In Paul Nitsches Person bündelt sich Hermann Nitsche geboren.1 Von 1882 bis Vier in den Jahren 1901 bis 1907 ausge-
die ganze Widersprüchlichkeit, von 1887 besuchte er die Volksschule in Pir- stellte Beurteilungen zeigen Nitsches Be-
der die Entwicklung der deutschen na, wo sein Vater Arzt der Heil- und Pfle- mühen um eine rasche Entwicklung sei-
Psychiatrie in der ersten Hälfte des geanstalt Sonnenstein war. 1892 wechselte ner beruflichen und wissenschaftlichen
20. Jahrhunderts geprägt war. Prof. er an das Dresdner Kreuzgymnasium und Karriere. Immer wieder wurden sein Ta-
Nitsche war einer der führenden Re- erhielt 1896 das Reifezeugnis. Danach stu- lent sowie die Herzlichkeit und Geduld im
formpsychiater der Weimarer Repub- dierte er Medizin in Leipzig, Berlin und Umgang mit seinen Patienten hervorge-
lik, aber auch einer der Hauptverant- Göttingen. 1901 bestand er in Göttingen hoben. Ebenso fällt auf, dass Nitsche den
wortlichen für die Krankenmorde im das medizinische Staatsexamen mit der bürokratischen Anforderungen seiner
„Dritten Reich“ (. Abb. 1). Note „gut“. ärztlichen Tätigkeit überdurchschnittlich
Nitsche widmete sich seit Beginn sei- gerecht geworden sei.
»
Die Bereitschaft Nitsches, als Obergut- ner ärztlichen Tätigkeit der Psychiatrie.
achter und Leiter der Medizinischen Ab- Seine 1901 vorgelegte psychiatrische Dis- Die Pflege gebesserter
teilung der „T4-Organisation“ kranke sertation entstand während seiner Arbeit Patienten in Familien sollte
und behinderte Menschen töten zu las- in einem Göttinger Krankenhaus [8].
neue Wege öffnen
sen, beruhte nicht nur auf blindem Ge- Von September 1901 bis März 1903 war
horsam gegenüber den nationalsozialis- Nitsche als Assistenzarzt in der Städti-
tischen Machthabern. Er trieb von sich schen Irrenanstalt Frankfurt am Main tä- Die Möglichkeit, diese Begabungen voll
aus die Ermordung von Patienten voran, tig. Sein weiterer Weg führte ihn an die einzusetzen, bot sich ihm seit Juni 1907 als
die er für nicht therapierbar hielt. Sie ent- psychiatrische Universitätsklinik Hei- Oberarzt der Städtischen Heil- und Pfle-
sprang einem fortschrittsgläubigen Den- delberg, wo er im Herbst 1903 die Lei- geanstalt Dresden (Löbtauer Straße). Nit-
ken, das keine moralischen Zweifel kann- tung einer Männerabteilung übernahm. sche wandte dort neben üblichen Behand-
te. Das Ziel der Heilung psychisch kranker Im Sommer 1904 wechselte Nitsche nach lungsformen wie Liegekuren oder Dauer-
Menschen, dem er sich als Arzt verpflich- einem Angebot von Prof. Emil Kraepelin bädern auch die Beschäftigungstherapie
tet fühlte, ging nicht mehr Hand in Hand nach München als erster Assistenzarzt an für chronische Patienten an. Er versuch-
mit der humanen Behandlung auch un- die dortige Universitätsnervenklinik. So- te, mit der Unterbringung gebesserter Pa-
heilbar Kranker. Sie wurden die unschul- wohl in Heidelberg als auch in München tienten in Familien neue Wege zu gehen
digen Opfer seiner medizinischen Radi- arbeitete Nitsche mit Ernst Rüdin zusam- ([9], S. 248–255). Als Ernst Rüdin 1911 zu-
kalisierung. men, beide verband eine lange Freund- sammen mit Max von Gruber für die Hy-
schaft, die sich in einer umfangreichen giene-Ausstellung in Dresden die „Abtei-
Beginn der medizinischen Korrespondenz niederschlug ([11], S. 122–
Der vorliegende Beitrag ist eine gekürzte und
Karriere im Kaiserreich 132). überarbeitete Fassung des folgenden Artikels:
Böhm B, Markwardt H (2004) Hermann Paul Nit-
Paul Nitsche wurde am 25. November sche (1876–1948). Zur Biographie eines Reform-
1876 in Colditz als Sohn des Psychiaters psychiaters und Hauptakteurs der NS-„Eutha-
1 Biographische Angaben nach Mäckel ([7]), nasie“. In: Stiftung Sächsische Gedenkstätten
Nitsche ([8]) sowie nach der Personalakte Nit- (Hrsg) Nationalsozialistische Euthanasieverbre-
sches im Sächsischen Hauptstaatsarchiv (SHStA) chen. Beiträge zur Aufarbeitung ihrer Geschich-
Dresden, Bestand Der Reichsstatthalter in Sach- te in Sachsen. Michel Sandstein, Dresden, S. 71–
sen (RiS), N143. 105.
Zwischen Reformpsychiatrie
und Rassenhygiene
Abb. 1 9 Anstaltsdi- Am 01.04.1918 wurde Nitsche als Direk-
rektor Prof. Paul Nit- tor an die Anstalt Leipzig-Dösen versetzt.
sche, ca. 1935. (Vorla-
Weil er dem massenhaften Sterben sei-
ge und Repro: Säch-
sisches Staatsarchiv, ner Sonnensteiner Patienten hilflos hat-
Hauptstaatsarchiv te zusehen müssen, war er jetzt umso be-
Dresden, mit freundl. mühter, eine Heilung zu ermöglichen. Er
Genehmigung) unterstützte die Anwendung neuer The-
rapieformen, wie die Malariabehand-
lung bei Paralytikern, und führte die ak-
tive Beschäftigung nach Simon ein. Wie
schon in Dresden versuchte er, mittels der
Familienpflege die Zahl der in stationärer
Pflege befindlichen Patienten zu senken
und durch ambulante Fürsorge die Ver-
wahrung in Anstalten möglichst zu ver-
hindern.
Als Anerkennung für seine Leistun-
gen bekam Nitsche 1925 durch die sächsi-
sche Regierung den Titel eines Professors
verliehen. Ein weiterer Beleg dieser Wert-
schätzung war 1927 seine Berufung zum
Abb. 2 9 Die Ärzte der psychiatrischen Fachberater der sächsi-
Landesanstalt Sonnen- schen Regierung.
stein, in der Bildmitte Im Jahr 1929 erschien der bedeutendste
Direktor Prof. Paul Nit-
wissenschaftliche Beitrag von Nitsche. Die
sche, um 1930. (Quel-
le: Nachlassverwal- Veröffentlichung „Allgemeine Therapie
tung Dr. Paul Rentsch, und Prophylaxe der Geisteskrankheiten“
mit freundl. Genehmi- stellt den wohl aufschlussreichsten Text
gung) Nitsches zu seinen Vorstellungen über die
Behandlung und den Umgang mit psy-
lung für Rassenpflege“ organisierte, bezog seit 1910 Dr. Georg Ilberg, von 1914 bis An- chisch Kranken dar ([10], S. 1–131). In ihm
er auch Nitsche mit ein ([11], S. 124). Im fang 1918 allerdings stand sie unter kom- gab er sich deutlich als Reformpsychiater
Vorjahr war Nitsche zum ersten Mal Alf- missarischer Leitung von Paul Nitsche, zu erkennen, dem eine effektive Hilfe der
red Ploetz, dem Begründer der deutschen der vom aktiven Wehrdienst ausgemus- Kranken am Herzen lag, ohne dabei den
Rassenhygiene, begegnet ([17], S. 75). tert worden war ([4], S. 112–120). menschlichen Umgang mit den Patienten
Am 01.04.1913 wurde Nitsche als Ober- Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges zu vernachlässigen. Diesen betrachtete er
arzt und Stellvertreter des Anstaltsdirek- begann in den deutschen psychiatrischen als grundlegende Voraussetzung für eine
tors in der Landesanstalt Pirna-Sonnen- Anstalten eine Zeit des Mangels und des Genesung. Alles zielte auf eine positive
stein angestellt. Diese Einrichtung leitete Sterbens. Bereits seit 1915 erhöhten sich im Beeinflussung und eine möglichst selbst-
ständige Lebensführung der Patienten. de Umgestaltung der Gesellschaft nach ras- biologisch-rassenhygienischen Lehrgang“
Auch neuere Therapieansätze wie die ak- senhygienischen Gesichtspunkten abzielte“ an der Deutschen Forschungsanstalt für
tive Beschäftigungstherapie und das Kon- ([15], S. 291). Der dadurch betonte politi- Psychiatrie in München. Aber auch die
zept der offenen Fürsorge wurden von sche Aspekt der ärztlichen Tätigkeit trat Anstalt Sonnenstein diente mit Nitsches
ihm propagiert. Wie nah der Reformpsy- immer mehr in den Vordergrund und Unterstützung als Propagandainstitution,
chiater Nitsche gleichwohl auch rassenhy- wurde zum wichtigen Antrieb für den ra- in der auf Führungen etwa für Schul-
gienischem Gedankengut stand, zeigt sich schen Radikalisierungsprozess, der die klassen die Notwendigkeit rassenhygie-
im Kapitel über die Allgemeine Prophyla- psychiatrische Wissenschaft in Deutsch- nischer Maßnahmen demonstriert wur-
xe der Geisteskrankheiten. Er forderte den land ergreifen sollte. Wie viele andere de. Nitsche kooperierte eng mit dem Ras-
kontrollierten Einsatz rassenhygienischer Ärzte war auch Nitsche diesem Instru- senpolitischen Amt der NSDAP in Sach-
Maßnahmen, zum Beispiel die Durchfüh- mentarium nicht abgeneigt. Rasch posi- sen, das Tagungen auf dem Sonnenstein
rung von Sterilisationen bei Vorlage ärzt- tionierte er sich als Anhänger des Na- zusammen mit Nitsche und anderen dort
licher Gutachten und mit Zustimmung tionalsozialismus. Schon wenige Monate praktizierenden Ärzten abhielt. Er über-
der Betroffenen. nach der nationalsozialistischen Macht- wachte aufmerksam die Durchführung
Im August 1928 kehrte Nitsche 51-jäh- übernahme trat Nitsche in die NSDAP der Unfruchtbarmachungen und versuch-
rig in die Landesanstalt Sonnenstein als ein und war seit Herbst 1933 Amtsverwal- te, die Bearbeitung der Sterilisationsanträ-
Direktor zurück (. Abb. 2). Zunächst ter der NSDAP-Ortsgruppe Pirna. Außer- ge effizienter zu machen. Als Beisitzer im
setzte er den reformpsychiatrischen Kurs dem trat er 1934 dem NS-Ärztebund bei, 2. Senat des Erbgesundheitsobergerichtes
seines Vorgängers Ilberg fort, doch wur- zudem war er förderndes Mitglied der SS.2 für Sachsen am Oberlandesgericht Dres-
de dieser durch die drastischen staatlichen Weiterhin leitete er von 1933 bis 1939 die den entschied er von 1935 bis 1938 über
Einsparungen nach Beginn der Weltwirt- Dresdner Ortsgruppe der Deutschen Ge- Sterilisationsbeschlüsse von Erbgesund-
schaftskrise erschwert. So musste Nit- sellschaft für Rassenhygiene. heitsgerichten, gegen die Kranke oder de-
»
sche deutliche Kürzungen bei Personal ren Angehörige bzw. Vormünder Wider-
und Medikamenten umsetzen. Von der Nitsche begrüßte das spruch eingelegt hatten.
Bedeutung des eigenen Handelns über- „Gesetz zur Verhütung Auf dem Sonnenstein versuchte
zeugt, versuchte Nitsche, Einschränkun- Nitsche den Problemen, die sich aus der
erbkranken Nachwuchses“
gen zu begrenzen und nach Möglichkeit Kürzung von Haushaltsmitteln ergaben,
durch Eigeninitiative zu überwinden. So durch verschiedene Maßnahmen ent-
drängte er 1932 darauf, die sog. „Irrensta- Das „Gesetz zur Verhütung erbkranken gegenzutreten. Im Jahresbericht von 1936
tistik“ durch den Deutschen Verein für Nachwuchses“, dass die Reichsregierung vermerkte er zum ersten Mal, dass man
Psychiatrie weiterzuführen, nachdem das am 14.07.1933 erlassen hatte, begrüßte Nit- eine weitgehend fleischlose und fettarme
Statistische Reichsamt diese aus Kosten- sche. Offenbar ließ er schon vor Inkraft- „Sonderkost“ an 160 der Patienten ausge-
gründen eingestellt hatte. Bis 1936 stellte treten am 01.01.1934 erste Sterilisationen be4. Diese Maßnahme betraf gebrechli-
er diese Statistik selbstständig zusammen, an 30 Patienten durchführen, wie er in che, nicht arbeitsfähige Patienten, für die
was einen erheblichen Arbeitsaufwand einer Psychiaterversammlung im Janu- Nitsche keine Heilungschance sah. Die
bedeutete, ihm aber auch die Anerken- ar 1934 berichtete.3 In seiner Funktion als von ihm eingesetzte Breikost führte dazu,
nung der Fachkollegen einbrachte. Repu- Anstaltsleiter brachte er die Patienten, die dass für viele chronisch kranke Patienten
tation brachte ihm außerdem der 1930 ge- von diesem Gesetz betroffen waren, zur der Hunger zum alltäglichen B egleiter
meinsam mit Carl Schneider im Auftrag Anzeige und nahm Begutachtungen von wurde. Das Ziel einer Heilung verlor Nit-
des Deutschen Verbands für psychische Sterilisationsanträgen vor oder beauftrag- sche nicht aus den Augen, aber offenbar
Hygiene verfasste Begleittext für die psy- te Anstaltsärzte damit. Außerdem beant- wurden die Patienten mit günstigeren
chiatrische Abteilung der zweiten Hygie- wortete er als beratender Psychiater für Prognosen vorrangig therapiert. Er be-
ne-Ausstellung in Dresden. das Sächsische Ministerium des Innern mühte sich, neue Behandlungsmethoden
Anfragen, die im Zusammenhang mit einzuführen, insbesondere die Cardia-
Nitsche in den Vorkriegsjahren der Durchführung des Sterilisationsge- zol-Behandlung schizophrener Patienten
des „Dritten Reiches“ setzes standen. Sein ausgeprägtes rassen- fand ab 1938 breite Anwendung. Eine Hei-
hygienisches Interesse zeigte er 1933/34 lungseuphorie, wie sie viele Psychiater an-
Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum auch durch die Teilnahme an mehreren gesichts neuer Therapien wie der Insulin-
Reichskanzler am 30.01.1933 vollzog sich Einführungskursen in Rassenkunde und schockbehandlung ergriffen hatte, ist bei
eine entscheidende Wende in der Ent- Rassenpflege, darunter auch einem „erb- Nitsche aber nicht erkennbar.
wicklung der deutschen Psychiatrie. Die Nitsche war Mitte der 1930er Jahre ein
2 Fragebogen Personalkarteiblatt Nitsche,
Nationalsozialisten zählten die in der ärzt- im Deutschen Reich angesehener Psych-
lichen Fachwelt intensiv diskutierten Fel- SHStA Dresden, RiS, Nr.143, o. Bl. Vgl. auch Bun-
desarchiv Berlin, ehem. BDC, RÄK, Karteikarte
der der „Sterilisation und ‚Euthanasie’ Nitsche. 4 Bericht der Anstaltsdirektion Sonnenstein
zum Instrumentarium einer Sozialtechnik, 3 Psychiatrisch- neurologische Wochenschrift, über das Jahr 1936, Stadtarchiv Leipzig, Bezirks-
die auf eine weitreichende und tiefgreifen- 36 (1934), S. 106. krankenhaus Dösen, Nr. 63, Bl. 6a.
»
geleistet habe. Besonders sein Engage- Berufslebens gewirkt hatte. Am 01.01.1940
ment in den verschiedensten psychiatri- wurde Nitsche erneut als Direktor an die Als Obergutachter oblag
schen Vereinigungen sowie das Durchset- Landesanstalt Leipzig-Dösen versetzt. Nitsche die endgültige
zen von Maßnahmen im Dienste der Erb-
Bewertung der Meldebogen
gesundheitspflege fanden anerkennende Nitsche und die „Vernichtung
Erwähnung ([13], S. 9f). lebensunwerten Lebens“
Im August 1939 ließ Nitsche in Abstim- Seit dem 01.05.1940 wurde Nitsche für sei-
mung mit der Abteilung „Volkspflege“ im Hitler ermächtigte im Oktober 1939 ne Tätigkeit in der RAG vom sächsischen
Sächsischen Innenministerium die Lei- mit einem Schreiben Reichsleiter Phil- Gauleiter Martin Mutschmann unter
ter der sächsischen Landesanstalten zu- ipp Bouhler und seinen Begleitarzt Karl Fortzahlung seiner Bezüge abgeordnet7
sammenkommen, um ihnen Maßnah- Brandt zur Organisation und Durchfüh- (. Abb. 3). Seinen Dienst als stellver-
men für den Fall eines Krieges zu erläu- rung des „Euthanasie“-Programms. Wie
tern. Dazu gehörte auch, dass im verstärk- bei den Sterilisationen war man auch bei 6 Handschriftliche Aussage Nitsche vom
ten Maße zur Verabreichung von Narko- 25.03.1946, SHStA Dresden, Staatsanwaltschaft
tika gegriffen werden solle, „um die Um- beim Landgericht Dresden (STAW b. LGDD),
5 Handschriftliche Aussage Nitsche vom 2526, Bl. 43a.
gebung vor den Ausschreitungen von Kran- 25.03.1946, SHStA Dresden, Staatsanwaltschaft 7 Schreiben des Gauleiters Mutschmann an Vik-
beim Landgericht Dresden (STAW b. LGDD), tor Brack vom 14.04.1940, SHStA Dresden, RiS,
2526, Bl. 42a. N143,Bl. 174.
Abb. 4 8 Prof. Nitsche (hintere Reihe 1. von rechts) auf der Anklagebank während des Dresdner Prozesses 1947
(Quelle: DDR-Illustrierte Zeit im Bild vom 25.07.1947, S. 116)
tion T4“ ähnelte. Am 24.09.1942 leitete deren Fachgebieten. Als bedrohlich emp- boten die Möglichkeit, unauffällig Maß-
Nitsche einen Vorschlag an Linden wei- fanden sie den großen Mangel an Nach- nahmen zur Tötung von Patienten durch-
ter, der vorsah, alle in Anstalten unterge- wuchskräften. Für die Lösung der Prob- zuführen. Dafür holte Nitsche zuvor eine
brachten Menschen durch Meldebogen leme erarbeiteten sie am Ende des Papiers Rückversicherung bei Karl Brandt ein,
bis zum 01.02.1943 zu erfassen und die 10 Forderungen für ein zukünftiges, mo- weswegen diese Phase auch als „Aktion
noch unbearbeiteten Fälle nachzuholen. dernisiertes Anstaltswesen, so etwa die Brandt“ bezeichnet wird. Nitsche schrieb
Am 12.11.1942 wurde der Vorschlag Nit- Verstärkung der Forschung auf dem Ge- am 25.08.1943 an Max de Crinis:
sches zur Verschärfung der Erfassung von biet der Psychiatrie in Verbindung mit Was unsere Aktion bei Prof. Br[andt]. an-
Anstaltsbewohnern als Erlass des Reichs- den Heilanstalten und die Ausstattung der langt, so […] hat er mir durch Herrn Blan-
innenministeriums herausgegeben ([15], Anstalten mit den für eine Heilbehand- kenburg die Ermächtigung erteilt, im Sin-
S. 224f). Keineswegs meinte Nitsche, dass lung notwendigen Geräten ([1], S. 41–48). ne meines ihm mündlich gemachten E[ut-
mit der „Euthanasie“ die Psychiatrie über- hanasie] Vorschlages vorzugehen. ([15],
flüssig werden würde. Es sollten nur dieje- „Aktion 14f13“ und S. 232)
nigen „herausgesiebt“ werden, die sich je- „Aktion Brandt“ Nitsche wies vertrauenswürdige An-
der Aussicht auf Heilung entzogen. staltsdirektoren an, besonders in Zeiten
In den Kriegsjahren unterstützte Nitsche verstärkter Verlegungsphasen zur Tö-
Nitsches Vorstellungen neben dem Massenmord an psychisch tungsmethode durch überdosierte Medi-
von der Zukunft der kranken und geistig behinderten Men- kamentengabe zu greifen. Die Tötungen
deutschen Psychiatrie schen auch die Ermordung von Häftlin- erfolgten dezentral in Heil- und Pflegean-
gen aus Konzentrationslagern in der sog. stalten, wofür nun wieder gezielte Trans-
Wie die zukünftige Psychiatrie in Deutsch- „Aktion 14f13“ beteiligte er sich. Die per- porte einsetzten. Die zur Tötung benö-
land aussehen sollte, wird in der Psychia- sonelle und zeitliche Organisation der Be- tigten Medikamente verwaltete Nitsche.
trie-Denkschrift deutlich, die Nitsche am gutachtungen in den KZs oblag Nitsche Dessen Dienstsitz befand sich seit dem
26.06.1943 an den Generalkommissar für nach dem Ausscheiden Heydes. Die Se- 08.08.1943 in Weißenbach am Attersee
das Gesundheitswesen Karl Brandt sand- lektionen fanden nicht ausschließlich (Oberösterreich), da das Gebäude Tier-
te. Die Denkschrift wurde von Nitsche, nach medizinischen Gesichtspunkten gartenstraße 4 von einem Bombentreffer
Ernst Rüdin, Max de Crinis, Carl Schnei- statt, sondern auch nach sozialen, politi- schwer beschädigt worden war. Bestellun-
der und Hans Heinze ausgearbeitet. Mit schen und rassischen Aspekten. Nitsche gen gingen an die Wirtschaftsabteilung
dem Stolz der Reformpsychiatrie wiesen und andere Ärzte reisten für die Selek- in Berlin und wurden von dort aus nach
die 5 Ärzte auf die großen Fortschritte tionen in das jeweilige KZ, beispielswei- Weißenbach übermittelt. Kuriere holten
hin, die in den letzten Jahrzehnten bei der se nach Dachau. die entsprechenden Mengen ab und lie-
Behandlung von psychisch Kranken ge- Seit 1943 arbeitete man in der RAG da- ferten sie in die Anstalten.
macht werden konnten. Die herausragen- ran, eine zentral gesteuerte oder doch zu-
de Aufgabe der Psychiatrie in der natio- mindest zentral überwachte Tötungsak- Nitsches Förderung der
nalsozialistischen Gesellschaft als ein Mit- tion wieder aufzunehmen. Unter ande- „T4“-Forschungen
tel der Erbgesundheitspflege wurde be- rem traf sich Nitsche am 23.06.1943 mit
sonders betont. Als krassenWiderspruch Karl Brandt, um über die Wiederaufnah- Eine für Nitsche besonders wichtige Tä-
zu den Heilungserfolgen und der bedeu- me zu verhandeln. Der Bombenkrieg tigkeit war die Unterstützung verschiede-
tenden gesellschaftlichen Rolle der Psy- wurde auch zum Anlass genommen, weit- ner Forschungsprojekte im Kontext der
chiatrie beklagten die Autoren deren Ge- räumige Verlegungen von Anstaltsinsas- NS-„Euthanasie“, insbesondere in Hei-
ringschätzung durch die Allgemeinheit, sen durchzuführen, um dadurch Platz für delberg, Wiesloch und Brandenburg-
aber auch durch die Ärztekollegen aus an- Lazarette zu schaffen. Diese Verlegungen Görden [11]. Im Januar 1941 stellte Nitsche
zusammen mit Carl Schneider einen Kriegsende weitgehend eingestellt wer- 4. Böhm B (2011) Die Sonne der deutschen Psychia-
trie ging auf dem Sonnenstein bei Pirna in Sach-
Forschungsplan auf, der Massenuntersu- den. Nitsche setzte sich im Januar 1945 in sen auf. Die Geschichte der Heil- und Pflegeanstalt
chungen bei Schwachsinnigen, Schizo- das sächsische Sebnitz ab, wo er im Mai Sonnenstein 1811–1939. Pirna
phrenen und Epileptikern vorsah. Es soll- 1945 den Einmarsch der Roten Armee er- 5. Faulstich H (1998) Hungersterben in der Psychiat-
rie 1914–1949. Mit einer Topographie der NS-Psy-
ten verschiedene Tests durchgeführt wer- lebte. chiatrie. Lambertus, Freiburg
den, an deren Abschluss die Tötung des 6. Hohmann J (Hrsg) (1993) Der „Euthanasie“-Prozess
Patienten stand, um sein Gehirn zu ent- Dresden 1947. Eine zeitgeschichtliche Dokumen-
Der Prozess gegen tation. Peter Lang, Frankfurt am Main
nehmen und zu untersuchen. 1941 richtete Nitsche in Dresden 7. Mäckel K (1992) Professor Dr. med. Hermann
der Direktor der Landesanstalt Branden- Paul Nitsche – sein Weg vom Reformpsychiater
burg-Görden, Hans Heinze, in seiner An- Nitsche wurde am 03.11.1945 verhaftet. zum Mittäter an der Ermordung chronisch psy-
chisch Kranker zur Zeit des Nationalsozialismus in
stalt eine Beobachtungs- und Forschungs- Der Prozess gegen den Hauptangeklag- Deutschland. Med Diss, Leipzig
abteilung ein. Nitsche zeigte daran ein be- ten Nitsche und mitangeklagte Ärzte so- 8. Nitsche P (1902) Über Gedächtnisstörung in zwei
sonderes Interesse und verhandelte mit wie Pflegepersonal sächsischer Landesan- Fällen von organischer Gehirnkrankheit. Med Diss,
Berlin
dem Provinzialverband Brandenburg, um stalten fand vom 16.06. bis 07.07.1947 vor 9. Nitsche P (1912) Städtische Heil- und Pflegeanstalt
sie unter die Kontrolle der RAG zu brin- dem Landgericht Dresden statt [3]. Nit- zu Dresden. In: Bresler J (Hrsg) Deutsche Heil- und
gen. Anfang 1942 nahm die Forschungs- sche wurde zum Tode verurteilt, da es das Pflegeanstalten für Psychischkranke in Wort und
Bild. Marhold, Halle (Saale), S 248–255
abteilung offiziell ihren Betrieb auf, muss- Gericht als erwiesen ansah, dass er sich 10. Nitsche P (1929) Allgemeine Therapie und Prophy-
te aber durch die kriegsbedingten Ein- aktiv an Verbrechen gegen die Mensch- laxe der Geisteskrankheiten, In: Bumke O (Hrsg)
schränkungen schon im Juli 1943 aufgelöst lichkeit im Sinne des Alliierten Kontroll- Handbuch der Geisteskrankheiten, Bd. IV. Springer,
Berlin, S 1–131
werden. Es wurde hauptsächlich an Kin- ratsgesetzes Nr.10 beteiligt hatte und ver- 11. Roelcke V (2000) Psychiatrische Wissenschaft im
dern geforscht, die am Ende der medizi- antwortlich für den Tod von weit über Kontext nationalsozialistischer Politik und „Eutha-
nischen Versuche ermordet wurden ([2], 1000 Menschen sei. Nitsche rechtfertigte nasie“. Zur Rolle von Ernst Rüdin und der Deut-
schen Forschungsanstalt für Psychiatrie/Kaiser-
S. 271f). Da ärztliches Personal in Kriegs- sein Tun vor Gericht zynisch als humanen Wilhelm-Institut. In: Kaufmann D (Hrsg) Geschich-
zeiten knapp war, wehrte Nitsche mehre- Akt, der seiner Meinung nach eine Be- te der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft im Nationalso-
re Versuche der Wehrmacht ab, die dort freiung der Kranken von ihren Leiden be- zialismus. Bestandsaufnahme und Perspektiven
der Forschung. Wallstein, Göttingen
angestellten Ärzte einzuziehen. Nach der deutet habe. Bis zuletzt schien er sein Ge- 12. Rost KL (1987) Sterilisation und Euthanasie im Film
Auflösung forschte Heinze im kleineren wissen damit zu beruhigen, denn er rück- des „Dritten Reiches“. Nationalsozialistische Propa-
Rahmen weiter, er informierte Nitsche te auch in Vorbereitung und während des ganda in ihrer Beziehung zu rassenhygienischen
Maßnahmen des NS-Staates. Matthiesen
über Ergebnisse und erhielt von ihm Hilfe Prozesses nicht von dieser Begründung 13. Rüdin E/Roemer H (1936) Herrn Obermedizinalrat
bei der Zusammenarbeit mit anderen For- für sein Handeln ab ([6], S. 420f). Paul Professor Dr. Paul Nitsche zum 60. Geburtstag. Z
schungsprojekten, wie dem von Schneider Nitsche wurde am 25.03.1948 in Dresden Psych Hyg 9:129–130
14. Schmuhl HW (1991) Sterilisation, „Euthanasie“,
in Heidelberg ([16], S. 597). Auch in Hei- hingerichtet (. Abb. 4). „Endlösung“. Erbgesundheitspolitik unter den Be-
delberg und Wiesloch half er bei der Be- dingungen charismatischer Herrschaft. In: Frei N
reitstellung von „T4“-finanzierten Pflege- (Hrsg) Medizin und Gesundheitspolitik in der NS-
Korrespondenzadresse Zeit. Oldenbourg, München, S 295–324
kräften. 15. Schmuhl HW (1992) Rassenhygiene, Nationalso-
Für Schneider und Heinze war Nitsche Dr. B. Böhm zialismus, Euthanasie. Von der Verhütung zur Ver-
der Ansprechpartner in der „T4“, der ih- Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein/Stiftung nichtung „lebensunwerten Lebens“ 1890–1945.
V&R, Göttingen
nen bei organisatorischen und materiel- Sächsische Gedenkstätten
16. Schmuhl HW (2002) Hirnforschung und Kran-
Schloßpark 11, 01796 Pirna
len Problemen zur Seite stand. Nitsche kenmord. Das Kaiser-Wilhelm-Institut für Hin-
Boris.Boehm@stsg.smwk.sachsen.de forschung 1937–1945. Vierteljahresh Zeitgesch
nutzte seine Kontakte, um zum Beispiel
50:561–602
technische Geräte und Formalin zu be- 17. Weber MM (1993) Ernst Rüdin. Eine kritische Bio-
schaffen und den Zugang zu „interessan- Interessenkonflikt. Der korrespondierende Autor grafie. Springer, Berlin
gibt an, dass kein Interessenkonflikt besteht.
ten“ Patientendaten und Krankenakten
zu erleichtern. Sein Interesse an den For-
schungsergebnissen wird in der Korres- Literatur
pondenz mit Schneider und Heinze deut-
lich. 1. Aly G (1989) Reform und Gewissen. „Euthanasie“
im Dienst des Fortschritts. Rotbuch, Berlin
2. Benzenhöfer U (2003), Der Briefwechsel zwischen
D Die menschenverachtenden Hans Heinze und Paul Nitsche (1943/44). In: Bed-
Formen der Forschung billigte er dies T, Hübener K (Hrsg) Dokumente zur Psychiat-
rie des Nationalsozialismus. be.bra, Berlin, S 271–
ohne Vorbehalte, da er darin einen 285
Weg zur fortschreitenden Heilung 3. Böhm B (2001) „Eine Schande für die gesamte me-
von Geisteskrankheiten sah. dizinische Wissenschaft“. Der Dresdner „Eutha-
nasie“-Prozess im Jahre 1947. In: Haase N, Sack B
(Hrsg) Münchner Platz, Dresden. Die Strafjustiz der
Die Tötungsaktionen liefen solange wie Diktaturen und der historische Ort. Gustav Kiepen-
möglich weiter, mussten aber gegen heuer, Leipzig, S 136–152