herman (1993), S.43ff.
102 15
Für die Möglichkeit, spezifische Elemente persönlicher Bezie- nach speziellen Pflichten fragen, die sich aus den besonderen per-
hungen als moralisch relevant für konkrete Situationen zu begreifen, sönlichen Beziehungen erst ergeben und sich, zumindest prima fa-
wäre dies fatal. Wir zitieren noch einmal Hampshire: »The contrast cie, nicht abbilden lassen auf allgemeine Pflichten, die gegenüber
can be represented as that between noticing a great number and allen und jedem anderen gelten. Solchen besonderen Pflichten kor-
variety of independently variable features of particular situations respondieren besondere Erwartungen - vielleicht sogar: Rechte - ,
on the one hand, and on the other hand, bringing a few, wholly denen wir in persönlichen Beziehungen gerecht werden wollen und
explicit principles to bear upon situations, which have to be sub- müssen und die gegebenenfalls quer stehen zu den moralischen Er-
sumed under the principles.«20 Das bedeutet dann, daß gerade die wartungen, die jeder andere an uns haben kann.
Kennzeichen einer moralischen Situation, die als besonders wichtig Scheffler begreift deshalb den moralischen Status persönlicher
- oder gar konstitutiv - erscheinen, durch das Raster [grid) fallen Beziehungen genau von einer Nichtreduzierbarkeit der persönlichen
und ein moralisches Handeln aufgrund der moralischen Prinzipien Pflichten her.23 Ihm zufolge gehört die Erfahrung solcher speziellen
selbst und allein nicht möglich wäre. persönlichen Pflichten - etwa Freunden gegenüber - konstitutiv zu
Wir werden in den folgenden Aufsätzen auf ganz unterschiedli- unserem moralischen Alltag, zu unserem alltäglichen moralischen
che Positionen im Blick auf diese Problematik stoßen: Rachels etwa Selbstverständnis. Die Frage, die Scheffler kritisch diskutiert, ist
verteidigt so weit wie möglich die Allgemeinheit und Unpartei- dann nur, ob und inwieweit sich solche Verpflichtungen auf ande-
lichkeit der Regeln auch und gerade in persönlichen Beziehungen. re, allgemeiner zu beschreibende reduzieren lassen; seine Position
Denn eine Frage wie die seine: »Haben Eltern gegenüber ihren eige- ist dann - wenig überraschend - antireduktionistisch.
nen Kindern Verpflichtungen, die sie gegenüber anderen Kindern Doch auch hier lassen sich wiederum in der Vielzahl der mo-
nicht haben?«, stellt sich überhaupt nur, wenn von der vorrangigen ralphilosophischen Erklärungsrahmen die involvierten Fragen und
Plausibilität eines allgemeinen moralischen »Rasters« ausgegangen Probleme unterschiedlich artikulieren: Sind Pflichten abhängig von
wird. Anders als bei Hampshire liegt dann die Begründungslast bei Gefallen, die einem getan wurden?24 Oder erfüllt man als Tochter
der Person, die andere Aspekte einer Situation für moralisch rele- Pflichten, weil man weiß, daß sie zur Rolle einer Tochter gehören?25
vant hält als diejenigen, die durch unparteiische Prinzipien erfaßt Oder tut man dies aus Liebe, und muß man es nur genau dann
werden.21 tun, wenn tatsächlich eine liebevolle Beziehung zwischen Eltern
Velleman dagegen argumentiert vom entgegengesetzten Stand- und Kindern besteht? Hat das Faktum familialer Beziehungen als
punkt aus: Moralische Verpflichtungen oder Verantwortlichkeiten solches schon moralische Bedeutung?26
in persönlichen Beziehungen können deshalb kein Argument gegen Was hier zunächst nur als Hinweis steht - und später dann hof-
die Allgemeinheit moralischer Regeln sein, weil sich in den persön- fentlich genauer deutlich werden wird - , ist, daß mit der Frage
lichen affektiven Beziehungen immer schon und allererst das all-
gemeine moralische Gefühl der Achtung konkretisiert.22 Auch auf 23 Vgl. Scheffler, in diesem Band S. 26-51.
24 Vgl. etwa Jeske, in diesem Band, S. 215-253, zur Frage, was Kindern ihren Eltern
diese Differenzen werden wir in den Einleitungen zu den speziellen
schulden, und dabei auch zu dem Problem, auf welche Weise man diese Frage am
Problemfeldern noch einmal genauer zu sprechen kommen. besten stellt.
Am deutlichsten werden die möglichen Konflikte jedoch, wenn 25 Mclntyre (2007), Kap. 8, und auf andere - überzeugendere - Weise Hardimon
wir noch eine dritte Hinsicht des Verhältnisses zwischen der Mora- (I994)-
lität persönlicher Beziehungen und den moralischen Beziehungen 26 Inwieweit die gemeinsame Geschichte von Personen in solchen Beziehungen als
allen anderen gegenüber in den Blick nehmen: wenn wir nämlich Explikation des besonderen Charakters dieser Beziehungen dienen kann und da-
mit auch als Begründung — oder jedenfalls doch Referenzpunkt - für den besonde-
20 Hampshire (1978), S. 28 ff.
ren moralischen Charakter, wird unten noch Thema sein, vgl. die Abschnitte I I und
21 Vgl. Rachels, in diesem Band S 254-276. I V ; vgl. auch Singer und Singer (2005), dort vor allem den erhellenden Textaus-
22 Vgl. Velleman, in diesem Band S. 60-104. schnitt von Ambrose Bierce (2005), S-97ff.; vgl. auch Munro (1998), S. 102ff.
16 17
nach speziellen moralischen Pflichten oder Rechten in persönlichen Das erste Modell ist das eines »optimistischen Kantianers«:27 Lie-
Beziehungen die Sprache von Pflichten und Rechten selbst proble- be und Zuneigung sind moralische Gefühle gerade deshalb, weil
matisch wird. Denn eines der Themen der folgenden Artikel wird sie Personen um ihrer Moralität willen gelten. Deshalb kann es
immer wieder sein, welches die angemessenen Begriffe sind, mit auch nicht sinnvollerweise zu einem Konflikt zwischen Kantischer
denen wir diese spezifischen Verpflichtungen beschreiben sollten, Moral und persönlichen Beziehungen kommen: Liebe ist nur eine
welches der moralische Bezugspunkt ist, auf den wir uns beziehen besondere Form von Achtung. In diesem Band ist es, das haben
sollten: Tausch von wechselseitigen Gefallen und Entgegenkom- wir schon gesehen, Velleman, der die Position dieses optimistischen
men? Erfüllung von Pflichten und Geltendmachen von Rechten? Kantianers verteidigt: Liebe als moralisches Gefühl kann sinnvol-
Oder der (moralische) Bezug auf eine gemeinsame Geschichte, die lerweise gar nicht im Widerspruch zu anderen moralischen Gefüh-
als solche Verpflichtungen mit sich bringt? len stehen, weil sie als Konkretisierung von Achtung und Respekt
zu verstehen ist. Das Mißverständnis der Kant-Kritiker läge dann
darin, nicht die Kantische Achtung, sondern die Liebe falsch ver-
V. standen zu haben.
Williams bezeichnet diese - eigentlich doppelseitige - Idee, daß
Bisher ist, in verschiedenen Passagen, immer wieder implizit zur wir Personen um ihrer Moralität willen lieben und in dieser Liebe
Sprache gekommen, was wir in diesem und dem folgenden Ab- oder affektiven Beziehung damit zugleich - dies ist die andere Seite -
schnitt explizit thematisieren werden. Deshalb wollen wir noch ein- auf besondere Weise moralisch sind, als »self-righteous absurdity«.
mal einen Schritt zurücktreten von den unmittelbaren Problemen. Denn natürlich lieben wir den anderen immer (auch), wie es in dem
Man kann dann nämlich unschwer sehen, daß sich die Problematik Gedicht von Yeats heißt, um seines »blonden Haars« und nicht um
der Moralität persönlicher Beziehungen unter zwei grundsätzlich seiner selbst willen.28 Moralistisch und phänomenal absurd wäre es,
verschiedenen Perspektiven betrachten läßt. Zum einen können wir so Williams, dies bestreiten und moralphilosophisch begründen zu
nach dem Verhältnis der Moral persönlicher Beziehungen einerseits wollen. Hier muß man auch noch auf ein Problem verweisen, das
und der (unparteiischen) Moral gegenüber (allen) anderen ande- beispielsweise Blum diskutiert, denn wenn Liebe und Zuneigung
rerseits fragen; im Zentrum steht hier das Verhältnis zwischen dem von sich aus moralische Gefühle wären, wie können unmoralische
»Innen« der persönlichen Beziehungen und dem »Außen« der Mo- Menschen dann befreundet sein? Dies ist jedenfalls dann eine inter-
ral gegenüber allen anderen. Zum anderen läßt sich die Frage nach essante Frage, wenn man das Problem nicht einfach begrifflich lö-
der »Binnenmoral« der persönlichen Beziehungen selbst stellen: sen will.29 Gegen einen optimistischen Kantianer könnte man dann
Haben wir spezielle moralische Pflichten, Erwartungen, Rechte, einwenden, daß er wahrscheinlich Schwierigkeiten hätte, die engen
Motive, Rollen als Partnerin, Mutter, Sohn, Schwester, Freund? familialen Beziehungen in La Cosa Nostra und auch, a fortiori, die
Schauen wir zunächst auf die erste Frage. Wiederum im Anschluß Liebe Eva Brauns zu beschreiben.
an Bernard Williams lassen sich drei Modelle solcher persönlichen Dieses erste Modell wird nicht nur in einer Kantischen, sondern
Beziehungen unterscheiden, die auf die eine oder andere Weise auch in einer utilitaristischen Tradition verteidigt, allerdings mit ei-
auch schon in den vorherigen Abschnitten thematisiert wurden: ner anderen Stoßrichtung: Wir hatten schon gesehen, daß Rachels
Persönliche oder Liebesbeziehungen sind eine Form oder Ausdruck etwa deshalb keinen Konflikt zwischen persönlichen Beziehungen
von moralischen Beziehungen; persönliche Beziehungen sind im- und Beziehungen zu allen anderen konzeptualisieren will, weil für
mer schon in moralischen Beziehungen verankert; und schließlich
27 Williams (1984), S.25.
könnten wir sagen, daß persönliche Beziehungen notwendig kon-
28 Vgl. W. Yeats, »For Ann Gregory«, in: Yeats (1978), S. 240; auch Velleman verweist
flikthaft sind mit und daher als quer stehend zu moralischen Bezie- auf dieses Gedicht, vgl. unten, Anmerkung 75, S. 90.
hungen verstanden werden müssen. 29 Blum (2003), S. 515.
16 19
ihn die unparteiische Perspektive vorrangig bleibt. Persönliche Ver- VI.
pflichtungen können nur so weit — und so tief — gehen, wie sie sich
(utilitaristisch) begründet mit den unparteiischen Pflichten verein- Wenn wir nun genauer auf die je unterschiedliche moralische »Bin-
baren lassen. nenstruktur« persönlicher Beziehungen schauen, läßt sich als erste
Schon das zweite Modell setzt demgegenüber schwächer an: grundsätzliche Unterscheidung die zwischen »freiwilligen« und
Persönliche Beziehungen, in Liebe oder Freundschaft, setzen zwar »nichtfreiwilligen« persönlichen Beziehungen vorschlagen. Als ein
voraus, daß wir zu den geliebten Personen moralische Beziehungen Beispiel für freiwillige persönliche Beziehungen oder, genauer: frei-
wie zu allen anderen Menschen unterhalten, aber sie qualifizieren willig eingegangene persönliche Beziehungen, lassen sich sicherlich
sich als persönliche affektive Beziehungen nicht durch ihre Mora- Freundschaften begreifen. Sogenannte nichtfreiwillige Beziehungen
lität, sondern eben durch die besondere Zuneigung, die als solche hingegen sind solche zwischen Eltern und Kindern, aber auch zwi-
nicht notwendig einen moralischen Gehalt haben muß. Besonde- schen Geschwistern, also im engen Sinn familiale Beziehungen.
re Gefühle der Affektivität in Liebe und Freundschaft sind jedoch Liebesbeziehungen zwischen erwachsenen Partnern und Partne-
ohne eine Aneignung allgemeiner moralischer Einstellungen gar rinnen bilden dabei unseres Erachtens einen Sonderfall, denn sie
nicht denkbar, schon deshalb, weil Liebe und Zuneigung zu ande- sind einerseits natürlich freiwillig - wenn allerdings auch schon der
ren in vielen Hinsichten dieselben Charakteristika haben wie die Gedanke, daß man sich >autonom< verliebt, merkwürdig anmu-
moralische Einstellung zu unbestimmten anderen — wenn es auch tet - , andererseits geht man in Liebesbeziehungen zumeist solche
eventuell zu Konflikten zwischen beiden kommen kann. Williams langfristigen Verpflichtungen und Verantwortlichkeiten ein, daß
hält auch dies phänomenologisch - und, so darf man vermuten: das Selbstverständnis der Partner oder Partnerinnen eher dem von
normativ - für falsch: Man kann im besonderen Fall Versprechen familialen Beziehungen ähnelt als dem von Freundschaften. Natür-
halten, Verpflichtungen eingehen und sich an sie halten, sich also lich sind diese Beziehungen freiwillig in dem Sinn, daß sie nicht
gegenüber einer oder mehreren Personen moralisch verhalten - und biologisch sind - aber das zeigt vielleicht eher, daß die biologische
folglich auch wissen, was es bedeutet, sich moralisch zu verhalten Beziehung als solche weniger relevant ist für die Frage des spezifi-
ohne dies allen anderen gegenüber ebenfalls zu tun, ja, ohne auch schen (nicht nur moralischen) Charakters einer Beziehung, als daß
nur die Einstellung zu haben, daß es geboten ist, dies gegenüber diese Form verbindlicher partnerschaftlicher Beziehungen weniger
allen anderen zu tun. verpflichtend wäre.
Deshalb geht das dritte Modell darüber noch hinaus, denn es Im übrigen, und das werden wir gleich noch genauer sehen,
nimmt seinen Ausgang von der Idee, daß ein notwendiger Konflikt heißt dies natürlich keineswegs, daß Freundschaften, nur weil sie
zwischen der Moralität persönlicher Beziehungen und derjenigen freiwillig eingegangene Beziehungen sind, weniger wichtig wären
allen anderen gegenüber besteht. Was dies bedeutet und wie dieser als Verwandtschaftsbeziehungen, im Gegenteil.30 Der Unterschied
Konflikt beschrieben werden kann, haben wir zuvor, in der Skizze zwischen freiwillig/nichtfreiwillig geht natürlich nicht mit einer
von Williams' Beispiel, schon gesehen. Der unparteiische Stand- Priorisierung in dem Sinn einher, daß nichtfreiwillige Beziehun-
punkt der Moral steht nicht nur quer zu affektiven persönlichen gen aufgrund ihrer Qualität für Personen wichtiger, stärker oder
Beziehungen — diese stellen jenen gegebenenfalls sogar radikal in affektiver wären, auch wenn man sich wahrscheinlich aus engen
Frage sondern, mehr noch, die jeweiligen Einstellungen, Ge- Freundschaften zumeist leichter und mit weniger verstörenden Fol-
fühle, Denkweisen, Handlungsorientierungen können sich ebenso gen für die eigene Identität löst als aus Liebesbeziehungen.31 Vor
radikal unterscheiden. allem in den hoch individualisierten spätmodernen Gesellschaften,
20 21
so etwa Friedman, sind Freundschaften wahrscheinlich die wichtig- der Tatsache, daß ich das biologische Kind meiner Eltern bin,
sten Beziehungen, die Personen in ihrem Leben eingehen: Häufig schon deshalb besondere moralische Pflichten ihnen gegenüber
sind es Freundschaften und nicht familiale Beziehungen, die uns habe - welche Pflichten dies genau sind, ist dann Gegenstand wei-
am intensivsten und sogar am längsten begleiten.32 terer Diskussionen. Das bloße Faktum familialer (als biologischer)
Deshalb schlägt Blum zum Beispiel eine andere Klassifizierung Beziehungen hat dann als solches moralische Bedeutung.35
vor: Er unterscheidet zwischen kategorialen und qualitativen Bezie- Nun weist jedoch beispielsweise Hardimon darauf hin, daß in
hungen, wobei kategoriale Beziehungen freiwillige und unfreiwilli- diesem Kontext die Alternative zwischen (biologischem oder an-
ge Beziehungen umfassen, unabhängig jedoch von ihrer affektiven ders begründetem) »Zwang« und »Autonomie« offenbar nicht aus-
Qualität. Nicht alle kategorialen persönlichen Beziehungen sind reichend differenziert ist.36 »Zwang« im Sinne der Unfreiwilligkeit
deshalb auch qualitative, also affektiv besetzte.33 Besondere mora- familialer Beziehungen und »Autonomie« im Sinne der freiwillig
lische Pflichten kann es auch in kategorialen Beziehungen geben, eingegangenen Beziehungen in Freundschaften oder romantischer
doch sind diese Beziehungen, nicht zuletzt was ihren moralischen Liebe, diese Gegenüberstellung scheint weder der moralischen (und
Charakter angeht, defizient, wenn sie nicht zugleich qualitativ sind psychologischen) Komplexität nichtfreiwilliger Beziehungen, etwa
- denn die Motivation, mit der die moralischen Verantwortlichkei- derjenigen zwischen (erwachsenen) Kindern und ihren Eltern,
ten wahrgenommen werden, ist dann eine andere. noch auch der Komplexität innerhalb freiwillig eingegangener
Wenn wir nun die Frage stellen, wie sich die besondere Moralität Liebesbeziehungen gerecht werden zu können. Hardimon plädiert
dieser je unterschiedlichen persönlichen Beziehungen begründen deshalb für eine Beschreibung der jeweiligen moralischen Pflichten
und beschreiben läßt, dann, das haben wir mittlerweile mehrfach und Rechte in Begriffen, die dem Konzept der »Rolle« verpflichtet
gesehen, finden sich in der Literatur verschiedene Versionen des sind. Mit diesem Konzept verbindet Hardimon zum einen die Idee,
Modells, in dem moralische Verpflichtungen und Verantwortlich- daß es immer schon Konventionen, Traditionen, gemeinsame Ge-
keiten durch einen Bezug auf die den persönlichen Beziehungen schichten sind, die (mitbestimmen, wie wir uns als Tochter, als Va-
zugrundeliegende Zuneigung oder Liebe begründet sind. Nichtre- ter, als Freund oder Mutter verstehen. Moralisch bedeutsam werden
duzierbare Verpflichtungen entstehen dann und genau dann, wenn diese Rollen und die implizierten Handlungsmuster, Erwartungen
eine affektive Beziehung vorliegt - mit je unterschiedlichen Kon- und Verpflichtungen jedoch nur dann und deshalb, weil und inso-
kretisierungen und Gewichtungen dieser Rechte und Verpflichtun- weit wir diese Rollen auch »reflexiv akzeptieren« können. Die Rolle
gen je nach Art der Beziehung. Auch erwachsene Kinder schulden selbst kann nur explikativen Charakter haben, der Verweis auf sie
ihren Eltern nur dann etwas, wenn sie noch affektiv auf ihre Eltern in einer moralischen Begründung muß jeweils reflektiert, akzeptiert
und diese auf sie bezogen sind. Das moralische Muster in familia- und deshalb begründet sein.
len ebenso wie in freundschaftlichen Beziehungen folgt denselben Um abschließend noch einmal ein Beispiel zur Illustration heran-
Regeln, und zwar - bis zu einem gewissen Grade - den Regeln der zuziehen, wollen wir auf einen Fall verweisen, den Jeske beschreibt:
Freiwilligkeit.34 In dem Film Music Box erfährt die amerikanische Protagonistin
Diese Position ist deutlich abgegrenzt von derjenigen, die einen Ann, daß ihr Vater, ein ungarischer Immigrant, in den letzten Mo-
kategorialen Unterschied macht zwischen einerseits familialen als naten des Zweiten Weltkriegs an grausamen Verbrechen gegenüber
biologischen und andererseits allen anderen persönlichen Bezie- der ungarischen Bevölkerung beteiligt war. Sie konfrontiert ihn
hungen. Dieses biologische Modell argumentiert, daß ich aufgrund mit den Beweisen, woraufhin er nicht nur keinerlei Schuldgefühle
32 Vgl. Friedman und Vetlesen, in diesem Band S. 148-167 und S. 168-207. 35 Vgl. Jeskes Diskussion in diesem Band S. 215-253; vgl. auch Frankfurt (2006),
33 Und umgekehrt: vgl. Blum (2003), S. 512 ff. S.39.
34 Dies gilt natürlich nicht für die Pflichten, die Eltern gegenüber ihren nicht voll- 36 Vgl. Hardimon (1994); vgl. allerdings die kritische Diskussion von Hardimon bei
jährigen Kindern haben; dafür trägt aber schon das Recht Sorge. Jeske, in diesem Band.
102 2 2
zeigt, sondern auch noch stolz zu sein scheint auf seine unmensch- Zum zweiten ist auf indirektem Wege sicherlich schon deutlich
lichen Taten. Sie zeigt ihn bei der Polizei an. Stellen wir uns vor, geworden, daß es bei der Frage nach der Moralität persönlicher
so Jeske, daß ihr Vater sie nach Absitzen der Gefängnisstrafe um Beziehungen nicht einfach um eines unter anderen ethischen Pro-
Hilfe bittet - selbstverständlich, so Jeske, hat Ann keinerlei mo- blemen geht. Denn mit dieser Frage steht der Modus des moralischen
ralische Pflichten gegenüber ihrem Vater, weil aus der biologischen Denkens selbst zur Diskussion. Raimond Gaita verweist, im An-
Beziehung solche Pflichten nicht folgen können und weil er sich ihr schluß an Wittgenstein, darauf, daß wir in der Moralphilosophie
als jemand gezeigt hat, zu dem sie keinerlei affektive Beziehungen häufig in die Irre geführt werden durch unseren »limited sense of
mehr haben kann.37 the elements out of which a philosophical account can be built«.
Natürlich kann man hier mit Jeske in der Schlußfolgerung über- Wir gehen zum einen davon aus, daß wir wissen, was der springende
einstimmen: Ann schuldet ihrem Vater nichts. Aber warum scheint moralische Punkt ist, wenn wir über ein moralisches Problem nach-
doch ein Unterschied zu bestehen zwischen dem Fall, in dem Ann denken - Rechte und Pflichten, Schulden und Versprechen. Und
von, sagen wir, ihrem gut bekannten Nachbarn dasselbe erfährt, ihn wir gehen, zum zweiten, davon aus, »that there is an assumption
anzeigt und ihm später jede Hilfe verweigert, und dem Fall ihres about what belongs to the surface of any such account and what lies
Vaters? Läßt sich dieser Unterschied reduzieren auf die - moralisch deeper and is the essence of the matter«.38 Ebendiese Frage, so kann
dann nicht relevante - Psychologie einer Vater-Tochter-Beziehung? man sagen, gewinnt in unserem Zusammenhang eine besondere
Oder würde man eher sagen, daß in der moralischen Begründung Bedeutung: Ist in persönlichen Beziehungen, etwa zwischen Eltern
dafür, weshalb sie ihrem Vater nichts schuldet, auch der Verweis auf und Kindern, die affektive Beziehung nur die Oberfläche, und bil-
eine (sehr affektive) gemeinsame Geschichte zwischen Vater und den besondere prinzipielle Pflichten — moralische Schulden — das
Tochter eine Rolle spielt, der Verrat an dieser gemeinsamen Ge- Wesen? Oder ist dies gerade ein Mißverständnis, wenn es um die
schichte, der Verweis darauf, daß er gerade ihr, seiner Tochter, diese Frage der Moralität geht? Was genau konstituiert hier die morali-
Verbrechen nicht hätte verschweigen dürfen? sche Bedeutung? Wie relevant sind gemeinsame Geschichten, Bio-
Bevor wir auch diese Probleme in den Kapiteleinführungen vertie- graphien, sich damit verbindende Erwartungen? Die grundlegende
fen, wollen wir hier zum Abschluß unseres Überblicks auf zwei The- Frage nach den »elements out of which a philosophical account can
men verweisen, deren Bedeutung im Vorangegangenen immer wie- be built« - als Frage nach den moralisch relevanten und konstituti-
der - nicht nur in den theoretischen Erwägungen, sondern auch in ven Aspekten persönlicher Beziehungen - muß deshalb als eine der
den Beispielen, von Williams' Schiffsbrüchigem bis zu Jeskes Tochter Leitfragen der vorliegenden Beiträge begriffen werden.
- deutlich wurde und die Leitmotive der folgenden Aufsätze bilden.
Zum einen betrifft dies den Zusammenhang zwischen der Mora-
lität persönlicher Beziehungen und der praktischen Identität derer,
die in diesen Beziehungen leben und handeln. Denn persönliche
Beziehungen sind nicht nur konstitutiv für die Ausbildung gelun-
gener praktischer Identitäten in familialen Verhältnissen; sie bleiben
vielmehr auch konstitutiv für unser praktisches Selbstverhältnis, für
die Frage, wer wir sind und wie wir leben wollen. Damit berührt die
Frage nach der Moralität persönlicher Beziehungen unmittelbar die
nach der Bedeutung von individueller Autonomie und gelungenem
Leben.
16
25
Samuel Schejfler der Tatsache, daß wir beide Angehörige einer bestimmten Grup-
Beziehungen und Verpflichtungen 1 pe sind. Wir können beispielsweise zur selben Gemeinde gehören
oder sind Bürger desselben Landes oder gehören derselben Nati-
on an oder demselben Volk. In einigen dieser Fälle sind wir uns
möglicherweise nie begegnet oder hatten nie eine Gelegenheit zur
Wie kommt es, daß wir gegenüber einigen Menschen Verpflich- Interaktion mit der Person, die als Nutznießer der Verpflichtung
tungen haben, die wir gegenüber anderen Menschen nicht haben? angesehen wird. Trotzdem können wir überzeugt sein, daß unsere
In unserem Alltagsleben beruft man sich auf ganz unterschiedliche geteilte Gruppenzugehörigkeit ausreicht, um eine solche Verpflich-
Überlegungen, um diese »besonderen« Verpflichtungen zu erklä- tung zu erzeugen.
ren. Oft führen wir irgendeine vorausgegangene Interaktion mit Gerade in Fällen dieser Art können Ansprüche besonderer Ver-
der Person an, der wir die Verpflichtung schulden. Möglicherweise pflichtung natürlich auch umstritten sein. Während manche Men-
haben wir dieser Person ein Versprechen gegeben oder eine Verein- schen zum Beispiel deutlich spüren, daß sie gegenüber den Ange-
barung mit ihr getroffen. Oder wir fühlen uns vielleicht in ihrer hörigen ihrer nationalen oder kulturellen Gruppe besondere Ver-
Schuld, weil sie einmal etwas für uns getan hat. Vielleicht haben pflichtungen haben, verspüren andere Menschen ebenso deutlich,
wir ihr aber auch in irgendeiner Weise geschadet und fühlen uns daß sie keine haben. Dennoch ist es eine bekannte Tatsache, daß
deshalb zur Wiedergutmachung verpflichtet. In allen diesen Fällen solche Bindungen oft als ein Grund für besondere Verpflichtungen
haben entweder wir oder der »Nutznießer« der Verpflichtung etwas gesehen werden. Es würde uns sogar sehr schwerfallen, irgendeinen
getan, was als Grund für die Verpflichtung angeführt wird. Typ menschlicher Beziehung zu finden, dem die Menschen Wert
Doch nicht alle unsere Erklärungen nehmen diese Form an. oder Bedeutung beigemessen haben, der aber niemals als Quelle
Manchmal erläutern wir besondere Verpflichtungen nicht, in- solcher Verpflichtungen betrachtet wurde. Offenbar sind Men-
dem wir irgendeine bestimmte Interaktion zwischen uns und dem schen immer dann, wenn sie eine zwischenmenschliche Beziehung
Nutznießer anfuhren, sondern indem wir auf das Wesen unserer schätzen, geneigt, diese auch als eine Quelle besonderer Pflichten
Beziehung zu dieser Person verweisen. Wir hätten, sagen wir et- oder Verpflichtungen anzusehen.2
wa, besondere Pflichten gegenüber einer Person, weil sie unsere Obwohl wir tatsächlich unsere Beziehungen zu anderen Men-
Schwester oder ein Freund oder unsere Nachbarin ist. Auf diese schen anfuhren, um zu erklären, warum wir ihnen gegenüber
Weise werden viele verschiedene Beziehungstypen angeführt. Die besondere Verpflichtungen haben, haben sich viele Philosophen
Person ist möglicherweise keine Verwandte, sondern eine Kollegin, gesträubt, diese Angaben für bare Münze zu nehmen. Sie vermute-
kein Freund, sondern ein Teamkamerad, keine Nachbarin, sondern ten vielmehr, daß die Verpflichtungen, die wir so wahrnehmen, als
eine Klientin. Manchmal besteht die Beziehung vielleicht nur in entstünden sie aus besonderen Beziehungen, in Wirklichkeit aus
i Es handelt sich hier um meinen stark überarbeiteten Beitrag zum Eleventh Jeru-
eigenständigen Interaktionen hervorgehen, die im Zusammenhang
salem »Philosophical Encounter« im Dezember 1995. Frühere Fassungen dieses mit diesen Beziehungen auftreten. Demnach könnte man bei-
Aufsatzes wurden auch beim »NYU Colloquium in Law, Philosophy, and Political spielsweise sagen, daß sich einige besondere Verpflichtungen, wie
Theory«, dem »Columbia Legal Theory Workshop«, in philosophischen Kollo- die wechselseitigen Pflichten von Eheleuten, sich aus Versprechen
quien der Arizona State University, Stanford, der University of Miami und der oder Zusicherungen der Beteiligten untereinander ergeben. Ande-
University of Michigan sowie im Herbst 1995 in meinem Graduiertenseminar in
re Verpflichtungen, wie die von Kindern gegenüber ihren Eltern,
Berkeley vorgetragen. Allen Beteiligten danke ich für die äußerst hilfreiche Diskus-
sion. Besonderen Dank möchte ich Yael Tamir, meiner Kommentatorin in Jeru-
könnten aufgrund der Versorgung einer Seite mit Gütern durch die
salem, sowie Christopher Kutz, Jeff McMahan, Daniel Statman, Wai-hung Wong 2 Ich stütze mich hier und an anderen Stellen der nächsten Seiten auf meine Erör-
und einem Gutachter von Philosophy and Public Affairs für wertvolle schriftliche
terung der besonderen Verpflichtungen in den Aufsätzen Scheffler (1995a, 1995b,
Kommentare aussprechen.
1997)-
102 27
andere Seite entstehen. Und in Fällen wie den bereits erwähnten, in Im Hinblick auf unsere gewöhnlichen moralischen Überzeu-
denen zwei Menschen Mitglieder derselben Gruppe sind, zwischen gungen werden die verschiedenen Versionen des Voluntarismus in
den Betreffenden jedoch keinerlei Interaktion stattgefunden hat, Abhängigkeit davon, welche Typen freiwilliger Handlung nach ih-
ließe sich bestreiten, daß diese Menschen tatsächlich irgendwelche rem Dafürhalten imstande sind, besondere Verpflichtungen zu er-
besonderen Verpflichtungen gegeneinander haben. Wie bereits zeugen, mehr oder weniger revisionistisch sein. Voluntaristen zum
erwähnt, neigt man ohnehin dazu, Ansprüche auf eine besondere Beispiel, die meinen, daß besondere Verpflichtungen nur durch
Verpflichtung in solchen Fällen kontrovers zu sehen, und man mag eine ausdrückliche Zusicherung oder die freiwillige Etablierung ei-
es für einen Vorzug dieser Position halten, daß sie gerade bei den ner Beziehung erworben werden können, könnten bestreiten, daß
Fällen, die höchst umstritten sind, Grund zur Skepsis sieht. Kinder solche Verpflichtungen gegenüber ihren Eltern haben. Die-
Die Auffassung, daß Pflichten, die aus besonderen Beziehungen jenigen aber, die glauben, die freiwillige Annahme von Vorteilen
hervorgehen, stets auf Pflichten zurückgeführt werden können, könne ebenfalls zu besonderen Verpflichtungen führen, könnten
die sich aus eigenständigen Interaktionen ergeben, ist zweifellos das anders sehen, zumindest sofern sie der Ansicht sind, es sei sinn-
mit der Auffassung vereinbar, daß die betreffenden Interaktionen voll, Kinder als freiwillige Empfänger von Gaben ihrer Eltern zu
und folglich die betreffenden Pflichten grundlegend verschieden betrachten. Einig sind sich jedoch alle Voluntaristen darin, daß die
sein können. Manche Philosophen sehen es in der Tat so, daß die bloße Tatsache, zu einer anderen Person in einer gewissen Bezie-
Beziehungen, die allem Anschein nach besondere Verpflichtungen hung zu stehen, für sich genommen noch nicht zu einer besonderen
erzeugen, dermaßen heterogen sind, daß die fraglichen Verpflich- Verpflichtung gegenüber dieser Person führen kann. Um eine solche
tungen unmöglich nur einen einzigen Grund haben können. Ein Verpflichtung zu haben, muß man irgendeine freiwillige Handlung
sehr starker Druck in Richtung auf eine reduktionistische Position vollzogen haben, die den Grund der Verpflichtung bildet.
ging jedoch von denjenigen aus, die glauben, jede echte besonde- Voluntaristen sind sensibel für die Tatsache, daß es aufwendig
re Verpflichtung müsse auf Zustimmung oder irgendeine andere und schwer sein kann, besondere Verpflichtungen zu erfüllen, und
freiwillige Handlung gegründet sein. Diese Voluntaristen, wie wir daß sie deshalb sehr belastend für diejenigen sind, die sie inneha-
sie nennen können, sind gar nicht gegen die Idee besonderer Ver- ben. Sie glauben, daß es unfair wäre, wenn den Menschen gegen
pflichtungen als solcher. Sie lehnen aber die Vorstellung ab, daß ihren Willen solche Lasten aufgeladen werden könnten, und daß es
einem solche Verpflichtungen zukommen können, ohne jemals et- so gesehen unfair wäre, wenn man Menschen, die freiwillig nichts
was getan zu haben, womit man sie sich auflädt. Die Voluntaristen unternommen haben, um besondere Verpflichtungen herbeizufüh-
sind sich untereinander nicht ganz einig, welche Formen freiwil- ren, solche Verpflichtungen zuschreiben könnte. Letztlich halten
ligen Handelns dazu angetan sind, besondere Verpflichtungen zu also Voluntaristen bei besonderen Verpflichtungen eine Form von
erzeugen. Einige bestehen darauf, daß solche Verpflichtungen nur Reduktionismus für notwendig, wenn unsere Zuweisungen solcher
aus expliziter Einwilligung oder Zusicherung hervorgehen können. Verpflichtungen an diejenigen, die sie innehaben, fair sein sollen.
Andere sind der Meinung, daß man besondere Verpflichtungen Der Voluntarismus ist eine einflußreiche Auffassung, und viele
schon erlangen kann, indem man freiwillig eine Beziehung mit je- Menschen finden den voluntaristischen Einwand gegen besondere
mandem eingeht, und daß für das Innehaben der Verpflichtung Verpflichtungen, die nichtreduktionistisch verstanden werden, sehr
keinerlei explizite Einwilligung erforderlich ist. Wiederum andere ansprechend. Gleichzeitig kann man allerdings noch einen weite-
glauben, daß die Annahme von Vorteilen aus einer Beziehung selbst ren Einwand gegen solche Verpflichtungen ins Feld führen. Diesem
dann Verpflichtungen erzeugen kann, wenn man die Beziehung Einwand zufolge besteht das Problem mit besonderen Verpflich-
selbst nicht freiwillig eingegangen ist. Die Ansichten der Volunta- tungen nicht darin, daß sie für die Inhaber ungebührlich belastend
risten werden daher bei den speziellen Verpflichtungen bestimmter sein können, sondern darin, daß sie ihren Inhabern unfairerweise
Menschen gelegentlich voneinander abweichen. Vorteile verschaffen können. Und zum Zweck dieses Einwandes
102 28
spielt es keine Rolle, ob der Grund dieser Verpflichtungen volunta- pflichtungen mir gegenüber erworben. Und geradeso, wie meine
ristisch verstanden wird oder nicht. Verpflichtungen Ihnen gegenüber zu meinem und zu Ihrem Vorteil
Nehmen wir an, Sie sind vor kurzem mein Freund geworden, sein können, während sie sich zum Nachteil anderer Menschen
und mir sind daraus besondere Verpflichtungen Ihnen gegenüber auswirken, können Ihre Verpflichtungen mir gegenüber sowohl zu
erwachsen. Diese Verpflichtungen wirken sich natürlich zu Ihrem meinem als auch zu Ihrem Vorteil sein, während sie anderen zum
Vorteil aus, insofern ich jetzt die Pflicht habe, Dinge für Sie zu Nachteil gereichen.
tun, die zuvor nicht von mir verlangt worden wären. Zugleich gibt Der Einwand, an den ich hier denke, stellt diese ganze Art der
es mindestens zwei Arten, wie sich meine Verpflichtungen Ihnen Verteilung von Nutzen und Lasten mit der Begründung in Frage,
gegenüber zum Nachteil der Menschen auswirken, mit denen ich daß Sie und ich zu unfairen Vorteilen gelangen, während andere
keine besondere Beziehung unterhalte. Erstens hätte ich vielleicht Menschen unfair benachteiligt werden. Warum sollte ausgerechnet
ohne meine Verpflichtungen Ihnen gegenüber bestimmte Dinge unsere Freundschaft zu einer Verteilung von Verantwortung führen,
für diese Menschen getan, obwohl ich dazu gar nicht verpflichtet fragt der »distributive Einwand«, die für uns günstig und für ande-
gewesen wäre. Nun hat aber die Erfüllung meiner Verpflichtungen re Menschen ungünstig ist? Schließlich besteht das Ergebnis einer
Ihnen gegenüber Vorrang vor der Erledigung solcher Dinge für jene solchen Verteilung darin, genau diejenigen zu belohnen, die bereits
anderen. Zweitens kann es auch Situationen geben, in denen meine eine lohnenswerte persönliche Beziehung etabliert haben, während
Verpflichtungen Ihnen gegenüber Vorrang einnehmen vor den Ver- diejenigen, die das nicht haben, büßen müssen. Mit anderen Wor-
pflichtungen, die ich gegenüber anderen als bloßen Mitmenschen ten, Sie und ich haben zusätzlich zu den Vorteilen unserer Freund-
habe. Es kann zum Beispiel Zeiten geben, in denen ich Ihnen hel- schaft noch erhöhte Ansprüche auf gegenseitigen Beistand, wäh-
fen muß, anstatt diesen anderen zu helfen, wenn ich nicht beides rend andere Menschen, die nie in den Genuß dieser ursprünglichen
tun kann, obwohl es eigentlich erforderlich gewesen wäre, diesen Vorteile gekommen sind, feststellen müssen, daß ihre Ansprüche
anderen zu helfen, gäbe es nicht das Faktum, daß Sie ebenfalls Hilfe auf unseren Beistand schwächer geworden sind.3 Der distributive
brauchen. Einwand besteht darauf, daß die Fairneß dieser Verteilung vor dem
In beiden Fällen können sich also meine besonderen Verpflich- Hintergrund der bereits bestehenden Verteilung von Nutzen und
tungen Ihnen gegenüber zum Nachteil anderer auswirken. In einer Lasten aller Art beurteilt werden muß. Die Ermöglichung zusätz-
Hinsicht können sie sich außerdem zu meinem eigenen Nachteil licher Vorteile für Menschen, die bereits von der Teilhabe an loh-
auswirken, da derartige Verpflichtungen, wie der voluntaristische nenswerten Beziehungen profitiert haben, wird sich dem distributi-
Einwand unterstreicht, durchaus belastend sein können. Allerdings ven Einwand zufolge immer dann nicht rechtfertigen lassen, wenn
können mir meine Verpflichtungen Ihnen gegenüber auch einige die Ermöglichung dieser Vorteile anderen Menschen zum Schaden
sehr wichtige Vorteile einbringen. Denn insoweit ich Ihren Inter- gereicht, die bedürftiger sind. Sei es, daß sie bedürftiger sind, weil
essen vor den Interessen anderer Leute Vorrang einräumen muß, sie selbst nicht an lohnenswerten Beziehungen beteiligt sind oder
bin ich im Grunde genommen aufgefordert, auf eine "Weise zu weil sie auf andere Weise erheblich schlechter dran sind. Und soweit
handeln, die zum Gedeihen unserer Freundschaft beiträgt, anstatt es um diesen Einwand geht, macht es keinen Unterschied, ob man
den Bedürfnissen anderer Menschen Rechnung zu tragen. Meine sich die besonderen Verpflichtungen als freiwillig erworben denkt
Verpflichtungen Ihnen gegenüber können sich demnach ebenso- oder nicht. In beiden Fällen, so behauptet der distributive Einwand
sehr zu meinem Netto-Vorteil auswirken wie zu Ihrem, während
sie den Menschen zum Nachteil gereichen können, mit denen ich 3 Wenn der distributive Einwand wirklich überzeugend sein soll, wird er eine voll-
ständigere Bilanzierung der unterschiedlichen Vor- und Nachteile vorlegen müs-
keine besondere Beziehung unterhalte. Wenn Sie und ich Freunde
sen, welche die besonderen Verpflichtungen sowohl für die an zwischenmenschli-
geworden sind, dann habe vermutlich nicht nur ich besondere Ver- chen Beziehungen Beteiligten als auch für die Nichtbeteiligten mit sich bringen.
pflichtungen Ihnen gegenüber, sondern Sie haben ebensolche Ver- Die Implikationen einer solchen Bilanzierung untersuche ich in Scheffler (1999).
102 30
mit Nachdruck, werden solche Verpflichtungen auf nichts anderes ren solche Verpflichtungen ungebührlich belastend für diejenigen,
hinauslaufen als eine »schädliche«4 Form des »Vorteils zugunsten denen sie obliegen, heißt es. Die Fairneß gegenüber den Inhabern
von Menschen, die in einer besonderen Beziehung zu uns stehen«,5 besonderer Verpflichtungen verlangt diesem Einwand zufolge eine
wie es ein Autor ausgedrückt hat. Das gilt, solange Nutzen und Version des Reduktionismus im Hinblick auf solche Verpflichtun-
Lasten besonderer Verpflichtungen nicht in eine umfassende Ver- gen. Der distributive Einwand hingegen stellt die Fairneß beson-
teilung eingebunden sind, die fair ist. derer Verpflichtungen unabhängig davon in Frage, ob ihr Grund
Man mag nun protestieren, es sei doch irreführend, besondere in den freiwilligen Handlungen derer gesehen wird, die sie inneha-
Verpflichtungen so darzustellen, als verschafften sie den Menschen, ben. Und die These dieses Einwands ist, daß solche Verpflichtun-
die schon die Vorteile der Beteiligung an einer lohnenswerten Bezie- gen den Menschen, denen sie obliegen, keineswegs unfaire Lasten
hung sicher haben, zusätzliche Gewinne. Ein Teil dessen, was eine aufbürden, sondern vielmehr unfaire Vorteile verschaffen. Wenn
Beziehung lohnend macht, ist doch, daß besondere Verpflichtun- ein nichtreduktionistischer Ansatz besonderer Verpflichtungen
gen damit verknüpft sind, könnte man sagen. Sämtliche Belohnun- überzeugend sein soll, dann wird er auf diese beiden Einwände
gen, die den Beteiligten einer solchen Beziehung durch besondere antworten müssen.7
Verpflichtungen entstehen können, sind deshalb von den anderen Ich werde in diesem Aufsatz die Grundlagen eines nichtreduk-
Belohnungen der Teilhabe an der Beziehung nicht trennbar. Diese tionistischen Ansatzes skizzieren. Meine Erörterung wird schema-
Erwiderung fuhrt zu einer Reihe von Fragen, die ich an anderer tisch bleiben, insoweit ich mich mit der abstrakten Struktur einer
Stelle diskutiert habe,6 die hier aber nicht angemessen behandelt nichtreduktionistischen Position befassen werde anstatt mit einer
werden können. Für den augenblicklichen Zweck soll es reichen zu detaillierten Darstellung der einzelnen Verpflichtungen, die ei-
sagen, daß die Erwiderung für sich genommen wenig geeignet ist, ne solche Position den Menschen übertragen würde. Gleichwohl
die Befürworter des distributiven Einwands zu überzeugen. Denn hoffe ich, daß meine Skizze einen neuen Zugang zum Verständnis
diese werden eher bezweifeln, daß besondere Verpflichtungen - im nichtreduktionistischer Thesen besonderer Verpflichtung deutlich
Gegensatz beispielsweise zu einer de facto bestehenden Bereitschaft macht und auf diesem Weg dazu beitragen wird, den Nichtreduk-
der Beteiligten, den Interessen des jeweils anderen besonderes Ge- tionismus plausibler erscheinen zu lassen, als man ihn oft sieht.
wicht einzuräumen - zur Etablierung einer lohnenden Beziehung Jedenfalls glaube ich, daß die Art Position, die ich beschreiben wer-
wirklich notwendig sind. Sie werden wahrscheinlich auch damit de, sorgfältiges Nachdenken verdient. Ganz offensichtlich haben
argumentieren, daß, selbst wenn besondere Verpflichtungen dabei Fragen zum Status besonderer Verpflichtungen direkten Einfluß
helfen, lohnende Beziehungen zu ermöglichen, dies doch nur den auf einige Kontroversen, die in der zeitgenössischen Moralphiloso-
grundsätzlichen Punkt des Einwands bestätigt, wonach solche Ver- phie und politischen Philosophie sehr lebendig sind. Wichtig sind
pflichtungen zum Vorteil der an lohnenden Beziehungen Beteilig- solche Fragen zum Beispiel für die Debatte zwischen Konsequentia-
ten wirken und zum Nachteil von Nichtbeteiligten. Daher werden lismus und Deontologie in der Moralphilosophie. Ebensowichtig
sie wahrscheinlich zu dem Schluß kommen, daß es wichtig bleibt, sind sie für die Debatten zwischen Liberalismus und Kommunita-
diese Vorteile und Nachteile soweit wie möglich in eine umfassende rismus und zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus in der
Verteilung des Nutzens und der Lasten einzubinden, die fair ist. politischen Philosophie. Wie wir über besondere Verpflichtungen
Wie wir gesehen haben, macht der voluntaristische Einwand denken, kann also weitreichende Implikationen haben, und es wä-
geltend, daß der Grund für unsere besonderen Verpflichtungen in re ein Fehler, den Nichtreduktionismus ohne den wohlwollenden
unseren eigenen freiwilligen Handlungen liegen muß. Sonst wä- Versuch, ihn zu verstehen, abzutun.
4 Goodin (1985), S.i.
5 Ebd., S.6. 7 Ich habe beide Einwände in Scheffler (1995b) und (1997) ausfuhrlicher erörtert.
Den distributiven Einwand habe ich in Scheffler (1999) ausgiebig diskutiert.
6 In Scheffler (1995b), Abschnitt IV.
33
31
Nichtreduktionisten sind zunächst einmal von der Tatsache einen (nichtinstrumentellen) Wert beimesse. Das ist aber gleichbe-
beeindruckt, daß wir als Grund für unsere besonderen Verpflich- deutend damit, zu sagen, daß ich meine Beziehungen nicht wert-
tungen oft unsere Beziehungen zu den Menschen anführen statt schätzen kann (auf nichtinstrumenteile Weise), ohne sie als Grund
bestimmte Interaktionen mit ihnen. Sie glauben, daß unsere Wahr- für besondere Verpflichtungen anzusehen.8
nehmung der Dinge im Grundsatz richtig ist. Der Grund für solche Wenn es richtig ist, daß man eine Beziehung zu einer anderen
Verpflichtungen liegt oft in den Beziehungen selbst und nicht in Person im Grunde genommen (auf nichtinstrumentelle Weise)
den einzelnen Interaktionen zwischen den Beteiligten. Ein Nicht- nicht wertschätzen kann, ohne sie zugleich als Quelle besonderer
reduktionist könnte seine Erläuterung dieser Position folgender- Verpflichtungen zu betrachten, dann ist nicht weiter rätselhaft, daß
maßen beginnen: Andere Menschen können Ansprüche an mich ein so breites und offenkundig heterogenes Spektrum von Bezie-
stellen, und ihre Bedürfnisse können mir Gründe zum Handeln hungen als Anlaß für solche Verpflichtungen gesehen worden ist.
geben, gleichgültig ob ich nun irgendeine besondere Beziehung zu Wenig rätselhaft ist dann auch, daß manche Ansprüche auf be-
ihnen habe oder nicht. Wenn ein Fremder leidet und ich in der sondere Verantwortung höchst umstritten bleiben, vorausgesetzt,
Lage bin, ihm ohne übermäßige Kosten für mich zu helfen, mag daß verschiedene Menschen Beziehungen unterschiedlicher Art
ich durchaus einen Grund haben, das zu tun. Dies gilt größten- für wertvoll halten. Denn wenn man gewisse Arten von Beziehun-
teils einfach kraft der uns gemeinsamen Menschlichkeit. Wenn ich gen oder die Tendenz, Beziehungen dieser Art mit Bedeutung zu
aber eine besondere Beziehung zu jemandem habe, die ich sehr befrachten, mißbilligt, wird man Ansprüchen auf besondere Ver-
schätze, und wenn der Wert, den ich dieser Beziehung beimesse, antwortung, die aus solchen Beziehungen erwachsen, mit Skepsis
nicht rein instrumentellen Charakters ist - mit anderen Worten, begegnen. Obwohl die Mitglieder von Straßenbanden, Burschen-
wenn ich sie nicht allein als Mittel zu irgendeinem unabhängig schaften oder Nationen, um drei ganz verschiedene Beispiele zu
bestimmten Zweck schätze —, dann betrachte ich die Person, mit nennen, ihrer Mitgliedschaft in diesen Gruppen oft erhebliche Be-
der ich die Beziehung habe, als befähigt, zusätzliche Ansprüche an deutung beimessen und obwohl sie infolgedessen häufig ein starkes
mich zu stellen, die über diejenigen hinausgehen, die Menschen im Verantwortungsgefühl für die übrigen Gruppenmitglieder haben,
allgemeinen an mich stellen dürfen. Denn meiner Beziehung zu wird jemand, der solche Gruppen oder die Tendenz, sie mit Bedeu-
einer bestimmten Person einen nichtinstrumentellen Wert beizule- tung zu befrachten, mißbilligt, nicht gewillt sein, diese Ansprüche
gen bedeutet eben zum Teil, diese Person aufgrund der Beziehung auf Verantwortung zu akzeptieren. Andererseits wird jemand, der
zwischen uns als eine Quelle besonderer Ansprüche zu sehen. Mit seine Beteiligung an einer Beziehung einer bestimmten Art schätzt,
anderen Worten, es bedeutet, die Bereitschaft zu haben, die Bedürf- geneigt sein, den anderen Beteiligten solcher Beziehungen beson-
nisse, Interessen und Wünsche dieser Person als etwas anzusehen, dere Verpflichtungen zuzuschreiben, auch wenn diese Beteiligten
was mir in Zusammenhängen, die je nach Charakter der Beziehung selbst diese Beziehungen nicht schätzen oder aus ihnen hervorge-
variieren können, wahrscheinlich entscheidende Gründe zum Han- hende Verpflichtungen nicht anerkennen. Es gibt Unterschiede,
deln gibt, Gründe, die ich beim Fehlen dieser Beziehung nicht ge- was die Wertschätzung der Beziehungsarten anbelangt, und diese
habt hätte. Mit »wahrscheinlich entscheidende Gründe« meine ich Unterschiede führen nach der Auffassung von Nichtreduktionisten
Gründe, die zwar im Prinzip von anderen Gründen hintangestellt
oder außer Kraft gesetzt werden können, die sich aber dennoch als 8 Der Nichtreduktionist erkennt natürlich an, daß es mir möglich ist, Beziehungen
Erwägungen darstellen, nach denen ich mich richten muß. Wenn als wertvoll zu erachten, an denen ich nicht selbst beteiligt bin. Seine These besagt
es keine Umstände gibt, unter denen ich die Bedürfnisse oder allerdings, daß sich die Wertschätzung der eigenen Beziehung zu einer anderen
Interessen einer Person als etwas ansehe, was mir solche Gründe Person davon unterscheidet, und zwar nicht deshalb, weil man eine solche Bezie-
hung zwangsläufig als wertvoller ansehen muß als andere Beziehungen desselben
verschafft, dann ergibt es den Nichtreduktionisten zufolge keinen
Typs, sondern weil man sie zwangsläufig als eine Quelle von Gründen für eine
Sinn, zu behaupten, daß ich meiner Beziehung mit jener Person unverwechselbare Art des Handelns ansehen muß.
102
35
verständlicherweise zu Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der mulierung keine bestimmte Vorstellung hinsichtlich der Sorte von
Zuweisung von besonderer Verantwortung. Gründen voraussetzt, die Menschen für die Wertschätzung ihrer
Die nichtreduktionistische Position, wie sie bislang beschrieben Beziehungen haben können, müssen Gründe, die reflexiv instru-
wurde, trägt uns nur so weit: Sie macht geltend, daß Beziehungen mentell sind, in dem Sinne, daß sie sich aus der instrumentellen
und nicht bloß Interaktionen zu den Gründen für besondere Ver- Vorteilhaftigkeit der nichtinstrumentellen Wertschätzung einer
pflichtungen zählen, und sie behauptet, daß Menschen, die ihre Beziehung ableiten, als ausgeschlossen verstanden werden. Mit an-
Beziehungen schätzen, diese zwangsläufig als Anlaß solcher Ver- deren Worten, wenn die Zuschreibung eines nichtinstrumentellen
pflichtungen sehen. So wie sie bisher beschrieben wurde, sagt die Wertes selbst ein wirksames Mittel wäre, um irgendein unabhängig
Position allerdings nichts darüber aus, unter welchen Bedingungen von der Beziehung erstrebenswertes Ziel zu erreichen, wird das von
die Beziehungen tatsächlich zu besonderen Verpflichtungen füh- mir aufgestellte Prinzip dies nicht als einen Grund der verpflich-
ren. Nun gibt es natürlich genausowenig Grund zu erwarten, daß tungserzeugenden Art behandeln.
alle Nichtreduktionisten auf diese Frage die gleiche Antwort geben Zweitens gibt es einen ganz passenden Sinn von »Beziehung«,
werden, wie man erwarten darf, daß alle Reduktionisten dieselben in dem jeder Mensch zu jedem anderen Menschen in irgendeiner
Interaktionstypen als Gründe für besondere Verpflichtungen iden- Beziehung steht. Was allerdings die von mir vertretene Auffassung
tifizieren werden. In diesem Aufsatz möchte ich jedoch speziell die betrifft, so zählen nur sozial wichtige Verbindungen zwischen den
Vermutung untersuchen, daß die Beziehungen, die man zu anderen Menschen als »Beziehungen«. Wenn Sie zum Beispiel in Ihrem
Menschen hat, zu besonderen Verpflichtungen gegenüber diesen Nachnamen dieselbe Anzahl von Buchstaben haben wie John Tra-
Menschen führen, wenn es Beziehungen sind, zu deren Wertschät- volta, heißt das noch nicht, daß Sie eine Beziehung zu ihm haben.
zung man Grund hat.9 Der Einfachheit halber werde ich diese Auf- Auch die Tatsache, daß Sie Travolta bewundern, reicht nicht aus,
fassung in der weiteren Ausführung schlicht als »Nichtreduktionis- um das Vorhandensein einer Beziehung in dem relevanten Sinne
mus« bezeichnen. Wir sollten uns aber stets darüber im klaren sein, nachzuweisen, denn die Tatsache, daß eine Person eine Überzeu-
daß es sich hierbei nur um einen Kunstgriff handelt und andere gung oder Einstellung bezüglich einer anderen Person hat, stellt
Versionen des Nichtreduktionismus durchaus möglich sind. noch kein soziales Band zwischen beiden her. Auf der anderen Seite
Einige Elemente meiner Formulierung bedürfen der Kommentie- haben zwei Mitglieder einer sozial anerkannten Gruppe sogar dann
rung und Klärung. Erstens sollte der Begriff »wertschätzen«, der in eine Beziehung in dem relevanten Sinne, wenn sie sich nie getroffen
jener Formulierung und der nachfolgenden Diskussion auftaucht, haben; und wenn sie ihre Mitgliedschaft in der Gruppe schätzen,
so verstanden werden, daß er »nichtinstrumentell wertschätzen« be- haben vielleicht auch die Beziehungen zu den anderen Mitgliedern
deutet, und der Begriff »Grund« soll als »Netto-Grund« verstanden einen Wert für sie. Die Tatsache, daß Sie Mitglied des John-Travol-
werden. Mit anderen Worten, wenn eine Person lediglich Grund ta-Fan-Club sind, bedeutet demnach, daß Sie eine Beziehung zu
hat, eine Beziehung instrumentell zu schätzen, dann behandelt das jedem anderen Clubmitglied haben, und wenn Sie Ihre Mitglied-
von mir vorgestellte Prinzip die Beziehung nicht als Quelle beson- schaft schätzen, schätzen Sie vielleicht auch diese Beziehungen.
derer Verpflichtungen. Und wenn eine Person zwar Grund hat, eine Drittens bedeutet die Wertschätzung meiner Beziehung zu einer
Beziehung zu schätzen, aber noch mehr Grund hat, dies nicht zu anderen Person in dem Sinne, wie sie für den Nichtreduktionis-
tun, behandelt das Prinzip die Beziehung auch nicht so, als erzeu- mus von Bedeutung ist, daß ich die Beiderseitigkeit der Beziehung
ge sie solche Verpflichtungen. Obwohl die von mir gegebene For- wertschätze. Wenn ich beispielsweise meinen Status als wichtigster
Gegner des >brutalen Tyrannen< schätze, nicht jedoch dessen Status
9 Nach manchen Auffassungen kann uns die Mitgliedschaft in einer Gruppe be-
sondere Verpflichtungen gegenüber der Gruppe auferlegen, die über jene Verpflich-
als mein verachteter Widersacher, dann schätze ich unsere Bezie-
tungen hinausgehen, die man gegenüber ihren einzelnen Mitgliedern hat. Die hung nicht in dem Sinne, den das nichtreduktionistische Prinzip
Auffassung, die ich hier untersuche, verhält sich zu dieser Frage agnostisch. als relevant behandelt. Vergleichbare Bemerkungen gelten mutatis
102
37
mutandis für den Aspekt, Grund zur Wertschätzung einer Bezie- sie nicht über sich bringt. Ebenso könnten wir der Meinung sein,
hung zu haben. daß eine ehrgeizige junge Frau gute Gründe hat, die Beziehung zu
Viertens ist der Nichtreduktionismus, wie ich ihn formuliert ihren hingebungsvollen Eltern zu schätzen, deren sie sich schämt,
habe, weder bei der Stärke noch beim Inhalt besonderer Ver- weil sie erkennbar Einwanderer sind, und wenig Grund hat, ihre
pflichtungen auf eine unumstößliche Sicht festgelegt. Er ist mit Beziehung zu dem eingebildeten und egozentrischen Mitschüler zu
der Auffassung vereinbar, daß solche Verpflichtungen durch ande- schätzen, dessen Aufmerksamkeit ihr sehr viel bedeutet und dessen
re Erwägungen hintangestellt werden können. Er ist auch mir der Anerkennung sie ersehnt.10
Auffassung vereinbar, daß die Stärke der eigenen Verpflichtungen Letztlich hängt jedoch unsere Fähigkeit, Thesen dieser Art zu
davon abhängt, welchen Charakter die Beziehungen haben, aus de- stützen, eindeutig von einer Konzeption der Gründe ab oder, ge-
nen sie hervorgehen, und wie groß die Wertschätzung ist, zu der nauer gesagt: von einer Konzeption der Bedingungen, unter denen
einem diese Beziehungen Grund geben. Soweit es um den Inhalt sich sagen läßt, daß Menschen Gründe dafür haben, ihre Beziehun-
der Verpflichtungen geht, dürfen wir annehmen, daß dieser eben- gen zu anderen zu schätzen. Je enger man diese Gründe mit den
falls vom Charakter der fraglichen Beziehungen abhängt, daß er vorhandenen Wünschen und Motivationen einer Person verbun-
aber auf der abstraktesten Ebene immer die Pflicht umfaßt, in ge- den sieht, desto geringer wird der Spielraum ausfallen, um zwischen
eigneten Zusammenhängen gewissen Interessen derer, denen die Beziehungen unterscheiden zu können, zu deren Wertschätzung ei-
Verpflichtungen geschuldet sind, Vorrang unterschiedlichster Art ne Person Grund hat, und Beziehungen, die sie tatsächlich schätzt.
einzuräumen. Auf der anderen Seite wird um so mehr Raum für solche Unter-
Fünftens nennt das nichtreduktionistische Prinzip eine hinrei- scheidungen gegeben sein, je weniger eng man sich die Gründe an
chende Bedingung für besondere Verpflichtungen, keine notwendi- vorhandene Wünsche geknüpft denkt. Wie ich schon angedeutet
ge. Das Prinzip beansprucht folglich nicht, die Quelle aller solcher habe, schlägt der Nichtreduktionismus selbst keine Konzeption der
Verpflichtungen anzugeben. Es bestreitet insbesondere nicht, daß Gründe vor. Dessen These ist vielmehr, daß viele Urteile über be-
Versprechen und andere Arten eigenständiger Interaktionen eben- sondere Verantwortung abhängig sind von den Gründen, die man
falls zu besonderen Verpflichtungen führen können. Es beansprucht den Personen als Gründe für die Wertschätzung ihrer Beziehungen
lediglich, Bedingungen anzugeben, unter denen zwischenmenschli- zu anderen zuschreibt, so daß jede substantielle Konzeption solcher
che Beziehungen zu Verpflichtungen fuhren können, die nicht voll- Verpflichtungen die Geisel irgendeiner Vorstellung von Gründen
ständig in reduktionistischen Begriffen erklärt werden müssen. ist.11
Sechstens ermöglicht es der Nichtreduktionismus, sowohl zu be-
haupten, daß Menschen manchmal besondere Verpflichtungen ha- 10 Da das nichtreduktionistische Prinzip nur einen hinreichenden und keinen not-
ben, von denen sie glauben, sie hätten sie nicht, als auch zu behaup- wendigen Grund für besondere Verpflichtungen formuliert, zeigt die Tatsache,
daß man keinen Grund hat, die Beziehung zu einer bestimmten Person zu schät-
ten, daß sie manchmal besondere Verpflichtungen nicht haben, von
zen, für sich genommen natürlich noch nicht, daß man gar keine besonderen
denen sie glauben, sie hätten sie. Denn denkbar ist zum einen, daß Verpflichtungen gegenüber dieser Person hat - sondern nur, daß man keine Ver-
Menschen es versäumen können, Beziehungen zu schätzen, zu de- pflichtungen hat, die nach dem nichtreduktionistischen Prinzip entstehen.
ren Wertschätzung sie Grund haben, und denkbar ist zum ande- 1 1 Das bedeutet, daß es einem Reduktionisten möglich wäre zu argumentieren, daß
ren, daß es Menschen gelingen kann, Beziehungen zu schätzen, zu die Gründe, welche die Menschen für die Wertschätzung ihrer Beziehungen zu
deren Wertschätzung sie keinen Grund haben. Wir können zum anderen haben, ausschließlich aus eigenständigen Interaktionen hervorgehen,
die im Zusammenhang dieser Beziehungen auftreten. Doch selbst wenn man
Beispiel der Ansicht sein, daß ein pflichtvergessener Vater Grund
dieses Argument gelten ließe, wäre es trotzdem so, daß die Quelle der relevanten
hat, die Beziehungen zu seinen Kindern zu schätzen, die er aber Verpflichtungen gemäß dem fraglichen Prinzip in den Beziehungen statt in den
ignoriert, oder daß eine mißhandelte Ehefrau keinerlei Grund hat, Interaktionen liegt. Außerdem ist es vielleicht nicht ohne Verlust an Plausibilität
die Beziehung zu ihrem Ehemann zu schätzen, den zu verlassen möglich, den Reduktionismus in bezug auf besondere Verpflichtungen in einen
102
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Ein Nichtreduktionismus von der Art, wie ich ihn beschrieben ist anders. Die These besagt nicht, sofern ich Grund habe, unsere
habe, ermöglicht die folgende einfache Verteidigung besonderer Beziehung zu schätzen, habe ich Grund, eine Handlung auszufuh-
Verpflichtungen, die nicht auf eigenständige Interaktionen zurück- ren, die, wurde sie ausgeführt, Verpflichtungen erzeugen wird. Die
geführt werden. Wir Menschen sind soziale Geschöpfe, und zwar These besagt vielmehr, daß die Wertschätzung unserer Beziehung
Geschöpfe mit Werten. Zu den Dingen, die wir wertschätzen, ge- zum Teil bedeutet, mich selbst als Inhaber solcher Verpflichtungen
hören unsere Beziehungen untereinander. Die Beziehung zu einer zu sehen, so daß dann, wenn ich hier und jetzt Grund habe, unsere
anderen Person zu schätzen bedeutet aber, sie als eine Quelle von Beziehung zu schätzen, das, wozu ich hier und jetzt Grund habe,
Gründen für ein Handeln herausgehobener Art zu betrachten. Es ist, mich selbst als Inhaber solcher Verpflichtungen zu sehen. Im
bedeutet im Grunde genommen, sich selbst als jemanden zu sehen, Fall des Versprechens erzeugt das Versprechen die Verpflichtung,
der besondere Verpflichtungen gegenüber der Person hat, zu der und fehlt das Versprechen, entsteht keine Verpflichtung. Doch die
die Beziehung besteht. Insoweit wir gute Gründe haben, unsere Existenz einer Beziehung, zu deren Wertschätzung man Grund hat,
zwischenmenschlichen Beziehungen zu schätzen, haben wir folg- ist selbst die Quelle besonderer Verpflichtungen, und diese Ver-
lich gute Gründe, uns selbst als Inhaber besonderer Verpflichtun- pflichtungen entstehen unabhängig davon, ob die Beteiligten die
gen zu betrachten. Und Skepsis angesichts solcher Verpflichtungen Beziehung tatsächlich schätzen. So ungefähr lautet die These des
wird dementsprechend nur gerechtfertigt sein, wenn wir bereit sind Nichtreduktionisten.
zu bestreiten, daß wir gute Gründe haben, unsere Beziehungen zu Selbst wenn die Analogie mit dem Fall des Versprechens zu-
schätzen. gegebenermaßen verfehlt ist, ließe sich dennoch behaupten, daß
Es könnte so aussehen, als sei dieses Argument abwegig. Denn das nichtreduktionistische Argument nicht vollständig nachweist,
bedenken wir doch: Selbst wenn ich Grund dazu habe, zu verspre- daß wir wirklich besondere Verpflichtungen haben. Wie wir gese-
chen, daß ich Sie am Dienstag zum Mittagessen treffen werde, und hen haben, behauptet der Nichtreduktionist, daß wir dann, wenn
auch wenn ich verpflichtet wäre, Sie zu treffen, wenn ich dies ver- wir Grund haben, unsere zwischenmenschlichen Beziehungen zu
sprochen hätte, folgt daraus nicht, daß ich hier und jetzt eine solche schätzen, auch Grund haben, uns als Inhaber solcher Verpflichtun-
Verpflichtung habe. Im Gegenteil, ich erlange die Verpflichtung gen zu sehen. Man könnte jedoch sagen, selbst wenn wir Grund
nur, wenn ich das Versprechen abgebe. Ebenso wäre es möglich, daß haben, uns als Inhaber solcher Verpflichtungen zu sehen, sei dies
selbst dann, wenn ich Grund habe, meine Beziehung mit Ihnen zu durchaus damit vereinbar, tatsächlich keine besonderen Verpflich-
schätzen, und auch dann, wenn ich besondere Verpflichtungen Ih- tungen zu haben. Das scheint mir allerdings irreführend zu sein.
nen gegenüber erlangen würde, falls ich unsere Beziehung wirklich Wenn das nichtreduktionistische Argument zeigt, daß wir guten
schätzen würde, daraus noch nicht folgt, daß ich solche Verpflich- Grund haben, uns als Inhaber besonderer Verpflichtungen zu se-
tungen tatsächlich habe. Ganz im Gegenteil, ich erlange die Ver- hen, dann entspricht das dem, wie wir uns sehen sollten. Es gibt in
pflichtungen eben nur dann, wenn ich die Beziehung schätze. Der diesem Zusammenhang keinen wirklichen Unterschied zwischen
Nichtreduktionist wird sich dieser Analogie widersetzen. Im Fall dem Schluß, daß wir besondere Verpflichtungen haben, und dem
des Versprechens habe ich Grund, eine Handlung zu vollziehen, Schluß, daß wir alles in allem gute Gründe haben, zu glauben, daß
die, wurde sie vollzogen, zu einer Verpflichtung führt. Was aber wir derartige Verpflichtungen haben.
der Nichtreduktionist über besondere Verpflichtungen behauptet, Nun könnten manche darüber beunruhigt sein, daß das nicht-
reduktionistische Prinzip, so wie ich es formuliert habe, zu viel
Reduktionismus in bezug auf die Gründe der Menschen für die Wertschätzung
Aufmerksamkeit auf die Inhaber besonderer Verpflichtungen kon-
ihrer Beziehungen zu überführen. Denn manche der Interaktionstypen, die als
Verpflichtungen erzeugend eingestuft wurden, lassen sich nicht plausibel als In-
zentriert und die Nutznießer zu wenig beachtet. Denn manchmal
teraktionstypen auslegen, die Gründe für die Wertschätzung von Beziehungen liegt der Grund einer besonderen Verpflichtung nicht in der Tatsa-
erzeugen. che, daß die Beziehung so beschaffen ist, daß der Inhaber Grund
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hat, sie zu schätzen, könnte man sagen, sondern vielmehr in der eine unangemessene Kontrolle über das Leben des Verpflichteten
Verletzlichkeit, die entsteht, weil der Nutznießer in einem Vertrau- geben. Wenn gewisse Menschen Ansprüche an Sie stellen, kön-
ens- oder Abhängigkeitsverhältnis zum Inhaber der Verpflichtung nen, ohne daß Sie irgend etwas zur Legitimierung dieser Ansprü-
steht. Diese Idee ist jedoch mit dem von mir formulierten Prin- che getan haben, dann, so könnte der Voluntarist argumentieren,
zip gar nicht unvereinbar, weil das Prinzip nur beabsichtigt, eine verfügen diese Menschen über eine unbegründet große Autorität,
hinreichende und keine notwendige Bedingung für eine Beziehung in Ihre Lebensweise einzugreifen. Da aber allgemeine moralische
anzugeben, die besondere Verpflichtungen erzeugt. Es schließt die Normen die Menschen ebenfalls befähigen, Ansprüche an Indivi-
Möglichkeit, daß Vertrauensverhältnisse und Verletzlichkeit eben- duen zu stellen, die nichts getan haben, um diese Ansprüche zu
falls zu solchen Verpflichtungen führen können, keineswegs eher legitimieren, werden die Nichtreduktionisten erneut wissen wollen,
aus, als das Prinzip, dem zufolge man seine Versprechen einhalten warum besondere Verpflichtungen, die nicht freiwillig eingegangen
muß, die Möglichkeit ausschließt, daß es noch andere Arten von wurden, auf eine Weise kritisierbar sein sollen, wie es allgemeine
Verpflichtungen gibt. Verpflichtungen nicht sind.
Was könnte also ein Nichtreduktionist auf den voluntaristischen Ein Grund für die Bedenken des Voluntaristen hinsichtlich be-
und den distributiven Einwand entgegnen? Der voluntaristische sonderer Verpflichtungen könnte folgendermaßen aussehen. Un-
Einwand weist darauf hin, daß besondere Verpflichtungen erhebli- sere wichtigsten sozialen Rollen und Beziehungen bestimmen in
che Lasten für denjenigen darstellen können, der sie innehat, und einem beträchtlichen Umfang die Art und Weise, wie wir von an-
behauptet, daß es unfair wäre, wenn derartige Verpflichtungen deren gesehen werden und wie wir uns selbst sehen. Sie helfen uns
Individuen zugeschrieben werden könnten, die freiwillig nichts bei der Bestimmung dessen, was wir unsere soziale Identität nennen
unternommen hätten, um sie herbeizuführen. Was Nichtreduk- könnten. In dem Maße, wie wir unsere Rollen und Beziehungen
tionisten auf diesen Einwand als erstes erwidern können, ist, daß wählen und entscheiden, wieviel Bedeutung sie in unserem Leben
es zusätzlich zu unseren besonderen Verpflichtungen noch andere haben sollen, gestalten wir unsere eigene Identität. Doch in dem
moralische Normen gibt, die unsere Behandlung der Menschen all- Ausmaß, wie diese Dinge unabhängig von unserer Wahl festgelegt
gemein regeln. Diese moralischen Normen, darauf könnten sie hin- sind, entzieht sich unsere Identität unserer Kontrolle. Was den Vo-
weisen, gelten für uns unabhängig davon, ob wir ihnen zugestimmt luntaristen an den besonderen Verpflichtungen so stört, könnte dies
haben oder nicht. Wenn man einer Person Schaden zufügt, kann sein: Wenn unsere Beziehungen zu anderen Menschen unabhängig
man dies nicht mit der Erklärung rechtfertigen, man habe niemals von unserer Wahl Verpflichtungen gegenüber diesen Menschen er-
darin eingewilligt, Personen keinen Schaden zuzufügen. Mit an- zeugen können, dann steht es uns in diesem Umfang nicht frei,
deren Worten, es gibt allgemeine moralische Verpflichtungen, die die Bedeutung unserer sozialen Beziehungen zu bestimmen. Und
uns zugeschrieben werden können, ohne daß wir ihnen freiwillig wenn es uns nicht freisteht, die Bedeutung solcher Beziehungen zu
zugestimmt haben. Und obgleich diese allgemeinen Verpflichtun- bestimmen, dann können wir auf eine soziale Identität festgelegt
gen genauso aufwendig oder belastend sein können wie besondere werden, die wir uns nicht ausgesucht haben. Dies legt nahe, daß be-
Verpflichtungen, betrachten wir ihre Auferlegung gewöhnlich nicht sondere Verpflichtungen für den Voluntaristen auf eine Weise pro-
als unfair. Weshalb, so könnten Nichtreduktionisten fragen, sollte blembehaftet sein können, wie es allgemeine Verpflichtungen nicht
das bei besonderen Verpflichtungen anders sein? Wenn Volunta- sind, weil besondere Verpflichtungen offenbar unsere Fähigkeit zur
risten nicht verlangen, daß allgemeine Verpflichtungen freiwillig Selbstbestimmung gefährden — unsere Fähigkeit, zu bestimmen,
zustande kommen, wie können sie dann darauf bestehen, daß be- wer wir in sozialen Hinsichten sind. Nach dieser Interpretation ist
sondere Verpflichtungen freiwillig zustande kommen müssen? Der es nicht falsch zu vermuten, daß der Voluntarist besondere Ver-
Voluntarist kann nun antworten, daß besondere Verpflichtungen, pflichtungen, sofern sie nicht freiwillig übernommen wurden, als
sofern sie nicht freiwillig eingegangen werden, anderen Menschen etwas sieht, was anderen Menschen eine unangemessene Kontrolle
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über unser Leben gibt. Das Problem ist jedoch nicht einfach, daß zu wählen, in denen wir zu anderen Menschen stehen, und auch
andere in der Lage sein könnten, unwillkommene Ansprüche auf der Voluntarist kann das nicht ernsthaft glauben. Was der Volun-
unsere Zeit und Ressourcen zu erheben. Denn soviel würde auch tarist noch behaupten kann, ist lediglich, daß uns die Bedeutung
dann zutreffen, wenn wir nur allgemeine Verpflichtungen hätten. dieser Beziehungen gänzlich selbst überlassen bleibt. Aber auch die-
Das grundsätzlichere Problem ist, daß andere Menschen in der se These ist nicht aufrechtzuerhalten. Sei es zum Guten oder zum
Lage sein können, unsere Identität auf eine Weise zu formen, die Schlechten, der Einfluß ungewählter sozialer Beziehungen - zu den
unseren Wünschen zuwiderläuft. Eltern und Geschwistern, Familien und Gemeinschaften, Nationen
In diesem Licht besehen, hat die voluntaristische Position of- und Völkern - auf unsere Lebensgeschichte ist nichts, was wir selbst
fenkundig ihren Reiz. Die Fähigkeit, unsere soziale Identität durch bestimmen. Es mag uns gefallen oder nicht, solche Beziehungen
unsere Wahlhandlungen zu beeinflussen, ist etwas, was den meisten definieren die äußeren Umrisse unseres Lebens und beeinflussen
von uns sehr am Herzen liegt und wovon wir meinen, es sei eine die Art und Weise, wie wir uns selbst sehen und von anderen gese-
wichtige Vorbedingung für Formen des menschlichen Gedeihens, hen werden. Selbst diejenigen, die solche Bindungen durchtrennen
die wir erstreben. Wir betrachten Gesellschaften, in denen die so- oder zurückweisen - soweit einem dies möglich ist - , können ihrem
ziale Identität starr festgelegt ist - entweder aufgrund des Rechts Einfluß nie entkommen oder ihnen jegliche Bedeutung nehmen,
oder der sozialen Praktiken, durch Umstände der Geburt oder der denn die erfolgte Zurückweisung einer persönlichen Bindung ist
Erziehung, auf die man keinen Einfluß hat - , als Gesellschaften, die nicht dasselbe, als wenn diese niemals bestanden hätte, und man
der menschlichen Freiheit nicht günstig sind. Das bedeutet nicht, annulliert soziale Bindungen nicht, indem man sie ablehnt. Mit
daß wir alle Zugehörigkeiten zu Gemeinschaften oder Traditionen anderen Worten, man ist für immer die Person, die diese Bindun-
zurückweisen müssen, die uns von Geburt mitgegeben worden sein gen zurückgewiesen oder abgelehnt hat; man kann sich nicht zu
mögen. Es bedeutet nur, daß wir den Stellenwert solcher Zugehö- einer Person machen, der sie von Anfang an gefehlt haben. Obwohl
rigkeiten in unserem Leben mit unseren eigenen Wünschen und manche Menschen in ihrem Leben ungeheure soziale Distanzen
Entscheidungen selbst beeinflussen wollen, anstatt ihn uns vom zurücklegen und obwohl die Möglichkeit, das zu tun, etwas ist, zu
Diktat der Gesellschaft vorschreiben zu lassen. Das ist natürlich dessen Wertschätzung wir alle Gründe haben, kann die Idee, daß
ein Grund, warum Liberale darauf bestehen, daß das Recht von die Bedeutung unserer persönlichen Bindungen und sozialen Zu-
Staatsbürgern gegenüber den Tatsachen ihrer Rasse, Religion oder gehörigkeiten gänzlich von unserem Willen abhängt — daß wir die
sozialen Klasse blind sein soll. obersten Hüter unserer Identität sind doch nur als eine Phantasie
Ungeachtet des Werts, den wir der Beeinflussung unserer sozi- betrachtet werden. Wenn also, wie der Nichtreduktionist glaubt,
alen Identität durch eigene Wahlhandlungen beimessen, und un- unsere Beziehungen zu anderen Menschen unabhängig von unserer
geachtet der besonderen Schutzwürdigkeit dieses Werts vor politi- freien Wahl Verpflichtungen gegenüber diesen Menschen erzeugen
scher Einmischung, ist klar, daß die Fähigkeit, die eigene Identität können, dann ist wahr, daß unsere sozialen Beziehungen in einer
selbst zu bestimmen, ihre Grenzen hat. Jeder von uns wird in ein wichtigen Hinsicht nicht vollständig unserer Kontrolle unterliegen.
Netz sozialer Beziehungen hineingeboren, und unsere soziale Welt Da aber die Bedeutung dieser Beziehungen ohnehin nicht völlig
nimmt uns schon längst in Beschlag, bevor wir eine reflektierende unter unserer Kontrolle ist, beraubt uns dies für sich genommen
Distanz zu ihr einnehmen können oder anfangen können, über un- nicht irgendeiner Form der Selbstbestimmung, die wir vernünfti-
seren Platz in ihr eine Wahl zu treffen. Wir eignen uns persönliche gerweise anstreben.
Beziehungen und soziale Zugehörigkeiten eines prägenden Typs Letztlich besteht also die Antwort des Nichtreduktionisten auf
an, bevor wir imstande sind, sie als solche zu begreifen oder über den voluntaristischen Einwand in der festen Behauptung, daß sich
ihre Veränderung nachzudenken. Es steht also offenkundig außer die moralische Bedeutung unserer Beziehungen zu anderen Men-
Frage, daß wir tatsächlich nicht imstande sind, alle Beziehungen schen nicht allein aus unseren Entscheidungen ergibt, obgleich die
102
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Bedeutsamkeit der Wahl und Zustimmung in moralischen Zu- solange die Nutzen und Lasten besonderer Verpflichtungen nicht in
sammenhängen unbestreitbar ist. Wir müßten aber dennoch nicht eine umfassende Verteilung integriert sind, die gerecht ist?
befürchten, wird der Nichtreduktionist vielleicht hinzufügen, daß Der Nichtreduktionist könnte zunächst wiederholen, daß sich
dies gleichbedeutend damit ist, einem Kastensystem oder hierar- Menschen unweigerlich als Inhaber besonderer Verpflichtungen
chischen Systemen Legitimität zuzugestehen oder das Individuum sehen werden, solange sie ihren zwischenmenschlichen Beziehun-
auf Gedeih und Verderb unterdrückerischen sozialen Verhältnis- gen Wert beimessen. Und solange sie gute Gründe haben, diesen
sen auszuliefern. Denn die Beziehungen, die bei einem Individu- Beziehungen einen Wert beizulegen, müssen wir ihnen zubilligen,
um zu Verpflichtungen fuhren, sind jene Beziehungen, zu deren daß sie auch gute Gründe haben, sich selbst als Inhaber solcher Ver-
Wertschätzung das Individuum Grund hat. Aus Beziehungen, die pflichtungen zu sehen. Es mag natürlich Raum vorhanden sein für
entwürdigend oder erniedrigend sind oder die dazu dienen, das eine generelle Skepsis, was die Gründe der Menschen angeht, ihre
Gedeihen des Menschen zu verhindern, statt zu befördern, gehen zwischenmenschlichen Beziehungen zu schätzen. Es ist aber eher
überhaupt keine Ansprüche hervor. Anders gesagt, die Alterna- unwahrscheinlich, daß es sich die Befürworter des distributiven
tive zu einem übertriebenen Voluntarismus ist kein überzogener Einwands leisten können, Skeptiker dieser Art zu sein. Denn der
Kommunitarismus oder Historizismus. Indem wir anerkennen, distributive Einwand ist von dem Anliegen beseelt, bei der Vertei-
daß die Bedeutung unserer sozialen Beziehungen nicht ausschließ- lung von Nutzen und Lasten Fairneß walten zu lassen. Und wenn
lich unseren Wahlhandlungen entspringt, begeben wir uns nicht Menschen nie Grund haben, ihre sozialen Beziehungen zu schät-
in eine Form der sozialen Knechtschaft. Indem wir die Phantasie zen, wie der Skeptiker behauptet, ist unklar, warum Überlegungen
aufgeben, daß unser Wille der Ursprung aller unserer besonderen der Fairneß überhaupt eine Rolle für sie spielen sollten. Anstatt
Verpflichtungen ist, überlassen wir uns nicht wehrlos den zufälligen Gründe dafür zu liefern, warum besondere Verpflichtungen abzu-
Gegebenheiten der sozialen Welt. lehnen sind, ist die generelle Skepsis in bezug auf unsere Gründe,
Doch selbst wenn diese Bemerkungen eine einschlägige Antwort persönliche Beziehungen zu schätzen, offenbar potentiell subversiv
auf den voluntaristischen Einwand darstellen, unterstreichen sie für die Moral als Ganzes.
vielleicht um so mehr die Verletzbarkeit des Nichtreduktionisten Vorausgesetzt, der distributive Einwand wird nicht so aufgefaßt,
durch den distributiven Einwand. Denn wenn die Beziehungen, daß er eine pauschale Ablehnung besonderer Verpflichtungen stüt-
die dem Wohl eines Individuums schaden, diesem Individuum im zen soll, können Nichtreduktionisten durchaus zugestehen, daß er
allgemeinen keine besonderen Verpflichtungen eintragen, dann einen berechtigten Punkt hat. Es gibt wichtige Hinsichten, in denen
werden die Beziehungen, die für das Individuum zu besonderen besondere Verpflichtungen zum Vorteil derer wirken können, die
Verpflichtungen führen, dessen Wohl vermutlich entweder fördern an persönlichen Beziehungen beteiligt sind, und in denen sie an-
oder zumindest nicht beeinträchtigen. Besondere Verpflichtungen deren zum Nachteil gereichen können. Diese Tatsachen sind wohl
können sich aber, wie wir gesehen haben, zum Vorteil derer aus- unbestreitbar, sobald wir auf sie aufmerksam geworden sind. Daß
wirken, die an besonderen Beziehungen beteiligt sind, und können wir sie manchmal aus dem Blick verlieren, ist in hohem Maße dem
zum Nachteil derer sein, die nicht daran beteiligt sind. Und man Einfluß des Voluntarismus geschuldet, der sich ausschließlich auf
mag sich fragen, warum eine Beziehung, die das Wohl der Beteilig- die Aspekte konzentriert, unter denen besondere Verpflichtungen
ten fördert, zu einer Verteilung moralischer Verantwortung führen für die Menschen, die sie zu erfüllen haben, belastend sein können,
sollte, die deren Interessen noch mehr begünstigt, während sie ge- und der die Aufgabe, solche Verpflichtungen zu legitimieren, allein
gen die Interessen von Nichtbeteiligten arbeitet? Wie kann sich der als eine Angelegenheit der Rechtfertigung jener Belastungen sieht.
Nichtreduktionist gegen den Vorwurf wehren, daß solche Verpflich- Sobald wir die Tatsachen ins Auge fassen, auf die der distributive
tungen den Beteiligten zwischenmenschlicher Beziehungen unfaire Einwand aufmerksam macht, können wir uns allerdings der Ein-
Vorteile verschaffen und die Nichtbeteiligten unfair benachteiligen, sicht nicht verschließen, daß es noch eine andere Seite besonderer
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Verpflichtungen gibt: daß sie nämlich beträchtliche Vorteile für die Das Fazit ist, daß der Nichtreduktionismus zwar darauf besteht,
an zwischenmenschlichen Beziehungen Beteiligten und beträchtli- daß nichtreduktionistisch verstandene, besondere Verpflichtungen
che Nachteile für die Unbeteiligten bringen können. Insofern der Teil eines jeden angemessenen moralischen Schemas sein müssen,
distributive Einwand nur darauf pocht, daß es ein erstrebenswertes daß er aber der Idee nicht ablehnend gegenübersteht, wonach es
Ziel ist, diese Vor- und Nachteile in eine umfassende Verteilung der eine Vielzahl anderer moralischer Werte gibt - einschließlich der
Nutzen und Lasten einzubinden, die fair ist, haben Nichtreduktio- Werte, die dem distributiven Einwand zugrunde liegen - , von de-
nisten keinen Anlaß, anderer Meinung zu sein. nen solche Verpflichtungen beschränkt werden müssen und in die
Sobald der distributive Einwand in dieser Weise verstanden sie eingebunden werden müssen, wenn sie völlig zufriedenstellend
wird, kann er in der Tat zur Veranschaulichung eines allgemeine- sein sollen. Es gibt zum Beispiel nichts, was den Nichtreduktio-
ren Punktes herangezogen werden, der dem Nichtreduktionisten nisten daran hindern sollte, sich der Meinung anzuschließen, daß
ebenfalls keinen Grund bietet, verschiedener Meinung zu sein. Gesichtspunkte der distributiven Fairneß dazu dienen, sowohl die
Dieser allgemeine Punkt besagt, daß besondere Verpflichtungen Stärke als auch den Inhalt besonderer Verpflichtungen zu begren-
in den Gesamtzusammenhang unserer Moralvorstellungen gestellt zen. Die bloße Tatsache, daß der Nichtreduktionismus für solche
werden müssen und von anderen relevanten Werten auf angemes- Möglichkeiten offen ist, reicht natürlich nicht aus, zu zeigen, daß
sene Art und Weise eingeschränkt werden müssen. Aus nichtre- eine einzige moralische Position imstande sein wird, besonderen
duktionistischer Sicht können solche Einschränkungen prinzipiell Verpflichtungen Rechnung zu tragen und zugleich vollständig den
in wenigstens drei verschiedenen Formen wirksam werden. Einige Werten zu genügen, die dem distributiven Einwand zugrunde lie-
können den Inhalt besonderer Verpflichtungen betreffen, indem gen. Ich glaube, daß es zwischen diesen Grundzügen unseres mora-
sie Grenzen dafür setzen, unter welchen Umständen Menschen lischen Denkens tatsächlich eine ausgeprägte, dauerhafte Spannung
aufgefordert sind, den Interessen derer, gegenüber denen sie sol- gibt, und nichts an der nichtreduktionistischen Position garantiert
che Verpflichtungen haben, Vorrang zu geben, und indem sie den dafür, daß wir in der Lage sein werden, beiden Grundzügen gleich-
Umfang, in dem dies zu erfolgen hat, begrenzen. Andere Beschrän- zeitig zu unserer Zufriedenheit gerecht zu werden.13
kungen können die Stärke besonderer Verpflichtungen betreffen, Obwohl das ein ernsthaftes Problem ist, stellt es für nichtreduk-
indem sie ausgleichende Gesichtspunkte beisteuern, die imstande tionistische Erklärungen besonderer Verpflichtungen kein größeres
sind, jene Verpflichtungen in unterschiedlichen Kontexten zurück- Problem dar als für reduktionistische Erklärungen. Es ist in Wirk-
zustellen oder aufzuheben. Noch andere Beschränkungen können lichkeit ein Problem für jede Auffassung, die besondere Verpflich-
die Gründe betreffen, die Menschen für die Wertschätzung ihrer tungen ernst nimmt, zugleich aber für die Werte Verständnis hat,
Beziehungen haben. Vielleicht haben die Menschen zum Beispiel die dem distributiven Einwand zugrunde liegen. Eine derartige
keinen (Netto-)Grund, Beziehungen zu schätzen, die selbst gegen Auffassung - eigentlich sogar jede Auffassung, die eine Vielfalt
wichtige moralische Werte oder Grundsätze verstoßen, so daß sol- moralischer Werte und Grundsätze anerkennt - muß sich fragen,
che Beziehungen auch dann keine besonderen Verpflichtungen er- wieweit dieser Vielfalt in einer einheitlichen moralischen Einstel-
zeugen, wenn die Menschen sie tatsächlich schätzen.12 lung Rechnung getragen werden kann. Allzuoft wird es schlicht für
selbstverständlich gehalten, daß eine vereinheitlichte Einstellung
1 2 Könnte jemand, der mit dem distributiven Einwand sympathisiert, behaupten, im Grundsatz doch verfügbar sein sollte oder daß jegliche Span-
daß Beziehungen, die mit diesem Einwand Schwierigkeiten bekommen, die
letztgenannte Form der Beschränkung verletzen und daher überhaupt keine tiver Fairneß verhindern, daß einige Beziehungen, die an sich völlig unanstößig
besonderen Verpflichtungen erzeugen? Das ist deshalb nicht überzeugend, weil sein mögen, besondere Verpflichtungen verursachen. Die fragliche Beschränkung
der distributive Einwand kein Einwand gegen eine Klasse von Beziehungen ist. trifft aber nur auf Beziehungen zu, die selbst gegen wichtige moralische Werte
Anders gesagt, er behauptet nicht, daß bestimmte Beziehungen gegen wichtige verstoßen.
moralische Werte verstoßen. Er behauptet lediglich, daß Überlegungen distribu- 13 Siehe dazu allgemein: Nagel (1994).
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nung zwischen unseren Werten die Möglichkeit ausschließe, diese die Bedenken, die dem voluntaristischen und dem distributiven
Werte zusammen zu berücksichtigen. Keine der beiden Annahmen Einwand zugrunde liegen, liefert aber dennoch Gründe dafür, auf
scheint mir gerechtfertigt zu sein. Ich glaube vielmehr, daß es eine dem Standpunkt zu beharren, daß keiner der beiden Einwände die
wesentliche Frage ist, in welchem Ausmaß die unterschiedlichen vollständige Zurückweisung nichtreduktionistisch verstandener,
moralischen Werte, die von uns anerkannt sind, in einem verein- besonderer Verpflichtungen tatsächlich stützt.
heitlichten Schema des Denkens und praktischen Handelns zusam- Lassen Sie mich am Ende auf einen Punkt zurückkommen, von
men untergebracht werden können, und daß deren Beantwortung dem ich bereits sprach. Wenn sie sich überzeugend ausarbeiten läßt,
noch aussteht. könnte die von mir im Grundriß dargestellte nichtreduktionisti-
Bis dahin hat der Nichtreduktionismus als Erklärung für beson- sche Position Implikationen für eine Reihe wichtiger Kontroversen
dere Verpflichtungen offenbar die folgenden Vorteile. Zunächst in der Moralphilosophie und der politischen Philosophie haben.
einmal hat er den Vorzug, besser als reduktionistische Erklärungen Insoweit sie eine Verteidigung besonderer Verpflichtungen vorlegt,
mit unserer wirklichen Praxis übereinzustimmen, die darin besteht, die nichtkonsequentialistischen Charakters ist, verweist sie bei-
sowohl Beziehungen als auch Interaktionen als Quellen besonderer spielsweise auf eine mögliche Verteidigung von wenigstens einigen
Verpflichtungen anzuführen. Er hat außerdem den Vorteil, ein- Arten »akteurszentrierter Restriktionen«.14 Ebenso legt sie, wie ich
fach und unumwunden erklären zu können, warum die Menschen glaube, einige Beschränkungen nahe, die von jeder hinlänglichen
selbst eine so vielfaltige und anscheinend heterogene Auswahl Formulierung des Kosmopolitismus beachtet werden müßten. Ei-
von Beziehungen als Anlaß für solche Verpflichtungen gesehen ne ausgiebige Erörterung dieser Implikationen muß jedoch einer
haben. Darüber hinaus ermöglicht uns der Nichtreduktionismus anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben.
die bejahende Einstellung, daß unsere gewöhnliche Praxis, den Übersetzt von Karin Wördemann
Beteiligten bedeutsamer Beziehungen besondere Verpflichtungen
zuzuschreiben, im großen und ganzen richtig ist. Doch wie die-
se gewöhnliche Praxis selbst läßt er uns Raum für die Kritik an
bestimmten Zuschreibungen von Verantwortung. Der Gehalt des
nichtreduktionistischen Prinzips hängt zugegebenermaßen von ir-
gendeiner Konzeption der Gründe ab, welche die Menschen für
die Wertschätzung ihrer Beziehungen zu anderen haben. Aufgrund
dieses Prinzips werden Meinungsverschiedenheiten hinsichtlich der
Gründe unweigerlich zu Meinungsverschiedenheiten in bezug auf
die Umstände führen, unter denen den Menschen besondere Ver-
pflichtungen zugeschrieben werden sollten. Doch selbst das könn-
te sich als ein Vorteil erweisen. Denn es gibt viele Uneinigkeiten
hinsichtlich der Zuschreibung von solchen Verpflichtungen, die
sich einleuchtenderweise so verstehen lassen, als spiegelten sie eine
grundlegendere Uneinigkeit über die Gründe, welche die Men-
schen für die Wertschätzung ihrer Beziehungen haben. In dem Ma-
ße, wie es sich so verhält, lokalisiert der Nichtreduktionismus die
Auseinandersetzungen um die Zuschreibung besonderer Verpflich-
tungen am richtigen Ort und liefert eine erhellende Erklärung für
sie. Letztlich hat der Nichtreduktionismus auch Verständnis für 1 4 Siehe Scheffler (1994), bes. Kapitel 4.
102 50
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<u
H-l
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Axel Honneth
Einführung
i Carver (2000).
55
selten an die Subtilität heranreicht, mit der Carver in seiner Kurz- zwei Personen aufeinander beziehen, weil in der Liebe nur eine
geschichte aufwartet, so werden in ihr doch viele der Themen sehr spezifische Form der Achtung zum Tragen kommt, die ein
behandelt, die auch dort im Laufe des geschilderten Gesprächs Mensch der anderen Person entgegenbringt. Bevor weiter erläu-
angeschnitten werden. Am Anfang der Debatten, die heute in tert wird, warum Velleman auf eine nur unilaterale Bestimmung
der Philosophie wieder vehement geführt werden,2 steht freilich der Liebe abhebt, soll zunächst kurz dargestellt werden, wie Neil
meist eine Frage, die sich für die Protagonisten von Carver erst Delaney die Struktur der Liebe zu erfassen versucht; denn seine
gar nicht zu stellen scheint: Wahrend sie ganz offensichtlich da- Bestimmung geht von der geradezu entgegengesetzten Vorstellung
von überzeugt sind, daß die Liebe mit den Forderungen einer aus, wonach es stets eines reziproken Zusammenspiels zweier Per-
unparteiischen Moral unvereinbar ist, bildet genau dieses Verhält- spektiven bedarf, um überhaupt von »Liebe« sprechen zu können.
nis den Kern einer inzwischen beinah uferlos gewordenen Dis- Delaney bedient sich in gewisser Weise eines hermeneutischen
kussion in der akademischen Philosophie. Dabei hat sich nicht Verfahrens, das darin besteht, die »Arten von Einstellungen, Dis-
nur schnell gezeigt, daß für die Klärung der Beziehung zwischen positionen und Gefühlen« zu rekonstruieren, welche die »moder-
Liebe und Moral vieles davon abhängt, wie der zugrunde gelegte nen Menschen westlicher Prägung als Vorbedingungen für erfül-
Moralbegriff jeweils im einzelnen begriffen wird: Je abstrakter und lende romantische Beziehungen«3 ansehen. Ihm geht es also um
rigoristischer die universalistischen Prinzipien einer Respektmoral die Deskription gerade nicht eines universellen Phänomens, son-
gefaßt werden, so läßt sich sagen, als desto unvereinbarer mit je- dern von dessen historisch konkreter Ausgestaltung in der Epoche
nen normativen Ansprüchen müssen sie gelten, die aus der Liebe der Moderne; davon unterscheidet er in einer Anmerkung etwa
zum konkreten anderen stammen können. Wichtiger noch als die das Ideal der »höfischen Liebe«, das im wesentlichen durch das
Einsicht in die Abhängigkeit vom zugrunde gelegten Moralbegriff »Aufschieben physischer Intimität« geprägt gewesen sei. Was nun
war im Verlauf der Debatte aber sicherlich die Feststellung, daß die moderne, »romantische« Form der Liebe anbelangt, so sieht
die Verhältnisbestimmung im großen Maße von der Beschreibung sie Delaney vor allem durch den wechselseitigen Wunsch charak-
abhängt, die jeweils von der Struktur einer Liebesbeziehung selbst terisiert, »mit der anderen Person auf umfassende Weise psychisch
gegeben wird. Die Beantwortung der Frage, in welchem Verhältnis und physisch« vereinigt zu sein.4 Ein solches gemeinsames »Wir«
die Liebe und die Moral zueinander stehen, wird vorentschieden kommt zustande, wenn beide Partner genügend Vertrauen besit-
durch die Art und Weise, in der das Besondere an persönlichen zen, vom jeweils anderen wegen genau der Eigenschaften geliebt
Beziehungen der Liebe gefaßt wird. Schon im Hinblick auf diesen zu werden, die aus der eigenen Sicht als konstitutiv für einen
einen Punkt unterscheiden sich die beiden Beiträge, die wir hier selbst gelten können.
veröffentlichen, ganz erheblich voneinander; die zwei Pole, zwi- Die Wertschätzung solcher Eigenschaften spielt wiederum für
schen denen sich eine solche deskriptive Bestimmung der Liebe die Einstellung, die Velleman als »Liebe« bezeichnet, überhaupt
bewegen kann, sind mit den Aufsätzen von David Velleman auf keine Rolle. Er begreift die Liebe als eine gesteigerte Form der Art
der einen, von Neil Delaney auf der anderen Seite schon beinah von Achtung, die wir allen anderen Menschen deswegen entge-
vollkommen umrissen. genbringen, weil sie über dieselben Fähigkeiten zur vernünftigen
David Velleman begreift die Liebe als eine besondere, nämlich Zwecksetzung oder, wie es auch heißt, zur »Wertschätzung« verfü-
wertschätzende Einstellung gegenüber einem anderen Menschen, gen wie wir selbst. Uber diese allgemeine Einstellung der Achtung,
die vollkommen unabhängig von einem interaktiven Zusammen- die Velleman wie eine emotionale Mitgift unserer Vernunftnatur
spiel ist; für ihn ist es deskriptiv unmaßgeblich, ob und wie sich behandelt, geht die Liebe nun in zwei Hinsichten hinaus, die zu-
3 Delaney, »Romantische Liebe und Verpflichtung aus Liebe«, in diesem Band
2 Vgl. exemplarisch die folgenden Sammelbände: Lamb (1997); Stuart (1995); S. 105-140.
Thomä (2000). 4 Ebd., S. 108.
102
57
sammengenommen nach seiner Auffassung deren Eigenart festle- strecken, die erst zukünftig in der gemeinsam geteilten Geschichte
gen: Im Unterschied zur Achtung »tut«, um Kant zu zitieren, die erworben werden.5
Liebe nicht nur »unserer Selbstliebe Abbruch«, sondern dämmt un- Während derartige Verpflichtungen eine selbstverständliche Vor-
sere Tendenz zum emotionalen Selbstschutz ein - wir geben uns als aussetzung jeder romantischen Liebesbeziehung bilden, gibt es nach
Liebende der geliebten Person in einer Weise preis, die uns ihr ge- Delaney einen weiteren Typus von Verpflichtungen, der erst zur
genüber in hohem Maße verwundbar macht. Unterscheidet sich so Geltung kommt, wenn deren Vitalität aufgrund von »unglückli-
die Liebe schon in ihrer Wirkung auf das Subjekt von der Achtung, chen« Entwicklungen bei einem der beiden Partner zu schwinden
so zusätzlich noch einmal dadurch, daß sie auf die äußere, als sym- droht. Sobald einer der beiden Liebenden durch Krankheit oder
bolhaft begriffene Erscheinung der anderen Person geheftet bleibt: andere Schicksalsschläge nicht mehr dazu in der Lage ist, die Ei-
Wir lieben - und achten nicht bloß - einen Menschen aufgrund genschaften beizubehalten, um derentwillen er geliebt werden
der besonderen Weise, in der in seinem Körper und Verhalten die wollte, wird er sich von seinem Gegenüber ein besonderes Maß an
uns allen gemeinsame Vernunftnatur zum Ausdruck gelangt. Die Fürsorge und Anteilnahme erhoffen, das in der Geschichte der ge-
Konsequenz einer solchen Analyse der Liebe ist nun, daß sie als eine meinsamen Beziehung begründet ist. Auch solche Verpflichtungen
nur graduelle Steigerung derselben Art von Wertschätzung anderer »aus Liebe« sind wie die Verpflichtungen »in der Liebe« Ausdruck
Personen betrachtet werden kann, als deren minimale Verkörpe- einer moralischen Parteilichkeit, die für die Geschichtlichkeit ro-
rung die Achtung erscheint; und Velleman kann dementsprechend mantischer Beziehungen charakteristisch ist: Sie entspringen aus
schließen, daß die Liebe nicht in einer Spannung zur Moral steht, der dynamischen Bindung zweier Personen zueinander und lassen
sondern nur eine der vielen Ausdrucksgestalten von deren »Partei- sich nicht einfach aus den allgemeinen Voraussetzungen einer Re-
lichkeit« für die menschliche Vernunftnatur ist. spektmoral herleiten. So stehen sich in den beiden Aufsätzen von
Velleman und Delaney die beiden Pole einer weitverzweigten Dis-
Von einer derartig harmonisierenden Schlußfolgerung ist Delaney kussion gegenüber. Für den einen ist die Liebe die gesteigerte Form
in seinem Beitrag schon deswegen denkbar weit entfernt, weil er einer moralischen Achtung, die wir alle jedem anderen Menschen
die Liebe im Unterschied zu Velleman nicht nur als eine rezipro- schulden, für den anderen ist sie eine historisch gewordene Form
ke, sondern auch als eine zielorientierte Einstellung begreift: Die der wechselseitigen Bindung zwischen zwei Menschen, die eine
wechselseitige Liebe beider Partner erschöpft sich nicht in der auf- vollkommen eigenständige Moral geschaffen hat.
merksamen Anteilnahme an der Individualität des jeweils anderen,
sondern will auf etwas hinaus, nämlich das Engagement und den
Einsatz der geliebten Person für die Realisierung der je eigenen Pro-
jekte und Ziele. Aus dieser teleologischen Struktur der Liebe, die
Velleman ja gerade in Abrede stellt, erwachsen nun für Delaney all
die wechselseitigen Wünsche und Verpflichtungen, die für roman-
tische Beziehungen charakteristisch sind: Solange solche Beziehun-
gen intakt und vital sind, erwarten beide Partner berechtigterweise
voneinander, daß sie sich offen, empfänglich und zustimmend auch
zu den Werten und Präferenzen des Gegenübers verhalten, die sich
erst in der Dynamik des gemeinsamen Lebens neu zu formieren
beginnen. Die Urteilsfähigkeit, die reziprok unterstellt wird, weil
man um seiner konstitutiven Eigenschaften willen geliebt werden
5 Hier berührt sich die Rekonstruktion Delaneys eng mit der Analyse Amelie Rortys
will, soll sich gewissermaßen auch auf die Eigenschaften noch er- in A. Rorty (2000).
102
59
J. David Velleman Ein Problem für die kantianische Ethik
Liebe als ein moralisches Gefühl
Die letztgenannten Argumente waren besonders überzeugend,
wenn sie von den Konsequentialisten vertreten wurden.3 Der Kon-
sequentialismus stellt keine grundsätzlichen Forderungen an die
Einleitung
Aufmerksamkeit des Handelnden: Er sagt, daß ein Handelnder so
denken sollte, wie es am nützlichsten ist, was selten einschließen
Man nimmt allgemein an, daß sich der Geist der Liebe und der wird, darüber nachzudenken, wie am meisten Gutes bewirkt wer-
Geist der Moral unterscheiden. Der moralische Standpunkt ist den könnte. Obwohl der konsequentialistische Maßstab unpar-
unparteiisch und bevorzugt kein bestimmtes Individuum, wo- teiisch und unpersönlich ist, erlaubt — und erfordert vermutlich —
hingegen uns die Bevorzugung einer bestimmten Person geradezu seine Erfüllung die parteiische und persönliche Aufmerksamkeit
als Inbegriff der Liebe erscheint. Liebe und Moral stellen deshalb, für Individuen.
wie man meint, widersprüchliche Anforderungen an unsere Auf- Die kantianische Moraltheorie kann sich nicht in dieser Weise
merksamkeit, weil sie uns abverlangen, die Dinge verschieden zu zurückhalten, weil sie an das praktische Denken des Handelnden
betrachten, gleichgültig ob sie uns nun letztlich zwingen, unter- grundsätzliche Forderungen stellt. Was die Moral von einem Han-
schiedliche Dinge zu tun, oder auch nicht.1 delnden verlangt, ist Kant zufolge, daß er gemäß einer Maxime
Die Frage soll lauten, ob eine Person beiden Perspektiven ge- handelt, die er verallgemeinern kann - oder grob gesagt, daß er
recht werden kann. Manche Philosophen glauben, die eine oder aus einer Sorte von Gründen handelt, die er für jedermann un-
die andere Perspektive werde zwangsläufig übergangen - daß also ter vergleichbaren Umständen für gültig ansehen kann.4 Weil der
eine liebende Person nicht umhinkönne, unachtsam zu sein, was Kantianismus einem Handelnden somit abverlangt, daß er in der
ihre moralische Pflicht angeht, während eine pflichtbewußte Per- Lage sein soll, eine bestimmte Sicht auf seine eigenen Gründe ein-
son nicht umhinkönne, lieblos zu sein.2 Andere Philosophen be- zunehmen, wird von diesem nicht nur moralisches Verhalten, son-
haupten, daß eine Person zwischen diesen beiden Perspektiven frei dern auch moralische Gesinnung gefordert. Manchmal wird diese
hin und her wechseln kann, dabei jede Perspektive mit Einsichten Moraltheorie von denjenigen, die behaupten, sie widerspreche dem
aus der jeweils anderen mäßigen und dadurch beiden Perspektiven Geist der Liebe, falsch dargestellt. Da heißt es zum Beispiel, die
gerecht werden kann. Kantische Ethik verlange, daß man anderen »gleiche Achtung« zu-
gestehe, und zwar in einem Sinne, der beinhaltet, »die Interessen
aller gleich zu gewichten«, was unvereinbar damit wäre, daß einem
einige Menschen wichtiger sind als andere.5 Doch die gleiche Ach-
tung in der Kantischen Ethik besteht darin, jedermann gleichen
1 Ich werde mich in diesem Beitrag nicht mit der Möglichkeit eines praktischen
Konflikts zwischen Liebe und Pflicht beschäftigen; mein alleiniges Interesse gilt
Zugang zu den Rechtfertigungen des Handelns zuzugestehen - was
dem vermuteten psychologischen Konflikt - dem, was ich als den geistigen Kon- daraufhinausläuft, die Rechte eines jeden, nicht aber die Interessen
flikt bezeichnet habe. Zu der These, daß sich Liebe und Pflicht in der Praxis wider-
sprechen, siehe Slote (1983), S. 86. Das Beispiel von Slote diskutiert Marcia Baron 3 Siehe Sidgwick (1981), S.432ff.; Conly (1983) und (1985); Railton (1984). Siehe
in ihrem Aufsatz »On Admirable Immorality« (Baron 1986, S. 558ff.). Eine andere auch Gewirth (1988) und Jackson (1991).
Fassung von Slotes Beispiel findet sich bei Susan Wolf, »Morality and Partiality« 4 Hier lasse ich viele Auslegungsprobleme beiseite, um eine Fassung des kategori-
(Wolf 199z, S.253). schen Imperativs anzugeben, die sowohl intuitiv einleuchtet als auch kanttreu ist.
2 Einige Philosophen sehen Liebe nur dann im Widerspruch zur Moral, sofern die Ich verteidige diese Version des kategorischen Imperativs in dem Aufsatz »The
letztere von einer bestimmten Moraltheorie konzipiert wird. Siehe z.B. Annas Voice of Conscience« (Velleman T999).
(2000) und Badhwar (1991). 5 Blum (1980), S. 44.
102 61
eines jeden als gleich anzusehen. Sich um einige Menschen mehr So einsichtig diese Lösung auch sein mag, so macht sie dem un-
zu kümmern als um andere kann bestens damit vereinbar sein, je- terstellten Problem doch zu viele Zugeständnisse. Wenn man argu-
dermann gleiche Rechte einzuräumen. mentiert, das Gewissen könne der Liebe Platz lassen, indem es sich
Dennoch sieht es so aus, als zwinge die Kantische Moral einen in den Hintergrund unserer Gedanken zurückzieht, macht man im-
Handelnden, mit einem ewig drängenden Vorbehalt zu leben, in- plizit das Zugeständnis, daß es in die Liebe eingreifen könnte, wenn
sofern er nicht nach einer Maxime handeln soll, die er nicht ver- es sich im Vordergrund aufhalten dürfte. Damit wird ein geistiger
allgemeinern kann. Dieser Vorbehalt droht in einige Motive und Konflikt zugegeben, bei dem man aber zeigt, daß er beherrschbar
Empfindungen einzugreifen, die normalerweise als wesentlich für ist, indem man die Konfliktparteien voneinander trennt.
die Liebe angesehen werden. Der moralisch Handelnde der kan- Wenn Liebe und Moral auch nur potentiell in diesem Grade
tianischen Theorie hält nur unter der Bedingung zu seinen gelieb- unverträglich wären, dann müßte die Liebe, wenngleich kein un-
ten Personen, als er es für jedermann als vernünftig ansehen kann, moralisches Gefühl, so doch zumindest nichtmoralisch sein. Liebe
zu den geliebten Personen zu halten, und dabei denkt er offenbar ist aber ein moralisches Gefühl. Wenn wir uns dabei ertappen, wie
»einen Gedanken zuviel« darüber nach, überhaupt an ihnen fest- wir um des Friedens willen Liebe und Moral voneinander trennen,
zuhalten. haben wir also schon einen Fehler gemacht.
Diese Formulierung des Problems stammt von Bernard Williams, Wir haben einen Fehler gemacht, denke ich, sobald wir die An-
der den Fall eines Mannes erörtert, der von mehreren Menschen in nahme eines geistigen Konflikts akzeptieren. Liebe ist in genau dem
Gefahr nur einen einzigen retten kann und der sich dafür entschei- Sinne ein moralisches Gefühl, in dem ihr Geist dem der Moral eng
det, seine eigene Frau zu retten. Williams bemerkt dazu, »von man- verwandt ist. Die Frage ist also nicht, ob man zwei divergierenden
chen (beispielsweise von seiner Frau) hätte gehofft werden können, Perspektiven Rechnung tragen kann, sondern vielmehr, wie diese
daß sein Beweggrund im Klartext der Gedanke wäre, daß es sich um beiden Perspektiven konvergieren.
seine Frau handelt, und nicht, daß es sich um seine Frau handelt und
es in Situationen dieser Art erlaubt ist, seine Frau zu retten«.6 Mögliche Lösungen
Die kantianischen Moralisten haben sich allerdings beeilt, darauf
hinzuweisen, daß ihre Theorie einem Handelnden sehr wohl erlaubt Eine Möglichkeit, die Perspektiven zusammenzufuhren, bestünde
zu handeln, ohne ausdrücklich zu bedenken, ob er seine Maxime darin, die kantianische Konzeption der Moral als unparteiisch zu
verallgemeinern kann, vorausgesetzt, er würde es bemerken, wenn verwerfen. Lawrence Blum empfiehlt eine Auffassung, die er Iris
er das nicht könnte, und es würde ihn von der Handlung abhalten. Murdoch zuschreibt: »Die moralische Aufgabe besteht nicht dar-
Die motivationale Kraft der Liebe kann nicht nur, sondern sollte in, ein Handeln hervorzubringen, das auf allgemeine und unpar-
auch in diesem minimalen Maße bedingt sein.7 Obwohl sich Kants teiische Prinzipien gegründet ist, sondern darin, sich bestimmten
unparteiische Moral niemals ganz von dem deliberativen Prozeß Personen zuzuwenden und auf sie einzugehen.«8 Blum zufolge läßt
freimachen kann, so ihre Argumentation, kann sie sich selbst un- sich eine Zusammenführung des Geistes von Liebe und Moral er-
auffällig genug machen, um innige persönliche Beziehungen zuzu- reichen, indem man in unserer Konzeption der Moral eine größere
lassen. Das Gewissen kann in der Rolle der Anstandsdame dabei- Parteilichkeit zuläßt.
sein, und durch eine solche unaufdringliche Beaufsichtigung muß Ich glaube, diese Auffassung ist alles andere als richtig. Die Kon-
sich die Liebe nicht gestört fühlen. vergenz von Liebe und Moral wird nicht zu erzielen sein, indem
man aufhört, sich die Moral unparteiisch zu denken, sondern in-
6 Williams (1984), S. 27.
7 Siehe Allison (1990), S. 191-198; Herman (1993), bes. Kapitel 1, 2 und 9; Baron dem man sich die Parteilichkeit der Liebe anders denkt.
(1986) und (1995), Kap. 4-6. Siehe auch Paton (1956); Dent (1974); Midgley (1978);
Piper (1987) und Stark (1997). 8 Blum (1986), S. 344. Blum bezieht diese Auffassung aus Murdoch (1970).
102 63
Hier besteht die Gefahr, in einen »rechtschaffenen Unsinn« zu werden? [...] Die Liebe, die zur richtigen Antwort führt, ist eine Aufgabe
verfallen, wie Williams es nennt, weil man in bezug auf die Liebe zu der Gerechtigkeit und des Realismus und des wirklichen HinschauensP
intellektuell wird.9 Ich werde versuchen, den Unsinn zu vermeiden,
aber ich fürchte, die Rechtschaffenheit werde ich nicht ganz ver- Murdochs Redeweise von Unpersönlichkeit, Abstandnehmen, Rea-
meiden können, weil ich meine, daß es den Moralphilosophen gut lismus und Gerechtigkeit gibt keinen Hinweis darauf, daß Partiku-
anstehen würde, bei diesem Gegenstand eher mehr als weniger in- larität Parteilichkeit zur Folge haben muß.
tellektuell zu sein. Von vielen Philosophen wird eine Erklärung der Lassen Sie mich diese Äußerungen über Murdoch etwas erläu-
Liebe angeboten, die für mich kaum wie eine Analyse des Gefühls tern, indem ich hinzufüge, daß sich ihr Begriff für das, was Liebe
selbst klingt, sondern eher wie ein Verzeichnis all der Wünsche und ausmacht - bei ihr »attention« - , als »Achtung« ins Deutsche über-
Präferenzen, welche in liebevollen Beziehungen der bekanntesten setzen läßt, was auch Kants eigener Ausdruck für das Motiv der Mo-
Formen aufzutreten pflegen. Sobald wir die Liebe von den Neigun- ral ist.14 Diese Übersetzung enthält ein Wortspiel, insofern Achtung
gen und Sehnsüchten unterscheiden, die gewöhnlich mit ihr ver- [im Original deutsch] nicht bloß Aufmerksamkeit bezeichnen kann,
bunden sind, werden wir die Annahme aufgeben, daß dieses Gefühl sondern auch eine Form der Wertschätzung, und letztere ist die von
in einem Sinne parteiisch ist, der es zum Geist der Moral in einen Kant intendierte Bedeutung.15 Diese beiden Bedeutungen sind aber
Widerspruch treten läßt, denke ich.10 nicht unabhängig voneinander: Es gibt eine tiefgründige begriffli-
Ich kann meine Schlußfolgerung schon andeuten, indem ich che Verbindung zwischen Schätzen und Sehen — eine Verbindung,
darauf hinweise, daß Murdochs Ethik der Aufmerksamkeit für das die sich in Wörtern wie »respect« und »regard« und sogar in Kants
Partikulare mit der Ethik der Unparteilichkeit nicht wirklich un- Synonym für Achtung, dem lateinischen »reverentia«, zeigt.16 Wenn
verträglich ist. Ganz im Gegenteil, Murdoch betont, daß die er-
forderliche Aufmerksamkeit »unpersönlich« und eine »Übung im 13 Ebd., S.91.
Abstandnehmen« ist.11 14 Iris Murdoch selbst stellt diese Verbindung her in Murdoch (1997). Nachdem sie
Gewiß, Murdoch setzt die Aufmerksamkeit für Individuen mit behauptet hat, daß »Liebe die äußerst schwierige Bewußtwerdung ist, daß etwas
einer Form der Liebe für sie gleich,12 und bei einer auf Liebe ge- anderes als man selbst wirklich ist« (ebd., S. 215), sagt Murdoch in diesem Aufsatz,
daß diese »Übung, über sich selbst hinauszugehen [...], sehr der Achtung gleicht«.
gründeten Moral könnte man natürlich annehmen, daß sie sich
»Kant war großartig nahe an der Sache dran«, setzt sie hinzu (ebd., S.216). Gewiß,
von jeder Moral unterscheidet, die unparteiisch ist. Doch die Lie- Murdochs hauptsächliches Anliegen in diesem Aufsatz besteht darin, Kant dafür
be verkörpernde Aufmerksamkeit ist nach Murdochs Auffassung zu kritisieren, daß er »Angst vor dem Partikularen« habe (ebd., S. 214). Ich meine
streng objektiv und gerecht: aber, Murdoch unterschätzt das Ausmaß, in dem der Gegenstand der Kantischen
Achtung das in einer bestimmten Person verkörperte allgemeine Gesetz sein kann
Sollte ein zurückgebliebenes Kind zu Hause behalten werden oder in einer oder in dem das Objekt der Liebe eine bestimmte Person als Verkörperung von
Einrichtung untergebracht werden? Sollte ein älterer Verwandter, der ein etwas Allgemeinem sein kann. Kurz gesagt, ich denke, Murdoch unterschätzt, wie
Störenfried ist, betreut werden oder gebeten werden, sich eine andere Blei- nahe Kant an der Sache dran war.
be zu suchen? Sollte eine unglückliche Ehe der Kinder wegen fortgesetzt 15 Zum Begriff des Respekts für Personen in der Moraltheorie siehe Darwall (1977)
und Frankena (1986). Wie diese Erörterungen deutlich machen, ist die Kantische
9 Williams (1984), S. 25. Achtung nicht dasselbe wie Wertschätzung (esteem). Sie ist vielmehr so etwas wie
10 Vergleiche den ähnlichen Versuch, die Parteilichkeit der Liebe neu zu denken, bei eine praktische Rücksicht, die einer anderen Person entgegengebracht wird. Siehe
Whiting (1991). auch Dillon (1992a).
1 1 Murdoch (1970), S. 65. 16 Kant, Die Metaphysik der Sitten, S. 402. Alle Angaben zu Kants Werken beziehen
1 2 »Das Gebet ist eigentlich kein Bittgesuch, sondern einfach Aufmerksamkeit für sich auf die Akademie-Ausgabe seiner gesammelten Schriften, Berlin: De Gruy-
Gott, die eine Form der Liebe ist« - »die Fähigkeit zu lieben, das bedeutet zu ter, 1902 ff., und werden im folgenden so zitiert: Kritik der reinen Vernunft-. KrV;
sehen« - »Aufmerksamkeit für die Realität, inspiriert von der Liebe, aus Liebe Grundlegung zur Metaphysik der Sitten-. G M S ; Kritik der praktischen Vernunfi-. K p V ;
bestehend« (ebd., S.55, 66f.). Die Metaphysik der Sitten-, M S .
102
65
Liebe tatsächlich eine Angelegenheit des »wirklichen Hinschauens« haltensregeln zu bezeichnen; zweitens ist eine abstrakte Form oder
ist, dann sollte sie anderen Fällen eines Schätzen-als-Sehens, darun- ein abstrakter Status gemeint, den einige Regeln verkörpern (wenn
ter auch der Kantischen Achtung, ähnlich sein. sie, wie wir sagen, Gesetzeskraft haben), und drittens die damit
Ich beabsichtige in diesem Text, Liebe und Kantische Achtung verbundenen sozialen Institutionen, die diese Regeln anwenden
auf eine Weise gegenüberzustellen, die für beide erhellend ist. Ei- (beispielsweise, wenn wir sagen, wir klagen das Gesetz ein).
nerseits möchte ich zeigen, daß wir einige Probleme mit unserem Kant verwendet »das Gesetz« ähnlich dem ersten Sinn, wenn er
Verständnis von Liebe lösen können, indem wir die Theorie des sich auf das Ergebnis der Universalisierung bezieht, auf das »allge-
Werts und der Wertschätzung anwenden, die Kant für die Achtung meine Gesetz«, in das man die eigene Maxime in der Vorstellung
entwickelt hat. Andererseits hoffe ich, mit dieser Anwendung von umformen muß, um ihre Zulässigkeit zu prüfen. Er spricht auch in
Kants Theorie zeigen zu können, daß ihr ernster und abschrecken- diesem Sinne vom kategorischen Imperativ als einem Gesetz.17
der Ton eben nichts ist als das - ein Ton, in dem Kant die Theorie Meines Wissens stellt Kant aber das Gesetz in diesem ersten
darlegte, keine wesentliche Charakteristik der Theorie selbst. Viel- Sinne nie als den eigentlichen Gegenstand des Respekts oder der
mehr ist diese für Angelegenheiten des Herzens im Grunde genom- Achtung hin. Der moralisch Handelnde, der seine Maxime imagi-
men sehr gut geeignet. nativ in ein allgemeines Gesetz umformt, mag später aus Achtung
vor dem Gesetz handeln, doch seine Achtung ist nicht unmittelbar
auf das Gesetz gerichtet, das er sich vorgestellt hat; und sie ist auch
Achtung vor dem Gesetz und Achtung für Personen nicht auf die Regel gerichtet, die diese in der Vorstellung erfolgende
Übung verlangt. Die Befassung des Handelnden mit dieser Übung
Ein mögliches Hindernis für dieses Vorhaben besteht darin, daß die - und somit dessen Befolgung der Regel - bezeugt vielmehr seine
Kantische Achtung zunächst einmal Achtung vor dem Gesetz ist; Achtung vor dem Gesetz in irgendeinem anderen Sinne.
eine Haltung, von deren Gegenstand man gemeinhin annimmt, sie Kant spricht vom Gesetz eher in dem abstrakten, zweiten Sinn,
bestehe in Verhaltensregeln oder (wie Blum sagt) in »allgemeinen wenn er die Ableitung des kategorischen Imperativs vornimmt:
und unparteiischen Grundsätzen«. Eine Haltung gegenüber Regeln
Denn da der Imperativ außer dem Gesetze nur die Notwendigkeit der
oder Grundsätzen hätte aber mit der Liebe für eine Person nichts
Maxime enthält, diesem Gesetze gemäß zu sein, das Gesetz aber keine
gemein.
Bedingung enthält, auf die es eingeschränkt war, so bleibt nichts als die
Ich werde allerdings die Ansicht vertreten, daß die Kantische Allgemeinheit eines Gesetzes überhaupt übrig, welchem die Maxime der
Achtung keine Haltung gegenüber Regeln oder Prinzipien ist. Sie Handlung gemäß sein soll, und welche Gemäßheit allein den Imperativ als
ist vielmehr eine Einstellung gegenüber dem idealisierten, ratio- notwendig vorstellt.18
nalen Willen, der als ein Gesetz näher bestimmt ist, weil er dem
tatsächlichen, empirischen Willen als Norm dient - und daher im Hier ist das Gesetz, mit welchem der kategorische Imperativ Über-
Grunde genommen als das Gesetz näher bestimmt ist, das der Wille einstimmung verlangt, das Gesetz im abstrakten Sinne - die allge-
sich selbst ist. Dieser rationale Wille ist nach Kants Auffassung auch meine Form des Gesetzes - und nicht irgendein bestimmtes Gesetz,
das intelligible Wesen einer Person: Kant nennt ihn deren wahres das eine Bedingung enthielte, durch die es beschränkt wäre. In die-
oder eigentliches Selbst. Die Achtung für dieses Gesetz ist folglich sem Zusammenhang ist das Gesetz die Abstraktion, die in einer
dieselbe Einstellung wie die Achtung für die Person; und deshalb früheren Textstelle als »die Vorstellung des Gesetzes an sich selbst«
kann sie vielleicht trotz allem mit der Liebe verglichen werden. beschrieben wird.19
Sogar im Rahmen der Grundlegung spricht Kant von dem Ge- 1 7 Kant (GMS), S.420, 426, 437.
setz in mehreren verschiedenen Bedeutungen. Das englische Wort 18 Ebd., S, 471 f., siehe auch S. 402.
»law« wird normalerweise verwendet, um erstens bestimmte Ver- 19 Ebd., S-400f.
102
67
In dieser früheren Textstelle sagt Kant offenbar, daß die Vorstel- wie »der Wille ist sich selbst Gesetz« das Prinzip ausdrücken kann,
lung des Gesetzes an sich das eigentliche Objekt der Achtung und gesetzesähnlichen Maximen gemäß zu handeln. Vielleicht ist die
demzufolge der Bestimmungsgrund des guten Willens ist. Doch Verbindung die, daß der Wille sich selbst insofern Gesetz ist, als
dann stellt er die weitergehende Frage: »Was kann das aber wohl er sich gesetzähnliche Maximen für das Handeln gibt, wodurch er
für ein Gesetz sein, dessen Vorstellung, auch ohne auf die daraus sich selbst gegenüber als gesetzgebende Autorität auftritt, und da-
erwartete Wirkung Rücksicht zu nehmen, den Willen bestimmen mit dem als dritte Bedeutung genannten Sinn entspricht, der oben
muß, damit dieser schlechterdings und ohne Einschränkung gut für das englische Wort »law« erforscht wurde.
heißen könne?« Er antwortet darauf mit einer sehr subtilen For- Es gibt allerdings eine weitere Hinsicht, in welcher der Wille sich
mulierung: »Da ich den Willen aller Antriebe beraubt habe, die selbst Gesetz ist. Kant sagt, daß sich ein Handelnder dann, wenn
ihm aus der Befolgung irgendeines Gesetzes entspringen könnten, er sich als Teil der intelligiblen Welt begreift, »eines guten Willens
so bleibt nichts als die allgemeine Gesetzmäßigkeit der Handlun- bewußt ist, der für seinen bösen Willen als Gliedes der Sinnenwelt
gen überhaupt übrig, welche allein dem Willen zum Prinzip dienen nach seinem eignen Geständnisse das Gesetz ausmacht«.25 Kant
soll.«20 Die englische Fassung macht nicht klar, daß dasjenige, was stellt sich hier nicht vor, daß der eine Wille den anderen kausal be-
den Willen bestimmen soll, in dieser Textstelle nicht die Idee des herrscht: Der intelligible und der sinnliche Wille sollen schließlich
allgemeinen Gesetzes ist, sondern die Idee der Übereinstimmung zwei verschiedene Aspekte ein und derselben Sache sein. Kant stellt
von Handlungen mit diesem Gesetz - die Vorstellung der »allge- sich den rein intelligiblen Willen vielmehr als ein für den sinnlichen
meinen Gesetzmäßigkeit der Handlungen«. Kurz darauf sagt Kant, Willen errichtetes Paradigma oder Ideal vor. Der Wille ist in dem
daß das Objekt der Achtung »eine allgemeine Gesetzgebung« ist, Sinne sich selbst Gesetz, als sein eigener intelligibler oder noume-
eine Gesetzgebung also, kein Gesetz.21 naler Aspekt dem sinnlichen oder phänomenalen Selbst als Ideal
Was den guten Willen bestimmt, indem es Achtung oder Re- dient. In seiner Eigenschaft als Ideal läßt sich der noumenale Wille
spekt gebietet, ist demnach nicht genau die Idee des Gesetzes im in einem vierten Sinne, der dem englischen Wort eher fremd ist, als
Abstrakten, sondern vielmehr die Idee des Gesetzes, wie es den ein Gesetz bestimmen.
Handlungen einer Person vorgeschrieben und in ihnen aufgegrif- Der ideale Wille ist ein solcher, der nach gesetzähnlichen Ma-
fen wird. Dieses Objekt der Achtung bleibt gleichwohl dunkel, sagt ximen handelt, und dieses Ideal ist das, was uns Achtung abnö-
Kant - und wir können dem nur zustimmen.22 Wir können jedoch tigt: »Unser eigener Wille, sofern er nur unter der Bedingung einer
nach Klärung suchen, indem wir berücksichtigen, in welchem an- durch seine Maximen möglichen allgemeinen Gesetzgebung han-
deren Sinn Kant noch von dem Gesetz spricht. deln würde, dieser uns mögliche Wille in der Idee ist der eigentli-
Kant sagt, der Wille ist sich selbst Gesetz.23 In welchem Sinne ist che Gegenstand der Achtung.«26 Achtung für das Gesetz ist deshalb
der Wille Gesetz?
2 5 Ebd., S. 455. Dazu auch diese Textstelle aus Kants Kritik der praktischen Vernunft.
Kant erklärt dies so: »Der Satz aber: der Wille ist in allen Hand-
»Man darf nur das Urteil zergliedern, welches die Menschen über die Gesetzmä-
lungen sich selbst ein Gesetz, bezeichnet nur das Prinzip, nach kei- ßigkeit ihrer Handlungen fällen: so wird man jederzeit finden, daß, was auch
ner anderen Maxime zu handeln, als die sich selbst auch als ein die Neigung dazwischen sprechen mag, ihre Vernunft dennoch, unbestechlich
allgemeines Gesetz zum Gegenstande haben kann.«24 Diese Erklä- und durch sich selbst gezwungen, die Maxime des Willens bei einer Handlung
rung ist wohl kaum zufriedenstellend, denn sie macht nicht klar, jederzeit an den reinen Willen halte, d.i. an sich selbst, indem sie sich als a priori
praktisch betrachtet« (KpV, S. 32). Der Vorgang, eine Maxime der Prüfung durch
20 Ebd., S. 402. den kategorischen Imperativ zu unterziehen, wird hier damit gleichgesetzt, sie
21 Ebd., S. 403. Siehe auch S.436. zu vergleichen mit einer Auffassung des Willens selbst als eines Vermögens der a
22 Ebd., S. 403. priori praktischen Vernunft.
23 Ebd., S.440, 447. 26 Kant (GMS), S. 440. Siehe ebd., S. 435: Handlungen aus Pflicht »stellen den Willen,
24 Ebd., S. 446. der sie ausübt, als Gegenstand einer unmittelbaren Achtung dar«; siehe auch S. 436.
102 68
Achtung für jenen intelligiblen Aspekt, unter dem unser Wille ein Die Achtung vor dem Gesetz ist folglich eine Haltung gegenüber
Ideal oder ein Gesetz ist für sein empirisches Selbst. Da der intel- dem rationalen Willen. Und der rationale Wille einer Person ist
ligible Aspekt des Willens darin besteht, gesetzähnliche Maximen es, der »sich in eine Verstandeswelt hinein denkt«, als Träger der
vorzugeben, ist die Achtung für dieses Ideal auch Achtung für den Freiheit, die in der Sinnenwelt nicht anzutreffen ist.28 Der rationale
Willen als eine autonome Autorität; und in beiden Gestalten gilt Wille macht daher die Person aus, wie sie an sich ist und nicht
er als Achtung vor dem Gesetz. Doch die Achtung vor dem Gesetz wie sie erscheint; er ist, wie Kant sagt, »unser eigentliches Selbst«.29
richtet sich, so verstanden, weder auf gesetzähnliche Maximen noch Wenn also die Achtung vor dem Gesetz im Grunde genommen
auf den kategorischen Imperativ als Regel betrachtet. Ihr Objekt ist Achtung für den rationalen Willen ist, dann ist sie Achtung für das,
vielmehr das Ideal, das uns durch den kategorischen Imperativ vor- was das wahre oder eigentliche Selbst einer Person ausmacht.
gehalten wird - nämlich der intelligible Aspekt unseres Willens als Daraus folgt letztlich, daß die Achtung vor dem Gesetz, die vielen
Vermögens, gemäß gesetzähnlichen Maximen zu handeln. als etwas vorgekommen war, das die Kantische Ethik unpersönlich
Wir können nun verstehen, warum Kant zuvor sagte, das eigent- macht, im Grunde genommen eine Haltung gegenüber der Person
liche Objekt der Achtung sei eine mögliche allgemeine Gesetzge- ist, da das Gesetz, das Achtung erheischt, dem Ideal eines rationalen
bung oder die Idee von Handlungen, die mit dem allgemeinen Ge- Willens entspricht, der im Kern der Persönlichkeit zu finden ist.
setz übereinstimmen, anstatt einfach das allgemeine Gesetz selbst. Dieses Resümee versetzt uns in die Lage, darüber nachzudenken,
Diese Ideen von Gesetzgebung und Gesetzesbefolgung sind Kants wie die Kantische Achtung einer anderen moralischen Einstellung
erste Annäherungen an die Vorstellung des rationalen, autonomen zur Person - der Einstellung der Liebe nämlich - gleichen könnte.
Willens, der tatsächlich das eigentliche Objekt der Achtung ist. Die
Achtung für dieses Objekt kann auch als Achtung vor dem Gesetz
bezeichnet werden, aber nicht deshalb, weil es die Achtung für eine Die konative Analyse der Liebe
Regel, eine Regelsammlung oder gar die abstrakte Form von Regeln
ist. Sie kann Achtung vor dem Gesetz heißen, weil sie Achtung für »Liebe [...] sieht anders aus, nachdem man Freud gelesen hat«, sagt
das maßgebliche Ideal des Selbst ist, das der intelligible Aspekt des Richard Rorty.30 Sie sieht anders aus, weil sie Rorty zufolge »mora-
Willens für diesen darstellt, was eben genau sein Aspekt als autono- lisch zweifelhaft« erscheint. Wenn wir unsere Vorstellung von Liebe
me Gesetzesautorität ist.27 neu durchdenken wollen, wie ich es vorgeschlagen habe, dann kön-
27 Diese Lesart passt anscheinend nicht zu einer Aussage in der Fußnote, die Kants nen wir ebensogut bei Freud anfangen.
anfänglicher Erörterung der Achtung angefügt ist: »Alle Achtung für eine Person
ist eigentlich nur Achtung fürs Gesetz (der Rechtschaffenheit usw.), wovon jene
uns das Beispiel gibt« (Kant, GMS, S.400). Meine Interpretation besagt im Ge- sind. Ihre Funktion als Gegenstand der Achtung unter ihrem rein intelligiblen
genteil, daß alle Achtung für das Gesetz eigentlich nur Achtung für die Person Aspekt, nämlich als Beispiele rationaler Natur, stimmt mit dem Punkt überein,
ist. den Kant verdeutlichen will. Gerade unter diesem Aspekt verkörpern Personen,
Der Zusammenhang dieser Aussage ist wichtig für ihre Interpretation. In der wie es meiner Interpretation entspricht, das Gesetz, das Gegenstand der Achtung
vorliegenden Fußnote nimmt Kant einen Einwand dahin gehend vorweg, die ist. »Das Gesetz [...] wovon jene [Person] uns das Beispiel gibt« ist demnach ein
Achtung sei »nur Zuflucht in einem dunkelen Gefühle«, kein »Begriff der Ver- und dasselbe wie die rationale Natur, von der sie uns ein Beispiel gibt. (Siehe auch
nunft«. Kant entgegnet auf diesen Einwand, obgleich Achtung »ein Gefühl ist, so Kant, KpV, S. 76ff., was diese Interpretation zu stützen scheint.)
ist es doch kein durch Einfluß empfangenes, sondern durch einen Vernunftbegriff 28 Kant (GMS), S. 458.
selbstgewirktes Gefühl«. Er gibt sich große Mühe zu betonen, daß Achtung eine 29 Ebd., S. 457 f., siehe auch S. 461.
Antwort auf etwas in der rationalen Ordnung ist und nicht auf irgend etwas in der 30 R. Rorty (1980), S. 180. Murdoch meint, Freud präsentiere uns »ein realistisches
empirischen Welt. - Kants Aussage zum Gegenstand der Achtung muß in diesem und detailliertes Bild des gefallenen Menschen« (Murdoch 1970, S.51). Die Er-
Licht gedeutet werden. Sie soll dazu dienen, meine ich, Personen als eigentliche örterung von Freud ist mein Versuch, klar und deutlich herauszuarbeiten, was in
Objekte der Achtung auszuschließen, insofern sie Bewohner der empirischen Welt Murdochs kurzen Anspielungen auf Freud implizit gemeint ist (ebd., S. 46-51).
7° 71
Freuds Triebtheorie individuiert,36 für welches das Objekt ein zufälliges und ersetzbares
Mittel ist.37
Nun könnte man meinen, daß Freud die Liebe moralisch zweifel- Die Konzeption der Liebe als eines Triebes kann verschiedene
haft werden läßt, indem er sie auf Sex reduziert. Sogar brüderliche unliebsame Implikationen haben. Eine Implikation, die Freud be-
Liebe - sowohl in der buchstäblichen als auch der metaphorischen reitwillig akzeptiert, ist, daß die Liebe den Blick des Liebenden eher
Variante - wird von Freud als zielgehemmte Libido betrachtet. zu trüben statt zu klären pflegt. Für Freud ist Liebe alles andere als
Die Triebe »haben ihre direkt sexuellen Ziele nicht aufgegeben, eine Übung in »wirklichem Hinschauen«.
werden aber von der Erreichung derselben durch innere Wider- In der Freudschen Theorie liegt die Befriedigung eines Triebs
stände abgehalten, begnügen sich mit gewissen Annäherungen an gänzlich im Innern des Subjekts, weil sie in der Aufhebung oder
die Befriedigung und stellen gerade darum besonders feste und Veränderung einer inneren Reizquelle besteht. Ein Trieb konzen-
dauerhafte Bindungen unter den Menschen her«.31 Ich glaube al- triert sich daher nur auf ein Objekt, insofern es als Quelle einer
lerdings, daß dasjenige, was die Liebe moralisch fragwürdig wer- inneren Erleichterung gebraucht werden kann - ein Kratzen für
den läßt, wenn sie so verstanden wird, nicht der Umstand ist, daß das vom Subjekt verspürte Jucken. Und ein Kopf, den es juckt, hat
sie grundsätzlich sexuell ist, sondern daß sie die Form eines Triebs einfach den Hang, sich einzubilden, Objekte seien zum Kratzen
annimmt.32 geeignet.
Freud versteht einen Trieb als einen konstanten, internen Stimu- Das hat zur Folge, daß die Liebe der Freudschen Theorie bei wei-
lus, den das Subjekt beseitigen möchte, woraufhin es eine vorüber- tem keine Übung in genauer Wahrnehmung der geliebten Person
gehende, wiederholbare Befriedigung erreicht, auf die der Trieb ist, sondern häufig eine Übung in Fehlwahrnehmung. Im Zustand
abzielt, wie es heißt.33 Zusätzlich zu diesem Ziel hat der Trieb auch des Verliebtseins, der Freud zufolge typischerweise durch Über-
ein Objekt, »dasjenige, an welchem oder durch welches der Trieb schätzung und Übertragung gekennzeichnet ist, steigert sich die
sein Ziel erreichen kann«. Die Bindung an dieses Objekt ist jedoch Fehlwahrnehmung außerordentlich. In der Überschätzung proji-
rein instrumenteil. Das Objekt »ist das variabelste am Triebe, nicht zieren wir verschiedene herausragende Eigenschaften auf unser Ob-
ursprünglich mit ihm verknüpft, sondern ihm nur infolge seiner jekt, die wir unserem Ich-Ideal entliehen haben, und erzeugen »die
Eignung zur Ermöglichung der Befriedigung zugeordnet«.34 Ein Täuschung [...], daß das Objekt seiner seelischen Vorzüge wegen
Trieb ist folglich in keinem Sinne eine Reaktion auf sein Objekt. auch sinnlich geliebt wird, während umgekehrt erst das sinnliche
Er ist ein vorab vorhandenes Bedürfnis35 und wird durch sein Ziel Wohlgefallen ihm diese Vorzüge verliehen haben mag«.38
In der Übertragung ist die Zuneigung, die wir für ein Objekt
empfinden, lediglich eine Wiederholung von Gefühlen, die ur-
31 Freud (1923), S.232. Siehe auch Freud (1930), S.4öif.; Freud (1921), S. 98 f., 154- sprünglich für andere Objekte empfunden wurden, so daß wir den
157. Freud (1912), S. 371 f.; Freud (1905), S. 99 t Bezug zu der geliebten Person »durch ein Dornengestrüpp nicht
32 Die wörtliche Übersetzung für Trieb lautet »drive«, nicht »instinct« wie in der
greifbarer anderer« herstellen, wie es eine Kommentatorin ausge-
Standard Edition. Kritik an dieser Übersetzung übt Bruno Bettelheim in Bettel-
heim (1984), S. 103-112. drückt hat.39 Freud betont, daß die Übertragungsliebe eines Pa-
33 Freud (1915a). Siehe auch Freud (1933), S.103. Freud änderte später die Vorstel- tienten zum Analytiker regelmäßig »unter den ungünstigsten Be-
lung, daß Triebe auf die Beseitigung einer Spannung abzielen, die auf einen Reiz
zurückgeht, insoweit er die Möglichkeit einführte, daß sie auf einen bestimmten 36 Siehe Freud (1905), S.68.
qualitativen Charakter im Reiz abzielen (Freud 1924). Diese Änderung ist für 37 Freud (1915a), S.215: »[Das Objekt] kann im Laufe der Lebensschicksale des Trie-
meine Absichten nicht von Bedeutung. bes beliebig oft gewechselt werden; dieser Verschiebung des Triebes fallen die
34 Freud (1915a), S. 215. bedeutsamsten Rollen zu.«
3 5 Freud selbst bietet für den motivierenden Reiz eines Triebs das Wort »Bedürfnis« 38 Freud (1921), S.124. Siehe auch Freud (1905), S-49f.; Freud (1914), S.i54f.
an (ebd., S. 212). 39 Malcolm (1983), S.15.
102 73
dingungen, bei geradezu grotesken Mißverhältnissen immer wieder müssen sie nicht so sehen oder motiviert sein, sie so zu sehen, wie
zum Vorschein kommt«.40 Er ist aber überzeugt, daß derselbe Me- sie wirklich ist.
chanismus irregeleiteter Zuneigung nicht nur in der analytischen Ich glaube, Freud untergrub das moralische Ansehen der Liebe,
Beziehung wirksam ist, sondern immer dann, wenn wir verliebt indem er ihr auf diese Weise die Augen trübte, nicht indem er ihre
sind.41 Genitalien entblößte. Wie Murdoch sagt: »Der Hauptfeind morali-
Natürlich ist die Liebe, die wir empfinden, wenn wir verliebt scher Vorzüglichkeit [...] ist die persönliche Phantasie: das Gewebe
sind, diejenige, von der das Sprichwort sagt, sie mache blind. Uber- aus Selbstverherrlichung und tröstenden Wunschträumen, das uns
schätzung und Übertragung sind lediglich die Mechanismen, mit daran hindert, zu sehen, was dort draußen ist.«43 Freud bettete die
denen Freud die Blindheit romantischer Liebe erklärt. Und ich Liebe tief ins Gewebe der Phantasie ein und schloß sie damit aus
möchte nicht behaupten, die blinde, romantische Liebe habe ir- dem moralischen Unternehmen aus.
gendeine besondere Nähe zur Moral. Wenn ich sage, Liebe sei ein
moralisches Gefühl, denke ich an die Liebe zwischen engen Freun- Analytische Philosophen
den im Erwachsenenalter und zwischen Angehörigen - Ehepartner über die Liebe
und andere Lebenspartner inbegriffen - , soweit ihre Liebe die Wir-
kungen von Überschätzung und Übertragung bereits hinter sich Man könnte erwarten, daß sich analytische Philosophen im Hin-
gelassen hat. blick auf das Thema Liebe von den Psychoanalytikern unterschei-
Leider nennt Freud keinen Grund dafür, warum die Kräfte, die den, und diese Erwartungen haben sie auch erfüllt, insofern sie die
der Fehlwahrnehmung im Falle der romantischen Liebe Vorschub Betonung des Sexuellen abgeschwächt haben. Hinsichtlich der psy-
leisten, in ihren zielgehemmten Ausprägungen als Liebe zwischen chologischen Form der Liebe befinden sie sich aber in unvermuteter
Eltern und Kindern oder als Liebe zwischen Geschwistern oder Einmütigkeit mit Freud, denn sie neigen zu der Auffassung, daß die
Freunden zu irgendeiner klareren Wahrnehmung führen sollten.42 Liebe in gleicher Weise wie der freudianische Trieb ein Ziel hat.
Bei der Zielhemmung wird lediglich etwas anderes als das wirk- Hierzu einige Beispiele:
lich Gewollte verfolgt, und so gesehen ist sie jenen Mechanismen Henry Sidgwick: »Liebe ist nicht bloß ein Wunsch, dem ge-
ähnlich, mit denen »sinnliches Wohlgefallen« gegen »seelische Vor- liebten Objekt zu nützen, obwohl sie immer auch einen solchen
züge« ausgetauscht oder ein Liebesobjekt durch ein anderes ersetzt Wunsch beinhaltet. Sie ist hauptsächlich ein angenehmes Gefühl,
wird. Freuds Erklärung für die Blindheit romantischer Liebe gibt das von einem bestimmten Empfinden der Vereinigung mit einer
uns demnach Grund zur Vermutung, daß die Liebe in allen ihren anderen Person abzuhängen scheint, und sie umfaßt neben dem
Formen zumindest an einem getrübtem Blick krankt. Wenn wir wohlwollenden Impuls den Wunsch nach Gesellschaft mit der ge-
jemanden lieben, richten wir unsere kindlichen Bedürfnisse auf liebten Person.«44
diese Person und bemühen all unsere Vorstellungskräfte, um sie Laurence Thomas: »Liebe heißt grob gesagt (sehr grob), sich in
uns als eine Quelle zu deren Befriedigung hinzustellen. Aber wir dem intensiven und nicht flüchtigen (jedoch nicht notwendig dau-
40 Freud (1916-17), S.459. erhaften) Wunsch verankert zu fühlen, mit dem fraglichen Indivi-
41 Freud (1915b), S. 317. Tatsächlich sagt Freud, die Übertragung beherrsche »über- duum, oder jedenfalls dessen idealisierter Version, eine Beziehung
haupt die Beziehungen einer Person zu ihrer menschlichen Umwelt« (Freud
1925, S. 68). Siehe auch Freud (1910), S. 55: »Die Übertragung stellt sich in allen 43 Murdoch (1970), S. 59. Murdoch spricht hier nicht eigens von Freud, obwohl
menschlichen Beziehungen ebenso wie im Verhältnis des Kranken zum Arzte sie bereits festgestellt hat, daß »Freud eine durchweg pessimistische Sicht auf die
spontan her [...].« menschliche Natur hat«, in welcher die »Phantasie stärker ist als die Vernunft«
42 Siehe z.B. Freuds Erklärung der Elternliebe als eine Form narzißtischer Über- (ebd., S. 51; siehe auch S. 66f.). Z u einer ähnlichen Diskussion von Freuds Kon-
schätzung: »Die rührende, im Grunde so kindliche Elternliebe ist nichts anderes zeption der Liebe siehe Cavell (1992), bes. S.8ifF.
als der wiedergeborene Narzißmus der Eltern [...]« (Freud 1914, S. 158). 44 Sidgwick (1981), S. 244.
102
75
wechselseitiger Fürsorge, Teilhabe und Expression im Physischen Alan Soble: »Wenn x y liebt, dann will x das Beste für y und
zu unterhalten.«45 handelt, soweit ihm oder ihr das möglich ist, im Sinne des Wohls
Harry Frankfurt: »Das, woran ich denke, wenn ich von Liebe für y.«52
spreche, ist grob gesagt und auch nur zum Teil ein Interesse am Diese Aussagen haben das wiederkehrende Thema gemeinsam,
Wohlergehen oder am Gedeihen des geliebten Objekts, das mehr daß Liebe ein bestimmtes Syndrom von Motiven ist - in erster Li-
oder weniger uneigennützig und auch mehr oder weniger be- nie von Wünschen, im Hinblick auf die geliebte Person zu handeln
schränkt ist.«46 oder mit ihr zu interagieren.53 Bevor ich weiter ausführe, was diese
Gabriele Taylor: »Wenn x y liebt, dann wünscht x, y nützlich Aussagen mit der Freudschen Theorie gemeinsam haben, möchte
zu sein und mit y zusammenzusein usw., und x hat diese Wün- ich zunächst meinen Dissens zu diesen Aussagen anmelden.
sche (oder zumindest einige davon), weil er glaubt, y habe einige
ausschlaggebende Eigenschaften l|), derentwegen er es für lohnend Meiner Meinung nach drücken die hier versammelten Zitate eine
hält, y nützlich zu sein und mit y züsammenzusein.«47 sentimentale Phantasie aus - eine idealisierte Vision des »und sie
William Lyons: »Damit X Y liebt, [...] muß X Y nicht bloß für lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Lebensende«. In dieser
anziehend halten [...], sondern X muß auch bestimmte Dinge in Phantasie beinhaltet die Liebe notwendigerweise einen Wunsch,
Hinsicht auf Y wollen. X muß mit Y Zusammensein wollen, muß Y »zu sorgen und zu teilen« oder »zu helfen und zusammenzusein«.
gefallen wollen, muß Y zärtlich behandeln, muß wollen, daß Y die Doch ist es gewiß unschwer möglich, jemanden zu lieben, dessen
Liebe erwidert, muß wollen, daß Y gut von ihm denkt.«48 Gesellschaft man nicht ausstehen kann. Man denke hier an Mur-
Patricia Greenspan: »Die Bindungsliebe als solche wird der recht- dochs Hinweis auf einen schwierigen Verwandten. Die Tante, die
fertigenden Vollständigkeit ihrer Analyse wegen ausgewählt, wobei sich in alles einmischen muß, der griesgrämige Großvater, die er-
persönliche Urteile zur Stützung ihres charakteristischen Wunsches drückenden Eltern oder konkurrenzhaften Geschwister werden von
für notwendig gehalten werden: des Wunsches, mit der anderen ganzem Herzen, aus freien Stücken und gefühlvoll geliebt: Man
Person zusammenzusein.«49 hat bloß keinen Wunsch, in ihrer Gesellschaft zu sein. Die gleiche
Robert Nozick: »Was aller Liebe gemeinsam ist, ist dies: Das eige- Gespaltenheit kann in den innigsten Beziehungen auftreten. Wenn
ne Wohlergehen ist mit dem eines anderen Menschen (oder Dinges), Paare, die sich trennen, ihren Kindern sagen, daß sie einander im-
den (oder das) man liebt, verbunden. [...] Wenn jedoch einem, den mer noch liebten, aber nicht miteinander leben könnten, erzählen
man liebt, etwas Schlechtes geschieht, dann geschieht auch einem sie keine Notlüge, sondern eine düstere Wahrheit. Angesichts sol-
selbst etwas Schlechtes. [...] Wenn jemand, den man liebt, verletzt cher Beispiele aus dem Alltag scheint die Vorstellung, jemanden
oder bloßgestellt wird, ist man verletzt; wenn ihm etwas Wunderba- lieben bedeute, mit der Person Zusammensein zu wollen, in der Tat
res geschieht, fühlt man sich in besserer Verfassung.«50 phantastisch zu sein.
John Rawls: »Offenbar gehört zu den Hauptmerkmalen der Lie- Der Vorschlag, jemanden zu lieben beinhalte den Drang, der
be der Wunsch, das Wohl des anderen zu fördern, so wie es dessen Person zu nützen, ist auch nicht von wesentlich mehr Realismus
vernünftige Selbstliebe fordern würde.«51
52 Soble (1997), S.65.
45 Thomas (1991), S.470. 5 3 Nozick weicht von diesem Trend etwas ab, entfernt sich aber nicht sehr weit.
46 Frankfurt (1998), S. 7. Nozick glaubt, daß die Liebe alle auf das Wohlergehen gerichteten Interessen von
47 G. Taylor (1976), S. 157. liebender und geliebter Person zusammenschließt. Allerdings lassen sich diese In-
48 Lyons (1980), S.64. teressen auch als Motive formulieren — wenn nicht als Motive, die beide Parteien
49 Greenspan (1988), S. 55. tatsächlich haben, so doch als Motive, die sie vernünftigerweise haben würden
50 Nozick (1993), S.82. oder sollten. Nozick spricht von diesen Motiven ganz ähnlich wie die anderen
51 Rawls (1975), S. 217. Siehe auch S. 529. Autoren.
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77
geprägt. In diesem Fall denken die oben zitierten Autoren offenbar ren nicht bereit, Freuds konative Analyse zu akzeptieren, in der
an eine glückliche Familie, in der die emotionale Wertschätzung das Ziel der Liebe die sexuelle Vereinigung ist. Für welche ande-
für andere notwendig damit zusammenfällt, für sie zu sorgen oder ren Ziele könnte denn die Liebe ein Beweggrund sein? Sorgen und
sich um sie zu kümmern. Die Liebe zu meinen Kindern bringt mich teilen, hilfreich sein und Zusammensein sind offenkundig weitere
natürlich dazu, deren Interessen so gut wie täglich zu fordern; wenn Kandidaten. Es wird schwierig, sich andere Ziele auszudenken, de-
ich aber an andere Menschen denke, die ich liebe - Eltern, Brüder, ren Motivationskraft überzeugend mit Liebe gleichgesetzt werden
Freunde, ehemalige Lehrer und Studenten - , betrachte ich mich könnte.
nicht als einen Vertreter ihrer Interessen. Ich würde ihnen selbst- Diese philosophischen Erklärungen der Liebe könnten demnach
verständlich einen Gefallen tun, wenn ich darum gebeten werde, als zielgehemmte Versionen der Freudschen Konzeption gelesen
doch wenn eine solche Gelegenheit, ihnen nützlich zu sein, nicht werden. Sie wahren Freuds Verpflichtung auf eine konative Analy-
gegeben ist, verspüre ich keinen andauernden oder wiederkehren- se, in welcher die Liebe den Liebenden zu einem bestimmten Ziel
den Wunsch, dies zu tun. Beim Gedanken an einen engen Freund drängt; sie ersetzen lediglich das von Freud identifizierte sexuelle
ist mein Herz nicht von dem Drang erfüllt, etwas für ihn zu tun, Ziel durch die Ziele desexualisierter Hingabe und Zuneigung.55
obgleich es von liebevollen Gefühlen gänzlich durchdrungen sein Der Fehler all dieser Theorien liegt nicht in ihrer Wahl eines
mag. Ziels für die Liebe, denke ich, sondern in ihrer geteilten Annahme,
In den meisten Zusammenhängen ist eine Liebe, die von dem daß Liebe nur nach Maßgabe eines Ziels analysiert werden kann.
Drang, nützlich sein zu wollen, nicht zu trennen ist, eine ungesun- Diese Annahme besagt, daß Liebe wesentlich eine befürwortende
de Liebe, in der es jede Menge unerbetener Einflüsse gibt. Genauso Einstellung ist, die auf ein Ergebnis abzielt, für das die geliebte
wird Liebe ungesund, wenn sie mit einigen anderen Wünschen, die Person instrumentell ist oder in das sie einbezogen ist. Ich wage
in den zitierten Textstellen erwähnt wurden, eine allzu enge Verbin- zu behaupten, daß Liebe ihrem Wesen nach eine Einstellung ge-
dung eingeht - mit dem Wunsch zu gefallen oder dem Wunsch, in genüber der geliebten Person selbst ist, aber keinesfalls irgendein
hohem Ansehen zu stehen, beispielsweise. Es gibt natürlich Gele- Ergebnis anstrebt.56
genheiten, die Menschen, die man liebt, zu erfreuen oder zu beein-
drucken, so wie es Gelegenheiten für das Sorgen und Teilen gibt. Je- bühr beeindruckt sind, würden es gern sehen, wenn jeder psychologische Zustand
oder jede Einstellung entweder als Überzeugung, als Wunsch oder vielleicht als
mand, dessen Liebe ein reines Bündel der Antriebe wäre, zu sorgen
irgendeine Kombination dieser beiden analysierbar wäre. Ein besonders deutli-
und zu teilen, zu erfreuen und zu beeindrucken, wäre allerdings als cher Fall dieser philosophischen Voreingenommenheit (wie ich es nennen würde)
Liebender ein Alptraum aus Aufdringlichkeit und Schmeichelei. findet sich bei Green (1992) und (1997).
An diesem Punkt kann man die philosophische Fehldeutung der 5 5 Freud nennt dies »Selbstaufopferung, Streben nach Annäherung« (Freud 1921,
Liebe nicht länger für Sentimentalität halten: Ein tiefersitzender S.98).
philosophischer Fehler scheint sich hier bemerkbar zu machen. Las- 56 Vergleiche Scruton (1986), S.ioif. Scruton erwägt und verwirft die "These, daß
Liebe ihr Objekt erstrebt, ohne ein Ziel zu haben. Meine Argumentation für diese
sen Sie mich eine vorläufige Diagnose stellen.
These stützt sich auf Stocker (1981). Stockers Version der These lautet folgender-
Nehmen wir einmal an, man wäre auf eine konative Analyse maßen: »Es gibt keine Zwecke, die zu Recht so genannt werden, deren Verfolgung
der Liebe verpflichtet. Liebe wäre demnach ein Motiv, das auf ein als solche bedeutet, aus Freundschaft zu handeln« (S. 756). Man beachte, daß
bestimmtes Ziel ausgerichtet ist.54 Und nehmen wir an, wir wä- Stocker, wenn er bestreitet, daß es irgendein bestimmtes Ziel gibt, das mit dem
Motiv der Freundschaft verknüpft ist, den Begriff »Zweck« (end) anstelle von
54 Warum sollten Philosophen auf eine konative Analyse der Liebe verpflichtet »Ziel« (aim) verwendet. Ich ziehe es allerdings vor, zwischen Zwecken und Zielen
sein? Ich habe den Verdacht, daß diese Verpflichtung lediglich widerspiegelt, in zu unterscheiden, weil ich sagen will, daß ein Handeln aus Freundschaft durchaus
welchem Ausmaß der praktische Syllogismus mittlerweile die Moralpsychologie einen Zweck beinhaltet - den Freund nämlich, der einem in dem Sinne als Zweck
monopolisiert hat. Philosophen, die von der Kraft der Überzeugung/Wunsch- dient, als man ihm zuliebe handelt. Der Gedanke, eine Person könne als Zweck
Erklärung und der damit verbundenen instrumenteilen Argumentation über Ge- dienen, stammt natürlich unmittelbar aus der Kantischen Moralpsychologie, wie
102
79
Die Liebe hat ein Objekt, aber kein Ziel kommen, und auch Ihre Mutter nicht. »Um ... willen« und »da-
mit« sind also keine austauschbaren Konstruktionen.
Kant stellt eine ähnliche Behauptung zum moralischen Motiv der Vielleicht könnte für jede Erwähnung eines »um ... willen«
Achtung auf, wenn er sagt, daß es den Willen auf Zwecke richtet, irgendeine Paraphrase zusammengeschustert werden, die ein »da-
die in Personen bestehen anstatt in Wirkungen, die erzielt werden mit« verwendet. Wir könnten sagen, Sie sollten zur Kirche oder
sollen.57 Kants Vorstellung, daß der Zweck einer Handlung eine zur Synagoge gehen, damit Sie die Wünsche Ihrer verstorbenen
Person sein kann anstelle irgendeines beabsichtigten Resultats, ist Mutter erfüllen oder damit die Erinnerung an alte Zeiten wieder
das Vorbild für meinen Vorschlag, daß Liebe ein Objekt haben auflebt, anstatt Ihrer Mutter zuliebe oder der alten Zeiten wegen.
kann, aber kein Ziel zu haben braucht. Wir haben dann eine Leistung bestimmt, die dem jeweiligen »um
... willen« entspricht, für das Sie nach unserer Beschreibung han-
Personen als Zwecke deln würden. Man muß aber beachten, daß jede dieser Leistun-
gen umgekehrt unter dem Gesichtspunkt eines »um ... willen«
Der Gedanke, Personen als Zwecke aufzufassen, ist für viele Philo- ausgedrückt werden kann, da wir ebensogut sagen könnten, Sie
sophen verwirrend, weil sie glauben, daß ein Zweck einfach per de- sollten um der Erfüllung von Wünschen Ihrer Mutter willen oder
finitionem ein Ziel ist.58 Doch der Begriff eines Zwecks ist genauge- um der Wiederbelebung von Erinnerungen an alte Zeiten willen
nommen nicht gleichbedeutend mit dem eines Ziels, was sich dann die Gottesdienste besuchen. Dabei kommt dann die Frage auf, ob
zeigt, wenn Philosophen versuchen, diese Bedeutungsgleichheit auf diese »um ... willen« noch dieselben sind, von denen zu Beginn die
den Punkt zu bringen. Als Beispiel mag folgendes Zitat dienen: Rede war. Ist es wirklich dasselbe, ob man Gottesdienste um der
»Ein Zweck ist ein Handlungsziel. Es ist etwas, um dessentwillen Erfüllung von Wünschen der Mutter willen besucht oder ob man
eine Handlung vollzogen wird [...] >Warum überquerte das Huhn Gottesdienste um der Mutter willen besucht?
die Straße? Um auf die andere Seite zu gelangend >Damit es auf die Nicht wirklich. Wenn Sie wegen der Erfüllung von Wünschen
andere Seite gelangen konnte< könnten wir erklären, falls es jemand Ihrer Mutter etwas tun, dann würden Sie aufgrund eines Motivs
nicht mitbekommen hat. In diesem weiten Sinne gibt ein Zweck handeln, das einmal von allen möglichen Leuten geteilt wurde -
ein Ziel an.«59 Automechanikern, Telefonvermittlern - , die damit keine Gefühle
Diese Textstelle weist eine leichte Ungereimtheit auf. Wenn ein für Ihre Mutter selbst verbanden. Ein Fremder hat Ihrer Mutter
Zweck irgend etwas ist, um dessentwillen eine Handlung vollzogen vielleicht seinen Platz im Bus angeboten, um ihrem erkennbaren
wird, dann sollte er nicht etwas sein, wofür die Handlung vollzogen Wunsch, sich zu setzen, entgegenzukommen; er muß dabei aber
wird, damit er zustande kommt. Vielleicht sollten Sie am Wochen- nicht um ihretwillen gehandelt haben. Sein pflichtschuldiges Be-
ende um Ihrer lieben verstorbenen Mutter willen oder bloß um der wußtsein von einem Wunsch, dem er entgegenkommen sollte,
alten Zeiten willen in die Kirche oder in die Synagoge gehen. Die muß keinerlei persönliche Gefühle in bezug auf dessen Subjekt be-
alten Zeiten sind nichts, wofür man etwas tut, damit sie zustande inhaltet haben. Er mag einfach der Gepflogenheit genügt haben,
die Wünsche älterer Damen zu respektieren.
ich noch erläutern werde. Bei dieser Verwendung der Kantischen Theorie stütze Natürlich wollen auch Sie einen Wunsch Ihrer Mutter erfüllen:
ich mich auf Anderson (1993), Kap. 2. Wenn sie nie gewünscht hätte, daß Sie Gottesdienste besuchen,
57 Kant (GMS), S. 427 ff. hätten Sie niemals daran gedacht, dies ihr zuliebe zu tun. In dieser
5 8 David Phiilips hat mich auf dieses Zitat von Sidgwick (1981) hingewiesen (S. 390,
Hinsicht haben Sie ein Motiv, das dem des Fremden im Bus ähnlich
Anm.): »Die Konzeption der »Menschheit als ein Zweck an sich< ist verwirrend,
weil wir unter einem Zweck normalerweise etwas verstehen, was zu verwirklichen
ist. Sie haben jedoch ein zusätzliches Motiv, das ihm fehlte, insofern
ist, während die >Menschheit<, wie Kant sagt, >ein Zweck an sich seibst< ist.« Sie den Wunsch Ihrer Mutter ihretwillen erfüllen wollen, während
59 Richardson (1994), S. 50. er ohne einen Gedanken für sie handelte. Der Fremde hatte keinen
102 80
weitergehenden Zweck als den, zu tun, was Ihre Mutter wünschte. zu befördern. Wenn Kant sagt, »die vernünftige Natur existiert als
Doch Sie haben einen weiteren Zweck, für den Sie tun wollen, was Zweck an sich selbst«.,63 betont er, daß es ein Zweck ist, dessen Exi-
sie wünschte - und zwar Ihre Mutter selbst. Wenn Sie handeln, stenz für selbstverständlich gehalten wird.
handeln Sie also mit dem naheliegenden Zweck, ihren Wunsch zu Die Existenz dieses Zwecks wird insbesondere von der motivie-
erfüllen, letzten Endes jedoch ihr zuliebe. renden Einstellung für selbstverständlich genommen, deren eigent-
Wenn man um einer Person willen handeln soll, muß die Per- licher Gegenstand sie ist. Da Zwecke motivationale Gegenstände
son selbst das Objekt eines Motivs sein, das im eigenen Handeln sind, liegt das, was einige Zwecke von anderen als selbständige
wirksam ist: Sie muß dasjenige sein, im Hinblick auf das man sich Zwecke unterscheidet, in dem besonderen Verhältnis, durch das
zu handeln veranlaßt fühlt. >Dasjenige, im Hinblick auf das man sie mit den ihnen zugehörigen Motiven verbunden sind. Selbstän-
sich zu handeln veranlaßt fühlt< ist nahezu gleichbedeutend mit dige Zwecke sind Gegenstand motivierender Einstellungen, die sie
>das, um dessentwillen man handelte und beide Ausdrücke können so achten und schätzen, wie sie bereits sind. Andere Zwecke sind
als Definition eines Zwecks dienen. Folglich gehört jedes »um ... Gegenstand von Einstellungen, die sie als Möglichkeiten schätzen,
willen« zu einem Zweck. Doch nicht jeder Zweck ist deshalb schon die erst zu verwirklichen sind. Das Faktum, daß eine Person ein
ein Ziel - das heißt, dann nicht, wenn man zum Beispiel veranlaßt selbständiger Zweck ist, besteht genau in der Tatsache, daß sie ein
werden kann, im Hinblick auf eine Person zu handeln, weil man passender Gegenstand für die erste Art von Einstellung ist. Eine
von einer Einstellung motiviert ist, die eine Person zu ihrem Objekt Person ist insbesondere ein passender Gegenstand der Achtung,64
hat. einer Einstellung, die zurücktritt in der Würdigung des vernünf-
Kant besteht emphatisch auf dieser Möglichkeit. Sein Grund, tigen Wesens, das die Person ist, und die nicht auf irgendwelche
darauf zu bestehen, ist seine Uberzeugung, daß ein Wille, der von bestimmten Wirkungen abzielt, die es herbeizuführen gilt.
der Absicht auf Resultate getrieben ist, nicht ohne Einschränkung Man könnte nun behaupten, daß eine solche Einstellung kein
gut sein kann, weil der Wert der Resultate stets bedingt ist.60 Wenn Handeln motivieren kann, es sei denn in Form eines Begehrens,
ein uneingeschränkt guter Wille existieren soll, so glaubt Kant, dessen Gegenstand dann irgendein vorgestelltes Ergebnis wäre.
dann muß es etwas geben, »was bloß als Grund, niemals aber als Diese Behauptung impliziert, daß es für ein Handeln aus Achtung
Wirkung mit meinem Willen verknüpft ist«; es muß einen »Be- für eine Person erforderlich sei, nicht nur die Person als Zweck zu
stimmungsgrund des Willens« geben, der nicht »die verhoffte Wir- haben, sondern darüber hinaus einen zusätzlichen Zweck, der nicht
kung« ist.61 selbständig ist.65
Kants erster Kandidat für diese Rolle ist »die Vorstellung des Ich könnte eine Version dieser Behauptung akzeptieren, indem
Gesetzes an sich selbst«, doch wie ich bereits erläutert habe, wird ich zugebe, daß selbständige Zwecke wie Personen immer unterge-
diese Abstraktion in Kants Darstellung schnell durch den vernünf- ordnete Zwecke haben müssen, die in erwünschten Ergebnissen be-
tigen Willen ersetzt, der sowohl ein Gesetz an sich ist als auch das stehen - daß sie immer Zwecke sein müssen, um derentwillen man
eigentliche Selbst einer Person. Kant unterscheidet diesen Zweck irgendein Resultat zustande bringen möchte. Doch selbst wenn ich
von anderen, indem er sagt, »so wird der Zweck hier nicht als ein zugestehen würde, daß selbständige Zwecke stets untergeordnete
zu bewirkender, sondern selbständiger Zweck [...] gedacht werden Zwecke haben müssen, die in erwünschten Ergebnissen bestehen,
müssen«.62 Das heißt, die vernünftige Natur einer Person existiert würde ich nach wie vor bestreiten wollen, daß die eine Sorte von
bereits, und sie als einen Zweck aufzufassen ist deshalb nicht mit Zwecken auf die andere reduziert werden kann. Vielleicht können
irgendeiner Neigung verbunden, ihre Existenz zu bewirken oder Sie nicht um Ihrer Mutter willen handeln, wenn es nicht irgendein
60 Kant (GMS), S. 400, 428, 437. 63 Ebd., S.429.
61 Ebd., S-400f. 64 Kant stellt diese Verbindung her, ebd., S.428.
62 Ebd., S.437. 65 Siehe zu diesem Punkt Michael Smith (o.J.).
102 82
Ergebnis gibt, das Sie ihr zuliebe hervorbringen wollen. Gleich- tential der Achtung. »Eigentlich ist Achtung die Vorstellung von
wohl bringt es Ihr Wunsch nach dem Ergebnis um Ihrer Mutter einem Werte, der meiner Selbstliebe Abbruch tut«, sagt er in einer
willen mit sich, daß Sie nicht einfach das Ergebnis wünschen oder Fußnote.68 Nun ist »Selbstliebe« ein Begriff, den Kant für die Moti-
das Ergebnis sogar unter irgendeiner Beschreibung wünschen, die vation aus empirischen Motiven und die damit verbundenen Klug-
Ihre Mutter erwähnt, sondern daß Sie darüber hinaus ein Motiv heitserwägungen verwendet.69 Eine solche Motivation zielt darauf
haben.66 Ihr Wunsch bringt es mit sich, daß Sie ein Motiv haben, ab, empirische Resultate mit Hilfe der dafür nötigen Mittel zu errei-
welches Ihre Mutter zum Gegenstand hat und Ihren Wunsch nach chen. Wie wir gesehen haben, übt die Achtung für eine Person ihre
dem Ergebnis motiviert, für das sie infolgedessen als ein verborge- negative motivationale Kraft aus, indem sie unserem Gebrauch der
ner Zweck steht. Ihr Wunsch, das Ergebnis um Ihrer Mutter wil- Person als Mittel zu gewünschten Zwecken Zurückhaltung aufer-
len herbeizuführen, besteht darin, das Ergebnis aus dieser weiteren legt. Darum kann man sagen, daß sie unsere Selbstliebe in Grenzen
Einstellung ihr gegenüber zu wollen. hält: Sie hemmt einige unserer empirischen Motive — insbesondere
Kant glaubt, daß die Achtung ein verborgenes Motiv in diesem diejenigen Motive, bei deren Umsetzung wir in Versuchung geraten
Sinne ist; er denkt jedoch, daß sie nicht in einem positiven, sondern könnten, die Person als Mittel zu gebrauchen. Ein solches Motiv,
in einem negativen Verhältnis zu den Motiven steht, die ihr unter- das sich dagegen richtet, andere Motive zu haben oder nach ihnen
geordnet sind. Als er auf die motivationale Kraft der Achtung ein- zu handeln, ist ein negatives Motiv zweiter Ordnung.70
geht, sagt er, deren Gegenstand werde »nur negativ gedacht werden
müssen, d. i. [als Gegenstand] dem niemals zuwider gehandelt, der Die geliebte Person als Zweck
also niemals bloß als Mittel, sondern jederzeit zugleich als Zweck in
jedem Wollen geschätzt werden muß«.67 Mit anderen Worten, die Könnte dieses Modell eines negativen Motivs zweiter Ordnung auf
Achtung kann uns motivieren - wenn schon nicht dadurch, daß sie die Liebe anwendbar sein? Lassen Sie mich auf Kants Beschreibung
uns antreibt, ihren Gegenstand hervorzubringen, so doch indem sie der Achtung als des Bewußtseins von einem Wert, der unserer
uns davon abhält, diesen zu verletzen; und die Verletzung, von der Selbstliebe Abbruch tut, zurückkommen. Ich bin geneigt zu sagen,
wir somit zurückgehalten werden, läßt sich als die Verletzung vor- Liebe sei ebenfalls das Bewußtsein von einem Wert, der seinem
stellen, den Gegenstand als ein bloßes Mittel zu anderen Zwecken Gegenstand inhärent ist; und ich neige auch dazu, Liebe als ein
zu gebrauchen. hemmendes Bewußtsein von diesem Wert zu beschreiben.
Kant gibt uns einen weiteren Hinweis auf das motivationale Po- Als eine phänomenologische Betrachtung scheint diese Beschrei-
bung zunächst einmal richtig zu sein, so wie die konative Analyse
66 Wir können sagen, daß die ihretwillen gewünschte Hervorbringung eines Er-
gebnisses in der Tatsache besteht, daß in der Beschreibung des Ergebnisses eine 68 Kant (GMS), S.400.
Bezugnahme auf sie motivational bedeutsam ist: Sie wollen das Ergebnis zustande 69 Siehe Kant (GMS), S. 406. Siehe ebenfalls Kant (KrV), S. 22.
bringen, könnten wir sagen, als etwas, was ihr ein besonderes Anliegen war. Doch 70 Manche könnten hier den Standpunkt vertreten, daß selbst dieses Motiv ein
was erklärt die motivationale Bedeutsamkeit dieser Bezugnahme auf sie in der Wunsch sein muß, ein Wunsch des Typs z. B., eine andere Person nicht bloß als
Beschreibung des gewünschten Ergebnisses? Ich behaupte, sie läßt sich damit Mittel zu gebrauchen. Ich würde aber darauf wie zuvor erwidern, daß man wollen
erklären, daß Sie eine gewisse Einstellung ihr gegenüber haben, aus der heraus Sie kann, andere nicht als Mittel zu gebrauchen, und infolgedessen motiviert sein
das Ergebnis wünschen. kann, sie nicht zu gebrauchen, ohne dies ihretwegen zu wollen oder ihretwegen
dazu motiviert zu sein, da man eine solche Einschränkung der eigenen Person
67 Kant (GMS), S.437 (Herv. J. D. V.). Siehe auch ebd., S.428: »[...] dagegen ver-
wegen wollen und befolgen kann oder um der Einschränkung selbst willen — ein
nünftige Wesen Personen genannt werden, weil ihre Natur sie schon als Zwecke
Vorhaben, das wohl kaum moralisch ist. Das moralische Vorhaben ist, sich des
an sich selbst, d. i. als etwas, das nicht bloß als Mittel gebraucht werden darf, aus-
Gebrauchs anderer als eines Mittels um derentwillen zu enthalten, was voraus-
zeichnet, mithin sofern alle Willkür einschränkt (und ein Gegenstand der Ach-
setzt, daß man sie als Zweck auffaßt, weil man dafür ein Motiv wie die Achtung
tung ist).« Diesen Gesichtspunkt des Respekts erörtert Darwall in »Two Kinds of
hat, das diese anderen zum Gegenstand hat.
Respect« (Darwall 1977).
102 84
der Liebe zunächst einmal aus phänomenologischen Gründen un- se Reaktionen müssen nicht ausschließlich positiv ausfallen. Die
plausibel erscheint. Liebe wird nicht (zumindest nicht von mir) wie Liebe macht uns auch anfällig für Gefühle wie Kränkung, Wut,
ein Drang oder Impuls oder eine Neigung zu irgend etwas empfun- Verärgerung und sogar Haß.71
den; sie wird eher wie ein Zustand aufmerksamen Innehaltens emp- Die vorliegende Hypothese hindert uns daher daran, notwendige
funden, gleichsam wie Verwunderung, Staunen oder Ehrfurcht. Zusammenhänge zwischen der Liebe und irgendwelchen Wünschen
Wenn die Achtung unserer Selbstliebe Abbruch tut, wie Kant nach bestimmten Ergebnissen zu postulieren. Sie macht für das Ziel
geltend macht, was wird dann von der Liebe in Grenzen gehalten? eines Liebenden geltend, was Freud über dessen Objekt sagt: es ist
Ich vermute, daß sie unsere Tendenz zum emotionalen Selbstschutz »das variabelste am Triebe, nicht ursprünglich mit ihm verknüpft«.72
eindämmt, die Tendenz, uns vor anderen Personen auf uns selbst Darüber, zu was die Liebe den Liebenden motivieren kann, können
zurückzuziehen und uns davor zu verschließen, von der Person er- nur vage verallgemeinernde Überlegungen angestellt werden.
griffen zu werden. Die Liebe entwaffnet unsere emotionale Abwehr, Ich vermute, daß sich diejenigen, die für die Liebe bestimmte
sie macht uns für andere verwundbar. Motive als notwendig ansehen, den Liebenden lediglich in einem
Diese Hypothese würde erklären, warum die Liebe eine Übung schmalen Spektrum stereotyper Situationen vorstellen, für die ihn
in »wirklichem Hinschauen« ist, wie Murdoch behauptet. Viele die Liebe besonders empfänglich gemacht hat. In Wirklichkeit
unserer Schutzmaßnahmen gegen das emotionale Ergriffenwerden kann die Liebe in einem bei weitem größeren Spektrum von Situa-
durch eine andere Person bestehen darin, das nicht zu sehen, was an tionen auftreten, das auch eine größere Bandbreite motivationaler
einer anderen Person bewegend ist. Diese künstliche Blindheit ge- Reaktionen erfordert, denke ich.
genüber der anderen Person gehört zu den Abwehrmaßnahmen, die Ich glaube zum Beispiel, daß sich zwischen Schüler und Leh-
von der Liebe aufgehoben werden, mit dem Ergebnis, daß wir die rer ganz natürlich Liebe entwickelt, daß man aber dann, wenn sie
Person vielleicht zum ersten Mal wirklich anschauen und auf eine einem die Augen öffnet für das, was die andere Person wirklich
Weise reagieren, die zeigt, daß wir sie wirklich gesehen haben. ist, sieht, daß der andere eben Lehrer oder Schüler ist, mit dem
Dieser Hypothese zufolge sind die verschiedenen Motive, die professionell umgegangen werden muß. Lehrer und Schüler mögen
häufig mit der Liebe gleichgesetzt werden, im Grunde genommen durchaus den Wunsch nach Intimität miteinander verspüren, doch
unabhängige Reaktionen, welche die Liebe lediglich freisetzt. Zu sind solche Wünsche in diesem Kontext höchstwahrscheinlich kein
diesen Reaktionen zählen die Sympathie, Empathie, Faszination Ausdruck echter Liebe; normalerweise sind sie Ausdruck einer
und Anziehung, die wir für eine andere Person empfinden, wenn Übertragungsliebe, in welcher der andere die Projektionsfläche von
unsere emotionalen Schutzmaßnahmen gegen sie gefallen sind. Phantasien ist. Wenn ich sage, ich hätte das Glück gehabt, von man-
Diese Hypothese erklärt daher auch, warum Liebe oft zu Wohlwol- chen meiner Studenten geliebt zu werden, dann meine ich nicht die
len führt, aber keinen dauernden Wunsch einschließt, nützlich sein Studenten, die einen Wunsch gezeigt haben, mir näherzukommen.
zu wollen: Mit der Aufhebung unserer emotionalen Abwehr macht Studenten, die sich etwas von der Situation versprechen und mit
die Liebe unser Mitgefühl für die Bedürfnisse des anderen leicht mir Zusammensein wollen, lieben eigentlich nicht, sondern sind
ansprechbar, und wir reagieren daher rasch, sobald Hilfe benötigt durcheinander, so wie ich es nicht für Liebe halte, wenn ich den
wird. Das so entstandene Wohlwollen zeugt von unserer erhöhten Wunsch verspüre, Studenten anders als Studenten zu behandeln.
Sensibilität für die Interessen des anderen anstatt von irgendeinem Hier handelt es sich um eine Beziehung, in der sich echte Liebe in
andauernden Interesse unsererseits. dem Bedürfnis manifestieren kann, Distanz zu wahren.
Die Reaktionen, die von der Liebe zu einer Person freigesetzt
werden, sind zumeist positiver Art, weil sie von dem Bewußtsein
eines der Person innewohnenden Werts ausgelöst wurden, einem 71 Siehe Winnicott (1975), S. 199. Siehe auch Neu (1996).
Bewußtsein, das auch eine positive Reaktion begünstigt. Doch die- 72 Zitiert in Anm. 37.
102
87
Die Parteilichkeit der Liebe vermutet. Wenn uns Philosophen ganz abstrakt etwas über dieses
Problem mitteilen, sprechen sie zu uns in unserer Eigenschaft als
Ich habe schon angedeutet, daß die Liebe ein Einhalt gebietendes Liebende, indem sie sagen, daß sich die Moral in unsere Liebe zu
Bewußtsein vom Wert einer Person ist, das sich von der Kantischen bestimmten Personen einzumischen droht. Wenn sie uns jedoch
Achtung dadurch unterscheidet, daß seine wichtigste motivationale mit dem Problem beunruhigen wollen, uns spüren lassen wollen,
Kraft darin besteht, unseren emotionalen Selbstschutz gegenüber was daran problematisch ist, sprechen sie zu uns in unserer Eigen-
dieser Person aufzugeben, statt wie im anderen Fall auf unsere ei- schaft als sehnsuchtsvolle Objekte der Liebe, indem sie uns darauf
gennützigen Absichten in bezug auf sie zu verzichten.73 Wenn al- aufmerksam machen, daß sich die Moral in unser Geliebtwerden
lerdings die Liebe eine Form der Wertschätzung von Personen ist, einzumischen droht. So ist zum Beispiel der »eine Gedanke zuviel«,
werden wir mit unserer Liebe für einige Menschen, nicht aber für den Williams bei dem Ehemann in seiner Geschichte feststellt,
andere, einige Menschen schätzen müssen, nicht jedoch andere. genaugenommen ein Gedanke zuviel für die Ehefrau: Er verträgt
Das Fazit scheint demnach zu sein, daß die Liebe wirklich in einem sich nicht mit einem Geliebtwerden in dem Sinne, wie sie es sich
Sinne parteiisch ist, der dem Geist der Moral widerspricht, denn erhofft.74
dieser besteht auf dem gleichen Wert aller Menschen. Einer der Vorzüge, die ich für die vorliegende Hypothese über
die Liebe beanspruchen möchte, ist der, daß sie erklären hilft, wa-
Wie wir geliebt werden möchten rum und wie wir geliebt werden möchten. Die Aussicht darauf, von
der Libido eines anderen besetzt zu werden, ist wenig attraktiv; aber
Diese Schwierigkeit läßt sich aus der Perspektive der geliebten Per- wenn sich uns ein anderes Herz öffnet aufgrund der Anerkennung
son am besten verstehen. Daß Menschen in Liebesangelegenhei- unseres wahren Selbst - ja, das erscheint uns wünschenswert. Wenn
ten wählerisch sind, ist für uns in der Eigenschaft von Objekten nun meine Hypothese erfaßt hat, was es wünschenswert macht,
der Liebe mehr von Belang als in unserer Eigenschaft als Subjekte. geliebt zu werden, müßte sie dann nicht auch genau die Parteilich-
Wir möchten geliebt werden, und im Geliebtwerden wollen wir keit erfaßt haben, die die Liebe in ein konflikthaftes Verhältnis zur
geschätzt werden, und im Geschätztwerden möchten wir als etwas Moral versetzt?
Besonderes betrachtet werden. Wir möchten sehr geschätzt wer- Ich glaube, daß wir durch die Frage, wie wir geliebt werden wol-
den, möchten für wertvoll gehalten werden — was offenbar damit len, in unserer Kindheit die ersten Erfahrungen mit jener Atmo-
verbunden ist, in diskriminierender Weise geschätzt zu werden, sphäre des Paradoxons machen, die sich für einige von uns schließ-
nämlich den Vorzug zu erhalten vor anderen oder anstelle anderer. lich zur Philosophie verdichtet. Von Erwachsenen, die uns lieben
Die Liebe, die wir bekommen wollen, ist deshalb wohl genau jene und die wollen, daß wir uns geliebt fühlen, bekommen wir gesagt,
diskriminierende Liebe, die mit der unparteiischen Moral in Kon- wir seien etwas Besonderes und seien unersetzlich. Dieselben Er-
flikt zu geraten droht. wachsenen belehren uns dann aber - nunmehr in ihrer Eigenschaft
Auffallend ist, daß Philosophen dann, wenn sie uns mit dem als moralisch Erziehende - , daß jedes Individuum etwas Besonderes
vermuteten Konflikt zwischen Liebe und Moral zu beeindrucken und unersetzlich ist. Und wir fragen uns: Wenn jeder etwas Beson-
versuchen, dazu neigen, von der Perspektive der liebenden Person deres ist, was soll dann an jemandem so besonders sein?
in die Perspektive der geliebten Person zu wechseln. Die Perspektive Häufig verwirren uns die Erwachsenen noch weiter, indem sie
des Liebenden, der sich zwischen zwei möglichen Motivationsquel- uns sagen, daß wir etwas Besonderes sind, weil uns niemand sonst
len befindet, ist die Stelle, an der man die Entstehung des Konflikts völlig gleicht - so als ob der Wert, der uns zukommt und genau-
73 Andere Unterschiede zwischen Liebe und Achtung werde ich weiter unten noch 74 Siehe auch Michael Stockers Beispiel des Krankenhausbesuchs in Stocker (1976),
erörtern. S. 461.
102
89
so jedem anderen auch, darin bestünde, qualitativ einzigartig zu Der Wert selbständiger Zwecke
sein. Diese Erklärung scheint sich auf die Knappheit als Maßstab
des Werts zu berufen, wird aber von genau demselben Maßstab Kant sagt, der Wert einer Person unterscheide sich dem Wesen nach
spielend widerlegt. Wie wertvoll kann uns unsere Einzigartigkeit von dem Wert anderer Dinge: Eine Person hat Würde, wohinge-
machen, wenn jeder einzigartig ist? Ein ähnliches Paradoxon spüren gen andere Dinge einen Preis haben. Der Unterschied ist dieser:
wir, wenn Erwachsene unsere kindliche Ehrfurcht wecken wollen, »Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes als
indem sie uns auf einzelne Schneeflocken aufmerksam machen, Äquivalent gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist,
von denen keine einer anderen gleicht (wie sie sagen). Warum soll- mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde.«77
ten wir uns wegen irgendeiner noch nie dagewesenen Schneeflocke Der Unterscheidung zwischen Preis und Würde entspricht in der
begeistern, wenn ihr Mangel an Vorgängern doch so wenig Unge- Kantischen Theorie die Unterscheidung zwischen Zwecken, die in
wöhnliches hat? möglichen Handlungsresultaten bestehen, und Zwecken, die selb-
Die Sache wird nur noch schlimmer, wenn die Erwachsenen ständig sind.78 Die erstgenannten Zwecke sind Gegenstände der
anfangen, die persönlichen Eigenschaften aufzuzählen, für die wir Präferenz und der Wahl, die vergleichbar sind. Wir müssen un-
geliebt werden, denn diese Eigenschaften unterscheiden uns nur ter den verschiedenen Ergebnissen, die wir handelnd herbeiführen
unvollständig, und infolgedessen empfinden wir sie weniger als et- könnten, diejenigen auswählen, die wir in Anbetracht der Tatsache,
was, was uns wesentlich ist, sondern eher als etwas, was uns zufällig daß wir nicht alle produzieren können, herbeiführen wollen. Wir
auszeichnet. Wir sind wie das Mädchen, das geliebt werden möchte, benötigen daher einen gemeinsamen Wertmaßstab für diese Zwek-
aber nicht wegen ihres blonden Haares - und auch nicht wegen ih- ke, damit wir die Werte jener Zwecke kombinieren können, die
res Verstandes oder ihres Sinns für Humor, sollten wir hinzufügen - , zusammen herstellbar sind, und dann alternative Kombinationen
sondern, wie sie sich ausdrückt, »allein um meiner selbst willen«.75 vergleichen können. Werte, die Vergleiche zwischen Alternativen
Was ist denn dieses Selbst, um dessentwillen sie geliebt werden will? zulassen, gestatten auch Äquivalente, deshalb sind sie in Kants Be-
Was kann es sein, wenn nicht das spezielle Bündel ihrer persönli- grifflichkeit als Preise bestimmt.79
chen Eigenschaften, zu denen auch ihre Haarfarbe gehört? Ein selbständiger Zweck hingegen, der nicht durch Handeln
Spätestens jetzt wird es nicht überraschen, daß ich eine Antwort herbeigeführt wird, stellt keine Alternative zu anderen herstellbaren
auf diese Frage in der Kantischen Moraltheorie finde.76 Kants Theo- Resultaten dar. Sein Wert dient nicht als Grundlage, um einen Ver-
rie der Werte offenbart uns den philosophischen Fehler, der hinter gleich mit Alternativen anstellen zu können. Er dient als Grundlage
unserer Verwirrung über das Geliebtwerden steckt. für die Achtung oder Respektierung des Zwecks, so wie er bereits
ist. Was Kant damit meint, wenn er diesen Wert nicht vergleichbar
102 91
nennt, ist, daß er eine Reaktion auf das Objekt an sich verlangt und sonen. Für Kant haben Menschen also eine Fähigkeit, deren Wert
nicht im Vergleich mit anderen Gegenständen.80 Kants Auffassung wir würdigen, indem wir sie respektieren; und diese Fähigkeit ist im
zufolge ist der unvergleichliche Wert einer Person ein Wert, den besten Fall deren Befähigung zum Respekt. Ich vermute, daß Liebe
diese allein aufgrund ihres Personseins besitzt - genaugenommen eine Würdigung desselben Werts ist und der Fähigkeit der Men-
kraft dessen, was Kant ihre Vernunftnatur nennt. Will ich damit schen innewohnt, den Wert von Zwecken zu würdigen, selbstän-
nun andeuten, daß Liebe ein Bewußtsein von demselben Wert ist? dige Zwecke wie Personen inbegriffen. Für mich haben Menschen
Ich möchte nicht behaupten, daß die bewußte Wahrnehmung eine Fähigkeit, deren Wert wir nicht nur mit Respekt würdigen,
dieses besonderen Wertes ein wesentliches Merkmal der Liebe ist, sondern manchmal auch mit Liebe; und diese Fähigkeit ist im be-
zumal Liebe für viele andere Dinge verspürt werden kann, darun- sten Fall nicht nur ihre Befähigung zum Respekt, sondern auch
ter auch für solche Dinge, die keine Vernunftnatur besitzen. Aus zur Liebe. Ich finde es einleuchtend zu sagen, wenn wir Menschen
meiner Sicht ist für die Liebe wesentlich, daß sie unseren emotio- lieben, reagierten wir auf deren Befähigung zur Liebe: Es ist bloß
nalen Selbstschutz gegenüber einem Objekt herabsetzt als Reaktion eine andere Art zu sagen, daß das, worauf unser Herz antwortet,
auf dessen unvergleichbaren Wert als einen selbständigen Zweck.81 ein anderes Herz ist.
Wenn das Objekt unserer Liebe allerdings eine Person ist und wenn Die Idee, daß Liebe eine Antwort auf den Wert der vernünftigen
wir sie als Person lieben — nicht wie ein Werk der Natur oder wie Natur einer Person ist, wird uns so lange merkwürdig erscheinen,
einen ästhetischen Gegenstand beispielsweise dann würde ich wie »vernünftige Natur« als Bezeichnung für den Intellekt interpre-
in der Tat behaupten wollen, daß wir auf den Wert reagieren, den tiert wird. Aber die vernünftige Natur ist nicht der Intellekt, nicht
sie kraft ihres Personseins oder, wie Kant sagen würde, als Beispiel einmal der praktische Verstand, sie ist eine Befähigung zur Wür-
einer vernünftigen Natur besitzt. digung oder Wertschätzung - eine Fähigkeit, uns den Dingen in
Bevor wir bei dieser Aussage zurückschrecken, rufen wir uns jener nachdenklichen Weise zuzuwenden, die selbstbewußte Wesen
doch folgende Lehrsätze der Kantischen Theorie in Erinnerung: wie uns auszeichnet. Denken wir uns die vernünftige Natur einer
daß die vernünftige Natur, deren Wert Respekt gebietet, die Fähig- Person als ihren Kern nachdenklicher Anteilnahme, und die Idee,
keit ist, von Gründen motiviert zu werden; daß die Fähigkeit, von sie dafür zu lieben, wird nicht mehr merkwürdig erscheinen.
Gründen motiviert zu werden, auch die Fähigkeit ist, einen guten Ich kann nun meine Sicht des Verhältnisses zwischen der Liebe
Willen zu haben; und daß die Fähigkeit zu einem vernünftigen und und Kantischer Achtung folgendermaßen zusammenfassen. Die
infolgedessen guten Willen die bessere Seite einer Person ist, die ihr Kantische Auffassung ist, daß die Achtung eine Form der Wert-
eigentliches Selbst darstellt. Ich finde es intuitiv einleuchtend, daß schätzung ist, die von genau jener Fähigkeit zur Wertschätzung
wir die Menschen wegen ihres wahren und besseren Selbst lieben. den Beispielen ihrer selbst entgegengebracht werden muß.82 Meine
Wollten wir über das Mädchen mit den blonden Haaren sprechen, Auffassung ist, daß die Liebe eine Form der Wertschätzung ist, die
könnten wir uns durchaus der Ausdrucksweise von Kant bedienen von dieser Fähigkeit zur Wertschätzung den Beispielen ihrer selbst
und sagen, sie wünschte sich, um »ihres eigentlichen Selbst« willen außerdem entgegengebracht werden kann. Ich betrachte Achtung
geliebt zu werden. und Liebe jeweils als das erforderliche Minimum und das optionale
Erinnern wir uns des weiteren daran, daß die Fähigkeit, von Maximum von Reaktionen auf ein und denselben Wert.
Gründen motiviert zu werden, eine Fähigkeit ist, den Wert von Die Achtung für andere ist aus Kants Sicht deshalb erforderlich,
Zwecken zu würdigen, einschließlich selbständiger Zwecke wie Per-
82 Hier schmuggle ich die Kantische Universalisierung in meine Darstellung hinein,
80 Ebd., S. 436. indem ich ganz abstrakt von einer Fähigkeit zur Wertschätzung rede und dann
81 Kant selbst sagt: »Also ist Sittlichkeit und die Menschheit, sofern sie derselben von der Einstellung dieser abstrakten Fähigkeit gegenüber bestimmten Beispielen
fähig ist, dasjenige, was allein Würde hat« (ebd., S.435). Siehe auch Anderson ihrer selbst. Man müßte eigentlich eine längere Argumentation vorlegen, um das
(1993), S. 8-11. Recht zu haben, so zu reden.
102 93
weil die Fähigkeit zur Wertschätzung die Werte, die sie den Dingen Schätzung auf einer so gattungsmäßigen Basis damit vereinbar ist,
beilegt, nicht ernst nehmen kann, wenn sie nicht als erstes sich als etwas Besonderes geschätzt zu werden. Doch genau da kommt
selbst ernst nimmt; und sie kann sich selbst nicht ernst nehmen, die zweite Hälfte der Lösung ins Spiel. Die zweite Hälfte besagt:
wenn sie Beispiele ihrer selbst als nichts anderes behandelt als ein Rein als Person geschätzt zu werden ist damit vereinbar, als etwas
Mittel zu Dingen, die sie bereits schätzt.83 Darum muß die Fähig- Besonderes geschätzt zu werden, weil unser Wert als Person nicht
keit zur Wertschätzung, wenn sie sich Beispielen ihrer selbst gegen- in einem Preis, sondern in einer Würde besteht.
übersieht, in einer Weise reagieren, die für die Achtung konstitutiv Wie wir gesehen haben, beruht der Unterschied zwischen Preis
ist, indem sie ihre eigennützige Neigung zurückhält, diese Beispiele und Würde auf einem Unterschied zwischen den Reaktionen, die
ihrer selbst als Mittel zu behandeln. deren richtige Würdigung darstellen.85 Präferenz und Wahl gehören
Nach meiner Auffassung ist die Liebe zu anderen möglich, wenn zu einer Form der Würdigung, die bei jener Art des Werts gerechtfer-
wir in ihnen eine Fähigkeit zur Wertschätzung wie die unsrige fin- tigt ist, die Kant einen Preis nennt. Die Würde ist ein andersartiger
den, die von der Achtung für unsere Fähigkeit zur Wertschätzung Wert, weil sie eine andere Form der Würdigung rechtfertigt, die aus
beschränkt werden kann und die deshalb dazu führt, daß wir unsere Motiven und Gefühlen besteht, mit denen wir uns der Wirklichkeit
emotionale Abwehrhaltung als überflüssig empfinden.84 Aus die- des Objekts beugen, statt dessen Verwirklichung anzustreben.
sem Grund fühlt sich unsere Fähigkeit zur Wertschätzung, wenn Dieser Unterschied zwischen den Formen der Würdigung wie-
sie sich Beispielen ihrer selbst gegenübersieht, in der Lage, auf eine derum beruht auf einer vorausgegangenen Unterscheidung zwi-
Weise zu reagieren, die für die Liebe konstitutiv ist, indem sie un- schen der Würdigung des Werts eines Objekts einerseits und der
sere emotionale Abwehrhaltung aufhebt. Liebe ist ebenso wie die Beurteilung, ob es diesen Wert hat.86 Wenn Kant sagt, daß ein Ob-
Achtung eine Anwort des Herzens auf die Erkenntnis, daß es nicht jekt mit Würde »kein Äquivalent verstattet«, spricht er davon, wie
allein ist. ein solches Objekt zu würdigen ist, nicht davon, wie es zu beurteilen
ist. Kant selbst glaubt, daß jede Person aufgrund ihrer vernünftigen
Als etwas Besonderes geschätzt werden Natur eine Würde hat und daß man folglich allen Personen den-
selben Wert zugestehen muß. Er bestreitet, daß der Vergleich oder
Für unser Rätsel über das Geliebtwerden, das sich uns in der Kind- die Gleichsetzung einer Person mit einer anderen eine angemessene
heit stellte, haben wir nun beide Hälften einer Lösung zusammen. Form sei, auf diesen Wert zu reagieren. Der Wert, den wir einer
Die eine Hälfte der Lösung ist, daß geliebt zu werden nicht bein- Person zuschreiben müssen, erlegt uns absolute Beschränkungen
halten muß, auf der Grundlage unserer besonderen Eigenschaften, auf, wie wir die Person zu behandeln haben; er gebietet daher eine
wie beispielsweise unseres blonden Haars, geschätzt zu werden; im motivationale Reaktion auf die Person an sich und für sich. Und die
Gegenteil, geliebt zu werden beinhaltet, auf der Grundlage unse- Beschränkungen, die uns der Wert bei der Behandlung der Person
res Personseins geschätzt zu werden, wobei wir uns unter diesem auferlegt, umfassen ein Verbot, sie Vergleichen zu unterziehen, die
Aspekt von anderen Personen in nichts unterscheiden. Natürlich ihren Wert implizit irgendeinem verborgenen oder darüberstehen-
ist diese Hälfte der Lösung für sich genommen überhaupt noch den Wert unterordnen würden.
keine Lösung, denn sie hilft uns nicht bei der Frage, wie die Wert- Auf diese Weise verlangt der Wert, den wir jedweder Person zu-
schreiben müssen, daß wir auf jede Person einzeln eingehen, und
8 3 Man muß beachten, daß diese Formulierung von Kants Auffassung den Wert von dies zum Teil auch dadurch, daß wir es ablehnen, sie mit anderen
Personen als einen behandelt, den die vernünftige Natur in den Beispielen ihrer
selbst nicht vorfindet, sondern auf sie projizieren muß. Siehe Korsgaard (1996), 8 5 Dieses Verständnis des Unterschieds geht auf Anderson zurück: »Dinge, die sich
S. 122-125. nach der Art des Werts unterscheiden, den sie haben, verdienen verschiedene
84 Ich danke Richard Heck ftir seinen Vorschlag beim ersten Satz dieses Absatzes Arten der Würdigung« (Anderson 1993, Kap. I, S. 9).
und Christine Korsgaard für ihren Vorschlag beim letzten Satz. 86 Ebd., S. 2.
102
95
zu vergleichen. Die Klasse der Personen ist eben eine Klasse, de- Natürlich rechtfertigen manche Werte Auswechslungen unter
ren Mitglieder als Individuen gewürdigt werden müssen anstatt als den Objekten, die diese Werte teilen: Das ist die Definition eines
Mitglieder einer Klasse. Preises. Anzunehmen, daß etwas nur dann unersetzlich ist, wenn es
Man neigt vielfach zu der Annahme, daß es unvereinbar sei, den unvergleichlich wertvoll ist, heißt daher anzunehmen, daß dessen
Menschen einerseits Wert zuzuschreiben, weil sie Mitglieder einer Wert keine Würde, sondern ein Preis ist.
Klasse sind, und sie andererseits als Individuen zu würdigen. Wie Kein Wunder also, daß Erwachsene, die sagten, wir seien für
in diesem Zitat zum Beispiel: ihre Liebe unersetzlich, weil wir qualitativ einzigartig seien, unseren
Argwohn weckten.89 Diese Erwachsenen unterstellten damit, daß
Obwohl behauptet wird, die Kantische Formel von Personen als Zwecken wir in der Tat gegen jeden austauschbar wären, der die Eigenschaf-
an sich selbst betrachte Personen als unersetzlich, gibt es einen Sinn, in ten hätte, die ihrer Liebe zugrunde liegen, und daß unsere Uner-
dem die Kantische Achtung Personen tatsächlich als austauschbar ansieht, setzlichkeit folglich davon abhinge, daß wir Eigenschaften hätten,
denn sie ist blind für alles an einem Individuum bis auf dessen vernünftige
die sonst keiner mit uns teilt. Eigentlich gaben sie zu, daß ihre Liebe
Natur und überläßt damit einen jeden von uns der UnUnterscheidbarkeit
zu uns Kriterien der Äquivalenz für uns aufstellte. Sie behaupteten
von allen anderen. So gesehen gibt es bei der Kantischen Achtung für eine
Person einen echten Sinn, in dem wir ihr keine Aufmerksamkeit schenken
lediglich, diese Kriterien seien zu eng definiert, als daß irgend je-
— dafür, wie wir sie achten, macht es keinen Unterschied, daß sie ist, wer mand anders sie erfüllen könnte, so wie eine sehr stark spezifizierte
sie ist, und nicht irgendein anderes Individuum.87 Stellenbeschreibung nur auf einen einzigen Bewerber paßt.
Wenn es jedoch Kriterien der Äquivalenz für etwas gibt, dann
Doch diese Überlegung verwechselt Beurteilung und Würdigung. hat dieses Objekt einen Preis. Äußerst eng gezogene Kriterien kön-
Wenn wir jemanden achten, sind wir nur in dem Sinne »blind für nen den Preis sozusagen unerschwinglich machen, aber sie können
alles an einem Individuum bis auf dessen vernünftige Natur«, in sich nicht in das umwandeln, was Kant Würde nennt. Denn sie
dem wir auf einen Wert reagieren, der dem Individuum auf der können nicht verhindern, daß das Ding im Prinzip ersetzbar ist, sie
Grundlage jener Natur zuschreibbar ist, die es mit anderen teilt. können nur dafür sorgen, daß in der Praxis keine Ersetzung statt-
Aber unsere Antwort auf einen Wert, der dem Individuum auf einer finden wird. Dasjenige, was etwas wirklich unersetzlich macht, ist
geteilten Grundlage zuschreibbar ist, kann gleichwohl darin beste- ein Wert, der eine Würdigung für etwas gebietet, so wie es an sich
hen, ihm kraft eigenen Rechts »Aufmerksamkeit zu schenken«. ist, ohne den Vergleich mit irgend etwas sonst und deshalb ohne
Aus demselben Grund können wir die Person unter gattungsmä- Ersetzungen zuzulassen.
ßigen Hinsichten als wertvoll einstufen, während wir sie außerdem Wenn Sie Glück hatten, waren Sie eines der Kinder, die von dem
noch als unersetzlich schätzen. Wenn wir die Person als unersetzlich Kindergarten-Kantianer Dr. Seuss etwas über ihren Wert lernten:
schätzen, ist das eine Form der Würdigung, in der wir mit einem
Also los! Mach deinen Mund auf und ruf es in die Welt hinaus!
Unwillen, sie zu ersetzen oder sie mit möglichen Ersatzpersonen zu
Schrei so laut du kannst: »ICH BIN ICH!«
vergleichen, auf ihren Wert reagieren. Die Weigerung, die Person
I C H SELBST!
zu vergleichen oder zu ersetzen, kann die angemessene Antwort Ich bin ich!
auf einen Wert sein, den wir ihr aus Gründen zuschreiben, die für Und ich weiß vielleicht nicht warum,
andere ebenfalls gelten.88 Derselbe Wert könnte vielen Objekten aber ich weiß, daß ich es gut finde.
zuschreibbar sein, ohne notwendigerweise Auswechslungen unter Dreimal HocU. ICH BIN ICH!90
ihnen zu rechtfertigen.
87 Dillon (1992a), S. 121. Diese Textstelle wird auch von Baron diskutiert in Baron 89 In vielen der bereits angeführten Werke lassen sich Varianten dieses Denkens
(1995), S. 10, Anm. 9. Siehe Dillon (1992b). finden, darunter auch bei G.Taylor, Lyons und Greenspan.
88 Ein ähnliches Argument bringt Stark (1997), S. 483 f. 90 Dr. Seuss (1959).
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97
Nach Dr. Seuss muß Ihr Gefühl, Liebe verdient zu haben, nicht von leidet, daß der Wert sich bereits im Besitz einer anderen Person
irgendeiner schmeichelhaften Selbstbeschreibung abhängen (»ich befindet.
weiß vielleicht nicht warum«). Es beruht allein auf Ihrer Individua- Sobald Sie festgestellt haben, daß jemandes Liebe Sie erwählen
lität als Person, auf Ihrer bloßen personalen Identität, wie sie in der kann, ohne sich auf Ihre besonderen Charakteristika zu stützen,
Aussage »ICH BIN ICH!« zum Ausdruck kommt.91 sind Sie außerdem in der Lage, sich darüber klar zu werden, daß
Die Tatsache, daß Sie Sie sind, ist genau die Tatsache, daß Sie die gegenteilige Art der Liebe im Grunde genommen gar nicht
eine mit sich selbst identische Person sind - daß Sie ein »Ich« sind wünschenswert wäre. Jemand, der Sie wegen Ihrer Marotten lie-
oder, wie Dr. Seuss an anderer Stelle sagt, ein »Wer«.92 Diese Tatsa- ben würde, müßte ein Liebhaber von Marotten sein, ja, schon fast
che macht Sie dafür geeignet, gerade auf die Weise geliebt zu wer- ein Fetischist.93 Denn damit seine Liebe wie angegossen auf Sie
den, wie Sie geliebt werden wollen, nämlich allein um Ihrer selbst passen würde, wären so viele Verbiegungen nötig, daß es geradezu
willen. Allein um seiner selbst willen geliebt zu werden heißt, dafür verrückt wäre. Natürlich können Sie hoffen, die Liebe werde ei-
geliebt zu werden, schlicht man selbst zu sein - für Ihre bloße In- nem Liebenden die Augen für alles an Ihnen öffnen, Ihre Marotten
dividualität als eine Person, was Sie ausdrücken, indem Sie sagen: eingeschlossen, und daß er diese Marotten im Widerschein Ihres
»Ich bin ich!« wahren, inneren Wertes sehen wird. Wenn Sie aber herausfinden
Als eine mit sich selbst identische Person sind Sie natürlich kei- sollten, daß die Marotten selbst die Beurteilungsgrundlage seiner
nen Deut anders als alle anderen: Jeder kann von sich sagen: »Ich Liebe abgaben, würden Sie sich trivialisiert fühlen.
bin ich!« Aber Kants Theorie der Werte zeigt, daß als Person ge-
schätzt zu werden ohnehin keine Angelegenheit des Vergleichs mit
anderen ist. Wenn Sie sich Kants Einsicht zu eigen machen, werden Die Selektivität der Liebe
Sie feststellen, daß als etwas Besonderes geschätzt oder geliebt zu
werden nicht bedeutet, den Vergleich mit anderen vorteilhaft zu Warum lieben wir dann aber nur einige Menschen? Und warum
bestehen. Es bedeutet vielmehr, daß jemand einen Wert in Ihnen sagen wir, daß wir sie wegen ihrer besonderen Eigenschaften lie-
sieht, der Vergleiche verbietet. Ihr einmaliger Wert als eine Person ben, wegen ihres Sinns für Humor oder ihres blonden Haares zum
ist kein Wert, den Sie als einziger einmalig besitzen; es ist vielmehr Beispiel? Lassen Sie mich diese beiden Fragen beantworten, indem
ein Wert, der Ihnen den Anspruch verleiht, einmalig, nämlich an ich eine wichtige Hinsicht aufzeige, in der sich die Liebe meiner
sich und für sich, geschätzt zu werden. Meinung nach von der Kantischen Achtung unterscheidet.
In diesem Sinne kann jeder einmalig wertvoll oder besonders
sein. Die Besonderheit einer jeden Person ist ein Wert des Typs,
der Zwecken an sich zukommt, die so gewürdigt werden müs-
93 Siehe Whiting, die »das fetischistische Interesse an der einmaligen Charakteri-
sen, wie sie an sich sind, und keinen Vergleich mit Alternativen
stik in den modernen Diskussionen der Freundschaft« moniert (Whiting 1991,
dulden. Sie ist deshalb ein Wert, dessen Besitz nicht darunter S.8). Diejenigen, die von diesem Interesse geleitet sind, gehen gelegentlich so
weit, vorzuschlagen, daß die Liebe zu jemandem nicht bloß auf dessen Vorzügen
91 Damit man gar nicht erst in Versuchung kommt, zu feiern, daß man eben man beruhen solle, sondern auch auf dessen Schwächen, denn diese trügen dazu bei,
selbst ist anstelle irgendeiner anderen Person, stellt Dr. Seuss klar, daß dieses einen Menschen zu individuieren. Obgleich ich ebenfalls der Ansicht bin, daß wir
Selbstsein damit verglichen werden muß, »eine Muschel, ein Schinken oder ein mit allen Fehlern und Schwächen geliebt werden wollen oder »mitsamt unseren
staubiges Glas saurer Stachelbeermarmelade« zu sein oder, schlimmer noch, ein Warzen«, wie es heißt, glaube ich nicht, daß wir wegen unserer »Warzen« geliebt
»Wäre-nicht«. Man selbst zu sein soll also nicht damit verglichen werden, jemand werden wollen. Wer möchte schon das Objekt von jemandes »Warzenliebe« sein?
anders zu sein, sondern damit, überhaupt nicht als Person zu existieren. Was wir wollen, ist doch, von jemandem geliebt werden, der unsere Warzen sieht
92 Dr. Seuss (1954). Der Refrain dieses Buches lautet: »A person's a person, no matter und nicht abgeschreckt ist, der hingegen unseren wahren Wert gut genug zu
how small.« würdigen weiß, um zu akzeptieren, daß sie nichts dazu beitragen.
102 98
Liebe für die empirische Person Formen der Wert einer Sache in einer anderen gespiegelt oder durch
eine andere gebrochen sichtbar werden kann. Diese Tradition be-
Kant sagt, Achtung werde erzeugt durch die Unterordnung unseres handelt allen Wert so, als ginge er von Zuständen aus und als strahle
Willens unter einen bloßen Begriff oder eine Idee.94 Unsere Achtung er bloß auf andere Zustände aus, die als Mittel mit ihnen zusammen-
für eine Person ist eine Antwort auf etwas, das wir verstandesmäßig hängen. Die Art und Weise, wie der Wert einer Person deren Gestalt
über sie wissen, wovon wir aber keine unmittelbare Kenntnis ha- [Persona] durchdringen kann, und die Art und Weise, wie wir über
ben. Meiner Hypothese zufolge ist der Wert, auf den wir reagieren, jene Gestalt auf ihren Wert reagieren können, liegen infolgedessen
wenn wir eine Person lieben, derselbe Wert, auf den wir reagieren, außerhalb unserer gewöhnlichen Fähigkeiten der philosophischen
wenn wir die Person achten - nämlich der Wert ihrer vernünftigen Beschreibung. Vielleicht brauchen wir entsprechend unserer Rede
Natur oder ihrer Personalität. Ich habe allerdings nicht gesagt und vom »sehen als« eine Rede vom »schätzen als«, um beschreiben zu
neige auch nicht zu einer solchen Aussage, daß der rein intelligible können, wie wir auf Blicke, Handlungen oder Werke einer Person
Aspekt der geliebten Person das unmittelbare Objekt der Liebe ist. nicht als Quellen des Werts, sondern als dessen Leitungsbahnen rea-
Die Liebe zu einer Person wird nicht beim Nachdenken über einen gieren. Vielleicht wäre uns dann wohler bei dem Gedanken, diese
bloßen Begriff oder eine Idee empfunden. Merkmale als Ausdrücke oder Symbole eines Werts zu würdigen, der
Das unmittelbare Objekt der Liebe ist die konkrete, in Fleisch gar nicht ihr Wert ist, sondern zu der inneren - oder wie Kant sagen
und Blut verkörperte und den Sinnen zugängliche Person, würde würde, bloß intelligiblen — Person gehört.
ich sagen. Die konkrete Person ist diejenige, gegen die wir eine Der Wunsch, auf diese Weise geschätzt zu werden, ist kein
emotionale Abwehrhaltung haben, und diesen Selbstschutz muß Wunsch, auf der Grundlage eigener unverwechselbarer Merkmale
die Person mit ihren offenkundigen Qualitäten außer Gefecht set- geschätzt zu werden. Es ist vielmehr der Wunsch, daß es der ei-
zen, wenn sie kann. Jemandes Personalität intellektuell zu erfassen genen Verkörperung von Menschlichkeit, wie unverwechselbar sie
mag ausreichen, um uns Achtung für den Menschen einzugeben, auch sei, gelingen soll, einen Wert zu vermitteln, der völlig uni-
aber bevor wir nicht wirklich eine Person in dem Menschen vor uns versell ist. (In dieser Hinsicht gleicht er dem Wunsch, als schön zu
sehen, wird uns nichts zur Liebe motivieren; und wir können die gelten.) Man möchte nicht, daß der Wert, den man als Person hat,
Person nur sehen, indem wir sie in ihrer oder durch ihre empirische vom intrinsischen Wert der Erscheinung oder des Verhaltens ver-
Gestalt [Persona] sehen. drängt wird. Man möchte, daß äußere Erscheinung und Verhalten
Demnach bleibt also ein Sinn, in dem wir eine Person für ihre eine Wertschätzung evozieren, die durch sie hindurchschaut und
beobachtbaren Merkmale lieben - die Art, wie er seinen Hut trägt im Inneren den Wert des Selbst erkennt.
und seinen Tee trinkt (in der Lyrik der Jazz-Ära), oder die Art, wie Ein Grund dafür, weshalb wir einige Menschen lieben und an-
er geht, und die Art, wie er spricht (in der Lyrik des Rock'n'Roll). dere nicht, ist der, daß wir nur in einige unserer beobachtbaren
Doch eine Person dafür zu lieben, wie sie geht, ist keine Reaktion Mitgeschöpfe hineinsehen können. Der Körper und das Verhalten
auf den Wert ihres Gangs; es ist vielmehr eine Reaktion auf ihren des Menschen sind unvollkommene Ausdrücke der Personalität,
Gang, der als Ausdruck oder Symbol oder Erinnerung für ihren und wir sind unvollkommene Interpreten. Der Wert, der jemanden
Wert als Person steht. geeignet sein läßt, geliebt zu werden, macht ihn in unseren Augen
Die philosophische Tradition, alle Motive auf propositionale Ein- nicht schon liebenswert. Ob jemand liebenswert ist, hängt davon
stellungen zurückzuführen, hat uns leider kein allgemein akzeptier- ab, wie gut sein Wert als Person durch seine empirische Gestalt
tes Vokabular überliefert, mit dem sich beschreiben ließe, in welchen [Persona] für uns ausgedrückt oder symbolisiert wird. Möglicher-
weise spricht jemandes Gestalt [Persona] nicht sehr klar von seinem
94 Siehe die Fußnote bei Kant (GMS), S. 401, und meine Erörterung dieser Textstelle
Wert als Person, oder sie spricht vielleicht nicht auf eine Art und
in Anm. 27. Siehe auch GMS, S. 439. Weise, die uns verständlich ist.
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Ein weiterer Grund, warum wir in der Liebe diskriminieren, lichkeit überschätzt, welche die Liebe dem Handelnden in diesem
ist der, daß der Wert, den wir in einigen Mitgeschöpfen zu sehen Falle abverlangen würde.
vermögen, unsere emotionale Abwehrhaltung ihnen gegenüber Ich glaube schon, daß die Liebe des Mannes für seine Frau seine
einschränkt und die sich daraus ergebende Verletzlichkeit die Auf- Sensibilität für ihre Notlage erhöhen sollte. Ich kann aber nicht
merksamkeit erschöpft, die wir vielleicht aufgebracht hätten, um glauben, daß sie ihn für die Notlage anderer, die in demselben Boot
den Wert in anderen zu finden und zu würdigen. Aufgrund unserer - oder vielleicht außenbords - sind, weniger empfänglich macht.
Konstitution ist die Zahl der Menschen, die wir lieben können, Meine eigene Erfahrung zeigt mir etwas anderes: Obwohl ich für
beschränkt; und wir müssen wohl vor unseren konstitutionellen ein Leiden lange Zeit nicht sensibel sein mag, bis ich es bei Men-
Grenzen haltmachen, um uns der liebevollen Beziehungen erfreuen schen sehe, die ich liebe, kann ich dann bei deren Leidensgenossen
zu können, die ein gutes Leben ausmachen. ebenfalls nicht mehr unsensibel bleiben. Das Verständnis, das ich
Wir haben deshalb viele Gründe, in der Liebe wählerisch zu für die Schwierigkeiten meiner Frau am Arbeitsplatz oder für die
sein, ohne daß wir zwischen den möglichen Liebesobjekten be- Schwierigkeiten meiner Kinder in der Schule habe, erstreckt sich
deutende Unterschiede finden müssen.95 Wir wissen, daß Men- natürlich auch auf deren Kollegen oder Klassenkameraden.
schen, die wir zufällig nicht lieben, für die Liebe ebenso in Frage Der Gedanke, jemand könnte die Liebe zu seinen eigenen Kin-
kommen mögen wie unsere eigenen Kinder, Ehepartner, Eltern dern dadurch zeigen, daß er weniger Mitgefühl für andere Kinder
und besten Freunde. Wenn wir diese Menschen lediglich achten, hat, scheint mir doch recht eigenartig zu sein. Was immer jeman-
anstatt sie zu lieben, heißt das nicht, daß wir sie in ihrem Wert den veranlassen würde, seine eigenen Kinder auf diese Weise zu
geringer veranschlagen. Vielmehr empfinden wir bei der Würdi- bevorzugen, könnte kaum Liebe sein. Natürlich sollte die Liebe für
gung ihres Werts das eine Gefühl anstelle des anderen Gefühls. die eigenen Kinder eine Person nicht notwendig dahin bringen,
Einige Menschen zu lieben, andere aber nicht bedeutet sehr wohl, daß sie andere Kinder liebt. Idealerweise wird sie die eigenen Kin-
sie auf unterschiedliche Weise zu schätzen. Es bedeutet jedoch der besonders liebenswert finden - das heißt, die eigenen Kinder
nicht, ihnen einen unterschiedlichen Wert zuzuschreiben oder sie werden in ihren Augen einen unvergleichlichen Wert besonders
überhaupt zu vergleichen. stark ausdrücken. Doch wenn ihr die Kinder diesen Wert bewußt
machen, wie nur sie das können, dann machen sie der Person etwas
Andere Gründe für Parteilichkeit bewußt, das diese als universell erkennt oder erkennen sollte.
Natürlich sollte der Mann in Williams' Geschichte seiner Frau
Vielleicht kann ich diesen Punkt veranschaulichen, indem ich kurz bei der Rettung den Vorzug geben gegenüber Fremden. Aber die
zu Williams und seiner Geschichte eines Mannes zurückkehre, der Gründe, warum er sie retten sollte, haben im Grunde genommen
nur einen von mehreren Menschen in Gefahr retten kann und der nichts mit Liebe zu tun.
seine Frau retten will. Daß der im Sinne der kantianischen Mo- Die Gründe für die Bevorzugung in diesem Fall umfassen zu-
ral Handelnde seine Frau retten würde, wie es jeder Ehemann tun nächst einmal die wechselseitigen Verpflichtungen und Abhängig-
würde, findet Williams' Anerkennung. Das Problem sieht Williams keiten in einer liebevollen Beziehung. Was die Frau zu ihrem Mann
darin, daß der Ehemann seine Frau erst retten würde, nachdem er sagen sollte, wenn er zögert, sie zu retten, ist nicht etwa: »Und was
aus unparteiischem Standpunkt über die Zulässigkeit dieses Han- ist mit mir?«, sondern: »Und was ist mit uns?«96 Das heißt, sie sollte
delns nachgedacht hat — eine zusätzliche Überlegung, die Williams ihre Partnerschaft oder ihre gemeinsame Lebensgeschichte anfüh-
als lieblos betrachtet. Ich meine allerdings, daß Williams die Partei- ren statt den Wert, den seine Liebe ihr beimißt. Der Appell, an den
95 Ein ähnliches Argument zur Selektivität in der Freundschaft bringt Jeske (1997), 96 Diese Formulierung des springenden Punkts hat mir Peter Railton in einem sehr
S. 69 fF. hilfreichen Gespräch über eine frühere Fassung dieses Aufsatzes vorgeschlagen.
102 103
individuellen Wert zu denken, den sie doch aus Sicht seiner Liebe Neil Delaney
hat, würde ihn bloß daran erinnern, daß sie es nicht mehr wert wäre Romantische Liebe und Verpflichtung aus Liebe
zu überleben als die anderen potentiellen Opfer, von denen jedes
Die Artikulierung eines modernen Ideals
fragen könnte: »Und was ist mit mir?«
Zweifellos hat der Mann außerdem nichtmoralische, selbstbe-
zügliche Gründe dafür, das Leben seiner Frau bevorzugt zu retten.
»Die Beziehung zueinander muß ein vollständiger und
Zu den wichtigsten Gründen mag zählen, daß er sehr stark an ihr fortwährender Austausch sein, eine vollständige und
hängt und es eine Schreckensvorstellung für ihn ist, durch ihren fortwährende Bestätigung seiner selbst im anderen, eine
Tod von ihr getrennt zu werden. Aber Anhänglichkeit ist nicht das- vollkommene Interaktion und Kommunion.«
selbe wie Liebe. Selbst ein Ehemann, der schon lange aufgehört (Vladimir Sergeyevich Solovyow, Der Sinn der Liebe)
hat, seine Frau zu lieben - sie wirklich zu sehen oder ihr wirklich
zuzuhören —, könnte noch immer so stark an ihr hängen, daß er zu Zahllose Künstler, Philosophen und Theologen haben viel Zeit da-
ihrer Rettung eilen würde, ohne groß nachzudenken. mit verbracht, über die Themen romantische Liebe und Verpflich-
tung aus Liebe zu reden und nachzudenken, und trotzdem haben
die meisten von uns den Eindruck, diese Themen seien nur schlecht
Schlußfolgerung verstanden worden.1 Im folgenden möchte ich einige basale, aber
wichtige Fragen zu diesen Dingen stellen und werde auch versu-
Vielleicht ist das, was sich die Ehefrau nach Williams' Vorstellung chen, sie zu beantworten, indem ich einige Unklarheiten beseitige
wünscht, eine blinde Zuneigung, für die jeder kritische Gedanke ei- und dabei einige Probleme löse.2
ne Zumutung wäre. Dann wäre aber der Wunsch, der von dem kan- Um möglichen Mißverständnissen im Hinblick auf mein Vor-
tianisch Handelnden in dieser Geschichte enttäuscht wird, nicht der haben vorzubeugen, werde ich zunächst zwei Fragen unterschei-
Wunsch nach einem liebenden Ehemann, sondern eher der Wunsch den, die sich eventuell als eng miteinander verbunden herausstellen
nach einem verläßlichen Begleiter. Insoweit die Ehefrau aber geliebt könnten. Eine Frage betrifft das Wesen romantischer Liebe und
werden will, wird sie als das Geschöpf ohne Preis gesehen werden der Verpflichtung aus Liebe, und zu ihrer Beantwortung könnte
wollen, das sie ist. Sie wird deshalb keineswegs auf eine Weise gese- es erforderlich sein, eine Reihe notwendiger und hinreichender
hen werden wollen, die die Waagschale zu ihren Gunsten ausschla- Bedingungen für die Etablierung der fraglichen Beziehung zu be-
gen läßt, sondern vielmehr auf eine Weise, die die Absurdität ent- stimmen. So könnten wir sagen, eine Beziehung sei ein Verhältnis
hüllt, sie überhaupt in einer Waagschale aufwiegen zu wollen. romantischer Liebe genau dann, wenn verschiedene Einstellungen,
Die Veranschaulichung dieser Absurdität ist meiner Meinung
1 Für hilfreiche Diskussionen dieser Themen und/oder Kommentierungen verschie-
nach auch schon alles, wofür diese Rettungsboot-Beispiele tau- dener Rohfassungen danke ich Gilbert Harman, Scott Soames, Robert George,
gen. Solche Fälle fordern dazu auf, uns Situationen vorzustellen, Harry Frankfurt, Christine Korsgaard, Mark Johnston, George Kateb, John
in denen wir uns gezwungen fühlen, zwischen Dingen zu wählen, Cooper, David Solomon, Sarah Buss, John Barker, Shelly Branam, Jim Pryor und
die nicht schlüssig als Alternativen behandelt werden können, weil ganz besonders Alasdair Maclntyre und David Lewis. Ich konnte diesen Aufsatz
in meiner Zeit als »Andrew W. Mellon Graduate Prize Fellow« am Princeton Uni-
ihre Werte unvergleichbar sind. Die Liebe hilft uns in diesen Fäl-
versity Center for Human Values abschließen.
len nicht, einen Ausweg aus der Absurdität zu finden: Sie hilft uns
2 Zwei der besten philosophischen. Essays, die ich zu diesen Themen kenne, sind von
nicht, Unvergleichbares zu vergleichen. Im Gegenteil, die Liebe ist Robert Nozick, »Das Band der Liebe«, in: Nozick (1993) und Scruton (1986), bes.
eigentlich eine Erziehung in Sachen Absurdität. Aber genau aus Kap. 8. Die Art, wie sie den Gegenstand erfassen, hat meine Erörterung in vielen
diesem Grund ist die Liebe auch eine moralische Erziehung. Punkten angeregt, obwohl ich den Eindruck habe, daß das Phänomen bei beiden
Übersetzt von Karin Wördemann zu stark vereinfacht wird.
102 105
Dispositionen und Gefühle vorhanden sind. Diese Frage muß von Nachdem ich meine Aufgabe abgegrenzt und eingeschränkt ha-
der folgenden unterschieden werden: Welche Arten von Einstel- be, möchte ich nun das Netzwerk von Bedürfnissen und Interessen
lungen, Dispositionen und Gefühlen werden von den modernen herausarbeiten, auf das sich das Streben romantischer Liebe meiner
Menschen westlicher Prägung als Vorbedingungen für erfüllende Meinung nach konzentriert. Indem ich das tue, stelle ich ganz of-
romantische Beziehungen angesehen? Die erste Frage hebt anschei- fenkundig substantielle 'Behauptungen auf über unsere gewöhnli-
nend direkt auf die Substanz der Liebe ab, indem sie fragt, was sie che psychische Ausstattung, und zwar insbesondere Behauptungen
ist, während die zweite Frage darauf abzielt, was eine Klasse von über Dinge, die die meisten Menschen für mehr oder weniger ver-
Möchtegern-Liebenden will, braucht und sucht. Anders gesagt, wirklicht halten müssen, damit sie ihre Liebesbeziehungen psycho-
eine Antwort auf die erste Frage verlangt die Untersuchung eines logisch zufriedenstellend finden. Zu diesem Zweck werde ich mich
Phänomens auf der Ebene der begrifflichen Analyse, wohingegen in erster Linie auf eine Beigabe anekdotenhafter Belege und den
uns eine Antwort auf die zweite Frage sagt, was die Menschen von reflektierenden Alltagsverstand verlassen, obwohl ich die maßgeb-
diesem Phänomen für sich erwarten. Manche mögen es für möglich liche soziologische Literatur ebenfalls zu Rate gezogen habe.5 Der
oder für wahrscheinlich halten, daß es zwischen dem, was roman- Grundgedanke ist folgender: Die Menschen möchten mit einer
tische Liebe wirklich ist, und dem, was sich die Menschen davon anderen Person eine unverwechselbare Art von Wir bilden, möch-
versprechen, wenn sie die romantische Liebe anstreben, eine Dis- ten für eine bestimmte Sorte von Eigenschaften geliebt werden und
krepanz gibt. Einmal abgesehen davon, ob diese Unterscheidung möchten, daß diese Liebe ihnen gegenüber eine Verpflichtung eines
wirklich so substantiell ist oder nicht (und ich neige zu der Ansicht, bestimmten Typs erzeugen und aufrechterhalten soll. Der erste Teil
sie ist es nicht), werde ich mich in diesem Aufsatz mit der zweiten des Gedankens ist allgemein durchweg akzeptiert und bedarf nur
Frage (oder Formulierung) beschäftigen. In dem Maße, wie dieses einer genaueren Ausbuchstabierung und Charakterisierung, als es
Vorgehen die Artikulierung eines Ideals beinhaltet, bezieht sich dies normalerweise der Fall ist. Der zweite Teil ist spätestens seit Piatons
auf die antizipierte Erfüllung romantischer Liebe und nicht not-
wendig auf die Beziehung selbst. die historische Bedeutung verschiedener Phänomene, die so bezeichnet werden,
Zunächst eine vorläufige Einschränkung. Ich werde mich mit nicht zu viel geben. Ob Bertrand Russell zum Beispiel recht hatte mit seiner Ver-
mutung, die romantische Liebe sei erst mit diesem Ausdruck erfunden worden,
Fragen zur romantischen Liebe und Verpflichtung aus Liebe befas-
ist für die hier anstehenden Fragen nicht von Bedeutung. Z u Russells Behandlung
sen, die anscheinend eine einzigartige Denotation für diese Begriffe des Themas siehe Russell (1957), Kap. 6.
voraussetzen; obgleich es mir widerstrebt, eine Einheitlichkeit des 5 Für meine Absichten besonders nützliche Untersuchungen sind Bellah, Madsen,
romantischen Empfindens oder der Bedingungen romantischer Sullivan, Swindler und Tipton (1987); Verrof, Douvan und Kulka (1981); Giddens
Erfüllung über Zeiten, Orte und Kulturen hinweg vorzuschla- (1993). Mit Blick auf diesen letzten Literaturhinweis sollte ich anmerken, daß das
von mir formulierte romantische Ideal eine größere Ähnlichkeit mit dem aufweist,
gen, glaube ich doch, daß in der zeitgenössischen westlichen Kul-
was Giddens »zusammenfließende Liebe« nennt. An dieser Stelle möchte ich noch
tur grundsätzlich Einigkeit herrscht, welche Voraussetzungen bei auf einen Punkt hinweisen, der zweifellos Stirnrunzeln hervorrufen wird. Ich bin
erfüllten romantischen Beziehungen gegeben sein müssen, und mir nur allzugut der wichtigen Rolle bewußt, die soziale Geschlechtsidentität
meine Aufmerksamkeit in diesem Aufsatz gilt allein dieser Kultur.3 und sexuelle Orientierung beim Sammeln und Interpretieren solcher Daten spie-
Vom Geist oder Gehalt meiner Äußerungen läßt sich vermutlich len. Für meine Perspektive, die sich in diesem Aufsatz niederschlägt, sind daher
wenig oder gar nichts auf andere Kulturen oder Zeiten übertragen, wahrscheinlich Männlichkeit und HeteroSexualität relevant, und das vermutlich
in einem größeren Umfang, als es in philosophischen Schriften üblich ist. Die
und jede Übertragbarkeit in diesem Sinne wird der Entscheidung
Notwendigkeit, sich auf Anschauungen und Erfahrungen zu stützen, die vom
des kritischen Lesers überlassen bleiben.4 eigenen stark begrenzten Horizont erheblich gefärbt sind, hat wohl viele Philo-
sophen daran gehindert, sich an eine solche Arbeit zu wagen. Ich hoffe, Leser des
3 Mit dieser Einschränkung wirkt es wie Ironie, daß ich mein Motto dem Werk
anderen Geschlechts und anderer sexueller Orientierung werden meine Gedanken
eines russischen Theologen des 19. Jahrhunderts entnommen habe.
zur Grundlage ihrer eigenen Überlegungen machen können.
4 Die Leser sollten auf den Ursprung des Ausdrucks »romantische Liebe« oder auf
102 107
Zeiten ein Grund für Auseinandersetzungen gewesen. Der dritte son das gleiche tun wird.8 Obwohl ich diese letzte These für relativ
Teil ist bislang unzureichend formuliert und unterschätzt worden, unumstritten halte, reicht sie doch nur so weit, wie das unser Ver-
und seine Unterschätzung ist ursächlich verantwortlich für offen- ständnis ihres Gehalts zuläßt, wobei ein wenig Nachdenken zeigen
sichtliche Unvereinbarkeiten in unserem Wunsch nach dauerhaften wird, daß dieses Verständnis nicht allzu groß ist.
Liebesbeziehungen. Erstens, was bedeutet es überhaupt in diesem Zusammenhang,
sich die Bedürfnisse und Interessen des anderen zu eigen zu ma-
chen? Lassen Sie uns zu Beginn eine motivationale Ausstattung
definieren als das Netzwerk aus Interessen, Bedürfnissen und Wün-
Wir schen, das die Überlegungen und Handlungen einer Person leitet.
Nehmen wir einmal an, daß zwei Menschen etwas unterschiedli-
In einem an Einsichten reichen Aufsatz mit dem Titel »Das Band che motivationale Ausstattungen haben. Wenn wir beispielsweise
der Liebe« behauptet Robert Nozick zu Recht, daß die romantische sagen, daß A Interesse an x hat, während B das nicht hat, dann
Liebe durch den » Wunsch« charakterisiert ist, »ein neues Wesen in liegt die These nahe, daß A's Wunsch, B möge x als ein Interesse
der Welt zu bilden und darzustellen, das man als ein Wir bezeich- übernehmen, Teil des romantischen Ideals ist. Bis wir aber mehr
nen könnte«.6 Nozick behauptet eigentlich, daß romantische Liebe Informationen darüber erhalten, was für ein Interesse x ist und wie
lediglich ein Wir bilden will, aber ich werde die konstitutive These genau B dahin gelangt, sich x anzueignen, kann die These ein biß-
ignorieren und mich auf die damit verwandte Idee konzentrieren, chen seltsam anmuten. Lassen Sie x der Wunsch sein, gute Arbeit in
daß zu dem, was Menschen mit dem Ideal der romantischen Lie- der Philosophie zu leisten. Wie soll B dann Äs philosophische Am-
be verbinden, und vielleicht sogar zum wichtigsten, was sie damit bitionen in ihre eigene motivationale Ausstattung integrieren? Auf
verbinden, der Wunsch gehört, sich mit der anderen Person auf was »sich Äs Interessen zu eigen machen« nicht hinauslaufen sollte,
umfassende Weise psychisch und physisch zu vereinigen.7 Während ist eine Entwicklung, bei der B letztlich ähnliche philosophische
dieser Wunsch eine Vielzahl von Aspekten aufweist, ist der zweifel- Ambitionen hat wie A. So wie es aussieht, wäre dies zugleich zuviel
los wichtigste Aspekt der, daß dazu das Bestreben gehört, sich mit und zuwenig gefordert. Zuviel in dem Sinne, als man normalerwei-
dem anderen zu identifizieren, sich die Bedürfnisse und Interessen se nicht darauf besteht (oder auch nur will), daß der Liebespartner
des anderen zu eigen zu machen und zu wollen, daß die andere Per- irgendwann die eigenen Interessen haben sollte, wenn sie von dieser
Art sind. Zuwenig in dem Sinne, als es den Wunsch, die andere
6 Nozick (1993), S. 84. Die Idee, erotische Liebe könne dem Wunsch gleichgesetzt Person möge Ihre Interessen in ihre motivationale Ausstattung auf-
werden, ein neues Wesen in der Welt zu bilden, läßt sich zumindest bis zu Piatons nehmen, nicht angemessen widerspiegelt, wenn die andere Person
Symposion (2001, 189A-193D, S. 264-283) zurückverfolgen, wo Aristophanes von irgendwann einfach denselben Interessentyp hat wie Sie selbst. Auf
einem Mythos berichtet, dem zufolge die einzelnen Menschen die Hälften von was »sich Äs Interessen zu eigen machen« auch nicht hinauslaufen
ehemals ganzen Personen sind, die sie eigentlich immer waren, bevor die Götter
sollte, ist die aus rein instrumenteilen Gründen in B genährte Hoff-
entschieden, sie zu teilen. Aus dieser Sicht ist Liebe nichts als der Wunsch, wieder
ein Ganzes zu werden. 8 Eine kleine stilistische Bemerkung: Ich habe mich entschieden, in diesem Aufsatz
7 Wenn ich behaupte, daß der Wunsch nach physischer Intimität mit einer anderen starken Gebrauch von der zweiten Person und dem Femininum Singular zu ma-
Person ein Aspekt des modernen romantischen Ideals ist, bestreite ich zugleich, chen. Obgleich mich das Experimentieren überzeugt hat, daß dies die beste der
daß das Paradigma höfischer Liebe auf dieses Ideal paßt, insofern die höfische möglichen Alternativen ist, hat sie einige bedauerliche Nebenwirkungen, darunter
Liebe um die unendliche Aufschiebung physischer Intimität und um die grund- vor allem die Implikation, daß HeteroSexualität und Monogamie im Hinblick auf
sätzliche Sublimation des physischen Begehrens in ein intellektuelles kreist. Das das von mir formulierte Ideal erheblich privilegiert werden. Solche Implikationen
ist lediglich ein Beispiel für die Einengung meines Gegenstands auf die zeitgenös- sind nicht erwünscht. Das Ideal soll insbesondere hinsichtlich der sexuellen Ori-
sischen westlichen Sitten. Mehr zur höfischen Liebe und den damit verbundenen entierung neutral gestaltet sein, und ich bin fast gespalten in der Frage, ob und in
Idealen findet sich bei de Rougemont (1987), bes. 1. und 2. Buch; Mackey (1991). welchem Umfang das Ideal mit mehreren Partnern verwirklicht werden könnte.
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wird: das heißt, sobald jegliche Unterscheidung zwischen meinen mität und Individualität, die meiner Meinung nach für einige per-
und deinen Interessen überwunden ist«.'2 Dem schließt er die These sönliche Angelegenheiten relevant ist, in Wirklichkeit für sämtliche
an, die charakteristischen Merkmale der Liebe seien »der Wunsch, persönlichen Belange gilt, oder daß alle Liebenden dazu neigen,
mit dem anderen >zusammenzusein<, dessen körperliche Gegenwart ähnliche Fälle auf ähnliche Weise zu lösen. Der Charakter einiger
als wohltuend empfunden wird, und eine »Interessengemeinschaft^ Interessen wird völlig kooperativ und gemeinschaftlich sein (das
die den Unterschied zwischen meinen und seinen Interessen eineb- Kindeswohl), andere Interessen werden gänzlich privat (Yoga) und
net«.13 Obgleich ich Scruton mehr oder weniger recht gebe, wenn weitere Interessen werden auf die eine oder andere Weise zwischen
er das Ideal der romantischen Liebe als eine Weiterentwicklung auf diesen Polen ausbalanciert sein (vielleicht die Religionsausübung
der Grundlage des Freundschaftsideals ansieht und nicht als ein bei gemischten Paaren). Dem Hang der einen Person, in bezug auf
völlig anders geartetes Phänomen, ist seine Betonung der unein- die eigene Karriere eher verschlossen zu sein, entspricht bei einer
geschränkten Vermengung von Interessen und Gründen bei der anderen Person die vollständige Offenheit für die aufrichtige An-
Unterscheidung zwischen romantischer Liebe und Freundschaft teilnahme des Partners an ihren Lieblingsprojekten. Diese unter-
unempfänglich für die konkurrierenden Interessen, die ich soeben schiedlichen Voraussetzungen unterstreichen lediglich, wie sehr
zu formulieren versuchte. eine Charakterisierung des romantischen Ideals angesichts der er-
Nach all diesen Feststellungen ist es wichtig, daran zu erinnern, staunlichen Vielfalt von Persönlichkeiten und motivationalen Aus-
daß ich es nicht darauf abgesehen habe, ein unauflösliches Dilem- stattungen, die in der zeitgenössischen westlichen Kultur zu finden
ma im Kern des romantischen Ideals aufzuzeigen. Es ist keineswegs sind, nuanciert werden muß.
so, daß die Wünsche nach Verbindung und Identifizierung einer- Die ausgiebige Aufmerksamkeit dafür, wie Sie Ihre Bedürfnisse
seits, die schließlich bloß Aspekte einer tiefgreifenden psychologi- und Interessen von Ihrem Liebespartner berücksichtigt sehen wol-
schen Verschmelzung sind, wie sie in dem romantischen Verhältnis len, sollte uns nicht von der wichtigen Frage ablenken, wie Sie sich
angestrebt wird, und andererseits der Wunsch, die Integrität der selbst im Verhältnis zu dessen Bedürfnissen und Interessen sehen
persönlichen Grenzen zu wahren, komplett unvereinbare Ziele wollen. Ein wichtiges Teilelement des romantischen Ideals, das
sind. Ich habe vielmehr zu zeigen versucht, daß der romantische mit dem Wunsch, ein Wir zu bilden, eng zusammenhängt, besteht
Wunsch, ein Wir zu bilden und darzustellen, welches durch pro- darin, sich selbst als jemanden zu verstehen, der zum Wohlerge-
funde psychologische und physische Intimität charakterisiert ist, hen des anderen einen erheblichen Beitrag leistet. Damit will ich
ein überaus nuancenreicher Wunsch ist, der letzten Endes in man- nicht sagen, daß Sie sich selbst als die Conditio sine qua non des
chen Hinsichten ähnlich wirkt wie der Wunsch souveräner Staa- anderen begreifen wollen, sondern vielmehr als jemand, der bei der
ten, eine republikanische Nation zu gründen. Insofern Sie Ihren Förderung von — zumindest einigen — Interessen des anderen eine
Liebespartner zu Recht als eine Person betrachten können, die ihr wichtige unterstützende Rolle spielt. Wenn Ihr Liebespartner nie-
eigenes Wohlergehen direkt mit Ihrem Wohlergehen verknüpft dergeschlagen ist, möchten Sie zum Beispiel derjenige sein, der ihn
und gleichzeitig die unverkennbar persönlichen Dimensionen an oder sie aufheitert, obwohl es besser wäre, wenn jemand anders das
Ihren Leistungen schätzt, sieht es zunächst danach aus, als werde täte (ausgenommen vielleicht irgendwelche Ex-Sonstwas) als über-
die Beziehung in höchstem Maße Erfüllung gewähren. Man muß haupt niemand, wenn es nicht funktioniert. Ein Trittbrettfahren in
jedoch auch bedenken, daß Bedürfnisse und Interessen in den un- diesem Sinne mit dem Ergebnis, daß die Rolle Ihres Partners für
terschiedlichsten Ausprägungen und Intensitäten vorkommen, und Ihre Entwicklung bei weitem größer ist als umgekehrt, erweist sich
es wäre lächerlich zu behaupten, daß die Spannung zwischen Inti- im allgemeinen als unbefriedigend, weil diese Rollenverteilung nur
allzu leicht Anlaß ist für unerfreuliche Gefühle, wie sie Bernard
1 2 Scruton (1986), S. 230. Z u Montaignes Sicht siehe seinen Text Ȇber die Freund-
schaft« (in: Montaigne r998).
Shaw andeutet, wenn er schreibt: »Eliza mag Higgins nie besonders
13 Scruton (1986), S.231. gern; er ist im ganzen viel zu gottähnlich, um angenehm zu sein.«
102 113
An diesem Punkt taucht die interessante Frage auf, warum das Intimität, die romantisch Liebende normalerweise anstreben, un-
Streben nach dem romantischen Ideal nicht davor haltmacht, sich vereinbar. Das ist noch keine ganze Antwort, aber ein Schritt in die
der Bedürfnisse und Interessen des anderen aufrichtig anzunehmen. richtige Richtung.14
Anders gesagt, warum würden es die meisten von uns als durchaus
unbefriedigend empfinden, wenn sie entdecken sollten, daß sich
zwar der Liebespartner mit ihren Bedürfnissen und Interessen iden- »Aus den richtigen Gründen«
tifiziert hat, sie selbst dies umgekehrt aber versäumt haben — warum
würden sich die meisten nicht mit der Ebene des Mitgefühls zufrie- Ich möchte mich nun einem anderen Aspekt des romantischen Ide-
dengeben? Auch wenn ich bereits angedeutet habe, daß die meisten als zuwenden, bei dem es darum geht, was wir als eine geeignete
von uns Wert darauf legen, zur Entwicklung und Förderung der Grundlage für die Liebe ansehen. Wir können beginnen, indem wir
Interessen des Partners beizutragen, erscheint dies völlig vereinbar Personen von ihren Eigenschaften unterscheiden und diese letzte-
mit einer verhältnismäßig wohlwollenden und leicht distanzierten ren dann grob einteilen in solche Eigenschaften, die eine Person für
Form der Anteilnahme für den Partner, einer Anteilnahme, wie sie ihr Selbstverständnis als zentral auffaßt, und solche Eigenschaften,
beispielsweise Doktorväter für den Fortschritt ihrer Studenten auf- die sie als nebensächlich betrachtet. Trotz des Umstands, daß das
bringen. Warum ist es so wichtig, sich zu identifizieren, anstatt bloß Selbstverständnis von Personen im Laufe der Zeit umgeschichtet,
Gegenstand der Identifizierung zu sein? Wäre denn nicht diese Art verfestigt, manchmal sogar erschüttert werden kann, können die
romantischer Trittbrettfahrerei die beste Masche überhaupt? meisten Menschen in ihren guten Zeiten einige Eigenschaften her-
Auf diese Frage gibt es keine einfache Antwort. Ich möchte die- ausgreifen, mit denen sie sich stark identifizieren und von denen sie
sen Abschnitt mit dem Versuch beenden, eine vielversprechende glauben, daß sie die Fragen »Wer bin ich?« oder »Auf was will ich
Herangehensweise aufzuzeigen, und zwar indem ich etwas explizit hinaus?« für einen vertretbaren Zeitraum sowohl der Vergangenheit
mache, was während meiner Erörterung des Wir lange Zeit un- als auch der Zukunft mehr oder weniger gut klären. Anhand dieser
ausgesprochen im Raum stand: den Wert nämlich, den Liebende Unterscheidungen können wir sagen, daß eine Person A von einem
gewöhnlich einer besonderen Art des Vertrauens beimessen. Es romantischen Partner B möchte, daß dieser B sie wegen Eigen-
reicht nicht aus zu sagen, daß Liebende einander vertrauen können schaften liebt, die A in ihrem Selbstverständnis für zentral hält. Das
möchten; sondern jeder Beteiligte hat, wie im Fall einer (besseren) müssen nicht unbedingt alle dieser Eigenschaften sein, vielleicht
Freundschaft, den starken Wunsch, selbst vertrauenswürdig zu sein. nicht einmal eine größere Zahl, aber ganz entschieden einige.15
Die wechselseitige Nachdrücklichkeit dieser Wünsche, sowohl dem Lassen Sie mich den absehbaren Bedenken zuvorkommen, in-
Liebespartner trauen zu können als auch dessen Vertrauen zu ge- dem ich betone, daß das Ideal romantischer Liebe eine Beziehung
nießen, unterscheidet diese Art von Vertrauen, die dem romanti- zwischen Personen beinhaltet, nicht zwischen einer Person und ei-
schen Ideal entspricht, von solchen Arten des Vertrauens, wie sie ner Reihe von Eigenschaften. Wenn ich behaupte, daß A wegen
im Verhältnis zu Ihrem Arzt oder Rechtsanwalt oder in der Bezie- Eigenschaften geliebt werden möchte, die A als für ihr Selbstver-
hung eines Kleinkindes zu seiner Mutter eine Rolle spielen. Meine ständnis zentral auffaßt, dann behaupte ich, A habe den Wunsch,
Vermutung ist nun, daß die Unverzichtbarkeit der Identifizierung daß diese Eigenschaften der Grund für die Einstellung sein sollten,
mit Ihrem Liebespartner - gegenüber der Möglichkeit, bloß selbst die B eingenommen hat, nicht der Gegenstand von B s Einstellung.
Gegenstand seiner Identifizierung zu sein — eng verbunden ist mit Es sollte unmißverständlich klar sein, daß ich mit der These, man
der Unverzichtbarkeit, vertrauenswürdig zu sein, statt lediglich wolle wegen Eigenschaften geliebt werden, die man für sein Selbst-
vertrauen zu können. Das heißt, bloß die eine Hälfte ohne deren
14 Ich danke Alasdair Maclntyre für Anregungen zum Thema Vertrauen.
komplementäres Gegenstück zu haben ist, sowohl was die Identifi- 15 Indem ich die Dinge auf diese Weise ordne, sehe ich mich weitestgehend in Über-
zierung als auch was das Vertrauen angeht, mit der psychologischen einstimmung mit Nozick (vgl. Nozick 1993, S.90).
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Verständnis für zentral hält, den Standpunkt vertrete, daß man in wie Aristoteles wohl kaum zu der Auffassung verpflichtet ist, daß
einer Beziehung stehen will, die grundsätzlich Personen aufeinan- vollkommene Freunde die Tugend des jeweils anderen lieben, statt
der bezieht, und zwar zum Teil wegen der unterschiedlichen Ei- einander zu lieben, so bin ich wohl kaum zu der Ansicht verpflich-
genschaften, die sie verkörpern. Ein Ideal der Liebe, das Personen tet, daß romantisch Liebende die wünschenswerten Eigenschaften
direkt auf Eigenschaften bezieht, ist platonisch inspiriert und in des jeweils anderen lieben statt einander.17
jedem Falle sonderbar. Hier sehen wir bereits, wie wichtig es ist, Fragen nach den not-
Meine Erklärung ist die plausibelste Auslegung der Alltagswen- wendigen Bedingungen für die Etablierung der Liebesbeziehung
dung: »Ich möchte von meinem Liebespartner aus den richtigen und Fragen danach, was die Menschen erwarten, auseinanderzu-
Gründen geliebt werden.« Wenn von jemandem eine Klage geäu- halten. Denn wenn wir uns an meinen Anspruch halten, das zu
ßert wird wie: »Er liebt mich nur wegen meines Körpers«, läßt sich beschreiben, was A will, werden wir sehen, daß Bedenken wegen
dies am besten als Beobachtung dieser Person interpretieren, daß solcher Fälle, in denen die Eigenschaften, die A für sein Selbstver-
die Liebe ihres Partners vornehmlich auf Eigenschaften gerichtet ständnis für zentral hält, komplett von denjenigen Eigenschaften
ist, die sie selbst als nebensächlich erachtet. Während sich die Lie- abweichen, die tatsächlich zentral sind, unangebracht sind. Neh-
be zu Eigenschaften gewöhnlich darin zeigen wird, daß Gründe men wir einmal den folgenden Fall: A ist ein gutherziger Rebell
für diese Liebe angeführt werden, welche auf genau diese Eigen- im Teenageralter, der sich selbst für einen nihilistischen Desperado
schaften verweisen (z. B. wenn ein Junge von seiner Mutter gefragt hält, unter der rebellischen Oberfläche aber eine anständige, sanfte
wird, warum er von einem bestimmten Mädchen so angetan ist), Seele ist. Es ist eine interessante Frage, ob wir es als einen muster-
wird die ernsthafte Rede von Gründen als Basis für die Einstellung gültigen Fall romantischer Liebe bezeichnen sollten, wenn A von
wahrscheinlich besser vermieden, denke ich. Für meine Zwecke einem verständnisvollen Mädchen begeistert ist, das seine Freund-
ist der Anspruch, daß Sie aus den richtigen Gründen geliebt wer- lichkeit schätzt, während es gleichzeitig seine Albernheit mit Hu-
den wollen, gleichbedeutend damit, zu sagen, daß sich die Liebe mor nimmt. Vorausgesetzt jedoch, wir konzentrieren uns auf die
auf passende Aspekte Ihrer Person konzentrieren soll oder daß Sie Frage, was die Menschen erwarten, dann wäre meine ursprüngli-
wegen der richtigen Eigenschaftsarten geliebt werden wollen. Der che Methode, die Dinge zu formulieren, genau richtig. Eine Person
wichtige Punkt ist, daß die Menschen normalerweise die Charak- möchte für Eigenschaften geliebt werden, die sie für ihr Selbstver-
teristik ihrer selbst, die sie für den Kern ihrer Identität halten, als ständnis für zentral hält. Die Menschen sind meistens genügend in
Grund für die Einstellung wiederkehren sehen wollen, die ihr Lie- Fühlung mit dem, wer sie sind, so daß jede Unterscheidung zwi-
bespartner zu ihnen hat. schen ihrem vermuteten Selbstverständnis und ihrem wirklichen
Bei Arbeiten dieser und ähnlicher Thematik scheint aber die Selbstverständnis zu diesen Zwecken vernachlässigbar ist; doch
Unfähigkeit, zwischen der Liebe aufgrund von Eigenschaften und
das sinngemäß besagt, daß die Liebe von Individuen unmöglich ist, den sach-
der Liebe zu den Eigenschaften unterscheiden zu können, recht verwandten Punkt, daß vernunftgestützte oder vernunftgeleitete Einstellungen
verbreitet zu sein. So macht beispielsweise Jean Buridan in seinem nicht allgemeingültig sein müssen. Siehe Scruton (1986), S. 98. Eine etwas andere
Kommentar zur Nikomachischen Ethik viel Wirbel um einen von Interpretation der betreffenden Passage bei Pascal findet sich bei Soble (1990),
anderer Seite vorgetragenen Einwand gegen die These, daß sich S. 309-311.
vollkommene Freunde einander wegen ihrer Tugend schätzen, 1 7 Robert Solomon scheint das Opfer einer solchen Verwechslung hinsichtlich der
Gründe für Liebe zu sein, wenn er erklärt: »Wenn Liebe aus Gründen erfolgt,
statt einfach festzuhalten, daß der Einwand die Verwechslung des
dann ist es nicht die ganze Person, die man liebt, sondern bestimmte Aspekte der
Gegenstands einer Einstellung mit ihrem Grund beinhaltet.16 So Person — obwohl der Rest der Person natürlich ebenfalls dabei ist.« Ich zitiere aus
16 Zu Buridans Behandlung dieses Punktes siehe Buridan (1637), 8.4. Price gelangt seinem (zugegebenermaßen populären) Buch About Love (Solomon 1988), S. 153 f.
in Love and Friendship in Plato andAristotle (Price 1989) im wesentlichen zu dieser Wie ich schon betonte, ist Liebe eine Einstellung, die sich auf Personen richtet,
Diagnose. Scruton vertritt im Zuge der Kritik an einem Argument von Pascal, nicht auf Aspekte von Personen, Eigenschaften oder etwas derartiges.
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auch wenn es tatsächlich eine erhebliche Abweichung gibt, wollen ter Weise seine romantische Zuneigung spüren läßt, befähigt Sie,
sie vom Standpunkt der psychologischen Erfüllung aus glauben, ihr die augenblickshaften Ängste zu überstehen, daß Sie sich selbst
Liebespartner schätze sie aus derselben Art von Gründen, aus denen und Ihren Partner getäuscht haben könnten.19 Ein anderes Beispiel
sie selbst es tun. Wenn der jugendliche Desperado so sehr einem dafür, wie der Wunsch, ein Wir zu bilden, mit dem Wunsch zu-
Selbstmißverständnis unterliegt, wie sich das für mich darstellt, sammenfällt, wegen der richtigen Eigenschaften geliebt zu werden,
dann möchte er, daß ihn das Mädchen wegen seines augenscheinli- enthält die Beobachtung, wie sehr Sie die Erkenntnis, daß Ihr Lie-
chen Rebellentums liebt.18 bespartner Sie wegen der Eigenschaften liebt, mit denen Sie sich
Diese letzten Bemerkungen über Fälle eines erheblichen Miß- stark identifizieren, dazu ermutigt, diese Attribute zu verstärken
verhältnisses zwischen dem, wofür man sich selbst hält, und dem, und zu verbessern und sich selbst zu immer besseren Versionen
wer man wirklich ist, bieten die Gelegenheit, zwei Dinge zusam- der Person zu entwickeln, die Ihr Partner so bewundert. Auf diese
menzubringen: den Wunsch nach der einzigartigen vertrauten Art und Weise nimmt das romantische Wir einige der besten Zü-
Freundschaft, wie sie das ideale romantische Wir kennzeichnet, ge einer im aristotelischen Sinne vollkommenen Freundschaft an,
und den Wunsch, »aus den richtigen Gründen« geliebt zu werden. nämlich die Tendenz zu gegenseitiger Ermutigung und Unterstüt-
Obwohl die meisten von uns einen einigermaßen beständigen Zu- zung bei den gemeinsamen Vorhaben der Charakterbildung und
griff auf die Eigenschaften haben, die wir an uns am meisten schät- Selbstdefinition.20
zen, erleben wir alle auch Augenblicke oder sogar längere Phasen Indem ich Äs Wünsche in dieser Weise formuliere, versuche ich
des Selbstzweifels, die gewöhnlich von der Beunruhigung begleitet eine alltagspraktische Idee einzufangen, die wir in bezug auf erfül-
sind, ob wir vielleicht gar nicht die Leute sind, für die wir uns im lende romantische Beziehungen haben: Sie wollen nicht, daß Ihr
allgemeinen gehalten haben. Ein guter Vater könnte sich sorgen, Partner Sie ganz oder auch nur allzu ausgeprägt für Dinge liebt,
daß er in Wirklichkeit gar keiner ist, weil er das Baseballspiel seines die Ihnen selbst, mit Blick darauf, wer Sie sind oder worauf Sie
Kindes vergessen hat oder weil er es wegen des Verschüttens von hinauswollen, nicht wichtig vorkommen. Das ist bereits erheblich
Kaffee auf seine Unterlagen angeschrien hat; oder ein kluger Phi- anspruchsvoller als das, was in einer Erbin vorgeht, die ganz richtig
losoph könnte befürchten, daß er geistig abbaut, nachdem ihn ein wahrnimmt, daß ihr Verehrer nur hinter ihrem Geld her ist; in
Anfänger im Seminar vorgeführt hat. Eine derjenigen Funktionen,
19 Hier könnte jemand einwenden, daß Szenarien dieser Art eigentlich gegen meine
die unsere engsten Beziehungen erfüllen können, besteht darin,
Behauptung sprechen, man wolle für Eigenschaften geliebt werden, die für das
unser Denken über uns selbst zu stabilisieren und zu bestärken; eigene Selbstverständnis zentral sind. So könnte jemand im Hinblick auf Ihre
uns dabei zu helfen, unseren Glauben zu behalten, daß wir die Selbstzweifel behaupten, der Gedanke, daß die Eigenschaften, von denen Sie
Eigenschaften haben, die wir an uns so hoch schätzen. Oftmals fürchten, Sie fehlten Ihnen, nicht nur die wichtigste Grundlage Ihrer Selbstach-
ist es (wie im Beispiel des Philosophen) nicht einmal sehr wichtig, tung bilden, sondern auch Gründe für die Liebe des Partners zu Ihnen sind, sei
ein Gedanke, der Sie doppelt nervös machen würde. Ich würde dem entgegen-
daß Ihr Partner in der Lage ist, eine zuverlässige Einschätzung ab-
halten, daß das erfundene Szenario ziemlich befremdlich ist. Normalerweise ist
zugeben; allein die schlichte Tatsache, daß er einen hohen Grad an es nicht der Fall, daß sich Ihr Selbstzweifel auf alle oder auch nur die meisten der
Vertrautheit mit Ihnen erreicht hat und Sie weiterhin in gewohn- Eigenschaften erstreckt, die Sie für Ihr Selbstverständnis für zentral halten, und
es ist auch nicht der Fall, daß er sich auf alles erstreckt, was Sie für die gesamte
18 Tatsächlich vermute ich, daß in Fällen einer krassen Unvereinbarkeit zwischen Basis der Liebe Ihres Partners halten. Krisen dieser Art ereilen die Menschen viel-
mehr scheibchenweise. Und in diesen üblicheren Szenarien sollte die Beziehung
dem, wofür man sich selbst hält, und dem, wer man ist, erfüllte romantische
eher nach dem günstigeren Muster funktionieren, das ich angedeutet habe. Der
Beziehungen konsequent ausgeschlossen sind. Die betreffenden Argumente
Underground Man braucht einen Psychiater, keine Romanze.
besagen, daß ein (mehr oder minder) wahrheitsgetreues Selbstverständnis eine
Vorbedingung für psychologische Sichtbarkeit ist und diese wiederum für ein 20 Scruton verwendet zur Charakterisierung der »Weiterentwicklung der Liebe«
idealerweise zufriedenstellendes romantisches Verhältnis erforderlich ist. Siehe den passenden Ausdruck »wechselseitige Formierung des Selbst«. Siehe Scruton
dazu Branden (1993). (1986), S. 241-244.
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diesem Fall sieht es so aus, als liebe B die Person A überhaupt nicht, Tatsächlich bin ich geneigt, nicht nur auf der These zu beste-
sondern sei lediglich auf das Geld aus und betrachte die Beziehun- hen, daß die Menschen von ihren romantischen Partnern wegen
gen zu A als Mittel dazu. Ein solches Szenario stellt wohl kaum ein solcher Eigenschaften geliebt werden möchten, die für ihr Selbst-
romantisches Verhältnis dar und wird von Äs Standpunkt aus garan- verständnis wesentlich sind, sondern ich möchte noch einen Schritt
tiert unbefriedigend sein, soweit sie B s Beweggründe durchschaut. weitergehen. Bedenken wir den folgenden Fall: A identifiziert sich
Ich behaupte vielmehr, daß in einer Situation, in der B wirklich sehr stark mit seiner Karriere als Maler und begreift die Malerei als
zärtliche Gefühle für A hat, dies aber nur auf der Grundlage von eine intrinsisch wertvolle Tätigkeit. Dessen Partnerin liebt A zum
Aspekten, die A als unwesentliche Eigenschaften ansieht, daß in beträchtlichen Teil, weil er ein Maler ist, versteht aber die Male-
einer solchen Situation jede zustande kommende Beziehung hinter rei nicht deshalb als eine Grundlage für die Liebe zu A, weil sie
dem romantischen Ideal zurückbleiben wird, und zwar mindestens eine intrinsisch wertvolle Tätigkeit ist, sondern weil sie den Zu-
in dem Maße, wie A einschätzen kann, wie sich die Sache wirklich tritt zu vielen hippen Cocktailpartys garantiert. In diesem Fall ist
verhält, wahrscheinlich jedoch in noch höherem Maße. es scheinbar so, daß A zu Recht von sich sagen kann, er werde »aus
Manche Intuitionen, die hinter der Idee stecken, daß Sie ein der richtigen Art von Gründen« geliebt, dennoch könnte ihn diese
Liebespartner zumindest wegen einiger der Eigenschaften lieben durchschaute Grundlage der Liebe unzufrieden machen. Wenn das
sollte, mit denen Sie sich stark identifizieren, lassen sich besser ver- richtig ist, müssen wir den Wunsch, vom Partner wegen Eigen-
deutlichen, wenn Sie sich Ihre Reaktion auf das folgende Szenario schaften geliebt zu werden, denen man eine zentrale Rolle für das
vorstellen. Nehmen wir einmal an, Sie und Ihr Partner nähmen eigene Selbstverständnis zuschreibt, genauer formulieren. Es wäre
an einem Kursus teil, der vermitteln soll, wie romantische Lie- besser, man würde von dem Wunsch sprechen, wegen derartiger
besbeziehungen gelingen können (ein katholischer Ehevorberei- Eigenschaften geliebt zu werden, wobei diese Eigenschaften in einer
tungskurs für verlobte Paare zum Beispiel). Sie werden nun beide Weise gewürdigt werden sollen, die sich von der Weise, wie man
aufgefordert, eine Liste von Eigenschaften aufzuschreiben, wobei selbst sie würdigt, nicht allzusehr unterscheidet. Was als zu unter-
Sie auf Ihrer eigenen Liste Eigenschaften sammeln, die Sie an sich schiedlich gilt, wird zweifellos von Fall zu Fall anders sein, doch
selbst hochschätzen, und auf der Liste Ihres Partners Eigenschaf- ein Mißverhältnis wie in unserem letzten Beispiel sollte zumindest
ten notiert sind, die er für die Grundlage seiner Liebe zu Ihnen ausgeschlossen sein.
hält. Wenn Sie sich nun weiter vorstellen, daß Sie die beiden Listen Wir können hier ebensogut wie an jeder anderen Stelle einhaken,
vergleichen und keinerlei Überschneidungen finden, könnte man um die Unterscheidung zwischen Verliebtheit und romantischer
berechtigterweise erwarten, daß Sie etwas erschüttert wären. Sie Liebe auszuleuchten. Die erstere halte ich für den Prozeß, der zur
würden sich nun unwillkürlich fragen, ob diese Person Sie wirklich Entstehung der letzteren führt. Dieser Prozeß fällt, wie ich meine,
so versteht und schätzt, wie es ein Liebespartner tun sollte, und je nach Person und nach Umständen sehr unterschiedlich aus, so
Sie würden sich Gedanken darüber machen, welche Grundlage für daß es sich verbietet, hier viel Substantielles darüber zu sagen.22 Für
eine dauerhafte und komplementäre Beziehung diese weitgehend meine Absichten ist die Behauptung wichtig, daß sich die Men-
unvereinbaren Perspektiven eigentlich prophezeien. Aufgrund des schen im allgemeinen keineswegs so sehr mit den für sie charakte-
weiten Spektrums menschlicher Temperamente würden die Reak- ristischen Merkmalen beschäftigen, die Anlaß dafür sind, daß sich
tionen vermutlich von Ratlosigkeit bis Entsetzen reichen, doch die
übergroße Mehrheit der Betroffenen würde ein solches Ergebnis als werden, in denen der Liebespartner eine Eigenschaft oder Eigenschaften ausge-
nachteilig ansehen.21 sucht hat, die man vielleicht erst im nachhinein für das eigene Selbstverständnis
als wichtig erkennt (vielleicht hatten Sie nicht bemerkt, daß Sie ein geduldiger
21 Dieses Gedankenexperiment ist natürlich unzureichend beschrieben und grob Zuhörer sind ...).
vereinfacht. Man muß zum Beispiel eine Gelegenheit zum aufrichtigen und sorg- 22 Eine umfangreiche und provokante Untersuchung des Phänomens, sich zu ver-
fältigen Nachdenken über die Liste des Partners vorsehen, um Fällen gerecht zu lieben, ist Alberoni (1983).
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jemand in sie verliebt, wie mit den Gründen für eine langfristige daß die Menschen den Wunsch haben, wegen ihrer haecceitas oder
Bindung dieser Person an sie. Manche mögen es ziemlich amüsant etwas derartigem geliebt zu werden, was völlig absurd ist.25 Ich ver-
finden zu erfahren, daß sich ihr Partner »auf den ersten Blick« in sie mute, daß sich die Menschen meistens deswegen gegen die Rede-
verliebt hat oder vielleicht deshalb in sie verliebt hat, weil sie dieser weise sperren, man werde wegen seiner Eigenschaften geliebt, weil
jemand vor dem Towering Inferno gerettet hat; aber die damit an- sie entweder fälschlicherweise meinen, eine solche Redeweise führe
gesprochene Art von Eigenschaften würde die wenigsten zufrieden- fremdartige Bezugsgrößen in die Liebesbeziehung ein, oder weil
stellen, wenn sie als alleinige oder hauptsächliche Begründung für dies zusammen mit einigen anderen, scheinbar plausiblen, roman-
die dauerhafte Einstellung der romantischen Liebe betrachtet wer- tischen Desiderata zu einem Dilemma fuhrt, das von Russell Van-
den müßte. Mit leichter Einschränkung behaupte ich also, daß die noy in seinem Aufsatz »Erotic Love: A Final Appraisal« sehr schön
Gründe für die Verliebtheit eines Partners für die geliebte Person formuliert wurde.26 Das Dilemma ist im wesentlichen folgendes:
nicht von allzu großem Interesse sind. Was viel eher von Bedeutung Während Sie zum einen glauben möchten, daß Ihr Liebespartner
ist, ist die Grundlage für die dauerhafte Beziehung.23 uneigennützig liebt (denn Sie wollen ja nicht ausgebeutet werden),
Die Rede, man werde für seine Eigenschaften geliebt, ist man- möchten Sie zum andern glauben, daß die Liebe Ihres Partners zu
chen Autoren trotz meiner Klarstellungen und Einschränkungen Ihnen verdient ist, weil Sie diverse attraktive Eigenschaften verkör-
weiterhin ein Anlaß zu Zweifeln. So könnte zum Beispiel einge- pern. Vorausgesetzt jedoch, ein Liebender wird sich nur jemanden
wandt werden, die Menschen wollten nicht für p geliebt werden, auswählen, dessen attraktive Merkmale seinen eigenen Bedürfnis-
sondern sie wollten vielmehr »um ihrer selbst willen« oder »einzig sen und Interessen entsprechen, dann würde offenbar der Wunsch,
und allein ihretwillen« geliebt werden.24 Wenn man diesen Einwand verdientermaßen geliebt zu werden, unweigerlich auf den Wunsch
bedenkt, ist es wichtig, sich darüber Aufschluß zu verschaffen, was hinauslaufen, Ihr Partner solle Sie aus eigennützigen Gründen lie-
über dasjenige hinaus (oder neben dem) gefordert wird, was die ben.27 Wie können wir den Wunsch, wegen Eigenschaften geliebt
Erklärung bereits bietet, da die naheliegendsten Interpretationen zu werden, die für das eigene Selbstverständnis zentral sind, mit
den Urheber des Einwands entweder konfus oder albern wirken dem Wunsch in Einklang bringen, Liebe solle im großen und gan-
lassen. Wenn er so etwas meint wie: »Wir möchten wegen gar nichts zen altruistisch sein? Vannoy sieht darin nicht so sehr ein Argument
geliebt werden, wir möchten nichts als geliebt werden«, stellt er gegen die Liebe aufgrund von Eigenschaften als vielmehr ein Argu-
eine unechte Dichotomie auf. Denn wie ich bereits betont habe, ist ment für die Inkohärenz des romantischen Ideals.28 Ich neige dazu,
Liebe eine Beziehung zwischen Personen, nicht zwischen Personen 2 5 Es mag zwar ein bißchen unnachsichtig sein, aber ich neige zu dem Gedanken,
und Eigenschaften; wird also jemand aufrichtig wegen p geliebt, daß die Wortführer dieser Einwände leicht vergessen, daß die haecceitas ebenfalls
dann wird er einfach geliebt. Was sich möglicherweise hinter einem Eigenschaften sind. Was vielleicht wirklich dahinterstecken könnte, ist ein Appell
solchen Einwand verbirgt, ist die Berücksichtigung von Szenarien, an »die Gemeinschaft der Seelen«, aber ich kann einer solchen Herangehensweise
in denen eine Person eigentlich überhaupt nicht geliebt wird, son- im gegenwärtigen Kontext nicht viel Sinn abgewinnen.
26 Vannoy (1983), S.302.
dern vielmehr von einem anderen als bloßes Mittel zu irgendeinem
27 Man sollte erwähnen, daß Vannoys Annahme, künftige Liebende erwählten ihre
wünschenswerten Zweck behandelt wird. Wenn der Urheber des Partner im Regelfall auf der Grundlage ihrer wahrgenommenen Eignung, ziem-
Einwands andererseits so etwas meint wie: »Wir möchten dafür ge- lich fragwürdig, wenn nicht sogar ausgesprochen simplizistisch ist. Es scheint
liebt werden, daß wir wir selbst sind, und nicht wegen irgendeiner doch recht häufig zu sein, daß Menschen eine Anziehung verspüren und sich
unserer attraktiven Eigenschaften«, würde er offenbar behaupten, auf Romanzen einlassen, die ihren besten (bewußten?) Urteilen, in denen alles
wohlüberlegt erwogen wird, völlig zuwiderlaufen.
23 Einen damit eng zusammenhängenden Punkt bringt William Newton-Smith in 28 Nachdem Vannoy dieses interessante Dilemma formuliert hat, geht er sogleich
»A Conceptual Investigation of Love« (Newton-Smith 1989, S. 207). dazu über, noch ein weiteres Argument anzubieten, das von der Verwechslung
24 Ich danke Harry Frankfurt wie auch Sarah ßuss, die mich angespornt haben, auf Liebe aufgrund von Eigenschaften/Liebe von Eigenschaften abhängt. Siehe ebd.,
diese Möglichkeit direkt einzugehen. S. 302 ff. Z u Vannoys vollständiger Behandlung dieser Frage siehe Vannoy (1980).
102 123
sowohl die Liebe aufgrund von Eigenschaften zu akzeptieren, als Schwierigkeit läßt sich vermeiden, ohne etwas suchen zu müssen,
auch die Implikationen hinsichtlich der Eigennützigkeit potentiel- was über die Eigenschaften hinausgeht, indem man zur Kenntnis
ler Liebender gelten zu lassen. Ausgehend von meiner Auffassung, nimmt, daß sich unter den Eigenschaften, die dem Partner wichtig
daß das romantische Ideal in erster Linie durch den Wunsch cha- sind, lebensgeschichtlich-beziehungsbezogene Eigenschaften be-
rakterisiert ist, über die Formierung eines Wir eine tiefgreifende finden, die Sie beinhalten, wie zum Beispiel die Eigenschaft, auf
Verbindung von Bedürfnissen und Interessen zu erreichen, bin ich dem USO Social 1944 Ihr Tanzpartner gewesen zu sein oder der-
der Meinung, daß ein wenig Eigennützigkeit der geschilderten Art jenige gewesen zu sein, der Ihnen auf den Champs-Elysees einen
für keine der beiden Seiten eine Beunruhigung darstellen sollte. Ist Antrag machte. Der ständige Zuwachs dieser lebensgeschichtlich-
es denn nicht erfreulich, wenn man das Gefühl hat, gebraucht zu beziehungsbezogenen Eigenschaften ist genau das, was weitgehend
werden? den stark individuierenden Charakter der Liebe ausmacht, und in
Wenn ich betone, daß eine Person für Eigenschaften geliebt wer- dem Maße, wie dieser individuierende Charakter in das romanti-
den möchte, die für ihr Selbstverständnis zentral sind, könnte es sche Ideal Eingang findet, geschieht dies in Form des Wunsches,
so aussehen, als würde ich mich einer besonders gemeinen Sorte ein Netz solcher Bindungen zu knüpfen. Indem sie eine gemein-
von Kritik aussetzen, die dem unbestreitbaren Wunsch entspringt, same Geschichte miteinander aufbauen, können die Menschen die
daß die Zuneigung des Liebespartners stark individuierend sein bleibende Bedeutung füreinander bewirken, nach der sie in ihren
soll. Beim Nachdenken über das folgende Szenario kommt die romantischen Beziehungen suchen.31
Gemeinheit deutlich zum Vorschein. Stellen Sie sich vor, Sie wür- Die Bedeutung einer geteilten Geschichte für die Entwicklung
den Molekül für Molekül durch ein Duplikat ersetzt werden, das a und Aufrechterhaltung erfüllender romantischer Beziehungen soll-
fortiori genau die Eigenschaften verkörpern würde, die Sie bislang te nicht unterschätzt werden. Bei vielen Menschen nehmen diese
in Ihrem Selbstverständnis für wesentlich hielten und die in der beziehungsbezogenen Eigenschaften einen zentralen Platz in ihrem
romantischen Bindung Ihres Partners an Sie eine Rolle spielten.29 Selbstverständnis ein, zusammen mit allen intrinsischen Eigen-
Vermutlich würden Sie wollen, daß Ihr Partner nach der Entdek- schaften, die sie haben mögen, und manchmal sogar in stärkerem
kung, daß eine solche Ersetzung stattgefunden hat, einen Schmerz
verspürt, und zwar aus dem Gefühl heraus, daß bei der Umwand- oder mein Grund, mit jemandem befreundet zu sein, die bewundernswerten
Qualitäten seines Charakters wären. Denn Schönheit und Charakter geben mir
lung etwas Wichtiges verlorengegangen ist. Wenn aber die Neigung
einen Grund, die gleiche Einstellung jedem gegenüber einzunehmen, der schön
vollständig in Eigenschaften gründet, wäre es denkbar, daß solche ist oder Charakter hat. Doch eine solche weitgestreute Zuneigung wird keine
Gefühle auf Seiten des Partners nicht berechtigt wären.30 Diese geeignete Grundlage fiir die persönlichen Beziehungen sein, die für uns einen be-
sonderen Wert haben.«
29 Um die verschiedenen Kontroversen zu umgehen, die mit dem Problem perso- 31 Die Berufung auf lebensgeschichtlich-beziehungsbezogene Eigenschaften bildet
naler Identität zusammenhängen, lassen wir den Prozeß, durch den das Duplikat die Grundlage für eine Lösung des damit verwandten Problems, das die Vernünf-
entsteht, ein zufälliges Geschehen sein, anstatt einen verläßlichen kausalen Vor- tigkeit des Widerstands gegen ein »Draufsatteln« in der Liebe betrifft, d.h. die
gang vorauszusetzen. Das sollte jene Theoretiker beruhigen, die sonst vielleicht Frage, weshalb es Liebenden charakteristischerweise widerstrebt, ihre Aufmerk-
gesagt hätten, das Duplikat seien tatsächlich Sie. samkeit auf Personen umzulenken, die die anziehenden Eigenschaften ihres Part-
30 Wenn ich das, was »das Problem der Bindung« genannt werden könnte, in die- ners in einem höheren Maße verkörpern. Zu ähnlichen Äußerungen siehe Nozick
ser Form formuliere, beabsichtige ich damit, die etwas vagen, aber hartnäckigen (1993), S. 91. Es ist sehr lehrreich, die vorliegende Erörterung einer gemeinsamen
Bedenken zu präzisieren, die schon mehrere Autoren zum Thema Liebe und Geschichte und deren Rolle für die Aufrechterhaltung und Festigung des roman-
Freundschaft geäußert haben. Als ein schönes Beispiel zitiere ich aus Paul Gilbert, tischen Wir zu vergleichen mit Josiah Royce' Darstellung des Zeitablaufs und
Human Relationships (P. Gilbert 1991, S. 74): »Liebe und Freundschaft binden dessen Rolle als eine Bedingung der Möglichkeit für sogenannte »Gemeinschaf-
uns eng an bestimmte Individuen, und genau deshalb schreiben wir ihnen einen ten der Erinnerns« und »Gemeinschaften der Hoffnung«. Siehe Royce (1968), bes.
besonderen Wert zu. Dennoch ist es schwer einzusehen, wie dies gerechtfertigt S. 242-249. Ich wurde durch die erhellende Erörterung in John Smith (1992), bes.
S. 130-137, auf diesen Aspekt der Überlegungen von Royce aufmerksam.
werden könnte, wenn mein Grund dafür, jemanden zu lieben, dessen Schönheit,
132 i33
mische Ausstattung mit Werten und Präferenzen angemessen in Um diese Vorstellung von einer Verpflichtung aus Liebe besser
Übereinstimmung bleibt. Die komplementären Forderungen nach in den Griff zu bekommen, sollten wir ganz genau bestimmen,
Formbarkeit und Reziprozität müssen also als duale Aspekte einer worauf diese Verpflichtung verpflichtet, sollten die Einstellungen
tatsächlich geteilten Geschichte und eines fortwährenden roman- und Emotionen bestimmen, die für sie bezeichnend sind, und soll-
tischen Austauschs gesehen werden, wobei diese Forderungen im ten genauer erklären, wie sie mit der romantischen Liebe zusam-
Grunde genommen dazu dienen, die erforderliche psychologische menhängt, von der sie hervorgebracht und aufrechterhalten wird.
Intimität aufrechtzuerhalten, die ein intaktes romantisches Wir Anstatt einzeln auf diese Punkte einzugehen, werde ich versuchen,
charakterisiert.39 jeden Punkt im Verbund mit den anderen zu behandeln. Ich hatte
Die große Bedeutung einer angemessenen Formbarkeit und Re- behauptet, man wolle eigentlich gar nicht bedingungslos geliebt
ziprozität in romantischen Bindungen gewährt einen ausgezeichne- werden; was man wirklich wolle, sei vielmehr, daß sich der Liebes-
ten Zugang zur weitergehenden Diskussion der Unbedingtheit und partner stark auf einen verpflichte. Diese Verpflichtung soll den
zu einer Art von Verpflichtung, die für Liebesbeziehungen eigen- Liebespartner selbst unter solchen Umständen an einen binden, in
tümlich ist. Ich habe die Vermutung geäußert, daß ein starkes Be- denen einige, die meisten oder sogar alle der Eigenschaften, die zu
dürfnis nach Stabilität in Ihrer intimsten Beziehung, das auch den den Gründen des Partners für die Liebe zählen, gemindert oder
Wunsch beinhaltet, in verschiedenen Hinsichten auf die dauerhafte verschwunden sind. So könnte man physisch geschwächt, an den
Akzeptanz des anderen »zählen zu können«, zu etwas motiviert, Wahlurnen haushoch geschlagen oder philosophisch vorgeführt
das auf den ersten Blick den Eindruck erweckt, es sei der Wunsch, worden sein - doch selbst dann, wenn die jeweiligen Eigenschaften
»bedingungslos« geliebt zu werden. Doch die durchschaute »bedin- (athletische Leistungsfähigkeit, politisches Geschick, analytischer
gungslose« Liebe scheint mit einem anderen wichtigen Bedürfnis in Scharfsinn usw.) für das eigene Selbstverständnis zentral gewesen
Konflikt zu geraten, mit dem Bedürfnis nämlich, den anderen und waren und zu den wichtigsten Gründen für die Liebe des Partners
dessen Zuwendung zu einem selbst in einem Licht sehen zu kön- gezählt hatten, würde man hoffen, daß der Partner gerne mit einem
nen, das Geschmack und Urteilsvermögen in bezug auf Personen zusammenbliebe. Nun neigen Verpflichtungen unterschiedlichster
und ihre Attribute erkennen läßt. Es gibt allerdings eine Alternative Art dazu, einen charakteristischen Bereich von Einstellungen und
zur bedingungslosen Liebe, die diesen Aspekt des romantischen Ide- Emotionen vorzugeben.
als treffender charakterisiert und die, was wichtiger ist, in das Netz Es gibt zum Beispiel Terminkontrakte, Vereinbarungen, die da-
romantischer Erwartungen schlüssig eingefügt werden kann. Dabei zu verpflichten, Warenmengen zu einem festgelegten Datum und
handelt es sich um das, was ich Verpflichtung aus Liebe nennen Preis zu liefern. Außerdem gibt es gewöhnliche zwischenmenschli-
werde. Diese läßt sich grob definieren als eine auf Dauer angelegte che Verpflichtungen des Typs, die einem beispielsweise die Pflicht
zwischenmenschliche Verpflichtung, die sowohl in der romanti- eintragen, einen idiotischen Onkel zum Passahfest einzuladen oder
schen Bindung des Liebenden an die geliebte Person begründet ist ein nichtsnutziges Mündel gegen Hinterlegung einer Kaution aus
als auch durch sie aufrechterhalten wird. Es ist dieser erhaltende dem Gefängnis zu holen. Keine dieser Verpflichtungsarten ist der-
Grund, der zusammen mit den charakteristischen Einstellungen jenigen sehr ähnlich, die ich als Verpflichtung aus Liebe bezeichne,
und Emotionen, die er hervorruft, eine Verpflichtung aus Liebe in und zwar weder in den Einstellungen und Emotionen, die sie mit
diesem Sinne von anderen Typen zwischenmenschlicher Verpflich- sich bringen, noch dem Ursprung nach, dem sie sich verdanken.
tungen unterscheidet und diese Verpflichtung besonders geeignet Warengeschäfte sind in den meisten Fällen praktisch nicht von
sein läßt, im romantischen Ideal eine Rolle zu spielen. Gefühlen begleitet und wenig persönlich geprägt, während die
Pflicht, die man gegenüber dem idiotischen Onkel verspürt, mit
39 Ich danke Alasdair Maclntyre fiir die Ermutigung, die Vorstellung von Reziprozi-
tät vollständiger zu entwickeln. Tatsächlich stammt der Begriff von ihm (private
Unwillen verbunden ist und eher gereizt oder bestenfalls resigniert
Korrespondenz). erfüllt wird. Die Verpflichtung aus Liebe hingegen drückt sich in
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einer aufrichtigen Bereitwilligkeit aus, sich um die Interessen und men Geschichte als einem sich entwickelnden romantischen Wir
Bedürfnisse des anderen zu kümmern, und spiegelt die Wahl, die angemessen ist. Genauer gesagt, Sie wollen, daß diese freie Bereit-
Beziehung mit ihrem gewohnten Grad an Intimität aufrechtzuer- schaft sowohl den verschiedenen Gründen für die Liebe als auch
halten - eine Wahl, die stets erneuert werden kann und stets freiwil- den komplizierten Verwicklungen von Bedürfnissen und Interes-
lig erneuert wird. Es ist eine Verpflichtung aufeinander, die aus der sen entspringt, die sich im Laufe der Beziehung ergeben haben.
romantischen Liebe hervorgeht, und die Pflichten, die sie erzeugt, Meine Aufgabe wird es nun sein, die Unterschiede zwischen dieser
werden immer in diesem Zusammenhang gesehen. Beschreibung von Wünschen romantisch Liebender und der von
Im Mittelpunkt der Vorstellung von einer Verpflichtung aus Scruton (und anderen Autoren) vorgeschlagenen Beschreibung, die
Liebe steht die prekäre Bedingtheit, die damit verbunden ist. Ge- diese Wünsche unter dem Gesichtspunkt bedingungsloser Liebe
nauer gesagt verhält sich diese Bedingtheit kontrapunktisch zu der darstellt, herauszuarbeiten.
Formbarkeit, die in dauerhaften romantischen Beziehungen ange- Eine gute Möglichkeit, solche Unterschiede zum Vorschein zu
strebt wird. Bei der Beschreibung des romantischen Ideals vermutet bringen, ist die Untersuchung von Einstellungen, die man sich
Scruton, daß »Liebe kein Versprechen der Zuneigung, sondern ein für den Fall, daß man verschiedene unglückliche Veränderungen
Gelöbnis der Treue will«, wobei dieses Gelöbnis »die vollständige durchmachen müßte, bei seinem Liebespartner wünschen würde.
Auslieferung der eigenen Zukunft an ein gegenwärtiges Projekt [be- Sie können sich zum Beispiel vorstellen, Sie wären im fortgeschrit-
inhalten soll], eine feierliche Erklärung, daß man das, was man jetzt tenen Stadium an Alzheimer erkrankt und seien Ihrer Verstandes-
ist, immer sein wird, ganz gleich unter welchen nicht vorhersehba- kräfte weitgehend beraubt. Ein Wunsch nach bedingungsloser Lie-
ren Umständen«.40 Dies stellt das Ideal in mehreren Hinsichten, die be würde offenkundig zu der Erwartung führen, daß Ihr Partner
sich alle der statischen Konzeption einer dauerhaften romantischen Sie dann trotz Ihres Zustandes lieben soll, trotz eines Zustandes,
Beziehung verdanken, falsch dar. Um ohne Umschweife anzufan- der Sie im Grunde genommen zu jeder sinnvollen Interaktion
gen: Auch wenn sich A zweifellos wünschen mag, daß B einige der mit ihm oder ihr unfähig macht (angenommen, Sie erinnern sich
Eigenschaften, die A so sehr schätzt, immer behalten wird, hofft nicht, wer Ihr Partner ist oder wer Sie selbst sind usw.). Ich ver-
A außerdem, daß B neue Eigenschaften erwerben wird, vorhande- mute, daß Sie unter solchen Umständen gar nicht geliebt werden
ne Eigenschaften verstärken und andere verlieren wird, wobei die wollen, sondern nur wünschen, Gegenstand fortgesetzter Fürsorge
Anstöße zu dieser ständigen Veränderung aus den Interaktionen und Anteilnahme zu sein, wobei Ihnen Fürsorge und Anteilnahme
zwischen A und B kommen sollen. Wichtiger ist aber, daß Scrutons aus freien Stücken und von ganzem Herzen zuteil werden sollten.
Bild fälschlicherweise nahelegt, A wolle, daß B's Liebe zu A für be- Sowohl »aus freien Stücken« als auch »von ganzem Herzen« werden
deutende Veränderungen bei Person A gänzlich unempfänglich sei, hier wie phänomenologische Gesten gebraucht, nicht wie metaphy-
was darauf hinausläuft zu sagen, A verlange bedingungslose Liebe sische oder praktische Vorstellungen. Fürsorge und Anteilnahme
von B. Wie ich durch meine Einführung der einander ergänzenden sollen zum Beispiel nicht widerwillig gewährt werden, so als wol-
Vorstellungen von Formbarkeit und Reziprozität angedeutet habe, le Ihr Liebespartner sich viel lieber gleich davonmachen, wäre da
ist eine solche Forderung absurd und keineswegs ein Teil des ro- nicht das Gefühl, irgendwie gebunden zu sein wie bei einer vertrag-
mantischen Ideals. Was hingegen eine wesentliche Komponente des lichen Verpflichtung, und sie sollen auch nicht halbherzig gewährt
Ideals ist, läßt sich folgendermaßen beschreiben: Sie möchten, Ihr werden in dem Sinne, daß es Ihrem Partner eigentlich lieber wäre,
Liebespartner solle aus freien Stücken gewillt sein, eine Beziehung Sie würden tot umfallen und Ihnen beiden die Belastung erspa-
mit Ihnen fortzusetzen, die durch starke Zuneigung und intensive ren.41 Bemerkenswerterweise sind Fürsorge und Anteilnahme hier
persönliche Anteilnahme charakterisiert ist, wie es Ihrer gemeinsa-
41 Natürlich wird es Fälle geben, in denen einer der Partner den Wunsch nach einem
friedlichen Hinscheiden des anderen hat und in denen dieser Wunsch ein ganz
40 Scruton (1986), S. 242. und gar angemessener Ausdruck der Verpflichtung aus Liebe ist.
136 20 7
jedoch keineswegs Ausdruck oder Aspekt einer zeitgenössischen wichtiger Modus, in dem ein solcher spezifischer Verpflichtungstyp
Einstellung der romantischen Liebe. Sie sind vielmehr Ausdruck in der aktiven romantischen Liebe eine Rolle spielen sollte, gerade
einer größtenteils (unter manchen Umständen vielleicht gänzlich) die Formbarkeit und Reziprozität der Liebe. Wenn wir zum letz-
gefühlsmäßigen Bindung an Sie als eine Person, die lange Zeit das ten Beispiel zurückkehren, könnte es ein Anzeichen des Übergangs
Objekt romantischer Liebe war und als solches der Partner einer vom Ideal der romantischen Liebe zum Ideal der Verpflichtung aus
besonders in Ehren gehaltenen Verbindung. Liebe sein, wenn unter den Gründen für die Liebe Ihres Partners
Man fragt sich natürlich, warum man unter solchen unglück- mit übergroßer Mehrheit lebensgeschichtlich-beziehungsbezogene
lichen Umständen wünschen sollte, das Objekt einer solchen ge- Eigenschaften zu finden sind. Unser Ideal der romantischen Liebe
fühlsmäßigen Bindung anstatt einer ungebrochenen Liebe zu sein. verlangt, daß unter den Gründen für die Zuneigung des Partners
Wäre das letztere, zumindest von Ihrem Standpunkt aus gesehen, aktuell verkörperte intrinsische Eigenschaften oder wenigstens be-
nicht einfach besser? Ich denke, hier ist eine nuanciertere Version ziehungsbezogene Eigenschaften, die ein im wesentlichen intaktes
des zuvor erörterten Wunsches, Liebespartner sollten urteilsfähig Selbst beinhalten, in einem erheblichen Umfang vertreten sein
sein, hilfreich. Obgleich Sie ganz sicher den Wunsch haben, daß sollen; wenn ein solches Vorhandensein unter den Gründen fehlt,
Sie als ein solches zukünftiges Selbst Gegenstand der Fürsorge und erhoffen sich die meisten Menschen so etwas wie das, was ich als
größten Anteilnahme Ihres Liebespartners wären, möchten Sie si- Verpflichtung aus Liebe bezeichnet habe.
cherlich nicht, daß Ihr Partner bereit ist, einem solchen zukünftigen Das Bild, das ich von einer Verpflichtung zu Fürsorge und An-
Selbst gegenüber Einstellungen zu bekunden, die grundverschieden teilnahme gezeichnet habe, von einer Verpflichtung, die in der
sind von den Einstellungen, zu denen Sie hier und jetzt bereit sind romantischen Liebe begründet ist und in diesem Maße auch Aus-
(oder vielleicht genauer ausgedrückt, soweit Sie im Vollbesitz Ihrer druck romantischer Liebe ist, zeigt deutlich mehr Ähnlichkeit mit
geistigen Kräfte sind). In dem Maße, wie Ihr Partner dennoch ge- unseren relevanten romantischen Wünschen als Scrutons »Gelöbnis
neigt sein sollte, Einstellungen zu bekunden, von denen Sie glau- der Treue« oder irgendeine andere Forderung nach bedingungsloser
ben, daß sie für das Ideal romantischer Liebe charakteristisch sind, Liebe. Doch das Bild muß noch etwas präziser ausgeführt werden.
offenbart sich darin eine Präferenzstruktur, die Ihnen vollkommen Bislang sieht es so aus, als sei das, was man erwarte, eine vorbehalt-
fremd ist, denn Sie können in einem solchen imaginativen zukünf- lose Verpflichtung; im Beispiel der Alzheimer-Erkrankung stellten
tigen Selbst (bestenfalls) einen locus von sentimentalem Wert und Sie sich vor, Sie seien praktisch all Ihrer unverwechselbar menschli-
lebensgeschichtlicher Bedeutung erkennen.42 chen Qualitäten beraubt, von Ihren attraktiven Eigenschaften oder
Mit diesen letzten Bemerkungen sollte klargeworden sein, daß den Eigenschaften, mit denen Sie sich am stärksten identifizieren,
das, was ich das Ideal einer Verpflichtung aus Liebe nenne, mit ganz zu schweigen. Und Sie haben in der Tat die Hoffnung geäu-
dem Ideal einer aktiven romantischen Beziehung schlichtweg un- ßert, daß Ihr Liebespartner angemessen begründete Einstellungen
vereinbar ist. Damit soll nicht gesagt sein, daß das Ideal roman- persönlicher Fürsorge und intensiver Anteilnahme erkennen ließe,
tischer Liebe keinen Raum für Verpflichtung vorsieht; die aktive falls Sie ein solches Schicksal treffen sollte. Doch die erwünschte
romantische Liebe hat vielmehr ihre eigene Art von Verpflichtung Verpflichtung ist nicht tout court vorbehaltlos. Vielmehr sollte uns
einzulösen, eine Verpflichtung, die aufgrund der Vitalität des ro- dieselbe Art von Überlegung, die uns veranlaßt hat, ein Ideal abzu-
mantischen Wir besteht. Durchaus nicht überraschend, ist ein lehnen, das bedingungslose Liebe beinhaltet, nun auch veranlassen,
ein Ideal abzulehnen, das eine so starke Verpflichtung beinhaltet,
42 Ich sage »bestenfalls«, um die ganz wunderbare Begabung Liebender hervorzu- daß sie zum Beispiel den tiefgreifenden moralischen (oder vielleicht
heben, den gesundheitlich verfallenden geliebten Partner in einem weit höheren
geistigen) Verfall einer Person übersteht. Der Verfall, den ich mir
Maß als locus eines gefühlsmäßigen und lebensgeschichtlichen Werts zu sehen, als
dies eine geliebte Person normalerweise im Hinblick auf ihr eigenes imaginatives vorstelle, könnte solcherart sein, wie er häufig durch unkontrol-
(verfallendes) Selbst zu tun bereit ist. lierten Drogenmißbrauch zustande kommt, oder er könnte durch
20 7
138
das allmähliche Abdriften in eine ideologisch extreme Organisati- II. Freundschaft
on verursacht sein. Diese Fälle persönlicher Degeneration gehören
nicht zu denjenigen Fällen, von denen man sich wünschen sollte,
sie wären durch irgendeine Verpflichtung aus Liebe »abgedeckt«.
Sofern Sie möchten, daß sich in der dauerhaften Verpflichtung
Ihres Lebenspartners auf ein romantisches Wir Geschmack und
Urteilsvermögen widerspiegeln, die von Ihnen angemessen gewür-
digt werden können, werden Sie auch hoffen, daß Ihr Partner die
entscheidenden Schritte unternehmen würde, um sich aus der Be-
ziehung zu lösen, wenn Sie sich auf eine solche Weise nachhaltig
entwerten würden. In dem Maße, wie Sie Grund zu der Annahme
hätten, daß Ihr Partner bemüht wäre, seine Verpflichtung unter
diesen Umständen aufrechtzuerhalten, würde Ihr Partner beinahe
ebenso jämmerlich dastehen wie Ihr gedanklich entworfenes zu-
künftiges Selbst und würde mitnichten das höchste aller romanti-
schen Opfer verkörpern. Genauso wie man durch Krankheit und
Gebrechlichkeit zu einem ungeeigneten Kandidaten für dauerhafte
romantische Liebe werden kann, sollte man auch durch verschie-
dene Fälle schwerer moralischer Verkommenheit zu einem unge-
eigneten Kandidaten für die andauernde Verpflichtung aus Liebe
werden können. Die Verpflichtung aus Liebe sollte als etwas be-
trachtet werden, was eine beschränkte Unbedingtheit hat, wobei
die (wechselseitig verstandenen) Bedingungen und Beschränkun-
gen innerhalb erkennbarer Grenzen von Beziehung zu Beziehung
variieren werden.
Übersetzt von Karin Wördemann
140
Axel Honneth
Einführung
143
Allerdings müssen die Autoren der genannten Studie alsbald fest- Wohlwollen und Anteilnahme entgegen, das nur begründbar ist,
stellen, daß die Befragten durchaus dazu in der Lage sind, zwischen wenn wir von der (kantischen) Idee einer Universalisierbarkeit al-
»eigentlichen« und »uneigentlichen«, zwischen lebensgeschicht- ler moralischen Normen abrücken.5 Demgegenüber wird von der
lich bedeutsamen und nur oberflächlichen, verantwortungsarmen anderen, weitgehend an Kant orientierten Seite geltend gemacht,
Freundschaften zu unterscheiden; zu der Sprache, die in den quali- daß es nur einer Verlagerung des Prinzips der Unparteilichkeit auf
tativen Interviews verwendet wurde, welche der Untersuchung zu- eine höhere Stufe bedarf, um auch die partikularen Normen einer
grunde liegen, gehörte durchgängig ein feinmaschiges Repertoire Freundschaft rechtfertigen zu können: Aus der universalistischen
an begrifflichen Abstufungen, mit dessen Hilfe zwischen »echten« Perspektive der Moral läßt sich ohne weiteres zeigen, daß jene be-
und bloß marginalen Freunden oder Freundinnen unterschieden sonderen Verpflichtungen und Bindungen, die bis heute offenbar
wurde. Noch erstaunlicher an den aufgezeichneten Gesprächen war das Spezifische an Freundschaften im eigentlichen Sinn ausmachen,
aber die Tatsache, daß zur Charakterisierung der wirklich bedeuten- vernünftigerweise nicht zurückgewiesen werden können.6 Auch in
den, eigentlichen Freundschaften stets ein moralisches Vokabular der Analyse dieser besonderen Form zwischenmenschlicher Bezie-
herangezogen wurde. Hier spielten plötzlich Begriffe wie Loyalität, hungen stehen sich mithin gegenwärtig die Positionen einer Re-
Vertrauenswürdigkeit und Verpflichtung wieder die zentrale Rol- spektmoral und einer Bindungsmoral gegenüber, ohne daß schon
le, die sie doch dem ersten Blick nach aufgrund der Pluralisierung recht abzusehen wäre, wie sich beide Perspektiven vereinbaren lie-
von Freundschaftsbeziehungen verloren zu haben schienen.4 Wenn ßen. Die zwei Aufsätze, die wir hier versammelt haben, bewegen sich
diese empirischen Beobachtungen zutreffend sind, dann verfügen allerdings jenseits der damit umrissenen Konfliktlage; für Marilyn
die Subjekte auch heute noch über eine soziale Grammatik, die es Friedman wie für Arne Johan Vetlesen scheint es als ausgemacht zu
ihnen erlaubt, die Freundschaft als eine moralisch eigensinnige Be- gelten, daß Freundschaften durch partikulare, personenbezogene
ziehungsform von anderen Interaktionsverhältnissen abzugrenzen; Verpflichtungen charakterisiert sind, die sich weder direkt noch in-
trotz aller Tendenzen, auch nur flüchtige Bekannte oder Berufskol- direkt aus dem abstrakten Gesichtspunkt einer universalistischen
legen als Freunde zu bezeichnen, hätte sich wenig daran geändert, Respektmoral herleiten lassen. Beide Autoren sind vielmehr vor
Freundschaften im eigentlichen Sinn als durch ein Bündel von be- allem an der Frage interessiert, ob Freundschaften nicht ein ethi-
sonderen Verpflichtungen charakterisiert zu sehen. scher Wert für unser Leben zukommt, der durch keine andere Form
Auf Befunde solcher Art muß sich heute die Moralphilosophie zwischenmenschlicher Beziehungen zu ersetzen ist.
stützen, wenn sie Freundschaften auf die normativen Präsupposi- Für Marilyn Friedman kann es auf diese Frage nur eine unzwei-
tionen hin analysieren will, die sie von anderen Interaktionsformen deutig positive Antwort geben. Ihrer Analyse zufolge, die einer
unterscheiden; denn die Ausgangsprämisse eines derartigen Unter- Monographie entnommen ist, in welcher sie den ethischen Stel-
nehmens stellt die These dar, daß Freunde oder Freundinnen mitein- lenwert von Freundschaften auf breitester Basis untersucht,7 stellt
ander eine Beziehung eingehen, deren besondere Kombination von das Besondere an Beziehungen zwischen Freunden die Tatsache
reziproken Ansprüchen sich in keinem anderen zwischenmensch- der »moralischen Zeugenschaft« dar: Weil Freunde oder Freun-
lichen Verhältnis antreffen läßt. Ein Großteil der Untersuchungen dinnen sich wechselseitig für vertrauenswürdig halten, räumen sie
auf diesem Feld dient daher gegenwärtig dem Ziel, Freundschaften sich auch die Chance ein, ihre jeweiligen moralischen Perspektiven
als eine Art von sozialer Beziehung vorzuführen, deren reziproke voreinander offenzulegen; auf diese Weise wird der eine für den
Verbindlichkeiten oder Verpflichtungen sich gerade nicht aus ei- anderen zum Zeugen lebensgeschichtlicher Wandlungen, darf sie
ner moralischen Perspektive der Unparteilichkeit gewinnen ließen:
5 Vgl. exemplarisch Blum (1980); sehr geeignet als Überblick über diese Debatte ist
Freunde oder Freundinnen bringen sich wechselseitig ein Maß an
auch Pauer-Studer (1996), bes. S. 181 ff.
6 Vgl. Scanion (2000), vor allem S. 160-166.
4 Ebd., S. 82 ff. 7 Friedman (1993).
144 145
im Lichte gemeinsam geteilter Prinzipien in Frage stellen oder auf sehen im wesentlichen nur noch unter strategischen Gesichts-
der Basis eigener Erfahrungen kritisieren. Insgesamt bildet damit punkten zu bewerten; das, was einmal das Ergebnis gemeinsamer
die Freundschaft für Friedman eine Stätte des gemeinsamen mo- Anstrengungen der Erkundung von ethischen Gütern war, wird
ralischen Lernens, wie sie keine andere Beziehungsform zwischen im wachsenden Maße zu einer individuellen Aufgabe, bei der die
Personen bereitstellen kann: Durch die Hineinversetzung in den anderen zu bloßen Mitteln der Optimierung der eigenen Chancen
anderen, dem wir Vertrauen entgegenbringen und den wir in seiner werden. In einer gesellschaftlichen Situation, die durch derartige
existentiellen Individualität ernst nehmen, lernen wir, »induktiv« Tendenzen geprägt ist, übernehmen nun Freundschaften nach Vet-
unsere eigenen moralischen Prinzipien klug und umsichtig auf lesen eine kritische Funktion in einem doppelten Sinn: Sie stellen
den individuellen Einzelfall anzuwenden. Der ethische Wert von einerseits im Falle ihres Gelingens eine Kontrasterfahrung zu den
Freundschaften ergibt sich für Marilyn Friedman daher aus dem gesellschaftlich vorherrschenden Praktiken dar, weil sie auf Formen
einzigartigen Beitrag, den sie für die moralische Reifung und Ver- der affektiven Anteilnahme am Lebensschicksal anderer Personen
vollkommnung von Personen leisten. verweisen, die zunehmend aus dem sozialen Alltag zu verschwinden
Zwar wiederholt Friedman damit nicht gerade die Kernthese des drohen; und sie bilden zweitens ihrerseits selbst Orte einer kom-
Aristoteles, der zufolge gelungene Freundschaften dank ihres Ef- munikativen Beratschlagung, in der die Freunde oder Freundinnen
fekts der Widerspiegelung im anderen vor allem zur Stabilisierung sich wechselseitig auf die Verfehlungen aufmerksam zu machen
des eigenen guten Charakters beitragen, aber vieles von dem, was vermögen, die aus einer rein privatistischen Orientierung des ei-
sie ausführt, scheint doch zumindest durch die Überlegungen in genen Lebens resultieren können. Nicht, daß mit diesen Schluß-
der Nikomachischen Ethik angeregt: Auch Friedman nimmt Freund- folgerungen schon etwas darüber gesagt wäre, welche reziproken
schaften vor allem unter dem Gesichtspunkt in den Blick, welcher Verpflichtungen, Rücksichtnahmen oder Verbindlichkeiten es nun
Wert ihnen für das Ganze unseres Lebens zukommt, und auch sie sind, durch die Freundschaften im Unterschied zu anderen Bezie-
sucht die Antwort im Bereich der Reifung unserer Persönlichkeit - hungsformen gekennzeichnet wären; aber der Beitrag von Arne
hier aber dezidiert in der Dimension der moralischen Bildung und Johan Vetlesen macht doch auf eindrucksvolle Weise klar, daß der
nicht wie bei Aristoteles der charakterlichen Vervollkommnung. Analyse solcher eigensinnigen, beziehungsgebundenen Moralitä-
Eine aristotelische Perspektive scheint auch Arne Johan Vetlesen ten auch die kritische Funktion zufallen kann, auf Tendenzen der
seiner Analyse zugrunde zu legen, wenn er nach dem Wert fragt, Vereinseitigung und Homogenisierung unserer sozialen Praktiken
der Freundschaften heute in einer weitgehend individualisierten, aufmerksam zu machen.
auf Konkurrenz und Egoismus eingestellten Gesellschaft zukom-
men kann; zwar sind die Absichten, die er verfolgt, im Unterschied
zu denjenigen von Marilyn Friedman rein zeitdiagnostischer Natur,
aber auch dabei kommen ihm die Anregungen zu Hilfe, die die
Nikomachische Ethik in all ihrer - nicht selten verwirrenden - Viel-
schichtigkeit enthält.8
Für Vetlesen stellt den Ausgangspunkt die soziologische Beob-
achtung dar, daß unsere Gesellschaften zunehmend einen Druck
auf den einzelnen ausüben, sich allein noch an privat definierten
Lebenszielen zu orientieren und das Verhältnis zu den Mitmen-
146 20 7
Marilyn Friedman Wohlwollen beruht.2 In diesem Sinne kann Freundschaft vorkom-
men zwischen Liebenden oder unter Verwandtschaftsverhältnissen
Freundschaft und moralisches Wachstum
ebensogut wie zwischen Menschen, die nicht anderweitig eng mit-
einander verbunden sind. Man kann mehr oder weniger intensiv
mit seinen Eltern bzw. Kindern, Geschwistern bzw. seiner Gattin
Wofür gibt es Freunde? Was trägt Freundschaft zu unserem morali- befreundet sein.3
schen Dasein bei? In einer Zeit, in der Verwandtschaftsverhältnisse Der wesentliche Aspekt der Gleichheit in der Freundschaft
in unserem Leben eine immer geringere Rolle spielen und in der es betrifft nicht formale Gleichheit in irgendeiner meßbaren oder
regelrechte Schlachten um die Bedeutung von Liebesbeziehungen quantifizierbaren Dimension wie Alter oder Schulbildung. Er hat
gibt, mag sich Freundschaft in unserer Kultur als die unumstrit- vielmehr mit Persönlichkeit, Einstellungen, Gefühlen und Cha-
tenste, beständigste und befriedigendste aller engen persönlichen rakter insgesamt zu tun. Freunde sollten dazu befähigt sein, die
Bindungen erweisen. Tugendtheoretiker und feministische Philo- Standpunkte des jeweils anderen zu respektieren und sich für sie
sophinnen gehören zu denen, die in letzter Zeit einen großen Teil zu interessieren. Die Überlegenheit eines Freundes auf einem Ge-
ihrer philosophischen Aufmerksamkeit den moralischen Dimen- biet, beispielsweise in der Lebenserfahrung, braucht diesem keinen
sionen der Freundschaft gewidmet haben.1 Diese Untersuchungen privilegierten Rang innerhalb der Beziehung zu geben, wenn diese
müssen noch das volle Ausmaß des Wertes und des Reichtums be- durch die Überlegenheit des anderen auf irgendeinem anderen Ge-
messen, den Freundschaft in unser Dasein einbringen kann. biet, z.B. durch Lebhaftigkeit der Phantasie, ausgeglichen wird.
Beziehungen, denen diese Ausgeglichenheit und Gegenseitigkeit
fehlte, würden sich leicht in etwas allzu Hierarchisches abschwä-
i. Das Wesen der Verpflichtung gegenüber chen, um noch genuine Freundschaft zu konstituieren. Statt dessen
partikularen Personen würden sie einen Meister-Lehrling- oder Mentor-Schüler-Charak-
ter annehmen. Bei den Beispielen aus unserem Leben, in denen sich
Beziehungen unterscheiden sich erheblich voneinander. Wir kön-
2 Für Aristoteles gibt es bekannterweise drei Formen der Freundschaft, die aus drei
nen mit anderen in einer Weise in Verbindung stehen, die Gleich- verschiedenen Arten der Anziehung zu anderen Personen entspringen: Anerken-
heit und Gegenseitigkeit nahekommt; oder wir können mit an- nung des moralischen Gutseins des Charakters, Luststreben und Streben nach
deren in einer Weise in Verbindung stehen, die Formen der Ab- persönlichem Nutzen. Die beste Art ist für Aristoteles natürlich Freundschaft,
hängigkeit bzw. Hierarchien der Macht und Autorität beinhaltet. basierend auf der Anerkennung des moralischen Gutseins (Aristoteles 1972,
Ich untersuche hier die Freundschaft, das heißt eine Beziehung, die Ii56a6-ii57b5, S. 184-188). Siehe Cooper (1977a). Meine eigene Diskussion hängt
nicht vom Wesen der fraglichen Freundschaft ab. Der Begriff des moralischen
auf annäherungsweiser Gleichheit (in wenigstens einigen Hinsich-
Wachstums, den ich in diesem Kapitel diskutiere, verlangt nur, daß es zwischen
ten) und einer Gegenseitigkeit an Zuneigung, Anteilnahme und den Freunden eine Teilhabe an persönlichen Erfahrungen gibt, was auch immer
die Motivation für diese Teilhabe sein mag, und daß die Freunde sich gegenseitig
dabei vertrauen, ein, wie ich es nenne, »verläßlicher moralischer Zeuge« zu sein,
wobei die fragliche Verläßlichkeit genausoviel mit epistemischer Fähigkeit wie mit
I Ein tugendtheoretischer Ansatz findet sich, neben vielen anderen, bei den folgen-
moralischem Gutsein zu tun hat.
den Autoren: Blum (1980); Stocker (1981); Slote (1982). Die feministische Literatur
zu Beziehungen ist umfangreich. Die folgenden Autorinnen beschäftigt sich be- 3 Mary Lyndon Shanley weist darauf hin, daß die wichtigste These in The Subjection
sonders mit Freundschaft: Ackelsberg (1983); Dietz (1985); Card (1990); Raymond ofWomen (Mill, Taylor Mill und Taylor 1991) lautet, Freundschaft müsse in der
(1986). Andere erwähnenswerte Erörterungen der Freundschaft, die weder einen Ehe ermöglicht werden, wenn sie die Möglichkeit einer genuin moralischen Bezie-
feministischen noch einen tugendtheoretischen Ansatz exemplifizieren, können hung für Frauen und Männer beinhalten soll. Andererseits benötige Freundschaft
gefunden werden bei: Telfer (1970); English (1979); Baron (1984a); Thomas (1987). zwischen Frauen und Männern Geschlechtergleichheit. Z u Shanleys Diskussion
Weitere Quellen erscheinen in den nachfolgenden Anmerkungen. der Stärken und Schwächen des Millschen Vorschlags siehe Shanley (1981).
20 7
148
eine Mentor-Schüler-Beziehung usw. zu einer genuinen Freund- son in ihrer einzigartigen Partikularität die außerordentliche Ver-
schaft entwickelt, ist es wahrscheinlich, daß die formale Ungleich- kettung von Wünschen, Bestrebungen, Identität, Geschichte usw.
heit der sozialen Position durch Vortrefflichkeiten des Schülers einer partikularen Person zum primären Zentrum. Sie ist spezifisch
ausgeglichen wird, welche beim Mentor Hochachtung hervorrufen in bezug auf diese Person und nicht auf andere verallgemeinerbar.4
und von denen dieser sogar etwas lernen könnte. Sie erkennt die Einzigartigkeit des Freundes an und - so kann man
Normalerweise beinhaltet die Freundschaft zu jemandem, ihm sagen - ehrt oder zelebriert diese Einzigartigkeit.5 Die Interessen
in zumindest einigen wichtigen Hinsichten sowohl verpflichtet zu und die höchsten Interessen des Freundes werden, wenn auch nicht
sein als auch zu vertrauen, wenngleich nicht in allen. Bei zahllosen ausschließlich, zentral für die Bestimmung, welche der eigenen
Gelegenheiten, von den trivialen bis zu den bedeutsamen, fordert Handlungen richtig oder falsch und welche Ziele oder Ambitionen
uns Freundschaft auf, den Großteil der knappen Ressourcen unserer erstrebenswert sind. Die Erfolge einer Freundin werden zum Anlaß
Fürsorge, Aufmerksamkeit und unseres Vertrauens in die selektive der eigenen Freude; ihre Ansichten können uns zum Nachdenken
Unterstützung unserer Freunde zu investieren, auch wenn andere bringen oder sogar Hochachtung hervorrufen; ihr Verhalten kann
menschliche Wesen ähnliche Bedürfnisse oder Qualitäten haben. uns zur Nacheiferung ermuntern; und die Angelegenheiten, für die
Das ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, daß Freunde einen sie sich einsetzt, können unsere eigene Hingabe wecken. Wir zeigen
Anspruch auf unsere persönlichen Ressourcen haben, obgleich ich Parteilichkeit für unsere Freundin, indem wir uns selektiv um ihre
dieser Sichtweise zustimmen würde. Mein Hinweis ist hier eher Partikularität in all ihren Details und ihrer Vielfalt kümmern.6
ein psychologischer als ein moralisch-normativer und bezieht sich Wie wir uns um eine bestimmte Freundin kümmern, hängt von
auf die Art und Weise, wie Freundschaft uns auffordert, gegenüber ihren spezifischen Bedürfnissen, Interessen und Werten ab. In man-
unseren Freunden zu empfinden. chen Fällen kann man sich berufen fühlen, einer Freundin eine gan-
Die Verpflichtung einem Freund gegenüber eignet sich gut als ze Menge an Unterstützung oder Förderung angedeihen zu lassen.
Beispiel für die Art der Verpflichtung gegenüber einer Person in In anderen Fällen, etwa wenn die Freundin sich selbständig durch
ihrer einzigartigen Partikularität. Meiner Ansicht nach liefert uns die Schwierigkeiten ihres Lebens schlagen möchte, wird man es für
die Freundschaft die besten Beispiele partikularisierter, personen-
4 Darauf verwies z. B. Telfer (1970), S. 224.
bezogener Verpflichtung. Um es zu wiederholen: Die Verpflichtung
5 Daraufhat auch Howard Kamler (1985), S. 6-8, hingewiesen.
gegenüber einer Person an sich unterscheidet sich von der Ver- 6 Blum (1980) meint, es sei moralisch legitim, solche Parteilichkeit an den Tag zu
pflichtung gegenüber einer abstrakten Moralvorschrift, etwa den legen, wie zum Beispiel unseren Freunden zu helfen, wenn sie im Schnee fest-
- richtige oder falsche Handlungen bestimmenden - moralischen stecken, bevor wir anderen, die auch feststecken, helfen. Charles Fried (1979, S.
Regeln, den — erstrebenswerte Ziele oder Wünsche enthaltenden 27), behauptet, daß es einem Mann erlaubt sei, sich zu entscheiden, seine Frau zu
retten, wenn mehrere Leute am Ertrinken sind und er nicht alle retten kann. Der
- moralischen Werten und den moralischen Prinzipien, die Metho-
vorliegende Beitrag erkundet einige der positiven Werte, die aus der zugegebener-
den definieren, nach denen wir unsere Regeln und Werte rechtfer- maßen parteiischen Unterstützung und Förderung, die sich Freunde gegenseitig
tigen. Diese abstrakten Moralvorschriften strukturieren Verfahren selektiv gewähren, erwachsen. Im zweiten Kapitel meines Buchs What are Friends
des Vernunftgebrauchs, durch die man zu spezifischen Urteilen For? (Friedman 1993) diskutiere ich im Gegensatz dazu die Unzulänglichkeiten
gelangt, die wiederum alltägliche Situationen und Entscheidun- der Fürsorge, die aus unserer alltäglichen Praxis resultieren, in einem Kontext ra-
dikaler Ungleichheit an Ressourcen gegenüber unseren Verwandten und Freun-
gen beherrschen. Abstrakte Moralvorschriften sind allgemein und
den parteiisch zu sein. Ich halte Parteilichkeit nicht für ein moralisches Unrecht
beziehen sich nicht auf partikulare Personen oder Ereignisse. Sie an sich, sondern nur für ein komplexes moralisches Problem unter Bedingungen
beharren darauf, durch alle relevant ähnlichen Situationen hin- der Knappheit oder der Mißverteilung fürsorglicher Ressourcen. Leider scheinen
durch zu gelten, solange keine außerordentlichen Umstände oder diese Umstände im menschlichen Dasein im Grunde genommen unvermeidlich
ausschlaggebenden Überlegungen dagegen sprechen. zu sein, und dieser Beitrag ist auch nicht zur Verniedlichung der Bedeutung jenes
Problems gedacht.
Im Gegensatz dazu hat die Verpflichtung gegenüber einer Per-
151 20 7
angebracht halten, der Neigung zu widerstehen, ihr zu helfen oder billigen - was auch immer an ihr es ist, das dann unsere Reaktion
sie zu unterstützen. Das eigene Verhalten einer Freundin gegen- anregt, die eigenen generellen, abstrakten, moralischen Verpflich-
über gewinnt seine Angemessenheit, wenigstens zum Teil, durch tungen könnten uns am Wert bzw. der Rechtfertigbarkeit unseres
ihre Ziele und Wünsche, ihre Bedürfnisse, ihren Charakter - durch Handelns zweifeln lassen. Wenn ich ungeachtet dieser verallgemei-
all die Eigenschaften, gegenüber denen man sich prima facie aufge- nerungsbezogenen Unsicherheit in ihrem Interesse handle, dann
fordert fühlt, sie als erstrebenswert anzuerkennen, einfach weil es offenbare ich eine Verpflichtung gegenüber dieser bestimmten
ihre sind. Keine dieser Reaktionen stimmt (notwendigerweise) mit Freundin an sich.
den eigenen moralischen Regeln, Werten oder Prinzipien überein. Freundschaft versieht uns mit einer Neigung bzw. Verlockung,
Parteilichkeit für eine Freundin beinhaltet, daß man durch sie als unsere Freunde und dasjenige, was ihnen wichtig ist, ernst zu neh-
ein Individuum - durch sie an sich - motiviert wird und nicht men. Angenommen, ich hätte bis zum Beginn der Beziehung zu
durch eigene prinzipielle Verpflichtungen, die ihre Situation zufäl- einer Freundin nicht alle ihre Werte oder Prinzipien geteilt; dann
lig hervorrufen. verlockt mich die Freundschaft, diese bislang nicht geteilten Werte
Es ist natürlich möglich, eine Freundin und ihre Bedürfnisse und Prinzipien als neue moralische Möglichkeiten für mich selbst
gemäß einer moralischen Regel, eines Werts oder Prinzips als mo- anzusehen und meine bisher vertretenen Werte und Prinzipien in
ralisch würdig zu erachten.7 Man könnte zum Beispiel nach ih- einem neuen Licht zu betrachten — zugegebenermaßen, ohne vor-
ren Bedürfnissen handeln, weil diese in einem generellen Sinne als herzubestimmen, was aus der Überlegung resultiert. Möglicherwei-
dringlich erscheinen. Man könnte ihrem Verhalten nacheifern, weil se stellen wir fest, daß wir Gründe zur Ablehnung dessen haben,
dieses sich gemäß einer moralischen Regel, die man vertritt, recht- was unsere Freundin wertschätzt und woran sie festhält. Aber wir
fertigen läßt. Und man könnte der Neigung, ihren Bedürfnissen könnten auch angesichts dessen, wie das Leben unserer Freundin
Rechnung zu tragen oder sich ihrer Uberzeugung anzuschließen, ihre Werte manifestiert, gewahr werden, daß unsere Gründe schwä-
gerade dann widerstehen, wenn die eigenen prinzipiellen Verpflich- cher werden.
tungen oder Werte Zweifel am Wert ihrer Haltungen erzwingen. Mein Begriff der Verpflichtung gegenüber einer partikularen
Bewertungen wie diese werden implizit von generellen moralischen Person kann anhand des Unterschieds zwischen Zuneigung und
Maßstäben irgendeiner Art gelenkt und zeigen dabei mehr als bloß Achtung verdeutlicht werden.8 Freundschaft scheint tatsächlich
die Verpflichtung gegenüber einer Freundin, um deren Bedürfnisse diese beiden Dimensionen menschlicher Einbeziehung zu zeigen.
oder Verhalten es geht. Sie drücken auch eine Verpflichtung gegen- Zuneigung beinhaltet die liebevollen und zärtlichen Gefühle des
über relevanten Bewertungsmaßstäben aus - Maßstäben, in deren Mögens und der Liebe, mit denen wir auf einige andere Personen
Licht jede Person, nicht nur die Freundin, solche Überlegungen reagieren. Sie muß keinerlei beurteilende oder evaluative Kompo-
ausgelöst haben könnte. nenten enthalten. Sie kann allein aus affektiver Empfänglichkeit
Damit unsere eigene Reaktion eine klare Verpflichtung gegenüber gegenüber der gemochten bzw. geliebten Person bestehen.
einer Person in ihrer Partikularität, gegen sie an sich, ausdrückt, In dieser Hinsicht steht Achtung im Gegensatz zu Zuneigung.
muß sie zumindest teilweise durch die Bereitschaft beeinflußt sein, 8 Claudia Card diskutiert die Unterscheidung zwischen Achtung vor Personen im
zugunsten dieser Person zu handeln bzw. so, wie es genau dadurch, allgemeinen und Hege (cherishing), die eine Weise des Schätzens von Personen
wer sie ist, bestimmt wird, auch wenn unsere eigenen allgemei- in ihrer Partikularität ist (Card 1990). In meiner Erörterung versuche ich Zunei-
gung von dem zu unterscheiden, was ich, der üblichen Gebrauchsweise folgend,
nen moralischen Werte oder Prinzipien diese Handlungen nicht
»Achtung« genannt habe. Diese ist ein Typus einer positiven Haltung, die wir
7 Verschiedene Philosophen widersprechen einer Sichtweise, die sie Aristoteles zu- gegenüber partikularen Personen im Lichte ihrer Verdienste einnehmen können.
schreiben, daß wir nämlich unsere Freunde für gute Menschen halten müssen; sie- Card unterscheidet nicht zwischen verschiedenen Arten der Hege, und so, wie sie
he Telfer (1970), S. 227-228, Kamler (1985), S. 5, und Ferdinand Schoeman (1982), den Begriff verwendet, scheint er mir Achtung im partikularisierten Sinne und
S.264. Zuneigung zu umfassen.
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152
Es gibt mindestens zwei verschiedene Arten der Achtung von Per- Achtung in diesem partikularisierten Sinne, indem sie den Maß-
sonen, und beide sind auf evaluative Überlegungen gegründet, die stäben entspricht, die wir für erstrebenswert halten. In dem Maße,
Verpflichtungen gegenüber abstrakten Moralvorschriften voraus- in dem unsere Verpflichtung gegenüber einer Person kontingent
setzen. Die erste mögliche Art der Achtung ist die Achtung von zu unserer großen Wertschätzung von ihr ist, ist unsere Verpflich-
Personen als moralisch Gleiche. Gemäß den üblichen Formulie- tung gegenüber dieser Person unserer Verpflichtung den relevanten
rungen bestimmter deontologischer Moralprinzipien gebührt diese Moralmaßstäben gegenüber untergeordnet und ist nicht intrinsisch
Art der Achtung allen Personen, egal ob wir sie mögen oder viel von eine Verpflichtung gegenüber dieser Person.
ihnen halten. Sie hat nichts mit individuellem Verdienst oder mora- Beiläufig sollte erwähnt werden, daß nicht einmal Zuneigung für
lischen Qualitäten zu tun. Die Achtung anderer Personen aufgrund jemanden eine Verpflichtung demjenigen gegenüber in vollem Sin-
ihrer moralischen Gleichheit, aufgrund ihrer gleichwertigen Zuge- ne konstituieren muß. Verpflichtung gegenüber einer partikularen
hörigkeit zur moralischen Gemeinschaft gründet sich infolgedessen Person beinhaltet eine gewisse Bereitschaft, besorgt um sie zu sein,
nicht auf eine Verpflichtung ihnen gegenüber in ihrer einzigartigen sie ernst zu nehmen und in ihrem Interesse zu handeln. Jemandes
Partikularität, sondern auf eine Verpflichtung gegenüber einem Verhaltenstendenzen ebenso wie dessen Gefühle sind durch die
Prinzip des inhärenten moralischen Werts von Personen. Verpflichtung gegenüber einer Person in vollem Sinn in Anspruch
Neben der generalisierten Form der Achtung von Personen als genommen. Sobald Zuneigung Verpflichtung hervorruft und diese
gleichwertigen Mitgliedern der moralischen Gemeinschaft gibt es Verpflichtung nur auf Zuneigung basiert, scheint das daraus resul-
eine andere Form der Achtung, welche die Partikularität von Per- tierende Zugehörigkeitsgefühl eher einer Vorliebe für bestimmtes
sonen berücksichtigt. Es ist die Art der Achtung, die angesprochen Essen zu ähneln als einer auf Allgemeingültigkeit gegründeten Ein-
ist, wenn jemand speziell für seine erstrebenswerten Eigenschaften, stellung, die beide Formen der Achtung mit sich bringen. In mei-
für seine Vortrefflichkeiten geschätzt wird. Achtung in diesem Sin- nen Augen beinhaltet Zuneigung nicht notwendigerweise schon an
ne schulden wir nicht allen Personen, und sie ist normalerweise et- sich Evaluationen des personalen Werts oder gar Annahmen über
was, das erworben oder verdient werden muß. Sie kann, muß aber den inhärenten moralischen Wert des Personenstatus des Objekts
nicht Zuneigung oder liebevolle Gefühle beinhalten. Das Wichtig- der Zuneigung. Sie exemplifiziert mehr als beide Arten der Achtung
ste an dieser partikularisierten Form der Achtung ist aber, daß sie Besorgtheit um jemandes einzigartige Partikularität.
— auch wenn sie sich von der abstrakten Achtung moralisch Glei- Verpflichtungen Freunden gegenüber, die auf Meinungen über
cher darin unterscheidet, daß sie jemandes Einzigartigkeit in den ihren persönlichen Wert gegründet sind, sind selbstverständlich
Blick nimmt - dieser trotzdem in ihrer Verpflichtung gegenüber nicht falsch. Ich bin aber daran interessiert, bestimmte moralische
abstrakten Maßstäben gleicht. Achtung vor den Vortrefflichkeiten Möglichkeiten zu untersuchen, die dem Wesen einer Verpflich-
einer partikularen Person basiert auf einer positiven Bewertung im tung gegenüber einer Person an sich inhärent sind, egal ob eine der
Sinne von Maßstäben der Wertschätzung. beiden Formen der auf Allgemeingültigkeit gegründeten Achtung
Achtung vor dem Wert einer Person hebt sich infolgedessen von beteiligt ist oder nicht. Diese moralischen Möglichkeiten könn-
der Zuneigung zu einer partikularen Person dadurch ab, daß jene ten eingeschränkt sein oder sogar fehlen, sobald die Verpflichtung
nicht nur an der fraglichen partikularen Person orientiert ist, auch gegenüber einem Freund vollständig von einer Verpflichtung ge-
wenn sie in der Tat auf die Partikularität einer Person gerichtet ist. genüber abstrakten Moralvorschriften abgeleitet ist. Meine These
Sie exemplifiziert darüber hinaus eine Verpflichtung gegenüber ist, daß unsere Verpflichtungen gegenüber partikularen Personen
bestimmten abstrakten Moralvorschriften, mit denen der Wert tatsächlich notwendige Gegengewichte zu unseren Verpflichtungen
partikularer Personen beurteilt wird - Werte oder Maßstäbe, die gegenüber abstrakten Moralvorschriften sind und bei bestimmten
z.B. zu individuellen Charaktereigenschaften, Verhaltensweisen Gelegenheiten Vorrang vor diesen bekommen mögen. Ich werde
oder menschlichen Tugenden gehören. Eine Person erwirbt unsere nun Überlegungen über die Art des moralischen Wachstums an-
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stellen, das durch unsere Fähigkeit ermöglicht wird, uns gegenüber ermöglichtes Gut hin, das von diesen und anderen zeitgenössischen
partikularen Personen - etwa unseren Freunden - zu verpflichten. Diskussionen offenbar vernachlässigt wird. Dieses Gut ist das des
moralischen Wachstums einer bestimmten, besonderen Art. Wir
wollen in Erinnerung rufen, daß jemandes früheste Werte und
2. Freundschaft und moralisches Wachstum moralische Regeln im Verlauf der moralischen Sozialisation erlernt
werden. Diese erhalten die meisten Menschen von ihren ersten Be-
Verschiedene zeitgenössische Philosophen haben viele der posi- zugspersonen, gewöhnlich den Eltern oder der Familie. Auf dem
tiven Aspekte von Freundschaft erkundet. Elizabeth Telfer weist Hintergrund dieser zuerst erlernten moralischen Abstraktionen se-
daraufhin, daß Freundschaft Überlegungen über das Wohlergehen hen sich viele von uns im späteren Leben bemerkenswerten Wand-
anderer begünstigt, außerordentliches Entgegenkommen, das an- lungen der Verpflichtung unterworfen. Freundschaft kann eine un-
derweitig nicht verfügbar ist, ermöglicht, angenehm und lebens- schätzbare Quelle solch einer moralischen Transformation sein.
verbessernd ist, unsere Weltverbundenheit und unsere Empfäng- Die Art moralischen Wachstums, die mich am meisten interes-
lichkeit für Gefühle steigert, unsere Beteiligung an vielen unserer siert, ist die tiefgreifende Art, die auftritt, wenn wir lernen, unsere
Aktivitäten intensiviert und unser Wissen vergrößert. John Rawls Erfahrungen in einer neuen Perspektive oder in radikal anderer Be-
betont die Art und Weise, wie Freundschaft und andere Formen ge- grifflichkeit zu erfassen. Es ist die Art, die einen Wechsel in den mo-
genseitigen Vertrauens in menschlichen Vereinigungen, die bereits ralischen Paradigmen einschließt, in den fundamentalen Werten,
durch gerechte Regeln charakterisiert sind, Gefühle des Zutrauens Regeln oder Prinzipien, die das moralische Denken und Verhalten
und der Selbstsicherheit hervorbringen, die bei neuen Mitgliedern formen. Abstrakte Moralvorschriften werden im allgemeinen durch
der Vereinigung notwendig für die Erzeugung einer moralischen konkrete Lebensgeschichten »getestet«. Je mehr wir über reale Le-
Perspektive sind. Ferdinand Schoeman konzentriert sich auf die re- bensweisen wissen, die nach bzw. unter dem Einfluß von verschie-
ziproke intime Teilhabe an jemandes Selbst. Für Lawrence Blum ist denen abstrakten Moralvorschriften gelebt werden, desto größeres
die Freundschaft ein Ort altruistischer Gefühle und kann ein mo- Verständnis für die lebenspraktischen Auswirkungen dieser Vor-
ralisch erstrebenswertes Niveau des »tiefen Sorgens« erreichen, das schriften gewinnen wir. Unsere alltäglichen Erfahrungen können
das genuine Verstehen einer anderen Person beinhaltet, obgleich dazu angetan sein, unsere abstrakten Moralvorschriften zu bestär-
es ein Verständnis ihrer Getrenntheit zuläßt. Mary Dietz nimmt ken bzw. zu schwächen, oder sie können ergebnislos bzw irrelevant
an, daß Freundschaft den Bürgern eines Gemeinwesens ein Vorbild erscheinen. Eine Vergrößerung des Erfahrungsschatzes, in dessen
für eine Art von ziviler Bindung liefert, das demokratische Werte, Licht wir unsere Einschätzung abgeben, begünstigt die angemes-
partizipatorische Staatsbürgerschaft und Egalitarismus betont. Jane senere Beurteilung dieser Vorschriften. Da wir unsere persönlichen
Mansbridge analysiert detailliert die Art des politischen Prozesses, Erfahrungen in eingeschränkter Weise begreifen könnten oder weil
die auf der Freundschaftsbeziehung basiert.9 der Bereich unserer eigenen Erfahrungen aufgrund der beschränk-
Diese Diskussionen arbeiten eine reichhaltige Grundlage zur ten Möglichkeiten unseres Lebens eng sein könnte, haben wir nicht
Würdigung der Freundschaft heraus. Trotzdem erforschen sie immer selbst die erfahrungsbezogenen oder begrifflichen Ressour-
nicht erschöpfend ihre mannigfachen Formen von moralischer cen, um neue moralische Einsichten zu gewinnen oder über unsere
Bedeutung. Hier weise ich auf ein wichtiges, durch Freundschaft bisherige moralische Ansicht hinauszugehen.
Solche tiefgehenden Transformationen können unzweifelhaft
9 Die Quellen für die in diesem Absatz in den Blick genommenen Auffassungen
aufgrund ganz unterschiedlicher Erfahrungen auftreten. Freund-
sind: Telfer (1970); Rawls (1975), Kap. 8., Abschn. 71, S. 508 ff.; Schoeman (1982),
S. 263; Blum (1980), S.43 und 70; Dietz (1985), S.3if.; und Mansbridge (1975). schaft bietet einen möglichen Weg hin zu einer solchen Transfor-
Eine Diskussion der Auffassungen Aristoteles1 über die durch Freundschaft her- mation, und wenngleich sie nicht der einzige ist, so ist sie doch
vorgebrachten Güter findet sich in: Cooper (1977b). einer, der weithin vorhanden und zugänglich ist. Die Bedürfnisse,
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Wünsche, Ängste, Kenntnisse, Pläne und Träume unserer Freun- men. Wir sind letzten Endes mit den Schwierigkeiten und Unzu-
de können für uns neue Standpunkte entwerfen, von denen aus verlässigkeiten der Induktion konfrontiert.
wir den tieferen Sinn und die Signifikanz moralischer Werte und Auf alle Fälle besteht die Alternative zum moralischen Empiris-
Maßstäbe erkunden können. Innerhalb der Freundschaft gewähren mus darin, die moralische Überlegung insgesamt von erfahrungsbe-
uns unsere Verpflichtungen unseren Freunden an sich gegenüber zogenen Konfrontationen abzuschirmen, so als ob es nicht wichtig
Zugang zu ganzen Erfahrungsbereichen jenseits unserer eigenen. sei, wie es unseren moralischen Werten und Prinzipien in der Pra-
Freundschaft bietet diesen Zugang aufgrund des geteilten Vertrau- xis ergeht. Wir lassen uns in nichtmoralischen Bereichen von den
ens, auf dem sie basiert. Dieses Vertrauen manifestiert sich in einer Schwierigkeiten der Induktion nicht davon abschrecken, auf unsere
Vielfalt von Formen. Es gibt das naheliegende Vertrauen in des Erfahrungen zu bauen. Warum also sollten wir es nicht in der mo-
Freundes guten Willen und seine guten Absichten in bezug auf un- ralischen Sphäre tun? Beschreibungen und Erzählungen moralisch
ser eigenes Wohlergehen. Aber für das moralische Wachstum, um relevanter Erfahrungen sind natürlich nicht an sich schon hinrei-
das es mir geht, ist eine andere Art des Vertrauens wichtiger. chend, um endgültiges moralisches Wissen hervorzubringen. Doch
Innerhalb der Freundschaft existiert ein bedeutendes Maß an indem sie in alltäglichen Ausdrücken konzeptualisiert und verstan-
Vertrauen in die Fähigkeit unserer Freunde, ein - wie ich es nenne den werden, gleichen sie Moral- und Sozialtheorien großen Maß-
— verläßliches »moralisches Zeugnis« ihrer eigenen Erfahrungen ab- stabs in einem Prozeß des Überlegungsgleichgewichts10 - zu dessen
zulegen. Zwischen Freunden gibt es im allgemeinen gemeinsam ge- Favorisierung mich mein moralischer Empirismus veranlaßt — aus.
teilte Geschichten über vergangene und gegenwärtige Erfahrungen. Welchen charakteristischen Beitrag zu unserer moralischen Er-
Freundschaft ermöglicht uns, die Erfahrungen und Standpunkte fahrung leistet Freundschaft? Sie ist eine enge Beziehung, in der
unserer Freunde aus deren eigener Sicht kennenzulernen. Solange Vertrauen, Vertrautheit und Offenheit uns umfassend Standpunkte
unsere Freunde uns ihre Erfahrungen authentisch, feinfühlig und eröffnen, die sich von den unseren unterscheiden. Zum Beispiel
verständnisvoll anvertrauen, können wir Wissen über Lebensweisen kann ich, angesichts dessen, was meine Freundin als ein ihr ange-
erlangen, die in Einklang mit moralischen Regeln und Werten gelebt tanes Leid ansieht, wie sie dadurch Schaden nimmt und was sie
werden, die sich von den unseren unterscheiden. Wurzelnd in die- in Reaktion darauf unternimmt, ihren dargestellten Anspruch und
sem »empirischen« Verständnis der moralisch relevanten Charakte- dessen Implikationen für die moralische Praxis sozusagen anpro-
ristika der Erfahrungen unserer Freunde, verbreitern und bereichern bieren. Ich kann mich mit dem befassen, was als Ergebnis ihrer
wir unsere eigene empirische Grundlage zur Bewertung sowohl der Ergebenheit und Beilegung bzw. ihres Widerstands und Aufbegeh-
abstrakten Moralvorschriften, die wir bereits vertreten, als auch der rens passiert.
Alternativen, die wir in Betracht ziehen könnten. Weil wir so viel von dem, was einer guten Freundin zustößt, in
Es ist lohnend - wenngleich etwas abschweifend —, den mora- genauer und intimer Detailliertheit erfahren, leben diese Erfahrun-
lischen Empirismus hervorzuheben, der meinem Ansatz zugrunde gen für uns mit narrativer Spezifität und Kraft weiter. Weil eine
liegt. Jener beruht auf der Annahme, daß Erfahrung einen rele- Freundin eine andere als man selbst ist und, pace Aristoteles, sel-
vanten epistemologischen Beitrag zum Prozeß der kritischen Re- ten bloß »ein zweites Selbst«,11 wird sich eine Freundin von einem
flexion leistet, in der wir unsere moralischen Prinzipien und Werte selbst in einigen Hinsichten unterscheiden. Normalerweise kon-
herbeiführen und überdenken. Zumindest liefert Erfahrung einen zeptualisiert sie Erfahrungen und begreift deren Bedeutsamkeit in
unersetzbaren Beleg der Konsequenzen unseres Verhaltens; sie trägt einer Begrifflichkeit, die sich zumindest ein wenig von der unsrigen
daher wesentlich zu den konsequentialistischen Dimensionen der unterscheidet. Aufgrund dieser Unterschiede werden die Narrative
moralischen Überlegung bei. Allerdings widerstrebt der Unter- 10 Das ist natürlich Rawls' bekannter Ausdruck (Rawls 1975, S. 38 f., S. 68-72,
schied, den die Erfahrung macht, im allgemeinen einer einfachen S. 142 f.).
Erklärung. Die Probleme hier sind schwer in den Griff zu bekom- 1 1 Aristoteles (1972), 1166a, S.215.
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und Meinungen, an denen sie uns teilhaben läßt, implizit einen moralischen Wissens, das man durch seine Freunde erwerben kann.
moralischen Standpunkt zeigen, der zumindest in einem bestimm- Erstens kann man sehen, wie eine Freundin durch die verschiede-
ten Maß nicht wie der unsrige ist. Die Geschichten, die sie erzählt, nen gesellschaftlichen Ubereinkünfte, in denen sie lebt, und durch
werden von ihren Konzeptualisierungen, Werten und Maßstäben das Verhalten anderer ihr gegenüber beeinflußt wird. Diese Auswir-
geprägt sein; diese Geschichten werden infolgedessen für uns in den kungen offenbaren etwas über die Angemessenheit der Maßstäbe,
Ausdrücken weiterleben, welche die Perspektive unserer Freundin welche die - sie beeinträchtigenden - gesellschaftlichen Uberein-
widerspiegeln, eine, die wir nicht notwendigerweise teilen. künfte und die menschlichen Tätigkeiten gestalten.
Selbstverständlich ist die moralische Induktion nicht auf Freund- Zweitens kann man wahrnehmen, wie der Lauf ihres Lebens die
schaftsbeziehungen beschränkt. Ein von mir abhängiges Kind zum Moralvorschriften, nach denen sie lebt, auf die Probe stellt. Man
Beispiel, das ich erziehe, wird zu einem Prüfstein für die Bewer- kann darüber nachdenken, was sie motiviert, leitet oder bewegt.
tung des Erfolgs meines Verhaltens bei der Erfüllung der kindli- Man wird sich veranlaßt sehen, diese Motive und Leitlinien ernst
chen Bedürfnisse und auch für die Bestimmung der angemessenen zu nehmen, weil man sie ernst nimmt. Es wird zu einer Lebensop-
gesellschaftlichen Vorkehrungen, um diese Bedürfnisse befriedigen tion für einen selbst. Durch die intime Kenntnis einer Freundin
zu können. Meine Prinzipien der sozialen Gerechtigkeit werden, partizipiert man nachempfindend an der Existenz, die ihre diver-
nicht weniger als meine Prinzipien der Erziehung, in Frage gestellt, gierenden Werte verkörpert und realisiert. Man lernt, wie sich das
wenn ich mit dem Hunger eines Kindes konfrontiert werde, das ich Leben für jemanden gestaltet, der von anderen als unseren eigenen
nicht adäquat ernähren kann. Auch andere Beziehungen versorgen Handlungsursachen motiviert wird, und man sieht, was mit den
uns mit Erfahrungen, die verschiedene Moralvorschriften auf die moralischen Abstraktionen, die ihr Leben beseelen und beeinflus-
Probe stellen. Trotzdem fördert Freundschaft, d. h. eine Beziehung sen, in der Praxis geschieht.
eines bestimmten Grades gegenseitiger Vertrautheit, Wohlwollens, Durch diese Gelegenheiten zum Wachstum unseres moralischen
Interesses und Rücksicht, nachdrücklich Vertrauen und das Teilen Wissens erlaubt uns Freundschaft, uns in Zeiten zu orientieren, in
von Perspektiven und damit eine Art Gegenseitigkeit, die ande- denen wir unsere eigenen moralischen Regeln, Werte oder Prinzi-
rerseits nachempfindende Partizipation gerade an der Erfahrung pien anzweifeln. Wenn wir nicht genau wissen, was wir glauben
moralischer Alternativen anregt. sollen, können wir versuchen zu bestimmen, wem man glauben
Was hält meine Freundin in den Situationen, denen sie begegnet, sollte. Durch unsere Ungewißheiten hindurch können uns vertrau-
für wichtig? Was schadet ihr? Was mißfällt ihr? Was verleiht ihr te Freunde eine wichtige Art Leitstern sein. Selbst wenn wir unsere
Hoffnung und Mut? Wie reagiert sie? Was denkt sie über das, was eigenen moralischen Maßstäbe bis jetzt noch nicht angezweifelt ha-
ihr passiert? Wann ergreift sie die Initiative? Wann läßt sie es bleiben? ben, können uns Verpflichtungen gegenüber partikularen Personen
Wie erklärt sie sich in ihren nachdenklichen Momenten, was sie ge- doch überraschend dazu inspirieren, neue Werte und Prinzipien
tan hat? Wenn sie ihre Geschichten erzählt, offenbart sie dabei ihre in Betracht zu ziehen. Deshalb mögen Freundschaften unsere mo-
eigenen moralischen Konzeptionen und Prinzipien: Ihre Konzeptio- ralische Transformation gerade dann stimulieren, wenn wir es am
nen zum Erfassen dessen, was ihr geschieht, und ihre Prinzipien zum wenigsten erwarten.
Bestimmen ihres Verhaltens. Durch das Verstehen der Erfahrungen Man könnte sich fragen, ob die einzige Rolle, die Freundschaft
unserer Freunde in deren eigener Begrifflichkeit verbreitern wir nicht in der Ausdehnung unseres moralischen Verständnisses spielt, darin
nur unsere induktive Basis für die moralische Bewertung, sondern besteht, uns dabei zu helfen, die Implikationen von moralischen
erweitern auch den Aktionsradius unserer begrifflichen Ressourcen, Auffassungen, die wir bereits vertreten, auszubuchstabieren.12
die wir zum Interpretieren und Bewerten all der moralisch signifi-
1 2 Diese Frage wurde von David Solomon in seinem Kommentar zu einer frühe-
kanten Erfahrungen, die wir erfassen, benutzen können. ren Version dieses Beitrags aufgeworfen, die ich auf der Tagung der »American
Es gibt wenigstens zwei verschiedene Arten des »induktiven« Philosophical Association, Central Division« in Chicago, III., im April 1987 vor-
160
Die genauere Artikulation unserer vorher existierenden mora- rer vorher existierenden moralischen Verpflichtungen verfaßt. Die
lischen Verpflichtungen ist sicherlich eine Sache, die erleichtert gelebten Erfahrungen von Freunden haben das Potential zu einer
und gefördert wird, wenn wir von den moralisch relevanten Erfah- Art Authentizität und Spontaneität, das in Romanen nicht verfüg-
rungen unserer Freunde hören. Mein Hauptinteresse ist hier aber, bar ist, weshalb diese uns allein Biographien und Autobiographien
eine tiefgründigere Sorte moralischer Wandlung zu untersuchen, als relevante Analoga übriglassen. Wie auch immer schließe ich,
die Freundschaft inspirieren kann. Freundschaft kann gerade die wie bereits gesagt, die Möglichkeit, daß alle diese und noch mehr
Möglichkeit des Wachstums unserer tiefsten moralischen Werte, Quellen - und nicht nur Freundschaft - zur moralischen Transfor-
Regeln und Prinzipien eröffnen und nicht bloß ihre vollständige- mation beitragen mögen, keinesfalls aus.
re Artikulation. In diesem Sinne verleiht uns Freundschaft einen Moralische Veränderung vermag uns offensichtlich dazu zu be-
Standpunkt, der gut und gerne den prinzipiellen moralischen Ver- fähigen, die moralische Qualität unseres Lebens zu verbessern. Sie
pflichtungen, die wir bereits eingegangen sind, fremd sein mag. Ein mag auch unsere moralische Autonomie erleichtern. Autonomie
Freund mag uns einen Gesichtspunkt bereitstellen, der von einem wird dann gefordert, wenn sich jemand eine Vielzahl an Stand-
alternativen Ensemble prinzipieller moralischer Verpflichtungen punkten aneignet, von denen aus er seine Entscheidungen, seine
inspiriert ist. Werte und Prinzipien, selbst seinen Charakter bewertet.13 Je größer
Moralisches Wachstum wird natürlich auch durch andere Quel- die Mannigfaltigkeit der Perspektiven ist, die man zur Bewertung
len als Freundschaft ermöglicht. Romane, Biographien und Auto- von Regeln, Werten, Prinzipien und des Charakters einnehmen
biographien mögen es genausogut und manchmal sogar noch besser kann, desto größer ist das Ausmaß der Autonomie bei der Her-
als Freundschaft schaffen, unser moralisches Wachstum zu fördern. beiführung moralischer Entscheidungen. Menschen, mit denen
Die transformative Kraft der Literatur im ganzen ist unbestreitbar. wir eng verbunden sind - besonders unsere Freunde - , gewähren
Ihr erzieherischer Nutzen in bestimmten Fällen hängt natürlich da- uns Gesichtspunkte, von denen aus alternative Perspektiven auf
von ab, wer der Autor ist, genau wie das transformative Potential unsere Moralvorschriften in ihrer erfahrungsbezogenen Signifikanz
der Freundschaft dadurch bedingt ist, wer der Freund ist. zu begreifen sind. Durch die Begünstigung unseres moralischen
Dennoch unterscheidet sich der Zugang zu einem neuen Stand- Wachstums mögen unsere Freunde der Anlaß unserer moralischen
punkt in diesen beiden Fällen auf interessante Weise. Das literari- Autonomie sein.
sche Werk mag deutlicher als meine Freundin sein, aber ich kann Im allgemeinen befreunden sich Menschen mit denen, die ih-
mich mit ihr unterhalten, und sie kann mir in ihrer eigenen Begriff- nen nahestehen, ob in Interessen, Einstellungen, Bedürfnissen oder
lichkeit antworten, direkt reagierend auf das, was ich sage und was Lebensumständen.14 (»Gleich und gleich gesellt sich gern.«) Wenn
ich sie frage. Im Gegensatz dazu kann ich genötigt sein, »Antwor- sich Freunde von vornherein in dieser Weise ähneln, was wird dann
ten« aus der festgelegten Anzahl an Sätzen eines literarischen Werks aus der Möglichkeit, sich gegenseitig alternative und neue Perspek-
zu entnehmen, und ich bin darauf beschränkt, diese Antworten tiven zu liefern, von denen aus sie die moralischen Probleme und
in meiner eigenen, möglicherweise mangelhaften Begrifflichkeit zu Situationen des alltäglichen Lebens in Augenschein nehmen kön-
interpretieren. Darüber hinaus entwickelt sich das Leben meiner nen? Verringert sich das Potential zur radikalen moralischen Trans-
Freundin fortgesetzt in neue Richtungen, die sogar sie überraschen formation durch Freundschaft aufgrund der typischerweise weitrei-
mögen; während sie lebt, ist ihr Leben noch ein offenes Buch, des- chenden Ähnlichkeit zwischen Freunden? Es scheint, als könnten
sen Kapitel sie nicht vollständig als eine bloße Selbstbestätigung ih- Freunde, die sich sehr gleichen, nicht das volbtändige Uberdenken
getragen habe. Solomon machte noch andere wichtige Punkte geltend, auf die 1 3 Für eine Diskussion der Art und Weise, wie Autonomie duch den Zugang zu ei-
ner Pluralität von Perspektiven begünstigt wird, vgl. meinen Aufsatz »Autonomy
ich dankenswerterweise habe reagieren können, einschließlich des Hinweises, der
in Social Context« (Friedman 1989). Siehe auch Diana T. Meyers (1989).
gleich im Text folgt, daß Werke der Literatur die gleiche Sorte moralischer Trans-
formation inspirieren können, die ich Freundschaft zuschreibe. 1 4 Siehe Verbrugge (1977).
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162
der innigen moralischen Werte oder Prinzipien des jeweils anderen 3. Die Risiken der Verpflichtung gegenüber
stimulieren. partikularen Personen
Ein Teil der Antwort auf diese Fragen besteht darin, zu beachten,
daß tiefgreifendes moralisches Wachstum durch Freundschaft eine Das moralische Wachstum, das durch den Zugang zur Erfahrung
Möglichkeit derselben ist, aber nicht eine, die permanent realisiert einer Freundin, so wie sie sie erlebt, ermöglicht wird, hängt ent-
wird. Je ähnlicher sich Freunde sind, desto weniger gewähren sie scheidend von ihrer Zuverlässigkeit als Zeugin der Ereignisse und
einander radikal divergierende moralische Perspektiven, an denen Umstände ihres Lebens ab. Wenn wir uns gegenüber jemandem im
nachempfindend partizipiert wird. Das soll nicht etwa den Reich- Vertrauen auf die Authentizität und Echtheit dessen, was sie uns
tum und Wert der Freundschaft zwischen sehr ähnlichen Personen über ihr Leben erzählt, verpflichten, gehen wir gewisse Risiken ein.
schmälern. Nicht im geringsten. Noch soll damit jedwede Möglich- Im letzten Abschnitt skizziere ich einige dieser Risiken. Ich hof-
keit des moralischen Wachstums durch Freundschaft mit denen, fe, daß die wichtigen Herausforderungen deutlich werden, die der
die uns ähneln, in Abrede gestellt werden; solch eine Leugnung Versuch zur Minimierung dieser Risiken unter Beibehaltung der
wäre absurd. Wie auch immer, bei extrem ähnlichen Freunden ist Offenheit gegenüber dem Einfluß der Freundin mit sich bringt.
das moralische Wachstum, das infolge der nachempfundenen Par- Wenn eine Verpflichtung gegenüber einer Freundin in erster Li-
tizipation an der Perspektive des Freundes auftritt, weniger wahr- nie eine gegenüber ihr als Person ist, d. h. wenn sie auf Zuneigung,
scheinlich eines, das auf eine radikale Transformation der tiefliegen- Anziehung bzw. Anteilnahme basiert, die selbst nicht durch Wer-
den, abstrakten moralischen Verpflichtungen, sondern eher eines, te oder Prinzipien inspiriert wird, dann mag man einer Sünderin
das auf eine reichhaltigere Artikulation der beiden Freunden bereits genauso wahrscheinlich nacheifern wie einer Heiligen. Wenn je-
gemeinsamen moralischen Werte hinausläuft. mandes moralische Verpflichtungen in Einklang mit dem Vorbild
Doch selbst wenn Freunde sich sehr ähneln, bleiben Unterschie- gestaltet sind, das durch den Standpunkt einer anderen Person, so
de. Dies ist ein weiterer Teil der Antwort auf das Problem, das durch wie er durch ihre Interpretationen, ihre Regeln oder ihre Werte
die Ähnlichkeit zwischen Freunden aufgeworfen wird. Wir sollten definiert wird, gegeben ist, dann läuft man Gefahr, sich jemandem
die Bedeutung der bestehenden Unterschiede nicht unterschätzen. anzuschließen, der diesen Respekt oder diese Ehrerbietung auf ir-
Es scheint, als gäbe es eine wichtige moralische Wechselwirkung gendwelchen prinzipiellen moralischen bzw. anderen Grundlagen
zwischen den Ähnlichkeiten und den Differenzen. Ein Bereich nicht verdient.15
ähnlicher Charakterzüge, Interessen oder Umstände zwischen Per- Wenn wir auf eine Freundin angewiesen sind, die ein authen-
sonen mag genau das sein, was Vertrauen 'zwischen ihnen als den tisches und verläßliches Zeugnis ihrer moralischen Erfahrung ab-
Gesamtpersönlichkeiten, die sie darstellen, fördert. Dieses Vertrau- legen soll, vertrauen wir nicht nur auf ihre guten Absichten; wir
en ist unentbehrlich, wenn sich jeder der beiden Freunde auf die vertrauen auch auf die Qualität ihrer Empfänglichkeit und ihres
moralische Zeugenschaft des anderen verlassen können soll. Es ist Verständnisses für ihr eigenes Leben. Wir verlassen uns darauf, daß
eine Art vollständigen Vertrauens in den Freund, das einen für das die Freundin alles beachtet hat, was bedeutsam ist für die Gegeben-
Erwägen und Annehmen seiner Perspektive an sich öffnet, nicht heiten, denen sie ins Auge sieht. Und wir verlassen uns darauf, daß
nur in bezug auf die bereits geteilten Werte, sondern in ihrer vollen sie diese Bedeutsamkeit in angemessener Begrifflichkeit konzeptua-
Komplexität, einschließlich der Divergenzen vom eigenen früheren lisiert hat. Wir vertrauen also auf ihre epistemischen Fähigkeiten
Standpunkt. Deshalb ist radikale, tiefgreifende moralische Trans- als einer moralischen und, darüber hinaus, als einer involvierten
formation sogar eine Möglichkeit zwischen einander stark ähnli- Zeugin, die durch diese Gegebenheiten beeinflußt ist und sie an-
chen Freunden, weil Ähnlichkeit in vielen Hinsichten wesentliche
15 Aufschlußreiche Erörterungen der Probleme unbegründeter Loyalitäten und
Unterschiede nicht ausschließt. grundlosen Vertrauens finden sich jeweils in: Baron (1984b) und Annette Baier
(1986).
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dererseits in einem gewissen Maße nach ihren eigenen Zwecken Falls das resultierende Vertrauen trotzdem nicht über die Qualitä-
umgestaltet. ten der Freundin hinausgeht, welche die Prüfung bestehen, dann
Wenn man erkennt, daß irgend jemandes Intentionen oder Wer- schließt man die Möglichkeit aus, daß die Freundin selbst, als die
te schwerwiegend schändlich sind oder ihre Perspektive ernstlich Gesamtpersönlichkeit, die sie darstellt, jemanden inspirieren könn-
fehlerhaft, dann sollte man nicht auf die Rechenschaft vertrauen, te, gerade die Maßstäbe zu überdenken, welche die Freundin erfül-
die diese Person von ihren eigenen Erfahrungen ablegt, solange es len müßte, um als vertrauenswürdig erachtet zu werden.
nicht gute Gründe dafür gibt.16 Das Problem besteht darin zu be- Wenn meine Verpflichtung gegenüber meinen Freunden völlig
stimmen, welche unserer Mißbilligungen der Perspektive einer an- darauf basiert, daß sie exemplifizieren, was ich bereits für gut und
deren Person begründet sind und welche nicht. Solcherart Zweifel richtig halte; wenn ich irgendeine Freundin fallenlasse, die von den
der Vertrauenswürdigkeit zu beheben ist eine komplizierte Angele- Werten, die ich bereits liebgewonnnen habe, abweicht, dann ver-
genheit. Die Maßstäbe, nach denen wir zunächst entscheiden, ob schließe ich mich dem, was meine Freunde über die Notwendigkeit
unsere Freunde verläßliche moralische Zeugen sind, könnten selbst enthüllen könnten, meine tiefgreifendsten abstrakten moralischen
fragwürdig sein. Wir können uns genauso bei Werten und Prin- Prinzipien zu transformieren. Um die Möglichkeit zu tiefgreifender
zipien irren, wie wir uns über bestimmte Personen irren können. moralischer Wandlung offenzuhalten, ist es offenbar erforderlich,
Sollen unsere Freunde Veränderungen unserer Maßstäbe durch das daß man eine unsichere, aber dennoch entscheidende Balance auf-
Ablegen eines Zeugnisses, entweder über die Unangemessenheit rechterhält zwischen Verpflichtungen gegenüber seinen abstrakten
dieser Maßstäbe selbst oder über den Wert von Alternativen, be- moralischen Werten und Prinzipien auf der einen Seite und Ver-
wirken können, dann müssen unsere Verpflichtungen unseren ei- pflichtungen gegenüber Personen — so wie seinen Freunden — in de-
genen Maßstäben gegenüber ziemlich tentativ sein - und das muß ren einzigartiger, vollständiger Partikularität auf der anderen Seite.
die Maßstäbe einschließen, nach denen wir entscheiden, wessen Das Ziel meiner Ausführungen war es, einen vernachlässigten
Ansicht und Urteilskraft verläßlich ist und wessen nicht. Unsere potentiellen Gewinn besonderer Beziehungen — insbesondere der
eigenen Maßstäbe müssen in der Weise flexibel sein, daß sie es uns Freundschaft - auszumachen. Unsere Freunde bieten uns alterna-
erlauben, sie bei Gelegenheit den Verpflichtungen gegenüber un- tive Perspektiven zu unseren eigenen, von denen aus wir abstrakte
seren vertrauten Freunden unterzuordnen. Genau zu bestimmen, Moralvorschriften bewerten können. Auf diese Weise vermögen sie
wann und wie das zu tun ist, ist eine extrem komplexe Sache. unsere bisherigen Verpflichtungen anzugreifen und Wachstum in
Es erscheint ganz und gar töricht, jemandem zu vertrauen, der, unserem moralischen Dasein anzuregen. Verpflichtungen gegen-
unsere gegenwärtigen Werte vorausgesetzt, in keinerlei Hinsicht über partikularen Personen gewähren sowohl ein wichtiges Ge-
schätzenswert ist. Das ist immer so, wenn diese Person moralisch gengewicht zu unseren Verpflichtungen gegenüber moralischen
verkommen ist, auch hier gemäß unseren gegenwärtigen Werten. Prinzipien als auch ein Mittel, die kritische Distanz zu erreichen,
Am Ende des letzten Abschnitts habe ich darauf hingewiesen, daß die zur Infragestellung unserer eigenen Prinzipien notwendig ist.
die Ähnlichkeiten zwischen Freunden der Sorte von Vertrauen för- Dieses Potential ist nicht ohne moralische Risiken. Trotzdem kann
derlich ist, die sie dazu bringt, die moralischen Differenzen des je- uns Freundschaft unschätzbare und unterschätzte fundamentale
weils anderen zu begrüßen und anzunehmen. Wenn Ähnlichkeiten Ressourcen zur Errichtung und Umgestaltung unseres moralischen
nicht erkennbar sind, dann mag man eine Freundin wertvoll im Daseins geben.
Sinne der eigenen bereits existierenden moralischen Werte finden Übersetzt von Thomas Schramme
müssen, um ihr vernünftigerweise als einer Freundin zu vertrauen.
16 Für eine Diskussion der Schwierigkeiten, die in einer unkritischen Unterwerfung
unter die Prinzipien anderer involviert sind, siehe meinen Aufsatz »Moral Inte-
grity and the Deferential Wife« (Friedman 1985) und Bartky (1990), Kap. 7.
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Arne Johan Vetlesen Kohärenz verleiht. Soziale Fragmentierung und ein damit einherge-
hendes Gefühl, ohne Richtung, ohne Zweck und leitendes Ziel zu
Freundschaft in der Ära des Individualismus
leben, sind charakteristisch für diese Situation. Eine Reaktion hier-
auf ist es, die teleologische Konzeption des menschlichen Lebens
für null und nichtig zu erklären: Da sie unter den gegenwärtigen
In der heutigen Gesellschaft wird alles in ein Mittel verwandelt: sei Gesellschaftsbedingungen klarerweise nicht zum Tragen kommt,
es ein Mittel zur Profitmaximierung oder ein Mittel zur Selbstver- sollten wir sie besser aufgeben. Wenn Aristoteles' Frage nach dem
wirklichung des Individuums. Was wird angesichts dieser Entwick- guten Leben und worin es bestehe so aufgefaßt wird, daß dabei eine
lung aus der Freundschaft? bestimmte soziale und kulturelle Ordnung vorauszusetzen sei, dann
Einer einflußreichen aristotelischen Formulierung zufolge be- würde die Auffassung vom Menschenleben als Annäherung an ein
deutet im wahren Sinn ein Freund zu sein, seinem Freund Gutes bestimmtes höheres Gut unter der Bedingung, daß diese Ordnung
zu wünschen, und zwar um des Freundes willen - nicht um des nicht mehr gegeben ist, darauf hinauslaufen, die Frage angesichts
eigenen Selbst oder um des Nutzens und Vergnügens willen. der gegebenen Umstände als unangemessen zu betrachten. Was für
Einerseits mag Aristoteles' Verständnis der Freundschaft heute Aristoteles ein zeitloses, universales Problem war, wird so als hi-
als hoffnungslos veraltet erscheinen, denn es betont die Wichtig- storisch begrenzt herausgestellt mit dem Ergebnis, daß moderne
keit dessen, was gegenwärtig angegriffen wird: eine Beziehung, die Individuen nichts damit anfangen können.
als Zweck in sich selbst gewertet wird. Andererseits kann gerade Ich halte eine solche Konklusion für überstürzt, mehr noch, für
die Tatsache, daß sie nicht den vorherrschenden Strömungen ent- zutiefst verfehlt. Um zu sehen, warum, wollen wir uns einige ari-
spricht, der aristotelischen Auffassung eine neue Aktualität verlei- stotelische Überlegungen darüber in Erinnerung rufen, weshalb die
hen, denn der Kontrast, den sie zu jenen bildet, könnte uns helfen, Freundschaft so wichtig ist.
diese Strömungen einer eingehenden Kritik zu unterziehen. Ausge- Aristoteles geht von der Prämisse aus, daß ein Mensch kein
hend vom aristotelischen Freundschaftsbegriff werde ich mich in selbstgenügsames Wesen ist. Bezogen auf die Freundschaft heißt
diesem Essay auf Schriften von Charles Taylor und Richard Sen- dies, daß jeder, selbst die vollendet tugendhafte Person, Freunde
nett beziehen, um die getrübten Aussichten für Freundschaft in braucht. Freunde zu haben ist von immerwährender Bedeutung
einer Gesellschaft zu erkunden, die sich der Produktivität sowie für das gute Leben: Freundschaft ist eine notwendige, unverzicht-
dem Profit am Arbeitsplatz und der Selbstverwirklichung (oder Au- bare Komponente des guten Lebens selbst. Warum? Wie bereits
thentizität) im Privatleben verschrieben hat. Meine zentrale These erwähnt, liegt dies nicht im Vergnügen oder Nutzen, den ich aus
ist, daß Freundschaft positiv auf das Leben der einzelnen in unserer der Tatsache beziehe, einen Freund zu haben. Eine Antwort, die
Zeit einwirken könnte, insofern sie Ressourcen bereitstellt, um die in irgendeinem instrumenteilen Sinn darauf verweist, was mein
erwähnten Anforderungen in Frage zu stellen und ihnen zu wider- Freund für mich tun könnte, würde den aristotelischen Begriff
stehen. verfehlen. Freundschaft im hier intendierten nichtinstrumentel-
len (nichthedonistischen, nichtutilitaristischen, nichtegoistischen)
Sinn ist reziprok. Was mein Freund für mich tut, spielt natürlich
I. eine Rolle; aber was ich für meinen Freund tue, spielt eine eben-
so große Rolle. Die Kernbedeutung von Freundschaft, verstanden
In dem Maße, in dem die Gesellschaft sich in eine stetig wach- als eine wechselseitige Beziehung, besteht darin, den anderen oder
sende Anzahl von Bereichen ausdifferenziert und die individuelle die andere als einen Zweck in sich selbst zu betrachten — und zu
Biographie sich in eine Vielzahl von Rollen auffächert, wird es im- behandeln, nicht als ein Mittel zu meinem Zweck. Diese Formulie-
mer fraglicher, was ein Leben zusammenhält, was ihm Einheit und rung erinnert natürlich an Kant. Und in meiner Interpretation gibt
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es in der Tat insofern einen starken kantischen Widerhall auf die getan wird, vorausgehen. Die Fähigkeit der Wahrnehmung dessen,
tugendbasierte Freundschaftsbeschreibung des Aristoteles, als der was in dieser Situation angemessen ist, die Fähigkeit, das jeweils
nichtinstrumentelle Status des Freundes - und somit der Beziehung Besondere aufzuspüren und zu berücksichtigen (was Aristoteles
selbst, der Freundschaft per se - gemeint ist. mit aisthesis bezeichnet) und auf dieser Grundlage genau zu über-
Die tiefergehende Frage ist damit jedoch noch nicht beantwortet. legen und zu entscheiden, welche Handlungsweise die beste ist,
Wenn Gründe des Eigeninteresses und des Nutzens ausgeschlossen zeigen die Qualitäten des Wesens einer Person an: Es sind die Qua-
sind, was bleibt dann als Argument des Aristoteles dafür übrig, daß litäten, auf die ihre sichtbaren Handlungen zurückverweisen. Als
selbst eine vollendet tugendhafte Person einen Freund braucht? mein Modell ist mein Freund somit jemand, dessen Art und Weise
Ein Grund dafür, daß gute oder tugendhafte Menschen gute des Seins in der Welt - wahrnehmend, fühlend, denkend - als
Freunde brauchen, um glücklich zu sein und ein gelungenes Leben ein Beispiel dient, von dem ich zu lernen versuche. Freunde sind
zu führen, besteht darin, daß sie andernfalls der Lust entbehren, demnach Menschen, denen ich meine Lebensgeschichte erzähle;
die ein guter Mensch aus der Wahrnehmung der Tugend in ihrem Freunde geben Antworten, die Meinungen, zu denen ich mich
Tätigsein bezieht, denn es sei einfacher, dieses Tätigsein bei an- durchringe, bestätigen und dem, was ich wahrnehme, denke und
deren, die einem nahestehen, zu beobachten, als bei sich selbst.1 fühle, Geltung verschaffen.
Bewußt oder unbewußt sind wir Modelle füreinander; das gilt Wie sollten wir nun die Frage formulieren, um die Bedeutung
besonders für Freunde. Da mein Freund jemand ist, dem ich ver- der Freundschaft in der gegenwärtigen Gesellschaft beurteilen zu
traue und den ich schätze, ist seine Freundschaft hilfreich für mein können? Zwar besteht weitgehend Konsens darüber, daß man
stetiges Bestreben, meine Tugenden zu kultivieren, meine Wahr- heutzutage die aristotelische Konzeption der Annäherung an ein
nehmungs-, Gefühls- und Denkfähigkeiten zu verbessern und in Ziel aufgegeben habe, aber es wird nicht behauptet, daß Freund-
tugendhafter Weise Entscheidungen zu treffen; und für dieses Ziel schaft eine Sache der Vergangenheit sei, etwas, worauf man heute
bin ich abhängig von einem guten Modell. Nicht, daß es darum im Leben verzichten könne. Dies erzeugt, zugegebenermaßen, eine
ginge, die Handlungen eines anderen einfach zu wiederholen, ist Spannung in bezug auf mein bis hierher formuliertes Argument.
für mich der Grund, ihn als Modell zu nehmen. Dafür unterschei- Denn wir haben gesehen, daß für Aristoteles das richtige Denken
den sich die Umstände zu stark, in denen Personen sich jeweils für und das Handeln in Übereinstimmung mit der Tugend notwen-
die richtige Handlungsweise entscheiden müssen. Eine Handlung dige Bestandteile der Freundschaft sind: Sie sind die Qualitäten,
ist immer eine Hier-und-Jetzt-Antwort auf eine Situation, die im die ich am meisten bewundere und von denen ich am stärksten
strikten Sinn partikulär ist; selbst wenn viele konkrete Situationen zu lernen hoffe, wenn ich mit dem Freund zusammen bin, indem
die gleiche Tugend als richtige Antwort erfordern (z. B. Mut), be- ich ihn gut genug kennenlerne, um seine besondere Art des Seins
steht doch die ursprünglichere Fähigkeit darin, zu erkennen, daß wertzuschätzen, seine subtilen Schichten der Wahrnehmung, der
es diese besondere Situation ist, die Mut als Antwort (Aktion) erfor- emotionalen und rationalen Abwägung, die seine offenen (für
dert. Und um diese Fähigkeit in meinem Leben zu perfektionieren, alle sichtbaren) Handlungen ermöglichen. Mit anderen Worten,
brauche ich die Hilfe meines Freundes, indem ich Zeuge bin, wie Freundschaft wird als eine Beziehung betrachtet, die untrennbar
er sie in seinem Leben verwirklicht. Mit anderen Worten, ich kann mit den aristotelischen Begriffen >Tugend< und >telos des Lebens<
nur in dem Maße etwas Wertvolles qua Bezeugen der Handlung verbunden ist. Freunde können aus der Verbindung mit dem je-
einer anderen Person lernen, in dem es mir gelingt, Zugang zu fin- weils anderen Gewinn ziehen, aus der Beziehung, die sie aufbauen,
den zu den Bemühungen der Wahrnehmung und Überlegung, die pflegen und schützen - nicht in einem instrumentellen Sinn (der
in entscheidender Weise der manifesten Handlung, d. h. dem, was sie austauschbar machen würde), sondern in einem moralischen
Sinn, der auf Tugenden basiert. In dieser Perspektive ist der Freund
i Aristoteles (1972), Ii69b30,117034, S. 227. unverzichtbar für meine moralische Entwicklung und daher von
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entscheidender Bedeutung für meine Chancen, ein gutes Leben zu bevor er in den Ruhestand geht, wobei er sich in seinen vierzig Ar-
führen. beitsjahren mindestens dreimal beruflich verändert). Rico begann
Die Situation, in der wir uns befinden, scheint die zu sein, daß als technologischer Berater eines großen Unternehmens, aber nach
wir Modernen einen Teil von Aristoteles' Konklusion haben wollen, ein paar Jahren gründete er seine eigene Beratungsfirma. Er ist mit
aber keine seiner Prämissen. Wir sind nicht bereit, Freundschaft einer Frau verheiratet, die im Management eines Großunterneh-
aufzugeben, wollen nicht aufhören, Freundschaft als lebenswichtig, mens arbeitet; das Paar hat zwei Kinder.
als zutiefst bedeutsam für die Qualität unseres Lebens anzusehen. Nach diesen Kriterien ist Rico jemand, der etwas im Leben er-
Aber - und hier erscheint die oben erwähnte Spannung - wir op- reicht hat. Aber je länger Sennett ihm zuhört, desto klarer wird es,
ponieren gegen die starken Verbindungen, die Aristoteles zwischen daß Rico keineswegs zufrieden ist. Worin besteht sein Problem?
der Freundschaft und der Kultivierung der Tugenden herstellte, die Rico sagt, er fürchte, die Kontrolle zu verlieren. Es wird jedoch
uns helfen soll, zu einem im telos begründeten guten Leben zu ge- deutlich, daß er von etwas weitaus Tieferem beunruhigt ist, als in
langen. seiner Arbeit Macht und Einfluß zu verlieren. Er fürchtet, daß
Daß starke gesellschaftliche Trends den wesentlichen Kompo- »die Überlebens- und Handlungsbedingungen in der modernen
nenten der Freundschaft zuwiderlaufen, sollte jedoch nicht zum Wirtschaft sein inneres emotionales Leben aus dem Gleichgewicht
Schluß verleiten, daß Freundschaft ihre Bedeutung verloren habe. gebracht haben«.2 Warum? Zunächst einmal sind Rico und seine
Ich möchte dafür plädieren, daß gerade das Gegenteil der Fall ist. Frau aufgrund ihrer häufigen Wohnungswechsel nicht in der Lage,
Die Tatsache, daß die vorherrschenden sozialen Bedingungen die den Kontakt mit Kollegen und Freunden aufrechtzuerhalten. Da
zentralen Werte der Freundschaft in Frage stellen, macht diese selbst es üblich geworden ist, ständig umzuziehen, erwarten die neuen
nicht bedeutungslos. Vielmehr kommt der Freundschaft in dieser Nachbarn gar nicht, daß man länger bleibt. Und das beeinträch-
Situation - gerade wegen ihrer Unzeitgemäßheit - eine kritische tigt die Bereitschaft der Menschen, sich persönlich und emotional
Funktion zu, die ihr nicht von Aristoteles zugeschrieben worden zu engagieren - nicht nur am Arbeitsplatz, sondern auch in der
ist: Freundschaft wird zu einem Korrektiv der sozialen Welt, wie Nachbarschaft und im Freundeskreis. Berufliche und geographi-
sie jetzt in Erscheinung tritt. Wenn letztere der freundschaftlichen sche Mobilität wird als Bedrohung für die Tiefe und Dauer von
Beziehung zwischen Personen feindlich gegenübersteht, dann wird Beziehungen erlebt.
über die gegenwärtige Gesellschaft ein vernichtendes Urteil ausge- Dennoch liegt Ricos eigentliches Problem woanders. Es besteht
sprochen, nicht über die Bedeutung der Freundschaft. darin, daß »er seinen Kindern sein Berufsleben nicht als ein ethi-
Dies ist meine erste These. Ich werde sie in mehreren Schritten sches Vorbild empfehlen kann. Die Qualitäten einer guten Arbeit
entwickeln. Beginnen möchte ich mit dem Vorschlag, Richard Sen- sind nicht die Qualitäten eines guten Charakters«.3 Das liegt daran,
netts Buch Der flexible Mensch. Die Kultur des neuen Kapitalismus daß Rico in einer Zeit lebt, deren Motto lautet: »Nichts Langfristi-
als eine Geschichte der belasteten Bedingungen der Freundschaft ges«. Dieses Motto, das für die Bedingungen seines professionellen
zu lesen. Lebens so entscheidend ist, liegt in ständigem Widerstreit mit der
Entwicklung seines eigenen Charakters, besonders im Zusammen-
hang mit Freundschaft und Familienleben. »Nichts Langfristiges«,
II. so Sennett, ist ein Prinzip, das Vertrauen, Loyalität und wechsel-
seitige Verpflichtung aushöhlt. Angewandt auf die Familie, würde
Die Hauptfigur in Sennetts Buch ist Rico, ein Amerikaner Ende
2 Sennett (1998), S. 22. (A. d. Ü.: Meine Ubersetzung der zitierten Passagen aus
dreißig. Rico ist im Lauf seines vierzehnjährigen Arbeitslebens vier- Sennetts Buch weicht manchmal leicht von derjenigen Martin Richters in der
mal umgezogen (laut Statistik wechselt ein im College ausgebilde- vorliegenden deutschen Ausgabe ab.)
ter männlicher Amerikaner durchschnittlich elfmal die Wohnung, 3 Ebd., S. 24.
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es bedeuten: Bleib beweglich, verpflichte dich zu nichts und bring den Tugenden und Werten, die von seinem Vater gehegt und re-
um Gottes willen keine Opfer. Rico gesteht, daß er sich wie ein präsentiert wurden. Da jedoch die Gesellschaft seines Vaters eine
Idiot vorkommt, wenn er mit seinen Kindern über Verpflichtung erfolgreiche Lebens- und Handlungsweise gemäß diesen Werten
oder Engagement zu reden versucht: »Für sie ist das eine abstrak- unterstützte, ist Ricos sturer Ehrgeiz, die väterlichen Vorstellungen
te Tugend, sie sehen sie nirgendwo.«4 Ricos Sorge um Tugenden, zu kopieren, zum Scheitern verurteilt. Rico ist jemand, der nach
um Verpflichtung und Vertrauenswürdigkeit wird dysfunktional dauerhaften Werten und starken, tiefen Beziehungen strebt - in
in einer Zeit, in der Anpassung an schnelle Veränderungen, Han- einer Gesellschaft, die auf das genaue Gegenteil hin angelegt ist.
deln auf kurze Sicht und Vermeidung von dauerhaften Bindun- Die Spannung, die durch diese Diskrepanz zwischen dem morali-
gen und Verpflichtungen als Voraussetzungen für ein erfolgreiches schen Ideal und der gesellschaftlichen Realität hervorgerufen wird,
Berufsleben angesehen werden. Die Tugenden, die Rico als Vater droht Rico zu zerreißen: Sie hält ihn in einem ständigen Konflikt,
verkörpern und seinen Kindern nahebringen möchte, sind allesamt einem Konflikt, den er nicht lösen kann, weil dessen tiefere Ursa-
langfristige Tugenden; sie werden genährt durch starke Bindungen, chen außerhalb seiner Kontrolle liegen. Weit davon entfernt, Har-
entwickelt über die Zeit gegenüber denselben Personen in einer monie und Glück in seinen persönlichen Beziehungen herzustellen,
Umgebung der Stabilität, in der man es für selbstverständlich hält, löst das Festhalten an den Werten der auf Dauer angelegten Ver-
daß die Dinge - einschließlich der Beziehungen - eine Dauer ha- pflichtung und der starken Beziehungen einen unlösbaren inneren
ben. Ricos zentrales Problem ist daher, daß genau das Verhalten, Konflikt aus, der tragischerweise gerade die Charaktereigenschaften
das ihm Erfolg (oder wenigstens das Uberleben) in seiner Arbeit unterminiert, die er als seine Ideale betrachtet.
verspricht, ihm wenig gibt, das als elterliches Rollenmodell für sei- An dieser Stelle könnte man einwenden, daß Sennetts pessimi-
ne Kinder taugt. Es geht nicht darum, in der Lage zu sein, das stische Schlußfolgerung auf einer äußerst umstrittenen Prämisse
Verhalten von einem Kontext auf einen anderen zu übertragen, beruht. Die Prämisse ist zum einen empirisch-soziologisch, zum
sondern gerade um das Gegenteil, nämlich, wie man es fertigbringt, anderen normativ: nämlich, daß es in früheren Perioden des Kapi-
»Familienbeziehungen davor zu schützen, dem Denken in kurzen talismus eine enge und harmonische Verbindung zwischen Arbeit
Fristen nachzugeben, dem Konferenz- und Meeting-Stil und vor und Familie, zwischen Berufs- und Privatleben gegeben habe, in
allem der Loyalitätsschwäche und Bindungslosigkeit, welche die dem Sinn, daß dieselben Charaktereigenschaften und moralischen
moderne Arbeitswelt kennzeichnen«.5 Sennett faßt die Gesamtpro- Tugenden wie Integrität, Loyalität und Pflichtbewußtsein in bei-
blematik so zusammen: »Wie können langfristige Ziele in einer auf den Zusammenhängen gefordert und gefördert wurden. Nur unter
Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft verfolgt werden? Wie sind dieser Voraussetzung würde beispielsweise einem Vater der Versuch
dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein gelingen, in seinem Beruf jemand zu sein, von dessen Eigenschaften
Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten zu lernen und von dem als ihrem moralischen Vorbild? während
besteht, seine Identität zu einer Erzählung bündeln?«6 Sennetts der gesamten Sozialisation in der Familie erzogen zu werden er sei-
These ist, daß der auf kurze Fristen festgelegte Kapitalismus Ricos nen Kindern wünschen würde. Der normative Aspekt der Prämisse
Charakter auszuhöhlen droht, »insbesondere solche Charakterzüge, besteht dann in der Uberzeugung, daß eine solche Harmonie und
die Menschen aneinander binden und jeden mit einem Sinn für das Kontinuität im Handeln und Dasein einer Person zwischen den
stabile Selbst ausstatten«.7 beiden Bereichen bestehen sollte.
Rico sitzt somit in der Falle. Er bleibt einerseits loyal gegenüber Soweit ich sehe, gibt es für diese Prämisse in Der flexible Mensch
keine explizite Rechtfertigung. Manche Leser werden dies als die
4 Ebd., S. 29.
5 Ebd., S. 31. größte Schwäche der Studie Sennetts betrachten. Denn man ist ver-
6 Ebd.
7 Ebd. 8 Im Original deutsch (A. d.Ü.).
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sucht zu fragen: Hat eine Harmonie zwischen den verschiedenen tation vorschlagen, nämlich daß unsere Zwangslage nicht durch
sozialen Sphären je bestanden? Oder normativ gefragt: Ist es ange- eine wachsende Fragmentierung gekennzeichnet sei, sondern durch
sichts der zunehmenden Differenzierung der Wert-Sphären (We- das genaue Gegenteil. Als Effekt »eines der größten absichtlichen
ber) in der Moderne nicht viel natürlicher, wünschenswerter und Kategorienfehler der menschlichen Geschichte«, wie er es nennt,
angemessener, daß man jeder Sphäre zugesteht, ihre eigenen Werte hat sich eine spezifische Form der Rationalität, die »ökonomische«,
und Mentalitäten zu kultivieren? Mehr noch, sind nicht gerade die durchgesetzt, die alle anderen Formen beherrscht, so daß die Logik,
Unterschiede zwischen den sozialen Bereichen ein Kennzeichen des die «'»er sozialen Sphäre angemessen ist, d. h. ökonomischem Han-
Fortschritts? Warum also sollte derselbe Verhaltenskodex in funk- deln, alle anderen Sphären und Aktivitäten zu durchdringen be-
tional so unterschiedlichen Sphären wie Beruf und Familie gelten? ginnt. »Wenn alles sich in Arbeit erschöpft«, schreibt Fevre, »bleibt
Anscheinend vertritt Sennett ein narratives Modell des Selbst so- einiges auf der Strecke. Für gemeinsames Musizieren, für Rituale
wie die entsprechenden Voraussetzungen für die Formierung einer und Gebete, fürs Schreiben von Tagebüchern und langen Briefen
kohärenten Identität, das heißt, einer Identität, die einer Person an Freunde und geliebte Personen, für Spaziergänge auf dem Lan-
trotz der vielen sozialen Rollen zugeschrieben werden kann. Die zu- de, für Kontemplation ist weder Raum noch Zeit«.10
grundeliegende These, typisch für die Tugendethik, besteht darin,
daß das Individuum eine positive Verbindung erfahren muß zwi-
schen dem, was es ist (oder sein möchte) und was es tut, sowie dem, III.
was es wertschätzt, wenn es sich zwischen immer mehr Handlungs-
kontexten hin und her bewegt. Das Individuum bedarf der Erfah- Was passiert angesichts dieser Entwicklung mit der Freundschaft?
rung, daß seine Absichten und Werte einerseits und deren Konse- Eine erste Hypothese könnte lauten, daß Freundschaft sich über
quenzen, also der Einfluß auf die ihn umgebende Welt, andererseits diese Sphären hinwegsetzt, deren Diskrepanz hinsichtlich der kurz-
miteinander verbunden sind. Sobald diese Verbindung nicht mehr fristigen und langfristigen Werte Sennett so sehr beklagt. Das heißt,
erlebt wird, sobald sie unterbrochen ist und nicht wieder herge- Freundschaft kann in jedem (oder zumindest in mehreren) der
stellt werden kann, wird dies für das Individuum zum Problem; Handlungskontexte entstehen, zwischen denen sich die Menschen
nicht nur zu einem philosophischen oder existentiellen Problem, heutzutage so rasant hin und her bewegen - allerdings, falls wir der
sondern zu einem Problem, das körperliches und seelisches Leiden düsteren Diagnose Sennetts folgen, begleitet von dem zunehmen-
verursacht. Kurz, die These besagt, daß es nur ein kleiner Schritt den Gefühl des Verlusts eines übergeordneten Sinns und Zwecks.
ist vom Verlust dieser Verbindung zur Entwicklung verschiedener Angenommen, es sei so: Warum sollten solche Freundschaften nicht
Formen von Psychopathologie. Obwohl man sicherlich darüber gleichsam quer durch alle Bereiche aufrechtzuerhalten sein, warum
streiten kann, ob die sich immer weiter öffnende Schere zwischen also sollte mein Freund aus der Zeit unserer Zusammenarbeit nicht
den Verhaltenskodizes, die von den verschiedenen Sphären gefor- mein Freund bleiben können, selbst wenn sich unsere beruflichen
dert werden, per se als ein soziologisches Problem betrachtet werden Wege getrennt haben?
sollte, besteht kein Zweifel daran, daß es ein psychologisches Pro- Zweifellos passen viele konkrete Fälle von Freundschaft zu dieser
blem ist. Das wird durch die Zunahme insbesondere von Depres- Beschreibung. Die beiden betreffenden Personen überschreiten eine
sion und Burnout-Syndrom sowie den dadurch hervorgerufenen Reihe von Grenzen, wechseln ihre Arbeitsstellen, finden neue Ehe-
dramatischen Anstieg der Einnahme von Antidepressiva während partner usw. (gerade so, wie Sennett es beschreibt) - aber bleiben
der letzten zehn Jahre klinisch belegt.9 dennoch Freunde. Dieses Auf und Ab, diese Anfänge und Schluß-
Man könnte auch - wie Ralph Fevre - eine andere Interpre- punkte bedeuten sicherlich erhebliche Einschnitte in den jeweili-
9 Ehrenberg (2000); 0stergaard und Willig (2005). 10 Fevre (2000), S. 203 und 213.
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gen Biographien beider — dennoch müssen sie die Dauer oder sogar alle ihre Handlungen eine irreduzible, nicht delegierbare Verant-
Vertiefung der Freundschaft keineswegs verhindern. Vielleicht ge- wortung übernehmen. In dem Maß, in dem der Wohlfahrtsstaat
ben die soziologischen Faktoren, auf die Sennetts Analyse aufmerk- durch die neoliberale Politik abgebaut wird, heißt Verantwortung
sam gemacht hat, der Freundschaft tatsächlich erst die Bedeutung Eigen-Verantwortungu und Schuld Eigen-Schuld}'' Falls es jeman-
der Nachhaltigkeit: Freundschaft hat ihren eigenen Ort gerade da, dem nicht gelingt, voll verantwortlich zu sein und zu handeln, er-
wo andere Bindungen und Beziehungen gefährdet sind und unter klärt die Gesellschaft - qua Sozialgesetzgebung, Arbeitslosigkeit,
einem sozialen und wirtschaftlichen Druck stehen. »Freundschaf- Strafrecht usw. - die betreffende Person dafür verantwortlich, daß
ten gedeihen besonders dann, wenn in Zeiten schneller gesellschaft- sie Maßnahmen ergreift, um eben wahrhaft verantwortlich zu wer-
licher Veränderungen identitätsstiftende Zusammenhänge ausein- den: also genau die Handlungselemente bereitzustellen, die gefehlt
anderbrechen.«11 Sind wir also - entgegen dem oben dargestellten haben, mit anderen Worten: Verantwortung dafür zu übernehmen,
Pessimismus - heute Zeugen einer Situation, die eine Wiedergeburt daß man sich selbst nicht als voll verantwortlicher Akteur erwiesen
der Freundschaft begünstigt? hat. In dieser Situation wird jede und jeder von der Gesellschaft
Das Problem dieses Vorschlags besteht darin, daß Freundschaft - und wahrscheinlich auch von den Betreffenden selbst - für Er-
auf vielen Voraussetzungen beruht, die gegenwärtig bedroht sind. folg und Mißerfolg verantwortlich gemacht. Das hat allerdings
Wenn Rico beispielsweise aus beruflichen Gründen umziehen einen hohen Preis. Wie Klaus Günther hervorhebt: »Der Verant-
muß, werden seine Frau und die Kinder wohl mit umziehen, wortungsdiskurs vereinzelt«, denn »der Imperativ der Eigenverant-
nicht aber seine Freunde. Und weil das jeder weiß, beeinträchtigt wortung erweist sich nicht als eine Ermächtigung, sondern als eine
dies - wie Sennett hervorhebt - wahrscheinlich die Bereitschaft, Disziplinierung«, die man als »explizite und verstärkte Selbststeue-
Freundschaften überhaupt einzugehen. Intensität und Dauer, bei- rung und Selbstüberwachung« in praktisch allen Lebensbereichen
des vitale Elemente der Freundschaft, sind gefährdet durch die beobachten kann.16
zunehmende Mobilität in allen Lebensbereichen. Natürlich ist es Wer hätte in dieser Lage nicht gern einen Freund, in Situationen,
fraglich, ob zwei Personen die gleichen Lebensziele haben müssen in denen man sich selbst zum ärgsten Feind wird, der einen gna-
und das Gefühl, diese zu teilen, um enge Freunde zu werden. Eine denlos bis an den Rand der Erschöpfung treibt? Aber die Tatsache
Folge des Individualisierungsprozesses12 wäre sicherlich, daß jedes dieser Bedürftigkeit trifft nicht den Kern der Sache. Was vielmehr
Individuum sein eigenes Lebensprojekt verfolgt, ein Projekt, dessen Aufmerksamkeit verdient, ist das Paradox, das hier entsteht: Die
Ziel gerade darin besteht, die Differenz zwischen den Individuen Faktoren, die dafür verantwortlich sind, daß man Freunde braucht,
(auch wenn sie befreundet sind, dürfen wir annehmen) hervorzu- sind die gleichen, die zu verhindern drohen, daß Freundschaft über-
heben, um dem Ideal der Selbstverwirklichung zu entsprechen, das haupt entstehen kann. Die gegenwärtige Individualisierung hat den
die gegenwärtige Gesellschaft kennzeichnet. Heute scheint dieses Effekt, das Individuum in einem nie gekannten Maß verletzbar zu
Ideal mehr als ein moralisches Ideal zu sein: Selbstverwirklichung machen — Mächten ausgesetzt, die außerhalb seiner Kontrolle und
wird als ein Recht betrachtet, als ein Gut, zu dem jedes Mitglied der Handlungsmöglichkeiten liegen, zugleich Mächten, denen jetzt
Gesellschaft berechtigt ist. Kürzlich wurde Selbstverwirklichung ideologisch die Rolle vorenthalten wird, über das Schicksal des ein-
jedoch in eine Forderung umgewandelt, in einen von der sozialen zelnen zu entscheiden. Wie wir gesehen haben, forciert die herr-
Umgebung an das Individuum gerichteten Imperativ. Dieser ge- schende neoliberale, antiwohlfahrtsstaatliche, antigemeinschafts-
sellschaftliche Anspruch nimmt zunehmend strikte, verrechtlichtexi orientierte Ideologie die Auffassung, daß das Individuum genau die
Formen an, indem von den Individuen verlangt wird, daß sie für Kontrolle über (und Verantwortung für) alle Lebensentscheidungen
n Vernon (2006), S.137. 1 4 Im Original deutsch (A. d. Ü.).
1 2 Beck (1986). 1 5 Im Original deutsch (A. d. Ü.).
13 Im Original deutsch (A. d. Ü.). 1 6 Günther (2002), S.136.
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aufrechterhalten »muß«, die ihm und seiner lokalen Gemeinschaft weis dafür, daß wir beide unabhängig bleiben möchten. Erinnern
faktisch genommen werden, nicht zuletzt aufgrund der durch wir uns, daß für Aristoteles Freundschaft nur zwischen Gleichen
die Globalisierung entfesselten strukturellen sozioökonomischen entstehen kann, auf einer Basis von Symmetrie und Reziprozität;
Kräfte und der damit einhergehenden Gewalt. Die kommunalen, sobald eine Partei von der anderen abhängig wird, ist die Freund-
geschichts- und ortsgebundenen Quellen der Bedeutung, Identi- schaft ihrer Grundlage beraubt. Daher kann die Verschiedenheit
tät und Zugehörigkeit werden unter dem so entfesselten Angriff der verfolgten Ziele als Indiz für die Unabhängigkeit der Parteien
auf die kulturelle Partikularität und Lokalität zunichte gemacht,17 betrachtet werden. Indem ich meinem Freund Gutes wünsche oder
obwohl die Menschen geneigt sind zu glauben, daß das, was ih- das, was für ihn das Beste ist, muß ich bereit sein, ihm Glück bei
re spezifische Kultur und ihre Werte gefährdet, die rivalisierende Projekten zu wünschen, deren (impliziten oder expliziten) Zielen
Kultur, etwa der »arroganten« liberalen Elite sei, und daher nicht und Werten ich selbst nicht zustimmen muß, Ziele und Werte, die
verstehen, daß die beklagten und erlittenen Bedrohungen von den ich für mein eigenes Leben nicht annehmen würde. Unsere Unähn-
Imperativen der wirtschaftlichen Globalisierung ausgehen. Wie lichkeit wird zur Quelle der Bereicherung; sie ermutigt, ja zwingt
Thomas Frank argumentiert, um zu erklären, wie die Arbeiterklas- mich sogar, mich selbst in einem anderen Licht zu sehen und meine
se in Amerika zu einer strammen Anhängerschaft der Republikaner eigenen Ziele zu überdenken. Mit anderen Worten, Freunde zu sein
und zur stärksten Stütze von Bush geworden ist, »wird kulturbe- bedeutet, dem jeweils anderen als kritisches Korrektiv zu dienen.
dingte Wut eingesetzt, um ökonomische Ziele zu verfolgen«; die Es widerspricht diesem Verständnis nicht, daß ich die Prioritäten
Frustration, die durch Unsicherheit, Angst und Niederlagen ent- einzelner Handlungen seitens meines Freundes in Frage stellen
steht, wird systematisch umgeleitet, damit sie sich an kulturellen kann. Es geht vielmehr darum, daß, wenn ich sie in Frage stelle,
Themen (Homosexualität, Abtreibung, Diskriminierung) und an ich es nicht meinetwegen tue (etwa weil ich anderer Meinung bin),
»denen, die (bloß etwas) wissen«, entladen kann, während jene, sondern aus Sorge um meinen Freund, also zu bedenken gebe, ob
die (tatsächlich etwas) haben18 - also die Wirtschaftspolitik steuern die Prioritäten wirklich diejenigen sind, die dazu beitragen, das zu
und materielle Interessen durchsetzen - , effektiv vor der Kritik ge- erreichen, was er für ein gutes Leben hält.
schützt werden.19 Das kann jedoch nicht alles sein. Sollte ich nicht auch seine ei-
gentlichen Ziele und Werte selbst kritisieren dürfen, um ihm ein
»wahrer« Freund zu sein? Ich denke, ja - insbesondere seit wir in
IV. der Ära der Individualisierung leben, in der die Differenz sich zu
einem eigenen Wert herausbildet. Der entscheidende Punkt ist da-
Wie können Menschen, sofern sie die Ansicht teilen, daß jeder und her, daß meine kritischen Fragen bezüglich der tieferen Gründe
jede ftir sich selber zu sorgen hat, in einem auch nur entfernt ari- für seinen Willen und seine Wünsche, für die Verfolgung der Zie-
stotelischen Sinn Freunde werden? le, die er gewählt hat, für die Identität, die er etablieren möchte
Nehmen wir um des Argumentes willen an, daß Freundschaft usw., von ihm nicht als unfreundlich aufgefaßt werden und unsere
ohne die von Aristoteles betonte Gleichheit des telos auskommt. Die Beziehung nicht in Frage stellen. Freunde müssen die gegenseitig
Tatsache, daß mein Freund von mir verschieden ist, daß er gänzlich gewährte Freiheit in Anspruch nehmen können, um über »höher-
andere Ziele verfolgt als ich, kann positiv bewertet werden, als Be- stufige« Wünsche kritisch zu diskutieren. Falls darauf mit Ärger rea-
giert wird oder der Beschwerde, daß man sich in Dinge einmische,
1 7 Seabrook (2004). die niemand anderen etwas angehen, kann dies als ein Zeichen ge-
18 Für die englischen Redewendungen »those in the know« und »those in the have«
nommen werden, daß die Freundschaft dabei ist aufzuhören. Wi-
gibt es meines Wissens im Deutschen leider keine so kurzen und prägnanten
Entsprechungen. (A. d. IL) derstand in Form von profunden persönlichen Infragestellungen
19 Frank (2004), S. 6. sollte als das genommen und anerkannt werden, was er - auf subtile
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Weise - ist, nämlich Unterstützung. Ich kümmere mich ernsthaft und zynisch vor, und anstatt ihn auf seinen Schmerz anzusprechen
um das, was du tust und was dir dadurch geschieht; deshalb stelle und zu versuchen, ihn zu verstehen und zu trösten, wäre ich vor
ich dein Tun in Frage. allem mit dem Verlust seiner heiteren Natur als meinem Verlust be-
Aus diesem Grund wird die Sorge um mein Wohlergehen, die schäftigt, als etwas, was negativ auf mich wirkt. »Ein Freund in der
mein Freund zeigt, manchmal die Form einer ausgesprochenen Op- Not ist ein wahrer Freund«, wie das Sprichwort sagt. Mein Punkt
position gegen meine eigene Wähl annehmen. Ein guter Freund ist hier ist, daß plötzliche Ereignisse meinen Freund verändern kön-
eine Person, die meine Geschichte und meinen Charakter kennt; nen; den Kontakt mit den Merkmalen seiner Persönlichkeit, die ich
eine Person, die fähig ist, schnell und mit einem Minimum an In- liebgewonnen hatte, zu verlieren heißt nur, andere, dunklere und
formation zu erfassen, in welcher Situation ich mich gerade befinde unsympathischere Facetten kennenzulernen.
und was für mich auf dem Spiel steht. Zu wissen, was mir in der Kehren wir zurück zum Thema Unterschiede zwischen Freunden
Vergangenheit passiert ist, verfeinert den Sinn meines Freundes und somit auch zum Thema Widerstand. Es ist eine Sache, darauf
für die Ängste und Hoffnungen, die ich angesichts einer plötzlich hinzuweisen, daß ein Freund berechtigt ist, gegen meine Entschei-
auftretenden neuen Entwicklung in meinem Leben verspüre. Die dungen Widerspruch einzulegen - im Sinne des für mich Guten,
Reaktion meines Freundes darf daher unverblümt und direkt sein. versteht sich. Eine ganz andere Sache ist, ob wir eine solche Oppo-
Er wird in der Lage sein, mich an meine starken und schwachen sition tatsächlich wünschen. Wie gehen wir damit um, wenn es
Seiten zu erinnern, an meine Erfolge wie an meine Niederlagen. soweit kommt?
Er wird mir helfen zu erkennen — vielleicht genauer und weniger Nicht zufriedenstellend wäre die Antwort, daß es strikt von den
einseitig, als ich es selber könnte - , was die neue Entwicklung für Individuen abhängt, wie sie reagieren: ich anders als du, aufgrund
mich bereithält. unserer unterschiedlichen, weil durchaus individuellen Lebensge-
Allgemeiner gesagt, wird mein Freund dank der Ehrlichkeit und schichten und Reaktionsweisen. Ich möchte daher die Frage eher
Wahrhaftigkeit, die zwischen engen Freunden besteht, mir helfen, als soziologische stellen.
der Beschränkungen meiner Uberzeugungen gewahr zu werden, Wer hat in der gegenwärtigen Gesellschaft, falls überhaupt je-
meiner Charakterfehler und der Reizbarkeit meines Temperaments. mand, das Recht, sich in meine Angelegenheiten und Entscheidun-
Freundschaft birgt eine gesteigerte Weisheit, ein Wissen, das ich gen einzumischen, Entscheidungen, die mein Leben betreffen und
dank meines Freundes über mich selbst erlange, weil Freundschaft die ich gemessen an meinen Werten, Prinzipien und Idealen für
ein Interesse am anderen als ganzer Person bedeutet, im Unterschied optimal halte?
zum Interesse an der spezifischen Rolle oder Position eines anderen Wie oben erwähnt, impliziert der allgemeine, von Beck als »Indi-
(etwa im Fall von Kollegen). Meistens werden Beziehungen durch vidualisierung« bezeichnete Prozeß eine Tendenz zur Privatisierung
irgendeinen ausgewählten Aspekt der anderen Person bestimmt. aller Entscheidungen, die mit »Lebensprojekten« zu tun haben. Da
Solche Selektivität ist bei der Freundschaft nicht gegeben. Sobald solche Fragen in der ersten Person Singular gestellt werden - »Was
ich anfange, meinen Freund wegen irgendeines Charakterzugs oder mache ich aus meinem Leben?«, »Welche Werte sind mir wichtig,
einer speziellen Fähigkeit zu schätzen, und alles andere außer acht welchen Idealen möchte ich entsprechen?« —, müssen sie auch in
lasse oder mit Gleichgültigkeit zur Kenntnis nehme, was seine Per- der ersten Person Singular beantwortet werden. Angenommen, wir
son in ihren einzigartigen Dimensionen ausmacht, bewirke ich eine nehmen das für bare Münze, wo bleibt da noch ein Platz für die
Verengung von Engagement und Interesse, die der auf Ganzheit Rolle der anderen?
wesentlich angelegten Freundschaft fremd ist. Wenn ich zum Bei- Die andere Seite der heutzutage vorherrschenden Unabhängig-
spiel an meinem Freund seinen Humor schätze, seine optimistische keit und Autonomie der Entscheidung ist die Tatsache, daß das
Weltsicht, wäre ich unvorbereitet und unfähig, auf ihn zu reagieren, menschliche Individuum ein abhängiges Wesen ist - ob man will
wenn seine Ehe auseinanderbricht; er kommt mir nun verbittert oder nicht. Daher haben wir statt einer unbeschränkten Herrschaft
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individueller Wahl- und Entscheidungsautonomie in allen Lebens- ein Freund sich die Freiheit nimmt, das, was mir erklärtermaßen
bereichen eine Situation vor uns, in der die Posten der Autorität am meisten am Herzen liegt, in Frage zu stellen und sogar zu ver-
verlassen sind, aber nur, um neu besetzt zu werden. Es ist niemals urteilen. Finde ich diese Kritik gut?
der Fall, daß Individuen komplett ohne solche außerindividuellen Die Antwort hängt davon ab, welche Rolle ich einem Freund in
Instanzen ihr Leben gestalten und ihr Tun bestimmen. bezug auf mein persönliches Leben zubillige. Welche Feinfühligkeit
Bevor wir fragen, wer oder was die leeren Plätze der Autorität bei diesem Thema erforderlich ist, besonders heute, zeigt sich in
besetzt, möchte ich betonen, daß ich nicht der Auffassung bin, die Folgendem: Wenn mein Freund tatsächlich meine zutiefst empfun-
Rede von der Individualisierung sei nur Ideologie oder Rhetorik, denen Werte offen kritisiert, werde ich dies nicht als seine Zurück-
hätte also keine empirische Grundlage. Sie hat sehr wohl eine. weisung von mir, von mir als Person, auffassen müssen? Indem er
Authentizität ist eine zentrale Eigenschaft (oder eher Dimension) meine Werte zurückweist, solche, mit denen ich mich ganz und gar
der Individualisierung. Jedes Individuum ist mit »Selbstverwirkli- identifiziere, weist er damit nicht auch mich zurück? Ist es möglich,
chung« befaßt, und es gilt die Annahme, daß jedem die Chance Faktoren, die so eng verbunden sind, zu trennen? Um es so pointiert
zur Entfaltung ihrer oder seiner Einzigartigkeit als Person zu geben wie möglich zu formulieren: Was, wenn mein Freund sagt: »Klar,
sei. Anerkennung von anderen muß jedoch erfolgen, falls das In- du hast so gehandelt, daß du dein gewähltes Ziel erreicht hast. Aber
dividuum erfolgreich ist. Sich auf Selbstverwirklichung einzulassen anstatt dir zu diesem Erfolg zu gratulieren, bin ich der Meinung,
bedeutet daher, sich verletzbar zu machen und der möglichen Zu- daß du es erst gar nicht hättest verfolgen sollen - nicht einfach, weil
rückweisung durch andere auszusetzen. ich persönlich dieses Ziel für alles andere als erstrebenswert halte,
Diese Situation evoziert eine Reihe von Fragen, die hinsichtlich sondern weil ich, da ich dich so gut kenne, dir sagen möchte, daß
der Rolle der Freundschaft relevant sind. Ist mein Freund jemand, es ganz und gar gegen deinen Charakter verstößt, so daß du deine
der mein Verlangen, eine authentische, mir selbst und meinen Idea- eigentlichen Wünsche und Bestrebungen, dein wahres Potential als
len treue Person zu werden, bestätigt? Oder ist mein Freund je- die Person, die du bist, verfehlst, anstatt sie zu verwirklichen, wenn
mand, der mein Verhalten analysiert und bewertet, es mal streng du dich diesem Ziel (Job, Tätigkeit, Partnerin usw.) verschreibst.«
kritisiert, mal lobt? Jemand, dessen Reaktion — manchmal negativ, Wie darauf antworten? Bin ich verpflichtet, da dies im Rahmen
manchmal positiv - mich zutiefst berührt, denn es ist ja das, was einer Freundschaft gesagt wird und somit gleichsam der morali-
mein Freund mir über mich erzählt? schen Logik der Freundschaft unterliegt, meinem Freund das Recht
Noch grundlegender ist jedoch eine andere Frage. Ist mein einzuräumen, mich auf einer so grundlegenden Ebene, auf der Ebe-
Freund jemand, der nur analysiert und bewertet, bis zu welchem ne meines Charakters, in Frage zu stellen? Oder hat er eine Grenze
Grad ich es schaffe, durch meine Wahl und Entscheidungen den überschritten, die selbst (die besten) Freundschaften respektieren
selbstgestellten Zielen und Idealen zu entsprechen - oder ist er müssen, um noch solche zu sein? Wenn ja, worin besteht diese
jemand, der nicht gewillt ist, sich auf solche »immanente Kritik« Grenze genau? Gehört sie zum Typus der stillschweigend anerkann-
zu beschränken, und es als legitim betrachtet, über meine Werte ten Grenzen, über die man nicht spricht, deren Tabuisierungsfunk-
hinauszugehen, sie als solche in Frage zu stellen und möglicher- tion wir jedoch sofort erkennen, wenn das Tabu gebrochen wird?
weise sogar zu verurteilen? In der Tat, sollte nicht gerade meinem Ich glaube, daß die fragliche Grenze als eine stillschweigende
Freund eine privilegierte Rolle als der Person zukommen, auf die Voraussetzung für Freundschaft fungiert. Sie erscheint nur, wenn
ich mich immer verlassen kann, um mich zu befragen - nicht nur sie überschritten wird, wie ich gerade sagte: Sie wird in dem Mo-
im Hinblick darauf, ob ich tatsächlich mein selbstgestelltes Ziel ment durchbrochen, in dem mein Freund bei einer bedeutenden
erreicht habe oder nicht, sondern, viel grundlegender, ob das Ziel Entscheidung meinerseits interveniert und behauptet, daß diese
es überhaupt wert ist, verfolgt zu werden? nicht »wirklich« der Person entspreche, die ich zu sein bestrebt bin.
Ich denke, wir haben schon alle diese Erfahrung gemacht, daß Mit anderen Worten, die Grenze wird sichtbar gemacht in dem
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Augenblick, in dem das Verhalten meines Freundes zeigt, daß er Gestalt20 zu geben, welche die gänzlich eigene Konzeption der Iden-
glaubt, er kenne mich besser als ich selbst. tität widerspiegelt, im Gegensatz zu jener, die von der Gesellschaft,
Aber kann eine andere Person das wirklich? Ist es nicht absurd, die einen umgibt, vertreten wird. Mit dieser neuen Entwicklung
so etwas zu implizieren? Ist irgend jemand - und sei es mein (ver- entsteht die Möglichkeit, »die Pferde mitten im Fluß zu wechseln«,
mutlich) bester Freund - dazu in der Lage und darf dann berech- d. h. eine Verlagerung von einer Identitätsgestalt zu einer anderen
tigterweise verlangen, dafür respektiert zu werden? Wenn meine vorzunehmen. Eine Redewendung besagt, daß wir (Post-)Moder-
Antwort »nein« wäre, was passiert dann mit unserer Freundschaft? nen unsere Identität - unseren persönlichen »Stil« - so oft wechseln
Kann sie eine solche Intervention überleben, wenn ich ihre Legiti- wie die Hemden. Das ist natürlich eine wilde Übertreibung, die-
mität zurückweise? se Beschreibung verweist aber dennoch auf ein Potential an freier
Um die verschiedenen Aspekte dieses Problems klarer sehen zu Wählbarkeit in dieser Ära, das früher undenkbar war.
können, sind ein paar allgemeine Bemerkungen notwendig. In der Eine solche Entwicklung scheint eine zunehmend losere, ent-
gegenwärtigen Gesellschaft wird Identität als etwas Optionales be- spanntere Verbindung zwischen dem Individuum und seiner Iden-
trachtet, im Gegensatz zu etwas Abgeleitetem, Ererbtem. Identität tität zu implizieren. Wenn selbst so »tiefsitzende« Merkmale einer
ist etwas, das jedes Individuum konstruiert. Zugleich entfaltet es in Person wie deren grundlegende Werte im Prinzip zur Disposition
diesem Prozeß seine höherstufigen Wünsche: welche Art von Pro- stehen, offen dafür, revidiert, zurückgewiesen und durch etwas ganz
jekten, Interessen und Tätigkeiten es als lohnenswert betrachtet, anderes ersetzt zu werden, dann hat Identität offenbar ganz ent-
welche Ideale und Werte es anstrebt usw. Bis vor kurzem noch et- schieden aufgehört, das Individuum wie in einem Käfig gefangen-
was Abgeleitetes, ist Identität heute eine Sache der Wahl. Ich wäh- zuhalten. Was als ein beträchtlicher Gewinn an Freiheit erscheinen
le, welche Person ich sein und als welche ich mich der Außenwelt mag, kann sich jedoch bei näherem Hinsehen als Illusion erweisen.
präsentieren möchte. Hier ist die moralische Handlungsfähigkeit nicht in gesellschaftlich
Diese Individualisierung und Optionalisierung berührt den (vor)definierten Rollen und Praktiken lokalisiert, sondern im Selbst
kulturellen und moralischen Diskurs über die Identität. Einer- - einem Selbst, das keinen spezifischen sozialen Gehalt und keine
seits kann das Individuum als weniger gebunden, weniger an seine gesellschaftlich zugewiesene Identität besitzt. Und gerade weil die-
»Identität« gefesselt erscheinen als früher. Indem die Identität einer ses Selbst in sich nichts Besonderes »ist«, ist es frei, was auch immer
Person eine Angelegenheit der »freien Wahl« geworden ist, dabei zu werden; es kann jede Rolle annehmen und nach Belieben jeden
emphatisch »individuelle«, angeblich eigene oder »authentische« Standpunkt vertreten. Unsituiert und vom historischen und sozia-
Präferenzen zeigt, scheint sie die Qualität des Schicksalhaften zu len Kontext »befreit«, ist dieses Selbst - indem es seine Identität
verlieren: Die Ära »wie der Vater, so der Sohn« gehört der Ver- konstruiert und rekonstruiert, während es sich von Situation zu
gangenheit an, d. h. einer Gesellschaftsform, in welcher personale Situation, von Rolle zu Rolle, von Arena zu Arena bewegt - nur der
Identität die Gesamtsumme der verschiedenen Rollen, Aufgaben Idee und dem Ideal verpflichtet, niemals irgend etwas Speziellem
und Verpflichtungen darstellte, die das soziale Umfeld jeder Person definitiv verpflichtet zu sein.
zuschrieb (ausgehend von solchen überindividuellen kollektiven Zu fragen ist hier: Wo bleibt dabei der andere? Meine These ist,
Faktoren wie Klassenzugehörigkeit und Geburtsort, von denen kei- daß die Rolle des anderen immer problematischer wird.
ner wählbar war). Während Identität als abgeleitete dem Individu- Betrachten wir Folgendes. Wenn »wer ich bin« und »was ich an-
um eine passive Rolle zuwies, die Rolle des Objekts nichtgewählter strebe zu sein (zu werden)« von mir allein entschieden werden muß,
Zuschreibungen und Erwartungen, versetzt Identität als konstru- dann ergibt sich die Frage, ob Kritik an meinen Entscheidungen,
ierte das Individuum in eine aktive Position, wobei die relative die (angeblich) enthüllt, wer ich bin und zu sein wünsche, jetzt
(schicksalhafte) Unfreiheit des alten Identitätscodes ersetzt wird
durch die historisch neue Freiheit, seiner eigenen Biographie eine 20 Im Original deutsch (A. d. Ü.).
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noch effektiv von mir als Person getrennt werden kann? Wird nicht ausmachen, darunter eher die weisen und erfahrenen als die jun-
Kritik an meiner Wahl als Kritik an mir aufgefaßt werden müssen? gen und unreifen Mitglieder. Hier ist ein Freund jemand, der aktiv
Macht nicht die Tatsache, daß ich gezwungen bin zu wählen, und versucht, daran mitzuwirken, daß eine andere Person sich entfalten
der Druck, jederzeit eine »optimale« Wahl zu treffen, mich ganz und den Zustand der eudaimonia durch Kultivierung der Tugenden
und gar verletzbar? und Neutralisierung (oder Verwerfung) der Laster erlangen kann,
Die normale Reaktion ist, glaube ich, die kritisierende Person und jemand, der zugleich besonders geeignet ist, zu beurteilen, in
zurechtzuweisen mit der Begründung, daß diese Art der Kritik un- welchem Maß dieses Ziel - verstanden als ein allen gemeinsames
angemessen sei, weil sie sich in persönliche Dinge einmischt, die Ziel - von der betreffenden Person erreicht wird.
die Betreffende nichts angehen. In historisch-vergleichender Per- Aus einer Reihe von Gründen, auf die ich nicht näher eingehen
spektive möchte ich behaupten, daß wir verletzbarer sind, wenn kann, ist die Antwort in unserem Zusammenhang unzureichend.
unsere Identität und unsere Werte als Produkte unserer (angeblich Die oben gestellte Frage - wer entscheidet, ob ein bestimmtes Le-
individuellen und freien) Wahl betrachtet werden als wenn die uns ben erfolgreich ist - kann nicht mehr dadurch beantwortet werden,
umgebende Gesellschaft sie uns zuschreibt. Wenn ich heutzutage daß man auf ein bestimmtes Individuum (d. h. jemandes Freund)
öffentlich sage, wer ich aufgrund meiner frei gewählten Lebensge- oder auf ein bestimmtes Kollektiv verweist, in dem jemand Mit-
staltung, verstanden als Summe all meiner erstpersönlichen Wah- glied ist. Die Entscheidungsinstanz ist vielmehr der Markt, indem
len, bin, dann stehe und falle ich - als Person schlechthin - mit die- er die Bemühungen um Erfolg bei den einen belohnt, bei den an-
sen Wahlen; so daß, falls sie von anderen zurückgewiesen werden, deren bestraft. Genauer gesagt, der Markt entscheidet jeweils über
ich — die Person, welche die Auswahl vornimmt und zugleich deren den Inhalt - den sozial und kulturell geteilten Gehalt von Erfolg
Produkt ist — mich ebenfalls zurückgewiesen fühle. Beides kann nur und Mißerfolg in einer Gesellschaft, Klasse oder einem spezifischen
analytisch, nicht aber existentiell und aufgrund von Erfahrungen sozialen Segment (Bourdieu), entscheidet darüber, was es heißt, auf
getrennt werden. Im Sinne Sartres bin ich unter diesen Umständen der einen und nicht auf der anderen Seite zu landen. Hier kommen
meine Wahl. wir einer objektiven Instanz, um heutzutage Erfolg und Mißerfolg
Die Ironie liegt darin, daß - wäre da nicht meine Verletzbarkeit zu messen, am nächsten: wie der Markt die individuelle Ausfuhrung
und mein Mangel an Selbstgenügsamkeit — ich überhaupt keinen bewertet. Im Gegensatz zu diesem nach Gesetzen von Angebot und
Freund nötig hätte. In den vergangenen etwa fünfzig Jahren ist der Nachfrage bestimmten Urteil müssen die Werte, die von einem In-
Verlust an intersubjektiv geteilten Gültigkeitskriterien, der Sartres dividuum, aber nicht von anderen gehegt werden, als hoffnungslos
existentialistische Auffassung prägte, zu einem viel umfassenderen subjektiv und somit willkürlich erscheinen.
Problem geworden: zu einem kulturellen, nicht nur philosophi- »Gib nicht auf«, singt Peter Gabriel, »denn du hast Freunde«,
schen Problem. vermutlich, um jemanden zu trösten, dem gerade übel mitgespielt
Ein Teil der Schwierigkeit besteht darin, daß das Individuum wurde durch irgendwelche neuesten Maßnahmen des Marktes. In
selbst im Ungewissen darüber ist, ob seine Ausführungen gemäß Zeiten der Entlassungen aufgrund von Auslagerungen {outsourcing),
der Autonomie in Rechten und Pflichten, ob all die Entscheidun- Betriebskonzentrationen (downsizing), fachlicher Dequalifizierung
gen, die wirklich im Leben zählen, nun erfolgreich waren oder und Herunterstufung (deskilling) sind Freunde dazu da, dem jüng-
nicht. Das Individuum bemüht sich, als erfolgreich, attraktiv, als sten Opfer der neoliberalen Modernisierung beizuspringen, ihm
Gewinner dazustehen. Aber es entscheidet dies nicht. Wer dann? zu bestätigen, daß sie oder er eine hochgeschätzte Person sei, die
Gemäß der oben skizzierten aristotelischen Auffassung wäre eine innere Werte besitzt (Würde, von Kant dem rein instrumenteilen,
Antwort, daß mangels eigener Entscheidung des Individuums des- auf dem Markt anerkannten Wert entgegengesetzt) trotz der Bot-
sen Freunde es tun; oder, um den Kontext zu erweitern, in dem die schaft, die der Markt einem einbleut. Freunde sind die Bewahrer
Bewertung eines Lebens stattfindet, die Menschen, welche die Polis und Schützer der Humanität, die in Kants Begriff der Würde zum
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Ausdruck kommt. Die kantische Grundlinie scheint zu sein, daß sind mir eine Quelle der Inspiration und etablieren ein moralisches
die Würde den Menschen (der Menschheit) insofern innewohnt, Ideal, dem ich mich anzunähern versuche. Der Vergleich, den ich
als Variationen auf der Ebene der Ausführung (Handlungen als zwangsläufig zwischen mir und anderen ziehe und der so oft darin
Folge der von autonomen Akteuren getroffenen Wahl) überhaupt resultiert, daß ich den Standard, den einige andere repräsentieren,
nichts auf der tieferen Ebene der Würde ändern können. Mit an- nicht erreiche, ruft hier Bewunderung statt Neid hervor. Der Ver-
deren Worten, selbst der übelste Verbrecher kann nicht so handeln, gleich fördert meine eigene Anstrengung, besser zu werden und
daß er sein fundamentales Personsein und dessen intrinsische Wür- alles aus meinen Möglichkeiten und Talenten herauszuholen; nicht
de verliert.21 dadurch, daß mir vorgeschrieben würde, jeden Zug meines bewun-
Aber wird eine solche Person nicht aller Wahrscheinlichkeit nach derten Freundes zu imitieren, sondern dadurch, daß ich inspiriert
ohne Freunde dastehen und somit ohne jemanden, mit dem man werde, die Einstellungen zu dem, was wirklich wichtig ist im Le-
die Freuden des Lebens teilt und von dem man Bestätigung, Unter- ben, was am meisten zählt und welche ich bei meinem Freund ver-
stützung und Respekt erfährt? Würde nicht jemand, der dazu neigt, körpert sehe, zu kultivieren. Indem ich sage, wen ich bewundere,
Laster anstelle von Tugenden zu kultivieren, ohne Freund sein und offenbare ich etwas Entscheidendes über mich selbst und die Art
so verurteilt zu einem kaum lohnenswerten Leben? Was wird also Person, die ich sein möchte.
in der Abwesenheit von anderen, die jemandes Würde tätig aner- So viel zur tugendethischen Perspektive hinsichtlich der Bedeu-
kennen und bestätigen, aus der Würde in ihren existentiellen und tung von Freundschaft. Die eben skizzierte Argumentation zeigt,
erfahrbaren Dimensionen? Was ist sie wert, diese kantische Würde, daß Performanz zählt, so daß je solider meine Gründe für die Be-
die abstrakt und formal ist, falls sie nicht konkret von anderen an- wunderung einer anderen Person sind, dafür, sie als mein Vorbild
erkannt wird? zu nehmen, ich desto lieber mit ihr befreundet sein würde. Was
Wenn wir die Sache so angehen, führt uns das natürlich vom aber, wenn diese Person verfehlt, sich in einer Weise zu verhalten,
kantischen zurück auf aristotelisches (um nicht zu sagen, hegelia- die ich bewundernswert finde?
nisches) Gelände. Ausführung, Performanz zählt - und zwar nicht Der extreme Fall ist natürlich die offenkundige Missetat, denn
nur in der oben erwähnten marktabhängigen Bedeutung, sondern es stellt sich hier der Frage der Vergebung. Wie Hegel und Hannah
auch in einem normativen Sinn. Eine Handlungsweise, die dahin Arendt betonen, ist Vergebung abhängig von einer Pluralität, der
tendiert, Freunde zu gewinnen und zu bewahren, zählt in Aristo- »Anwesenheit von Anderen, die mit-sind und mit-handeln. Denn
teles' Nikomachischer Ethik als eine eigene Tugend. Ohne Freunde niemand kann sich selbst verzeihen«.22 Läßt man einmal strafrecht-
wäre das Leben so viel ärmer und so viel weniger lebenswert. Freun- liche und juristische Verfahren beiseite - wäre nicht ein Freund des
de helfen uns, die Charakterzüge herauszubilden und die Hand- Missetäters der »andere« par excellence, der ihm verzeihen könnte,
lungen auszuführen, welche die Tugendlehre als wertvoll erachtet. weil dieser es nicht selber kann, und ihn dadurch von den Folgen
Genau zu beobachten, weise abzuwägen, klug zu handeln: Dies dieser einen schrecklichen Tat befreit? Ich denke, daß dem Freund
sind nicht nur die drei Fähigkeiten, die es braucht, um im Laufe des Missetäters tatsächlich eine privilegierte Rolle, eine besondere
der Zeit ein phronimos zu werden, es sind auch die Qualitäten, die Verantwortung zukommt, in Zeiten der Krise an dem »umfassen-
- im gefestigten Charakter einer Person verankert - diese Person deren Bild« festzuhalten und, obwohl diese eine Missetat sicher-
anziehend machen für andere, so daß diese mit ihr befreundet sein lich beklagenswert ist, so zu urteilen, daß sie keineswegs das volle
möchten. Das geht so: Ich bin stolz auf die Exzellenz von anderen, menschliche Repertoire des Missetäters erschöpf, geschweige denn
insbesondere, wenn sie meine Freunde sind. Ihre Güte, ihre Klug- ihn seiner (kantischen) Würde als Person beraubt. Der Freund
heit, die sich in ihren Entscheidungen und Handlungen ausdrückt, könnte also sagen: »Ja, das hat er getan, und sicherlich hätte er es
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nicht tun sollen. So wie ich ihn jedoch kenne, bin ich überzeugt ist für eine Freundschaft, ist nicht die Manifestation einer Differenz
davon, daß er sich in Zukunft von einer viel besseren Seite zeigen von Werten, sondern die Erwartung oder sogar Forderung, daß es
wird, entsprechend seinen grundlegenden Werten und Tugenden, eine solche Differenz nicht geben dürfe. Dafür haben wir einen
die er normalerweise in seinem Verhalten zu beherzigen versucht.« Namen: Intoleranz.
Ohne eine solche Bereitschaft des Freundes, dieses »größere Bild« Dieser Einwand muß ernst genommen werden. Gleichwohl und
im Blick zu behalten, könnte der Missetäter wohl verzweifeln. Das trotz der sympathisch klingenden Rhetorik der Toleranz in inter-
erinnert uns daran, daß Freundschaft unsere tiefsten allzu mensch- personellen Beziehungen geht der Einwand an der Sache vorbei.
lichen Verletzlichkeiten berührt: Der Unterschied zwischen deinem Warum?
Beistand und deiner Zurückweisung ist im Moment meiner Krise Zunächst einmal macht der darin verwendete Freundschaftsbe-
fast gleichbedeutend mit dem Unterschied zwischen einem Leben, griff diese spezifische Beziehung seicht und oberflächlich. Wenn
das noch lebenswert ist oder eben nicht. das Gewahrwerden tiefer, wertorientierter Differenzen zwischen
Ein weniger dramatischer Fall wäre, daß ich mich von meinem Personen, die einander als Freunde betrachten, keinen Unterschied
Freund enttäuscht fühle. Das muß überhaupt nicht heißen, daß hinsichtlich der Qualität und der Aussichten der Beziehung macht,
er sich tatsächlich mir gegenüber falsch verhalten hätte. Es geht was denn dann? Es reicht nicht, hier auf fehlenden Genuß oder
eher darum, daß ich mit irgendeiner Entscheidung oder Handlung, Nutzen hinzuweisen, denn eine so verstandene Freundschaft ent-
die andere betrifft, nicht einverstanden bin. Das berührt unsere spricht nicht den aristotelischen Standards. Was als »Toleranz« ge-
Freundschaft deshalb, weil die Einstellungen oder - tiefergehend feiert wird, erweist sich bei näherer Untersuchung als etwas anderes:
— die Werte, die mein Freund in seinem Verhalten an den Tag ge- als Gleichgültigkeit. Daraus resultiert die oben erwähnte Seichtheit:
legt hat, sich in meinen Augen bedeutend von dem unterscheiden, Der eine engagiert sich nicht wirklich für die spezifischen Werte
was ich - jedenfalls bisher — für unsere gemeinsame Auffassung oder fühlt sich nicht an sie gebunden, denen der andere, gemes-
hielt. Mit anderen Worten, in dem Augenblick, in dem diese tiefere sen an seinen gegenwärtigen Handlungen, faktisch anhängt. Hier
Schicht der Werte oder dessen, was Charles Taylor »starke Evalua- gibt es höchstens eine - vermutlich »wertneutrale« - Feststellung,23
tion« nennt, eher als Quelle der Differenz denn der Konvergenz nämlich daß der andere offenbar für etwas eintritt, für das ich nicht
zwischen meinem Freund und mir erscheint, ist die Freundschaft eintrete und niemals eintreten würde. Dies bloß zu beobachten,
als solche gefährdet. ohne daß die Frage nach der Zukunft der Beziehung, nach dem
Man könnte einwenden, daß diese Art, mit dem Thema umzuge- »Was nun?« gestellt werden darf, heißt, am Thema vorbeizureden
hen — weit davon entfernt, ein überzeugendes Bild vom Wesen der oder zumindest eine Herausforderung aufzuschieben, die - früher
Freundschaft zu zeichnen —, etwas zeigt, das mit Freundschaft ganz oder später — wiederkehren wird.
und gar nicht vereinbar ist, nämlich Intoleranz. Der Unterschied Aber damit ist der Einwand noch nicht zurückgewiesen. Wir
zwischen Individuen — in Ansichten, Einstellungen und Werten müssen uns noch klarer werden über die Natur der Uneinigkeit
- ist genau das Material, woraus Beziehungen gemacht sind; er ist hinsichtlich der Werte, die hier zentral ist.
für sie konstitutiv und keineswegs subversiv. Wenn das stimmt, Gemäß Aristoteles, aber auch Existentialisten wie Kierkegaard
dann hat meine Entscheidung, daß die andere Person nicht länger und Sartre und zeitgenössischen Philosophen wie Harry Frankfurt
als mein Freund betrachtet werden könne, sobald sie eine von mir und Charles Taylor zufolge teile ich der Welt durch jede Handlung,
(oder genauer: von meinen Idealen und Standards) abweichende die ich ausführe, mit, wer ich bin. Ich handle niemals in einem Va-
Auffassung zeigt, nichts mit Freundschaft zu tun. Im Gegenteil, hier kuum, sondern immer vor einem Publikum, das begierig ist, mein
zeigt sich, daß ich diese Beziehung durch und durch mißverstan- Handeln positiv oder negativ zu bewerten und somit Bewunderung
den habe, indem ich sie mit der Identität von individuell geteilten
Werten durcheinandergebracht habe. Was also wirklich destruktiv 23 Im Original deutsch (A. d. Ü.).
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oder Verdammung auszudrücken. Kurz gesagt, ich komme nicht strukturelle Transformation des Anerkennungsmodus in der Gesell-
umhin, ein Wesen zu sein, dessen fortwährendes Tun bedeutsam schaft - momentan durch die Imperative des Marktes kolonialisiert
ist für die gesellschaftlich gewährte (oder entzogene) Anerkennung — irgend etwas mit »Verdiensten« zu tun hat, so sind es Verdienste
(Hegel). einer vollständig extrinsischen Art, die den besonderen Qualitäten
Auf dieser wohlfundierten und sehr allgemeinen Prämisse be- der Leistung einer bestimmten Person nicht gerecht werden und
ruht meine These, daß Freundschaft eine besonders intensive oder damit, indirekt, auch nicht der Person selbst als Individuum.
»heiße« Anerkennungsbeziehung ist. Da mir ein Freund per defini- Wenn aufgrund der ihr eigenen Logik die Gesellschaft sich qua
tionem nahesteht und da die Reziprozität, welche der Motor jeder zunehmender Marktorientierung als unfähig erweist, das zu schät-
Freundschaft ist, die den Namen verdient, bedeutet, daß auch ich zen, geschweige denn anzuerkennen, was ein Individuum von allen
für meinen Freund ein außerordentlich signifikanter anderer bin, anderen in einem tieferen Sinn, der »starken Evaluation« (Taylor),
ist die Anerkennung qua Freundschaft höchst bedeutsam für die unterscheidet, dann muß, so scheint es, eine solche Wertschätzung
Qualität meines Lebens. Das heißt nicht nur, daß mein Freund in eben woanders geschehen. Aber wo? Die Antwort, die wir in Be-
der Lage ist, mir etwas zu geben, das ich mir selbst nicht geben kann tracht gezogen haben, ist: Freundschaft. Das heißt, Freundschaft
- Anerkennung ist etwas, das sich nur ersehnen läßt, etwas, von bewahrt die individualitätssensitive Entfaltung, Kommunikation
dem man abhängig ist - , und etwas, das ausschließlich andere mir und Anerkennung und läßt sie, die jetzt in fast allen anderen sozia-
aufgrund ihrer eigenen Freiheit gewähren können (Hegel, Sartre). len Bereichen fehlen, gedeihen. In dieser polarisierten Dynamik
Es bedeutet auch, daß die Anerkennung meines Freundes für mich übt die allgegenwärtige Unpersönlichkeit, Anonymität und somit
so viel mehr zählt als diejenige anderer Menschen. Entfremdung, die durch die Vermarktung der meisten Bereiche mo-
An diesem Punkt wird die zuvor schon angesprochene Frage derner Existenz verursacht wird, Druck auf die intime Beziehung
nach dem Stellenwert vorzüglicher Eigenschaßen und Verdienste in aus, als die wir Freundschaft ansehen — einen Druck, die Erfüllung
der Freundschaft relevant. Erinnern wir uns, wie unterschiedlich aller Bedürfnisse und Wünsche zu versprechen, die woanders nicht
der Markt Verdienste bemißt und wie Freunde dies tun. Die ge- zum Zuge kommen können. Mit Adorno läßt sich sagen, daß in ei-
genwärtige marktorientierte Gesellschaft wird häufig als meritokra- ner komplett »verwalteten Welt« die Intimsphäre — Familienleben,
tisch charakterisiert, aber ich finde das äußerst irreführend. Selbst Freundschaft — wohl als ein Refugium gedacht werden muß, das
der »beste« Angestellte, gemessen an seiner Ausbildung, Kompe- »eine der letzten Möglichkeiten, humane Zellen inmitten universa-
tenz und Produktivität, kann aufgrund makroökonomischer und ler Unmenschlichkeit zu bilden«, bereitstellt.24
struktureller Entwicklungen (Auslagerung, Betriebskonzentration, Erfüllt Freundschaft, so wie sie derzeit verstanden und praktiziert
Dequalifizierung), auf die sie oder er keinerlei Einfluß hat, vor- wird, diese Erwartung? Wie stehen die Chancen, daß Freundschaft,
übergehend entlassen werden. Trotz der hartnäckigen Ideologie, diese Insel des Beistands, der Loyalität und emotionalen Tiefe in
daß nur die eigene Leistung über Erfolg und Anerkennung ent- einem Ozean von gegenteiligen Imperativen, ihr Mandat unter
scheide, wird das individuelle Schicksal in Wahrheit durch zuneh- heutigen Bedingungen ausüben kann?
mend unpersönliche und anonyme Faktoren bestimmt. Tatsächlich
muß man die Langlebigkeit der protestantisch-kapitalistischen Lei-
rf««frideologie, der zufolge man bekommt, was einem aufgrund
der eigenen Verdienste zusteht, zum Teil darauf zurückführen, daß
sie dazu dient, die umfassende Verschiebung von individualitätsba-
sierten, von Face-to-face-Kiitenen der Bemessung und Gewährung
von Anerkennung hin zu überwältigend unpersönlichen und da-
mit individualitätsneutralen Kriterien zu vertuschen. Insofern diese 24 Zit. nach Bernstein (2001), S.47.
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V. Ich bin mit dieser weitverbreiteten Ansicht nicht einverstanden.
Obwohl - aber auch das ist strittig - die Artikulation einer solchen
Genau dies ist die Frage, die wir die ganze Zeit in den Griff be- Originalität allein der betreffenden Person zukommt, muß die Ent-
kommen wollten. Ich habe auf einige Faktoren hingewiesen, die deckung der spezifischen Natur dieser Einzigartigkeit nicht exklusiv
historisch und soziologisch zur prekären Situation der Freundschaft an die Person selbst gebunden und somit deren Privileg sein.
beigetragen haben, wie es dazu kam, daß ihr Preis so immens hoch Was Taylor macht, ist, den Part auszuschließen, den bei einer
erscheint. Das Versprechen der Freundschaft besteht, kurz gesagt, solchen Entdeckung eine andere Person spielt - die ich als Freund
darin, mir zu erlauben, ein Gemeinschaftsgefühl mit anderen, eine bezeichnen würde. Meine These ist, daß die Rolle des Freundes
moralische und existentielle Nachhaltigkeit der Kommunikation hier unentbehrlich ist. Was ist mein bester Freund, wenn nicht eine
und Zusammenarbeit zu erleben, die ich woanders vergeblich su- Hebamme beim Herausfinden dessen, wer ich bin und sein möchte?
che. Nur hier, nur mit dir und vielleicht ein paar anderen können Wenn nicht ein Geburtshelfer für die Entfaltung und Artikulation
meine tiefsten menschlichen Bedürfnisse befriedigt werden: als der von mir angestrebten Existenz, um, was immer an Originalität
das gesehen und behandelt zu werden, was ich bin, sogar als das, dabei entdeckt wird, zu manifestieren; um für andere sichtbar zu
was in einzigartiger Weise in mir steckt, als Potential meines Seins; machen, wie ich meine projektierte Existenz, meine Identität, mei-
unterstützt zu werden in meinen Stunden der Niederlage und des ne Werte zu verwirklichen versuche, sichtbar für jene, welche die
Verlustes, Vergebung zu erfahren nach meinem schrecklichen Fehl- mir selbst nicht gegebene Macht haben, mit Wertschätzung oder
verhalten. Mißbilligung zu reagieren?
»Sich selbst treu sein heißt nichts anderes als der eigenen Origi- Indem Taylor die vitale Rolle des anderen ausschließt, tritt er in
nalität treu sein, und diese ist etwas, was nur ich selbst artikulieren die Fußstapfen der mächtigen Tradition existentialistischen Den-
und ausfindig machen kann. Indem ich sie artikuliere, definiere kens, die mit den Namen Kierkegaard, Heidegger und Sartre ver-
ich zugleich mich selbst. Damit verwirkliche ich eine Möglichkeit, bunden ist. Die »Erweckung« zu einem authentischen Modus des
die ganz eigentlich mir selbst gehört.« Dies ist Charles Taylors25 Lebens wird im individuellen Dasein26 als dessen Ursprung gesehen:
einflußreiche Definition dessen, was er das moralische Ideal der Die Genese des Strebens nach Authentizität, mehr noch, die Au-
Authentizität nennt - ein Ideal, dessen Ursprung er größtenteils thentizität selbst ist im strikten Sinn intrasubjektiv, aus dem Innern
in Herders Idee sieht, daß »jeder von uns seine eigene originelle hervorkommend, zu dem die Person einen privilegierten Zugang
Weise des Menschseins hat«, d. h. die Weise, die ich als meine be- hat. Wenn das stimmt, kann der »Ruf« nach Authentizität, die
trachte und die dem Erfordernis, »mir selbst treu zu sein«, eine neue Stimme des Gewissens, weder von anderen übermittelt noch ange-
Wichtigkeit verleiht; denn wenn ich es nicht bin, werde ich den messen interpretiert werden. Vorzuschlagen, daß das Bemühen, das
wesentlichen Punkt meines Lebens verfehlen, das, was Menschsein eigene Leben auf authentische Weise zu führen, aus einer Quelle
für mich bedeutet. außerhalb des Individuums stammen könnte, würde bedeuten, das
Ich zitiere Taylors Unbehagen an der Moderne an dieser Stelle Ideal zu verraten: Eine gesellschaftlich abgeleitete und bewertete
aus zwei Gründen. Erstens fängt Taylor eloquent die zentrale Idee Authentizität wäre eine contradictio in adjecto.
dessen ein, was meiner Ansicht nach jede Person im Lauf ihrer Bio- Der Preis, zu dem dieser individualistische, zudem pathosge-
graphie zu verwirklichen oder erfüllen sucht. Zweitens ist Taylor sättigte und heroische Begriff der Authentizität erkauft ist, ist der
für meine Diskussion relevant, weil er — ich würde sagen, in einer Solipsismus. Nicht nur wird dem Individuum beschieden, sich
repräsentativen, typischen Weise - meint, daß nur die Person selbst nach innen zu wenden und isoliert von allen außerindividuellen
artikulieren und entdecken kann, worin ihre Originalität besteht. Quellen seine internen Ressourcen auszubeuten. Diese existentiell-
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normative Selbstgenügsamkeit hat darüber hinaus den Effekt, daß letzten Jahrzehnts, in der die »menschlichen Ressourcen« und das
sie andere daran hindert, mit zu beurteilen, ob eine Biographie für »Humankapital« betont werden, die jede/r Angestellte als Vermö-
gelungen oder mißlungen zu halten ist. In einer Situation, in der genswert besitzt, den die Firma - angeblich mehr denn je mit den
jede/jeder ermuntert wird, ihre oder seine Werte durch eine Wen- Werten der »Individualität«, »Freiheit«, »Selbst-Expression« und
dung nach innen zu entwickeln, auf daß die in den Handlungen dergleichen beschäftigt - zu beschlagnahmen und zu manipulieren
manifestierten Werte ein Spiegelbild der vermeinten Originalität nötig hat, um die »Humanität« der Angestellten zu einem Mittel
und Einzigartigkeit der betreffenden Person liefern, gibt es keine der Profitmaximierung zu machen. Um ein Beispiel zu geben, do-
Kriterien einer gemeinsamen Beurteilung. Obwohl Taylor sich der kumentieren die französischen Soziologinnen Luc Boltanski und
Gefahren dieser Art von Subjektivismus und Relativismus deutlich Eve Chiapello in ihrer monumentalen Studie Der neue Geist des Ka-
bewußt ist, ist sein von Heidegger inspirierter solipsistischer Au- pitalismus, wie das Management in Theorie und Praxis großen Wert
thentizitätsbegriff nicht in der Lage, eine öffentliche, intersubjektiv auf die Fähigkeit der Angestellten legt, sich auf andere einzulassen,
hergestellte Rationalität in diesem Bereich zu etablieren. Entgegen Kunden in der angemessenen Gefühlslage anzusprechen, um Ver-
seinen erklärten Absichten erbt er Heideggers Antirationalismus trauen zu wecken und ähnliche Qualitäten hervorzurufen, die einst
und Antiintersubjektivismus. Obwohl Taylor eifrig bekundet, daß primär mit persönlichen Beziehungen verbunden waren: »In die-
»in der Kultur der Authentizität Beziehungen als ausschlaggeben- sen Prozeß spielen zwangsläufig Annäherungsfunktionen mit hin-
de Fixpunkte der Selbstfindung und der Selbstbestätigung gesehen ein, die in der Sprache von affektiven Freundschaftsbeziehungen
werden«,27 gibt er keine Erklärung dafür, wie dies zu seiner früheren als Sympathie, gemeinsame Vorlieben, Interessen oder Neigungen
Aussage paßt, daß »nur ich meine eigene Originalität artikulieren beschrieben werden und für ein - wie es oft heißt — >spontanes<
und entdecken kann«. Das heißt, Taylor kommt einer Interpretati- Vertrauen sorgen.«28
on der Freundschaft in der Kultur der Authentizität, die er so fleißig Letztlich besteht das Ziel darin, jeden Angestellten und jede An-
beschreibt, niemals nahe. Wenn enge Beziehungen in dieser Kultur gestellte dahin zu bringen, eine affektive Verbundenheit zur betref-
daraufhinauslaufen, daß eine Person der anderen bei deren eigener fenden Firma, deren Werten und »Philosophie« aufzubauen und
Entdeckung ihrer Originalität assistiert, so scheint mir überhaupt unter Beweis zu stellen. Während der Taylorismus - darauf kon-
keine enge Beziehung vorzuliegen. zentriert, die Effizienz durch positivistische Sozialtechnologie zu
Was auf einer tieferen Ebene an Taylors Verteidigung des Au- erfassen — das Innenleben, die gesamte subjektive Welt der Gefühle
thentizitätsideals problematisch ist, ist die unzureichende histori- und Wünsche der Angestellten in Ruhe ließ, besteht das heutige
sche Einbettung: Er versäumt, das Ausmaß zu berücksichtigen, in Management-Paradigma darin, genau in diese »weichen«, mensch-
dem das Authentizitätsideal Gegenstand der Manipulation durch lich-allzumenschlichen Dimensionen der einzelnen Angestellten
systemische Imperative ökonomisch-struktureller Provenienz wur- vorzudringen und so das Innenleben zum Zweck der reibungslo-
de (um auf Habermas' These von der Kolonialisierung der Lebens- sen Produktivitätssteigerung und Profitmaximierung auszubeuten.
welt anzuspielen). Authentizität - ebenso wie Selbstverwirklichung Die mit Freundschaft - und in mancher Hinsicht auch mit der
(wobei die Unterscheidung heutzutage zunehmend verschwimmt) Familie — assoziierten Gefühls- und Beziehungsqualitäten werden
- ist ein Ideal, das gründlich von den sozioökonomischen Mäch- ausdrücklich für systemische Ziele rekrutiert; der Arbeitsplatz wird
ten kooptiert oder gar usurpiert worden ist. Authentizität wird in- somit »erotisiert« (Arlie Hochschild), während die Kernfamilie da-
strumentalisiert, um immer noch mehr effektiven Output - noch hin gehend instrumentalisiert wird, daß die Kinder zu künftigen
mehr Produktivität - aus jedem Individuum herauszupressen. Das Vollkonsumenten sozialisiert werden und den erschöpften Eltern
ist besonders hervorstechend in der Management-Ideologie des gestattet wird, »ihre Batterien wieder aufzuladen«, um den unersätt-
20 7
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liehen Anforderungen des Arbeitsplatzes entsprechen zu können. Liebe sehr wohl. Dennoch wissen wir, daß Freundschaften oft län-
Taylor bemerkt diese Entwicklung nicht, er behandelt Authenti- ger halten als Liebesbeziehungen, besonders in der heutigen Gesell-
zität als philosophische Idee und Ideal statt als gesellschaftliches, schaft, in der Individuen - wenn wir den Soziologen glauben dürfen
zudem hochgradig ideölogisiertes Faktum. Das heißt, die Bedro- - sich nur »auf Widerruf« zusammentun, das heißt, nur so lange,
hungen der philosophischen Idee der Authentizität sind weitaus bis und unter der Bedingung daß jeder Partner die Fortsetzung der
gefährlicher, als Taylor offenbar anzunehmen bereit ist. Beziehung allen anderen Alternativen, auch der Aussicht auf eine
Mangel an rationaler Urteilskraft im Sinn von intersubjektiv an- neue Liebe, vorzieht.31 Dies nennt Anthony Giddens »reine Bezie-
erkannten Kriterien ist jedoch nicht das größte Hindernis für den hung«, ein Arrangement, das in dem Augenblick für beendet erklärt
Ort der Freundschaft in einer individualisierten Gesellschaft. Um wird, in dem eine der beiden betreffenden Personen deren Gewinn
zu sehen, warum, müssen wir überlegen, ob nicht eine zentrale Ei- für niedriger hält als die damit verbundenen Opfer.32 Es überrascht
genschaft der Freundschaft in unserer bisherigen Analyse übersehen daher nicht, daß die versuchte Kohabitation von Liebe und indi-
wurde. vidualistischer Selbstverwirklichung sich als äußerst prekär erweist.
Die Eigenschaft, die mir vorschwebt, wird in der Formulierung Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim bemerken dazu:
erfaßt, daß Freunde zu sein bedeutet, eine gemeinsame Absicht zu
Die freie Partnerwahl, aus den vorgegebenen sozialen Zwängen entlassen,
teilen. Etwa so wie Mark Vernons historische Skizze der Freund-
erzeugt ein paradoxes Ergebnis, neue Formen der wechselseitigen Kontrol-
schaft uns daran erinnert, daß »das Schöne an Freundschaft ist,
le. Aber dies Ergebnis hat durchaus seine eigene Logik. Wo alles offen ist,
gewahr zu werden, wie die Personen in die gleiche Richtung los- muß alles ausgehandelt werden. Wo es keine gemeinsame Sache mehr gibt,
ziehen«; Freunde werden einander typischerweise zurufen: »Siehst da muß im Binnenfeld der Beziehung das je eigene Interesse geschützt wer-
du das gleiche wie ich?«29 Was der Unternehmung eine Bedeutung den.33
verleiht, ist, daß die Ziele unsere Ziele sind: etwas Geteiltes im Un-
terschied zu den Zielen, die jeder/jede von uns sich gemäß dem Die Beziehungsarbeit wird als belastend erlebt. Dazu wird sie ge-
Ideal der Authentizität individuell setzt und verfolgt. macht nicht zuletzt durch die »Tyrannei der Authentizität«: »Man
Wo finden wir zwei Individuen, die zusammen etwas unterneh- vergißt die Frage nach der »Balancec Wie viel Wahrheit, wie viel
men, das sie in einem emphatischen Sinn als etwas Gemeinsames Offenheit, wie viel Seelenentblößung kann man sich und dem an-
betrachten, als etwas, das nur durch ein Wir erreicht werden kann? deren zumuten?«34
Eine mögliche Antwort ist das Paar, vielleicht besonders das ver- Ich zitiere diese Beobachtungen hier nicht, um die heutigen Be-
heiratete Paar: zwei Erwachsene, entschlossen, ihre Ziele zu »ver- dingungen der Liebe besser zu verstehen, sondern um des Kontra-
schmelzen«, so daß, wo zuvor immer nur ein »Ich« war, jetzt ein stes willen: Ist Freundschaft tatsächlich — glücklicherweise - frei
»Wir« ist, ersteres in letzterem aufgehoben.30 von solchen Belastungen?
Ein anderes Wort dafür ist Liebe. Was sofort die Frage nach dem Bei mehreren Gelegenheiten habe ich auf das Konfliktpotential
Verhältnis von Liebe und Freundschaft aufwirft. Ich kann dieses hingewiesen, das ich zwischen dem Authentizitätsideal einerseits
umfassende Thema hier nicht diskutieren. Nur soviel: In einer und dem Wesen der Freundschaft andererseits sehe. Dennoch war
Freundschaft steht im allgemeinen weniger auf dem Spiel als in ich meistens loyal gegenüber der Suprematie, welche die Authen-
einer Liebesbeziehung; Freundschaften bringen in der Regel keine tizität in unserer Gesellschaft genießt, das heißt, ich habe gefragt,
Kinder und keinen gemeinsamen Haushalt hervor, noch implizie- wie ein Freund zu sein die Form annehmen kann, des anderen Su-
ren sie ein exklusives Loyalitätsversprechen in einem starken Sinn;
31 Bauman (2003).
32 Giddens (1993).
29 Vernon (2006), S. 59. 33 Beck und Beck-Gernsheim (1990), S. 131.
30 Im Original deutsch (A. d. Ü.}. 34 Ebd., S. 123.
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che nach einem authentischen Leben zu unterstützen, nach einem Moment ihres Abstiegs »wird ihr eigenes Verantwortungsgefühl.
Leben, das den wertvollsten - und daher bewunderungswürdigsten Nur indem sie diese Verschiebung vornehmen, können sie sich mit
- Aspekten seines Charakters gerecht wird. Aber vielleicht ist es der Tatsache konfrontieren, daß sie in ihren Karrieren gescheitert
Zeit, die Seiten zu wechseln und dem Vorrang der Authentizität die sind«.35
Loyalität aufzukündigen. Aber ist nicht gerade dies die Art, wie die Leute heutzutage ihr
Was würde das implizieren? Das Ideal der Authentizität in Fra- trauriges Schicksal auffassen: als Resultat ihrer eigenen Fehler? Und
ge zu stellen würde einen Freund darin ermutigen, ernsthafter als darüber hinaus, was erzählt uns diese Geschichte über Freund-
zuvor zu überlegen, ob mein Versuch, ein Leben nach dem Au- schaft?
thentizitätsideal zu führen, notwendigerweise das gute oder beste Sennett weiß nur zu genau, daß diese drei Männer Davids sind im
Leben für mich wäre. Wäre nicht vielleicht das beste, was mein Kampf mit einem flexibel herrschenden Goliath. Es gelang ihnen in
bester Freund für mich tun könnte, gerade dies - meine Fähigkeit der Tat, auf mitfühlende Weise über das Scheitern zu sprechen und
und meinen Willen darin zu unterstützen, mich von diesem Ideal dabei - berücksichtigt man die Umstände - ein relativ kohärentes
zu lösen, es als falsch zu denunzieren, als etwas, das mich - und Bild von sich selbst zu gewinnen. Das hört sich erst einmal gut an,
wahrscheinlich auch andere - in die falsche Richtung lenkt? aber es führt uns - und auch sie - nicht sehr weit. Zunächst trägt,
Ich denke wirklich, daß dies (zum Teil) dem entspricht, was ein was die gefeuerten Informatiker durch eine »kohärente« Erzählung
Freund mir sein kann: jemand, der mich dabei unterstützt, den entdeckten - oder konstruierten - , ganz und gar die Merkmale der
Mächten und nicht zuletzt den Idealen Widerstand entgegenzuset- Vergangenheitsform: Sie betrachteten erfolgreich die Bedeutung
zen, welche die Gesellschaft mir aufzwingt mit der Forderung, sie des vergangenen Scheiterns, aber es gelang ihnen nicht, nach vorne
zu meinen eigenen zu machen. Gewiß, Selbstverwirklichung im all- zu blicken. Die erhoffte und zum Teil erreichte Kohärenz bezieht
gemeinen und Authentizität im besonderen scheinen auf den ersten sich ausschließlich auf das, was gewesen ist, nicht darauf, was sein
Blick rundum positive und lohnenswerte Ideale zu sein. Aber was, wird. Mangels Zukunftsorientierung erscheint ihre Unternehmung
wenn sie sich als Rezepte erweisen, die mich in die Erschöpfung - was immer ihre Verdienste waren - zumindest dem Leser als
treiben? Dazu, mein Leben als gescheitert anzusehen? Hinein in die ohnmächtiges Unterfangen ohne Veränderungspotential. Sie mö-
Bereitschaft, niemand anderen als mich selbst - meine Unfähigkeit gen eine lange entbehrte »Bedeutung« gefunden haben, aber nur
- für die negativen Folgen, die ich erleide, verantwortlich zu ma- indem sie ihre Machtlosigkeit offenbaren. Sennett bemerkt etwas
chen? Wenn die Suche nach Selbstverwirklichung und Authentizi- Ähnliches, wenn er sagt, daß »ihre Wendung nach innen, hin zu
tät in ihrer gegenwärtigen ultraindividualistischen Form mir mehr ihren persönlichen Beziehungen die Grenzen ihrer erreichten Ko-
schadet als nützt, das Gelingen meines Lebens eher untergräbt, als härenz aufzeigen. Ein umfassenderer Sinn von Gemeinschaft und
es zu fördern, würde ich dann nicht einen Freund brauchen, der ein reichhaltigerer Begriff des Charakters sind vonnöten für immer
mir genau das sagt - weil er weiß, daß ich es entweder nicht zuge- mehr Leute, die im modernen Kapitalismus vom Scheitern bedroht
ben möchte oder nicht in der Lage bin zu erkennen, daß mich diese sind«.36
Ideale tatsächlich zerstören? Ist die Geschichte der drei entlassenen Informatiker auch eine
Am Ende von Der flexible Mensch erzählt Sennett die Geschich- Geschichte über Freundschaft? Sennett benutzt das Wort nicht,
te von drei Programmierern im mittleren Alter, die in einem ame- obwohl die Männer sich wahrscheinlich als Freunde bezeichnen
rikanischen IBM-Büro wegrationalisiert wurden. Sie treffen sich würden. Auffällig ist jedoch, daß ihre Beziehung von Machtlosig-
regelmäßig, um darüber zu reden, was passiert ist, und kommen keit durchdrungen ist: Dies ist das geteilte Dilemma. Jeder von ih-
so allmählich mit ihrem Schicksal klar. Dabei entwickeln sie ein
schärferes Bewußtsein dafür, wie ihr Handeln - oder eher Nicht- 35 Sennett (1998), S.180.
handeln - zu ihrer Entlassung beigetragen hat: zum definierenden 36 Ebd., S.185.
202 20 7
nen ist gescheitert, und nun verfolgen sie das gemeinsame Projekt, gewählten, vorgegebenen Positionierung in der gesellschaftlichen
herauszufinden, inwiefern sie einzeln an ihrem eigenen beruflichen Hierarchie, zählt nicht; sie wird geleugnet, um dem Konzept Raum
Abstieg beteiligt waren. Es mag als ein Zeichen der Reife erschei- zu geben, daß es die Struktur der individuellen Charaktere sei, die
nen, daß sie die Verantwortung für ihre Situation übernehmen, in Wahrheit zählt, die Unterschiede hinsichtlich gesellschaftlicher
statt auf das »System«, was immer das sein mag, loszugehen. Zu Stellung und entsprechendem Respekt verursache und erkläre. Ul-
beachten ist jedoch, daß die Verantwortung, die sie damit indi- rich Becks einflußreichen Begriff der »Individualisierung« vorweg-
viduell und getrennt voneinander auf sich nehmen, nicht mit Er- nehmend, zeigt Sennett die soziopsychologischen Mechanismen
mächtigung verbunden, sondern statt dessen ein Zeichen von Re- auf, die sicherstellen, daß »soziale Unterschiede als Charakterfra-
signation ist. Sie geben sich selbst die Schuld, sie sehen sich selbst gen, als Fragen von moralischer Entschiedenheit, Willenskraft und
als Personen, die an entscheidenden Punkten etwas falsch gemacht Kompetenz« behandelt werden können.38 Entsprechend »ist die
haben. Die Tatsache, daß die Kollegen anscheinend die gleichen Möglichkeit des Scheiterns das unangenehmste Phänomen im ame-
Fehler gemacht haben, ist zwar ein schwacher Trost, ändert aber rikanischen Leben«.39 In der Klassengesellschaft kriegen die Men-
kaum etwas. Denn die Situation bleibt genauso, wie sie zuvor war. schen Angst davor, sich um andere zu kümmern; »der Ausdruck
Diese Männer mögen Freunde sein, aber ihre Freundschaft ist ohne von Zuneigung und Liebe wird zur Bedrohung«, denn Liebe und
tiefere Bindung, ohne Solidarität, ohne Entschlossenheit, sich als Fürsorge zu zeigen wird als Schwäche angesehen. »Klasse«, schreibt
starke Mannschaft im selben Boot zu betrachten und die Identi- Sennett, »bewirkt bei den Menschen, daß es vernünftig ist, die wei-
tät einer Gruppe mit einem von allen Mitgliedern geteilten Projekt chem Gefühle so lange für sich selbst zu behalten, bis man sehr
herauszubilden, um gegen die außerindividuellen ökonomischen sicher ist, nicht verletzt zu werden; aber in der langen Zeit dieser
und strukturellen Kräfte gemeinsam vorzugehen. Selbst als Freunde, Versicherung gehen sehr viele Gelegenheiten, Zuneigung zu zeigen
deren beklagenswerter Zustand objektiv von den gleichen Mächten - Gelegenheiten, die dem Außenstehenden als sicher erscheinen - ,
jenseits ihrer Kontrolle verursacht wurde, bleiben sie der Mentalität verloren«.40 Individualismus, die Ideologie, welche die Klassenge-
des Individualismus verhaftet, indem sie nicht über einen Verant- sellschaft reproduziert, indem sie den objektiven Druck der Klasse
wortungsbegriff hinaussehen, welcher jeden für sich selber sorgen leugnet, legt allergrößten Wert auf individualistisch verstandene
läßt und nur für sich selbst. Fähigkeiten, so daß Identität zu einer Angelegenheit der eigenen
In seinem ersten, zusammen mit Jonathan Cobb geschriebenen Entwicklung wird und, darüber hinaus, der Entwicklung im Un-
Buch The Hidden Injuries ofClass hat Sennett gezeigt, daß im Ame- terschied zu anderen. Als Folge des finsteren Wettbewerbs, der so
rika der 1960er und frühen 1970er Jahre Klasse »als Endresultat per- entsteht, wird jedes Individuum »dazu geführt, die Motive der an-
sönlicher Fähigkeiten« dargestellt wurde.37 Fähigkeit - betrachtet deren in Zweifel zu ziehen, weil jeder nur etwas erreichen kann,
als strikt individuelle Eigenschaft - ist das, was den Leuten als erstes wenn er andere hinter sich läßt«.41 Obwohl, wie Sennett schreibt,
in den Sinn kommt, wenn sie versuchen, ihre Klassenzugehörigkeit die meisten Menschen nicht glücklich darüber sind, den eigenen
zu erklären, wenn nicht zu rechtfertigen. »Chancengleichheit«, die Erfolg dem Scheitern der anderen zu verdanken, hat die Ideologie
Annahme, daß gesellschaftliche Positionen allen offenstehen, ist des Individualismus - d.h. des gesellschaftlich entgegengebrach-
die Ideologie hinter dieser Mentalität. Auf den ersten Blick die im ten Respekts als stets verdientes Ergebnis individueller Fähigkeiten
höchsten Grad demokratische und egalitäre Ideologie, die es gibt, und Anstrengungen - nichts von ihrem Einfluß verloren, selbst drei
macht sie in Wirklichkeit jeden einzelnen voll verantwortlich für Jahrzehnte nach seiner ersten Studie.
seine eigene (erreichte) Position in der Gesellschaft - verantwort-
38 Ebd., S.256.
lich für Erfolg wie für Mißerfolg. Die Struktur der Klasse, der un- 39 Ebd., S.183.
40 Ebd., S. 218.
37 Sennett und Cobb (1974), S. 170. 41 Ebd., S. 270.
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Die Frage, ob diese Beobachtungen eine spezifisch männliche gen der menschlichen Existenz anzuerkennen und zu beherzigen.43
Sichtweise im Unterschied zu einer weiblichen wiedergeben, wird Die Möglichkeit des Scheiterns, die Sennett als das unangenehmste
in Sennetts Buch nicht berührt, obwohl ich finde, daß es sich lohnt, Phänomen in unserer Gesellschaft diagnostiziert, ist das gefürch-
sie zu stellen — und mit ja zu beantworten. Zwar formieren sich die tete »Andere« des Individualismus. Einerseits wird den Menschen
- strittigen - Geschlechterdifferenzen nicht zu einer systematischen verboten, die Erfahrung des Scheiterns zu verstehen und mit ihr
Variablen in der Analyse der Freundschaft, die ich versucht habe. umzugehen, andererseits wird sie ständig reproduziert, so daß die
Gleichwohl lohnt es sich, folgende Beobachtung von Larry May Menschen in ihrer Existenz davon verfolgt werden, ohne Aussicht
zu zitieren: auf Erleichterung, außer vielleicht der, irgendeinen Sündenbock
zu finden, um die angesammelte Frustration und das Gefühl des
Männern fällt es schwer, sich auf andere Männer einzulassen und Män-
Scheiterns an bestimmten anderen Leuten auszuagieren, qua sym-
nerfreundschaften herzustellen, weil es ihnen an Geschick und Fähigkei-
bolischer oder physischer Gewalt.44 Im Unterschied dazu ist für
ten mangelt, anderen zuzuhören und mit ihnen über wichtige Dinge des
Lebens zu sprechen. Männerfreundschaften basieren, zumindest in west-
die Freundschaft das Scheitern des anderen nichts Feindliches,
lichen Gesellschaften, eher auf gemeinsamen Aktivitäten, z. B. rund um keine furchteinflößende unbekannte Größe. Im Gegenteil, es ist
Sportereignisse, als auf gemeinsamen Lebensgeschichten. Die Folge ist, daß die traurige Notlage des anderen, welche die besten freundschaft-
es für Männer ganz normal ist zu sagen, daß sie die anderen Männer, und lichen Qualitäten weckt und aufruft, um den anderen seines oder
seien es ihre besten Freunde, eigentlich nicht kennen.42 ihres ungeschmälerten Wertes zu versichern, trotz allem, was ihm
oder ihr gesellschaftlich als - angeblich selbstverschuldeter4i - Miß-
erfolg oder Erfolg angerechnet wird. Im Sinne von Sokrates und
Aristoteles sollten Freunde nicht in erster Linie voneinander das
VI. Glück erhoffen, obwohl auch das sich einstellen mag, sondern sie
sollten zusammen versuchen, ein erfüllteres, wahrhaftigeres Leben
Das zentrale Thema, das ich in diesem Essay von verschiedenen zu führen.
Seiten angepackt habe, besteht in der Frage, ob der Individualis- Ubersetzt von Käthe Trettin
mus in der gegenwärtigen westlichen Gesellschaft die Entwick-
lung von Freundschaft in einem annähernd aristotelischen Sinn
gestattet. Meine Antwort ist negativ ausgefallen. Aber man ver-
stehe mich recht. Ich behaupte nicht, daß es in der Gesellschaft,
die ich beschrieben habe, überhaupt keine Freundschaften gäbe.
Was ich hingegen behaupte, ist, daß Freundschaft - dem anderen
um seinetwillen Gutes zu wünschen anstatt um seiner Leistungen
willen - eine Herausforderung für einen solchen Individualismus
darstellt. Freundschaft dient als Beweis für gegenseitigen Respekt
und wechselseitige Unterstützung, ungeachtet aller auf Fähigkei-
ten beruhenden und wettbewerbsorientierten Leistungen und Ver-
dienste, mit anderen Worten: nicht trotz ihrer (tiefsitzenden und
oft verleugneten) Abhängigkeit und Verletzbarkeit, sondern gerade
aufgrund dieser Merkmale diese miteinander geteilten Bedingun-
43 Vgl. Sennett (2004).
44 Vetlesen (2005).
42 May (1998), S.130. 45 Im Original deutsch (A• d. Ü.).
206 20 7
III. Eltern und Kinder, Kinder und Eltern
Beate Rössler
Einführung
»>I couldn't go on<, she said. >1 wanted my life.«< Das sagt Maddy,
die eine von den beiden Schwestern in Alice Munros Kurzgeschich-
te »The Peace of Utrecht« zu Helen, der anderen Schwester, die
zum Zeitpunkt der Erzählung zum ersten Mal nach dem Tod ihrer
Mutter wieder nach Hause kommt.1 Maddy, unverheiratet, ohne
Kinder, hat ihr Leben lang zu Hause für die kranke Mutter gesorgt,
bis sie sie doch noch, nach langen Jahren, in ein Heim gebracht hat,
in dem die Mutter kurze Zeit später gestorben ist. Helen dagegen
ist weggegangen, hat studiert, geheiratet, zwei Kinder bekommen.
Sie hatte »ihr Lebern. Maddy jedoch hatte das ihrer Mutter - bis sie
sie zu Hause nicht mehr pflegen wollte, bis sie so nicht mehr weiter-
machen konnte. Beide fühlen sich schuldig, beide haben Ressenti-
ments gegenüber der jeweils anderen, beide haben auch Verständnis
für die andere. Aber was heißt es, angesichts der kranken Mutter
- die gestorben ist, sterben wollte, sobald sie nicht mehr zu Hause
sein durfte - ein eigenes Leben zu leben? Was war richtig, was wäre
richtig gewesen?2
Dies ist die eine Seite der moralischen Problematik, um die es
in den beiden folgenden Aufsätzen geht. Welche Pflichten haben
erwachsene Kinder gegenüber ihren Eltern? Wenn sie solche Pflich-
ten haben, wie lassen diese sich begründen? Und wie weit gehen
solche Verpflichtungen?
Die Thematik der moralischen Beziehungen zwischen Eltern und
Kindern ist in der Geschichte der philosophischen Ethik vergleichs-
weise neu. Zwar gab es immer schon philosophische Diskussionen
211
der Problematik spezieller Verpflichtungen oder Rechte in persönli- gegenüber nur, wenn und solange zwischen Kindern und Eltern
chen Beziehungen3 ebenso wie moralphilosophische Überlegungen eine gegenseitige liebevolle Bindung besteht.6
zur Problematik von Ehe und Familie; die Frage nach der Moralität Es ist die andere Seite dieser moralischen Problematik, um die
im Verhältnis von Kindern und Eltern ist jedoch erst in den letzten es James Rachels in seinem Beitrag geht: nämlich um die Frage
dreißig Jahren zu einem - durchaus vielbesprochenen - Thema der nach der Reichweite der moralischen Verpflichtungen von Eltern
praktischen Ethik geworden.4 gegenüber ihren (nicht volljährigen) Kindern. Dabei mutet seine
Jeskes Aufsatz gibt zu den systematischen Problemen, um die es Ausgangsfrage: »Haben Eltern gegenüber ihren eigenen Kindern
bei der Frage nach den moralischen Pflichten von Kindern gegen- Verpflichtungen, die sie gegenüber anderen Kindern nicht haben?<,
über ihren Eltern geht, einen ausführlichen Überblick. Dabei geht zunächst sehr kontraintuitiv an, denn natürlich gehen wir davon
es ihr darum zu zeigen, daß wir als erwachsene Kinder gegenüber aus, daß wir gegenüber unseren eigenen Kindern besondere Ver-
unseren Eltern nur dann besondere Pflichten und Verpflichtungen pflichtungen haben, so wie wir jedes Recht der Welt haben, unsere
haben, wenn die Beziehung zu ihnen liebevoll und freundschaft- eigenen Kinder so wie kein anderes Kind zu lieben und für sie zu
lich ist, auf gegenseitiger Zuneigung beruht. Jeske ist, wie sie es sorgen.7 Doch Rachels sucht durch seine sorgfältigen Analysen Ver-
selbst nennt, Voluntaristin: Pflichten erwachsener Kinder gegen- unsicherung in diese Intuition zu bringen; denn daß wir sie mehr
über ihren Eltern können nur auf Freiwilligkeit gründen, die Idee lieben dürfen, muß nicht bedeuten, daß sich diese Liebe in unbe-
natürlicher Pflichten — gegründet auf der biologischen Beziehung schränkten materiellen Aufwendungen zum Ausdruck bringt. Na-
zwischen Eltern und Kindern - lehnt sie als unplausibel ab. Sowe- türlich ist es ungerecht, so Rachels, daß manche Kinder in Wohl-
nig wie die Biologie uns in unseren moralischen Verpflichtungen stand aufwachsen und andere nicht das Nötigste zum Leben haben.
weiterhelfen kann, sowenig kann es, so Jeske, der Rekurs auf ge- Ein solches Glück sollte aber keine entscheidende moralische Rolle
sellschaftliche Rollen oder Konventionen, die uns gegebenenfalls im Leben spielen. Eltern, die im Wohlstand leben, können zwar
bestimmte Verpflichtungen vorschreiben oder doch zumindest nicht nachts fremde Kinder beruhigen, die aus Angstträumen auf-
nahelegen.5 Auch die Idee, es ginge bei solchen Verpflichtungen wachen, sondern nur die eigenen. Aber das Geld, das sie für Spiel-
darum, den Eltern solche »Gefallen* zu tun, wie sie sie den Kindern zeug ausgeben, kann sehr wohl auch an andere Kinder gegeben
durch die Fürsorge und Erziehung erwiesen haben, sucht sie argu- werden. Die eigenen Kinder massiv zu bevorzugen, während andere
mentativ zu widerlegen. Denn all diese Begründungsmuster kön- Kinder dramatisch leiden, dies ist, so Rachels, moralisch nicht zu
nen uns nur überzeugen, so Jeske, wenn die Beziehung zwischen rechtfertigen.
Eltern und (erwachsenen) Kindern eine solche der Zuneigung und Rachels argumentiert damit für eine Position, die er die der
Liebe ist - und deshalb sind es eben genau diese Momente, die in teilweisen Voreingenommenheit nennt: zwischen der Position, die
der Begründung der besonderen Pflichten die zentrale Rolle spielen eigenen Kinder gleich wie alle anderen zu behandeln, und derje-
und spielen müssen. nigen, einen kategorialen Unterschied zwischen den eigenen und
Insofern ähneln die moralischen Beziehungen zwischen Kindern anderen zu machen, sucht diese Position moralisch so zu argumen-
und ihren Eltern denen von Freunden oder Freundinnen unterein- tieren, daß die eigenen Kinder zwar bevorzugt, aber nicht unnötig
ander: denn analog dazu haben wir Verpflichtungen unseren Eltern
6 Ob dies Maddy und Helen in Munros Geschichte hilft, darf allerdings offenblei-
3 Vgl. oben den Abschnitt II zur Freundschaft. ben; es muß uns hier natürlich vor allem um eine die Diskussion anregende Skizze
4 Vgl. etwa Schoeman (1980); angesichts der Bedeutung der kindlichen Pflichten der Probleme gehen, nicht um deren Lösung selbst.
gegenüber den Eltern, die diese etwa in der jüdischen und christlichen Religion 7 Kontraintuitiv ist die Frage vielleicht auch deshalb, weil nicht unmittelbar plau-
haben, stimmt dies jedoch deutlich nur cum grano salis. sibel ist, warum nur Eltern und nicht alle erwachsenen Personen — ob mit oder
5 Vgl. Hardimon (1994) und Jeskes scharfe Kritik an ihm und anderen rollentheo- ohne Kinder — für das materielle Wohl von Kindern Verantwortung übernehmen
retischen Ansätzen. sollten.
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verwöhnt werden sollten. Was dieses »unnötig« dann im einzelnen Diane Jeske
bedeutet, ist natürlich umstritten und muß es auch sein. Doch
Familien, Freunde und besondere Verpflichtungen
auch, wenn sich eine klare Bedeutung nicht allgemein und verall-
gemeinerbar angeben läßt, so sollte es im Einzelfall vom Kontext
her zu deutlichen Verpflichtungen anderen als den eigenen Kindern
gegenüber führen können. Rachels plädiert dafür, der Moral der Die meisten unserer Mitmenschen akzeptieren, daß wir gegenüber
Unparteilichkeit zwar Grenzen zu setzen durch die Moral persön- unseren Familienmitgliedern besondere Verpflichtungen haben:
licher Beziehungen, doch so, daß diese Grenzen sehr viel näher an zum Beispiel gegenüber unseren Eltern, Geschwistern und Großel-
der Unparteilichkeit verlaufen, als sie sicherlich in der Praxis und tern. In Anbetracht der offenkundigen Tatsache, daß die familialen
wahrscheinlich auch von weitverbreiteten moralischen Intuitionen Beziehungen (zumindest überwiegend) nicht freiwillig eingegangen
gezogen würden. werden, ist es aber äußerst schwierig, eine einleuchtende Begrün-
Beide, Jeske und Rachels, sind mit ihren Positionen keineswegs dung für solche Verpflichtungen zu geben.1 Ich habe es mir nicht
unumstritten; doch man muß weder Rachels' Argumentation noch ausgesucht, die Tochter meiner Mutter oder die Schwester meines
diejenige von Jeske für vollkommen überzeugend halten, um sehen Bruders zu sein. Warum sollte ich also annehmen, daß derartige
zu können, daß sie mit ihren Überlegungen sorgfältig und gründ- Tatsachen in bezug auf meine Person moralisch bedeutsam sind?
lich die moralische Problematik beschreiben und analysieren; und Warum sollte ich annehmen, daß ich meiner Mutter oder meinem
zwar auch so, daß deutlich wird, warum diese Problematik für die Bruder mehr schulde, als es die natürliche Pflicht im Hinblick auf
Frage, wie wir uns selbst verstehen, wesentlich ist: weil sie Bezie- ausnahmslos alle Personen von mir verlangt? Besondere Verpflich-
hungen betrifft, die die meisten von uns unser Leben lang begleiten tungen scheinen um so problematischer zu sein, je weniger die
und es prägen. Beziehungen, von denen sie angeblich herrühren, der Beziehung
zwischen dem Geber und dem Adressaten eines Versprechens, das
heißt einer freiwillig eingegangenen Beziehung, gleichen. So mö-
gen beispielsweise besondere Verpflichtungen gegenüber Freunden
weniger problematisch erscheinen als besondere Verpflichtungen
gegenüber Familienmitgliedern, weil es offenbar so ist, daß wir uns
unsere Freunde freiwillig aussuchen und uns deshalb freiwillig da-
für entscheiden, für sie mehr auf uns zu nehmen, als es die natür-
liche Pflicht verlangt.
Im Licht dieser Überlegungen scheint es zwei Optionen zu ge-
ben: Vorausgesetzt, familiale Beziehungen entsprechen dem Modell
der freiwilligen Beziehung zwischen dem Geber und dem Adressa-
1 Offenkundige Ausnahmen davon sind eheliche Beziehungen und Beziehungen
der Eltern zu Kindern (aber nicht umgekehrt). Erstere lassen sich durch den Be-
zug auf den Ehevertrag oder irgendeinen ähnlich ausdrücklichen Austausch von
Gelöbnissen leicht erklären. Letztere können nicht immer als klare Beispiele für
das freiwillige Eingehen einer Beziehung angesehen werden, insbesondere dann
nicht, wenn Schwangerschaftsabbruch oder empfängnisverhütende Mittel nicht
ohne weiteres zugänglich sind. Mein hauptsächliches Interesse gilt solchen familia-
len Beziehungen, die in keinem Falle als freiwillig eingegangen betrachtet werden
können.
214 20 7
ten eines Versprechens nicht, dann können wir bestreiten, daß wir I. Besondere Verpflichtungen
besondere Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern haben und besondere Beziehungen
(oder behaupten, daß sich solche scheinbar besonderen Verpflich-
tungen in Wirklichkeit aus unseren natürlichen Pflichten ableiten Zunächst müssen wir besondere Verpflichtungen im Gegensatz
lassen2), oder wir können behaupten, familiale Beziehungen er- zu den natürlichen Pflichten charakterisieren, wobei natürliche
zeugten kraft ihres einzigartigen Charakters Verpflichtungen, ob- Pflichten zu verstehen sind als »moralische Forderungen, die für
wohl wir sie nicht freiwillig eingehen. Während die erste Option alle Menschen ohne Ansehung des Status oder der Leistungen gel-
in Anbetracht unserer starken Intuitionen hinsichtlich familialer ten ... Diese Pflichten schulden alle Personen allen anderen«.3 Weil
Verpflichtungen nur als letzter Ausweg akzeptiert werden sollte, hat einige der Philosophen, deren Ansicht ich hier diskutieren werde,
die zweite Option, wie ich argumentieren werde, höchst unerfreuli- den Ausdruck »Rollenpflicht« oder »besondere Verpflichtung« ge-
che Implikationen, die wir tunlichst vermeiden sollten. brauchen, wenn sie auf moralische Forderungen Bezug nehmen, die
Ich werde die Auffassung vertreten, daß wir durchaus besonde- unfreiwillig eingegangen werden, möchte ich besondere Verpflich-
re Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern haben, solche tungen und natürliche Pflichten nicht gegenüberstellen, indem ich
besonderen Verpflichtungen aber nicht durch irgend etwas begrün- erstere als moralische Forderungen definiere, die durch irgendeine
det sind, was familiale Beziehungen als solche auszeichnet. Sobald freiwillige Handlung des Verpflichteten zustande kommen - denn
wir erkennen, welche Begründung dem Schritt zugrunde liegt, die ob sie solcherart zustande kommen, ist gerade die strittige Frage.4
Beziehung zwischen dem Geber und dem Adressaten eines Ver- Ich möchte also die »besondere Verpflichtung« auf eine Weise defi-
sprechens als Modell für eine Beziehung aufzufassen, die besondere nieren, die solche Verpflichtungen deutlich von natürlichen Pflich-
Verpflichtungen hervorbringt, werden wir feststellen, daß familiale ten abgrenzt, wobei ich jedoch offenlasse, ob derartige moralische
Beziehungen diesem Modell entsprechen können und ihm tatsäch- Forderungen freiwillig eingegangen werden.5
lich oft entsprechen. Obgleich wir familiale Verpflichtungen nicht Wir können besondere Verpflichtungen als solche Verpflich-
auf Fälle des Einhaltens von Versprechen reduzieren können, las- tungen verstehen, die nicht allen Personen, sondern nur einer
sen sich erstere an letztere angleichen: Beziehungen zwischen Fa- beschränkten Masse von Personen geschuldet werden, wobei die
milienmitgliedern sind der Beziehung zwischen dem Geber und grundlegende Rechtfertigung für das Haben solcher Verpflichtun-
dem Adressaten eines Versprechens verhältnismäßig ähnlich, auch gen nicht die intrinsische Natur des uns Verpflichtenden als solches
wenn sie bei weitem komplexer sind. Und in beiden Fällen ist es ist oder zumindest nicht nur die intrinsische Natur des uns Ver-
die besondere Beziehung zwischen dem Verpflichtenden und dem
Verpflichteten, durch die besondere Verpflichtungen begründet 3 Simmons (1979), S. 13.
sind. Die Tatsachen in familialen Beziehungen, welche besondere 4 Ich verwende den Begriff »Verpflichtung« auch nicht, um auf eine moralische For-
derung zu verweisen, die stärker wiegt als eine Pflicht. Tatsächlich können manche
Verpflichtungen begründen, haben allerdings, wie ich argumentie-
Verpflichtungen, so zum Beispiel Verpflichtungen zur Dankbarkeit (sofern wir
ren werde, weder etwas mit der biologischen Beziehung zwischen solche Verpflichtungen haben), sehr schwach ausgeprägt sein, während manche
den Beteiligten noch mit kulturellen oder sozialen Erwartungen Pflichten, so zum Beispiel bestimmte Pflichten gegenseitiger Hilfeleistung, äußerst
oder Traditionen zu tun. Die Tatsachen in Beziehungen zu Famili- strikt sind.
enmitgliedern, die besondere Verpflichtungen begründen, sind die 5 Simmons versteht unter einer Verpflichtung »ein moralisches Sollen, das durch
gleichen, die auch Freundschaften oder andere enge persönliche den Vollzug irgendeiner freiwilligen Handlung (oder Unterlassung) erzeugt wird«
(Simmons 1979, S. 14). Meine Terminologie ist daher in keinem Sinne maßgeblich,
Beziehungen charakterisieren.
sie ist jedoch, wie ich meine, hilfreich für die Erörterung der Verpflichtungen
von Familienmitgliedern. In meiner Diskussion des Standpunktes von Belliotti in
Abschnitt IV unten werde ich von meiner eigenen Begrifflichkeit abweichen, da
2 Ich werde diese Option in Abschnitt II behandeln. sie von Belliotti abgelehnt wird (siehe Anm. 35 unten).
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pflichtenden. Nehmen wir beispielsweise meine Pflicht, einer er- Besondere Verpflichtungen des Einhaltens von Versprechen sind
trinkenden Person einen Rettungsring zuzuwerfen. Moralisch wird also durch die besondere Beziehung zwischen dem Geber und dem
von mir verlangt, einer beschränkten Klasse von Personen den Ret- Adressaten eines Versprechens begründet. Eine weitere wichtige
tungsring zuzuwerfen, nämlich der Klasse von Personen, die sich Klasse besonderer Verpflichtungen, nämlich diejenigen Verpflich-
gefährdet im Fluß befindet, doch die grundlegende Rechtfertigung tungen, die wir gegenüber unseren engsten Mitmenschen haben, ist
für das Haben dieser Pflicht ist die Natur der Person, der ich die ebenfalls durch die besonderen Beziehungen begründet, in denen
Pflicht schulde - sie ist ein Vernunftwesen - , und ihre Natur reicht wir zu unseren engsten Mitmenschen stehen, wie ich im folgen-
aus, um meine Pflicht zu begründen. Meine Nähe zu der ertrin- den argumentieren werde.8 Der Inhalt solcher Verpflichtungen ist
kenden Person erleichtert es mir, meine Pflicht zur gegenseitigen selbstverständlich weniger festgelegt als der Inhalt solcher speziel-
Hilfeleistung zu erfüllen, ist aber nicht Teil der grundsätzlichen Er- len Verpflichtungen, die aus der Abgabe eines Versprechens her-
klärung dafür, weshalb ich von vornherein eine solche Pflicht habe. vorgehen.9 Doch ebenso wie die Verpflichtung, gegebene Verspre-
Es ist also der Charakter der Handlung, nämlich die Rettung eines chen einzuhalten, ergeben sich unsere speziellen Verpflichtungen,
Vernunftwesens, der diese Handlung moralisch von mir fordert. für unsere engsten Mitmenschen zu sorgen, aus dem besonderen
Nehmen wir andererseits meine Verpflichtung, Ihnen zehn Dol- Charakter unserer Beziehungen zu den uns Verpflichtenden und
lar zu zahlen, die ich Ihnen versprochen habe. Die grundlegende nicht einfach aus dem Charakter unserer engsten Mitmenschen
Erklärung, warum ich eine Verpflichtung habe, Ihnen zehn Dol- und aus dem Charakter der Handlungen, die mit der tätigen Sor-
lar zu zahlen, stützt sich nicht allein auf Ihre Vernunftnatur und ge für sie verbunden sind. Beziehungen zwischen Freunden und
hat nichts zu tun mit dem intrinsischen Charakter der Handlung, Beziehungen zwischen Familienmitgliedern werden teilweise durch
einem Vernunftwesen zehn Dollar zu geben.6 Meine Beziehung verschiedene Formen der Interaktion, gemeinsame Einstellungen
zu Ihnen, das heißt, die Tatsache, daß ich Ihnen ein Versprechen und Vertrautheit hergestellt, und sobald wir zu anderen Personen
gegeben habe, erleichtert nicht bloß die Erfüllung einer allgemei- in solchen Beziehungen stehen, sind wir verpflichtet, deren Inter-
neren Pflicht, sondern bildet einen Teil der begründenden Erklä-
rung dafür, weshalb ich diese Verpflichtung habe. Ihre Natur und zur Einhaltung eines Versprechens neu beschreiben. Das ist aber keine normativ
der Charakter der Handlung, Ihnen zehn Dollar zu geben, reichen neutrale Neubeschreibung der Handlung: Die Aussage, dies sei eine Handlung
zur Einhaltung eines Versprechens, ist gleichbedeutend mit der Aussage, sie sei
nicht aus, um zu erklären, warum ich die Verpflichtung habe, Ihnen
verbindlich, insoweit echte Versprechen Verpflichtungen erzeugen. Es gibt hier
zehn Dollar zu geben.7 Schwierigkeiten, auf die ich nicht eingehen kann und die im Rahmen meiner
Absichten auch nicht gelöst werden müssen.
6 Siehe auch Simmons (1979), S.15. 8 Ich habe natürliche Pflichten als etwas charakterisiert, was durch die Natur der
7 Man könnte natürlich einwenden, daß Ihre Natur und der Charakter der Hand- Personen begründet ist, denen die Pflichten geschuldet sind, während besondere
lung, Ihnen einen Rettungsring zuzuwerfen, nicht ausreichen, um zu erklären, Verpflichtungen nicht so begründet sind. Das Einhalten von Versprechen und,
warum ich die Pflicht habe, Ihnen diesen Rettungsring zuzuwerfen: Wir müssen wie ich argumentieren werde, die Verpflichtungen gegenüber den engsten Mit-
auch festhalten, daß ich zufällig am Flußufer stand. Sobald ich jedoch in der Lage menschen sind durch den Charakter der Beziehung zwischen dem Verpflichteten
bin, Ihnen diesen Rettungsring zuzuwerfen, sind Ihre Natur und der Charakter und dem Verpflichtenden begründet. Ich habe offengelassen, ob andere Typen von
der Handlung sehr wohl eine ausreichende Erklärung für meine Pflicht. Ande- besonderen Verpflichtungen auf eine andere Tatsache gegründet sein können als
rerseits reicht selbst dann, wenn ich in der Lage sein sollte, Ihnen zehn Dollar zu auf die Beziehung zwischen Verpflichtetem und Verpflichtendem, wobei allerdings
geben (ich habe das Geld, und Sie stehen vor mir und halten die Hand auf), der alle besonderen Verpflichtungen durch etwas anderes oder durch mehr begründet
Hinweis auf Ihre Natur und den Charakter der Handlung nicht aus, um eine ent- sein werden als die intrinsische Natur des Verpflichtenden und den intrinsischen
sprechende Verpflichtung zu erklären oder zu begründen, sofern wir nicht darauf Charakter der geforderten Handlung.
verweisen können, daß ich Ihnen ein Versprechen gegeben habe. Man könnte 9 Diese Tatsache in bezug auf besondere Verpflichtungen gegenüber nahestehenden
darauf erwidern, daß ein Hinweis auf den Charakter der Handlung dann aus- Personen führt zu Schwierigkeiten für meinen Ansatz, die ich unten in Abschnitt
reicht, eine Verpflichtung zu begründen, wenn wir den Vorgang als eine Handlung III.2 erörtern werde.
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essen auf eine Art und Weise und in einem Maße zu fördern, wie stand, der offenbar meint, familiale Bindungen würden aufgrund
wir die Interessen anderer Personen, die keine enge Beziehung zu ihrer familialen Natur besondere Verpflichtungen hervorbringen;
uns unterhalten, nicht fördern müssen. (In Abschnitt III, in dem wohingegen meine Erklärung bei Freundschaften und Familienbe-
ich meinen eigenen Ansatz in bezug auf Verpflichtungen gegenüber ziehungen eine Gemeinsamkeit feststellt, die besondere Verpflich-
Familienmitgliedern darstelle, werde ich zeigen, warum derartige tungen erzeugt. Die Auffassung, daß sich besondere familiale Ver-
Beziehungen Verpflichtungen generieren.) pflichtungen aus Beziehungen der Vertrautheit ergeben, muß sich
Eine Verteidigung dieser Sicht des Wesens und des Ursprungs also zwei wichtigen Herausforderungen stellen: zum einen der all-
familialer Verpflichtungen stößt auf zwei Schwierigkeiten. Erstens gemeinen Beunruhigung in Anbetracht der Möglichkeit, besondere
kann es, wie ich im nächsten Abschnitt deutlich machen werde, Verpflichtungen könnten durch solche Beziehungen der Vertraut-
sehr viel problematischer erscheinen, besondere Verpflichtungen heit begründet sein, zum anderen der spezielleren Beunruhigung
auf Beziehungen der Vertrautheit zu gründen, als besondere Ver- im Hinblick auf die Natur familialer Verpflichtungen.
pflichtungen auf Beziehungen wie die zwischen dem Geber und
dem Adressaten eines Versprechens zu gründen. Die beunruhigen-
de Vorstellung, familiale Verpflichtungen könnten aus Beziehun- II. Die voluntaristische Herausforderung
gen der Vertrautheit hervorgehen, ist das, was ich die voluntari-
und die deflationäre Replik
stische Herausforderung nennen werde.10 Zweitens beinhaltet die
kurz skizzierte Auffassung die Angleichung von Familienpflichten Das Einhalten von Versprechen wird von vielen als ein unproble-
an Freundschaftspflichten: Beide ergeben sich aus Beziehungen der matischer Typ besonderer Verpflichtung angesehen. Das Abgeben
Vertrautheit. Selbst wenn sich besondere Verpflichtungen aus Be- eines Versprechens ist eine freiwillige Handlung: Die Beziehung
ziehungen der Vertrautheit ergeben, werden manche Philosophen zwischen dem Geber und dem Adressaten des Versprechens wird
einwenden wollen, daß besondere familiale Verpflichtungen, insbe- frei eingegangen. Wenn das Versprechen nicht freiwillig ist, dann
sondere diejenigen zwischen Eltern und Kind, eine andere Ursache ist es kein echtes Versprechen oder es erzeugt keine Verpflichtun-
haben als besondere freundschaftliche Verpflichtungen (obwohl gen. Verpflichtungen, ein Versprechen einzuhalten, sind demnach
es auch, wie sie zugeben, freundschaftliche Verpflichtungen zwi- solche, die wir ausdrücklich und freiwillig annehmen. Warum soll-
schen Eltern und - zumindest ihren erwachsenen - Kindern geben ten wir sonst, wenn wir solche Verpflichtungen nicht freiwillig ein-
kann).11 Und indem sie so argumentieren, folgen solche Philoso- gehen würden, annehmen, daß wir gegenüber den Adressaten des
phen im moralischen Denken dem gewöhnlichen Menschenver- Versprechens größere Verpflichtungen haben als gegenüber anderen
Menschen, vorausgesetzt, unsere Adressaten des Versprechens haben
10 Z u einer Diskussion des voluntaristischen Einwandes gegen assoziative oder
keine größere moralische Bedeutung? Der Voluntarismus, die These,
besondere Verpflichtungen im allgemeinen siehe Scheffler (1995b). Siehe auch
meine Replik auf Scheffler in Jeske (1996).
wonach die einzige Möglichkeit, wie wir besondere Verpflichtun-
1 1 Natürlich können Kinder aus einer Reihe beliebiger Gründe dazu verpflichtet gen erlangen können, in irgendeiner freiwilligen Handlung (oder
werden, sich um ihre alten Eltern zu kümmern, darunter auch aus utilitaristi- mehreren Handlungen) besteht - einer freiwilligen Handlung, die,
schen Gründen. Doch diese utilitaristischen Gründe schaffen keine besonderen wie wir wissen oder wissen sollten, die Übernahme besonderer Ver-
Verpflichtungen: Wir haben eine allgemeine Pflicht, das Wohlergehen zu fördern pflichtungen signalisiert —, zeigt seine Vorzüge dann, wenn wir zum
oder zu maximieren, und die Fürsorge für Eltern mag eine gute oder sogar die
Beispiel über die Verpflichtung zu fairem Verhalten oder zu Dank-
beste Möglichkeit sein, eine solche Pflicht zu erfüllen. (Wenn man utilitaristische
Pflichten so sehen will, daß sie anderen Personen geschuldet sind, dann sind
barkeit nachdenken. Wenn mir jemand einen Vorteil verschafft,
utilitaristische Pflichten natürliche Pflichten.) Wie ich im nächsten Abschnitt habe ich dann besondere Verpflichtungen, in einem arbeitsteiligen
zeigen werde, bin ich jedoch bemüht, den Grund für besondere Verpflichtungen Plan eine zugedachte Rolle zu spielen oder meinen Wohltäter zum
im echten Sinne zwischen Familienmitgliedern zu finden. Ausgleich irgendwie zu entlohnen? Viele würden sagen: Nur dann,
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wenn die Möglichkeit bestand, den verschafften Vorteil abzuleh- (d. h. sie ergeben sich nicht aus »moralisch verpflichtenden freiwilli-
nen; mit anderen Worten nur dann, wenn sich meine Akzeptanz gen Handlungen« [oder Handlungsreihen] wie einem Versprechen
des verschafften Vorteils als freiwillig auslegen läßt und wenn ich oder der Unterzeichnung von Verträgen), überhaupt nur deshalb
wissen konnte oder eigentlich gewußt haben sollte, was es mit der echte moralische Forderungen sein, weil sie die Form darstellen, »in
Akzeptanz dieser Vorteile auf sich hat.12 der wir eine natürliche moralische Pflicht am besten erfüllen kön-
Berücksichtigt man die Attraktivität der voluntaristischen The- nen«.13 Da es schwierig ist, familiale Verpflichtungen als Ergebnis
se, dann wird verständlich, warum besondere Verpflichtungen, die einer Handlung oder einer Reihe von Handlungen auszulegen, wie
nicht dem Einhalten von Versprechen (und anderen Arten eindeu- sie Versprechen, Verträge oder die freiwillige Annahme von Gütern
tig vertraglicher Verpflichtungen) gleichen, anscheinend schwer zu darstellen, sind familiale Verpflichtungen aus deflationärer Sicht
rechtfertigen sind und warum die Schwierigkeit, sie zu rechtferti- nur dann gerechtfertigt, wenn das mit solchen Verpflichtungen im
gen, in dem Ausmaß zunimmt, wie sich die Beziehungen, die diese Einklang stehende Handeln die beste Möglichkeit ist, wie man an-
besonderen Verpflichtungen angeblich hervorbringen, von der Be- dere, allgemeinere Pflichten, beispielsweise die unvollkommenen
ziehung beim Abgeben von Versprechen unterscheiden. Die Recht- Pflichten der Nächstenliebe, erfüllen kann.14
fertigung besonderer Freundschaftspflichten erscheint daher leich- Wir bemerken nun, daß unsere Beziehungen zu den Familien-
ter als die Rechtfertigung besonderer Familienpflichten. Schließlich mitgliedern im Zuge des deflationären Ansatzes nicht mehr zur
wählen die Personen ihre Freunde offenkundig auf eine Weise, wie grundlegenden oder konstitutiven Erklärung dafür herangezogen
sie ihre Eltern oder Geschwister nicht wählen. Und es sieht so aus, werden, warum wir die Verpflichtungen gegenüber unseren Fami-
als seien Personen, denen Freunde etwas Gutes tun wollen, in der lienmitgliedern haben, die wir haben. Vielmehr erleichtern es uns
Lage, diese Vergünstigung zurückzuweisen, während dies bei den die Beziehungen zu den Familienmitgliedern einfach, Pflichten ge-
Förderungen, die von Familienmitgliedern stammen, in vielen genüber Personen ganz allgemein zu erfüllen. Dem deflationären
Fällen nicht möglich ist, insbesondere nicht bei Gütern, die von Ansatz zufolge liefern uns familiale Beziehungen Gründe, die wir
den Eltern auf ihre Kinder übertragen werden. Obwohl besondere eher als extrinsische denn als intrinsische Gründe für besondere Ver-
Freundschaftspflichten möglicherweise den Voluntaristen zufrie- pflichtungen verstehen können. Die Beziehungen an sich und für
denstellen können - wenn wir Freundschaft als etwas auslegen, das sich betrachtet liefern keinerlei Gründe für die Verpflichtungen.
die freiwillige Erzeugung von Erwartungen, das implizite wie ex- Vielmehr haben wir gegenüber unseren Familienmitgliedern die-
plizite Abgeben von Versprechen und die freiwillige Annahme von
Gütern umfaßt - , bleiben besondere Verpflichtungen gegenüber 13 Simmons (1996), S. 30.
Familienmitgliedern angesichts der offenkundig unfreiwilligen Na- 1 4 Wenn man mit meinem vorigen Versuch, besondere Verpflichtungen von natür-
tur solcher Beziehungen in hohem Maße suspekt, sobald wir dem lichen Pflichten zu unterscheiden (wobei Verpflichtungen zur Einhaltung von
Voluntarismus zustimmen. Versprechen unter die erstere Kategorie zu rechnen sind), nicht ganz glücklich ist,
kann man zum Zweck der Diskussion einfach die Behauptung zum Ausgangs-
Eine mögliche Entgegnung auf die voluntaristische These be- punkt nehmen, daß wir bestimmte Pflichten und Verpflichtungen haben, dar-
steht in dem, was ich bezogen auf besondere familiale Verpflichtun- unter auch Pflichten zu gegenseitiger Hilfe und Verpflichtungen, gegebene Ver-
gen die deflationäre Entgegnung nennen werde. Der Deflationist sprechen einzuhalten. Wir können den deflationären Ansatz dann so betrachten,
vertritt die Ansicht, besondere familiale Verpflichtungen können, als behaupte er, daß alle Verpflichtungen, die wir gegenüber Familienmitgliedern
haben, (in einer direkten Form) auf irgendeinen Typ oder irgendwelche Typen
da sie der voluntaristischen These nicht unmittelbar gerecht werden
der Verpflichtung reduzierbar sein müssen, die in unserer Ausgangsmenge enthal-
1 2 Siehe z.B. die Erörterung der Verpflichtungen zum Fair play in Nozick (1976), ten waren. Wenn wir den deflationären Ansatz so verstehen, dann wird man mei-
S. 91 ff. Dazu ebenfalls Simmons (1979), Kapitel 5. AufVerpflichtungen zur Dank- ne in Abschnitt III dargelegte Auffassung noch nicht als deflationär bezeichnen
barkeit beruft man sich oft, um zu erklären, was erwachsene Kinder ihren Eltern können, weil ich zwar die familialen Verpflichtungen den Verpflichtungen zur
schulden. Siehe z. B. Jecker (1989); McConnell (1993), Kap. 7. Einhaltung von Versprechen angleiche, erstere aber nicht auf letztere reduziere.
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selben Pflichten, die wir gegenüber allen Personen haben, und die zu Familienpflichten nicht entgegenkommen. Schließlich werde
Beziehungen, die wir zur Familie haben, sind instrumentell, indem ich auf unterschiedliche Versuche eingehen, Familienpflichten ver-
sie uns befähigen, bestimmte unvollkommene Pflichten gegenüber mittels einer Ablehnung der voluntaristischen These zu verteidi-
Personen generell bestens zu erfüllen. Eine utilitaristische Darstel- gen, und diese Versuche, die einen großen Bereich von Intuitionen
lung besonderer Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern scheinbar besser berücksichtigen können, verwerfen. Die Ansätze,
ist ein paradigmatischer Fall deflationärer Erklärung, der das Pro- die ich untersuchen werde, möchten solche Familienpflichten auf
blematische an solchen Ansätzen aufzeigt: Wenn Verpflichtungen etwas gründen, das familiale Beziehungen im Gegensatz zu anderen
gegenüber Familienmitgliedern wirklich bloß Fälle der Pflicht zur Arten von Beziehungen auszeichnet.
Beförderung des Guten sind, dann werden derartige Verpflichtun-
gen jedesmal dann hinfällig, wenn wir mehr Gutes bewirken kön-
nen, indem wir das Handeln gemäß solchen Verpflichtungen un- III. Familiale Verpflichtungen und Voluntarismus
terlassen. Es ist aber doch wohl so, daß wir berechtigterweise zum
Wohl unserer Familienmitglieder handeln dürfen, selbst wenn wir Obwohl die Zurückführung von Freundschaftspflichten auf Fälle
durch ein anderes Handeln insgesamt mehr Gutes befördert haben vertraglicher Verpflichtungen in Anbetracht der Freiwilligkeit von
würden (wie von vielen Philosophen hervorgehoben wurde, hätte Freundschaften zumindest anfänglich den Eindruck zu erwecken
dasselbe selbstverständlich auch für das Einhalten von Versprechen vermag, es handele sich um ein plausibles Vorhaben, ist die Aussicht
zu gelten). Regel-Utilitaristen und Motiv-Utilitaristen unterneh- auf eine derartige Zurückführung bei familialen Verpflichtungen
men natürlich vereinte Anstrengungen, um mit dieser Sorte von sehr gering. Wie ich bereits deutlich gemacht habe, stehen familiale
Schwierigkeiten fertigzuwerden, doch die Probleme mit solchen Verpflichtungen offenbar sowohl zu vertraglichen Beziehungen als
Ansätzen sind allzugut bekannt." auch zu freundschaftlichen Beziehungen in einem starken Kontrast,
Der deflationäre Ansatz sollte daher meines Erachtens nur in dem insofern wir uns unsere Eltern oder Geschwister nicht aussuchen.
Fall akzeptiert werden, in dem wir keine plausible Erklärung finden Wenn wir also der voluntaristischen These Rechnung tragen wol-
können, der zufolge die Beziehungen zwischen Familienmitgliedern len, eine deflationäre Darstellung jedoch vermeiden wollen, müs-
der Rechtfertigung familialer Verpflichtungen intrinsisch sind; mit sen wir zeigen, daß familiale Verpflichtungen zwar keine Fälle des
anderen Worten, wir sollten die Behauptung, besondere familiale Einhaltens von Versprechen darstellen, daß ihnen aber dennoch die
Verpflichtungen seien echte besondere Verpflichtungen, nicht vor- gleichen Gründe zugrunde liegen wie der letztgenannten Art von
schnell aufgeben. Wir können die deflationäre Zurückführung von Verpflichtungen und daß sie dadurch die Voraussetzung des Volun-
offenkundig besonderen familialen Verpflichtungen auf Fälle der tarismus erfüllen. Bevor ich meinen eigenen Ansatz erläutere, werde
natürlichen Pflicht vermeiden, indem wir (i) zeigen, wie familia- ich kurz auf einen Versuch eingehen, familiale Verpflichtungen den
le Beziehungen das Erfordernis des Voluntarismus erfüllen, oder Verpflichtungen zur Einhaltung von Versprechen anzugleichen, ein
indem wir (ii) das Erfordernis des Voluntarismus zurückweisen. Versuch, der mißlingt, dabei jedoch enthüllt, was zu tun ist, um der
Ich werde als erstes meinen eigenen Ansatz vorstellen, der, wie ich voluntaristischen Herausforderung gerecht zu werden.
behaupte, der voluntaristischen These gerecht wird, ohne die fami-
lialen Verpflichtungen auf Fälle vertraglicher Verpflichtungen oder 1. Die Berufung auf Erwartungen
natürlicher Pflicht zurückzuführen. Mein Ansatz wird jedoch den
verschiedenen Intuitionen des gewöhnlichen Menschenverstandes Eine Vorgehensweise besteht darin, zu zeigen, daß sowohl die Insti-
15 Mein Aufsatz »Relatives and Relativism« mit Koautor Richard Fumerton (1997)
tutionen des Abgebens von Versprechen als auch die Institutionen
bringt eine vollständigere Erörterung von besonderen Verpflichtungen und Utili- der Familie (und der Interaktion unter Freunden) bei den verschie-
tarismus. denen Beteiligten in solchen Institutionen Erwartungen erzeugen.
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Oder wie Christina Hoff Sommers argumentiert: licher Konventionen, bei denen es auf die freiwillige Beteiligung des
angeblich Verpflichteten nicht ankommt.
Aufgrund der Konventionen für die Praktik, Versprechen abzugeben, hat
Sommers Ansatz ist insofern lehrreich, als er zeigt, daß jeglicher
der moralisch Betroffene neue und legitime Erwartungen bezüglich der
Versuch, den Voluntaristen zufriedenzustellen, den Verpflichteten
Erfüllung, die durch die ausdrücklichen Versicherungen des Gebers des
Versprechens hervorgerufen werden, der dem Adressaten des Versprechens in den Mittelpunkt stellen muß. Jede Berufung auf Erwartungen
diese Erfullungshandlungen im Grunde genommen vermacht hat. Und oder auf Rollen, über die der Handelnde nicht verfügen kann, ist
aufgrund dieser legitimen Erwartungen ist die Nichterfüllung der verspro- eine Absage an den Voluntarismus (ich werde solche Ansätze in
chenen Handlung verletzend und gleichbedeutend mit einem aktiven Ein- Abschnitt IV untersuchen). Dies wirft uns auf das Problem zurück,
griff in die Rechte des Betroffenen auf Handlungserfüllung.16 daß familiale Beziehungen allem Anschein nach nicht freiwillig
sind. Der Schein trügt allerdings, wie ich behaupten möchte: Fa-
Besondere Verpflichtungen werden also von gewissen Interakti- milienbeziehungen als solche sind zwar unfreiwillig, doch enge,
onstypen erzeugt (versprechen/versprochen bekommen, sich je- vertraute Beziehungen zwischen den Familienmitgliedern sind es
mandes annehmen/Beistand erhalten, betreuen/betreut werden), nicht, und es sind diese Beziehungen, die besondere Verpflichtun-
die aufgrund des sozialen Kontextes »Anlaß geben zu bestimmten gen zwischen den Familienmitgliedern begründen.
konventionellen Erwartungen (z. B. daß ein Versprechen gehalten
werden wird, daß ein Ehepartner treu sein wird, daß ein Kind die 2. Die Berufung auf Autonomie
Eltern respektieren wird)«.17
Selbst wenn die von Sommers gegebene (und auf Melden zu- Erinnern wir uns an die voluntaristische These: Die einzige Mög-
rückgehende) Darstellung des Versprechens richtig wäre, so könnte lichkeit, wie wir besondere Verpflichtungen erlangen können, ist
sie dennoch nicht standhalten, sobald man sie auf familiale Bezie- irgendeine freiwillige Handlung, von der wir wissen oder wissen
hungen ausweiten würde. Wenn ich verspreche, Ihnen zehn Dollar sollten, daß sie die Übernahme solcher Verpflichtungen signalisiert.
zu geben, dann bin ich es, die Verpflichtete, die die Erwartungen in Ich denke, der Voluntarist ist von der Sorge um die Autonomie
Ihnen, dem Adressaten der Verpflichtung, durch meine freiwillige der Handelnden motiviert, die durch besondere Verpflichtungen
Handlung geweckt hat. Nun ist es zum Beispiel zutreffend, daß vermeintlich gebunden sind. Wenn ich mich nicht selbst dazu ver-
Eltern bestimmte Dinge von ihren erwachsenen Kindern erwarten. pflichtet habe, mehr für jemanden zu tun, als die natürliche Pflicht
Die Kinder könnten allerdings erwidern: »Nicht ich, der angeblich verlangt, warum sollte dann angenommen werden, daß ich dazu
Verpflichtete, habe die Erwartungen meiner Eltern geweckt; viel- verpflichtet bin, nur weil ich in Praktiken oder Institutionen gelan-
mehr erwarten die Eltern etwas von mir, weil es bestimmte gesell- det bin, über die ich nicht verfügen kann. Das Individuum sollte
schaftliche Konventionen gibt, denen ich mich nicht zwanglos ent- in den Grenzen dessen, was ihm die natürliche Pflicht abverlangt,
ziehen konnte.« Im Falle des Versprechens (vor dem Hintergrund das heißt innerhalb der Grenzen, die ihm durch die grundsätzliche
einer sozialen Gepflogenheit, die die Äußerung des »Ich verspreche Natur anderer moralisch Handelnder gesetzt sind, eigene Vorhaben
das und das« regelt) ist es irgendeine Handlung des sich Verpflich- und Pläne frei entwickeln können, das eigene Leben in beliebi-
tenden, welche die Erwartung weckt. Aber im Falle des elterlichen ger Weise formen können. Nur weil irgend etwas von mir erwartet
Verhaltens sieht es so aus, als müßten wir annehmen, die Erwar- wird, bedeutet das nicht, daß ich mich dem fügen muß. Familiale
tungen seien durch die Handlungen des Adressaten der Verpflichtung Institutionen hingegen scheinen Zwänge zu sein, die uns ungefragt
veranlaßt oder durch die bloße Existenz irgendwelcher gesellschaft- auferlegt werden. Deshalb wirken familiale Forderungen auf uns
wie paradigmatische Fälle ungerechtfertigter Einschränkungen der
1 6 Hoff Sommers (1986), S. 446.
individuellen Autonomie.
1 7 Ebd. Demgegenüber sind Freundschaften offenbar der Fall einer Be-
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Ziehung, bei der die Individuen die Wahl haben, sie einzugehen und onstyp für sich betrachtet moralisch bedeutsam sein muß; ein oder
aufrechtzuerhalten. Freundschaftspflichten sind demnach in der zwei Bekundungen der Anteilnahme zum Beispiel werden ebenso-
Lage, der voluntaristischen Probe gerecht zu werden, weil sie kei- wenig eine Freundschaft ausmachen wie ein oder zwei aufschluß-
nen Verstoß gegen die individuelle Autonomie, sondern vielmehr reiche Gespräche. Es ist auch nicht immer leicht zu entscheiden,
eine ihrer Ausdrucksweisen darstellen: Freundschaften sind Teil ob zwei Personen Freunde sind. An welchem Punkt zum Beispiel
der frei gewählten Lebenspläne und Lebensentwürfe. Doch diese entwickelt sich ein kollegiales Verhältnis zu einer Freundschaft? Ist
Zweiteilung in den Charakter von Freundschaften einerseits und die Person, mit der ich zweimal in der Woche Tennis spiele, ein
den Charakter von Familienbeziehungen andererseits vereinfacht Freund? Um Fragen diesen Typs beantworten zu können, denken
zu stark: Beide Beziehungstypen sind bei weitem komplexer, als auf Personen über die Eigenart ihrer Interaktionen und über die Art
den ersten Blick ersichtlich. Sobald wir erkannt haben, daß Freund- von Vertrautheit nach, die zwischen ihnen besteht. Freundschaften
schaftspflichten die voluntaristische Probe zwar bestehen können, kommen durch komplizierte Verdichtungen von Handlungen und
dies aber auf viel kompliziertere Weise tun, als es die oben geschil- Haltungen zustande, sie sind Beziehungen der Vertrautheit und der
derte Darstellung nahelegt, werden wir aufgrund einer verbesser- bekundeten Anteilnahme.
ten Ausgangslage klären können, wie familiale Verpflichtungen der Kehren wir nun zu den voluntaristischen Bedenken zurück, die,
voluntaristischen Herausforderung gerecht werden können.18 Wir wie ich angedeutet habe, dafür Sorge tragen wollen, daß den Per-
werden folglich einige Zeit darauf verwenden müssen, das Wesen sonen genug Raum bleibt, um ihre eigenen Projekte und Pläne zu
von Freundschaft zu untersuchen, bevor wir auf die Familienpflich- entwickeln und ihren persönlichen Verpflichtungen nachzukom-
ten näher eingehen können. men. Wie das Beispiel der Freundschaft zeigt, werden Verpflich-
Als erstes müssen wir uns darüber klarwerden, daß Freundschaf- tungen und Projekte nicht immer in der Weise ausdrücklich ange-
ten nicht wie Handlungen, die mit dem Abgeben eines Verspre- nommen, wie Versprechen abgegeben werden. Es ist irreführend,
chens oder mit der Einwilligung in einen Vertrag verbunden sind, davon zu sprechen, man mache sich jemanden zum Freund, so als
in einzelnen, abgrenzbaren Handlungen eingegangen werden. Es ob das Zustandekommen einer Freundschaft genauso einfach wäre,
ist sogar schwierig, Freundschaften so auszulegen, als würde man wie ein Versprechen abzugeben. Ich kann mich dem Wohlergehen
sie über eine Reihe solcher klar identifizierbarer Handlungen einge- einer Person zutiefst verpflichtet fühlen, ohne dieser Person oder
hen. Personen werden dann Freunde, wenn zwischen ihnen Inter- mir selbst gegenüber diese Verpflichtung jemals besonders erwähnt
aktionen eines bestimmten Typs häufig genug stattgefunden haben, oder ausgesprochen zu haben. Freundschaften unterscheiden sich
Interaktionen, die ausdrückliche Anteilnahme, Offenbarung des insofern von Ehen, als sie ohne spezielles Gelöbnis oder Erklärun-
Ichs und, einfacher noch, gemeinsame Aktivitäten umfassen. Aber gen der Loyalität auskommen, die den beteiligten Personen das
die Interaktionstypen, die zusammengenommen eine Freundschaft Wesen ihrer Beziehung und ihrer wechselseitigen Erwartungen klar
ausmachen, sind nicht so beschaffen, daß jeder einzelne Interakti- umreißen. (Manche Freunde geben vielleicht solche ausdrückli-
chen Erklärungen ab, aber normalerweise dienen sie dann dazu,
18 In ihrem bekannten Aufsatz »What Do Grown Children Owe Their Parents?«
bereits bestehende Tatsachen über das Verhältnis zu konstatieren.
argumentiert Jane English, daß »die Pflichten erwachsener Kinder diejenigen von
Freunden sind und sich aus der Liebe zwischen ihnen und ihren Eltern ergeben«
Beispielsweise, wenn sich Freundinnen sagen: »Du weißt, daß du
(English 1979, S.351). Meine Darstellung familialer Verpflichtungen akzeptiert immer zu mir kommen kannst, wenn du Hilfe brauchst« oder »Ich
diese These von English in einer gewissen Form; meine Darstellung ist allerdings werde dir immer den Rücken stärken«.)
ein Versuch zu erklären, warum die von Freundschaften und bestimmten fami-
Der Voluntarist wird jedoch folgendermaßen Druck ausüben:
lialen Beziehungen geteilten Eigenschaften tatsächlich Verpflichtungen hervor-
bringen - eine Frage, zu der English in ihrem Aufsatz nichts sagt. Wenn wir
Wenn die Verpflichtung nicht freiwillig zustande kam, dann wer-
eine solche Erklärung haben, können wir den Auffassungen, die ich im nächsten den die daraus hervorgehenden Pflichten Ausdruck eines Verstoßes
Abschnitt diskutieren werde, aus einer deutlich besseren Position begegnen. gegen die individuelle Autonomie sein. Und wenn Freundschaften
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auf die Art und Weise entwickelt werden, wie ich das behauptet Reihe von Überlegungen und verschiedener Begegnungen. Wenn
habe, können wir dann wirklich annehmen, daß die betreffenden die Voluntaristin darum besorgt ist, der Entwicklung von Projek-
Personen wissen, daß ihre Handlungen eine Übernahme besonde- ten und Engagements Raum zu lassen, braucht sie sich nur anzu-
rer Verpflichtungen signalisieren? Lassen Sie uns zunächst danach schauen, wie reale Engagements und Projekte entwickelt werden.
fragen, ob Freundschaften freiwillig eingegangen werden. Es ist rich- Da größere Lebenspläne oder Engagements nicht so direkt gewählt
tig, daß wir häufig zufällig in Situationen hineingeraten, die zur Ent- werden, wie man Versprechen abgibt, dürfen wir den Wahltypus,
stehung von Freundschaften führen - man denke an Kollegen, an der mit Versprechen und Verträgen verbunden ist, nicht mehr als
Zimmergenossen im Studentenwohnheim, Stubenkameraden beim paradigmatisch ansehen für den Wahltypus, der Autonomie zum
Wehrdienst usw. Wir können aber stets kontrollieren, was geschieht, Ausdruck bringt. Die Beziehungen zwischen den Gebern und den
wenn wir in solche Situationen hineingeraten, denn schließlich wer- Adressaten von Versprechen sind Gegenstand einfacher Wahlhand-
den einige Kollegen oder Zimmergenossen niemals zu Freunden. lungen, und folglich verletzen auch die daraus hervorgehenden Ver-
Freundschaft verlangt eine Vertrautheit, die nicht erzwungen wer- pflichtungen die Autonomie desjenigen nicht, der das Versprechen
den kann.19 Ein Geiselnehmer oder jemand, der mein Verhalten zu abgibt. Enge persönliche Beziehungen sind Gegenstand komplexer
wissenschaftlichen Zwecken beobachtet, könnte sehr viel über mich Wahlhandlungen, und aus diesem Grund verletzen die daraus her-
herausfinden und wissen. Aber echte Vertrautheit verlangt neben vorgehenden Verpflichtungen die Autonomie der beteiligten Per-
einer kausalen Interaktionsgeschichte eine Offenbarung des Selbst- sonen nicht.
verständnisses einer Person, und sie verlangt eine Gegenseitigkeit Sobald wir das grundlegende Anliegen der Voluntaristen ver-
solcher Offenbarungen. Vorausgesetzt, Freundschaften kommen standen haben, müssen wir uns nicht länger auf die einfache Wahl
zum Teil durch echte Vertrautheit zustande, dann sind sie Beziehun- als eine solche, die ausnahmslos jene besonderen Beziehungen
gen, die auf Freiwilligkeit beruhen. herstellt, welche besondere Verpflichtungen begründen, konzen-
Da die Offenbarungen und Interaktionen, die eine enge per- trieren. Echte Vertrautheit kann nicht erzwungen werden, aber sie
sönliche Beziehung ausmachen, Zeit brauchen und wiederholte kann auch nicht in einer einzigen isolierbaren Handlung gewählt
Interaktionen nötig machen - eine Unterhaltung macht noch kei- werden, vergleichbar der Aussage »Ich verspreche«. Vertrautheit ist
ne Freundschaft aus - , entspricht die Wahl, die zur Freundschaft eine Errungenschaft, die Mühe und eine länger währende Interakti-
gehört, keinem einfachen Wahltypus: Die Wahlhandlung, mit on voraussetzt. Doch weshalb sollte man annehmen, daß Personen
jemandem Freundschaft zu schließen, ist nicht so, wie wenn ich gegenseitig besondere Verpflichtungen haben, sobald eine derartige
sage: »Ich verspreche das und das.« Bemerkenswert ist aber, daß Vertrautheit besteht? Und wie bestimmen wir die Inhalte solcher
eine solche komplexe Wahlhandlung mit den meisten Vorhaben Verpflichtungen? Beim Versprechen ist es einfach, die letztgenannte
verbunden ist, die in unserem Leben eine zentrale Rolle spielen: Frage zu beantworten, weil ich dann, wenn ich meine Beziehung
Meine Entscheidung, Philosophin zu werden, war nicht einfach zu dem Adressaten des Versprechens wähle, damit gleichzeitig den
eine Wahl, die ich traf, als ich mein Studienfach oder den Gra- Inhalt meiner Verpflichtung wähle. Was schulden Freunde einan-
duiertenstudiengang aussuchte - es ist eine Wahl, die eine Selbst- der, in Anbetracht der mit einer Freundschaft verbundenen kom-
definition beinhaltet, eine Wahl, deren Inhalte und Implikationen plexen Wahl? Diese Frage führt uns auch zu einer früher schon
möglicherweise erst nach vielen Jahren klargeworden sind. Ebenso gestellten Frage zurück: Kann von Personen ein Bewußtsein dahin
verhält es sich mit dem Engagement für eine soziale Sache: Derar- gehend erwartet werden, daß die Handlungen, die letzten Endes
tige Engagements entstehen oft im Laufe der Zeit als Ergebnis einer eine Freundschaft zuwege bringen, die Übernahme besonderer Ver-
pflichtungen signalisieren?
19 Ich danke Thomas Hurka, der mich auf die Notwendigkeit hingewiesen hat, zwi- Um verstehen zu können, warum Freundschaftsbeziehungen
schen erzwungener Intimität und echter Intimität zu unterscheiden. Verpflichtungen begründen, ist es wichtig, den eigentümlichen
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Charakter des Projekts oder des Engagements zu erkennen, das zu werden, müssen die Handelnden über das Wesen ihrer Freund-
Freundschaft ist. Es ist ein Projekt, das, anders als mein Vorhaben, schaft nachdenken, sonst werden sie ihre Verpflichtungen nicht er-
Philosophin zu sein, notwendig oder wesentlich eine bestimmte kennen. Der gemeinschaftliche Charakter der Freundschaft kann
andere Person einbezieht. Tatsächlich muß diese andere Person ein allerdings ohne viel Nachdenken erkannt werden: Von Personen
Projekt haben, das mich einschließt, damit mir mein Projekt gelin- kann erwartet werden, zu wissen, daß sie ein gemeinsames Projekt
gen kann.20 Freundschaft ist folglich das, was wir als ein »beidersei- entwickelt haben, wenn sie eine enge Beziehung zu einer anderen
tiges Projekt« bezeichnen können. Und nach Ablauf einer gewissen Person aufbauen. Während also die freiwillige Natur der Freund-
Zeit können wir sagen, es sei unser Projekt, nicht mehr nur das schaft die Forderungen, die an die Beteiligten gestellt werden, mit
individuelle Projekt jedes einzelnen für sich.21 Echte Vertrautheit der Voraussetzung des Voluntarismus in Einklang bringt, ist es der
verlangt solche Gegenseitigkeit und Reziprozität. Nachdem eine gemeinschaftliche Charakter des Projekts einer engen, vertrauten
Freundschaft hergestellt ist, hat jeder der Freunde ein Projekt, das Beziehung, der die Forderungen erzeugt, die Beziehung weiterhin
den anderen wesentlich einschließt und ständige Beteiligung er- zu pflegen und das Projekt aufrechtzuerhalten.24
fordert.22 Während andere Projekte es dem Handelnden manch- Um es noch einmal zusammenzufassen: Die Voluntaristin sorgt
mal moralisch erlauben, nicht jedoch moralisch abverlangen, das sich um die freiwillige Wahl der Verpflichtungen, weil es ihr dar-
Projekt auf Kosten des allgemeinen Interesses zu verfolgen, erzeugt um geht, einen Bereich autonomen Handelns zu schützen, in dem
die Freundschaft wegen ihres grundsätzlich gemeinschaftlichen ein Handelnder Projekte und Pläne entfalten kann. Wenn wir uns
Charakters Verpflichtungen, nämlich moralische Forderungen des aber die Freundschaft anschauen, ein Projekt, das im Leben vieler
Typs, sich weiterhin für den anderen zu interessieren und die Ver- Personen eine zentrale Rolle spielt und das eines der wertvollsten
trautheit aufrechtzuerhalten.23 Um sich solcher Tatsachen bewußt Projekte ist, das Personen entwickeln können, sehen wir, daß der
20 Ich spreche natürlich nicht von einem Projekt, überhaupt Freunde haben oder damit verbundene Typus einer Wahlhandlung keineswegs unkom-
Freundschaft schließen zu wollen. Ich spreche von dem Projekt einer Freund- pliziert ist. Vertrautheit, der Kern von Freundschaften, kann nicht
schaft mit einer bestimmten Person. Dies schließt wesentlich einen bestimmten in einer einzigen, isolierten Handlung gewählt werden. Die Ver-
anderen ein, das erstgenannte Projekt jedoch nicht. trautheit kann jedoch Verpflichtungen begründen, insofern sie ein
21 Ich möchte nicht, daß meine Rede von wechselseitigen Projekten oder von unse- beiderseitiges Projekt ist, in dem sich die Autonomie der Beteilig-
ren Projekten als eine Ablehnung des Individualismus oder dessen, was als »Ato-
ten ausdrückt: Die Beiderseitigkeit des Projekts ist das, was Ver-
mismus« bekannt geworden ist, mißverstanden wird. Ich postuliere keineswegs
irgendein von den einzelnen Beteiligten unterschiedenes metaphysisches »Wir«. pflichtungen statt Erlaubnisse hervorbring; und was die Bedenken
Ich betone vielmehr eine Tatsache, die den Charakter des Projekts der Freund- der Voluntaristen hinsichtlich der besonderen Verpflichtungen der
schaft und die Einstellungen der an einer Freundschaft Beteiligten betrifft. Z u Freundschaft untergräbt, ist die Tatsache, daß sich echte Vertraut-
einer Debatte solcher Projekte, die den Individualismus tatsächlich ablehnt, siehe heit nicht erzwingen läßt.
C. Taylor (1989).
Es ist klar, warum eine solche Darstellung der Freundschaft die
22 Ein solches Projekt der Freundschaft zu haben kann in den Köpfen der Beteilig-
ten mehr oder weniger ausdrücklich artikuliert sein; oft tritt eine solche Artiku- Möglichkeit einer vergleichbaren Darstellung familialer Beziehun-
lation nur in Krisenzeiten auf. was ich schulde, mit dem korreliert, was ich gewählt habe. Im einen Fall habe ich
23 Anders als bei den meisten Versprechen ist also der Inhalt von Pflichten gegen- den Inhalt meines Versprechens gewählt, im anderen Fall habe ich den Charakter
über Freunden nicht abschließend geklärt: Von ihnen wird verlangt, sich für- des gemeinsamen Projekts gewählt. Auf diesen Punkt werde ich später noch zu-
einander zu interessieren und die Freundschaft zu erhalten (natürlich sind dies rückkommen.
prima facie Erfordernisse, die außer Kraft gesetzt werden können). Wenn Tracy 24 Hinsichtlich des Versprechens ist es der freiwillige Charakter eines Versprechens,
meine Freundin ist, dann gibt es keine besonderen Handlungen, zu denen ich der die daraus hervorgehenden Verpflichtungen mit dem Erfordernis des Volun-
vielleicht verpflichtet wäre, es sei denn, bestimmte besondere Handlungen sind tarismus in Ubereinstimmung bringt. Eine Darstellung des Versprechens hätte
notwendige Bedingungen meines persönlichen Interesses an Tracy und der Auf- die zweite Frage zu beantworten: Warum erzeugen Versprechen solche Forderun-
rechterhaltung unserer Freundschaft. Doch ebenso wie beim Versprechen ist das, gen?
232 20 7
gen eröffnet. Die Schwierigkeit, diese beiden Beziehungsformen unverzichtbar ist: Wir können zu Kollegen oder Zimmergenossen
vergleichbar zu machen, entsteht dann, wenn wir die beiden Bezie- emotional Distanz halten. Als Kinder aber sind wir aufgrund un-
hungsformen unmittelbar an das Modell des Versprechens und des serer Abhängigkeit zu engen Beziehungen mit bestimmten ande-
Vertrags anschließen wollen und familiale Beziehungen als solche als ren Personen gezwungen, und wir haben nicht die Freiheit, unsere
gewählt betrachten wollen. Was auf eine komplexe Weise gewählt Lebensumstände zu verändern, um dieser Abhängigkeit zu entge-
ist, ist eine bestimmte Art der Beziehung zu einem Familienmit- hen. Außerdem scheint zum Beispiel die Vertrautheit zwischen El-
glied. Durch biologischen Zufall oder andere Umstände sind wir in tern und Kindern von Gegenseitigkeit weit entfernt zu sein: Auch
unzählige kausale Interaktionen mit Familienmitgliedern verwik- wenn Kinder ihren Eltern vertrauen, ist es selten, daß sich Eltern
kelt. Für viele von uns haben diese Interaktionen einen beiderseits ihren Kindern offenbaren. Die Vertrautheit zwischen Eltern und
fürsorglichen und vertrauten Charakter. Oft müssen wir genauso Kindern scheint also auf wechselseitiger Interaktion zu beruhen,
wie bei Freundschaften erst nachdenken, bevor uns bewußt wird, ohne irgendeine wechselseitige Offenbarung des Selbst. Elterliche
welche Vertrautheit zwischen uns und unseren Familienmitglie- Verpflichtungen gegenüber Kindern können natürlich als freiwillig
dern besteht, und die Umstände, die zur Entwicklung der Bezie- angenommene Verpflichtungen ausgelegt werden (siehe Anm.i).
hung führen oder doch wahrscheinlich dazu führen, können wir Aber was ist mit den Verpflichtungen der Kinder gegenüber den
uns entweder gar nicht oder kaum aussuchen. Trotzdem schließen Eltern? Diese Tatsachen über die Abhängigkeit und den Mangel
diese Tatsachen, wie wir in bezug auf die Freundschaft feststellen an Gegenseitigkeit können, wie es aussieht, die Angleichung an die
konnten, diejenigen Handlungen nicht aus, die Voraussetzung da- Freundschaft untergraben.
für sind, daß die Beziehung selbst eine Angelegenheit der Wahl ist. Es ist richtig, daß die Vertrautheit, die sich zum Beispiel zwi-
Der damit verbundene Wahltypus entspricht wiederum nicht dem schen Geschwistern entwickelt, ihrem Wesen nach häufig auf ei-
einfachen Typus wie bei Versprechen und Verträgen, aber es gibt nem Wissen über den anderen basiert, das sich aufgrund der Be-
keinen Grund, solche Fälle der Wahl als die einzig wahren Fälle dingungen, unter denen Geschwister aufwachsen, kaum vermeiden
aufzufassen.25 läßt. Ebenso ist die sehr genaue Kenntnis, welche Eltern von ihren
Zwischen vielen familialen Beziehungen und Freundschaften Kindern haben, etwas, das sich durch die Abhängigkeit der Kinder
gibt es jedoch wichtige Unterschiede, die meinen Versuch, eine An- notwendig ergibt. Diese Tatsachen schaffen Gründe, sowohl zu den
gleichung vorzunehmen, scheitern lassen könnten. Im Hinblick auf Geschwistern als auch zu den Eltern echte vertrauensvolle Bezie-
Geschwister, auf Eltern und oft auch Großeltern befinden wir uns hungen zu entwickeln: In den Beziehungen zwischen erwachsenen
in Lebensumständen, die eine Interaktion erfordern, und was Eltern Kindern und Eltern und zwischen erwachsenen Geschwistern las-
oder Großeltern angeht, so sind wir von ihrer Fürsorge abhängig. sen sich Formen von Werten verwirklichen, die auf keine andere
Als Erwachsene können wir uns, sogar auf engem Raum, schlicht- Weise verwirklicht werden können. Der Typ vorbehaltloser Liebe,
weg weigern, das zu tun, was zur Ausbildung einer Freundschaft der uns von Eltern entgegengebracht wird, sollte nicht leichtfertig
abgetan werden.26 Und die Geschichte, die wir mit Geschwistern
2 5 Eine vergleichbare Verwirrung entsteht manchmal bei der Erörterung von Gefüh-
len. Man sagt häufig, daß wir es uns nicht aussuchen können, zu einer bestimm-
teilen, kann die Grundlage für ungewöhnlich verständnisvolle In-
ten Zeit ein bestimmtes Gefühl zu empfinden. Wenn wir darunter verstehen, daß teraktionen bilden - denn die Fähigkeit, mit den Schwächen und
wir zum Beispiel nicht in derselben Weise wählen können, wütend zu sein, wie Verschrobenheiten von anderen umzugehen, kann immens verbes-
wir wählen können, »ich verspreche« zu sagen, ist das zutreffend. Im Laufe der sert werden, wenn wir wissen, wie sie aufgewachsen sind. Solche Tat-
Zeit können wir jedoch Entscheidungen treffen und Handlungen vollziehen, die sachen führen naturgemäß oft dazu, daß Personen vertrauensvolle,
Einfluß darauf nehmen, welche Art von Person wir werden, ob wir beispielsweise
Leute sind, die in bestimmten Situationen wütend werden. Das Empfinden eines 26 Siehe auch Kupfer (1990) mit einer interessanten Erörterung der zwischen Eltern
bestimmten Gefühls ist vielleicht in einem unmittelbaren Sinne nicht freiwillig, und Kindern realisierbaren Beziehungen, auch wenn ich seiner These, Eltern und
was aber nicht heißt, daß die Gefühle unserer Kontrolle entzogen sind. erwachsene Kinder könnten keine Freunde sein, nicht zustimme.
2-34 235
enge Beziehungen entwickeln, weshalb familiale Rollen oft mit den Auch in Konstellationen, in denen von Mißbrauch keine Rede sein
Typen von Beziehungen korrelieren, die besondere Verpflichtun- kann, sind Eltern oft nicht in der Lage, ihre autoritären Rollen
gen erzeugen. Doch sie sind nicht immer so korreliert. Wenn sich aufzugeben, wodurch sie jegliche Intimität im Verhältnis zu ihren
zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern oder zwischen erwachsenen Kindern verhindern. Infolgedessen distanzieren sich
erwachsenen Geschwistern keine echte Vertrautheit entwickelt,27 erwachsene Kinder allmählich von ihren autoritären Eltern, um
dann haben die Erwachsenen keine besonderen Verpflichtungen ihr eigenes Leben leben zu können. Desgleichen entwickeln sich
gegenüber Eltern oder Geschwistern. Es mag natürlich utilitaristi- Geschwister häufig allzu unterschiedlich, als daß ihr Umgang und
sche Gründe geben, für diejenigen zu sorgen, die biologisch mit ihre Verständigung noch irgendwie zufriedenstellend sein könnte.
uns verwandt sind, aber wie ich oben betont habe, etablieren solche In derartigen Beziehungen gibt es keine beiderseitigen Projekte und
utilitaristischen Gründe keine echten besonderen Verpflichtungen folglich auch keine besonderen Verpflichtungen. Solche Situationen
und können von konkurrierenden utilitaristischen Anliegen außer sind zumeist höchst bedauerlich, aber sie entstehen nun einmal.
Kraft gesetzt werden, während echte besondere Verpflichtungen Im nächsten Abschnitt werde ich zeigen, welche unerquicklichen
utilitaristische Gründe außer Kraft setzen können (dies aber nicht Resultate wir erzielen, wenn wir versuchen, familiale Verpflichtun-
immer tun). Das bloße Faktum einer biologischen Beziehung be- gen auf etwas zu gründen, was biologische oder familiale Rollen als
gründet keinerlei besondere Verpflichtungen. solche auszeichnet. Wie ich oben schon sagte, ist mein Ansatz in
In diesem Punkt werden viele meiner Darstellung nicht mehr gewissen Hinsichten kontraintuitiv. Ich möchte aber zeigen, wa-
folgen wollen. Ich habe die familialen Verpflichtungen an nichts rum Intuitionen gefährlich sein können, wenn wir uns blind von
gebunden, was familiale Beziehungen auszeichnet, deshalb ist im- ihnen leiten lassen.
mer eine reale Möglichkeit gegeben, daß Geschwister untereinan- Wir sollten uns auch davor hüten, die Art von Vertrautheit, die
der keine besonderen Verpflichtungen haben werden und — beun- wir aus unseren im Erwachsenenalter geschlossenen Freundschaften
ruhigender vielleicht - daß erwachsene Kinder keine besonderen kennen, in den Beziehungen zu Familienmitgliedern wiederfinden
Verpflichtungen gegenüber ihren Eltern haben werden, selbst wenn zu wollen. Mit den Freunden des Erwachsenenalters haben wir oft
diese Eltern in den Jahren kindlicher Abhängigkeit treulich für sie gemeinsame Interessen, und diese Interessen bilden die Grundlage
gesorgt haben. Auch wenn ich jetzt eine Erklärung für besondere der Freundschaft. Die Vertrautheit mit den Eltern unterscheidet
Verpflichtungen gegenüber Familienmitgliedern vorgelegt habe, sich sehr von dieser Art der Vertrautheit: Es ist eine Vertrautheit,
habe ich also noch längst keine Erklärung für unverwechselbar fa- die oft auf einer gemeinsam erlebten Geschichte beruht - der läng-
miliale Verpflichtungen vorgelegt. sten, die wir mit irgend jemandem haben können. Wenn ich also
Wie ich aber oben schon andeutete, haben familiale Rollen spe- Freundschaften und Familienbeziehungen angleichen möchte, will
zielle Charakteristika, die Vertrautheit und Anteilnahme in ein- ich die Unterschiede zwischen ihnen keineswegs verwischen. Denn
maliger und besonders wertvoller Form zugänglich machen. Mit das könnte nur Verwirrung stiften, wenn man zu klären versucht,
niemandem außer unseren Geschwistern können wir eine Form was wir den verschiedenen Personen schulden, die uns nahestehen.
von Verständnis ausbilden, die auf der Erfahrung des gemeinsa- Das Wesen der Beziehung bestimmt, was den Inhalt unserer Ver-
men Aufwachsens beruht. Von niemandem außer unseren Eltern pflichtungen ausmacht: Auf jeden Fall müssen wir uns um die uns
können wir vorbehaltlose Liebe und Unterstützung erhalten. Diese nahestehenden Personen kümmern, weil die Bemühung um sie und
Tatsachen gelten jedoch nur für bestimmte familiale Beziehungen. die Förderung ihrer Interessen zur Aufrechterhaltung des Projekts
der Freundschaft unerläßlich ist, und damit wir uns um sie küm-
27 Wenn ich den Begriff »erwachsen« verwende, denke ich dabei nicht an ein festge-
legtes Alter. Ich möchte also Teenager keineswegs ausschließen. Das Lebensalter,
mern können, müssen wir uns ihren Bedürfnissen und Interessen
in dem Personen anfangen können, im Verhältnis zu den Eltern Freundschaften und dem Kontext der Freundschaft aufmerksam zuwenden.
auszubilden, kann sich erheblich unterscheiden. Vielen Menschen wird jedoch eine Auffassung nicht behagen,
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die bestreitet, daß Kinder allein schon wegen der Güter, die Eltern tragung von Gütern, wie sie für das Eltern-Kind-Verhältnis typisch
typischerweise ihren Kindern mitgeben, Verpflichtungen gegen- ist, ausreicht, um besondere Verpflichtungen zu erzeugen, gleich-
über ihren Eltern haben. Eine beliebte Erklärung (siehe Anm. 12) gültig ob wir uns dabei nun auf Dankbarkeit oder irgendeine an-
für die Verpflichtungen erwachsener Kinder gegenüber ihren El- dere Erklärung berufen. Außerdem möchte ich bestreiten, daß die
tern beruft sich auf die Verpflichtung zur Dankbarkeit für erhaltene Verwirklichung oder Übertragung von Gütern zur Erzeugung be-
Güter. Allgemeiner gesagt könnte man allerdings behaupten, daß sonderer Verpflichtungen überhaupt notwendig ist. Um gleich mit
die Interaktionen zwischen den Personen Verpflichtungen erzeu- dem letzten Punkt zu beginnen — denken wir an Freundschaften,
gen, wenn solche Interaktionen die Verwirklichung oder Übertra- die sich daraus ergeben, daß die Beteiligten unmoralischen oder
gung verschiedenartiger Güter oder das gemeinsame Ertragen von trivialen Aktivitäten nachgehen. Solche Personen können sich sehr
Verletzungen beinhalten. Erwachsene Kinder haben demnach Ver- nahekommen und sich dem Wohlergehen des anderen stark ver-
pflichtungen gegenüber ihren Eltern aufgrund der Interaktionen, pflichtet fühlen. Im Laufe ihrer Beziehung entwickeln sie dann all-
in denen die Eltern bedeutende Güter auf die Kinder übertragen mählich auch Verpflichtungen, sich um die Belange des anderen zu
haben. Geschwister haben eine Geschichte gegenseitiger Hilfe oder kümmern. Eine derartige Anteilnahme wird ihnen möglicherweise
in von Mißbrauch geprägten Kontexten eine geteilte Geschichte abverlangen, den Charakter ihrer gemeinsamen und/oder individu-
durchlebter Verletzungen. Natürlich erzeugen viele nichtfamiliale ellen Aktivitäten zu verändern — ob sie sich darüber nun im klaren
Beziehungen ebenfalls Verpflichtungen, die aus einer Geschichte sind oder nicht. Sie müssen sich für die Bedürfnisse und Interessen
der Verwirklichung oder Übertragung von Gütern oder gemein- des jeweils anderen öffnen, und diese Bedürfnisse und Interessen
sam ertragener Verletzungen resultieren. Familiale Beziehungen können von den eigentlichen subjektiven Zielen abweichen. Eben-
bieten aber gerade wegen der Eigenschaften, die meinem Ansatz so sind Familien, gerade unter schwierigen Umständen, nicht im-
anscheinend Schwierigkeiten bereiten, nämlich der zwangsläufi- mer erfolgreich darin, Güter zu verwirklichen oder zu übertragen,
gen Abhängigkeit der Kinder und erzwungenen Interaktion der oder die Mitglieder einer Familie bemerken vielleicht nicht, was
Geschwister, einzigartige Möglichkeiten für die Verwirklichung nötig ist, um das Wohlergehen eines jeden zu fordern. Doch sobald
oder Übertragung von Gütern und werden deshalb auf verläßli- sich vertraute, emotional engagierte Beziehungen zwischen den
che Weise Verpflichtungen erzeugen. Eine solche Auffassung hat Mitgliedern einer solchen Familie entwickeln, haben die Familien-
den Vorzug, sich auf die tatsächlichen Interaktionen zwischen den mitglieder besondere Verpflichtungen, das Wohlergehen des jeweils
Familienmitgliedern zu berufen, und sie hat außerdem den Vor- anderen zu fördern, ganz gleich, wie unfähig oder erfolglos sie dabei
zug, sich auf eine Eigenschaft zu berufen, die viele normalerweise in der Vergangenheit gewesen sind.
mit Familienbeziehungen verbinden, nämlich die Verwirklichung Was aber ist mit dem Fall, in dem es den Eltern gelingt, ihren
von Gütern. Daß wir unsere Familienverhältnisse nicht wählen, ist Kindern bedeutende Güter mitzugeben (Bildung, Ernährung,
dieser Auffassung zufolge nicht relevant; die Tatsache, daß solche moralische Unterweisung usw.)? Sollte das nicht genügen, um be-
Verhältnisse einmalige Möglichkeiten des Teilens von Gütern oder sondere Verpflichtungen zu erzeugen, aufgrund deren die Kinder
der Verwirklichung von Gütern bieten, reicht vielmehr schon aus, später einmal für ihre Eltern sorgen müssen? Güter, die freiwillig
um sie zu Verhältnissen zu machen, die tendenziell besondere Ver- akzeptiert werden, wie die Finanzierung eines Studiums, können
pflichtungen entstehen lassen. selbstverständlich Verpflichtungen schaffen. Doch was ist mit den
Obwohl die Verwirklichung von Gütern oder das geteilte Erle- Gütern, die Kindern in einem Alter zuteil werden, in dem sie noch
ben von Verletzungen Faktoren sein können, die für die Entwick- unfähig sind, Güter zurückzuweisen oder die Implikationen einer
lung und Aufrechterhaltung einer engen, liebevollen Beziehung Annahme solcher Güter zu kennen? Die Schwierigkeit bei der Be-
wichtig sind, und daher in meiner Darstellung durchaus eine Rolle trachtung solcher Fälle ist, daß Eltern, die solche Unterstützung ge-
zu spielen haben, möchte ich bestreiten, daß eine einseitige Über- währen, ihre Kinder normalerweise auf eine Art und Weise lieben,
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die naturgemäß auch später im Leben zu engen und liebevollen Be- IV. Biologie und Rollen: Einige Absagen
ziehungen führt, und in solchen Fällen glauben wir, daß die Kinder an den Voluntarismus
ihren Eltern eine ganze Menge schulden. Nehmen wir nun einen
Fall, in welchem dem Kind im abhängigen Lebensalter materielle Beim Versuch, familiale Verpflichtungen auf etwas zu gründen, was
Güter zuteil werden, zum Zeitpunkt aber, als es das Erwachsenen- Familienbande als solche auszeichnet, bieten sich unmittelbar zwei
alter erreicht, die Eltern ihre gesamte Energie auf andere Zielset- Lösungswege an: Man kann sich auf die Biologie berufen, oder man
zungen verlegen und damit zu verstehen geben, daß sie der Ansicht kann sich auf die sozialen Rollen und den Charakter der sozialen
sind, sie hätten ihre Pflicht an dem Nachwuchs erfüllt und könnten Institution Familie berufen.
sich nun anderen Lebenszielen widmen. Das erwachsene Kind ent-
wickelt zwangsläufig andere Beziehungen und konzentriert seine 1. Die Berufung auf die Biologie
Energien auf Personen, mit denen es eng vertraut ist. Hat dieses
Kind besondere Verpflichtungen, für die Eltern zu sorgen, weil es Ich werde nicht in allen Einzelheiten auf die evolutionäre Ethik
Unterstützung durch sie erfahren hat? Ich neige zu der Auffassung, eingehen. Ein Projekt, das wir dem Evolutionsethiker sicherlich
daß es diese nicht hat, weil es die Güter nicht ablehnen konnte unterstellen können, ist die Ermittlung der Genese unserer morali-
und weil die Güter nicht zu einer engen persönlichen Beziehung schen Überzeugungen und Praktiken.29 Der Evolutionsethiker Mi-
beitrugen. Utilitaristische Überlegungen mögen auch hier wieder chael Ruse zum Beispiel bestreitet, daß es irgendeine »begründete
verlangen, daß wir uns aus Achtung vor dem uns erwiesenen Gu- Rechtfertigung für die Ethik im Sinne von Grundlagen gibt, auf
ten reziprok verhalten, um sicherzustellen, daß Personen motiviert die man sich in begründeter Argumentation berufen kann. Alles,
sind, Gutes zu tun, aber das bloße Erhaltenhaben solcher Güter was man anbieten kann, ist ein kausales Argument, um zu zeigen,
erzeugt keine genuin besonderen Verpflichtungen. warum wir ethische Überzeugungen unterhalten«.30 Zu zeigen, wie
Natürlich ließe sich über Ansätze, die sich auf die Verwirklichung oder warum Menschen ein Gefühl der Verpflichtung gegenüber
von Gütern in Beziehungen berufen, mehr sagen.28 Immerhin bie- Verwandten entwickelt haben mögen, kann aber die Behauptung,
ten derartige Ansätze alternative Modelle für Verpflichtungen in daß Familienmitglieder besondere Verpflichtungen füreinander ha-
Freundschaften und in familialen Zusammenhängen; sie gehen mit ben, weder stützen noch entkräften, und es lassen sich damit ganz
meinem Ansatz konform, was die These betrifft, daß besondere Ver- sicher keine Versuche untergraben, »begründete Rechtfertigungen«
pflichtungen gegenüber Familienmitgliedern, einschließlich der El- für unsere ethischen Überzeugungen anzubieten. Doch anstatt die-
tern, nicht auf irgend etwas aufbauen, was familiale Beziehungen als se Frage zu verfolgen, möchte ich der Möglichkeit nachgehen, die
solche auszeichnet. Der gewöhnliche Menschenverstand betrachtet Biologie zum Ausgangspunkt für eine begründete ethische Argu-
uns jedoch so, als hätten wir besondere familiale Verpflichtungen, mentation hinsichtlich der Verpflichtungen von Familienmitglie-
wobei allein schon die Natur familialer Bindungen die Quelle der dern zu machen.
Verpflichtungen ist. Daher möchte ich mich nun den Auffassungen Wir erinnern uns, daß ich natürliche Pflichten als Pflichten
zuwenden, die in diesem Punkt mit dem gewöhnlichen Menschen- charakterisiert habe, die man allen Personen schuldet, wobei die
verstand übereinstimmen. grundlegende Rechtfertigung oder Begründung für das Haben sol-
cher Verpflichtungen die intrinsische Natur von Personen ist - ihre
Vernunftbegabung zum Beispiel. Die Schwierigkeit mit besonde-
28 Siehe Anm. 12 mit Literaturhinweisen zu Arbeiten, die auf Dankbarkeit gestützte ren Verpflichtungen rührt, wie ich schon angedeutet habe, zum
Erklärungen entwickeln. Man kann eine allgemeinere Darstellung entwickeln,
die sich auf die Verwirklichung von Gütern stützt, indem man sich den beson- 29 Eine interessante Kritik an den verschiedenen soziobiologischen Projekten im
deren Verpflichtungen mit einem aristotelischen Ansatz nähert; siehe z. B. Hurka Umkreis von E. O. Wilson bietet Kitcher (1985).
(1993), S. 134-136. 30 Ruse (1986).
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Teil von der Tatsache her, daß diese Verpflichtungen nicht allein Beziehung keine Vertrautheit entwickelt hätten. Tatsächlich hätte
durch den Verweis auf die Natur der Personen gerechtfertigt wer- der biologische Nachwuchs sogar gegenüber Eltern, denen Abwe-
den können; wir müssen uns vielmehr auf irgendeine kontingente senheit oder Mißbrauch angelastet werden muß, wenigstens Pri-
Beziehung zwischen dem Verpflichtenden und dem Verpflichteten ma-facie-YQichtzn zu erfüllen.33 Belliotti vertritt die Ansicht: »wenn
berufen. Und wenn diese Beziehung nicht in der Weise freiwillig die Handlungen des Selbst moralische Verbindlichkeiten erzeugen
ist, wie es Vertragsbeziehungen sind, bekommen wir es sofort mit können (wie durchweg anerkannt wird), dann können es die (an-
den Voluntaristen und ihren Bedenken hinsichtlich der individuel- deren) Bestandteile des Selbst ebenfalls. Da der genetische [Beitrag]
len Autonomie zu tun. meiner Eltern einen überaus beständigen Aspekt dessen beisteuert,
Eine Antwort auf das von mir formulierte Problem, eine Ant- wer >ich< bin, schulde ich ihnen folglich gewisse moralische Ver-
wort, die in den letzten Jahren recht beliebt wurde, ist die Behaup- bindlichkeiten«.34
tung, daß bestimmte Arten von Beziehungen gar nicht kontingent Belliotti möchte offenbar zeigen, daß wir dann, wenn wir die
sind, sondern in Wirklichkeit für das Selbst zumindest teilweise voluntaristische These akzeptieren, auch akzeptieren müssen, daß
konstitutiv sind. Die Vorstellung, der zufolge die entscheidende Faktoren, die zu unserer Identität beitragen, moralische Verbind-
moralische Wesensart einer Person beispielsweise allein Vernünf- lichkeiten erzeugen:35 »wenn die Handlungen des Selbst moralische
tigkeit umfaßt, sei eine bei weitem zu dürftige Vorstellung, heißt Verbindlichkeiten schaffen, warum kann dann das Selbst fiir sich
es. Der Voluntarist bestreitet anscheinend die Möglichkeit oder genommen, durch seine bloße Natur, keine moralischen Verbind-
moralische Bedeutung dessen, was Michael Sandel »konstitutive lichkeiten schaffen«?36 Er weist also die Behauptung des Voluntari-
Bindungen« genannt hat: sten zurück, wonach nur freiwillige Akte des Handelnden beson-
Aber wir können uns selbst nicht in dieser Weise als unabhängig betrach- dere Verpflichtungen hervorbringen können: Tatsachen, die bei
ten, ohne daß dies auf Kosten jener Loyalitäten und Uberzeugungen geht, der Entstehung des Selbst mitwirken, können ebenfalls moralische
deren moralische Kraft zum Teil in der Tatsache besteht, daß mit ihnen zu Verbindlichkeiten erzeugen.
leben, nicht trennbar ist von unserem Selbstverständnis als die konkrete
Person, die wir sind - als Mitglieder dieser Familie oder Gemeinschaft oder 3 3 Tatsächlich ist Belliottis Position in diesem Punkt unklar. Er glaubt offenbar, daß
Nation oder dieses Volkes ... Loyalitäten wie diese ... gehen über die Ver- es gleichgültig ist, ob wir der Meinung sind, daß Kinder, die Opfer elterlicher
pflichtungen hinaus, die ich freiwillig auf mich nehme, und über die »na- Mißhandlung geworden sind, ihren Eltern Prima-facie-Pfiichtea schulden, oder
türlichen Pflichten« hinaus, die ich den Menschen als solchen schulde ... ob wir der Meinung sind, daß solche Eltern, die sich des Mißbrauchs schuldig
[weil sie] im ganzen gesehen teilweise die Person definieren, die ich bin. 31 gemacht haben, »aus dem Bereich der Erwägung herausfallen« (Belliotti 1986,
S. 157). Um aber schlüssig zu sein, muß er (oder jeder, der glaubt, daß die Biologie
Raymond A. Belliotti folgt Sandel, wenn er sagt, daß »wir mora- moralische Verbindlichkeiten erzeugt) das erstere behaupten: Wenn ein geneti-
scher Beitrag moralische Verbindlichkeiten erzeugt, dann existieren diese auch
lische Verbindlichkeiten einer besonderen Art denjenigen gegen-
in Zusammenhängen des Kindesmißbrauchs, selbst wenn derartige Verbind-
über haben, die zu unserer Identität beitragen und sie aufbauen lichkeiten durch andere moralische Erwägungen aufgehoben werden können.
helfen, und gegenüber denjenigen, deren Bindung an uns für unser Das ist zumindest dann der Fall, wenn man akzeptiert, was im Gegensatz zum
Selbstverständnis essentiell ist«.32 Belliotti behauptet, erwachsene Partikularismus als Generalismus bekannt geworden ist. Eine Verteidigung des
Kinder hätten moralische Verbindlichkeiten, für ihre Eltern zu sor- Partikularismus findet sich bei Dancy (1993), Kap. 4-7.
gen, weil der genetische Beitrag der Eltern eine große Rolle für 34 Belliotti (1986), S.153.
das Zustandekommen der Identitäten der Kinder spiele, und dies 3 5 Belliotti verwendet den Begriff »moralische Verbindlichkeit« (moral requirement),
um die Debatte über die Unterscheidungen zwischen Verpflichtungen, Pflichten
auch dann, wenn die Eltern und deren erwachsene Kinder in ihrer
und »Sollens«-Urteilen zu vermeiden, deshalb werde ich mich in meiner Diskus-
sion seiner Auffassung an seine Begrifflichkeit halten. Siehe Belliotti (1986), Anm.
31 Sandel (1982), S.179. • 10, S. 161.
32 Belliotti (1986), S.152. 36 Ebd., S.153.
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Wie Belliotti betont, hat eine solche Berufung auf die Biologie Elternteil P zieht Kind C aufopferungsvoll groß. Zwischen ihnen besteht
die Implikation, daß »wir denen, die sowohl unsere biologischen eine liebevolle Beziehung, bis C 35 Jahre alt wird. Zu diesem Zeitpunkt
als auch unsere Zieheltern sind, mehr schulden als den Eltern, die kommt es zwischen P und C zur vollständigen Entfremdung. English [die
von Freundschaft ausgehende Argumentation; siehe Anm. 18] behauptet,
uns >nur< aufziehen«.37 Wir müssen uns jedoch über einige Kon-
C habe keine Verpflichtungen (auf der Grundlage der Eltern-Kind-Bezie-
sequenzen einer solchen Auffassung klarwerden. Nehmen wir an,
hung), für P zu sorgen, wenn P im Alter von 70 Jahren eine Vielzahl medi-
eine Frau glaubt, sie sei von ihren biologischen Eltern aufgezogen zinischer und sonstiger Hilfeleistungen benötigt.39
worden, und sie hat eine enge, vertrauensvolle Beziehung zu diesen
Eltern entwickelt. Sie glaubt, sie selber habe Verpflichtungen, für Die Uberzeugungskraft dieses Gegenbeispiels verdankt sich seinem
ihre Eltern zu sorgen, und deshalb hilft sie ihnen, wenn sie Hilfe Mangel an Detailliertheit. Uns wird nicht gesagt, warum »es zwi-
brauchen, unterstützt sie in schwierigen Zeiten usw. An ihrem drei- schen P und C zur vollständigen Entfremdung kommt«: War C wü-
ßigsten Geburtstag eröffnen ihr die »Eltern«, daß sie als Kleinkind tend darüber, daß P nicht bereit war, ihr Geld für eine Urlaubsreise
adoptiert wurde, weil ihre biologischen Eltern sie im Stich gelassen zu geben, oder weigerte sich P, die Hochzeit von C zu besuchen,
hatten. Wäre es gerechtfertigt, wenn diese Frau ihre Verpflichtun- weil C einen Mann einer anderen Rasse heiratete? Genau wie bei
gen gegenüber den Adoptiveltern überdenken würde? Nehmen wir Freundschaften sind wir nicht immer berechtigt, enge Beziehungen
an, sie zieht den Schluß, daß sie ihnen weniger schuldet, als sie zu Familienmitgliedern zu beenden; im ersten Fall handelt C falsch
geglaubt hatte, weil die Adoptiveltern nichts zu ihrer genetischen und entlastet sich daher nicht von ihren Verpflichtungen, später
Ausstattung beigesteuert haben. Dieser Schluß scheint nicht rich- einmal für P zu sorgen. Im zweiten Fall ist C jedoch berechtigt, ihre
tig zu sein. Nehmen wir hingegen an, diese Frau kommt zu dem Beziehung zu P zu beenden, wenn P nach angemessenen Bemü-
Ergebnis, daß die fehlende biologische Verwandtschaft völlig un- hungen von C nicht dazu bewegt werden kann, die Entscheidung
erheblich sei, und verhält sich genauso wie zuvor. Belliotti zufolge von C und ihren neuen Ehemann zu akzeptieren. Und warum soll-
müßten wir sie nun eigentlich kritisieren, weil diese Frau keinen te die Tatsache des genetischen Beitrags der Person C irgendwelche
Versuch macht, ihre biologischen Eltern zu finden (vorausgesetzt, Gründe liefern, in fortgeschrittenem Lebensalter für P zu sorgen?
dies könnte ohne äußerst kostspielige und zeitraubende Bemühun- Ein krasseres Beispiel bringt der Film The Music Box, in dem
gen geschehen). Schließlich hat sie moralische Verbindlichkeiten eine amerikanische Frau mit Namen Ann erfährt, daß ihr aus Un-
gegenüber jenen unbekannten biologischen Eltern, und sie muß sie garn eingewanderter Vater in den letzten Monaten des Zweiten
deshalb ausfindig machen, um diese Verbindlichkeiten zu erfüllen. Weltkriegs unvorstellbare Greueltaten begangen hat. Obwohl sie
Aber auch das scheint falsch zu sein: Selbst wenn der genetische ihn mit unwiderleglichen Beweisen konfrontiert, leugnet er vor der
Beitrag der Eltern mit vollständiger Gleichgültigkeit gegenüber der Kommission für Kriegsverbrechen weiterhin seine Beteiligung und
daraus hervorgehenden Person erfolgt ist, schuldet das erwachsene beweist damit einen Charakter, der Ann bis dahin völlig unbekannt
Kind diesen Fremden die Erfüllung von Verpflichtungen. war. Sie übergibt ihr Beweismaterial dem Justizministerium. Neh-
Warum sollten wir all diese unerfreulichen Schlußfolgerungen men wir einmal an, ihr Vater sitzt eine Gefängnisstrafe ab, nimmt
akzeptieren? Ich denke, daß diejenigen, die sich wie Belliotti auf die später Kontakt mit ihr auf und bittet sie um Hilfe. Mein Ansatz
Biologie berufen, über die augenscheinlichen Implikationen einer
Auffassung, wie ich sie vertrete, beunruhigt sind. Belliotti bringt nen, die uns »metaphysisch näherstehen«, in stärkerem Maße zu verfolgen (ebd.,
zum Beispiel den folgenden Fall:38 S.154). Der Schritt von der Erlaubnis zur Forderung in diesem Argument ist
aber vollkommen unbegründet. Ich denke, die hauptsächliche Motivation für
37 Ebd. die Bezugnahme auf die Biologie ist die Sorge um einen verläßlichen Grund für
38 Tatsächlich schlägt Belliotti ein weiteres Argument vor: So, wie es uns gestattet die Verpflichtungen gegenüber den Eltern, und deshalb konzentriere ich mich im
ist, unsere eigenen Interessen in einem stärkeren Maße zu verfolgen als die In- vorliegenden Text auf ein solches Argument.
teressen von Personen generell, so wird uns abverlangt, die Interessen von Perso- 39 Ebd., S. 151.
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führt dazu, daß Ann keine besonderen Verpflichtungen hat, ihrem wir teilweise aufgrund unserer Biologie die Menschen sind, die wir
Vater zu helfen, nicht einmal die Prima-fade-Pflichten, die auf der sind, ist nicht zu leugnen, aber der Voluntarist tut recht daran, den
biologischen Verbindung beruhen. Denn sollten wir wirklich an- unfreiwilligen Charakter der Biologie hervorzuheben. Der Um-
nehmen, daß sie solche Pflichten hat? Die Verarbeitung ihrer biolo- stand, daß wir bestimmten Fakten nicht entrinnen können, macht
gischen Verbindung mit einem Mann, der Hunderte unschuldiger diese Fakten nicht schon moralisch bedeutsam.
Menschen quälte und tötete und der dies offenkundig genoß, wäre
eine schmerzhafte Erfahrung, voller Schuld- und Schamgefühle und 2. Die Berufung auf Rollen
Demütigungen. Die Lügen von Anns Vater, die Verheimlichung
seines tatsächlichen Charakters und seiner wahren Vergangenheit Die bloße Tatsache biologischer Verwandtschaft scheint nicht aus-
entlarven die Beziehung zu seiner Tochter als eine Täuschung, und zureichen, um Verpflichtungen zu erzeugen, da der genetische Bei-
sobald diese Vertrautheit zerstört oder als unwahrhaftig aufgedeckt trag auch beim Fehlen jeglicher Interaktion erfolgen kann. Famili-
ist, sollte Ann die Überzeugung aufgeben, sie hätte ihm gegenüber en haben aber einmal abgesehen von ihrer biologischen Dimension
irgendwelche besonderen Verpflichtungen. Obwohl dieser Fall si- auch eine soziale Dimension. Soziale Konventionen sorgen für ein
cherlich extrem und ungewöhnlich ist, kann er dazu dienen, sicht- bestimmtes Verständnis sozialer Rollen. Aber jeder Verweis auf
bar zu machen, warum der Voluntarismus so attraktiv ist: Weil Ann solche Rollen als Ursache von besonderen familialen Verpflichtun-
sich ihre Biologie nicht aussuchen konnte, unterliegt sie nicht deren gen muß zwei kritischen Einwänden standhalten: (i) Warum sollte
moralischem Zwang. Die Appelle des gewöhnlichen Menschen- man annehmen, daß solche Rollen Verpflichtungen hervorbringen,
verstands an die moralische Bedeutung der bloßen Tatsache einer wenn man ihren unfreiwilligen Charakter bedenkt? (ii) Wie gehen
biologischen Vater-Tochter-Beziehung könnten nur erreichen, daß wir mit Fällen um, in denen die Familienverhältnisse zu Mißbrauch,
Ann unnötige Qualen durchmacht. Schädigung oder Verkümmerung fuhren?
Ich möchte gar nicht leugnen, daß die Biologie im Gesamtzu- Michael Hardimon bietet in »Role Obligations«40 einen Erklä-
sammenhang der Gründe für besondere Verpflichtungen gegen- rungsansatz für Verpflichtungen, der von bestimmten institutionell
über den Eltern (und anderen Familienmitgliedern) eine gewisse definierten Rollen ausgeht, nämlich von »politischen, familialen
Rolle spielt. Die Genetik hat Einfluß darauf, wer wir werden, und und beruflichen Rollen«,41 wobei eine Rolle eine »[Konstellation]
die Vertrautheit wird gefördert, wenn uns die Umstände helfen, uns institutionell spezifizierter Rechte und Pflichten ist, die um eine in-
selbst zu verstehen. Das Nachdenken darüber, in welcher Weise wir stitutionell spezifizierte soziale Funktion herum organisiert sind«.42
unseren Eltern ähnlich sind, kann zu unserer Vertrautheit mit ihnen Er definiert eine Rollenpflicht als »eine moralische Forderung, die
beitragen, und die Ähnlichkeiten könnten das Ergebnis genetischer mit einer institutionellen Rolle verknüpft ist, deren Inhalt durch
Veranlagung sein. Es wäre deshalb möglich, daß eine solche Biolo- die Funktion der Rolle festgelegt ist und deren normative Kraft aus
gie helfen könnte, die Basis für eine Vertrautheit mit unbekannten der Rolle hervorgeht«.43 Von Hardimon werden familiale Verpflich-
biologischen Eltern zu bilden. Es laufen allerdings viele Menschen tungen ebenso wie politische Verpflichtungen als nichtvertragliche
herum, mit denen wir vertraut werden könnten; trotzdem sind Rollenpflichten bezeichnet, und als solche stehen sie
wir nicht verpflichtet, sie alle ausfindig zu machen und ihnen ge-
genüber besondere Verpflichtungen zu erlangen. Wie der Fall von in krassem Gegensatz zu der bekannten Idee, daß die einzige Art, wie wir
Ann zeigt, müssen wir uns manchmal von unseren biologischen Rollenpflichten - oder jedenfalls Rollenpflichten mit echter moralischer
Verwandten distanzieren und unsere Identitäten unabhängig von
40 Hardimon (1994).
solchen Verwandten finden: Für Ann wäre es wichtig, sich nicht
41 Ebd., S. 334.
bloß aufgrund einer unfreiwilligen biologischen Beziehung für frü- 42 Ebd.
her begangene Taten verantwortlich zu fühlen. Die Tatsache, daß 43 Ebd.
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Kraft - erwerben können, darin besteht, daß wir uns zu den Rollen bereit Freiwilligkeitsprinzip [der voluntaristischen These], das eine Form
erklären, mit denen sie verbunden sind.44 der Wahl fordert, die tatsächlich gegeben ist, fordert das Ideal der re-
flexiven Akzeptanz eine Form der Akzeptanz, die hypothetisch ist«.47
Mit anderen Worten, nichtvertragliche Rollenpflichten verletzen Hardimon kommt zu dem Schluß, daß wir das Prinzip der reflexi-
die voluntaristische These (was Hardimon das Freiwilligkeitsprin- ven Akzeptanz billigen sollten: »nichtvertragliche Rollenpflichten
zip nennt). sind moralisch nicht bindend, es sei denn, die Rollen, mit denen
Hardimon fordert, die voluntaristische These solle verworfen wer- sie verbunden sind, sind reflexiv akzeptabel«.48
den, denn deren Attraktivität verdanke sich »der Annahme, daß Hardimon antwortet auf beide Fragen, die ich für Erklärungs-
die Alternativen der Wahlfreiheit und der Zwangsrekrutierung er- ansätze dieses Typs formuliert hatte: (i) Auf die Frage, warum wir
schöpfend sind«.45 In eine soziale Rolle gepreßt zu werden bedeute, annehmen sollten, daß nichtgewählte Rollen Verpflichtungen er-
gegen den eigenen Willen dazu gezwungen zu sein, so wie Matrosen zeugen können, reagiert Hardimon, indem er die Bedenken zu ent-
zum Dienst auf einem Schiff zwangsrekrutiert wurden und man kräften sucht, aus denen sich die voluntaristische These offenbar
dann von ihnen erwartete, daß sie die Pflichten ihrer »Rolle« erfüll- speist, und er tut dies, indem er Geburt mit Zwangsrekrutierung
ten. Hardimon argumentiert nun, daß man bei sozialen Rollen wie kontrastiert, (ii) Das Prinzip der reflexiven Akzeptanz ist Hardi-
der Rolle der Tochter oder Schwester nicht für die Rolle zwangsre- mons Antwort auf Bedenken mit Blick auf Rollen, die destruktiv
krutiert, sondern in sie hineingeboren wird und daß man sie daher oder lähmend sind. Hardimons Auffassung hat ebenso wie die Be-
nicht gegen den eigenen Willen erworben hat. Wir müssen eine rufung auf die Biologie den Vorzug, bei dem, was die familialen
soziale Rolle nicht wählen, damit für sie zutrifft, daß wir sie nicht Verpflichtungen erzeugt, auf etwas zurückzugreifen, was die Fami-
gegen unseren Willen einnehmen. Ich habe nicht gewählt, meiner lie als solche auszeichnet. Hardimon beruft sich auf soziale Rollen,
Mutter Tochter zu sein, gleichwohl ist es nicht der Fall, daß ich so wie sie durch die Institution Familie definiert sind.
gegen meinen Willen Tochter meiner Mutter bin. Doch ist es überhaupt sinnvoll, die Familie als eine Instituti-
Welche nichtgewählten sozialen Rollen, in die wir hineingebo- on zu verstehen? Hardimon gibt diese Schwierigkeit zu, behaup-
ren werden, sind also von solcher Art, daß sie moralisch bindende tet aber, daß »wir bei einzelnen Familien von institutionell defi-
Verpflichtungen erzeugen? Hardimons Antwort lautet: soziale Rol- nierten Gruppen« mit »institutionell definierten« Rollen sprechen
len, die reflexiv akzeptabel sind. können, ob wir nun Familien als Institutionen verstehen können
oder nicht.49 Im Hinblick auf bestimmte familiale Rollen, wie zum
Wenn man sagt, daß eine soziale Rolle reflexiv akzeptabel ist, dann bedeutet Beispiel Vater oder Mutter eines minderjährigen Kindes zu sein,
das, man würde sie auf ein Nachdenken hin akzeptieren. Die Entschei- spezifizieren die Gesetze die mit der Rolle verbundenen Pflichten
dung, ob eine gegebene soziale Rolle reflexiv akzeptabel ist, beinhaltet ein (und daher vielleicht auch die Rechte, die mit der Rolle des Kindes
gedankliches Zurücktreten von dieser Rolle und die Frage, ob es eine Rolle verknüpft sind). Sind aber die Rollen beispielsweise des Großva-
ist, die die Menschen einnehmen und spielen sollten. Die Entscheidung,
ters oder der Schwester institutionell definiert, wenn auch bloß in
daß eine gegebene soziale Rolle reflexiv akzeptabel ist, umfaßt ein Urteil,
dem Sinne ihrer gesetzlich vorgesehenen Rechte oder Pflichten? Ich
wonach sie (in gewisser Hinsicht) sinnvoll, rational oder gut ist.46
glaube kaum.
Soziale Rollen können selbst dann reflexiv akzeptabel sein, wenn Nun könnte Hardimon die institutionellen Rollen auch so ver-
die Menschen sie niemals so beurteilt haben, solange sie dies nur stehen, als seien sie durch die »geteilten Auffassungen« einer Kul-
unter den relevanten Umständen tun würden: »im Gegensatz zum
44 Ebd., S. 343. 47 Ebd.
45 Ebd., S. 347. 48 Ebd., S. 350.
46 Ebd., S.348. 49 Ebd., S. 336.
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tur oder Gesellschaft definiert.50 Die Stellung oder Funktion einer Doch dann bietet er uns keinerlei Erklärung für echte besondere
Tochter oder Schwester wäre dann abhängig von der Kultur, der Verpflichtungen.
man angehört. Wenn das die Vorstellung von Hardimon ist, wird Wichtiger ist aber, daß jede dieser abstrakten Strukturen eine
klar, warum ihm die Bedenken der Voluntaristen zusetzen: Warum Idealisierung ist, und jede konkrete Verkörperung der Rolle durch
sollten wir annehmen, daß ich bestimmte Verpflichtungen einfach das Individuum wird sich von der Idealisierung wahrscheinlich
deswegen habe, weil ich in eine bestimmte Sozialstruktur hinein- stark unterscheiden. Die besondere Verkörperung der Rolle durch
geboren wurde, die mich als Inhaber dieser Pflichten ansieht, wenn das Individuum entspricht im Grunde genommen der Beziehung,
es doch so ist, daß die Sozialstruktur, in die ich hineingeboren bin, die es zu einem Familienmitglied hat. Warum sollten wir überhaupt
meinem Einfluß vollkommen entzogen ist?51 annehmen, daß die Verpflichtungen von der abstrakten Idealisie-
An diesem Punkt kann sich Hardimon auf sein Prinzip der refle- rung bestimmt sind anstatt vom Charakter ihrer jeweiligen Rea-
xiven Akzeptanz zurückziehen. Er könnte sagen, daß die voluntari- lisierung? Wenn ich eine enge Beziehung zu meiner Mutter habe,
stischen Bedenken deshalb so gewichtig wirken, weil sie Besorgnis ist es dann von Belang, welche Vorstellungen von Mutter-Toch-
in bezug auf destruktive oder lähmende Rollen ausdrücken. Hardi- ter-Beziehungen in meiner Gesellschaft verbreitet sind oder eine
mon behauptet aber, daß soziale Rollen nur innerhalb der Grenzen, lange Tradition haben? Wenn Ann entdeckt, daß ihr Vater ein na-
die vom Prinzip der reflexiven Akzeptanz gesetzt sind, Pflichten tionalsozialistischer Kriegsverbrecher ist, sollte sie dann über die
generieren. Bei jeder sozialen Rolle muß die Frage gestellt werden, abstrakten Ideale der Vater-Tochter-Beziehungen nachdenken,
ob es eine Rolle ist, die »Menschen einnehmen und spielen sollten«? bevor sie ihre Entscheidung trifft, was mit dem Beweismaterial zu
Ist sie »(in gewisser Hinsicht) sinnvoll, rational oder gut«? Zur Be- geschehen hat? Natürlich beeinflussen solche abstrakten Vorstel-
antwortung dieser Frage sollten Personen zuerst über die Rolle als lungen unser Nachdenken über Familienbeziehungen, aber das ist
eine »abstrakte Struktur« nachdenken und dann über die besondere keine normative These, sondern eine kausale These darüber, wie
Exemplifizierung der Rolle, die ihre eigene ist.52 solche Beziehungen tatsächlich funktionieren. Die Konzentration
Ich denke, diese These über die abstrakten Strukturen fami- auf stereotypisierte Auffassungen von sozialen Rollen lenkt unsere
lialer Rollen zeigt das Problem mit Hardimons Ansatz der Fa- Aufmerksamkeit von der Realität tatsächlicher Beziehungen ab.
milienpflichten oder mit jedem Ansatz, der sich auf Rollen oder Außerdem kann eine solche Konzentration auf abstrakte Struk-
gemeinsame Auffassungen beruft. Denn welches ist die abstrakte turen zu einer verengten Sicht auf die Familie fuhren. Viele Men-
Struktur der Rolle einer Tochter? Nehmen wir an, sie beinhalte schen in nichttraditionellen Familienstrukturen, wie im Falle von
die Vorstellung, eine Tochter solle ihre Eltern in bestimmten Adoptiveltern, Stiefeltern, schwulen oder lesbischen Paaren mit
Hinsichten unterstützen, habe also Pflichten der Fürsorge. Wir Kindern usw., haben keine abstrakten Strukturen, an die sie sich
fragen nun: Ist es gut, daß Töchter dies tun? Es sieht so aus, halten können, um ihre »Rollen« zu verstehen: Die Gesellschaft hat
als sei der Ansatz auf irgendeinen utilitaristischen Ansatz zu- diese Rollen nicht definiert und versucht in manchen Fällen ganz
sammengeschrumpft, einen regelutilitaristischen Ansatz vielleicht. bewußt, die »institutionelle Definition« derartiger Rollen durch
rechtliche oder soziale Normen zu verhindern.53 Tatsache ist, daß die
50 Siehe Walzer (2006).
51 Die voluntarisrischen Bedenken sind natürlich nicht die einzigen Bedenken, die 5 3 Diese Fälle zeigen auch, warum Hardimons Hinweis auf die Geburt als etwas, was
es zu dieser Ansicht gibt. Wie können wir ermitteln, welche kulturellen Auf- sich von der Zwangsrekrutierung unterscheidet, wenn überhaupt, dann nur im
fassungen geteilt werden, falls überhaupt welche geteilt werden? Welches ist die Falle von biologischen Familienbeziehungen nützlich ist. Der wichtigere und be-
maßgebliche Kultur, auf die wir uns berufen müssen, um die Rolle der Tochter unruhigendere Gedanke bei seinem Vergleich ist, daß wir uns viele Rollen in der
oder Schwester zu verstehen? Ich kann hier nicht alle Schwierigkeiten besprechen, Weise verändert vorstellen können, daß Personen in sie hineingeboren werden.
die einer solchen Position entgegenstehen. Nehmen wir einmal an, Personen würden in die Rolle eines Seemanns der Marine
52 Hardimon (1994), S. 350. hineingeboren, weil sie einen Elternteil bei der Marine haben und an Bord eines
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Beziehungen in solchen nichttraditionellen Familien genauso für- V. Schlußfolgerungen
sorglich und emotional vertieft sein können wie in traditionelleren
Familien, was in beiden Typen von Familienstrukturen gleichartige Ich habe eine Erklärung für die Verpflichtungen gegenüber Famili-
Verpflichtungen schafft (wenn solche Verpflichtungen existieren). enmitgliedern angeboten, die in der Lage ist, der voluntaristischen
Es könnte richtig sein, daß Personen in nicht biologisch fundierten Herausforderung gerecht zu werden. Mein Ansatz bestreitet jedoch,
Familien zwar besondere Verpflichtungen füreinander haben, dies daß sich familiale Beziehungen durch irgend etwas auszeichnen,
aber aus einer anderen Sorte von Gründen als Personen in biolo- was besondere Verpflichtungen begründet. Vielmehr sind familiale
gisch fundierten Familien. Doch angesichts dessen, daß es nicht Beziehungen oft Beziehungen der Vertrautheit, und enge Bezie-
plausibel erscheint, der Biologie irgendeine moralische Bedeutung hungen, ob nun zwischen Familienmitgliedern oder anderen Men-
zuzugestehen, haben wir gar keinen Grund anzunehmen, daß dies schen, erzeugen Verpflichtungen. Was meine Sicht zusätzlich stützt,
der Fall sein sollte. Hardimon sagt, daß wir bei »neuartigen oder im sind, wie ich deutlich gemacht habe, die Unzulänglichkeiten der-
Wandel befindlichen Rollen«54 Schwierigkeiten haben könnten, das jenigen Auffassungen, die den Voluntarismus ablehnen und versu-
Wesen unserer Rolle und die damit einhergehenden Pflichten zu chen, familiale Verpflichtungen auf etwas zu gründen, was familiale
erkennen. Wenn wir jedoch versuchen, deren Wesen zu erkennen, Beziehungen auszeichnet, nämlich entweder auf ihren biologischen
ist es dann nicht der Charakter unserer Beziehung, den wir uns Charakter oder auf ihre institutionellen oder sozialen Funktionen.
anschauen müssen? Und weshalb sollten wir annehmen, daß wir Doch selbst dann, wenn wir die These ablehnen, daß sich familiale
uns an bestimmten gesellschaftlichen Idealen oder Erwartungen Verpflichtungen auf etwas gründen, was familiale Beziehungen als
orientieren müssen, wenn wir darüber nachdenken, was wir den solche auszeichnet, hängt die Plausibilität meines Ansatzes natür-
Personen schulden, mit denen wir biologisch verwandt sind? lich von meiner Darstellung der Freundschaft ab, anders als ein
Die Berufung auf die Biologie und die Berufung auf Rollen sind Ansatz, der sich etwa auf die Verwirklichung von Gütern oder in
die beiden geradlinigsten Verfahren, mit denen man versucht, eine Anlehnung an Aristoteles auf den Charakter der geliebten Person
unverwechselbare Grundlage für familiale Verpflichtungen zu fin- stützt. Mein Erklärungsansatz hat jedoch den Vorzug, daß er es uns
den: die Bezugnahme auf die biologische Natur der Familie oder auf gestattet, dem Voluntarismus und einem großen Spektrum enger
die gesellschaftliche Definition der Institution Familie. Beide Male persönlicher Beziehungen Rechnung zu tragen und dadurch den
scheint die Bezugnahme von der Besorgnis motiviert zu sein, daß es Wert individueller Autonomie und die moralische Bedeutung ver-
Personen nicht erlaubt sein dürfe, ihre Vergangenheit einfach abzu- trauter, fürsorglicher Beziehungen zu wahren.55
schütteln und radikale Entscheidungen zu treffen, wie es ihnen der Ubersetzt von Karin Wördemann
Voluntarist anscheinend erlaubt. Doch wir brauchen weder Rollen
noch die Biologie, um zu sehen, daß ein solches Verhalten falsch ist
- dazu müssen wir nur ein wenig über das Wesen enger Beziehun-
gen nachdenken. Es ist nicht immer moralisch zulässig, Menschen
zu verlassen, mit denen man eine von Vertrautheit und Fürsorge
geprägte Geschichte hat. Wir können diese These akzeptieren und
auch der Voluntaristin Rechnung tragen.
Marineschiffes geboren wurden. Und es könnte »sinnvoll, rational oder gut« sein,
daß Personen die Rolle des Seemanns in der Marine ausfüllen. Siehe auch Sim- 5 5 Ich möchte Richard Fumerton, Thomas Hurka und zwei anonymen Gutachtern
mons (1996), S. 34f. des Canadian Journal of Philosophy danken, die frühere Fassungen dieses Aufsatzes
54 Hardimon (1994), S. 340. hilfreich kommentierten.
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James Rachels Eltern müssen ihre Kinder lieben und schützen, sie müssen sie er-
nähren und kleiden, sie müssen sich um ihre medizinische Ver-
Eltern, Kinder und die Moral
sorgung, ihre Bildung und hundert andere Dinge kümmern. Wer
wollte das leugnen? Gleichzeitig glauben wir nicht, daß wir solche
Pflichten gegenüber Fremden haben. Vielleicht haben wir eine all-
Das Problem
gemeine Pflicht, ihnen mit Wohlwollen zu begegnen, aber diese
Pflicht ist nicht annähernd so umfassend oder so genau bestimmt
Ungefähr zur gleichen Zeit, als Sokrates zum Tode verurteilt wur- wie die Pflichten, die wir gegenüber unseren eigenen minderjähri-
de, weil er angeblich die Jugend Athens verdarb, brachte auch der gen Söhnen und Töchtern haben. Wären wir vor die Wahl gestellt,
große chinesische Weise Mo Tzu seine Mitmenschen gegen sich unsere eigenen Kinder zu ernähren oder Waisenkindern im Aus-
auf. Anders als die Konfuzianisten, die Sozialkonservativen ihrer land Nahrungsmittel zu schicken, würden wir die eigenen Kinder
Zeit, waren Mo und seine Anhänger scharfe Kritiker traditioneller vorziehen, ohne zu zögern.
Institutionen und Praktiken. Eine der umstrittenen Lehren von Mo Doch der Einwand Mos ist uns bis heute erhalten geblieben.
besagte, daß menschliche Beziehungen von einer »allumfassenden Die von Mo Tzu klar artikulierte Idee, die Moral nötige uns, un-
Liebe« bestimmt sein sollten, die zwischen Freunden, der Familie parteilich zu sein, ist ein wiederkehrendes Thema der westlichen
und der Menschheit im ganzen keinen Unterschied macht. »Par- Moralphilosophie. Den berühmtesten Ausdruck fand diese Idee
teilichkeit«, verkündete er, »muß durch Universalität ersetzt wer- vielleicht in Benthams Formel: »Jeder zählt für einen, keiner für
den«.1 Für seine Anhänger waren dies die Worte eines moralischen mehr als einen.« Mills Formulierung war zwar weniger einpräg-
Visionärs. Für die Konfuzianisten dagegen waren es die Worte eines sam, aber nicht weniger emphatisch: Er bestand darauf, daß wir bei
Mannes, der den Kontakt mit der moralischen Realität verloren der Abwägung der Interessen verschiedener Menschen »mit ebenso
hatte. Es hieß, Mos Lehre zerstöre die Familie, denn sie empfehle, strenger Unparteilichkeit [...] entscheiden wie ein unbeteiligter
Fremden mit ebensoviel Rücksicht zu begegnen wie der eigenen und wohlwollender Zuschauer«.3 Ein Utilitarismus des Typs, wie
Verwandtschaft. Meng Tzu faßte diese Beschwerde zusammen, als er von Bentham und Mill vertreten wird, ist allerdings oft dafür
er schrieb: »Mo Tzu hat die Familie zurückgesetzt, indem er die kritisiert worden, zur Alltagsmoral im Widerspruch zu stehen, und
universelle Liebe predigt.«2 Mo leugnete das nicht. Er vertrat viel- so wird es wahrscheinlich nicht besonders überraschen, daß die
mehr die Ansicht, die universelle Liebe sei ein höheres Ideal als die utilitaristischen Vorstellungen mit der gewöhnlichen Idee beson-
Treue zur Familie und die Verpflichtungen in Familien könnten nur derer elterlicher Verpflichtungen kollidieren. Die Idee, die Moral
als besondere Fälle von Verpflichtungen gegenüber der gesamten verlange Unparteilichkeit, ist jedoch keineswegs eine ausschließlich
Menschheit richtig verstanden werden. utilitaristische Lehre. Sie ist vielmehr einem beachtlichen Spektrum
Dieser Streit aus antiker Zeit hat sich nicht erledigt. Haben El- von Theorien und Denkern gemeinsam.4
tern besondere Verpflichtungen gegenüber ihren eigenen Kindern?
3 Mill (1976), S. 30.
Oder etwas anders ausgedrückt: Haben sie gegenüber ihren eigenen 4 »Das Wohl irgendeines Individuums ist vom Standpunkt des Universums aus ge-
Kindern Verpflichtungen, die sie gegenüber anderen Kindern oder sehen (wenn ich so sagen darf) nicht wichtiger als das irgendeines anderen«, sagt
gegenüber Kindern generell nicht haben? Unsere Instinkte geben Sidgwick (Sidgwick 1907, S. 382). »Bei unseren moralischen Überlegungen müssen
den Konfuzianisten recht. Natürlich glauben wir, daß Eltern eine wir den ähnlich gelagerten Interessen all derer, die von unseren Handlungen be-
troffen sind, gleiches Gewicht einräumen«, sagt Peter Singer (Singer 1978, S. 197).
besondere Verpflichtung haben, für die eigenen Kinder zu sorgen.
»Moralische Regeln müssen dem Wohl aller gleichermaßen dienen«, sagt Kurt
Baier (Baier 1974). »Ein vernünftiger und unparteiischer mitfühlender Beobachter
1 Yu-lan (i960), S.92. ist eine Person, die sich eine allgemeine Betrachtungsweise zu eigen macht: Er sieht
2 Rubin (1976), S.36. von seinen eigenen Interessen ab, und er verfugt über alle notwendigen Kennt-
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In seiner allgemeinsten Form ist das Problem folgendes. Als mo- ternpflichten gegenüber Kindern, doch sollten wir im Kopf behal-
ralisch Handelnde können wir kein Wunschkonzert veranstalten ten, daß die grundsätzlichere Frage mit persönlichen Beziehungen
und nach dem gehen, was uns am liebsten ist - zumindest nicht generell zu tun hat.
gemäß der Konzeption von Moral als Unparteilichkeit. Als Eltern
gehen wir aber danach, was uns am liebsten ist. Die Elternliebe ist
ganz und gar parteiisch. Und wir sind überzeugt, daß daran nichts Mögliche Lösungen
falsch ist. Tatsächlich meinen wir sogar, daß mit Eltern, die nicht
von Grund auf parteiisch sind, wenn es um ihre Kinder geht, ir- Es gibt offensichtlich drei Ansätze zur Lösung unseres Problems:
gend etwas nicht stimmt. Deshalb liegt es nahe, daß entweder die Erstens könnten wir die Idee der Moral als Unparteilichkeit ab-
eine oder die andere dieser Konzeptionen geändert oder aufgegeben lehnen; zweitens könnten wir die Idee besonderer Elternpflichten
werden muß. verwerfen; und drittens könnten wir versuchen, ein Verständnis der
Natürlich gilt genau dasselbe für unsere Beziehungen zu Freun- beiden Vorstellungen zu finden, bei dem sie vereinbar wären. Der
den, Ehepartnern oder Geliebten. All diese und weitere vergleich- erste Ansatz hat in letzter Zeit durchaus Zuspruch gefunden unter
bare Beziehungen beinhalten offenbar besondere Verpflichtungen, Philosophen, die der Meinung sind, daß die Konzeption der Mo-
die Teil ihrer eigentlichen Natur sind. Freunde, Ehepartner und ral als Unparteilichkeit zwar plausibel erscheint, wenn sie abstrakt
Geliebte gehören nicht bloß zur großen Masse der Menschheit. erklärt wird, durch solche Gegenbeispiele wie die Elternpflichten
Zumindest für den, der sie liebt, sind sie etwas Besonderes. Das jedoch widerlegt wird. Ihrer Ansicht nach sollten wir diese Kon-
Problem ist, daß die Konzeption der Moral als Unparteilichkeit bei zeption ablehnen und nach einer neuen Moraltheorie suchen, die
jeder Art inniger persönlicher Beziehung zu einem Konflikt führt. von Anfang an einräumen würde, daß persönliche Beziehungen die
Anders als Mo Tzu meint, steht sie offenbar mit der Liebe selbst in Quelle besonderer Verpflichtungen sein können.
Widerstreit.5 In diesem Aufsatz erörtere ich nur die Frage der El- Die Idee der Unparteilichkeit aufzugeben hat einen gewissen
Reiz, denn es ist immer aufregend herauszufinden, daß irgendeine
nisse und Denkkräfte. Damit ist er gleichermaßen aufgeschlossen gegenüber den bekannte philosophische Auffassung nichts taugt und daß es in-
Bedürfnissen und dem Wohl jedes Mitglieds des Gesellschaftssystems. Er berück-
teressant sein wird, eine Alternative auszuarbeiten. Wir sollten hier
sichtigt die Interessen jedes Menschen in gleicher Weise und läßt seiner Fähigkeit
zum mitfühlenden Sich-Hineinversetzen freien Lauf, indem er die Verhältnisse
aber nicht zu voreilig sein. Es ist kein Zufall, daß die Konzeption
jedes Menschen so betrachtet, wie sie den Menschen treffen«, sagt John Rawls der Moral als Unparteilichkeit so breit akzeptiert worden ist. Sie
(Rawls 1975, S. 213 f.). In einer interessanten Erörterung vertritt Richard M. Hare drückt offenbar etwas sehr Wichtiges aus, das wir nicht ohne Not
die Ansicht, daß praktisch alle großen Moraltheorien eine Forderung nach Un- aufgeben sollten. Sie ist zum Beispiel hilfreich, wenn man erklären
parteilichkeit enthalten, und fügt hinzu, daß sein »universeller Präskriptivismus« will, warum Egoismus, Rassismus und Sexismus moralisch anstö-
keine Ausnahme bildet (Hare 1972).
ßig sind, und wenn wir diese Konzeption aufgeben, verlieren wir
5 Das ist ein durchaus bekannter Punkt, der in den verschiedensten philosophischen
Zusammenhängen wieder auftaucht. David Lewis diskutiert zum Beispiel in sei- unsere natürlichsten und überzeugendsten Mittel zur Bekämpfung
nem Buch On the Plurality ofWorlds einen ethischen Einwand gegen seine These, solcher doktrinärer Anschauungen. (Die Idee der Moral als Unpar-
daß alle möglichen Welten gleichermaßen real sind, eine These, die er modalen
Realismus nennt. Der Einwand lautet, daß dann, wenn der modale Realismus zu- Lewis bemerkt dazu: »Wenn aber der modale Realismus nur eine »wahrhaft uni-
träfe, unsere Handlungen überhaupt keine Wirkung darauf hätten, wieviel Gutes versalistische Ethik< untergräbt, sehe ich das nicht als einen niederschmetternden
oder Böses insgesamt existiert. Wenn wir etwas Böses in dieser Welt verhindern Einwand. Was zusammenbricht, ist eine Erfindung von Philosophen, die sich vom
würden, dann würde es in einer anderen Welt noch immer existieren. Oder wie gewöhnlichen Menschenverstand keinen Deut weniger entfernt hat als der modale
Lewis formuliert: »Die Gesamtsumme des Guten in der Pluralität der Welten ist Realismus selbst. Eine Ethik unserer eigenen Welt ist schon universalistisch genug.
nicht-kontingent festgelegt und hängt keineswegs davon ab, was wir tun.« Des- Ich wage sogar zu sagen, daß sie bereits bei weitem zu universalistisch ist; sie ist ein
halb können wir die Bemühung, das Gute zu maximieren, genausogut seinlassen. Verrat an unseren besonderen Zuneigungen« (Lewis 1986, S. 128).
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teilichkeit ist mit den modernen Vorstellungen zur Gleichheit der muß, und wenn wir sie angehen, wird der Kompromiß schon viel
Menschen eng verbunden. Daß Menschen in gewisser Hinsicht weniger attraktiv aussehen.
Gleiche sind, wäre den Konfuzianisten niemals eingefallen, was Es steht uns nicht frei, jeden beliebigen Unterschied zwischen
vielleicht auch erklärt, warum sie in Mos Lehre nichts Plausibles Individuen als bedeutend zu bezeichnen. Nehmen wir an, ein Ras-
erkennen konnten.) Daher ist es durchaus wünschenswert, die sist behaupte, es gebe einen bedeutenden Unterschied zwischen
Vorstellung von Moral als Unparteilichkeit in irgendeiner Form Schwarzen und Weißen, der es rechtfertige, Weiße besser zu behan-
beizubehalten. Die Frage ist, ob sich eine Möglichkeit finden läßt, deln - der Unterschied bestehe darin, daß sie Angehörige verschie-
wie wir beide Ideen wahren können — die Moral als Unparteilich- dener Rassen sind. Wir würden das für bloße Schaumschlägerei
keit einerseits und besondere Elternpflichten andererseits. Können halten und eine Begründung verlangen, warum dieser Unterschied
wir sie in einer Weise verstehen, die sie miteinander vereinbar irgend etwas ausmachen soll. Ebenso ist es nur Augenwischerei
macht? zu behaupten, es gebe einen bedeutenden Unterschied zwischen
Wie sich herausstellt, ist das keine schwierige Aufgabe. Es ist den eigenen und anderen Kindern, der es rechtfertige, die eigenen
ziemlich einfach, die Unparteilichkeit so zu interpretieren, daß sie besser zu behandeln - der Unterschied sei eben der, daß sie die
zu keinem Konflikt mehr mit besonderen Elternpflichten führt. eigenen sind. Wir müssen fragen, warum dieser Unterschied von
Wir können zum Beispiel sagen, die Unparteilichkeit verlange von Belang ist.
uns nur dann, Menschen gleich zu behandeln, wenn es keine be-
deutenden Unterschiede zwischen ihnen gibt. Auch ganz unabhängig
von irgendwelchen Überlegungen zu Eltern und Kindern ist diese Warum sollte es von Bedeutung sein,
Einschränkung offenkundig nötig. Es ist beispielsweise kein Ver- daß ein Kind das eigene ist?
fehlen der Unparteilichkeit, einen verurteilten Kriminellen in Haft
zu nehmen, während unschuldige Bürger in Freiheit sind, weil es Warum sollte es von einem moralischen Gesichtspunkt eine Rolle
einen bedeutenden Unterschied zwischen ihnen gibt (der eine hat spielen, ob ein Kind das eigene ist? Wir neigen ganz selbstverständ-
ein Verbrechen begangen, die anderen nicht), auf den wir uns beru- lich zu der Annahme, daß es eine Rolle spielt, und fassen es als ein
fen können, um die unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen. rein philosophisches Rätsel auf, herauszufinden, warum das so ist.
Es fallen einem leicht ähnliche Beispiele ein. Sobald wir die Not- Warum sollte sich irgend jemand dieser Neigung widersetzen wol-
wendigkeit dieser Einschränkung zugegeben haben, können wir len? Das Gefühl, daß unsere Kinder einen höheren natürlichen An-
die Einschränkung nutzen, um unser Problem mit den besonderen spruch auf unsere Aufmerksamkeit haben, gehört zu den stärksten
Elternpflichten zu lösen. Wir können sagen, daß es einen bedeu- moralischen Instinkten, die wir haben. Kann es dann überhaupt
tenden Unterschied zwischen den eigenen und anderen Kindern Zweifel geben? Ich glaube, es gibt einen starken Grund, daran zu
gibt, der es rechtfertigt, die eigenen Kinder besser zu behandeln. zweifeln, daß dieses Gefühl moralisch legitim ist - die Tatsache,
Der Unterschied wird etwas mit der Tatsache zu tun haben, daß sie daß ein Kind das eigene ist, ist möglicherweise nicht wichtig oder
die eigenen sind. zumindest nicht annähernd so wichtig, wie wir das normalerweise
Wir können diese Sicht als Kompromiß bezeichnen. Sie ist des- annehmen. Dieser Grund hat mit dem Glück zu tun.
halb attraktiv, weil sie es uns erlaubt, die plausible Idee der Moral Das Argument des Glücks läßt sich folgendermaßen erläutern:
als Unparteilichkeit beizubehalten, ohne die gleichermaßen plau- Nehmen wir an, Eltern sind der Überzeugung, sie sollten ihren ei-
sible Idee aufgeben zu müssen, daß wir gegenüber unseren Kindern genen Kindern den Vorzug geben, wenn sie vor die Wahl gestellt
besondere Pflichten haben. Nachdem wir diese Lösung gefunden wären, ihre eigenen Kinder zu ernähren oder hungernde Waisen-
haben, könnten wir versucht sein, es dabei zu belassen. Das wäre kinder satt zu machen. Das ist nur natürlich. Aber die Waisenkin-
allerdings verfrüht. Es gibt eine weitere Frage, die geklärt werden der benötigen die Nahrung ebensosehr und haben es nicht weniger
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verdient, satt zu werden. Sie hatten nur nicht das Glück, als Kinder Ehemann sein. Diese Verpflichtungen lassen sich vermeiden, in-
wohlhabender Eltern geboren worden zu sein. Und warum sollte dem man sich weigert, solche Rollen zu übernehmen: Nicht jeder
Glück vom moralischen Gesichtspunkt gesehen irgendwie zählen? wird Lehrer sein, nicht jeder wird heiraten und einige bedauerns-
Warum sollten wir der Ansicht sein, daß eine moralische Auffas- werte Menschen werden nicht einmal Freunde haben. Aber man
sung richtig ist, die impliziert, daß einige Kinder zu essen bekom- kann wohl kaum alle sozialen Rollen vermeiden, und man kann
men, während andere verhungern, und das aus keinem anderen keine soziale Rolle ausfüllen, ohne gleichzeitig die besondere Ver-
Grund als dem, daß einige eben das Pech hatten, in ungünstige antwortung anzuerkennen, die damit einhergeht.
Verhältnisse hineingeboren zu werden? Das scheint mir ein äußerst Nun ist Elternschaft eine soziale Rolle, und wie andere solcher
wichtiger Sachverhalt zu sein - wichtig genug immerhin, um die Rollen umfaßt sie als Teil ihrer Natur besondere Pflichten. Man
Möglichkeit ernst zu nehmen, daß die Tatsache, daß es das eigene kann sich entscheiden, keine Kinder zu haben, oder wenn man ein
Kind ist, nicht die moralische Bedeutung hat, die wir ihr üblicher- Kind bekommen hat, kann man es zur Adoption freigeben. Aber
weise unterstellen. Menschen, die Eltern sind, kommen nicht von der Verantwortung
Lassen Sie uns mit dieser Überlegung im Hinterkopf die Ar- los, die ihnen die Rolle aufgibt. Eltern, die sich nicht um die Be-
gumente betrachten, mit denen die Sicht, die einen Kompromiß dürfnisse ihrer Kinder kümmern, sind schlechte Eltern, so wie ein
verkörpert, gestützt wird. Die Idee, daß die eigenen Kinder einen illoyaler Freund ein schlechter Freund ist und wie ein untreuer Ehe-
höheren Anspruch auf Fürsorge haben als andere, läßt sich auf ver- mann ein miserabler Ehemann ist. Und deshalb haben wir (diesem
schiedene Art und Weise verteidigen. Ich möchte auf die drei Argu- Argument zufolge) Verpflichtungen gegenüber unseren eigenen Kin-
mente eingehen, die mir am wichtigsten erscheinen. dern, die wir gegenüber anderen Kindern nicht haben.
Das Argument der sozialen Rollen ist einleuchtend, aber wie
i. Das Argument der sozialen Rollen weit sollten wir uns davon überzeugen lassen? Das Argument hat
zumindest vier offenkundige Schwächen.
Die erste Argumentation beginnt mit einigen Feststellungen über (i) Wir müssen zwei Behauptungen unterscheiden: Erstens daß
soziale Rollen. Kein isoliertes Individuum kann so etwas wie ein unsere Verpflichtungen gegenüber unseren eigenen Kindern ei-
normales menschliches Leben führen. Dafür ist eine soziale Umge- ne andere Grundlage haben als unsere Verpflichtungen gegenüber
bung nötig. Die soziale Umgebung sieht Rollen für uns vor, die wir anderen Kindern, und zweitens, daß unsere Verpflichtungen ge-
ausfüllen - so können wir im gesellschaftlichen Zusammenhang genüber unseren eigenen Kindern Vorrang haben beziehungsweise
Bürger, Freunde, Ehemänner oder Ehefrauen, Krankenhauspatien- stärker sind z\s unsere Verpflichtungen gegenüber anderen Kindern.
ten, Bauarbeiter, Wissenschaftler, Lehrer, Kunden, Sportfans und Wenn es stichhaltig wäre, würde das Argument der sozialen Rollen
anderes mehr sein. Keiner von uns (von seltenen heroischen Aus- lediglich zeigen, daß unsere Verpflichtungen gegenüber unseren
nahmen abgesehen) erschafft die Rollen, die wir spielen; sie haben eigenen Kindern auf anderen Erwägungen beruhen als unsere Ver-
sich über viele Jahrhunderte menschlichen Lebens herausgebildet, pflichtungen gegenüber anderen Kindern. Wir haben eine soziale
und wir stoßen einfach auf sie als das Rohmaterial, aus dem wir Beziehung zu unseren eigenen Kindern, welche die Basis unserer
unser individuelles Leben gestalten müssen. Verpflichtung ihnen gegenüber ist, wohingegen unsere Verpflich-
Diese Rollen definieren in hohem Maße unsere Beziehungen tungen gegenüber anderen Kindern auf einer allgemeinen Pflicht
zu anderen Menschen. Sie bestimmen genau, wie wir uns anderen zur Wohltätigkeit basieren. Das Argument würde nicht zeigen, daß
gegenüber verhalten sollten. Lehrer müssen ihre Schüler klug anlei- die erstgenannten Verpflichtungen stärker sind. Ein Kritiker der
ten, Freunde müssen loyal sein, Ehemänner sollten treu sein usw. In Idee besonderer Elternpflichten könnte also den Streit auf einer
dem Umfang, wie man in solcherlei Hinsichten versagt, wird man anderen Ebene fortsetzen. Man könnte den Einwand bringen, daß
ein minderwertiger Lehrer, ein schlechter Freund, ein miserabler selbst dann, wenn die Pflichten gegenüber den eigenen Kindern
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eine andere Grundlage hätten, diese noch längst nicht stärker wären Familien befürworten, die von der Liebe zusammengehalten wer-
als Pflichten gegenüber anderen Kindern. den. Jeder, der dies lesen wird, ist sehr wahrscheinlich von diesem
(ii) Der zweite Punkt hängt mit dem ersten zusammen. Das Ar- Ideal beeinflußt - man bedenke nur, wie die Leser ohne zu stocken
gument der sozialen Rollen nutzt die Vorstellung aus, was es bedeu- über den zweiten Abschnitt dieses Aufsatzes hinweggehen, mit des-
tet, ein schlechter Vater oder eine schlechte Mutter zu sein. Neh- sen lockerer Rede von Eltern, die ihre Kinder lieben und schützen.
men wir einmal an, wir gäben zu, daß ein Mann, der die Bedürfnis- Doch die traute Kleinfamilie, die von liebevollen Beziehungen lebt,
se seiner Kinder ignoriert, ein schlechter Vater ist. Man kann aber ist erst eine relativ junge Entwicklung. Die Norm ist in der Ge-
auch zu der Feststellung gelangen, daß ein Mann, der das Weinen schichte des Westens die längste Zeit eine völlig andere gewesen.
von Waisenkindern ignoriert, wenn er helfen könnte, ein schlechter Lawrence Stone weist in seinem vielfach gelobten Buch The Fa-
Mann ist - ein Mann, der die angemessene Rücksicht für die Be- mily, Sex and Marriage in England 1500-1800 darauf hin, daß Be-
dürfnisse anderer vermissen läßt. Es ist zwar nicht wünschenswert, ziehungen aus Zuneigung zwischen Ehemännern und Ehefrauen
ein schlechter Vater (eine schlechte Mutter) zu sein, aber es ist eben- noch im 17. Jahrhundert so selten waren, daß sie praktisch nicht
sowenig wünschenswert, ein schlechter Mann (eine schlechte Frau) existierten und in normalen Ehen sicherlich auch nicht erwartet
zu sein. Das Argument der sozialen Rollen hilft uns also wiederum wurden. In den Oberschichten bewohnten die Ehegatten getrennte
nicht, zu zeigen, daß unsere Verpflichtungen gegenüber anderen Zimmerfluchten in großen Haushalten und sahen einander selten
Kindern schwächer sind. privat. Kinder wurden unmittelbar nach der Geburt weggegeben,
(iii) Drittens gibt es den Punkt in Zusammenhang mit dem um etwa 12 bis 18 Monate von einer Amme betreut zu werden; nach
Glück, den ich bereits erwähnt hatte. Das System der in unserer ihrer Heimkehr wurden sie größtenteils von Kindermädchen, Gou-
Gesellschaft anerkannten sozialen Rollen sorgt mit speziellen Vor- vernanten und Hauslehrern aufgezogen. Im Alter zwischen 7 und 13
kehrungen für Kinder, die schon so glücklich sind, bei ihren Eltern wurden sie schließlich in eine Internatsschule geschickt, wobei dies
in einem Zuhause zu leben. Dieses System begünstigt sogar jene in der Regel mit zehn Jahren geschah.6 Den Kindern der Armen er-
Kinder mehr, die so glücklich sind, wohlhabende Eltern zu haben, ging es natürlich schlechter: Sie mußten das Haus in einem ähnlich
welche besser für sie sorgen können als weniger wohlhabende El- frühen Alter verlassen, oftmals, um in den Häusern der Reichen zu
tern. Selbst wenn wir dies in Kauf nehmen, können wir immer arbeiten. Stone schreibt:
noch fragen: Handelt es sich um ein moralisch anständiges System?
Ungefähr alles, was sich mit Gewißheit über die Angelegenheit emotio-
Das System an sich kann Gegenstand der Kritik sein.
naler Beziehungen in Familien aller sozialen Schichten des 16. und frühen
Wir müssen gar nicht lange suchen, um einen naheliegenden 17. Jahrhunderts sagen läßt, ist, daß es psychologisch allgemein eine At-
Einwand gegen das System zu finden. Das System bewährt sich bei mosphäre der Distanz, Manipulation und Ehrerbietigkeit gab. [...] Die
der Versorgung von einigen Kindern sehr gut, aber bei der Versor- familiären Beziehungen waren von Austauschbarkeit geprägt, so daß die
gung anderer Kinder funktioniert es sehr schlecht. Es gibt keine Ersetzung durch eine andere Frau oder ein anderes Kind einfach war. [...]
der Eltern-Kind-Beziehung vergleichbare soziale Rolle, die auf die Es handelte sich um eine Struktur, die nicht von affektiven Bindungen,
Interessen der Waisen zugeschnitten wäre oder auf die Interessen sondern durch wechselseitige ökonomische Interessen zusammengehalten
von Kindern, deren Eltern unfähig oder unwillig sind, für sie zu wurde.7
sorgen. Das Glück spielt deshalb in diesem System eine inakzepta- Und was ist mit den Elternpflichten? Es gab natürlich immer eine
bel wichtige Rolle. Anerkennung von gewissen besonderen Elternpflichten, aber in frü-
(iv) Schließlich könnten diejenigen, die sich in der Sozialge- heren Zeiten waren diese sehr viel beschränkter und waren nicht
schichte auskennen, das Argument der sozialen Rollen ziemlich
naiv finden. Das Argument verdankt seine Stärke größtenteils dem 6 Stone (1979), S. 83 f.
Umstand, daß die zeitgenössischen Ideale in Amerika und Europa 7 Ebd., S. 88.
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mit Bindungen aus Zuneigung verknüpft. Bis in das 18. Jahrhundert ger klar, während die eigenen Kinder im selben Haus wohnen und
hinein lag die Betonung in europäischen Moralauffassungen nahe- die Eltern mit ihren Bedürfnissen bestens vertraut sind (oder sein
zu ausschließlich auf den Pflichten, die Kinder den Eltern schul- sollten). Unter sonst gleichen Umständen ist der Gedanke sinnvoll,
den, und nicht andersherum. Üblicherweise hieß es, Kinder seien daß A eine größere Verantwortung hat, B zu helfen statt C zu hel-
ihren Eltern bedingungslosen Gehorsam schuldig, aus Dankbarkeit fen, wenn A eher in der Lage ist, B zu helfen. Das trifft für den Fall
für das ihnen geschenkte Leben. Der französische Historiker Jean zu, in dem man den eigenen Kindern hilft, statt anderen Kindern
Flandrin schreibt: »In der Bretagne blieb der Sohn der väterlichen zu helfen; daher ist die Verpflichtung gegenüber den eigenen Kin-
Macht bis zu sechzig Jahren unterworfen, aber die Ehe, die mit dern größer.
dem väterlichen Einverständnis geschlossen wurde, entband ihn Dieses Argument ist einleuchtend, wenn wir uns auf bestimmte
davon.«8 Der Mann, dessen Vater ein hohes Alter erreichte und Arten der Hilfe konzentrieren. Wenn Kinder mitten in der Nacht
seine Zustimmung zur Ehe verweigerte, war nur zu bedauern — sei- krank aufwachen, muß sich irgend jemand um sie kümmern, und
ne Emanzipation konnte allein darin bestehen, zu fliehen. Sowohl dieser jemand ist normalerweise die Mutter oder der Vater. Die
Stone als auch Flandrin machen uns klar, daß elterliche Rechte eine Eltern sind in der Lage, dies zu tun, und (die meiste Zeit) nie-
alte Idee sind, während die Idee umfassender elterlicher Pflichten mand sonst. Die Beschwerde, Sie würden zwar Ihre eigenen Kinder
eine Vorstellung deutlich jüngeren Datums ist. (Die Debatte zwi- betreuen, aber Sie würden den anderen Kindern, die anderswo in
schen Mo Tzu und den Konfuzianisten wurde ebenfalls in solchen der Welt krank aufwachen, nicht helfen, ist offenkundig unsinnig.
Begriffen geführt — die wesentliche Frage war für sie, ob Kinder Dasselbe gilt für unzählige andere Formen, in denen Eltern ihren
besondere Pflichten gegenüber ihren Vätern hätten, nicht anders- Kindern beistehen: indem sie sie dazu anhalten, ihre Arznei ein-
herum.) zunehmen, indem sie sie daran hindern, auf der Straße zu spielen,
Diesen Feststellungen zur Sozialgeschichte sollte man mit Vor- indem sie sie gegen die Kälte warm einpacken usw. Das sind alles
sicht begegnen. Sie widerlegen selbstverständlich nicht die Idee Dinge, die wir tägliche Betreuung nennen können.
besonderer Elternpflichten. Sie erschüttern aber nicht unerheblich Die tägliche Betreuung beinhaltet eine Art persönlicher Auf-
unser leichtsinniges Vertrauen, daß die heutigen sozialen Verhält- merksamkeit, die Eltern nicht flir viele weitere Kinder aufbringen
nisse nur unsere natürlichen Pflichten institutionalisieren. Das ist könnten, weil es physisch unmöglich ist. Die Unverzichtbarkeit
die einzige Lehre, die man aus ihr ziehen kann, eine wichtige al- physischer Nähe ist das, was diese Arten des Betreuungsverhaltens
lerdings. Was in diesem Bereich natürlich erscheint, hängt wie in erst möglich macht; die Unmöglichkeit, dasselbe für andere Kinder
so vielen anderen Bereichen lediglich von den Konventionen der zu tun, ist nichts anderes als die Unmöglichkeit, an zwei Orten
Gesellschaft ab. gleichzeitig zu sein. Falls hier also Parteilichkeit im Spiel ist, ist es
eine Parteilichkeit, die uns nicht beunruhigen muß, weil sie nicht
2. Das Argument der Nähe vermeidbar ist. Es kann wohl kaum Zweifel daran geben, daß El-
tern normalerweise in einer besseren Lage sind, die tägliche Betreu-
Das zweite Argument lautet folgendermaßen. Es ist vernünftig, ung für ihre eigenen Kinder zu leisten als für andere.
eine soziale Regelung zu akzeptieren, in der den Eltern eine beson- Dieser Argumenttypus ist allerdings weniger plausibel, wenn wir
dere Verantwortung für ihre eigenen Kinder zugewiesen wird, weil allgemeinere, grundsätzlichere Bedürfnisse wie beispielsweise die
Eltern hesser in der Lage sind, sich um ihre eigenen Kinder zu küm- Ernährung berücksichtigen. Sind Eltern besser in der Lage, ihre
mern. Zugegebenermaßen brauchen alle Kinder Hilfe und Schutz. eigenen Kinder zu ernähren als andere zu versorgen? Früher ein-
Aber andere Kinder sind weit weg, und ihre Bedürfnisse sind weni- mal wird dies der Fall gewesen sein. Vor der Verbreitung moderner
Kommunikations- und Transportmittel und vor dem Aufbau ef-
8 Flandrin (1978), S. 154. fizienter Hilfsorganisationen konnten Leute zu Recht behaupten,
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daß sie zwar ihre eigenen Kinder ernähren, aber an dem Los von stet. Natürlich können auch Menschen, die nicht durch Zuneigung
Kindern anderswo nicht viel ändern könnten. Doch das trifft mitt- aneinander gebunden sind, diese Art Handel schließen, aber Zu-
lerweile nicht mehr zu. Mit den Hilfsorganisationen, die heute be- neigung macht die Regelung verläßlicher. Menschen, die einander
reitstehen, um unsere Hilfe überall in der Welt zu realisieren, und lieben, neigen eher dazu, sich die Treue zu halten, wenn es wirklich
die dafür nur ausreichend finanzielle Mittel benötigen, ist es fast schwierig wird. Doch das ist nicht alles. Bindungen aus Zuneigung
so einfach, ein Kind in Afrika mit Nahrung zu versorgen wie für bewähren sich nicht bloß instrumentell. Geliebt zu werden heißt,
die eigenen Kinder zu sorgen. Dasselbe gilt für die medizinische seinen eigenen Wert bestätigt zu bekommen, und ist daher eine
Grundversorgung: Internationale Hilfsorganisationen befördern Quelle der Selbstachtung. Das ist für uns alle wichtig, besonders
medizinische Hilfe in alle Gegenden der Welt. aber für Kinder, die hilfloser und verwundbarer sind als Erwachse-
Das Argument der Nähe ist daher bestenfalls teilweise überzeu- ne. Darüber hinaus gibt es in einer tiefen Schicht eine Verbindung
gend. Für einige Formen der Hilfe (beispielsweise mitten in der zwischen der Liebe und dem Sinn des Lebens (obwohl ich hier
Nacht aufzustehen, um sich um kranke Kinder zu kümmern) ist nicht sehr gründlich darauf eingehen kann). Wenn wir nichts ha-
die Nähe erforderlich, aber für andere nicht (die Versorgung mit ben, dem wir einen Wert beimessen, wenn wir das Gefühl haben,
Nahrung z.B.). Das Argument vermag zu zeigen, daß Eltern be- daß »alles eitel ist«, fragen wir uns, ob unser Leben noch Sinn hat.
sondere Pflichten haben, sobald es um die tägliche Betreuung geht. Liebevolle Beziehungen geben den Individuen etwas, das für sie
Für die Deckung von Grundbedürfnissen kann dies jedoch nicht einen Wert hat, und verleihen somit ihrem Leben diese Art von
behauptet werden. Sinn. Darum können Eltern, die ihre Kinder lieben und die sich
darum bemühen, daß sie sich gut entwickeln, darin einen Lebens-
3. Das Argument der persönlichen Güter sinn sehen.
Das sind wichtige Gesichtspunkte, aber sie beweisen nicht so
Das dritte Argument steht und fällt mit der Idee, daß liebevolle Be- viel, wie man manchmal meint. Zunächst einmal gibt es vieles an
ziehungen als persönliche Güter große Bedeutung haben: Andere der Elternliebe, was mit einem hohen Maß an Unparteilichkeit
Menschen zu lieben und umgekehrt geliebt zu werden gehört zu durchaus vereinbar ist. Jemanden zu lieben besteht nicht bloß darin,
einem erfüllten und befriedigenden menschlichen Leben. Eine lie- dessen Interessen bevorzugt zu fördern. Liebe beinhaltet unter an-
bevolle Beziehung zu den eigenen Kindern ist für viele Eltern eine derem Vertrautheit und das Teilen von Erfahrungen. Eltern zeigen
Quelle solchen Glücks, daß sie fast alles andere opfern würden, um ihre Liebe, indem sie den witzigen Geschichten des Kindes zuhö-
sie zu erhalten. Wie wir aber bereits festgestellt haben, umfaßt die ren, indem sie mit dem Kind reden und rücksichtsvolle Begleiter
Liebe notwendigerweise eine besondere Sorge um das Wohlergehen sind, indem sie loben oder auch tadeln, wenn dies notwendig ist.
der geliebten Person und ist deshalb nicht unparteilich. Eine Ethik, Man kann dagegen einwenden, daß diese Verhaltensweisen eben-
die absolute Unparteilichkeit fordern würde, würde daher den Ver- falls von Parteilichkeit zeugen, da die Eltern dies nicht für alle Kin-
zicht auf ein hohes persönliches Gut verlangen. der tun. Doch sind das lediglich weitere Beispiele für die tägliche
Die intuitive Idee hinter diesem Argument scheint klar auf der Betreuung, die Nähe erfordert; und wenn dies Parteilichkeit ist,
Hand zu liegen. Gleichwohl ist es schwierig, das Argument mit ei- dann wiederum eine, die nicht vermeidbar ist. Und es gibt noch
niger Genauigkeit zu formulieren. Warum genau ist eine liebevolle einen Unterschied zwischen diesen Formen elterlicher Unterstüt-
Beziehung zu einer anderen Person ein so hohes Gut? Ein Teil der zung und solchen Dingen wie der Versorgung mit Nahrung und
Antwort mag darin bestehen, daß uns alle ein Pakt wechselseitigen medizinischer Betreuung. Die Kameradschaft, das Zuhören und
Beistands dazu befähigt, besser durchzukommen. Wenn A und B Reden, Loben und Tadeln sind das, was persönliche Beziehungen
diese Art von Beziehung haben, dann kann A auf Bs Hilfe zählen, persönlich sein läßt. Das ist der Grund, weshalb die psychischen
wenn sie gebraucht wird, und umgekehrt. Beide sind besser gerü- Gewinne, die mit solchen Beziehungen einhergehen, mit diesen
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Dingen enger verknüpft sind als mit solch relativ unpersönlichen benötigen. Waisen würden von Familien aufgenommen werden, in
Dingen wie zu Essen bekommen. denen man sie wie eigene Kinder lieben und aufziehen würde. Die
Um eine liebevolle Beziehung zu den eigenen Kindern zu haben Lasten solcher Adoptionen würden alle gemeinsam tragen.
und aus ihr den Gewinn zu ziehen, den das Argument der per- Man kann wohl sagen, daß das Ideal der Unparteilichkeit in
sönlichen Güter im Blick hat, ist es außerdem nicht notwendig, einer solchen Welt verwirklicht wäre. In dieser Welt würden die
die Interessen der eigenen Kinder immer als vorrangig anzusehen, Menschen nicht so handeln, als ob irgendein Kind mehr verdiente
insbesondere dann nicht, wenn die fraglichen Interessen nicht als ein anderes. Auf die eine oder andere Art würde für die Be-
vergleichbar sind. So könnte man eine liebevolle Beziehung un- dürfnisse aller Kinder gleich gesorgt. Zudem entschiede nicht das
terhalten, die alle Vertrautheiten der täglichen Betreuung und die Glück darüber, wie es den Kindern ergeht: Die Bedürfnisse der
Befriedigung lebensnotwendiger Bedürfnisse umfaßt, und zugleich Waisen würden ebenfalls berücksichtigt. Wenn die Mohisten sagen,
anerkennen, daß dann, wenn man zwischen Luxusgütern für die daß »Liebe universell ist«, oder wenn ihre modernen Pendants, die
eigenen Kinder und Nahrung für die Waisen wählen muß, die Be- Utilitaristen, behaupten, wir sollten »die Interessen eines jeden glei-
dürfnisse der Waisenkinder Vorrang haben sollten. Zumindest ist chermaßen unparteilich fördern«, könnte dies daraufhinauslaufen,
im Argument der persönlichen Güter nichts enthalten, was eine daß wir in der moralisch besten Welt viele derjenigen Unterschei-
solche Herangehensweise ausschließt. dungen nicht anerkennen würden, die wir in der realen Welt, in der
wir leben, anerkennen.
Aber die Idee besonderer Verpflichtungen hat sich wieder ein-
Der moralische Gehalt utopischen Denkens geschlichen. In der von mir geschilderten utopischen Welt werden
manche besonderen Verpflichtungen anerkannt, weil bestimmten
Es gibt eine weitere, von den Mohisten bevorzugte Herangehens- Erwachsenen (meistens den Eltern) die besondere Verantwortung
weise an unser Problem, die wir bislang noch nicht erwogen haben: für die Betreuung bestimmter Kinder zugewiesen wird. Zwei Punk-
Wir könnten am Ideal der Unparteilichkeit festhalten und die Idee te müssen wir jedoch hervorheben: Erstens ist der Grund für diese
besonderer Elternpflichten einfach ablehnen. Das geht gegen unse- Regelung mit dem Prinzip der Unparteilichkeit vereinbar (und ver-
re Intuitionen und widerspricht den (teilweise überzeugenden) Ar- einbar mit dem Gedanken, daß die eigenen Kinder irgendwie einen
gumenten, die wir soeben untersucht haben. Wir sollten vielleicht natürlichen höheren Anspruch auf die elterliche Aufmerksamkeit
trotzdem fragen, ob sich irgend etwas zugunsten dieses Ansatzes haben); der Grund dafür ist, daß es die beste Art und Weise ist,
sagen läßt. dafür zu sorgen, daß die Bedürfnisse aller Kinder befriedigt werden.
Es gibt in der Tat eine Menge, was sich zugunsten dieses Ansatzes Zweitens könnte die Anerkennung einiger besonderer Verpflich-
vorbringen läßt. Vergessen wir doch einmal für einen Augenblick tungen sogar in Utopia begrüßt werden; sie muß nichts sein, was
die Unzulänglichkeiten des wirklichen menschlichen Lebens und bloß widerwillig zugestanden wird. Die Argumente, auf die wir
versuchen wir uns vorzustellen, wie es denn wäre, wenn sich jeder- bereits eingegangen sind, legen nahe, daß ein soziales System, in
mann in einer moralisch untadeligen Weise verhielte. Wie wären dem bestimmten Erwachsenen die Verantwortung für bestimmte
die Beziehungen zwischen Erwachsenen und Kindern in einem Kinder zugewiesen wird, besondere Vorteile hat — die Vorteile, wel-
solchen Utopia? Ein plausibles Bild einer solchen Welt würde so che mit liebevollen persönlichen Beziehungen einhergehen. Dies
aussehen: In ihr würden diejenigen Kinder, deren Eltern noch leben führt uns zu der Annahme, daß eine solche Zuweisung der Verant-
und in der Lage sind, sie zu versorgen, von ihren Eltern aufgezogen wortung auch das beste soziale System charakterisieren würde - ein
werden, die ihnen alle Liebe und Fürsorge angedeihen ließen, deren System, das zugleich eine angemessene Versorgung aller Kinder
sie bedürfen. Eltern, die ohne eigenes Verschulden nicht in der Lage leisten würde.
wären, ihre Kinder zu versorgen, würden jede Hilfe erhalten, die sie Natürlich leben wir nicht in Utopia, und man kann den Einwand
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erheben, daß es in der wirklichen Welt, in der wir leben, entweder kommen sind, daß sie in ein gefährliches Fahrwasser geraten und
dumm oder verhängnisvoll wäre, den Eltern zu erzählen, sie sollten von der (moralischen) Praktik der Euthanasie in die beschriebenen
aufhören, ihre eigenen Kinder vorzuziehen - dumm, weil niemand zusätzlichen (unmoralischen) Praktiken abdriften würden.
zuhören würde, oder verhängnisvoll, weil dann, wenn einige es tä- Das legt nahe, daß die Moralphilosophie in einer Weise ideali-
ten, deren Kinder stark darunter leiden würden. (Zeitgemäß ausge- stisch sein könnte, wie es die angewandte Ethik nicht ist. Die Mo-
drückt, könnte es ein Koordinationsproblem geben: Es mag unklug ralphilosophie beschreibt die Ideale, die das vollkommene Verhal-
für jemanden sein, die beste Strategie zu übernehmen, bevor alle ten motivieren, das Verhalten der Menschen in Utopia.10 In Utopia
das tun.) Was bringt es uns also, über Utopia nachzudenken? Ich wäre, wie Thomas Morus in seinem gleichnamigen Buch feststell-
denke, es bringt uns Folgendes: Ein Bild von Utopia vermittelt uns te, die Euthanasie akzeptiert,11 und das »Slippery-slope«-Argument
nicht nur eine Idee dessen, was wir anstreben sollten, sondern auch vom verhängnisvollen Abdriften in unmoralische Praktiken wäre
dessen, was in einer gewissen Hinsicht objektiv richtig oder falsch hinfällig, weil die Menschen in Utopia humane Praktiken nicht
ist. In unserer eigenen Welt mögen Bedingungen herrschen, die es mißbrauchen würden. Die angewandte Ethik hingegen berücksich-
unter manchen Umständen falsch sein lassen, so zu handeln, als tigt die vertrackten Gegebenheiten der wirklichen Welt, einschließ-
lebten wir in Utopia. Doch ist das bloß deshalb so, weil das Ver- lich der Vorurteile, Fehler und Laster lebensechter Menschen, und
halten der Menschen in unserer Welt nicht untadelig ist. In einem spricht Empfehlungen aus, was wir in Anbetracht all dessen und der
tieferen Sinne kann es dennoch so sein, daß das utopische Verhalten Ideale des vollkommenen Verhaltens tun sollten.
moralisch am besten ist. Was bedeutet das für die Frage nach den besonderen Eltern-
Lassen Sie mich versuchen, dies mit einem anders gelagerten pflichten? Es bedeutet, daß etwas dran ist an dem philosophischen
Beispiel klarer zu machen. Viele Philosophen haben die Ansicht Pochen darauf, daß alle Kinder gleich sind, selbst wenn es in der
vertreten, daß an der Sterbehilfe nichts unmoralisch sei, wenn diese wirklichen Welt unklug wäre, konkrete Eltern zu ermahnen, sie
von einer sterbenden Person als humane Alternative zu einem lang- sollten doch die bevorzugte Betreuung der eigenen Kinder been-
samen, schmerzvollen Tod erbeten wird. Andere haben dagegen den. Die praktische Frage lautet daher, wie sehr wir uns dem idealen
eingewandt, die Sterbehilfe würde zu weiteren Tötungen führen, System in der realen Welt nähern können und welche besonderen
die wir eigentlich nicht wollen - wir würden damit anfangen, Men- Empfehlungen im Licht dieser Realisierungserwartung an konkrete
schen auf deren eigene Bitte hin zu töten, um sie von ihrem Elend Eltern ausgesprochen werden sollten.
zu erlösen, heißt es, doch dann würden wir auf kranke Menschen
Druck ausüben, solche Bitten zu äußern, und das würde dazu füh-
ren, alte Menschen zu töten (zu deren eigenem Wohl natürlich),
die nicht darum gebeten haben, und als nächstes würden wir dazu 10 In diesem Punkt folge ich Richard Brandt, der sich allerdings anders ausdrückt.
übergehen, die Geistesgestörten zu töten usw. Ich glaube zwar nicht, Brandt schreibt: »Was ich mit >ist objektiv falsch< oder mit >ist moralisch nicht
gerechtfertigt* meine, wäre durch eine Reihe moralischer Regeln verboten, wel-
daß solche Dinge geschehen würden,9 aber nehmen wir einmal an,
che eine rationale Person im Vergleich mit irgendwelchen anderen moralischen
es wäre so. Was würde daraus folgen? Es würde daraus nicht folgen, Regeln oder überhaupt keinen Regeln vorziehen würde als moralische Regeln,
daß die Sterbehilfe im ursprünglichen Fall unmoralisch ist. Der die in der Gesellschaft, in der sie voraussichtlich ihr ganzes Leben zu leben hat,
Einwand würde paradoxerweise zeigen, daß es gute Gründe gibt, verbreitet sind oder denen das Gewissen der Menschen verpflichtet ist« (Brandt
warum wir Handlungen nicht durchführen sollten, die moralisch 1975, S.367). Das ist zweifelsohne eine Reihe von Regeln, die für ein Utopia ge-
und human sind. Diese Gründe hätten mit den Unzulänglichkeiten eignet sind, wobei davon ausgegangen wird, daß die Menschen tatsächlich nach
den Regeln leben werden. In der wirklichen Welt können wir solche Annahmen
der Menschen zu tun. Die These dabei ist, daß Menschen so unvoll-
nicht machen, und manchmal wird das bedeuten, daß wir Dinge tun sollten, die
gemäß dieser Definition objektiv falsch wären.
9 Zu einer ausführlichen Diskussion siehe Rachels (1986), Kap. 10. 1 1 Morus (2005), S.106.
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Praktische Implikationen Diese Auffassung bestreitet, daß es irgendwelche guten moralischen
Gründe gibt, der Ernährung des eigenen Kinds den Vorzug zu ge-
Wie sollten Eltern, die nicht in Utopia, sondern in unserer Gesell- ben anstatt ein Waisenkind im Ausland satt zu machen. In unserer
schaft leben und denen daran liegt, das moralisch Beste zu tun, das Gesellschaft würde jeder, der diese Ansicht akzeptierte und danach
Verhältnis zwischen den Verpflichtungen gegenüber ihren eigenen handelte, von seinen Nachbarn für moralisch gestört gehalten wer-
Kindern und ihren Verpflichtungen gegenüber anderen Kindern den, denn wer sich so verhält, erweckt den Eindruck, die eigenen
verstehen? Hierzu zunächst drei gegensätzliche Ansichten, von de- Kinder abzulehnen - man sieht darin eine Weigerung, die Kinder
nen jede unplausibel ist, wenn auch aus verschiedenen Gründen. mit der Liebe zu behandeln, die im Eltern-Kind-Verhältnis ange-
messen ist.
i. Extreme Voreingenommenheit
3. Die verbreitetste Anschauung
Dieser Auffassung zufolge haben Eltern Verpflichtungen, für die
eigenen Kinder zu sorgen, haben jedoch gegenüber allen anderen Und was glauben die Menschen in unserer Gesellschaft tatsächlich?
Kindern überhaupt keine Verpflichtungen. Alles, was sie für ande- Die meisten Menschen sind wohl der Ansicht, daß man eine Ver-
re Kinder tun, ist bestenfalls supererogatorisch - gut und löblich, pflichtung, andere Kinder mit dem Lebensnotwendigen zu versor-
wenn man sich dafür entscheidet, aber in keiner Weise moralisch gen, erst dann hat, wenn man für die eigenen Kinder bereits eine
verbindlich. Aus dieser Sicht können Eltern ihre eigenen Kinder ganze Reihe von Luxusgegenständen angeschafft hat. Nach dieser
nicht nur mit dem Notwendigen versorgen, sondern auch mit Lu- Auffassung ist es zulässig, die eigenen Kinder mit praktisch allem zu
xusgütern ausstatten, während andere Kinder hungern, und sind versorgen, was sie brauchen, um im Leben gute Startvoraussetzun-
vor moralischer Kritik dennoch geschützt. gen zu haben - nicht bloß Essen und Kleidung, sondern möglichst
Extreme Voreingenommenheit ist nicht plausibel, weil sie kei- auch eine gute Ausbildung, Gelegenheit zu reisen, Gelegenheit für
nerlei Pflicht zur allgemeinen Wohltätigkeit vorsieht. Es ist aber Freizeitvergnügen usw. In den Vereinigten Staaten haben Kinder
schwer zu glauben, daß wir nicht doch eine gewisse Verpflichtung wohlhabender Familien oft auch eigene Fernsehgeräte, Stereoanla-
haben, uns mit dem Los der Hungernden zu befassen, wer immer gen und Computer in ihren Zimmern. Sie fahren mit dem eigenen
sie sind, auch wenn diese Verpflichtung weniger weitreichend ist Auto zur Oberschule. Anscheinend glauben nur wenige US-Bürger,
als unsere Verpflichtungen gegenüber den eigenen Angehörigen.12 daß dies vielleicht nicht ganz in Ordnung sein könnte - Eltern, die
Folglich wird es nicht überraschen, wenn sich diese Auffassung als es sich nicht leisten können, ihre Kinder mit solchen Luxusgegen-
inakzeptabel erweist. ständen auszustatten, setzen dennoch ihren Ehrgeiz daran.
Die verbreitetste Anschauung sieht eine gewisse Pflicht hinsicht-
2. Vollständige Gleichheit lich anderer Kinder, aber keine große. Konkret gesagt, wird eine
solche Pflicht nur den sehr Reichen auferlegt, die auch dann noch
Die gegenteilige Auffassung scheint in der Idee von der Moral als finanzielle Mittel übrig haben, wenn sie ihre eigenen Kinder bereits
Unparteilichkeit enthalten zu sein - die Auffassung, daß alle Kin- reichlich mit Luxus ausgestattet haben. Die Eltern, die nichts übrig
der gleich sind und daß es zwischen den moralischen Verpflichtun- haben, nachdem sie so viel wie möglich für die eigenen Kinder
gen gegenüber den eigenen Kindern und solchen Verpflichtungen getan haben, sind aus dem Schneider. Man muß nicht lange nach-
gegenüber anderen Kindern überhaupt keinen Unterschied gibt. denken, um einzusehen, daß auch diese Sicht nicht plausibel ist.
Wie kann es richtig sein, einige Kinder - selbst wenn es die eigenen
1 2 Z u Argumenten hinsichtlich der Reichweite unserer Verpflichtungen gegenüber sind — mit Luxus zu umgeben, ihnen zum Beispiel Spielzeug der
anderen siehe Singer (1972) und Rachels (1979). allerneuesten Trends zu kaufen, während andere nicht genug zu
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essen haben? Wenn man die Menschen damit konfrontieren wür- Interpretation genötigt sein, wenn man den Punkt zur moralischen
de, kämen vielen von ihnen vielleicht doch noch Zweifel, ob das Irrelevanz des Glücks überaus ernst nimmt.) Die Intuition bei die-
richtig ist. Die meisten wohlhabenden Leute handeln jedoch selbst- ser Idee ist dennoch unmißverständlich. Demnach können Eltern
verständlich so, als sei es richtig. durchaus zuerst ihre eigenen Kinder mit dem Notwendigen ver-
Gibt es eine bessere Alternative? Gibt es eine Auffassung, die den sorgen, sind jedoch nicht berechtigt, sie mit Luxus zu umgeben,
Schwierigkeiten der extremen Voreingenommenheit, der vollstän- während anderen Kindern das Notwendige zum Leben fehlt. Diese
digen Gleichheit und der verbreitetsten Anschauung entgeht und Auffassung würde sogar noch in einer recht schwachen Ausprägung
mit den verschiedenen anderen Anforderungen vereinbar ist, die eine weit größere Berücksichtigung anderer verlangen als die An-
in unserer Erörterung formuliert wurden? Ich möchte folgenden schauung, die in unserer Gesellschaft am verbreitetsten ist.
Vorschlag machen. Unter dem Gesichtspunkt der unterschiedlichen Argumente, die
wir hier berücksichtigt haben, ragt die teilweise Voreingenommen-
4. Teilweise Voreingenommenheit heit als überlegene Auffassung klar heraus. Sie kommt dem utopi-
schen Ideal näher als die extreme Voreingenommenheit oder die am
Wir könnten sagen, daß wir zwar eine substantielle Verpflichtung meisten verbreitete Anschauung; sie ist moralisch überlegen, indem
haben, uns um das Wohlergehen aller Kinder zu kümmern, daß sie für Kinder, die keine fürsorglichen Eltern haben, mehr Vorsorge
unsere eigenen Kinder aber dennoch an erster Stelle stehen. Dieser trifft; sie ist mit den Argumenten hinsichtlich der Vorteile, welche
vage Gedanke muß schärfer formuliert werden. Eine Möglichkeit, den Menschen aus liebevollen Beziehungen erwachsen, vereinbar,
ihn zu präzisieren, ist diese: Wenn wir ähnliche Bedürfnisse abwä- und sie verlangt vielleicht gerade so viel, wie wir von Menschen,
gen, wäre es zulässig, die Bedürfnisse der eigenen Kinder bevorzugt die in der wirklichen Welt leben, erwarten können. Sie ist in der
zu behandeln. Ist man beispielsweise vor die Wahl gestellt, die ei- Tat nicht sehr weit vom utopischen Ideal entfernt. Wenn wir von
genen Kinder zu ernähren oder mit dem Geld zur Nahrungsmit- der vollständigen Gleichheit ausgehen und diese Konzeption dann
telhilfe für andere Kinder beizutragen, könnte man sich berechtig- in der Weise anpassen, wie es unsere Erörterung Utopias nahelegt,
terweise entschließen, die eigenen Kinder mit Essen zu versorgen. gelangen wir schließlich zu etwas, das der teilweisen Voreingenom-
Wäre aber die Wahl zu treffen zwischen irgendeinem relativ trivia- menheit sehr ähnlich ist.
len Gegenstand für die eigenen und dem Lebensnotwendigen für Was würde es für reale Familien bedeuten, wenn sie die teilwei-
andere Kinder, dann sollte der Hilfe für andere der Vorzug gegeben se Voreingenommenheit zu ihrer Richtschnur machten? Es würde
werden. Wäre also zu entscheiden zwischen modischem Spielzeug bedeuten, daß Eltern weiterhin in liebevoller täglicher Betreuung
für die eigenen, bereits gut gesättigten Kinder oder der Nahrung für für ihre eigenen Kinder sorgen könnten, mit allem, was damit ver-
hungernde Kinder, sollten die hungernden versorgt werden. bunden ist, und sie bei der Versorgung mit dem Lebensnotwendi-
Diese Sicht wird sich je nachdem, was als »relativ trivialer Ge- gen bevorzugt behandeln dürften. Es würde aber auch bedeuten,
genstand« gilt, als mehr oder weniger anspruchsvoll erweisen. Wir als erstes bedürftigere Kinder mit den lebensnotwendigen Dingen
sind uns vielleicht einig, daß es nicht zu rechtfertigen ist, einigen zu versorgen, bevor Luxusgegenstände für die eigenen Kinder be-
Kindern - selbst wenn es die eigenen sind - modisches Spielzeug zu schafft werden. Kinder aus solchen Familien wären in einem unmit-
kaufen, während andere Kinder hungern. Doch was ist, wenn wir telbaren Sinne schlechter dran als Kinder wohlhabender Eltern, die
ihnen schöne Kleidung kaufen wollen? Oder ihnen eine College- unverändert nach dem Diktat der extremen Voreingenommenheit
Ausbildung bezahlen wollen? Ist es gerechtfertigt, wenn ich meine oder der am meisten verbreiteten Anschauung leben würden. Trotz-
Kinder auf ein teures College schicke? Die Grenze zwischen dem dem wollen wir hoffen, daß sie sich nicht als beraubt betrachten
Trivialen und dem Wichtigen kann zweifellos an verschiedenen würden, denn sie könnten lernen, daß ein moralischer Wert darin
Punkten gezogen werden. (Man wird zu einer anspruchsvolleren liegt, auf Luxus zu verzichten, so daß andere Kinder nicht hungern
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müssen. Sie könnten sogar zu der Einsicht gelangen, in ihren Eltern
moralisch bewundernswerte Menschen zu sehen. Diese Hoffnung
ist an sich schon utopisch genug.
Übersetzt von Karin Wördemann
27 6
Beate Rössler
Einführung
279
Besonderheit der familiären Institution Thema der Philosophie von zu setzen, gelingt es Anderson und Kleingeld zum einen, deutlich
ihren Anfängen an;3 doch für die moralphilosophische Problema- zu machen, daß und wie dieses Spannungsverhältnis nicht nur die
tik ist noch immer eine Konstellation entscheidend, die wir der familialen Beziehungen betrifft, sondern paradigmatisch für die ge-
Kantischen Position und der Hegeischen Kritik an ihr verdanken.4 samte Problematik der Moralität persönlicher Beziehungen ist. Sie
Vertritt auf der einen Seite Kant bekanntlich eine kontraktualisti- versuchen jedoch auf der anderen Seite auch zu zeigen, daß diese
sche Position, nach der die Ehe als freiwillig eingegangener Vertrag Spannung keineswegs dilemmatisch ist, sondern im Gegenteil al-
verstanden werden muß, mit dem für die beteiligten Personen je- lein die Orientierungen an Liebe ebenso wie die an Gerechtigkeit
weils bestimmte Rechte und Pflichten verbunden sind,5 so begreift den moralischen Charakter der Familie und der liebevollen familia-
Hegel demgegenüber Ehe und Familie als Anerkennungsverhältnis, len Beziehungen zum Ausdruck bringen können. Damit plädieren
das allein auf Liebe gegründet ist und gerade nicht als natürliche sie für ein Modell, das die moralische Spannung zwischen einem
oder vertragliche Einheit begriffen werden kann.6 Handeln aus Liebe und einem Handeln aufgrund von Gerechtig-
Diese Konstellation findet sich in der gegenwärtigen moralphi- keitsprinzipien gerade überwinden will.
losophischen Diskussion in modifizierter Form wieder etwa in der Geben uns also Anderson und Kleingeld einen umfassenden und
Kritik der Kommunitaristen an den liberalen Theorien wie derje- präzisen Überblick über die moralphilosophische Problematik der
nigen von Rawls,7 denn auch Sandel kritisiert an Rawls, daß das Beziehungen zwischen Familienmitgliedern, so stellt Young demge-
Wesen der familialen - oder auch freundschaftlichen - Beziehun- genüber zunächst einmal die Institution von Ehe und Familie, wie
gen gefährdet und beschädigt werde, wenn Rechte in diesen Bezie- sie traditionell gefaßt wurde, als ganze in Frage. Zum einen — em-
hungen überhaupt zur Sprache kommen müssen und Bedürfnisse pirisch - deshalb, weil die gesellschaftliche Realität ohnehin dieser
nicht aus Fürsorge oder Liebe erfüllt werden, wenn also aus den Privilegierung der Ehe und (traditionellen Klein-) Familie nicht
Bindungen der Liebe solche des Rechts werden. mehr gerecht werde. Zum anderen jedoch - normativ - deshalb,
Es ist nun genau dieses Spannungverhältnis von Liebe und Ge- weil es, so Young, moralisch ebensowenig wie in besonderem Sin-
rechtigkeit in der Beschreibung der innerfamiliären Moralität, das ne gerechtigkeitstheoretisch begründbar sei, warum ein bestimm-
im Zentrum des Beitrags von Anderson und Kleingeld steht; damit tes Modell des persönlichen Zusammenlebens gegenüber anderen
stellen sie sich nicht nur den Herausforderungen der gesellschaftli- Formen des Zusammenlebens als soziale, kulturelle und staatlich
chen Transformationen der Familie, sondern beziehen zugleich Po- legitimierte Norm bevorzugt werden sollte.
sition hinsichtlich der traditionellen philosophischen Diskussion. Einen weiteren Grund, die Diskussion um die Institution der
Sie gehen aus von einer Kritik an vier Modellen, die sie aus der ein- Familie noch einmal grundlegend zu eröffnen, sieht Young in der
schlägigen Literatur rekonstruieren und die das Verhältnis zwischen Argumentation der bisherigen feministischen Kritik, wie zum Bei-
Liebe und Gerechtigkeit auf je unterschiedliche und unterschied- spiel der von Moller Okin.5 Ihr wirft sie vor, im traditionellen Para-
lich spannungsreiche Weise beschreiben - in jeder dieser Positionen digma von Ehe und Familie befangen zu bleiben und deshalb Ge-
findet sich eine je anders begründete Form der Unvereinbarkeit von rechtigkeitsprobleme innerhalb von Ehe und Familie nur als solche
Liebe und Gerechtigkeit.8 In der Diskussion der verschiedenen An- der distributiven Gerechtigkeit erfassen zu können. Reproduktion
sätze, die Prinzipien von Liebe und Gerechtigkeit ins Verhältnis und Sexualität, aber etwa auch Fragen des Sorgerechts stellen uns
jedoch, so Young, vor moralische Probleme, die mit dem Paradigma
3 Vgl. wiederum Almond (2003). der distributiven Gerechtigkeit schlicht nicht erreicht werden kön-
4 Vgl. Elshtain (1982); Herman (1995).
nen: Hier geht es nämlich um besondere Verletzlichkeiten von Per-
5 Kant (MS), 5.389fr.; vgl. Herman (1995).
6 Hegel (1970), § 158fr.; vgl. Honneth (2000). sonen in intimen Beziehungen, die einhergehen mit »kulturellen
7 Vgl. Rawls (1975); Sandel (1982).
8 Vgl. die verschiedenen Modelle, in diesem Band oben, S. 9-25. 9 Moller Okin (1989).
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Ungerechtigkeiten« und die nicht allein Probleme der Verteilung Pauline Kleingeld undJoel Anderson
von Geld oder Hausarbeit betreffen. Die gerechtigkeitsorientierte Familie
Deshalb schlägt Young eine neue Definition von Familie vor,10
Jenseits der Spannung zwischen
die sich ausschließlich an der Frage orientiert, ob es sich hier um
persönliche Beziehungen handelt, die an gegenseitiger Liebe und Liebe und Gerechtigkeit
Fürsorge orientiert sind und in denen Personen leben, die auf die
eine oder andere Weise von anderen abhängig sind. Jede persön-
liche Beziehung, in der es in der von ihr spezifizierten Weise um Familien werden ständig mit Fragen der Gerechtigkeit konfron-
Sorge und Fürsorge geht, ist deshalb besonders schutzwürdig; eine tiert, ob sie sich dessen bewußt sind oder nicht. Manchmal geht
willkürliche Grenze zwischen legitimen und illegitimen Beziehun- es um große Entscheidungen, beispielsweise ob eine Familie um-
gen will Young auf diese Weise gerade vermeiden. So sucht sie die ziehen sollte, damit die Mutter ein attraktives Jobangebot wahr-
institutionellen Bedingungen auszuloten, unter denen familiäres nehmen kann; ob nach der Geburt eines Kindes die Mutter oder
Leben, in all seinen äußerst unterschiedlichen spätmodernen For- der Vater weniger arbeiten sollte; wie man mit unterschiedlichen
men, gelingen kann angesichts der besonderen Verletzlichkeit und Bedürfnissen von Geschwistern umgehen sollte. Oft geht es um
Schutzwürdigkeit solcher Liebes- und Fürsorgebeziehungen. ganz alltägliche Situationen: Wer wechselt diesmal die Windeln?
Wenn wir nun noch einmal kurz zurückblicken auf die oben Wie viele Geschäftsreisen sind zuviel? Welche Erwartungen sollen
in der allgemeinen Einleitung beschriebene Problematik, so wird wir an den Umgang von Kindern untereinander stellen?
zweierlei deutlich: Sowohl Anderson und Kleingeld als auch Young Diese Angelegenheiten werden aber meist nicht als Gerechtig-
argumentieren für die Vereinbarkeit der Moral der Unparteilich- keitsfragen behandelt. Mehr noch, oft wird angenommen, daß,
keit und der Moral besonderer Fürsorge in persönlichen Beziehun- würde man sie als solche behandeln, man fremde Erwägungen in
gen. Doch sie tun dies zugleich so, daß deutlich wird, aus welchen familiale Beziehungen einfuhren und ein gesundes, stabiles und
Gründen und in welcher Weise es hier letztlich um die praktischen erfülltes Familienleben unterminieren würde. Da aber so viele die-
Identitäten geht, die Kinder in Familien ausbilden, erwerben und ser Angelegenheiten noch immer quasi automatisch zum Nachteil
die wir - als Erwachsene — in solchen Familien uns immer wieder, von Frauen und Mädchen entschieden werden,1 sollte jeder, dem
täglich aufs neue aneignen. Gerechtigkeit am Herzen liegt, sich Gedanken machen über das
fortwährende geschlechtsspezifische Unrecht in der Familie.
Es scheint eine weitverbreitete Ansicht zu sein, daß die Sorge
um Gerechtigkeit im Gegensatz (oder zumindest in Spannung) zu
den Einstellungen steht, die für liebevolle Familien charakteristisch
sind. Dies spiegelt sich in der heftigen und hochpolitisierten Oppo-
sition zwischen »gerechtigkeitsorientierten« und »familienorientier-
ten« Ansätzen in der Debatte über die Familie als gesellschaftliche
Institution. Diejenigen, die am entschlossensten gegen geschlechts-
spezifische Ungleichheit und Ungerechtigkeit kämpfen, betrachten
die »Pro-Familie«-Rhetorik oft mit Mißtrauen. Aus ihrer Perspekti-
ve laufen politische Projekte oder kulturelle Bewegungen mit dem
Ziel, Familien zu stärken, regelmäßig darauf hinaus, Frauen wieder
TO Vgl. auch Anderson und Kleingeld in diesem Band, S. 283-312, die sich dem an-
schließen. 1 Vgl. Moller Okin (1989), Kap. 7; Kleingeld (1998); Sanchez und Kane (1996).
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in untergeordnete Rollen zu verbannen. Und diejenigen, die sich Verpflichtung in ihren Begriff der liebevollen Familie integrieren
am meisten um den Verfall der Familie sorgen, betrachten femini- sollten. Der Nachweis, daß man sich der Gerechtigkeit als einer es-
stische Kampagnen für Gerechtigkeit mit einem ähnlichen Maß sentiellen internen Komponente familialer Liebe verpflichtet wissen
an Mißtrauen und Feindseligkeit. Aus ihrer Perspektive erscheinen kann, räumt ein weiteres Hindernis gegen den Abbau fortwähren-
Rufe nach mehr Gerechtigkeit als Versuche, die Familie ihres spezi- den familialen Unrechts aus dem Weg.3
fischen liebevollen Charakters zu berauben und sie in eine Gruppe Wir möchten im Folgenden ein Argument entwickeln, das
von antagonistischen Amateuranwälten zu verwandeln, die jeweils weitgehend neutral ist hinsichtlich der Rechtfertigung familialer
die Bedingungen ihrer Zusammenarbeit aushandeln müssen. Gerechtigkeitsverpflichtungen wie auch hinsichtlich ihres genau-
Zweifellos ist die Familie eine der grundlegenden Formen sozia- en Inhalts.4 Es sollte also sowohl Kantianern als auch Utilitaristen
ler Beziehungen, in denen Menschen ihrem Leben Sinn und Be- plausibel sein und beispielsweise nicht vorschreiben, daß beide El-
deutung geben. Beate Rössler folgend, bezeichnen wir als Familie tern sich mit genau demselben Zeitaufwand um die Kinder küm-
sowohl traditionelle als auch nichttraditionelle Haushalte, die, ver- mern müssen. Unser Anliegen ist, ein mögliches Verständnis des
einfacht gesagt, auf Zuneigung und langzeitige wechselseitige Bin- Verhältnisses zwischen Gerechtigkeit und Liebe zu skizzieren und
dung gegründet sind.2 Natürlich verdient die Familie, so definiert, Einwände zu entkräften, denen zufolge eine solche Konzeption
Unterstützung. Aber ist es möglich, zugleich die Gerechtigkeit und begrifflich oder praktisch liebevolle Familien unterminiert. Positiv
die Familie zu fördern? formuliert kann und sollte die Familie als eine Institution gesehen
Unser Ziel ist es, einen Ausweg aus dieser Sackgasse zu finden, werden, innerhalb deren Gerechtigkeitserwägungen einen natürli-
indem wir einen konzeptuellen Spielraum für die Möglichkeit lie- chen Ort haben.
bevoller Familien eröffnen, die sich gemeinsam auf eine faire und Zunächst skizzieren wir die gängige Auffassung, daß Liebe und
gerechte Beziehung verpflichten. Dies erfordert zunächst, sich von Gerechtigkeit einander innerhalb der Familie gegenübergestellt
dem herrschenden Denkzwang zu befreien, daß die Liebes- und sind. Wir charakterisieren ein umfangreiches Set verschiedener An-
die Gerechtigkeitsorientierung einander ausschließen. Unsere zen- nahmen, denen zufolge die Gerechtigkeitsorientierung notwendi-
trale These ist, daß dieser Denkzwang nicht nur auf Kosten der gerweise Liebe in der Familie unterminiert (I). Dann beschreiben
Gerechtigkeit geht, sondern tatsächlich unberechtigt ist und daß wir vier typische Interpretationsmuster, in denen das Verhältnis
diejenigen, die sich der Gerechtigkeit verpflichtet wissen, diese zwischen Liebe und Gerechtigkeit als Opposition erscheint (II),
2 An Iris Marion Young angelehnt, entwirft Beate Rössler eine besonders treffende 3 Es sollte deutlich sein, daß wir uns hier darauf konzentrieren, wie Familienmit-
Definition der »Familie«: »Personen bilden dann eine Familie, wenn sie sich als in glieder sich zueinander verhalten und was in dieser Hinsicht erforderlich ist, um
einer (möglichst) permanenten Beziehung stehend verstehen, in einem gemeinsa- der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Indem wir uns auf die Mikroebene und auf
men Haushalt leben (respektive die notwendigen Ressourcen teilen) und wenn sie das, was nach Meinung der Familienmitglieder familiale Verpflichtungen umfaßt,
sich selbst als Familie anerkennen. Mit dieser Anerkennung als Familie sind dann konzentrieren, werden wir eine Reihe wichtiger Punkte nicht berücksichtigen
nämlich genau die Pflichten und Rücksichten verbunden, die wir nur dann als können, zum Beispiel die Debatten zwischen denen, die die Familie als Teil der
berechtigt empfinden, wenn wir uns auch als Teil der Familie beschreiben würden« »basic structure« einer »well-ordered Society« (Rawls), und denen, die die Familie
(Rössler 2001, S. 283). Rösslers Begriffsbestimmung hat den Vorteil, daß sie einem als freiwillige, private Organisation sehen, die nach selbstgesetzten Regeln ope-
normalerweise inklusiven Familienbegriff Grenzen setzt, nämlich in dem Sinne riert, sowie denjenigen, die argumentieren, daß die Familie durch Institutionen
des Selbstverständnisses der Familienmitglieder und ihrer gemeinsamen Absichten der Sozialisation und Pflege ersetzt werden sollte, die für weniger Ungleichheit
und gegenseitigen Pflichten. Diejenigen, die eine engere Definition der »Familie« sorgen. Vgl. Rawls (1975); Moller Okin (1989): Munoz-Darde (1998). Moller Okin
erwarten, tendieren dazu, an der Frage vorbeizugehen, ob ganz spezifische juristi- konzentriert sich nicht auf die Selbstkonzeption der Familie (in dem Sinne, daß sie
sche oder reproduktive Verhältnisse zwischen Personen eine entscheidende Rolle Gerechtigkeit als Ziel involviert); vgl. Penrose (2000).
bei der Frage spielen sollten, ob eine Gruppe von Menschen eine »echte« Familie 4 In dieser Hinsicht unterscheidet sich unser Projekt zum Beispiel von Hampton
bildet. (i993)-
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bevor wir die alternative Konzeption einer »gerechtigkeitsorien- sind innerhalb der Familie zu suspendieren oder einzuschränken.
tierten« Familie beschreiben, in der Gerechtigkeit als ein integraler Ein solches Interpretationsmuster ist besonders prominent in der
Bestandteil einer stabilen und liebevollen Familie gesehen wird Rhetorik über die Ehe. Es ist jedoch auffallend weniger präsent in
(III). Danach betrachten wir mögliche Einwände, und zwar so- der Rhetorik über die Beziehung zwischen Eltern und Kindern, wie
wohl solche, die sich auf die angebliche begriffliche Spannung wir weiter unten zeigen werden.
zwischen Liebe und Gerechtigkeit richten (IV), als auch empirisch Diese Vorstellung einer Opposition zwischen Liebe und Gerech-
orientierte Einwände, die sich auf die Idee konzentrieren, daß die tigkeit beruht teils auf konzeptuellen Annahmen über das Wesen
Gerechtigkeitsorientierung die Stabilität und affektive Basis von echter Liebe, teils auf psychologischen oder sozialtheoretischen
Familien untergräbt (V). Wir schließen mit der These, daß diese Annahmen über die praktischen Konsequenzen, die sich aus der
Einwände widerlegt werden können und daß aufgrund der Bedeu- Einbeziehung von Gerechtigkeitsansprüchen in Liebesbeziehungen
tung von Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern ein kultureller ergeben. Erstens wird Liebe als etwas Spontanes und affektiv Un-
Wandel bezüglich des Verständnisses der Familie erforderlich ist; mittelbares verstanden: Aus Liebe handeln bedeutet zu handeln,
ein Wandel, der uns über die Vorstellung hinausführt, daß das ohne über moralische Prinzipien nachdenken oder die erwarteten
Wesen der Familie ausschließlich in Begriffen der Liebe erfaßt Folgen für alle Betroffenen berechnen zu müssen. Wenn man aus
werden kann. Liebe handelt, rufen Gegenwart und Bedürfnisse der geliebten Per-
son spontan die angemessene liebevolle Antwort hervor - ohne daß
Gerechtigkeit in Betracht gezogen wird. Sogar selbstaufopfernde
I. Der vermeintliche Gegensatz zwischen Handlungen kommen dann kraft der Liebe aus der Sorge für den
Liebe und Gerechtigkeit anderen. Die innigen Blicke Liebender oder die von Eltern auf ihre
Kinder finden eine allgemeinere Parallele in einer Art besonderer
Die kulturell dominante Sicht der Familie ist, daß die Privatsphäre Hingabe an den anderen, die ein reiner und unvermittelter Aus-
von den öffentlichen, politischen und ökonomischen Sphären voll- druck von Gefühlen für diesen ist. Zu zögern - weil man die Kraft
ständig unterschieden ist. In diesen Sphären wird den Individuen widerstreitender Ansprüche fühlt oder weil man das Gefühl hat,
unterstellt, daß sie sich zueinander auf der Basis von Eigeninteresse daß man »darüber nachdenken muß« - ist in dieser Lesart schon
verhalten, eingeschränkt nur von unpersönlichen Forderungen wie ein Zeichen, daß tiefempfundene Liebe fehlt.
Gerechtigkeit und freiwillig eingegangenen vertraglichen Verpflich- Zweitens wird Liebe in der dominanten Konzeption partikulari-
tungen. Im Gegensatz dazu wird angenommen, daß Interaktionen stisch gedeutet, d. h. als eine Angelegenheit spezifischer Zuneigung
in der Sphäre der Familie einzig durch die Bedürfnisse der Gelieb- zu dem singulären anderen. Weil Handlungen aus Liebe durch die
ten und unsere Gefühle für sie bestimmt werden. Gemäß dem herr- Liebe zu einer singulären Person motiviert werden und nicht durch
schenden Liebesverständnis steht der Charakter der echten Liebe Uberzeugungen bezüglich der Frage, was irgend jemand in einer
in scharfem Kontrast zum Charakter interpersoneller Beziehungen bestimmten Situation tun sollte, geht es dieser Auffassung zufol-
in der öffentlichen Sphäre, Beziehungen, in denen Gerechtigkeits- ge nicht um die Anwendung universaler Gerechtigkeitsprinzipien.
ansprüche angemessen sind. Dieser Sichtweise zufolge interagie- Vielmehr ist gerade die Partikularität der Fürsorge konstitutiv für
ren Eheleute miteinander und Eltern mit ihren Kindern primär, Liebe. Drittens wird Liebe als eine Art Selbstaufopferung verstan-
wenn nicht ausschließlich, auf der Basis von Liebe, Fürsorge und den, wobei sich die Grenze zwischen den eigenen Interessen und
Zuneigung; Gerechtigkeitserwägungen hier einzuführen würde denen der anderen Person verflüchtigt. Liebe bedeutet, die eigenen
die Art der Interaktion, die einer guten Familie angemessen ist, Interessen hintanzustellen, nicht weil man dies dem anderen schul-
untergraben und verzerren. Die Gerechtigkeitsprinzipien, die nor- det, sondern weil die Unterscheidung zwischen den eigenen Inter-
malerweise zwischen Individuen als verbindlich betrachtet werden, essen und denen der geliebten Personen sich aufgelöst hat. In dieser
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Deutung funktioniert die Familie allein auf der Basis von Liebe und die eigene Lebensform zu wählen — geradewegs auf einen »Zusam-
bildet eine harmonische Einheit von Interessen. menbruch der Familie« hinauslaufen und daß wir uns vorbereiten
sollten auf eine Zeit, die eher von kaltem Egoismus und auszuhan-
delnden Arrangements denn von liebevollen Familien bestimmt ist.
II. Vier Konzeptionen der Opposition Diese Kritiker sehen die Forderung nach Geschlechtergerechtigkeit
zwischen Liebe und Gerechtigkeit innerhalb der Familie als ein Symptom dieses allgemeinen Trends.
Sie beklagen, daß die Ehe zunehmend auf einen Vertrag zwischen
Die drei Thesen über das, was eine wahrhaft liebevolle Beziehung kalkulierenden Individuen reduziert wird, die lediglich ihren eige-
oder Handlung konstituiert, scheinen aus konzeptuellen Gründen nen Vorteil suchen und sofort eine Scheidung in Erwägung ziehen,
jede ernsthafte Beschäftigung mit innerfamilialer Gerechtigkeit sobald sie persönlich nicht mehr genügend profitieren.6 Die post-
auszuschließen. Betrachtet man genauer, wie die wahrgenomme- traditionelle Annahme von Gleichheit und Gerechtigkeit zwischen
nen Spannungen zwischen innerfamilialen Liebes- und Gerechtig- Eheleuten erscheint diesen Kritikern als Beispiel für das Abgleiten
keitsansprüchen im einzelnen artikuliert werden, zeigen sich jedoch in den Egoismus, den es dadurch verschlimmert, daß der soziale
große Unterschiede. Es ist sinnvoll, vier typische Deutungsmuster Kitt, der Familien zusammenhält, weiter aufgelöst wird.
zu unterscheiden, in denen die behauptete Spannung oder Oppo- (b) Gerechtigkeit als Sicherheitsnetz: Eine zweite Konzeption des
sition zwischen Liebe und Gerechtigkeit in der Familie verstanden Verhältnisses zwischen Liebe und Gerechtigkeit in der Familie be-
wird. trachtet Prinzipien der Gerechtigkeit und insbesondere individu-
(a) Gerechtigkeit als eine Bedrohungfiir die Liebe: Eine Möglichkeit, elle Rechte als Rückversicherung für Notfälle, die im Hintergrund
die Opposition zwischen Liebe und Gerechtigkeit zu betrachten, bleibt und auf die man zurückgreifen kann, wenn familiale Arran-
liegt darin, sie als Konfrontation einer zerbrechlichen Welt familia- gements nicht länger durch Liebe zusammengehalten werden. Bei
ler Liebe und einer bedrohlich eindringenden Welt unpersönlicher dieser Sichtweise bilden die Erfordernisse von Gerechtigkeit das
Gerechtigkeitsansprüche zu sehen - so daß es erforderlich ist, der Fundament, auf dem das Familienleben stattfindet; aber das Famili-
Logik der Gerechtigkeitsansprüche zu widerstehen, um die Familie enleben selbst läßt sich nicht durch Gerechtigkeitsprinzipien leiten,
als eine Domäne der Liebe bewahren zu können. Diese Deutung und nur wenn es auseinanderbricht, wird das Fundament in der
der Gerechtigkeit als Bedrohung der Liebe ist eine entscheidende Form von Gerechtigkeitsprinzipien wieder sichtbar. Gerechtigkeit
Unterstellung der Rhetorik des »Verfalls der Familie«. Die Bezie- bildet gleichsam das Sicherheitsnetz für den Hochseilakt von Ehe
hung der Familie zur »Außenwelt« wird dabei in der Metapher ei- und Familie. Tatsächlich ist es für ein Paar ein sehr guter Grund,
nes militärisch belagerten Hafens präsentiert, den es zu verteidigen zu heiraten, daß dadurch Regeln für wechselseitigen Unterhalt und
gilt.5 Üblicherweise beschränkt sich dieser Ansatz nicht auf kon- andere Verpflichtungen der Eheleute zueinander und gegenüber
zeptuelle Fragen, sondern umfaßt auch empirische Annahmen über möglichen Kindern festgelegt werden, nicht nur für die Zeit der
die psychologischen und sozialen Konsequenzen, die sich ergeben Ehe, sondern auch im Fall einer Scheidung. Es ist zum Beispiel
würden, wenn Gerechtigkeitsansprüche in die Familieninterakti- emotional sehr schwer, fair und gerecht zu bleiben, wenn eine Be-
on Einzug hielten - nämlich letztlich eine strukturelle Gefährdung ziehung endet, und deswegen ist es ratsam, sich auf gerechte und
dessen, was Familien zusammenhält. Manche konservativen Kriti- faire Scheidungsprozeduren zu einigen für den Fall, in dem Liebe
ker haben angenommen, daß gegenwärtige kulturelle Trends — der versagt.
Niedergang der Tradition und der zunehmende Druck, autonom In diesem Ansatz wird Gerechtigkeitsansprüchen eine wichtige
5 Vgl. zum Beispiel Lasch (1981); Bellah, Madsen, Sullivan, Swindler und Tipton Rolle zuerkannt. Aber der Kontrast zwischen Liebe und Gerech-
(1987); Popenoe (1988); Blankenborn (1995); Blankenborn, Bayme und Elshtain
(1990). 6 Vgl. z.B. Blankenborn (1990) und Bellah (1990).
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tigkeit bleibt scharf. Denn diese Konzeption unterstellt, daß Ge- manent aufeinanderstoßen.«9 Damit diese tragische Situation nicht
rechtigkeitsfragen wesentlich zu Kontexten eines Zusammenbruchs zerstörerisch wird, müssen die Familienmitglieder sich selbst eine
gehören: Die Gerechtigkeitsfrage stellt sich erst, wenn man sich »Grenze« der Reichweite und Gültigkeit der Gerechtigkeitsprinzi-
scheiden lassen will. Dies erweckt den Eindruck, daß, wann immer pien ziehen.10
Familienmitglieder sich auf Gerechtigkeit oder Rechte berufen, die (d) Liebe als Bedrohungßir Gerechtigkeit: Schließlich gibt es dieje-
Zuneigung verlorengegangen ist. Wie Jeremy Waldron in einem nigen, die die Bande der Liebe als Bedrohung für die Gerechtigkeit
frühen Aufsatz sagte: Wenn man auf seine Rechte pocht, zeigt man, sehen. In dieser Perspektive erscheint die Rede von der Familie als
daß etwas mit der Zuneigung »schiefgelaufen ist«, und dies gelte einer Zone der Liebe - vor allem dann, wenn dies auf die Abwehr
nicht nur für das Einklagen vertraglicher oder anderer gesetzlicher von Gerechtigkeitsansprüchen hinausläuft - als Versuch, jede Kri-
Rechte, sondern schon für die »allgemeine Idee« eines Rechts. Idea- tik an häuslicher Gewalt oder Ausbeutung zu blockieren. Daher
lerweise interagieren Eheleute Waldron zufolge auf der Basis von fordern einige Autorinnen und Autoren, daß Gerechtigkeitsan-
Liebe und Intimität. Wenn ein Ehepartner sein oder ihr »Recht, sprüche unbedingten Vorrang vor Forderungen der Liebe haben
von der Kindererziehung oder den häuslichen Pflichten entlastet zu sollten, selbst wenn dies das Ende der Familie, so wie wir sie ken-
werden«, oder »das Recht, eine Karriere zu verfolgen« einklagt, dann nen, bedeuten würde. Angesichts der Tatsache, daß die Trennung
bedeutet dies »das Eröffnen von Feindseligkeiten; und es ist festzu- von Öffentlichem und Privatem und die gängige Idee der Liebe
stellen, daß andere warme Bande wie Verwandtschaft, Zuneigung ideologisch gebraucht werden, um männliche Hegemonie zu un-
oder Intimität nicht länger bindend sind«.7 terstützen, sollte der Rhetorik der Liebe mit großem Mißtrauen
(c) Gerechtigkeit und Liehe als unauflösbares Spannungfeld: Ein begegnet werden. Liebe sollte nicht als gültiges Argument gesehen
dritter Ansatz erkennt die Bedeutung von Gerechtigkeitsansprü- werden, wenn nicht zuerst der Gerechtigkeit Genüge getan wurde.
chen im privaten Raum an, argumentiert jedoch, daß hier eine Tatsächlich argumentieren manche Autorinnen sogar, daß, weil die
Spannung bestehenbleibt. Gerechtigkeitsansprüche haben einen Institution der Familie Ungerechtigkeiten sowohl innerhalb von
Ort in der Familie, aber es gibt immer eine unbehagliche Spannung Familien wie auch zwischen Familien begründet, diejenigen, die
zwischen diesen Ansprüchen und der Liebe. Da es in dieser Sicht die Bande der Liebe verteidigen wollen, die Beweislast dafür tragen,
unmöglich ist, diese Spannung aufzuheben, aber zugleich unange- daß diese überhaupt geschützt werden sollten.11 Hier werden wie-
messen, Gerechtigkeitsansprüche auszuschließen, ist dies eine »tra- derum - wenngleich von einer anderen Seite — Liebe und Gerech-
gische« Betrachtungsweise. Dies ist die Auffassung, die Axel Hon- tigkeit als im Widerstreit miteinander stehend betrachtet.
neth in »Zwischen Gerechtigkeit und affektiver Bindung« vertritt.8 Trotz vielfältiger Differenzen teilen diese vier Arten, das Verhält-
Dieser Auffassung zufolge ist das Ideal einer Familie, die nur durch nis zwischen Gerechtigkeit und Liebe zu verstehen, die Standard-
Zuneigung regiert wird, unter modernen Verhältnissen nicht mehr auffassung, der zufolge die Logik der Familie in Opposition zu der
haltbar. Wenngleich das emotionale Band zweifellos wesentlich ist, Logik der Gerechtigkeit steht. Alle verstehen das Wesen der Familie
sind doch auch rechtliche und moralische Gerechtigkeitsprinzipien ausschließlich in Begriffen der Liebe. Keine dieser Sichtweisen ist
notwendig, um verletzliche Familienmitglieder zu schützen. Aber in der Lage, das Engagement für Gerechtigkeit in die Konzeption der
Honneth begreift diese beiden Orientierungen der modernen Fa- liebevollen Familie zu integrieren. Selbst diejenigen, die es wichtig
milie (Liebe und Gerechtigkeit) als wesentlich in Spannung oder finden, Gerechtigkeitsprinzipien auf die Familie »anzuwenden«,
sogar in Konflikt miteinander stehend. »Die Familie [...] stellt eine
soziale Sphäre dar, in der beide moralischen Orientierungen per- 9 Ebd., S.209.
10 Ebd., S. 206-215.
1 1 Beispielsweise Munoz-Darde (1999); und Card (1996). Diese Idee findet auch ein
7 Waldron (1993), S.372f. Echo in Marilyn Friedmans Kritik der »romantic merger« in »Romantic Love and
8 Honneth (2000). Personal Autonomy« (Friedman 2003).
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verraten mit dieser Redeweise ein Verständnis der Familie als et- zu treffen, nicht als von außen auferlegte Forderung erfahren. Er
was, das auf etwas anderes als Gerechtigkeit gegründet ist, so daß würde es eher als etwas erfahren, das seinem eigenen Engagement
Gerechtigkeit von außen auf die Familie bezogen wird. für eine gerechte und liebevolle Ehe entspringt. Dies schließt na-
Wir möchten zeigen, daß Gerechtigkeitsprinzipien der familia- türlich nicht aus, daß er auch im allgemeinen nach Gerechtigkeit
len Liebe nicht feindlich gesonnen sind und daß Liebe nicht in strebt, aber er betrachtet Gerechtigkeit seiner Frau gegenüber als
Opposition zu Gerechtigkeit stehen muß. Gerechtigkeitsansprüche besonders wichtig, weil sie seine geliebte Frau ist.
sind nicht ein Zeichen, daß Liebe verschwunden ist, weil Gerech- So verstanden bringt der Einwand »Ich bin dran« (von der Kin-
tigkeit nicht ein >externes< Kriterium oder nur ein >Sicherheitsnetz< dererziehung erleichtert zu werden, eine Karriere zu verfolgen usw.)
sein muß. Gerechtigkeit kann vielmehr als ein Prinzip verstanden gegenüber einem Ehegatten einen Gerechtigkeitsanspruch zum
werden, das zuinnerst mit der Idee der liebevollen Familie verbun- Ausdruck, bedeutet aber keinen feindseligen Schritt und kein Indiz
den ist. Das Engagement für Gerechtigkeit kann - und sollte - zu- dafür, daß Zuneigung oder Nähe verschwunden sind. Wenn beide
sammen mit Liebe und Fürsorge einen integralen Bestandteil des Ehegatten es wichtig finden, alle Angelegenheiten gerecht zu re-
Selbstverständnisses von Familien bilden. Gerechtigkeit sollte ein geln, mag der Adressat den Anspruch entweder anerkennen und es
»family value« werden. wertschätzen, daß er klar artikuliert wurde. Oder sie oder er kann,
Um Raum für diese Möglichkeit zu gewinnen, ist es jedoch er- bei Zweifeln an der Gültigkeit des Anspruchs, um weitere Diskus-
forderlich, das Selbstverständnis der Familie radikal neu zu durch- sion bitten. Versehen, Unaufmerksamkeit oder zeitweilige Unsen-
denken. Im folgenden Abschnitt skizzieren wir ein Modell dessen, sibilität mögen die Korrektur von Gerechtigkeitsansprüchen nötig
was eine gerechtigkeitsorientierte Familie ausmachen könnte. machen. Und wie unangenehm es auch immer sein mag, seine Feh-
ler vor Augen geführt zu bekommen, können solche Korrekturen
doch als Teil des gemeinsamen Engagements für eine gerechte und
III. Die gerechtigkeitsorientierte Familie: Eine alternative liebevolle Familie verstanden werden. Wenn Familien sich aufrich-
Konzeption von Gerechtigkeit innerhalb der Familie tig darum bemühen, eine gerechte Familie zu werden, können Ge-
rechtigkeitsansprüche sogar willkommen sein (»Ich bin froh, daß du
Gerechtigkeitsorientierte, liebevolle Familien weisen drei zentrale das erwähnt hast; laß uns einen Plan machen«).12
Merkmale auf: ein Selbstverständnis als liebevolle und gerechtig- Damit Gerechtigkeit als ein gemeinsames Projekt erfahren wird,
keitsorientierte Familie; ein Bewußtsein für die Veränderlichkeit muß sie nicht lediglich Resultat von Familienstrukturen, sondern
der Bedürfnisse und Fähigkeiten der Familienmitglieder; die An- auch ein explizites, gemeinschaftliches Ziel sein. Natürlich können
erkennung menschlicher Grenzen und darum der Notwendigkeit de facto gerechte Vereinbarungen sehr wohl als zufälliges Resul-
von Strukturen und Prozeduren, welche die Gerechtigkeit fördern. tat aus dem Fair play egoistischer Kräfte entstehen; auch mag es
Zum ersten Punkt: Das deutlichste Charakteristikum der gerech- passieren, daß die Orientierung an einem anderen Ziel (z.B. der
tigkeitsorientierten Familie liegt darin, daß deren Mitglieder die möglichst effizienten Verwendung von Ressourcen und Talenten)
Verwirklichung von Gerechtigkeit innerhalb ihrer Familie als ein zufälligerweise zu einem gerechten Resultat führt. In solchen Fällen
gemeinsames, kooperatives und bewußtes Vorhaben betrachten. Sie mögen die Resultate durchaus fair sein, aber diese Fairneß ist dann
sehen es als ihr Ziel, ihre Beziehung gerecht zu gestalten, und dieses lediglich eine mehr oder weniger unbeabsichtigte Nebenfolge. Im
Ziel ist Teil ihres Selbstverständnisses als liebevolle Familie. Diese Rahmen unserer Konzeption ist es jedoch wichtig, daß sich die Fa-
Konzeption begreift als Maßstab des Wohlergehens einer Familie
1 2 Dies ist auch die Absicht von schriftlichen Vereinbarungen, die von manchen
als Familie die Verwirklichung von Gerechtigkeit in den familialen
Paaren gebraucht werden, um die Aufteilung der Hausarbeit explizit zu machen.
Beziehungen. So würde zum Beispiel ein Ehemann die moralische Diese Texte werden normalerweise als Richtschnur gebraucht, an dem die Ehe-
Notwendigkeit, mit seiner Frau gerechte Karrierevereinbarungen gatten sich orientieren.
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milienmitglieder Gerechtigkeit bewußt und gemeinsam zum Ziel turen und Prozeduren zu etablieren, welche diese Fragen sozusagen
setzen. automatisch auf die Agenda setzen.
Zweitens: Daß es nicht ausreicht, Gerechtigkeit nur als Sache Nehmen wir als Beispiel ein Paar, das darin übereinstimmt,
»grundsätzlicher Eingangsvereinbarungen« oder als »Sicherheits- daß es gerecht ist, Stunden der Kindererziehung und Hausarbeit
netz« anzusehen, liegt darin begründet, daß Vereinbarungen, die gleichmäßig aufzuteilen, das aber herausfindet, daß der Ehemann
jetzt gerecht sind, später ungerecht werden können. Umstände die Zeit, die er für diese Aktivitäten verwendet, immer unbewußt
verändern sich und ebenso die Ziele, Prioritäten, Fähigkeiten usw. übertreibt, wenn er diese Zeiten nicht täglich notiert. Sie könnten
der Familienmitglieder. Die Frage, was die Gerechtigkeit erfordert, sich dazu entscheiden, die Stunden zu notieren, die jeder in der
muß immer wieder neu gestellt werden. Deshalb kann Gerechtig- »zweiten Schicht« (Kindererziehung und Haushaltsführung) gear-
keit nicht ohne fortwährende kritische Reflexion auf die Grundver- beitet hat. Auf den ersten Blick mag dies als erschreckender Fall
einbarungen innerhalb einer Familie und den Umgang der Famili- ökonomischer, buchhalterischer Attitüden erscheinen, die in die
enmitglieder miteinander realisiert werden. Natürlich ist es wichtig, Familiensphäre eindringen. Das Problem ist aber, daß eine infor-
daß die Familienmitglieder, Ehegatten und Eltern wie auch Kinder, melle Methode tendenziell zu ungerechten Resultaten führte, die
die für deliberatives Handeln notwendigen Kompetenzen erwerben beide Ehepartner vermeiden wollten. Wenn wir eine Mikropraxis
und entwickeln. Dies steht in deutlichem Kontrast zu den domi- wie diese im Kontext menschlicher Grenzen verstehen, gleichsam
nierenden Vorstellungen von Ehe, denen zufolge allzuoft die letzten als Gegenmaßnahme gegen gerechtigkeitsunterminierende Ten-
Verhandlungen, die ein Paar über die ehelichen Grundvereinbarun- denzen, so können wir auch ein solches »Erbsenzählen« als Beitrag
gen macht, vor der Hochzeitsnacht stattfinden.13 Jedenfalls liefert zu einer liebevollen, gerechten Familie anerkennen.
die Einsicht in den veränderlichen Charakter von Menschen und Beispiele wie dieses rufen häufig abweisende Reaktionen hervor.
Situationen ein zusätzliches Argument für das Modell der gerech- Es bleibt eine Barriere für gerechtigkeitsorientierte Familien, daß
tigkeitsorientierten, liebevollen Familie, worin jeder der Idee eines die Kultur sich so dagegenstemmt, Gerechtigkeit zu einem Aspekt
Deliberationsprozesses unter freien und gleichberechtigten Part- dessen zu machen, was eine Familie ausmacht. Das Engagement
nern innerhalb eines gemeinsamen Projekts verpflichtet ist. für Gerechtigkeit in die kulturelle Konzeption der Familie zu inte-
Der dritte Aspekt der gerechtigkeitsorientierten Familie resul- grieren würde die Furcht vermindern, daß das Aufwerfen von Ge-
tiert aus der Anerkennung menschlicher Grenzen - Grenzen der rechtigkeitsfragen im Verhältnis zu einem Ehepartner als Anklage
Stimmung, Aufmerksamkeit, Zeit, Energie, Erinnerung usw. Die- aufgrund eines Mangels an Liebe wahrgenommen wird. Gerech-
ser Grenzen wegen kann es notwendig sein, Methoden einzuführen, tigkeit würde dann selbst als ein wichtiger Familienwert angesehen
um zu kontrollieren, wie Haushalts- und Kindererziehungsaufga- werden. Dies würde Verhandlungen mit egoistischen Prämissen
ben verteilt sind, oder bestimmte egalitäre Wahlmöglichkeiten von in gemeinsame Überlegungen verwandeln, die auf ein gemeinsam
vorneherein zu bevorzugen (als »default options«) usw. - nicht weil geteiltes Gerechtigkeitsideal zielen. Dies würde ein gemeinsames
dies das Wesen der Gerechtigkeit ausmachen würde, sondern weil Ziel bieten, das im Prinzip Ehepartner vereinigen könnte, statt sie
Menschen niemals automatisch auf der Spur bleiben. Dies erfordert zu trennen. Wenn Familienmitglieder danach streben, als Familie
häufig Routinen und Selbstbindungsmechanismen, die die Frage Gerechtigkeit zu erreichen, müssen Ansprüche auf und Diskussio-
nach der Gerechtigkeit thematisieren oder die den traditionellen nen über Gerechtigkeit in der Familie nicht länger als Bedrohung
geschlechtsspezifischen Verteilungsmustern entgegenarbeiten. Be- interpretiert werden.
denkt man, wie schwierig und emotional belastend es sein kann, Interessanterweise ist die Orientierung auf Gerechtigkeit in den
Fairneßfragen auch nur aufzuwerfen, erscheint es sinnvoll, Struk- Interaktionen zwischen Eltern und Kindern schon viel stärker prä-
sent: In der Verteilung von Anerkennung und Süßigkeiten, in der
13 Mahony (1995). elterlichen Unterstützung beim Sport, Aufmerksamkeit für spe-
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zielle Bedürfnisse, in Bestrebungen, Günstlingswirtschaft zu ver- men bezüglich der Natur der Liebe (diskutiert in Abschnitt II dieses
meiden usw. Die Idee dabei ist bereits, daß die Verteilung nicht Aufsatzes) und zeigen, daß es keine wie auch immer geartete Oppo-
in allen Hinsichten gleich, sondern daß sie gerecht sein soll. Eltern sition zwischen Gerechtigkeit und Liebe gibt, sobald diese einmal
sehen es normalerweise als ihre Aufgabe, ihren Kindern beizubrin- richtig verstanden sind.
gen, gerecht zueinander und zu ihren Freunden zu sein. Es gibt
also keine kulturelle Aversion gegen Gerechtigkeit als Norm für die 1. Spontaneität und affektive Zuneigung
Interaktion zwischen Eltern und ihren Kindern. Auch wird kaum
jemals beklagt, daß der Gebrauch von Gerechtigkeitsregeln gegen- Ein großer Teil des Widerstands dagegen, Forderungen nach Ge-
über Kindern und der Versuch, Kinder zu gerechtem Verhalten zu rechtigkeit eine Rolle in der Familie zuzuerkennen, liegt in dem
erziehen, die Abwesenheit elterlicher oder geschwisterlicher Liebe geläufigen Verständnis von Liebe als einer ausschließlichen Ange-
impliziert. legenheit spontaner und unmittelbarer Zuneigung und in einer
Die vier oben erwähnten Modelle berücksichtigen nicht, daß Interpretation von Gerechtigkeit und Moral als etwas, das durch
diese Intuition auch auf die Interaktion zwischen Ehegatten aus- theoretisch deduzierte unpersönliche Prinzipien und Verpflichtun-
geweitet werden kann. Die in diesen Modellen leitende Annahme gen motiviert ist. So behauptet John Hardwig, daß, wenn etwas für
eines Gegensatzes zwischen den Prinzipien der Liebe und denen eine geliebte Person aus Pflicht getan wird, dies diese Handlung
der Gerechtigkeit hat aber negative Folgen für die Familiengerech- »befleckt« und sie »vielleicht sogar unakzeptabel« macht. Er fährt
tigkeit; zudem präsentiert sie den Kindern ein schlechtes Beispiel. fort: »In der Tat können meine Verantwortlichkeiten in persön-
Wenn Eltern zum Beispiel ihren Kindern die Wichtigkeit von Fair- lichen Beziehungen nicht aus Pflichtbewußtsein erfüllt werden,
neß beizubringen suchen, ohne zugleich fair zueinander zu sein, ohne ernsthaft die ganze Beziehung zu untergraben oder dadurch
vermittelt dies eine widersprüchliche Botschaft im Blick auf gerech- zu offenbaren, daß diese Beziehung nicht ist, was wir hofften und
tes Verhalten gegenüber denen, die man liebt. wollten.«14 Weil die gerechtigkeitsorientierte Familie in der Tat vor-
sieht, daß ihre Mitglieder zumindest manchmal >aus Pflicht* oder
>aus Gerechtigkeitssinn* handeln, so wäre sie, falls Hardwig und
IV. Liebe und die gerechtigkeitsorientierte Familie andere recht hätten, tatsächlich eine nicht vollkommen liebevolle
Familie.
Die soeben skizzierte gerechtigkeitsorientierte Familie ist eine Fa- Hardwig untermauert seine Behauptung nicht mit der Art von
milie, in der — soweit sie tatsächlich realisiert ist - es keinen Raum empirischen Beweisen aus der Psychologie, die nötig wären, um
für Respektlosigkeit, Mißachtung, Ausbeutung und moralische zu zeigen, daß Handeln aus Pflicht in der Tat Beziehungen unter-
Ungleichheit gibt. Aber bietet sie Raum für Liebe? Bildet diese al- miniert. Zwar ist es plausibel anzunehmen, daß man seine Fami-
ternative Konzeption der Familie eine Bedrohung für die Liebe? lienangehörigen nicht liebt, wenn man alle guten Dinge, die man
Wir haben argumentiert, daß liebevolle Familien Gerechtigkeit als für sie tut, ausschließlich aus Pflichtgefühl und ohne begleitende
eines ihrer Ziele haben können. In den Ohren mancher Theore- Zuneigung tut. Wenn aber einige Handlungen aus Pflichtbewußt-
tiker klingt dies jedoch wie ein inkonsistentes Ziel, wie zum Bei- sein getan werden, verrät dies nicht die Abwesenheit von Liebe.
spiel endlose Mengen von Schokolade essen und doch abnehmen Viele von uns werden manchmal von unseren eigenen Interessen
zu wollen. Wir möchten indes zeigen, daß nichts in dem Begriff angetrieben. Wenn ein gutes Gerechtigkeitsbewußtsein uns in die-
der Familienliebe ist, das ein Engagement für Gerechtigkeit aus- sen Situationen korrigieren kann, ist dies - sowohl im Interesse
schließt, und daß umgekehrt ein Engagement für Gerechtigkeit die der Gesundheit unserer Beziehung als auch aus moralischer Sicht -
Liebe nicht ausschließt oder vermindert. Hierzu werfen wir einen
zweiten Blick auf die drei weithin geteilten konzeptuellen Annah- 14 Hardwig (1984), S.443.
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weit besser, als wenn wir ungebremst unseren egoistischen Nei- niger spontan gewesen wäre? Sicher nicht. Hätte er seinem ersten
gungen folgten. Impuls widerstanden und ihr einen schönen Aktenkoffer gekauft,
Abgesehen von solchen empirischen Einwänden gehen Vorwürfe dann hätte dies zu dem gemeinsamen Bestreben des Ehepaars ge-
der genannten Art jedoch aus wenigstens drei Gründen fehl. Erstens paßt, Geschlechtsstereotypen zu widerstehen, und das Geschenk
impliziert die Tatsache, daß Pflichtgefühl uns manchmal auf den eher noch liebevoller gemacht. Und natürlich gilt auch das Um-
richtigen Weg bringen muß, noch nicht, daß die Pflicht uns immer gekehrte: der Standmixer statt Aktenkoffer für die Geliebte, die
zwingt, gegen die Orientierungen unserer Zuneigung zu handeln. gerade Hausfrau geworden ist. Der Punkt ist einfach, daß auch die
Was Gerechtigkeit erfordert, kann sehr wohl mit unseren sponta- spontanen Impulse der Liebe einer Überprüfung bedürfen.
nen und liebevollen Neigungen zusammenfallen. Das Richtige zu Aber es gibt noch einen dritten Aspekt hier, der mit der Frage zu
tun muß keine Last sein, und gerecht gegenüber jemandem zu sein, tun hat, wann es angemessen ist, Kritik und Ansprüche zu äußern.
den man liebt, kann oft sogar leichter und angenehmer sein. Die Behauptung einer Opposition von Liebe und Gerechtigkeit
Zweitens unterschätzen solche Ansätze das Ausmaß, in dem fußt implizit - und in den zitierten Passagen von Waldron und
auch wahre Liebe oft kritisches Nachdenken und sorgfältige Über- Hardwig sogar explizit - auf der Annahme, daß Kritik eine Form
legung erfordert. Es ist psychologisch naiv zu behaupten, daß wir, von Feindseligkeit ist. Damit entsteht aber die Frage, ob dann nicht
wenn wir aus Liebe handeln, immer von selbst auf dem richtigen auch jede Kritik, die auf der Basis dessen, was die Liebe fordert,
Weg bleiben und durch das Wohl der oder des Geliebten geleitet erhoben wird, als bedrohlich betrachtet werden sollte. Es bleiben
werden. Spontane Handlungen aus Liebe können zum Beispiel er- hier zwei Optionen, und beide sind problematisch. Verteidiger der
stickend wirken oder verletzend sein. Dann zu sagen, daß diese angeblichen Opposition von Liebe und Gerechtigkeit könnten
Handlungen nicht wahrhaft liebevoll sind, verfehlt den Punkt: Es behaupten, es sei weniger bedrohlich, wenn man Kritik etwa fol-
gibt keinen Kodex spontaner Emotionen, der unfehlbar garantieren gendermaßen formuliert: »Wenn du mich wirklich liebst, wirst du
kann, daß eine Handlung genuin liebevoll ist. Deshalb erfordert wissen, wie schwer es für mich sein wird, in die Stadt zu ziehen.«
auch die Liebe Aufmerksamkeit.15 Betrachten wir ein Beispiel: Ein Bedrohlicher erscheine statt dessen: »In die Stadt zu ziehen würde
Ehemann schenkt seiner Frau einen Standmixer von Restaurant- für mich sehr schwer sein, und den Job nicht anzunehmen würde
qualität zum Geburtstag, gerade nachdem sie wieder begonnen hat, für dich sehr schwer sein, aber ich habe bis jetzt größere Opfer ge-
ganztags zu arbeiten, und versucht, sich ihrer neuen Identität zu bracht, und es wäre unfair zu erwarten, daß ich weiterhin die größe-
versichern, nachdem sie jahrelang Hausfrau war. Wir können uns ren Opfer bringe.« Um zu zeigen, daß Forderungen und Kritiken,
den Ehemann als gutwillig und liebevoll vorstellen, aber natürlich die auf Liebe basieren, weniger bedrohlich sind als Forderungen
hätte er darüber nachdenken sollen, wie seine Frau sein Geschenk und Kritiken, die auf Gerechtigkeit basieren, werden die Verteidi-
aufnehmen würde. Wäre er weniger liebevoll gewesen, wenn er we- ger der Standardkonzeption detaillierter als bisher erklären müssen,
worin der wesentliche Unterschied besteht. Es reicht beispielsweise
15 Beate Rössler weist auf einen verwandten Punkt hin: »so könnte man gerade-
nicht zu sagen (wie Honneth dies wahrscheinlich täte), daß Forde-
zu behaupten, daß man in Liebesbeziehungen moralischen Forderungen nach
Gerechtigkeit deshalb nachkommen will, weil man liebt und weil man ohnehin
rungen, die auf Liebe basieren, insofern verschieden sind, als sie be-
gerecht sein möchte.« (Rössler 2001, S. 301); vgl. auch Velleman, in diesem Band, sonderen Bedürfnissen gerecht zu werden suchen, denn soweit wir
S. 60-104. Dies ist auch ein zentrales Thema in Harry Frankfurts Diskussion der sehen können, basieren beide Arten von Forderungen auf einem
Liebe: »Soweit eine Person etwas liebt, erfordert die Tatsache, dass sie so, wie sie es geteilten (oder strittigen) Verständnis besonderer Bedürfnisse. Die
tut, für etwas Sorge trägt, dass sie sich gleichzeitig darum kümmern muss, wie sie andere Option liegt darin, zu behaupten, daß die Bedrohung der
in Fragen handelt, die für das, was sie liebt, von Belang sind. [...] Es kann [dem
Liebe eigentlich schon mit der Vorstellung gegeben ist, man habe
Liebenden] nicht egal sein, wie das, was er tut, das von ihm Geliebte berührt. Im
Maße dessen er sich um den Gegenstand seiner Liebe kümmert, sorgt er sich da- überhaupt einen Anspruch an den anderen, unabhängig davon, ob
her notwendigerweise auch um sein eigenes Verhalten« (Frankfurt 2001, S.179). dieser Anspruch nun auf Liebe oder Gerechtigkeit basiert. Aber
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dann haben wir es mit einer noch viel abschreckenderen Konzepti- Dies führt zu einem weiteren Argument, nämlich der Behaup-
on zu tun; einer Konzeption, die Liebe als fragile Beziehung sieht, tung, die Forderung, Familienmitglieder sollten gerecht zueinander
die keinerlei freimütige Fragen und offene Diskussionen erträgt, so sein, impliziere, daß man ihre Einzigartigkeit außer acht lasse. Ge-
daß schon das bloße Thematisieren der Frage, ob >spontane< Verhal- rade umgekehrt wird dies wahr: solange man nicht einer Idee von
tensmuster in der Familie liebevoll oder gerecht sind, die Beziehung Gerechtigkeit als mathematischer Gleichverteilung von Gütern oh-
gefährdet. ne Rücksicht auf individuelle Bedürfnisse und Wünsche anhängt,
sind die ganz besonderen Persönlichkeitszüge, Wünsche, Bedürf-
2. Partikularität nisse und Werte aller Mitglieder entscheidend bei dem Versuch
herauszufinden, was gerecht ist. Betrachten wir noch einmal das
Ein zweiter Grund für Bedenken liegt in der Annahme, daß Hand- erwähnte Beispiel über den berufsbezogenen Umzug in eine große
lungen zugunsten einer geliebten Person, die durch die Verpflich- Stadt. Angenommen, dem einen Ehegatten gehe es am besten auf
tung, ihre Rechte zu respektieren, oder durch Gerechtigkeitsansprü- dem wenig bevölkerten Land, wo das Paar nun lebt. Wenn das fi-
che motiviert sind, die Besonderheit dieser Person verletzen. Wenn nanzielle Überleben und die Existenz anderer Optionen dem Paar
man zu einem Ehegatten sagen könne, »aber ich hätte für jeden in eine Wahl lassen, ist es bei der Suche nach einer Lösung bedeutsam
deiner Situation dasselbe getan«, so Hardwig, »dann verschlimmere zu wissen, wie wichtig beiden jeweils ihr Beruf ist, was beide je-
das die Angelegenheit nur«. »Rechte sind allgemein oder universell weils für ein glückliches, erfülltes Leben wichtig finden - Karriere,
in dem Sinne, daß jeder in einer ähnlichen Situation Anspruch auf mehr Zeit mit den Kindern, Leben in der Stadt, Leben auf dem
dieselben Rechte erheben kann, während meine Beziehung zu de- Land, Nähe zu anderen Familienmitgliedern, den wahrscheinlichen
nen, die mir nahestehen, nicht allgemein oder universell ist und Effekt eines Umzugs auf die Kinder usw. Sensibel für die Einzig-
deswegen nicht unpersönlich definiert werden kann.«16 artigkeit des Ehepartners und die Details der Beziehung zu sein ist
Aber auch dieses Argument ist nicht überzeugend. Denn erstens gerade besonders wichtig.
ist nicht jeder »in deiner Situation«, wenn dies bedeutet, mein Ehe- Noch einmal: In der Interaktion zwischen Eltern und Kindern ist
gatte zu sein. Und mein Ehegatte zu sein bedeutet, Entscheidungen die Gerechtigkeitsorientierung bereits weitgehend als legitim aner-
und Verantwortlichkeiten zu teilen, die wir gerade nicht mit ande- kannt, wie wir oben schon gesehen haben. Die Idee ist nicht, daß
ren teilen. Wie weit sich dieser Bereich ausdehnt, kann variieren, die Verteilung in jeder Hinsicht mathematisch gleich ist, sondern,
aber wenn sich ein Paar zum Beispiel entscheidet, in einem Haus- daß sie gerecht ist. Einseitige Bevorzugung wird weithin als proble-
halt zu leben, müssen sie einen gerechten Weg finden, die Haus- matisch betrachtet, ganz gleich wie spontan oder liebevoll die Eltern
arbeit zu verteilen. Wenn sie sich dafür entscheiden, die Aufgaben sind. Nehmen wir an, daß eine Mutter Schiedsrichterin in einem
gleichmäßig zu verteilen, bedeutet das nicht, daß sie dasselbe mit Hockeyspiel ist, in dem ihre Tochter mitspielt (angenommen, daß
jedem anderen in der Nachbarschaft tun müssen. Es bedeutet auch kein alternativer Schiedsrichter zur Verfügung stand), und daß sie
nicht, daß sie, falls sie sich scheiden lassen, die Hausarbeit mit neu- die Möglichkeit hat, das Team ihrer Tochter signifikant zu bevor-
en Ehegatten notwendigerweise genauso aufteilen müßten, denn zugen, indem sie eine Spielerin des gegnerischen Teams zu Unrecht
die neuen Partner haben vielleicht abweichende Bedürfnisse und des Foulspiels bezichtigt. Außer der Mutter würde nur die Tochter
Interessen, die in Betracht gezogen werden müssen. Zu sagen, »Ich sehen, daß der Strafstoß nicht gerechtfertigt war. Wenige Menschen
hätte dasselbe für jeden in deiner Situation getan«, bedeutet also würden es als einen Liebesverrat ansehen, entschiede sich die Mut-
nicht, daß ich für jeden dasselbe getan hätte oder daß ich jeden ter gegen eine derartige Begünstigung ihrer Tochter. (Tatsächlich
genauso behandeln würde wie dich. würde die unfaire Bevorzugung dem Kind eine schlechte Lektion in
Gerechtigkeit erteilen; und es würde vielleicht nicht einmal Befrie-
1 6 Hardwig (1984), S-443f. digung in ihm hervorrufen. Seine Eltern so unfair zu erleben mag
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es vielmehr in Unsicherheit stürzen und obendrein seinen Spaß am die Enttäuschung auf die Abwesenheit von Liebe und nicht auf die
Gewinnen schmälern.) Der Punkt ist derselbe in den Beziehungen Anwesenheit von Gerechtigkeitsmotiven zurückzuführen ist. Bei
zwischen erwachsenen Familienmitgliedern. Die pädagogische Ab- Abwesenheit von Liebe ist die einzige Alternative zum Handeln aus
sicht spielt hier natürlich keine Rolle, aber es gibt keinen Grund, Gerechtigkeitsmotiven ein Handeln, das weder durch Gerechtig-
weshalb das Streben nach Gerechtigkeit unter Ehegatten die Wert- keitspflichten noch durch Liebe motiviert ist. In beiden Fällen gibt
schätzung der Einzigartigkeit des anderen mehr bedrohen sollte, als es guten Grund für Enttäuschung. Wenn wir allerdings erwägen,
dies beim Streben nach Gerechtigkeit zwischen liebevollen Eltern daß die normalen und alltäglichen Schwankungen in Liebesbezie-
und Kindern der Fall ist. hungen auch Phasen mit sich bringen, in denen man nicht spontan
Aber ist die pflichtbewußte Sorge um unseren Geliebten nicht durch Zuneigung motiviert ist, zu tun, was die geliebten Personen
doch irgendwie weniger liebevoll? In einem berühmten Beitrag berechtigterweise von einem erwarten, scheint es jedenfalls besser,
beschreibt Bernard Williams einen Mann, der seine Frau anstelle diese Handlung in solchen Phasen aus Gerechtigkeitssinn zu voll-
eines Fremden vor dem Ertrinken rettet und dessen motivierender ziehen als überhaupt nicht.
Gedanke der ist, »daß es sich um seine Frau handelt und es in Si-
tuationen dieser Art erlaubt ist, seine Frau zu retten«. Ein solcher 3. Selbstaufopferung und
Mann habe, so Williams, »einen Gedanken zuviel«.17 Aber die Trif- Handlungen aus Liebe
tigkeit dieses Arguments hängt ausschließlich von der Annahme
ab, daß es keinerlei Umstände gibt, unter denen die unmittelba- Schließlich - und dies läßt sich vielleicht am einfachsten zeigen -
re Bevorzugung der Frau die falsche Handlung wäre. Der Fall der kann die Idee einer gerechtigkeitsorientierten Familie problemlos
Schiedsrichterin jedoch, die ihre Tochter unfair bevorzugt, ist dem- der Intuition gerecht werden, daß Liebe auch in der uneigennützi-
gegenüber genau eine solche Situation. Das Problem mit ihr ist, gen Förderung des Wohls der geliebten Personen besteht. Sich der
daß sie gerade einen Gedanken zuwenig hat. Sie will ihrer Tochter Gerechtigkeit verpflichtet zu wissen schließt in keiner Weise Hand-
beim Gewinnen helfen, aber sie ist nicht in der Lage zu erkennen, lungen aus Liebe aus, die über das hinausgehen, was die Gerechtig-
daß es in Situationen dieser Art nicht erlaubt ist, die eigene Tochter keit verlangt. Tatsächlich ist eher zu erwarten, daß das Engagement
zu bevorzugen. Was bei ihr fehlt, ist das, was man bei Williams' für Gerechtigkeit sogar die Bereitschaft, Opfer zu bringen, erhöht,
rettendem Ehemann findet (der eigentlich keinen Gedanken zuviel denn die Bindung an Gerechtigkeit ist - wie die Liebe - darauf
hat). Wenn ein Ehepartner den starken Wunsch hat, seine Frau aus angelegt, den Egozentrismus zu überwinden. Und es ist sicher ein
dem Meer zu retten, weil er sie liebt, gibt es keinerlei Grund, ent- zentrales Merkmal einer gerechtigkeitsorientierten Familie, soweit
täuscht zu sein, auch wenn er sich dessen bewußt ist, daß es erlaubt diese auch eine liebevolle Familie ist, daß Zuneigung und Leiden-
ist, dies zu tun. Man sollte stolz darauf sein, einen Ehepartner zu schaft ein hohes Maß an zusätzlicher Güte und Aufmerksamkeit
haben, der nicht nur liebt, sondern auch noch einen aktiven Ge- inspirieren werden.
rechtigkeitssinn hat. Es gibt jedoch einen wichtigen Unterschied zwischen aufop-
Aber, so könnte man immer noch einwenden, was, wenn dein fernden Handlungen, die allein durch Liebe motiviert sind, und
Ehepartner lediglich aus Pflicht handelt statt einfach aus Liebe? solchen, die aus Gerechtigkeitsmotiven stammen. In der zweiten,
Wäre das nicht irgendwie enttäuschend? Natürlich. So, wie die aber nicht in der ersten Perspektive gibt es Gründe, die Frage zu
Frage typischerweise formuliert wird, gerät aus dem Blick, daß die stellen, inwieweit die Aufopferung wirklich völlig beabsichtigt und
Situation vor allem durch den unterstellten Mangel an Liebe ge- frei ist.18 Wenn Frauen und Mädchen aufgrund tief verwurzelter
kennzeichnet ist. Macht man sich das klar, sieht man schnell, daß 18 Martha Nussbaum hat auf ein ähnliches Problem hingewiesen: »Echte Großzü-
gigkeit und echte Liebe, so würden wir beharren, sollte wenigstens gerecht sein;
1 7 Williams (1984), S.27. und es scheint richtig zu sein, von der Familie zu verlangen, daß sie den einfach-
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Sozialisationsmuster dazu neigen, sich mehr aufzuopfern, und es konkurrierender Interessen weckt und daß dieses Bewußtsein allein
schwieriger finden als Männer und Jungen, innerhalb der Familie schon destabilisierend wirkt. Dies ist ein Einwand, den wir ernst
ihre Interessen anzumelden, entsteht die Frage, inwieweit solche nehmen müssen, weil wir den Sinn für Gerechtigkeit als intentional
aufrichtig gefühlten Wünsche authentisch und frei genannt werden und deliberativ begreifen. Deshalb müssen, so denken wir, gerech-
können oder das Resultat von Ideologie und geschlechtsspezifischer tigkeitsorientierte Familien häufig über Differenzen im Blick auf
Sozialisation sind. Wenn diese Entscheidungen wirklich absichtlich Interessen, Vorlieben, Bedürfnisse, Vorteile, Risiken und auch über
und freiwillig getroffen werden, paßt auch die außergewöhnlichste relative Macht- und Autoritätsunterschiede innerhalb der Familie
Großzügigkeit problemlos in die gerechtigkeitsorientierte Familie. sprechen und das Bewußtsein dafür wachhalten. Nach Gerechtig-
Aber es muß möglich sein, diese schwierigen Autonomiefragen zu keit innerhalb einer Familie zu streben beinhaltet genau dies: der-
stellen, und es ist schwer zu sehen, wie dies anders als in Begrifflich- artige Unterschiede zu thematisieren. In gerechtigkeitsorientierten
keiten der Gerechtigkeit geschehen kann. Einer der entscheidenden Familien wird nicht stillschweigend hingenommen, daß, wenn zum
Vorteile des Modells der gerechtigkeitsorientierten Familie ist, daß Beispiel die ältere Schwester auf eine teure Privatschule gehen darf,
sie diesen Gerechtigkeitsfragen eine zentrale Stelle innerhalb einer die Möglichkeiten des jüngeren Bruders, dasselbe zu tun, gefährdet
liebevollen Familie zuerkennt. werden. Auch wird die Problematik thematisiert, daß, wenn eine
Ehefrau Teilzeit arbeitet, um für die Kinder zu sorgen, dies ihre
ökonomische Unabhängigkeit langzeitig gefährden wird (und sie
V. Liebe, Gerechtigkeit und Stabilität im Falle einer Scheidung oder im Falle des Todes des Partners deut-
lich benachteiligen wird).20 Und es mag auf einer metadeliberativen
Bisher haben wir damit argumentiert, daß es keine guten Gründe Ebene sogar gelegentlich darauf hingewiesen werden, daß ein Fa-
dafür gibt, die Vereinbarkeit von Liebes- und Gerechtigkeitsbin- milienmitglied sich in einer derart verletzlichen Lage befindet, daß
dungen anzuzweifeln. Stärker noch, wir haben vorgeschlagen, Ge- es sich nicht erlauben kann oder nicht wagt, auf seine Sichtweise
rechtigkeit als eines der zentralen Ziele im Alltagsleben liebevoller aufmerksam zu machen.21 Idealerweise sollte die Aufgabe der Pro-
Familien zu betrachten. Bis jetzt haben wir uns größtenteils auf die blematisierung nicht der benachteiligten Partei überlassen bleiben.
gegensätzlichen Sichtweisen konzentriert, die direkte, begriffliche In jedem Fall aber sind gerechtigkeitsorientierte Familien solche,
Inkompatibilitäten zwischen den Liebes- und Gerechtigkeitsbin- bei denen unangenehme und peinliche Fragen bezüglich wider-
dungen behaupten. In diesem letzten Abschnitt wenden wir uns streitender Interessen auf den Tisch kommen.
dem Einwand zu, daß es die praktischen Voraussetzungen unter- Die Befürchtung, die dadurch geweckt wird, ist, daß diese Art
gräbt, unter denen Liebe blühen kann, wenn wir Gerechtigkeit zu ständiger Thematisierung, auch wenn sie theoretisch und begriff-
einem zentralen Anliegen des Familienlebens machen. Es geht hier lich mit wahrer Liebe vereinbar ist (wie wir argumentiert haben),
um die Annahme, eine liebevolle und gerechtigkeitsorientierte Fa- eine Dynamik in Gang setzt, die, unter den gegebenen Bedingun-
milie sei zwar keine begriffliche, aber doch eine praktische Unmög- gen der menschlichen Psyche und der Gesellschaft, den zentrifuga-
lichkeit, denn die menschliche Psyche und die soziale Welt seien len Druck in Familien tendenziell verstärkt. Diese Sorge wird noch
so beschaffen, daß das Engagement für Gerechtigkeit die Liebe
gefährde." 20 Moller Okin (1989), Kap. 7; Defoe Whitehead (1993); vgl. auch Weitzman
Es gibt verschiedene Gründe für diese Behauptung. Ein Grund (1985).
ist der Gedanke, daß der Fokus auf Gerechtigkeit ein Bewußtsein 21 Dies ist extrem in Fällen häuslicher Gewalt, spielt aber auch eine Rolle, wenn
jemand vom Ende einer Beziehung finanzielle oder andere Konsequenzen zu
sten Grundsätzen von Fairneß entspricht, was auch immer sie für andere höhere fürchten hat. Für eine Diskussion der Frage, wie die Tatsache, daß die Folgen
Ziele verfolgt« (Nussbaum 1992, S.43). einer Scheidung häufig schlimmer für Frauen sind, ihre Verhandlungsposition in
19 Vgl. auch J. Anderson (1997). der Ehe beeinflußt, vgl. Mahony (1995), Kap. 3.
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verstärkt, wenn man erwägt, daß es eine ausgesprochen schwierige zwischen 1981 und 1997 vergleicht, das Ergebnis, daß »die Verän-
Aufgabe ist, Differenzen und Konflikte beizulegen, wenn sie einmal derungen in Geschlechtsbeziehungen im allgemeinen nicht für die
ans Licht gekommen sind. An die Stelle eines klaren, vertrauten Zunahme ehelicher Zwietracht verantwortlicht waren«.23 Noch
Musters von Familienleben und Haushaltsorganisation treten dann interessanter ist die Tatsache, daß, obgleich zwischen den beiden
Organisation und Verhandlungspraktiken, als sei die Familie ein Kohorten Differenzen zugenommen haben, die (berichtete) Zufrie-
kleines Unternehmen geworden. Die so argumentierenden Kultur- denheit der Frauen in der Ehe ebenfalls deutlich größer war.24 Das
kritiker werden niemals müde hervorzuheben, daß eine Orientie- heißt, selbst wenn es destabilisierende Effekte gegeben haben sollte,
rung an Gerechtigkeit und Gleichheit in der Familie (die sie oft wären sie durch solche entgegengesetzten Tendenzen ausgeglichen
als eine feministische Bedrohung sehen) dazu tendiert, Familien worden.
zu überfordern, indem individualistische Formen der Interaktion Übrigens sollte man bedenken, daß alle Behauptungen über
eingeführt werden, die komplexe und schwierige Verhandlungen den angeblich entfremdenden Charakter gerechtigkeitsorientierter
erfordern.22 Aus dieser Perspektive scheint es so, daß je mehr Fami- Familienbeziehungen von Individuen stammen, die in einer Kul-
lienmitglieder damit beschäftigt sind, zu kontrollieren, ob sie fair tur sozialisiert wurden, die durch die Annahme einer Opposition
behandelt werden, es desto wahrscheinlicher ist, daß sie das Klima zwischen Liebe und Gerechtigkeit gekennzeichnet war. Es ist kei-
von Vertrauen, Pflichtgefühl und Opferbereitschaft untergraben, neswegs überraschend, wenn Menschen aus einer solchen Kultur,
das Familien stabil und wertvoll macht. Dies wird oft durch die die keine Erfahrung mit gerechtigkeitsorientierten Familien haben,
Redeweise ausgedrückt, daß die öffentliche Kultur der Verträge und annehmen, daß die Einführung von Gerechtigkeitsforderungen
Eigeninteressen in den privaten Bereich der Familie eingedrungen Familien kalt oder herzlos machen wird. Was aber die Kritiker ei-
sei, wo eine andere Kultur des Zusammenlebens geschätzt werden gentlich beweisen müßten, ist, daß Kinder, die in gerechtigkeits-
sollte. orientierten und liebevollen Familien erzogen wurden, nicht in der
Als Antwort auf diese Fragen werden wir uns auf drei Argumente Lage sind, stabile, liebevolle Familienbeziehungen zu bilden.
konzentrieren: daß diese Bedenken auf fragwürdigen, spekulativen (b) Eine zweite Antwort auf den Einwand, daß gerechtigkeitsori-
Behauptungen über die menschliche Natur basieren; daß sie die entierte und liebevolle Familien praktisch unmöglich sind, gesteht
Alternativen mißverstehen; und daß sie die Ressourcen unterschät- zwar zu, daß gerechtigkeitsorientierte Familien mit gewissen zu-
zen, die vorhanden sind, um den Herausforderungen einer gerech- sätzlichen Belastungen und Herausforderungen konfrontiert sind,
tigkeitsorientierten Familie zu begegnen (so wie sie im übrigen auch argumentiert aber, daß deren Gründe falsch diagnostiziert werden.
die positiven Nebeneffekte für die Liebe unterschätzen). Jene Belastungen haben ihren Ursprung nicht in der Gerechtig-
(a) Eine zentrale Schwachstelle dieser Kulturkritik besteht darin, keitsorientierung selbst, sondern in anderen sozialen Phänomenen,
daß sie auf unbegründeten empirischen Behauptungen über An- insbesondere in den Zentrifugalkräften des Arbeitsmarktes. Tatsäch-
thropologie und individuelle Psychologie beruht. Menschen wer- lich stimmen neotraditionalistische Kulturkritiker und Advokaten
den als Wesen geschildert, die zu Zwietracht und Individualismus von Familiengerechtigkeit in der Auffassung überein, daß der Ar-
getrieben werden, wenn sie Gerechtigkeit thematisieren. Anschei- beitsmarkt nicht durch familienfreundliche Prinzipien regiert wird.
nend sind dies empirische Behauptungen, aber es werden keine Besonders in einer Welt, in der die globale Konkurrenz intensiv ist
Daten angeführt, welche die Destabilisierung von Familien oder und die Gewerkschaften relativ schwach sind, fordert der Arbeits-
einen Mangel an Liebe mit einem Engagement für Gerechtigkeit markt oft, daß Arbeitnehmer zum Beispiel umziehen, um Arbeit zu
in Verbindung bringen. Tatsächlich erbrachte eine Langzeitstudie, finden, und daß sie Überstunden machen, um konkurrenzfähig zu
die zwei Kohorten verheirateter Paare zwischen 1964 und 1980 und
23 Rogers und Amato (2000), S. 749.
24 Ebd., S. 743, Tabelle 1. Interessanterweise berücksichtigen Rogers und Amato die-
22 Vgl. Blankenhorn (1995); Bellah (1990); Critenden (1999). se Entwicklung nicht in ihrer Diskussion.
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bleiben; und wenn beide Ehepartner diesen Zwängen unterworfen divergierenden Interessen von Familienmitgliedern sichtbar werden
sind, kann es sehr schwerfallen, alles zusammenzuhalten. In Ulrich kann, mag der falsche Eindruck entstehen, als liege der Ursprung
Becks etwas dramatischer Formulierung: des Konfliktes nun innerhalb der Familie, oder sogar im Engage-
ment für Gleichheit und Fairneß selbst.
In dem zu Ende gedachten Marktmodell der Moderne wird die famili-
en- und eh dose Gesellschaft unterstellt. Jeder muß selbständig, frei für die
Die traditionelle Einverdienerehe, in der der Mann für das Ein-
Erfordernisse des Marktes sein, um seine ökonomische Existenz zu sichern. kommen und die Frau für Kinder und Küche sorgr, wurde lange
Das Marktsubjekt ist in letzter Konsequenz das alleinstehende, nicht Part- als Bollwerk gegen die Zwänge des Arbeitsmarktes gesehen. In der
nerschaft^-, ehe- oder familien»behinderte« Individuum. Entsprechend ist Mittelklasse des industrialisierten Westens hat die kulturelle und
die durchgesetzte Marktgesellschaft auch eine kinderlose Gesellschaft - es rechtliche Ausschließung der Frauen von voller Partizipation im
sei denn, die Kinder wachsen bei mobilen, alleinerziehenden Vätern und Arbeitsmarkt die zentrifugalen Kräfte gemildert. So gesehen könn-
Müttern auf. 25 te man der Beschäftigung mit Gerechtigkeit die Schuld für den
zusätzlichen zentrifugalen Druck geben, da die Forderungen nach
Zusätzlich müssen in dieser enttraditionalisierten Welt viel mehr Gerechtigkeit zu einem Abbau jenes künstlichen Bollwerkes ge-
Entscheidungen getroffen werden; und je mehr Entscheidungen führt haben. Aber diese zentrifugalen Kräfte sind bloß eine unbeab-
Menschen treffen müssen, desto komplizierter wird die Aufgabe, sichtigte Nebenfolge eines Emanzipationsprozesses, den niemand
kooperative Beziehungen zu koordinieren. Je mehr Familienmit- legitimerweise als falsch betrachten kann: Frauen und Männer soll-
glieder sich über ihre individuellen Bedürfnisinterpretationen und ten doch dieselben Rechte haben, am Arbeitsmarkt teilzunehmen.
gemeinsamen Pläne einigen müssen, desto mehr steigt das Kon- Der echte Ursprung der Schwierigkeiten, denen Familienmitglieder
fliktpotential innerhalb der Familie. Zum Beispiel wird jemand gegenüberstehen, liegt im Arbeitsmarkt und in der Abwesenheit ef-
in seinem Beruf versetzt. In einer Welt, die deutlich diktiert, daß fektiver und gerechter politischer Maßnahmen oder soziokulturel-
die Familie immer dorthin zieht, wo der Vater arbeitet, müssen ler Bewegungen, die Familien vor einem Arbeitsmarkt beschützen
keine Entscheidungen getroffen werden. Es könnte immer noch würden, der grundlegend individualistisch organisiert ist.
Unzufriedenheit oder Konflikte über den Umzug geben, aber der Dies macht deutlich, wie falsch die Annahme ist, daß es die Be-
Ursprung des Konfliktes liegt außerhalb der Familie. (Papas Boß schäftigung mit der Gerechtigkeit ist, die individualistische Zwänge
ist schuld.) Wenn diese traditionellen Annahmen zerfallen, gibt es in die Familie einführt. Im Gegenteil, Mitglieder einer gerechtig-
plötzlich verschiedene Möglichkeiten, wie Familien in dieser Situa- keitsorientierten Familie sind engagiert, um Wege der Zusammen-
tion reagieren können. Die einfache Berufung darauf, »wie wir die arbeit zu finden und auf eine gerechte Art einige der Zwänge, die
Dinge immer getan haben«, muß durch die mühsame Suche nach durch den individualistischen Arbeitsmarkt auf die Familie ausgeübt
einer Möglichkeit ersetzt werden, die Bedürfnisse aller in angemes- werden, zu zähmen. Solch ein kooperatives Modell steht in starkem
sener Weise zu berücksichtigen. In der Konsequenz erfordert das Widerspruch zur Organisation durch profitorientierte Marktver-
Familienleben nun das Jonglieren mit den verschiedenen Ambitio- träge. Deswegen erweisen sich konservative Kritiker, die beklagen,
nen der Familienmitglieder und ihren konfligierenden praktischen daß alle wechselseitig bindenden Vereinbarungen zwischen Gleich-
Implikationen.26 Tatsächlich liegt die wichtigste Ursache ehelicher berechtigten die Form eigennutzenorientierter Verträge annehmen,
Zwietracht in den Vereinigten Staaten gegenwärtig in der Span- ironischerweise als Gefangene desselben marktökonomischen Den-
nung zwischen Arbeit und Familie.27 Da diese Spannung in gerech- kens, das sie als die große Bedrohung sehen.28
tigkeitsorientierten Familien nicht zuletzt im Zusammenhang mit
28 Blankenborn nimmt zum Beispiel an, daß die Ziele der Frauen am Arbeitsplatz
25 Beck (1986), S.191. individualistisch sind, während in Wahrheit viele Frauen (und Männer) darauf
26 Ebd., S.184. aus sind, zur Gesellschaft beizutragen oder Menschen zu helfen: »The goals of
27 Rogers und Amato (2000), S. 749. women (and of men, too) in the workplace are primarily individualistic: social
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(c) Bei der Verbindung dieser beiden Antworten wird deutlich, entierter Familien stärken. Es ist entscheidend zu sehen, daß sol-
daß die gerechtigkeitsorientierte Familie als Versuch gesehen wer- che Entwicklungen Beziehungen sehr wahrscheinlich nur stärken.
den kann, angemessen auf die allgemeinen Herausforderungen Dies gilt ebenso für die Eigenschaften, die gebraucht werden, um
einer Welt zu antworten, in der die künstlichen Beschränkungen Gerechtigkeit in der Familie aufrechtzuerhalten. Eigenschaften wie
von Tradition und Konventionen sich mehr und mehr auflösen. die Fähigkeit zum Zuhören und die Bereitschaft, die Wünsche von
Die Schwierigkeiten, die es heute mit sich bringt, eine Familie zu- anderen ernst zu nehmen, sind deutlich solche, die auch genuin
sammenzuhalten, können nicht geleugnet werden, und viele dieser liebevolle familiale Beziehungen unterstützen. In diesem Sinne
Schwierigkeiten sind ein direktes Resultat der sozialen Transforma- dient ein Engagement für Gerechtigkeit dazu, Liebesbeziehungen
tionen, die von der Gerechtigkeit verlangt werden. Aber die Ge- flexibler, anpassungsfähiger und beständiger zu machen.30 Denn es
rechtigkeitsorientierung als Kernaufgabe der Familie aufzugeben kann durchaus sein, daß Beziehungen, die sowohl auf Gerechtig-
würde diese Herausforderungen nicht verschwinden lassen. Viel- keit und gegenseitigem Respekt basieren als auch auf Liebe, gerade
mehr muß nach besseren Wegen gesucht werden, mit diesen Her- die stabilisierenden Zusammenhänge bieten, die die Ebbe und Flut
ausforderungen umzugehen. der Zuneigung aushalten können und das Gedeihen von Sponta-
Wir haben bereits den Bedarf an kreativen Innovationen im so- neität und persönlicher Ergebenheit ermöglichen. So stärkt auch in
zialen, kulturellen, juridischen und politischen Klima erwähnt, in diesem Sinne eine Orientierung auf Gerechtigkeit die Liebe.
dem die gerechtigkeitsorientierte Familie funktionieren muß.29 Wir
können hinzufügen, daß es bedeutsam ist, die fortwährende Ent-
wicklung der Fähigkeiten von Erwachsenen und Kindern zu unter- Schlußbemerkung
stützen, mit diesen neuen komplexen Entscheidungen umzugehen,
und zwar nicht nur als Individuen, sondern auch als Mitglieder Die oft behauptete Opposition zwischen Liebe und Gerechtigkeit
von Familien, die sich aktiv für ihr Wohlergehen als Familien ein- ist nicht nur falsch - sie wirkt auch als eine Ideologie, als ein verzer-
setzen. Wenn Familien ihren Weg durch unvermeidbare Konflikte render Einfluß auf die Reflexionsprozesse einzelner Familien über
finden müssen, brauchen sie vielerlei Fähigkeiten, Tugenden und die Frage, wie sie ihr Leben einrichten wollen. Um Gerechtigkeit in
Praktiken, die entwickelt und unterstützt werden müssen. Diese der Familie zu fördern, muß deswegen die Vorstellung des Wesens
umfassen beispielsweise die Fähigkeit, empathisch zuhören zu kön- der Familie - sowohl innerhalb der Familie als auch in der Ge-
nen und sich selbst klar auszudrücken, deutliche (aber revidierbare) sellschaft im allgemeinen - so verändert werden, daß ein Engage-
Prozeduren für Familienüberlegungen zu finden und einen Sinn ment für innerfamiliale Gerechtigkeit gut zu echter Liebe paßt. Die
für Offenheit zu entwickeln, so daß unkonventionelle Lösungen Chancen für die gerechtigkeitsorientierte Familie liegen jenseits der
in Erwägung gezogen werden können und niemand unabsichtlich aus einem Zeitalter männlicher Dominanz stammenden und heute
(oder absichtlich) totgeschwiegen wird. Diese Fähigkeiten können noch so einflußreichen Ideologie von der Familie als Raum der Lie-
ein Individuum bei der Bildung und Erhaltung gerechtigkeitsori-
30 Eine gerechtigkeitsorientierte Familie dient auch - >reflexiv< gesehen - als eine
recognition, wages, opportunities for advancement, and self-fulfillment. But the »Schule der Tugend«, indem sie sich das kulturelle Umfeld sichert, in dem sie
family is about collective goals that by definition extend beyond individuals: gedeihen kann: Insoweit sie die Entwicklung der Fähigkeit erleichtert, die Kevin
procreation, socializing the young, caring for the old, and building life's most Olson »cultural agency« genannt hat - »die kritischen, kognitiven und diskursi-
enduring bonds of affection, nurturance, mutual Support, and long-term com- ven Fähigkeiten, als ein Agent zu agieren, indem man die Begriffe definiert, unter
mitment« (Blankenborn 1990, S. 10 f.); siehe auch Bellah (1990), S. 227. denen man selbst und die eigene Gesellschaft verstanden werden« - , bringt eine
29 Für weitere Vorschläge vgl. z. B. Fräser (1994); Ciaassen (2007); Beck und Beck- gerechtigkeitsorientierte Familie Individuen in die Lage zu erkennen, daß eine
Gernsheim (1990). Wichtig sind hier die komplexen Beziehungen zwischen gerechtere Gesellschaft realisiert werden soll, eine Anerkennung, die wiederum
Kompensation für Hausarbeit und der erneuten Wertschätzung von Hausarbeit; zurückwirkt, indem sie die Verwirklichung gerechtigkeitsorientierter Familien
für eine neuere Diskussion siehe Rössler (2007); wie auch Honneth (2007). erleichtert (Olson 2006, S.75).
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be, wo die Gerechtigkeit keinen Platz hat. Solch eine Veränderung Iris Marion Young
des kulturellen Ideals der Familie könnte denjenigen, die sich für Gedanken über Familien im Zeitalter
Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern engagieren, zeigen, daß
die Wertschätzung der Familie vereinbar ist mit diesem Engage-
von Murphy Brown
ment. Und es würde den Konservativen zeigen, daß Gerechtigkeit Über Gerechtigkeit, Geschlecht und Sexualität*
innerhalb der Familie vereinbar ist mit Liebe und Zuneigung. In
diesem Sinne kann man zugleich familienorientiert und gerechtig-
keitsorientiert sein.31 Im Mai 1992 brachte Murphy Brown, die prominente Figur einer
amerikanischen Sitcom, provokanterweise vor Millionen von Fern-
sehzuschauern einen kräftigen Jungen zur Welt. Zum Erstaunen
und zur Belustigung vieler wurde Murphy Brown am nächsten
Tag vom US-Vizepräsidenten Dan Quayle in einer Rede vor dem
Commonwealth Club in San Francisco kritisiert. Sie ist zu weit
gegangen, wenn sie nun ein Baby ohne Vater hat! Eine unabhän-
gige Frau wie diese Murphy Brown ist eben ein gefährliches Rol-
lenmodell.
Es ist kein Zufall, daß Dan Quayles Rede gerade in eine Zeit fiel,
in der Amerika von dem größten Aufruhr seit den 1960er Jahren er-
schüttert wurde: dem Aufstand in Los Angeles. Die Normalität war
außer Kraft gesetzt, Chaos herrschte, Angst und Wut hielten ameri-
kanische Städte im Griff. Die Welt stand Kopf: Mitglieder afroame-
rikanischer Straßenbanden tauchten im landesweiten Fernsehen als
ernst zu nehmende Kommentatoren von Nachrichten auf.
Dan Quayles Geißelung von Murphy Brown wirkte wie ein
Appell an die Grundlage aller Ordnung, Die Familie. Die Familie
bedeutet ursprüngliche Einigkeit und Geborgenheit, sie bezeichnet
einen vorsozialen, idyllischen Naturzustand ohne Konfrontation
und Konflikt mit Fremden. Sie bedeutet eine geordnete Hierarchie
aus Vater, Mutter und Kindern, wo die Autorität klar geregelt ist
und jeder seinen Platz und seine Pflichten kennt. Appelliert man an
Die Familie, dann spricht man tiefsitzende Gefühle der Sicherheit
und Geborgenheit an. Wie ich unten noch erörtern werde, zieht
Die Familie eine klare Grenze zwischen legitim und illegitim, doch
wie alle Grenzen ist auch diese willkürlich. Das Heraufbeschwören
einer Gefahr für die Familie oder die Andeutung ihrer Auflösung
* Die Rechtslage in den Vereinigten Staaten hat sich seit der Erstveröffentlichung
31 Wir möchten uns bei Wouter Kalf, Kevin Olson und Beate Rössler für hilfreiche des Beitrags von Iris Marion Young in einigen Bundesstaaten signifikant gewan-
Kommentare und bei Alexandra Sattler, Beate Rössler und vor allem Micha Wer- delt; an dem Wert ihrer Argumente hat sich jedoch nach dem Eindruck der Her-
ner für Hilfe bei der Vorbereitung der deutschsprachigen Fassung bedanken. ausgeber nichts geändert.
20 7
312
weckt Ängste des Identitätsverlusts, des Ausgesetztseins, der äu- die Frage nach den Werten von Ehe und Familie an den wirtschaft-
ßersten Verletzlichkeit - was Quayle »gesetzlose soziale Anarchie« lichen Aufschwung zu binden.
nennt. Das Drama fand auf unnachahmlich amerikanische Art seinen
Die Anprangerung der Mutterschaft lediger Frauen hat, wann Höhepunkt im Fernsehen. Es gibt eine allgemeine Regel im ame-
immer sie heutzutage in Amerika geäußert wird, einen rassenbe- rikanischen Journalismus, wonach die Presse nicht über Ereignisse
zogenen Subtext. Doch im Zusammenhang mit dem Aufruhr in berichten sollte, die erst noch stattfinden müssen. In der dritten
Los Angeles, der auf die gesamte Nation überzuspringen drohte, Septemberwoche 1992 wurde diese Grundregel eklatant verletzt, als
war die Botschaft mehr Klartext als Subtext: Die Hauptursache für sich die Aufmerksamkeit der Medien auf die bevorstehende Herbst-
die Ausschreitungen in Los Angeles ist im Zusammenbruch der premiere von Murphy Brown konzentrierte. Time Magazine brachte
Familie im Ghetto zu sehen. Schwarze Frauen sind unverantwort- Candice Bergen, die Murphy Brown spielt, auf ihrer Titelseite, ge-
lich und schamlos, weil sie Babys bekommen, ohne Väter für sie zu schmückt mit einem »Murphy-Brown-for-President«-Anstecker.
haben; sie nutzen die Steuerzahler aus und können den Kindern Am Vorabend der großen Premiere druckte kein geringeres Pres-
kein anständiges Leben bieten. Da sie nur Mütter sind, können seerzeugnis als das WallstreetJournal- sonst so seriös und ehrwürdig,
sie ihre Söhne nicht disziplinieren, die unbeaufsichtigt mit Schuß- daß nie Fotografien, sondern nur von Zeichnern angefertigte Skiz-
waffen und Fackeln auf den Straßen herumlaufen. Unsere einzige zen gebracht werden - einen Leitartikel zu »Murphy Browns Baby«.
Hoffnung, nicht von der Feuersbrunst verschlungen zu werden, ist Auch hier kritisierte man die fiktive Murphy Brown und wiederholte
das Gesetz der Väter. »Kinder brauchen Liebe und Disziplin. Sie Quayles Warnung vor armen, unverheirateten Müttern. »Nicht viele
brauchen Mutter und Vater. Geld von der Wohlfahrt ist kein Ehe- werden widersprechen, wenn man sagt, daß das beste Mittel gegen
mann. Der Staat ist kein Vater ... unverantwortlich Kinder in die Armut in der Kindheit ein Vater im Hause ist«, hieß es da.
Welt zu setzen ist einfach falsch.«1 Die Trope Die Familie und die Berufung auf sie als symboli-
Dan Quayles Rede löste, wie es offenkundig beabsichtigt war, schen Garanten für Ordnung berührt die Herzen der Amerikaner
eine im Rahmen des Präsidentschaftswahlkampfs sommerfüllende so sehr, daß die radikalen Reformer viele Jahre lang rhetorisch auf
Debatte über »die Werte von Ehe und Familie« aus. Was zunächst dem Rückzug waren, was ihre dreisten Forderungen nach Abschaf-
wie fester Boden für den Status quo und den Konservatismus aus- fung der Ehe und einer Pluralisierung der Lebensstile anging - For-
gesehen haben mag, stellte sich bald als ein ziemlich schlammiges derungen, wie sie für die späten 1960er und 1970er Jahre typisch
Gelände heraus. Während die beiden großen Parteien klammheim- waren und die auch frühere Spielarten des Radikalismus, wie den
lich gemeinsame Sache machten, indem sie die Rassenfrage in den der Emma Goldman, charakterisiert hatten. Alle, die sich dem Ziel
Städten in ihre übliche gespannte Ruhe zurücksinken ließen, und verschrieben haben, der Unterdrückung von heterosexuellen Frau-
sich stillschweigend einig waren, daß ledige Mütter ein soziales Pro- en, von schwulen Männern, lesbischen Frauen und von Farbigen
blem darstellen, ging es bei den Wahlen unaufhörlich darum, was beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher sexueller Orientierun-
gute Familien sind und mit welcher Politik sie unterstützt werden gen ein Ende zu machen, sollten jedoch ihr Möglichstes tun, um
können. Während die Wähler Colorados ein Referendum billig- den mystischen Einfluß der Familie auf das Denken der Menschen
ten, das sich gegen Schwule richtete, befürwortete der Präsident- zu brechen. Da das Terrain insgesamt schlammiger wird, ist es
schaftskandidat einer Partei erstmals in der Geschichte Amerikas zwar nicht ganz ausgeschlossen, daß wir Fuß fassen können und
ausdrücklich einige Rechte für Schwule und Lesben (jedoch keine ein Wandel einsetzt; aber ebensowenig ist ausgeschlossen, daß wir
Ehe). Derselbe Kandidat war in der Lage, die ablehnende Haltung einigen Schlamm abbekommen.
der Republikaner zum Erziehungsurlaub gegen sie zu wenden und In diesem Aufsatz geht es mir darum, wie man Fragen im Ge-
schlechterverhältnis und der Sexualität als Fragen der Gerechtig-
i Die Zitate aus Quayles Rede stammen aus Time Magazine, i. Juni 1992, S.29f. keit analysieren sollte. Ich verwende einige Erkenntnisse meiner
20 7
314
früheren Arbeit über Gerechtigkeit und vertrete den Standpunkt, Diese Entwicklung in der feministischen Moraltheorie ist meiner
daß das dominierende distributive Paradigma der Gerechtigkeit zur Meinung nach überfällig. Gerechtigkeit als wichtigste politische
Konzeptualisierung vieler Gerechtigkeitsfragen nicht gut geeignet Tugend sollte für die feministische Moraltheorie und Politik ein
ist, unter anderem nicht für Fragen zum Bereich Sexualität, Re- zentrales Anliegen sein. Wie Susan Okin außerdem richtig und
produktion und Familie, die für Feministinnen an oberster Stelle überzeugend darlegt, ignoriert die Geschichte männlicher Theo-
stehen. Wenige Theoretiker der Gerechtigkeit analysieren die The- riebildung zur Gerechtigkeit, daß Herrschaft und Privilegien des
matik Gerechtigkeit und Familie, und diese wenigen neigen dazu, Mannes Probleme der Gerechtigkeit sind, und ignoriert wird dies
die Institution der Ehe als gegeben vorauszusetzen. Ich werde im größtenteils deshalb, weil fälschlicherweise angenommen wird,
folgenden deutlich machen, daß ihre Abhängigkeit vom distributi- Familienbeziehungen seien vor oder außerhalb jenes Bereichs so-
ven Paradigma dies erklären kann. zialer Beziehungen angesiedelt, für den Gerechtigkeitsfragen gel-
Eine feministische Theorie der Gerechtigkeit sollte die Insti- ten. Die Fragen nach sexueller Befreiung, reproduktiven Rechten,
tution der Ehe für sich genommen kritisieren, und zwar mit der geschlechtlicher Arbeitsteilung, Gleichheit in Familienbeziehungen
Begründung, daß sie zwischen legitimen und illegitimen Beziehun- usw., die für die feministische Politik ganz zentral sind, müssen als
gen eine willkürliche Grenze zieht und den legitimen besondere Fragen der Gerechtigkeit verstanden werden. Ich meine, das macht
Privilegien zugesteht. Ich gehe deshalb darauf ein, wie eine Fami- es notwendig, die Bedeutung sozialer Gerechtigkeit unabhängig
lienkonzeption aussehen sollte, die keine besondere Privilegierung vom distributiven Paradigma, das heute in den anglo-amerikani-
bestimmter Beziehungsformen vorsieht, sondern diejenigen Privi- schen Ansätzen zur Philosophie der Gerechtigkeit dominiert, neu
legien, Schutzregeln und Verpflichtungen, die gegenwärtig auf ver- zu durchdenken.
heiratete Paare und ihre Kinder beschränkt sind, auf andere Arten In Justice and the Politics ofDifference habe ich dieses distributive
von Beziehungen ausdehnt. Das Recht, die Politik und die soziale Paradigma definiert und kritisiert. Es unterstellt, daß es bei allen
Praxis sollten Verknüpfungen, die derzeit zwischen heterosexuel- Fragen der Gerechtigkeit um die Verteilung sozialen Nutzens und
ler Paarbildung, Partnerschaft, Elternschaft und Eigentumsrechten sozialer Lasten unter Individuen und unter Gruppen geht. Diese
bestehen, abschaffen. Die Familie sollte in eine Reihe von Rechten Nutzen und Lasten können konkret meßbar sein, beispielsweise
und Pflichten zerlegt werden. als Einkommen oder als Steuern. Verteilungstheoretiker sprechen
jedoch auch bei nichtmateriellen Größen wie Macht und Selbst-
achtung von Gütern, die unter den Akteuren verteilt werden; das
Gerechtigkeit, Geschlecht und Sexualität ist eine Art und Weise, über Macht und Selbstachtung zu sprechen,
von der ich glaube, daß sie Beziehungen und Prozesse zu Unrecht
In den vergangenen Jahren haben bestimmte feministische Philo- verdinglicht.3
sophinnen wie Susan Okin, Joan Tronto, Marilyn Friedman und Da man das Konzept der Gerechtigkeit aufgrund seiner man-
Sara Ruddick die von vielen Feministinnen vertretene Annahme gelnden Relevanz für die besonderen moralischen und politischen
in Frage gestellt, daß Gerechtigkeit in einem Gegensatz zur Fürsor- Anliegen des Feminismus abgelehnt hatte, gibt es nur sehr wenige
ge gesehen werden sollte oder daß Konzepte der Gerechtigkeit für Philosophen und Philosophinnen, die über moralische Geschlech-
die feministische Moraltheorie im Hinblick auf Familie, Sexualität
rokratisch organisierten öffentlichen Lebens, der für stärker beziehungsorientierte
und persönliche Beziehungen keinen theoretischen Nutzen haben.2
Handlungskontexte ungeeignet sei. In den letzten Jahren hat es allerdings wichtige
2 Carol Gilligan wandte sich zunächst gegen die Norm der Gerechtigkeit und fa- Kritik an dieser Gegenüberstellung von Gerechtigkeit und Fürsorge gegeben. Sie-
vorisierte moralische Rücksichten mit stärker partikularistischem und feministi- he dazu Moller Okin (1989); Tronto (1993), bes. S. 77-92; Tronto (1991); Friedman
schem Charakter, die sie Fürsorge (care) nannte (Gilligan 1988). Viele feministische (1995); Ruddick (1992).
Theoretikerinnen folgten ihr in der Annahme, Gerechtigkeit sei ein Wert des bü- 3 Young (1990), Kapitel 1.
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terfragen als Probleme der Gerechtigkeit nachgedacht haben. Von sehen den Geschlechtern verteilt? Jedenfalls hat die Festlegung der Frauen
den wenigen, die Geschlechterfragen als Angelegenheiten der Ge- auf die funktionale Rolle der tatsächlichen oder potentiellen Ehefrau und
rechtigkeit analysieren, arbeiten die meisten im Rahmen des dis- Mutter und des primären Elternteils, auch auf die grundlegende oder zu-
tributiven Paradigmas. James Sterba zum Beispiel beschränkt sein mindest phasenweise Abhängigkeit von einem Mann, eine Menge mit der
Verständnis der Gerechtigkeitsproblematik auf die distributiven Tatsache zu tun, daß Frauen bei der Verteilung sozialer Güter im allgemei-
nen weniger von den Vorteilen profitieren und mehr Lasten aufgebürdet
Fragen der Chancengleichheit und staatlichen Sozialleistungen.
bekommen als Männer.5
Er argumentiert, eine feministische Auffassung von Gerechtigkeit
begreife die menschlichen Wesensmerkmale als gleichmäßig über Die Tatsache, daß Frauen distributive Ungerechtigkeit hinnehmen
die Geschlechter verteilt, und dies impliziere eine Umgestaltung müssen, läßt sich nicht leugnen. Verteilungsprobleme sind wich-
der Familie dergestalt, daß es in ihr keine geschlechtsspezifischen tige Fragen der Gerechtigkeit, und das gilt für die Gerechtigkeit
Rollen mehr gebe.4 zwischen den Geschlechtern genauso wie für andere Arten von
Die bekannteste und gründlichste Darstellung des Problemkom- Gerechtigkeitsfragen. Es ist dennoch ein Fehler, alle Fragen der
plexes Geschlecht und Gerechtigkeit ist wahrscheinlich die von Su- Gerechtigkeit auf Fragen der Verteilung zu reduzieren, und das im
san Okin. Nachdem sie zunächst die wichtigsten männlichen Ge- wesentlichen aus zwei Gründen. Erstens neigt das distributive Para-
rechtigkeitstheoretiker, darunter auch Rawls, dafür kritisiert, daß digma zur Verzerrung oder zum Ignorieren solcher Fragen der Ge-
sie Fragen der Gerechtigkeit in der Familie ignorieren, bearbeitet rechtigkeit, die sich nicht leicht in distributiven Begriffen erfassen
sie Rawls' Theorie der Gerechtigkeit als Fairneß für eine Anwen- lassen. Zweitens neigt das distributive Paradigma dazu, diejenigen
dung auf die Beziehungen zwischen Mann und Frau in der Familie. institutionellen Strukturen, in denen die Verteilungen stattfinden,
Wenn Rawls' Grundsatz gleicher Freiheit und gleicher Chancen ra- als gegeben vorauszusetzen, ohne die Gerechtigkeit dieser institu-
dikal ohne Abstriche angewendet wird, behauptet sie, muß er eine tionellen Strukturen selbst in Frage zu stellen.
Aufhebung der geschlechtlichen Aufgabenteilung und Statuszuwei- Das distributive Paradigma faßt alle Angelegenheiten der Ge-
sung implizieren. Insbesondere die geschlechtliche Arbeitsteilung, rechtigkeit als Pakete von Gütern auf, die im Besitz von Individuen
welche den Frauen die Hauptverantwortung für Hausarbeit und sind. Mit diesem Paradigma konzentrieren sich Philosophen und
Kindererziehung zuteilt, muß beseitigt werden. Solche Reformen politische Akteure vorzugsweise auf Probleme wie die Verteilung
erfordern einen Einstellungswandel und eine Verhaltensänderung von Eigentum, Einkommen oder Arbeitsplätzen, die als die wich-
bei den meisten Männern und bei vielen Frauen, doch sie bedeu- tigsten Fragen sozialer Gerechtigkeit wahrgenommen werden. Auf
ten auch weitreichende Veränderungen für den Staat und für die feministische Probleme angewandt, rückt diese Perspektive Fra-
Sozialpolitik - ein verbessertes Angebot in der Kinderbetreuung, gen der Chancengleichheit, der Verteilung von Posten, Aufgaben,
die gesetzliche Regelung des Elternurlaubs und eine flexiblere, fa- ökonomischen und sozialen Ressourcen zwischen Männern und
milienfreundlichere staatliche Arbeitsplatzpolitik. Frauen in den Vordergrund, übersieht oder vernebelt aber viele
Bei der Ausweitung der Rawlsschen Konzeption auf die Familie Gerechtigkeitsprobleme zwischen den Geschlechtern, die nicht so
stützt sich Okin auf ein distributives Paradigma der Gerechtigkeit. offensichtlich distributiver Natur sind. Wenn Sterba oder Okin die
Die soziale Ungerechtigkeit für Frauen besteht darin, daß ihnen Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern erörtern, finden darin
nach dem allgemeinen Muster der sozialen Verteilung weniger Nut- Angelegenheiten der Sexualität und Reproduktion beispielsweise
zen und mehr Lasten zukommen. keine Berücksichtigung. Ich glaube, diese Lücke läßt sich wenig-
stens zum Teil auf ihre Verwendung einer distributiven Gerechtig-
Politische Macht und politisches Amt, harte Arbeit, Geld und Waren, Si-
keitsauffassung zurückführen.
cherheit - ist davon auch nur irgend etwas annähernd gleichmäßig zwi-
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gen, sei es über den Faktor Zeit, Geld oder emotionale Belastung, in verschiedenen Passagen ihres Buches auf schwule und lesbische
doch sie dürfen diese Kosten nicht »ungebührlich« hoch ansetzen. Paare als wichtige Modelle für egalitäre Beziehungen.9 Auch will
Durch diesen vermeintlich gemäßigten Mechanismus hat das Ge- sie gewiß nicht wie Dan Quayle darauf hinaus, daß verheiratete
richt zugelassen, daß eine Angelegenheit der Entscheidungsgewalt Mütter besser sind als unverheiratete. Ich vermute vielmehr, daß sie
und des Zugangs zu Dienstleistungen auf komplizierte Weise dis- die Verteilung von Arbeit und von finanziellen Mitteln innerhalb
tributiv reformuliert wird, indem sie die Form einer umfänglichen der Familie als die wesentliche Frage der Geschlechtergerechtigkeit
Reihe verschiedener Rechte annimmt. Denn die Entscheidung hat ansieht und deshalb dazu neigt, die gemeinhin geltenden Famili-
für junge, arme und auf dem Land lebende Frauen mehr erschwe- ennormen als gegeben vorauszusetzen - Normen, die aber die Ehe
rende Konsequenzen und lehnt sich daher an bereits bestehende privilegieren, ohne deren Gerechtigkeit ausdrücklich in Frage zu
distributive Ungleichheiten an, die sie verstärkt.7 stellen.
Das zweite und vielleicht wichtigere Problem mit dem distribu- Um es zusammenzufassen: Die Verteilung ist nur ein Teil,
tiven Paradigma der Gerechtigkeit ist, daß es sich auf die Vertei- wenngleich ein wichtiger Teil der sozialen Verhältnisse, die nach
lung von Nutzen und Lasten innerhalb institutioneller Strukturen feministischen Gerechtigkeitsgrundsätzen beurteilt werden sollten.
konzentriert und diese institutionellen Strukturen in dem Moment Fragen der Gerechtigkeit erstrecken sich auch auf die Entschei-
ausblendet, in dem das Paradigma als gegeben vorausgesetzt wird. dungsgewalt, auf die Definition sozialer Positionen mit den dazu-
Dadurch wird versäumt, die Gerechtigkeit der Institutionen an sich gehörigen Beziehungen und Verpflichtungen und auf die Kultur,
zu beurteilen, die jene Bedingungen und Praktiken vorsehen, die wobei alle diese Aspekte nicht auf Verteilung reduzierbar sind. Eine
Nutzen wie Lasten zur Folge haben und auch die sozialen Positio- umfassendere Gerechtigkeitskonzeption setzt sich nicht Fairneß,
nen definieren, denen diese Nutzen und Lasten zugewiesen werden. sondern Befreiung zu ihrem endgültigen Ziel. Diese umfassendere
In vielen Diskussionen über soziale Gerechtigkeit wird zum Beispiel Konzeption besagt, daß soziale Gerechtigkeit damit zu tun hat, in
die Frage gestellt, ob es die Gerechtigkeit erlaubt oder verlangt, die welchem Grade eine Gesellschaft die institutionellen Bedingun-
Reichen zu besteuern, um die Grundbedürfnisse der Armen zu dek- gen bietet oder unterstützt, die notwendig sind, damit alle Gesell-
ken. Diese distributive Art, Fragen ökonomischer Gerechtigkeit zu schaftsmitglieder ihre Fähigkeiten entwickeln und betätigen, ihre
formulieren, unterstellt, ohne das ausdrücklich zu erwähnen, eine Erfahrungen ausdrücken und an Entscheidungen, die ihr Handeln
Sozialstruktur mit der Gliederung in Reiche und Arme, ohne je zu und die Bedingungen ihres Handelns betreffen, mitwirken kön-
fragen, ob diese Struktur für sich betrachtet gerecht ist. nen. Ungerechtigkeit besteht in Unterdrückung und Beherrschung,
Erörterungen der Geschlechtergerechtigkeit, die sich auf die die oft distributive Ungleichheit oder soziale Benachteiligung, aber
Verteilung von Nutzen und Lasten zwischen Männern und Frauen auch kulturelle und beziehungsbezogene Kränkungen und Repres-
konzentrieren, nehmen die Institution der Ehe und die Institution sionen mit sich bringen.
der normativen Heterosexualität häufig als gegeben hin und be-
trachten sie als Rahmen, in dem die Verteilungen erfolgen. Okin
zum Beispiel schreibt so, als ob die wichtigste Frage der Geschlech- Was ist eigentlich falsch an der Ehe?
tergerechtigkeit die Verteilung der Aufgaben in Haushalt und Kin-
dererziehung und die Verteilung entlohnter Erwerbsarbeit zwi- Adrienne Rieh unterscheidet in ihrem Buch OfWoman Born zwi-
schen Mann und Frau in der Ehe wäre.8 Okin beabsichtigt sicher- schen der Institution der Mutterschaft als einer Struktur, die Frauen
lich keine heterosexistische Perspektive, und in der Tat verweist sie systematisch unterdrückt, einerseits und den Praktiken, der Freu-
de, der Liebe und dem Schmerz bestimmter Mütter in bestimmten
7 Siehe Young (1992).
8 Siehe Kymlicka (1991). 9 Siehe Möller Okin (1993).
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Kontexten andererseits.10 Sie verurteilt die Institution der Mutter- Für meine Argumentation ist der Punkt wichtig, daß die Ehe eine
schaft als repressiv und moralisch rückständig, besteht aber darauf, Idee der sexuellen Rechte beinhaltet, die Männer gegenüber Frau-
daß Mütter und die Praktiken mütterlicher Betreuung oft gut und en haben, wobei Männer anscheinend oft annehmen, sie hätten
nützlich sind und nicht angemessen unterstützt werden. diese Rechte auch in anderen Beziehungen als der Ehe.
Mit dem Begriff der Zwangsheterosexualität11 kann Rieh auf ei- Die Ehe ist ebenso eine ausschließende Institution, die Erzwin-
ne ähnliche Unterscheidung zwischen der Institution Ehe einerseits gung von Heterosexualität, insofern sie von den meisten rechtlich
und bestimmten Beziehungen der Liebe und Verpflichtung zwi- zuständigen Organen als die rechtsgültige Verbindung von Mann
schen bestimmten Männern und Frauen andererseits verweisen. Im und Frau definiert wird, wobei je ein männliches und ein weibli-
folgenden werde ich die Ansicht vertreten, daß die Institution der ches Individuum vorgeschrieben ist.13 Eine angebliche Rechtferti-
Ehe von Grund auf ungerecht ist und deshalb abgeschafft werden gung für diese Ausschließlichkeit lautet manchmal, daß die Ehe
sollte. Dieses Argument verurteilt keine langfristigen Beziehungen mit der Fortpflanzung verknüpft ist.14 Folglich definiert die Ehe
geschlechtlicher Liebe und affektiver Bindung zwischen Männern Die Familie, indem sie Rechte auf Elternschaft definiert und an-
und Frauen. Allerdings verfügen solche Beziehungen derzeit über dere aus dem Elternverhältnis ausschließt. Schließlich ist die Ehe
besondere Privilegien und haben eine Legitimität, die ihnen nicht mit Eigentum und wirtschaftlicher Stabilität verknüpft. Historisch
zukommen sollte. Im Laufe meiner weiteren Argumentation wird betrachtet war die Erhaltung oder Vermehrung des Eigentums eine
klarwerden, daß die Abschaffung der besonderen Privilegien der Hauptfunktion der Ehe.
Ehe nicht zum staatlichen Handlungsverzicht gegenüber Beziehun- Nun könnte man behaupten, daß die Definition und die Kontex-
gen führen soll, sondern zur Wiederherstellung der eigentlichen tualisierungen der Ehe, die ich soeben beschrieben habe, den sozia-
Bedeutung von Familie und damit zur Ausweitung von Privilegien, len Realitäten von fortgeschrittenen industrialisierten Gesellschaf-
welche die Ehe heute einigen Menschen gewährt, auf viele andere ten des Westens nicht mehr entsprechen. Die in diesem Einwand
Beziehungen. ausgedrückte Wahrheit ist ein Beweggrund für die Argumentation
Doch was genau ist die Ehe? Wenn wir der Debatte über die dieses Aufsatzes und zeugt von der Dringlichkeit einer Debatte
»Werte von Ehe und Familie« das Stichwort entnehmen, können über die »Werte von Ehe und Familie«. Bevor wir uns aber über
wir sagen, daß die Ehe den Grundstein für Die Familie bildet, so die Begriffe dieser Debatte verständigen, sollten wir uns darüber
wie diese Ordnung und Legitimität definiert. Die Institution der klarwerden, in welcher Weise die Institution Ehe im Unterschied
modernen Ehe verbindet die Regelung von Sexualität, Fortpflan- zu anderen tatsächlich gelebten Beziehungen ein bedeutender Re-
zung und Eigentum in normativer Hinsicht. Rechtlich betrachtet gulierungsmechanismus sozialer Normen bleibt. Mit anderen Wor-
bestand die Ehe immer in sexuellen Rechten des Mannes gegen- ten, sie begründet Ansehen und Legitimität, und dies gilt für alle
über der Frau oder, anders gesagt, in den privaten Rechten eines drei Gebiete - Sexualität, Fortpflanzung und Eigentum.
bestimmten Mannes, über das sexuelle Verhalten einer bestimmten Vergewaltigung in der Ehe wird von vielen Staaten in den USA
Frau zu gebieten. Die Institution der Ehe ist nach wie vor der Eck- noch heute nicht als eine Straftat anerkannt. Und selbst dort, wo
stein patriarchaler Macht. Wichtige feministische Abhandlungen Vergewaltigung in der Ehe kriminalisierbar ist, weigern sich viele
haben gezeigt, auf welche Weise Praktiken wie Prostitution, Por- Jurys, erzwungenen Sex in der Ehe - ja, nicht einmal in eheähn-
nographie, Vergewaltigung und sexuelle Belästigung entweder Teil
der Institution Ehe oder von ihr abgeleitet sind, und ich werde die 13 Colker (1991), S. 3 2 1 ®
entsprechenden Argumente hier nicht noch einmal wiederholen.12 1 4 Wie ich später noch erörtern werde, sind Gerichte selten der Ansicht, begründen
zu müssen, warum sie die Ehe auf heterosexuelle Paare beschränken. Gelegendich
10 Rieh (1979). tun sie dies jedoch. Im Fall Singer v. Hara erklärte das Gericht, der Zweck der Ehe
1 1 Rieh (1989). sei die Fortpflanzung, und dies rechtfertige die Voraussetzung von zwei Menschen
1 2 Siehe Pateman (1988). unterschiedlichen Geschlechts.
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liehen Beziehungen - als strafbare Handlung anzuerkennen. Diese einen Seite der Grenzlinie einzuordnen sind, und jene stigmatisiert,
Tatsachen zeigen, daß die Definition der Ehe als sexuelles Eigen- die auf der anderen Seite einzuordnen sind.
tumsrecht des Mannes an der Frau höchst lebendig ist. Selbst heute gewährt die Ehe zahlreiche Privilegien, was eigent-
Außerehelicher heterosexueller Sex ist in den letzten 25 Jahren lich keiner besonderen Erinnerung bedarf. Die Ehe bringt Privilegi-
sehr viel üblicher geworden und wird eher akzeptiert. Die Debatte en mit sich, die Besitz und Einkommen betreffen - Privilegien des
um Murphy Brown zeigt aber, daß die Normen der Fortpflanzung Eigentums und des Erbes, Leistungen der Krankenversicherung,
im allgemeinen noch immer durch die Ehe geregelt werden. Auch Kreditwürdigkeit, spezielle Steuervorteile, Leistungen der Sozi-
wenn ein außerhalb des Ehebundes geborenes Kind heute nicht alversicherung, Versorgung der Hinterbliebenen von Veteranen,
mehr wie früher amtlich als Bastard eingetragen wird, behandeln Privilegien der Einwanderung.17 Die Ehe überträgt normalerweise
die herrschenden Normen ein solches Verhalten nach wie vor als Rechte in bezug auf die Kinder, auch wenn die Privilegien bio-
abweichend oder pathologisch. Eine Frau kann immer noch ihren logischer Elternschaft diesen Vorteil manchmal zunichte machen.
Job verlieren oder anders dafür bestraft werden, daß sie allein ein Verheiratete Paare haben privilegierten Zugang zu Reproduktions-
Kind in die Welt setzt, und einige Gerichte werden ein derartiges technologien, und zwar sowohl zur Förderung als auch zur Ein-
Vorgehen in ihren Urteilen bestätigen.15 Unverheiratete heterose- schränkung der Fruchtbarkeit. Sie sind die bevorzugten Klienten
xuelle Paare, die seit längerem in einer sexuellen und emotionalen von Adoptionsagenturen. Die Ehe gibt den Menschen das Privi-
Beziehung leben, entschließen sich meistens zu heiraten, wenn sie leg, ihren in bürokratischen Einrichtungen wie Krankenhäusern,
Kinder haben möchten. Wenngleich es für eine solche Entschei- psychiatrischen Heimen, Altenheimen oder Gefängnissen unterge-
dung gute rechtliche Gründe gibt, darunter Regelungen für die brachten Ehepartner zu besuchen, ihn zu betreuen und eine Einver-
Kinder und für die Eltern im Verhältnis zu den Kindern für den Fall ständniserklärung für ihn oder sie zu unterzeichnen.
einer Auflösung der Beziehung, haftet dem Eintritt in die rechtlich Die Kehrseite der ehelichen Privilegien sind ihre repressiven
besiegelte Ehe aus Sicht der meisten Menschen zusätzlich eine Aura Wirkungen. Die Institution der Ehe privilegiert heterosexuelle
der Seriosität und Arriviertheit an. Paare und unterdrückt homosexuelle Paare, und dies ist sicherlich
Während die Ehe in den Gesellschaften des Westens heute nur eine ihre Hauptfunktionen.18 Bisher haben sich nur wenige Schwu-
noch für einige wenige ein formales Bündnis zur Sicherung des le oder Lesben dazu entschlossen, die Beschränkung der Ehe auf
Eigentums ist, führt das Eingehen einer Ehe und die Gründung heterosexuelle Paare juristisch anzufechten. Bis vor kurzem haben
einer Familie für diejenigen, die es sich leisten können, zu größeren US-Gerichte solche Anfechtungen routinemäßig abgewiesen. Häu-
Konsumaktivitäten. Die Ehe ist ideell auch weiterhin mit Eigen- fig geben die Gerichte gar keine Begründung dafür, weshalb sie
tum in der Form eines Eigenheims in Privatbesitz und weiteren Homosexuelle von den Rechten und Privilegien der Ehe ausschlie-
großen und teuren Anschaffungen verbunden.16 ßen, sondern machen nur geltend, daß die Ehe per definitionem die
Die Institution Ehe behält die wesentliche soziale Funktion, Verbindung eines Mannes und einer Frau sei.19 Die Entscheidung
Menschen und Beziehungen Legitimität zu verleihen. Die Ehe als des Obersten Gerichts von Hawaii aus dem Jahr 1993 war ein Mei-
Eckpfeiler für Die Familie steht daher für die Ordnung selbst, weil lenstein, weil dieses Gericht so argumentierte, daß eine Ächtung der
sie eine Grenze zieht. Sie sorgt für eine unzweideutige Abgrenzung gleichgeschlechtlichen Ehe das verfassungsmäßig verbürgte Recht
zwischen dem Legalen und dem Illegalen. Sie reproduziert diese auf ein ordentliches Verfahren verletze, und Gründe dafür anmahn-
Ordnung, indem sie denjenigen Privilegien gewährt, die auf der te, warum der Staat ein zwingendes Interesse daran hat, die Ehe auf
heterosexuelle Paare zu beschränken. Zum Zeitpunkt der Abfassung
15 Chambers v. Omaha Girls Club, 834 F. ind 697 (Sth cir. 1987).
1 6 Über die Funktion der Familie bei der Förderung des Konsums in fortgeschritte- 1 7 Siehe Minow (1991a).
nen kapitalistischen Gesellschaften ist sehr viel geschrieben worden. Eine interes- 18 Siehe Mohr (1988).
sante Diskussion findet sich bei L. Singer (1992), S.78f. 19 Buchanan (1985); Schwarzchild (1988); Minow (1991b).
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dieses Textes erwarteten die meisten Beobachter, daß ein erstinstanz- die auf Männer abzielt, damit diese Männer alleinstehende arme
liches Gericht nicht in der Lage sein werde, ein solches zwingendes Mütter heiraten und deren Kinder unterhalten können, sobald sie
Interesse zu begründen. Als Reaktion auf Befürchtungen, daß es in Lohn und Brot sind.20 Weil nahezu ein Viertel der Einelternfa-
einzelne Staaten geben könnte, die schwulen und lesbischen Paaren milien in Armut leben, vertritt William Galston die Ansicht, eine
die rechtmäßige Eheschließung erlauben wollen, hat der Kongreß am Kindeswohl orientierte Familienpolitik müsse die Ehe begün-
der Vereinigten Staaten einige der Privilegien erläutert, welche die stigen. Er fordert deshalb Gesetzesreformen, die eine Ehescheidung
Bundesregierung den verheirateten Heterosexuellen gewährt, wäh- erschweren würden.21
rend sie sie den gleichgeschlechtlichen Paaren vorenthält. Die hohe Quote außerehelicher Geburten und Scheidungen
Im Zeitalter von Murphy Brown ist es allerdings wichtig festzu- könnte durchaus ein Zeichen dafür sein, daß manche Männer
stellen, daß Haushalte von Lesben und Schwulen keineswegs die und Frauen ihre familiären Verpflichtungen und insbesondere ihre
einzigen Familien sind, die stigmatisiert und benachteiligt werden, Verpflichtungen gegenüber Kindern weniger ernst nehmen, als sie
indem man sie von den Privilegien der Ehe ausschließt. Im Jahr 1989 es sollten, und es vorziehen, ihren eigenen Wünschen zu folgen.
lebten fast 25 Prozent aller Kinder in den USA und mehr als die Hälfte Die wachsende Zahl alleinstehender Mütter spiegelt aber auch
aller afroamerikanischen Kinder bei nur einem Elternteil. Der Groß- die Weigerung vieler Frauen wider, Untreue, Unterordnung und
teil dieser Alleinerziehenden sind Frauen. Die Zahl der Haushalte Mißhandlung zu ertragen, womit sich in der Vergangenheit nur
alleinerziehender Mütter ist infolge zunehmender Ehescheidungen, allzu viele Ehefrauen abgefunden hatten. Es sieht so aus, als ob ein
zurückgegangener Wiederverheiratungen und mehr außerehelicher höherer Anteil unverheiratet bleibender Frauen oder geschiedener
Geburten rasch angestiegen. Vom statistischen Standpunkt aus ge- Mütter die Ehelosigkeit vorzögen, und das, obwohl sie mit nied-
sehen, sind Familien, in denen eine Frau das Familienoberhaupt ist, rigen Löhnen, sozialstaatlichen Bürokratien, den Schwierigkeiten
inzwischen normal. allein getragener Elternlast und der Stigmatisierung zurechtkom-
Aber weder in der Sozialpolitik noch in den sozialen Einstellun- men müssen.22 Es ist natürlich ein Anschlag auf die individuelle
gen oder in der Gesellschaftstheorie werden von Frauen geführte Freiheit, Müttern die Botschaft zu vermitteln, sie sollten heiraten
Haushalte als legitim angesehen und behandelt. Eine Frau, die mit und verheiratet bleiben, ob ihnen das nun gefalle oder nicht, oder
ihren Kindern freiwillig oder unfreiwillig allein lebt, muß sich nicht sie müßten mit Armut, Stigmatisierung und in manchen Fällen
nur mit Arbeitgebern und Verwaltungsbürokratien auseinanderset- sogar Bestrafung rechnen.
zen, die davon ausgehen, daß Eltern zu zweit sind und sich gegen- Die Institution der Ehe führt nicht zuletzt auch zu einer Ten-
seitig helfen, sondern muß auch mit einem gravierenden Stigma denz, Unverheiratete zu unterdrücken, die einen gemeinsamen
fertig werden. Sowohl geschiedene Mütter als auch solche, die nie Hausstand einrichten möchten oder sonstwie als eine Familie
verheiratet waren, werden bei der Arbeitssuche, bei der Kreditauf- betrachtet werden wollen. Freunde oder Verwandte, die einen ge-
nahme und auf dem Wohnungsmarkt häufig diskriminiert. meinsamen Haushalt gründen wollen, werden oft durch Nutzungs-
Sogar in den Kreisen derer, die sich selbst als Liberale bezeich- verordnungen daran gehindert oder durch Wohnungsgrundrisse,
nen, wird die Mutterschaft alleinstehender Frauen in der Diskus- die eine Kleinfamilie unterstellen und erzwingen, entmutigt, dies
sion über staatliche Sozialpolitik als eine Anomalie und soziale Pa- zu tun. Versuche, Menschen mit Entwicklungsstörungen oder mit
thologie behandelt. In politischen Diskussionen teilen Liberale und emotionalen Behinderungen die Heimunterbringung zu ersparen
Konservative oft die Einschätzung, die beste Lösung für Armut,
Überlastung und Diskriminierung alleinstehender Mütter bestehe 20 Wilson (1986).
21 Galston (1991), S. 284fr. In meinem Aufsatz »Mothers, Citizenship and Indepen-
darin, daß sie heiraten oder verheiratet bleiben. Das ansonsten fort-
dence: A Critique of Pure Family Values« (Young 1997, Kap. 6) entwickele ich
schrittliche sozialdemokratische Programm zur Armutsbekämpfung Argumente gegen Galstons Position.
von William Julius Wilson plädiert für eine Arbeitsplatzpolitik, 22 Zit. in: Dizard und Gadlin (1990), S.i43f.
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und ihnen ein selbständiges Leben zu ermöglichen, sind häufig an Rechtsreform und Kulturrevolution in Familien
ebendiesem Vorurteil, was eine richtige Familie sei, gescheitert. Vier
leicht retardierte Männer in einem gemeinsamen Haushalt mögen Jedes Vorhaben einer Definition läuft Gefahr, gleichzeitig zuviel
Bindungen wechselseitigen Beistands und Kameradschaft entwik- oder zuwenig einzuschließen - einige Aspekte der sozialen Realität
kelt haben, doch Nutzungsverordnungen gegen »Wohngruppen« auszuschließen, die man einschließen möchte, oder einige Aspekte
können ihr Zusammenleben verhindern. Das Gesetz für Americans einzuschließen, die man eigentlich ausschließen möchte. Das ist
with Disabilities von 1990 hat bei solchen Hindernissen letztlich für insbesondere bei der Definition der Familie so, wo wir den Begriff
einen gewissen Ausgleich gesorgt. erweitern möchten, so daß er über die heterosexuelle Verbindung
Besuchsrechte und Steuervorteile gelten meist nicht für Großel- in der gesetzlich geschlossenen Ehe hinausgeht, ihn jedoch nicht so
tern, Brüder und Schwestern, für Cousinen und Cousins oder für weit fassen wollen, daß jede erdenkliche Beziehung familial wird.
nicht verwandte Haushaltsmitglieder, die finanzielle Mittel mitein- Mit Rücksicht auf diese Probleme sollten wir bei der Neudefinition
ander teilen und füreinander sorgen. Diese Tatsache privilegiert die der Familie auf eine behelfsmäßige Charakterisierung von Merk-
Ehe und die Kleinfamilie zu Ungunsten von Lebensformen rassi- malen abzielen, von denen einige, aber nicht alle vorhanden sein
scher und ethnischer Gruppen, in denen die Fürsorge der Großfa- müssen, damit eine Beziehung als Familie bezeichnet werden kann.
milie die Norm ist.23 Wir brauchen ein Familienkonzept, das die »Familienähnlichkei-
Ich fasse zusammen, daß die Institution der Ehe hoffnungs- ten« zwischen Familien versteht, das heißt berücksichtigt, daß es
los ungerecht ist. Ihre ursprüngliche und derzeitige Bedeutung bei Familien zwar überlappende, aber nicht immer allen gemeinsa-
besteht darin, die Macht des Mannes im Verhältnis zu Frauen zu me Merkmale gibt und daß Familien vielleicht sogar Abstufungen
konsolidieren und mit einer willkürlichen Grenzziehung einen der Merkmalsdichte zulassen.25
Bereich legitimer Beziehungen zu erzeugen. Sie hatte die histori- In diesem Sinne definiere ich eine Familie als Menschen, die zu-
sche Funktion, Frauen als ein Mittel einzusetzen, um Bündnisse sammenleben und/oder Ressourcen teilen, welche als Mittel zum
zwischen Männern zu schmieden und deren »Abstammungslinie« Leben und zum Wohlbefinden nötig sind; die verpflichtet sind, sich
fortzusetzen. Heute, da diese Funktionen abgeschwächt, aber nicht nach besten Kräften um die physischen und emotionalen Bedürfnis-
vollends verschwunden sind, besteht die Ungerechtigkeit der Ehe se der anderen zu kümmern; die sich selbst in einer verhältnismäßig
hauptsächlich in ihrer diskriminierenden Gewährung von Privile- langfristigen, wenn nicht gar dauerhaften Beziehung sehen; und die
gien. Die Ehe privilegiert bestimmte Lebensweisen und verhindert, sich als eine Familie auffassen. Familie sind diejenigen Menschen,
stigmatisiert oder benachteiligt andere Lebensweisen. Ein Grund- die sich um einen kümmern, wenn man krank ist, und für die man
prinzip liberaler Gerechtigkeit besagt, daß die gesellschaftlichen da ist, wenn sie krank sind. Familienmitglieder sollten sich an die
Normen Rechte und Pflichten im Austausch, in Beziehungen und Geburtstage der anderen erinnern, und sie sind diejenigen, bei de-
institutionellen Strukturen regeln sollten, ohne dabei bestimmte nen wir unsere Sorgen und Nöte loswerden. Familie bedeutet für
Lebensweisen zu privilegieren. Die Institution der Ehe verletzt die- die Mitglieder Rückhalt, aber auch persönlichen Einsatz und Ver-
ses Prinzip und hat für viele Menschen repressive und nachteili- pflichtung: Familienmitglieder stellen Forderungen aneinander, die
ge Folgen. Wenn wir bestimmte Beziehungen oder Lebensweisen sie an andere nicht stellen. Ich bin verpflichtet, das Leben meiner
nicht privilegieren wollen, muß das, was es heißt, eine Familie zu Familienmitglieder in meine Überlegungen einzubeziehen, wenn
sein, neu definiert und pluraler gedacht werden.24 ich über einen beruflichen Stellenwechsel nachdenke, ich bin hin-
gegen nicht verpflichtet, das Leben anderer zu berücksichtigen.
23 Siehe Vega (1990).
24 Siehe Minow (1991b). Minow argumentiert, die Freiheit, in selbstgewählten Fa-
milienformen zu leben, solle man sich im Rechtsdenken in Analogie zur freien 2 5 ich danke Drew Leder für die Anregung, daß Familien »Familienähnlichkeiten«
Religionsausübung vorstellen. aufweisen.
20 7
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Ich kann mir eine Gesellschaft ohne Familien in diesem Sinne re armen Familien tun, würde die umgehende Abschaffung einer
nicht vorstellen. Kinder gedeihen in Familien der beschriebenen jeden rechtlichen Definition, eines jeden Rechtsverhältnisses und
Form, nämlich einer verhältnismäßig kleinen Gruppe einander einer jeden richterlichen Beurteilung von Familienbeziehungen aus
verpflichteter, vertrauter Personen, die ihnen helfen, ein Ichgefühl mehreren Gründen nicht der Gerechtigkeit dienen.
zu entwickeln. Viele Erwachsene treffen die Wahl, zumindest ei- Das Recht muß die Zwiespälte, Probleme und Konflikte, die
nen Teil ihres Lebens nicht in derart definierten Familien zu leben, zwischen Familienmitgliedern oder ehemaligen Familienmitglie-
und ziehen es vor, allein oder in eher vage definierten Kollektiven dern auftreten können, definieren und bereit sein, Streitfälle zu
zu leben. Zu anderen Zeiten ihres Lebens wollen die meisten Er- entscheiden. Die wichtigsten solcher Ansprüche und Pflichten
wachsenen aus demselben Grund eine Familie, aus dem Kinder sie betreffen Kinder. Der Staat und das Recht müssen für genau den
brauchen: Sie verhilft ihnen zu einem verwurzelten Ichgefühl und Fall gesetzlichen Schutz für Kinder vorsehen, in dem bestimmte
ermöglicht ihnen die gegenseitige praktische Fürsorge. Erwachsene Kinder nicht schützen oder über ihr Verhältnis zu den
Die durch die Institution der Ehe definierte Familie verbindet Kindern streiten. Die rechtliche Regelung von Familien ist auch
normativ eine Reihe von Elementen, die dekonstruiert werden nötig, um Erwachsene zu schützen, die in den Familien verwund-
kann und sollte. Die Familie umfaßt gemäß jener Konzeption ein bar sind, entweder weil sie Entscheidungen getroffen haben, die
heterosexuelles Ehepaar, das als Elternpaar mit seinen genetisch sie wirtschaftlich abhängig machen, oder weil sie alt, krank oder
biologischen Kindern zusammenlebt und verfügbare Einkünfte behindert sind. Wie ich weiter unten noch erörtern werde, brau-
miteinander teilt. Eine Rekonzeptualisierung der Familie muß die- chen Familien für das Gedeihen ihrer Mitglieder oft sogar dann
se Verkettung von Implikationen zerlegen. Ich will den Standpunkt verschiedene Formen staatlicher Unterstützung und Anerkennung,
vertreten, daß die meisten Rechte, Privilegien und Verpflichtungen, wenn weder Konflikte noch Vernachlässigung eine Rolle spielen.
die verheirateten Paaren und biologischen Eltern nach derzeitigem Selbst wenn der Staat zwischen sich und den Familien eine deut-
Recht zufallen, voneinander getrennt und in rechtlich verallgemei- liche Grenze zieht, regelt er Martha Minow zufolge beide Seiten
nerten Formen auf andere Beziehungstypen ausgedehnt werden der Grenze. Die Abschaffung der staatlichen Regulierung wird der
sollten. Bevor ich dieses Argument ausführe, möchte ich allerdings Freiheit der Familien nicht förderlich sein. Statt dessen brauchen
kurz auf einige andere Ansätze zur Rechtsreform von Familien- wir Rechtsnormen, die in der Lage sind, Rechte so zu konzipieren,
beziehungen eingehen. Zu diesen Ansätzen zählt zum einen der daß sie dem Kontext besonderer Beziehungen Rechnung tragen.26
Vorschlag, das Recht aus Beziehungen herauszuhalten und Privat- Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, eine solche Partikularität
verträge für Beziehungen zu fördern, und zum anderen ein funk- sei juristisch am besten zu gewährleisten, wenn man die Menschen
tionaler Ansatz beim Familienrecht. ermuntere, Privatverträge abzuschließen, in denen sie die Bedin-
Aus Argumenten, wie ich sie hier genannt habe, schließen man- gungen ihrer Beziehung, so wie sie diese definieren wollen, genaue-
che, die Gerechtigkeit verlange, daß man keinerlei Lebensweisen stens beschreiben. Ich meine zwar, daß Individuen über das, was sie
privilegiere, daß sich das Recht und der Staat mit seiner Politik aus für ihre Privatangelegenheiten halten, vertragliche Vereinbarungen
der Definition und Regelung von Familienbeziehungen vollkom- treffen können sollten, falls sie dies tun möchten - und diese Mög-
men zurückziehen sollten. Auch ich selbst war schon zu diesem lichkeit ist ihnen heute in einem beträchtlichen Umfang bereits
Schluß gelangt. Wenn Familien privat und persönlich sind und der gegeben - , doch ein privatvertraglicher Ansatz für eine Reform des
Staat und das Recht allgemein, öffentlich und im Kern unpersön- Familienrechts birgt mehrere Probleme, die sowohl praktischer als
lich sind, dann scheint die einfache Logik zu diktieren, daß beide auch philosophischer Natur sind.
nichts miteinander zu tun haben sollten. Obwohl es Gründe gibt Die Fähigkeit, die Bedingungen eines Privatvertrags für enge
zu fordern, daß sich staatliche Einrichtungen weniger aufdringlich
einmischen sollten, als sie es gegenwärtig bei einigen, insbesonde- 26 Minow (1990), S. 268-283.
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persönliche Beziehungen zu formulieren, setzt ein Klassenprivileg heit die Familienbeziehungen im Rahmen einer Ehe privilegiert,
voraus. Viele Menschen können sich die Dienste eines Rechtsan- ist der funktionale Ansatz. Beziehungen, die im Leben der Men-
walts für solche Zwecke nicht leisten; viele Menschen verstehen schen Familienfünktion übernehmen, können sich so herausbilden
auch nicht genug von der juristischen Ausdrucksweise und den oder entwickeln, daß sie den normalen Regeln einer Familie nicht
juristischen Möglichkeiten, um sich darüber klar zu sein, was sie entsprechen; sie sollten aber dennoch anerkannt werden, um den
in einen solchen Vertrag aufnehmen würden. Privatverträge, die Individuen im Falle von Streitigkeiten oder Mittellosigkeit gerecht
bestimmte Bedingungen enger persönlicher Beziehungen festle- werden zu können. Gerichte und andere staatliche Agenturen soll-
gen, können außerdem nur für Erwachsene gelten; Beziehungen ten daher in der Lage sein, nach allgemeinen Kriterien für solche
zwischen Erwachsenen und Kindern müssen mit anderen Mitteln Familienfunktionen vorzugehen, um bestimmte Rechte und Pflich-
geregelt werden. ten von Familien festzulegen. Ich denke, ebenso wie bei Famili-
Wichtiger noch ist vielleicht, daß enge persönliche Beziehungen enverträgen sollte im rechtlichen und politischen Denken genug
zu entwicklungsoffen und zu facettenreich sind, um Gegenstand Raum sein für eine solche funktionale Vorstellung von Familie.
vertraglicher Vereinbarungen sein zu können. Menschen, die zu- Ein funktionaler Ansatz zur Familie kann jedoch formale Regeln,
sammenleben, die sich verpflichten, füreinander zu sorgen, die ge- die der Abgrenzung familialer Rechte und Pflichten dienen, und
meinsam Kinder aufziehen, haben eine kompliziertere, vielseitigere formale Mittel zur Feststellung einer Familienmitgliedschaft nicht
und weniger vorhersagbare Beziehung als diejenigen zum Beispiel, ersetzen. Es wäre kostspielig und möglicherweise aufdringlich,
die einen geschäftlichen Vertrag abschließen. In vielen Situationen würde man sich allein auf ein funktionales Verständnis der Familie
ist es unmöglich vorauszusagen, wie es mit ihrer Lebenssituation, stützen, da jeder Fall, der vor Gericht käme oder die Behörden be-
ihren materiellen Voraussetzungen, ihren Gefühlen oder ihrem schäftigte, eine Untersuchung der tatsächlichen Natur der jeweili-
Verhältnis zu den Kindern in zehn Jahren aussehen wird. Diese gen von Intimität geprägten Beziehung erforderlich machen würde.
Unvorhersehbarkeit und Unbeständigkeit erklärt zum Teil, warum Es würde auch potentielle Kontrahenten zu sehr der Interpretation
Gerichte Privatverträge, die lebenspartnerschaftliche Beziehungen eines bestimmten Beamten ausliefern, dem die Ausdeutung von Fa-
betreffen, manchmal für nichtig erklären. milienfunktionen obliegt.
Dieser Punkt führt zu einem philosophischen Einwand, dem Die Reform des Familienrechts, wie ich sie mir vorstelle, würde
zufolge der Rahmen des Vertragsdenkens einfach unangemessen, allgemeine Regeln und Maßstäbe für familiale Beziehungen spezi-
ja sogar unmoralisch ist, wenn er auf enge persönliche Beziehun- fizieren, gleichzeitig aber die gesetzlichen Pflichten und Privilegien
gen angewendet wird. Während der Vertrag Beziehungen als Er- dekonstruieren, die gegenwärtig mit der Ehe verbunden sind. Man
gebnis ausdrücklicher und freiwilliger Vereinbarung auffaßt, sind muß die Kette der Implikationen sprengen, die mit dem Recht von
Familienbeziehungen oft nicht gewählt. Und selbst dort, wo eine Heterosexuellen auf Geschlechtsverkehr anfängt, dies mit dem ge-
Beziehung irgendwann frei gewählt worden war, entwickeln sich in meinsamem Eigentum, mit geteilten Einkünften und dem Recht
Familien oftmals Elemente von Verletzlichkeit, Abhängigkeit oder erwartbaren Unterhalts verknüpft und zudem sexuelle Rechte mit
Verpflichtung, die nicht ausdrücklich gewählt wurden. Darüber ausschließlichen Rechten und ausschließlichen Pflichten in bezug
hinaus ist der Rahmen vertraglicher Beziehungen nur vor dem Hin- auf Bünder verbindet. Das heißt, die Fragen der Regelung sexueller
tergrund grundlegenderer Arten von sozialen Bindungen möglich, Rechte, von Eigentum und Einkünften, von Fortpflanzung und El-
zu denen Familien als eine wichtige Form gehören.27 terneigenschaft sollten stärker voneinander getrennt werden.
Ein dritter Ansatz, der im Familienrecht als Alternative zum Wie ich bereits erörtert habe, beinhaltet die Institution der Ehe
geltenden Recht diskutiert wird, das mit seiner Voreingenommen- nach wie vor die Annahme, ein Mann habe sexuelle Rechte an einer
Frau. Foucault vertritt die These, daß eine wesentliche Bedeutung
27 Siehe Pateman (1984). der modernen Familie in der Regelung von Sexualität und in der
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Definition sexueller Rechte liegt. Die Sexualität ist allerdings ein oder sein sollten, kann darüber hinaus die Bildung, Entfaltung oder
Gebiet, aus dem sich Staat und Recht in der Tat heraushalten soll- Anerkennung anderer Familienformen verhindern, die hilfreich
ten. Die Idee sexueller Rechte sollte unsinnig werden. Niemand oder erwünscht sein könnten, wie in meinem Beispiel der geistig
sollte sich jemals in einer Lage befinden, in der er oder sie kein behinderten Männer. Schließlich habe ich den leisen Verdacht, den
Recht hat, Sex abzulehnen, gleichgültig in welcher Art von Bezie- ich hier nicht weiter stützen kann, daß die patriarchalische An-
hung die Individuen zueinander stehen. Obwohl geschlechtliche nahme von sexuellen Rechten in der Familie eine Ursache für den
Liebe ein wichtiges Element von Familienbeziehungen sein kann, sexuellen Kindesmißbrauch ist.29
sollten Regeln und Standards des Familienrechts nichts über Se- Das Konzept häuslicher Partnerschaft war ein kreativer Vor-
xualität unterstellen, und sie sollten ganz gewiß nicht irgendwelche schlag, um etwas gegen den Ausschluß schwuler Männer und les-
Nachweise sexueller Intimität verlangen. Geschlechtliche Liebe ist bischer Frauen aus den Vorteilen der Ehe zu unternehmen, und
weder eine notwendige noch eine hinreichende Bedingung für Fa- manche Städte und Privatfirmen haben das Konzept in begrenz-
milien.28 tem Umfang übernommen. Mein Vorschlag wäre, daß man zum
Die rechtliche und kulturelle Abschaffung der Idee sexueller Zweck der Dekonstruktion der Ehe ein Konzept wie die häusliche
Rechte und die formale Trennung von Sex und Familie wären ein Partnerschaft universalisiert. Erwachsene sollten sich durch einen
echter revolutionärer Wandel. Die patriarchalische Idee, Männer einfachen Vorgang gesetzlicher Registrierung als häusliche Partner
hätten sexuelle Rechte gegenüber Frauen, mit denen sie enge Bezie- eintragen lassen können. Ich sehe nicht einmal einen Grund dafür,
hungen unterhalten, macht das Justizsystem methodisch voreinge- warum es nur zwei Erwachsenen erlaubt sein sollte, sich gemeinsam
nommen gegen die Opfer einer Vergewaltigung im Bekanntenkreis als Partner einzutragen, obgleich es wegen der staatlichen Sozial-
oder sogar gegen Opfer sexueller Belästigung. Die Annahme, Fa- leistungen oder der Arbeitgeberleistungen, die aufgrund der Part-
milie bedeute, daß ein Mitglied des Haushalts mit einem anderen nerschaft gewährt werden, sinnvoll wäre, die Anzahl der Personen
Mitglied des Haushalts regelmäßig geschlechtlich verkehrt, bleibt zu beschränken, die sich zusammen als häusliche Partner eintragen
stark. Die Propagierung von schwulen oder lesbischen Haushalten dürfen.
als Familien trägt meist wenig dazu bei, die Annahme in Frage zu In der universalisierten und erweiterten Form, wie ich sie mir
stellen, Sex sei eine notwendige Bedingung für Familien, obgleich vorstelle, würde die häusliche Partnerschaft Träger aller Rechte und
es nicht ungewöhnlich ist, wenn der häusliche Partner eines schwu- Pflichten der Ehe sein, die mit Eigentum, Unterhalt, Einkünften
len Mannes oder einer lesbischen Frau eine andere Person ist als der und Besuchsrechten für geschlossene Anstalten zu tun haben - das
jeweilige Partner im aktuellen Liebesverhältnis. Die Unterstellung, Recht des gemeinsamen Eigentums, das Recht zu erben, die Auf-
sexuelle Aktivität sei ein wesentliches Attribut von Familien, dis- nahme in Krankenversicherungs- und Lebensversicherungspolicen;
qualifiziert Haushaltsformen wie beispielsweise Einelternfamilien Einwanderungsrechte; Besuchsrechte für Partner, die in Kranken-
als Familien, obwohl sie von vielen Menschen als Familien gelebt häusern oder Gefängnissen untergebracht sind; das Recht, bei Be-
werden. Die Unterstellung, daß Familienbeziehungen sexuell sind handlungsoptionen angehört zu werden; das Recht, Einverständ-
29 Siehe Foucault (1992), S. 131: »Aber in einer Gesellschaft wie der unseren, in der
28 Vergleiche Alberston Fineman (1995). Fineman ist der Ansicht, man sollte Famili- die Familie der aktivste Brennpunkt der Sexualität ist und in der die Anforderun-
enrecht und Sexualität voneinander trennen. Anders als ich kommt sie jedoch zu gen der Sexualität die Existenz der Familie erhalten und verlängern, nimmt der
dem Schluß, dies bedeute die Abschaffung jedweder Regelung von Beziehungen Inzest aus ganz anderen Gründen und auf ganz andere Weise einen zentralen Platz
unter Erwachsenen mit Ausnahme der vertraglichen Regelung. Das Familien- ein: hier wird er ständig bemüht und abgewehrt, gefürchtet und herbeigerufen
recht würde sie nur in der Form von Schutzrechten für Kinder und ihre Bezugs- - unheimliches Geheimnis und unerläßliches Bindeglied. Sofern die Familie als
personen beibehalten wollen. Ich meine, die rechtliche Absicherung kann auch Allianzdispositiv funktioniert, ist der Inzest streng verboten, und gleichzeitig wird
für Erwachsene erforderlich sein, die ihr Leben teilen, ob sie nun eine sexuelle er ständig in Anspruch genommen, damit die Familie der Dauerbrennpunkt für
Beziehung haben oder nicht. die Sexualität bleibt.«
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niserklärungen zu unterzeichnen; und das Recht, Unterhaltszah- hung zu einem Kind wahrnehmen können, in neuer und einzig-
lungen zu beanspruchen, wenn die Partnerschaft aufgelöst wird. artiger Form gestellt. Zudem wurde diese Frage durch steigende
Die häusliche Partnerschaft sollte jedoch keine sexuellen Rechte Scheidungs- und Wiederverheiratungszahlen unausweichlich. Die
implizieren. Denn so wie heterosexuelle Liebespaare und homo- seelische Verletzung und Verwirrung, die eine Scheidung bei vie-
sexuelle Liebespaare den Wunsch haben können, häusliche Part- len Kindern hervorruft, kann keine Rechtsform verhindern. Wenn
nerbeziehungen einzugehen, können auch Schwestern oder andere allerdings ein Kind zu einer erwachsenen Person, die neu in den
nicht verwandte Personen den Wunsch hegen, auf Dauer in einem Haushalt kommt und die Verpflichtung der Elternrolle zu über-
gemeinsamen Haushalt zu leben, ohne jedoch eine sexuelle Bezie- nehmen wünscht, eine häusliche Beziehung entwickelt, dann sollte
hung zu unterhalten. dieser Erwachsene rechtlich in die Elternstelle einrücken können,
Das Familienrecht sollte natürlich speziell auf die Zwecke zuge- ohne daß das Kind ein Rechtsverhältnis zu einem früheren Eltern-
schnitten sein, Kinder zu fördern und zu schützen. Gegenwärtig teil aufgeben muß.
sind reproduktive Rechte und Elternrechte an die Ehe gebunden, Aber worin besteht dieses Rechtsverhältnis eines Elternteils? Ob-
und auch diese Verknüpfung sollte dekonstruiert werden. Alle gleich der rechtliche Status von Eltern bestimmte Rechte umfaßt,
Erwachsenen sollten gleichen Zugang zur Reproduktionsmedizin die dem Ermessen der Gerichte obliegen und daher fallweise variie-
haben, wie immer ihre persönlichen Lebensumstände aussehen ren können - Zuständigkeit für die medizinische Versorgung oder
mögen. Die Adoptionsagenturen sollten keine Personenkategorie die religiöse Erziehung, Sorgerecht oder Besuchsrecht für Eltern,
benachteiligen dürfen. Zum Zeitpunkt der Geburt eines Kindes die nicht das Hauptsorgerecht haben usw. - , denke ich, daß El-
werden sich bestimmte Menschen zu Eltern dieses Kindes erklären, ternschaft in erster Linie Verantwortung beinhaltet. Sich selbst zu
oder das Kind wird zur Adoption freigegeben. Normalerweise wird einem Elternteil zu erklären bedeutet das Versprechen abzugeben,
die biologische Mutter des Kindes eine dieser Personen sein, doch ein Kind sowohl materiell wie emotional nach besten Kräften zu
die bloße Tatsache des Gebärens sollte sie nicht schon zu einem El- unterstützen, bis das Kind das Erwachsenenalter erreicht hat. Die
ternteil machen. Und obwohl ich zu der Meinung neige, daß etwas Idee, genetische Väter sollten gezwungen werden, die Kinder zu
getan werden sollte, um Männer als Erzeuger für die Folgen ihrer unterhalten, die von ihnen abstammen, lehne ich ab. Väter und
sexuellen Aktivität stärker zur Verantwortung zu ziehen, sollte die Mütter hingegen, die die Verpflichtung der Elternrolle übernom-
bloße Tatsache, genetischer Vater eines Kindes zu sein, dieser Per- men haben, indem sie sich zu Eltern erklärt haben, können sogar
son nicht automatisch Rechte und Pflichten in bezug auf das Kind dann zur Unterhaltszahlung herangezogen werden, wenn sie sich
geben.30 Denn dies könnte eine Mutter dazu zwingen, Kontakt zu von dem anderen Elternteil (den anderen Elternteilen) trennen und
einem Mann aufrechtzuerhalten, mit dem sie keine Bekanntschaft den Haushalt verlassen. Der Gedanke von Scheidungsgrundsätzen,
mehr wünscht. Und entgegen den derzeit herrschenden Rechts- das Kindeswohl an die erste Stelle zu setzen, ist in dieser Hinsicht
normen sollte es auch möglich sein, daß das Geschlecht derer, die ganz vernünftig. Die Gerichte sollten die Festsetzung des Kindes-
erklärtermaßen Eltern eines Kindes sind, keine Rolle spielt.31 unterhalts weitgehend danach bemessen, was das Kind zu einem
Das Recht sollte auch nicht, wie es das heute tut, unterstellen, anständigen Leben braucht. Eine energischere Durchsetzung der
ein Kind könne nur zwei Eltern haben. Die Kontroversen um die Verpflichtung zum Kindesunterhalt nach einer Scheidung, als sie
Rechte von Leihmüttern, die vertraglich eingewilligt haben, ein derzeit praktiziert wird, zum Beispiel mit Hilfe der Pfändung von
Kind für ein anderes Paar auszutragen, haben die Frage, ob mehr Gehaltsschecks, ist mit einer universelleren und gerechteren Fami-
als zwei Menschen Elternrechte und Elternpflichten in der Bezie- lienpolitik durchaus vereinbar.
Wenn die Gerichte konsequent zugunsten von Unterhaltszah-
30 Siehe Shanley (1997). lungen entscheiden würden, welche die Bedürfnisse des Kindes
31 Siehe Polikoff (1990). erstrangig behandeln, käme es jedoch manchmal zur übergebühr-
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liehen Belastung von Elternteilen, die den Haushalt verlassen ha- bereits erwähnte, sollten Erwachsene mit Behinderungen in die La-
ben - am häufigsten davon betroffen wären Männer. Aufgrund der ge versetzt werden, eigenständig Familien zu bilden, wenn sie dies
materiellen Einschränkungen wären sie nicht in der Lage, eine neue wünschen, so daß sie außerhalb ihres Elternhauses und außerhalb
Familie zu gründen oder andere Lebensentscheidungen zu treffen. spezieller Einrichtungen leben können. Aber sie brauchen in ihren
Aus diesen und weiteren Gründen sollte das Kindeswohl in einem familiären Umgebungen oft finanzielle und soziale Hilfen, die an-
entscheidenden Sinne aus der Konstruktion mit der Ehe heraus- dere nicht benötigen. Menschen mit Behinderungen zur Gründung
gelöst werden: Wir sollten nicht davon ausgehen, daß ein verhei- von Familien zu befähigen schließt ein, daß sie imstande sind, die
ratetes Paar ganz allein für das Wohl seiner biologischen Kinder Elternrolle zu übernehmen. Vielleicht sind nicht alle Behinderten
verantwortlich ist. Wenn Kinder die Zukunft einer Gesellschaft in der Lage, Kinder aufzuziehen, und eine große Zahl hat gar nicht
sind, haben sämtliche erwachsenen Mitglieder einer Gesellschaft den Wunsch, es zu versuchen. Viele Behinderte können jedoch bei
eine gewisse Verantwortung, alle Kinder zu unterstützen. Obwohl ausreichender finanzieller und sozialer Unterstützung gute Eltern
die selbsterklärten Eltern die Hauptverantwortung für die mate- sein.32
rielle und emotionale Unterstützung der Kinder zu tragen haben, Wie ich an anderer Stelle noch ausführlicher diskutieren werde,
benötigen viele, wenn nicht sogar alle Eltern umfassende soziale verlangt es die Gerechtigkeit, Familien zu respektieren, in denen
Unterstützung bei der Erfüllung dieser Pflichten, und Kinderlose eine Frau die Elternstelle allein ausfüllt. Kinder alleinerziehender
sollten zu solchen Unterstützungsleistungen in erheblichem Um- Mütter leben mit größerer Wahrscheinlichkeit in Armut als andere
fang beitragen. Kinder. Die Kinder eines alleinerziehenden Elternteils entwickeln
Eine gerechte, pluralistische Familienpolitik würde nicht darin jedoch häufig früher als andere Kinder ein Gefühl für Selbständig-
bestehen, daß sich der Staat neutral verhält, indem er alle Famili- keit und ein kameradschaftlicheres Verhältnis zu ihrer Bezugsper-
enformen ungeachtet ihrer Beschaffenheit nach denselben Regeln son. Elternaufgaben allein zu meistern ist allerdings schwieriger als
behandelt. Er würde vielmehr einige besonders bedürftige Familien mit einem Partner oder Partnern, was zu Zeitmangel und anderen
von anderen unterscheiden mit dem Ziel, ihnen genau die Unter- Belastungen führen kann, die das Leben der Kinder weniger fried-
stützung geben zu können, die sie dann ebenso gedeihen läßt wie lich und ausgeglichen gestalten, als wenn es zu Hause mehr als ei-
andere Familien. Im Prinzip brauchen alle Familien soziale Unter- nen Erwachsenen geben würde.
stützung, damit sie gedeihen können und geschätzt werden, einige Eine gerechte und liberale Gesellschaft würde dafür sorgen, daß
allerdings etwas mehr als andere. Abschließend werde ich die Frage es Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs und der Empfäng-
einer solchen sozialen Unterstützung für zwei Kategorien von Fa- nisverhütung gibt und diese Möglichkeiten so zugänglich sind, daß
milien kurz erörtern: für Familien von Behinderten und für Ein- jedes Kind, das von einer Frau zur Welt gebracht wird, ein gewolltes
elternfamilien. Kind ist. Wenn wir in den Vereinigten Staaten eine solche Sozial-
Selbst nach der Verabschiedung des Americans with Disabilities politik hätten, gäbe es wahrscheinlich bei weitem weniger alleiner-
Act muß unsere Gesellschaft noch einen weiten Weg zurücklegen, ziehende Mütter. Trotzdem würde es immer noch viele geben, weil
bis sie Menschen mit Behinderung zu würdigen weiß. Die Eltern sich manche Frauen dafür entscheiden, ihr Kind allein in die Welt
behinderter Kinder bedürfen oft umfangreicher finanzieller und so- zu setzen, und weil sich Eltern weiterhin scheiden lassen werden.
zialer Unterstützung, damit es ihrer Familie gutgeht; obwohl diesen Die soziale Gerechtigkeit verlangt, daß auch Einelternfamilien
Eltern heute manche finanzielle und soziale Unterstützung gewährt geschätzt und anerkannt werden und die soziale Unterstützung
wird, haben sie nur allzuhäufig das Gefühl, daß sie um jeden Cent bekommen, die sie zu ihrem Gedeihen benötigen. Zu den unter-
kämpfen müssen, daß sie mit den Anbietern von Dienstleistungen stützenden sozialpolitischen Strategien gehören Pläne zur Herstel-
um die Art der Dienstleistungen streiten müssen und daß das Maß
der gewährten Unterstützung insgesamt unzureichend ist. Wie ich 32 Siehe Asch und Fine (1990).
20 7
340
lung von Lohngerechtigkeit, um Frauenlöhne an Männerlöhne Bibliographie
anzugleichen, umfassende Hilfe zum Lebensunterhalt und eine er-
heblich verbesserte Subventionierung der Kinderbetreuung, zu der
auch Betreuungsangebote gehören müssen, die es Teenagermüttern Ackelsberg, Martha (1983), »>Sisters< or >Comrades<? The Politics of Friends
ermöglichen, ihren Schulabschluß zu machen. Die USA könnten or Families«, in: Irene Diamond (Hg.), Families, Politics, and Public
auch dem Vorbild einiger europäischer Staaten folgen und »Müt- Policy, New York 1983, S. 339-356.
terhäuser« einrichten, in denen alleinerziehende Mütter in eigenen Alberoni, Francesco (1983), Fallingin Love, New York.
Apartments untergebracht sind, darüber hinaus jedoch Gelegenheit Alberston Fineman, Martha (1995), »The Sexual Family«, in: dies., TheNeu-
tered Mother, the Sexual Family and Other Twentieth Century Tragedies,
zum gemeinschaftlichen Kochen und zur gemeinsamen Beaufsich-
New York, S. 145-175.
tigung von Kindern haben.33
Allison, Henry E. (1990), Kant's Theory ofFreedom, Cambridge.
Ich habe die Position vertreten, daß ein verteilungstheoretisches Almond, Brenda (2003), »Family«, in: Hugh LaFollette (Hg.) (2003), The
Paradigma sozialer Gerechtigkeit das Denken von Theoretikern von Oxford Handbook ofPractical Etbics, O x f o r d , S. 70-87.
vornherein methodisch einengt, wenn sie unter Umgehung von Anderson, Elizabeth (1993), Value in Ethics and Economics, Cambridge,
Fragen der Sexualität und Reproduktion über die Gerechtigkeit Mass.
zwischen den Geschlechtern nachdenken. Zudem konzentrieren Anderson, Joel (1997), »Is Equality Tearing the Family Apart?«, in: Larry
die führenden Ansätze zur Gerechtigkeit ihre Überlegungen darauf, May, Shari Collins Chobanian und Kai Wong (Hg.), Applied Ethics. A
wie Nutzen und Lasten innerhalb von Institutionen verteilt werden MulticulturalApproach, 2. Aufl., Upper Saddle River, NJ, S. 362-372.
sollten. Deshalb gehen die Theoretiker beim Thema »Gerechtigkeit Annas, Julia (2000), »Persönliche Liebe und Kantische Ethik in Fontanes
und Familie« erst einmal davon aus, daß die Institution der Ehe >Effi Briest««, übers, von Caroline Sommerfeld, in: Dieter Thomä (Hg.),
selbstverständlich sei. Die Feministinnen hingegen müssen die Ge- Analytische Philosophie der Liebe, Paderborn, S. 85-105 (Orig.: »Perso-
nal Love and Kantian Ethics in Effi Briest«, in: Neera Kapur Badhwar
rechtigkeit der Institution Ehe an sich in Frage stellen. Will man die
(Hg.), Friendsbip. A PhilosophicalReader, Ithaca, NY, 1993, S. 155-173).
Ehe zur ungerechten Institution erklären, dann erfordert dies eine
Arendell, Terry (1986), Mothers and Divorce. Legal, Economic and Social
feministische Theorie der Gerechtigkeit, die Vorstellungen recht-
Dilemmas, Berkeley.
licher Rahmenbedingungen für Familienbeziehungen entwickelt. Arendt, H a n n a h (1967), Vita Activa oder Vom tätigen Leben, M ü n c h e n
Auf deren Grundlage sollten sich die Beziehungsformen dekonstru- (Orig.: The Human Condition, Chicago 1958).
ieren lassen, die gegenwärtig im rechtlichen Rahmen von Ehe und Aristoteles (1972), Nikomachische Ethik, übers, von Eugen Rolfes, hg. von
Familie gebündelt sind. Gerechtigkeit für Familien gibt es letztlich Günther Bien, Hamburg.
nur mit einer Sozialpolitik, welche die Pluralität von Familienfor- Asch, Adrienne und Michelle Fine (1990), »Shared Dreams: A Left Perspec-
men würdigt und den Familien, insbesondere den Familien mit tive on Disability Rights and Reproductive Rights«, in: Marlene Ger-
speziellen Bedürfnissen, soziale Unterstützung gewährt.34 ber Fried (Hg.), From Abortion to Reproductive Freedom. Tran forminga
Movement, Boston, S. 233-240.
Ubersetzt von Karin Wördemann
Badhwar, Neera Kapur (1991), »Why it is Wrong to be Always Guided by
the Best. Consequentialism and Friendship«, in: Ethics 101, S. 483-504.
Baier, Annette (1986), »Trust and Antitrust«, in: Ethics 96 (Januar), S. 231-
260.
33 Siehe Hayden (1984), S.i37f.
34 Ich danke David Alexander, Ruth Colker, Christine DiStefano, Stephen Macedo,
Baier, Kurt (1974), Der Standpunkt der Moral, Düsseldorf (Orig.: The Moral
Martha Minow, Deborah Rhode und Molly Shanley für die Kommentierung Point of View, Ithaca 1958).
einer früheren Fassung dieses Aufsatzes. Carrie Smarto danke ich für hilfreiche Baron, Marcia (1984a), »The Alleged Moral Repugnance of Acting from
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