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APuZ

Aus Politik und Zeitgeschichte


39/2010 · 27. September 2010

China
Thomas Heberer
Chinas zivilgesellschaft­liche E
­ ntwicklung

Tobias ten Brink


Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende?

Anja-Désirée Senz
Nationale Minderheiten zwischen Anpassung und Autonomie

Gerhard Paul
Geschichte des Mao-Porträts und seiner globalen ­Rezeption

Marcus Hernig
Zur ­Aktualität ­chinesischer Mythen

Heinrich Kreft
Chinas Aufstieg – eine Herausforderung für den „Westen“

Jin Ling
Chine­sisch-europäische ­Zusammenarbeit in Afrika?
Editorial
Es könnte auch „Incredible China“ heißen: China hat 2009
den langjährigen Exportweltmeister Deutschland auf den zwei-
ten Platz verwiesen und Japan als zweitgrößte Volkswirtschaft
überholt. In diesem Jahr kann es mit einem Wirtschaftswachs-
tum von etwa zehn Prozent rechnen. Eine immer stärkere Pro-
fessionalisierung in Wirtschaft, Politik, Verwaltung und For-
schung trägt dazu bei, die „enormen Potenziale“ des riesigen
Landes besser zu nutzen. Der materielle Erfolg spiegelt sich im
zunehmenden Selbstbewusstsein des „Drachen“ wider. Wäh-
rend der internationale Einfluss des Landes zunimmt, emanzi-
piert sich im Inneren die wachsende Mittelklasse: Mit der Zu-
nahme der individuellen Autonomie in der Privatsphäre steigen
auch ihre Ansprüche und Erwartungen.

Doch zeigen sich hier auch die Schattenseiten der raschen Mo-
dernisierung. Individuelle Freiheiten und der Zugang zu staat-
lichen Ressourcen sind bislang nur einer exklusiven Gruppe
vorbehalten. Der Großteil der Gesellschaft, insbesondere die
Landbevölkerung, lebt am Existenzminimum. Auch und gerade
Stimmen aus China rufen nach einer Neudefinition des Verhält-
nisses zwischen individuellen Freiheiten und kollektiver Stabili-
tät und Wohlstand – zuletzt deutlich geworden bei den Arbeits-
kämpfen von Beschäftigten in der Industrie im Sommer 2010.
Die Öffnungs- und Reformpolitik im wirtschaftlichen Bereich
stieß einen Wandel an, der auch Anpassungen im Politischen
notwendig macht. Hier gibt es noch große Defizite: Presse-,
Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit geraten
angesichts staatlicher Restriktionen zur Farce. So ist China nach
wie vor das Land mit den weltweit meisten ­Hinrichtungen.

Doch kann die Geschwindigkeit, in der eine so große Gesell-


schaft wie die Chinas sich modernisiert und „zivilisiert“, nicht
von außen vorgegeben werden. Erfahrungen aus der europäi-
schen Geschichte können zwar als Orientierung, aber selten als
Maßstab dienen.

Asiye Öztürk
Thomas Heberer die Faktoren der „Autonomie“ vom Staat und
der Entwicklung „von unten“ an Bedeutung.
Chinas Strukturen der Zivilgesellschaft können dann
auch „von oben“ (durch den Staat) erzeugt wer-

zivilgesellschaftliche den und trotz enger Verflechtungen mit staat-


lichen Strukturen können „Bürger“ entstehen.
Denn Staat und Gesellschaft stellen grundsätz-
Entwicklung: Von lich keine voneinander getrennten Sphären dar,
sondern sind über spezifische Netzwerke und

Massen zu Bürgern? Beziehungsgeflechte miteinander verbunden. ❙3

Bezogen auf China meint Zivilgesellschaft


daher, inwiefern sich Strukturen herausbil-

D ie Frage, ob und wenn ja in welcher Weise


sich in China Elemente einer Zivilgesell-
schaft entwickeln, bedarf zunächst der Klärung
den, die zwar nicht autonom, aber auch nicht
identisch mit dem Parteistaat sind, die staatli-
che Dominanz eingrenzen und die Atomisie-
folgender Punkte: Wie rung der Gesellschaft aufbrechen. In diesem
Thomas Heberer ist der Begriff zu defi- Sinne geht es weniger um Kontrolle des Staa-
Dr. rer. pol., geb. 1947; Professor nieren? Unter welchen tes oder die Ausübung von Macht durch zi-
für Politikwissenschaft mit dem ­Voraussetzungen kann vilgesellschaftliche Kräfte, sondern um Ein-
Schwerpunkt O ­ stasien am Insti- sich eine solche Ge- flussnahme auf Politik und Gesellschaft.
tut für Ostasienwissenschaften sellschaft ­innerhalb ei-
und am Institut für Politikwissen- nes autoritären  Staats- Unter chinesischen Wissenschaftlern gibt es
schaft der Universität Duisburg- wesens herausbilden? seit Ende der 1980er Jahre eine breite Diskus-
Essen; Co-Direktor des Konfuzius In Europa wird „Zi­ sion über den Begriff „Zivilgesellschaft“ und
Instituts Metropole Ruhr an der vilgesellschaft“ als  die seine Anwendbarkeit auf China. Ein kürzlich
Universität Duisburg-Essen, Entstehung einer  vom erschienener Sammelband fasst die wichtigs-
47048 Duisburg. Staat ­unabhängigen öf- ten Positionen zusammen: Die überwiegende
thomas.heberer@uni-due.de fentlichen gesellschaft- Mehrheit der Diskutanten bindet den Begriff
lichen Sphäre begriffen. an die Entstehung von Vereinigungen und
Eine solche Begriffsbestimmung passt jedoch nichtstaatlichen Organisationen. Nur we-
nicht auf das gegenwärtige China, wo es auf- nige gehen darüber hinaus und knüpfen den
grund der politischen Strukturen enge und viel- Begriff auch an Bürgerrech­te, Individualisie-
fältige Verflechtungen zwischen dem Parteistaat rungsprozesse oder Bürger­bewusstsein. ❙4
und zivilgesellschaftlichen Kräften gibt. Von
daher erscheint eine Definition angebrachter, Der polnische Soziologe Piotr Sztompka hat
die „Zivilgesellschaft“ stärker an die Heraus- im Hinblick auf die postsozialistische Ent-
bildung von Bürgern und den Begriff der „Zi- wicklung in Osteuropa die Herausbildung von
vilisierung“ im Sinne von Norbert Elias (Wan- vier „Kulturen“ benannt, derer es bedürfe, um
del der Persönlichkeitsstruktur) knüpft. ❙1 Was „zivilgesellschaftliche Kompetenz“ und damit
die Frage der Voraussetzungen für eine solche die Voraussetzungen für eine moderne Zivil-
Gesellschaft innerhalb eines autoritären Sys- gesellschaft zu erlangen: Unternehmenskultur,
tems anbelangt, so argumentiert der US-ame- Bürgerkultur, Diskurskultur und Alltagskul-
rikanische China-Historiker Thomas Metzger, tur. ❙5 Sztompka weist damit auf die Notwen-
das westliche Konzept von Zivilgesellschaft sei
untrennbar verbunden mit einer Bewegung von
❙1  Vgl. Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisati-
„unten“ (das heißt ausgehend von Bürgern und
on, Frankfurt/M. 1989, S. 1 ff.
ihren Interessenvereinigungen), mit dem Ent- ❙2  Vgl. Thomas A. Metzger, The Western Concept of
stehen einer vom Staat unabhängigen Sphäre the Civil Society in the Context of Chinese History,
und einer nicht-utopischen Weltanschauung, Stanford 1998.
so dass im Falle Chinas die Verwendung des ❙3  Vgl. Peter B. Evans, Embedded Autonomy: States
Begriffs nicht angemessen sei. ❙2 and Industrial Transformation, Princeton 1995.
❙4  Vgl. Tang Jin (Hrsg.), Da guoce. Gongmin shehui
(Große Staatspolitik. Zivilgesellschaft), Peking 2009.
Binden wir den Begriff der Zivilgesellschaft ❙5  Vgl. Piotr Sztompka, Civilizational Incompetence:
jedoch stärker an die Herausbildung von Bür- The Trap of Post-Communist Societies, in: Zeit-
gern und Zivilisierungsprozesse, dann verlieren schrift für Soziologie, 22 (1993), S. 88 f.

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digkeit der Herausbildung von Bürgern und unterbunden wird, solange die Parteiführung
auf die Rolle des Verhaltens und der Einstel- und ihr Handeln nicht direkt und offen an-
lungen der Menschen hin. Zivilgesellschaft gegriffen werden. ❙7 Da diese strukturelle Sei-
umfasst in diesem Sinne nicht nur ein Bündel te zivilgesellschaftlicher Entwicklung bereits
von Strukturen, Organisationen und Rechten, an anderer Stelle dokumentiert wurde, ❙8 soll
sondern auch bewusstes Handeln gesellschaft- es im Folgenden um die Grundvoraussetzung
licher Kräfte. Im Wirtschaftsbereich lässt sich für eine Zivil- oder Bürgergesellschaft gehen:
dies – idealtypisch – auf sozial und gesellschaft- die Herausbildung von Bürgern.
lich verantwortungsvolles unternehmerisches
Handeln im Sinne von unternehmerischer So-
zialverantwortung beziehen (corporate social Bürger – Voraussetzung
responsibility). Bürgerkultur wiederum setzt von Zivilgesellschaft
die Existenz von Gesellschaftsmitgliedern mit
Bürgersinn und staatsbürgerlicher Verantwor- Dabei binde ich den Bürgerbegriff an vier
tung voraus und Diskurskultur kritische In- Voraussetzungen: (a) die Existenz von Ge-
tellektuelle, die verantwortlich und in zivilem sellschaftsmitgliedern mit Bürgersinn und
Umgang miteinander kontroverse gesellschaft- -verantwortung; (b) die Existenz und Durch-
liche Grundfragen debattieren. Alltagskul- setzbarkeit persönlicher Freiheitsrechte; (c)
tur erfordert schließlich den Einsatz für sozial Gelegenheiten zur Mitwirkung an gesell-
Schwache und zivilen Umgang in der Ausein- schaftlichen und politischen Entwicklungen
andersetzung mit Andersdenkenden. All dies (Partizipation) und (d) ein angemessener Le-
sind auch zentrale Faktoren des gegenwärtigen bensstandard als materielle Voraussetzung
chinesischen Entwicklungsprozesses. für soziales Engagement.

Zweifellos entwickeln sich in China die Vo- Bürger- oder Gemeinsinn in Form des En-
raussetzungen für Zivilgesellschaft und zivil- gagements von Individuen oder Gruppen
gesellschaftliche Strukturen: Ein Privatsektor für sozial Schwache oder ehrenamtliche Ar-
und ein Unternehmertum sowie gesellschaft- beit ist in China bislang noch relativ schwach
liche Organisationen, Vereine und Nichtre- ausgeprägt, auch wenn das Engagement gro-
gierungsorganisationen (NRO) sind entstan- ßer Bevölkerungsteile nach dem Erdbeben in
den. Offiziellen Statistiken des Ministeriums Südwestchina im Mai 2008 Anlass zur Hoff-
für Zivilverwaltung zufolge waren Ende des nung gegeben hat. Mit dem Anstieg des Le-
Jahres 2009 423 000 gesellschaftliche Vereini- bensstandards und der Herausbildung einer
gungen und Non-profit-Organisationen re- Mittelschicht entwickeln sich allmählich phi-
gistriert. ❙6 Diese sind indessen nicht einfach lanthropische Vorstellungen, die der Staat
autonom, sondern über das Registrierungs- durch Herausbildung von Bürgerverantwort-
verfahren an eine staatliche Organisation an- lichkeit und Bürgersinn zu fördern sucht.
gebunden, der auch die Aufsicht obliegt.
Der gegenwärtig noch schwache Stand des
Ein „öffentlicher Raum“ hat sich auch über Bürger- oder Gemeinsinns zeigt sich am Grad
das Internet entwickelt. Internetnutzer pran- der freiwilligen Mitwirkung von Stadt- und
gern gesellschaftliche Missstände und Pro- Landbewohnern an sozialen oder gemein-
bleme an, diskutieren sie und wirken dadurch schaftlichen Aufgaben. Der Prozentsatz an
als gesellschaftliches Korrektiv. Allerdings ehrenamtlich Tätigen ist in China noch im-
ist das Internet in China nicht primär ein In- mer gering. Während in europäischen Gesell-
strument der Systemkritik und -veränderung. schaften 35 bis 40  Prozent der Bevölkerung
Die Nutzer wollen damit vorrangig Regie-
rungstätigkeit (governance) verbessern. Zu- ❙7  Ein guter Überblick über die jüngere Diskussion
gleich gibt es nicht nur im Internet, sondern findet sich in dem von der Heinrich-Böll-Stiftung he-
auch in der akademischen Sphäre einen brei- rausgegebenen Band: Wie China debattiert. Neue Es-
ten Diskurs über Chinas soziale Probleme says und Bilder aus China, Berlin 2009.
und politische Zukunft, der vom Staat nicht ❙8  Vgl. Thomas Heberer, China – Entwicklung zur
Zivilgesellschaft?, in: APuZ, (2006) 49, S.  20–26;
ders., China: Creating Civil-Society Structures Top-
❙6  Vgl. die Webseite des Ministeriums unter: http://­ down?, in: Bruno Jobert/Beate Kohler-Koch (eds.),
files.mca.gov.cn/cws/201001/20100128092527729.htm Changing Images of Civil Society. From Protest to
(2. 6. 2010). Governance, London–New York 2008, S. 87–104.

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in freiwillige oder ehrenamtliche Tätigkeiten nächst Parteimitglieder (die organisatorisch
involviert sind, engagieren sich einem Bericht – von der Parteidisziplin – abhängig sind) und
des chinesischen Staatsrates von 2007 zufolge Sozialhilfeempfänger (die sozial – von staatli-
nur rund 1,8 Prozent der Bevölkerung ehren- cher Sozialhilfe – abhängig sind) ehrenamt-
amtlich. Dafür lassen sich im Wesentlichen liche Aufgaben übernehmen. Chinesische
drei Gründe anführen: Presseberichte verdeutlichen, dass die Mehr-
heit der „Freiwilligen“ aus Parteimitgliedern
Historische Gründe: Anders als in christ- besteht. Bereits 2005 hat ein chinesischer Un-
lichen oder buddhistischen Gesellschaften, in tersuchungsbericht unterstrichen, dass es sich
denen der Gedanke der Nächstenliebe und der bei 80 Prozent der Freiwilligen in den städti-
Barmherzigkeit eine große Rolle spielte, war schen Nachbarschaftsvierteln um Mitglieder
das Mitempfinden mit Personen außerhalb von Partei und Jugendverband oder öffentlich
unmittelbarer Bezugsgruppen (wie Clan, Fa- Bedienstete handelte. ❙10
milie, Dorf, Landsmannschaften etc.) in Chi-
na eher gering. In den 1930er Jahren beklag- Eines der Beispiele für Mobilisierung von
te der Philosoph Lin Yutang entsprechend das oben ist die Freiwilligenvereinigung im Nach-
Fehlen einer sozialen Gesinnung. Familien- barschaftsviertel Lugu-Shequ im Pekinger
sinn sei für Chinesen zentral, nicht Gemein- Shijingshan-Bezirk. Über die Hälfte der Mit-
sinn. Von daher sei dem chinesischen Den- glieder besteht aus Parteimitgliedern. Rent-
ken das Konzept der Gesellschaft auch ganz ner bilden die Mehrheit. Doch auch wenn
fremd. ❙9 Aus diesem Grunde votierten füh- der Verein „von oben“ gegründet wurde und
rende Denker Chinas zu Beginn des 20. Jahr- überwiegend aus Parteimitgliedern besteht,
hunderts für die Abschaffung der Familie und so erfüllt er wichtige Aufgaben im Bereich
damit des Familiensinns (Kang Youwei) be- sozialer Wohlfahrt, Umweltschutz, Gesund-
ziehungsweise für eine „moralische Revoluti- heit, Verkehrs- und öffentlicher Sicherheit so-
on“ (daode geming, Liang Qichao). wie Fortbildung. Künftig soll die Arbeit von
Freiwilligenverbänden auch durch Steuervor-
Modernisierungsprozesse wie im derzeiti- teile gefördert werden. Dabei soll sich über die
gen China führten zum Zerfall traditionaler staatliche Mobilisierung und Erziehung Frei-
Gemeinschaften und Werte und zu einer Zu- willigkeit von „Mildtätigkeit“ hin zu „sozialer
nahme individualistischer und selbstbezoge- Verantwortung“ entwickeln. All dies ist Teil
ner Faktoren und Verhaltensweisen. eines staatlichen Programms zur Erziehung
und Heranbildung von Freiwilligen. Am Bei-
Fehlende Institutionen: Bislang fehlen In­ spiel des Anreizsystems des genannten Lugu-
stitutionen, die einer ehrenamtlichen sozialen Viertels wird dieser Erziehungsgedanke deut-
Betätigung förderlich sein könnten wie funk- lich: Wer jährlich mehr als 100 Stunden an
tionierende Rechtsinstitutionen, ein korrup- freiwilligen Aktivitäten ableistet, erhält den
tionsresistentes Beamtensystem und ein Wer- Titel eines „Sternfreiwilligen“ (xingji yigong),
tesystem, in dem unentgeltlicher Einsatz für wobei es für über 1000, 3000 und 5000 freiwil-
Mitmenschen ein hohes Gut darstellt; dies lig geleistete Stunden Geldprämien und spezi-
behindert die Ausbildung zivilisatorischer elle Titelauszeichnungen gibt.
Kompetenzen im Sinne von Bürgerpflichten
sowie die Herausbildung eines Bürger- und Der staatliche Paternalismus und der Bezug
­Gemeinsinns. der Einzelnen zu Primärgruppen erschweren
die Herausbildung eines Bürgersinns. Die so-
Gerade die sich differenzierende chinesi- zialistische Erziehung lehrte die Menschen,
sche Gesellschaft ist aufgrund wachsender so- dass derjenige ein guter Bürger ist, der sich
zialer Probleme immer mehr auf freiwilliges ein- beziehungsweise unterordnet und sich
soziales Engagement angewiesen. Da die Zahl loyal gegenüber Partei und Staat verhält –
derjenigen, die sich engagieren wollen, gering ganz so wie eine 47-jährige Arbeiterin in She-
ist, versucht der Staat, „Freiwillige“ zu mobi- nyang in einem Interview im Rahmen eines
lisieren und „Freiwilligkeit“ von oben zu ini- Forschungsprojektes erklärte: „Ich bin eine
tiieren. Wo Freiwillige fehlen, dort sollen zu- sehr gute Bürgerin, ich mache anderen keine

❙9  Vgl. Lin Yutang, Mein Land und mein Volk, Stutt- ❙10  Vgl. Shequ (Nachbarschaftsviertel), 11 (2005) 2,
gart (etwa 1947), S. 217. S. 15.

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Schwierigkeiten.“ Oder wie es eine 55-jährige lerdings von dem von Beck beschriebenen ge-
Rentnerin ausdrückte: „Ich gehe mit der Par- sellschaftlichen. Er impliziert eher das, was
tei. Was die Leitung anordnet, das tue ich (…) unter anderem vom Sozialanthropologen Fei
wenn die Leitung mich ruft, komme ich.“ Xiaotong als „Selbstsucht“ oder „Egozent-
rismus“ bezeichnet wurde, als Charakteris-
Unter vielen Älteren wirkt hier im Denken tikum traditionalen sozialen Verhaltens in
und Handeln die Institutionalisierung der au- China. Damit meinte er die fehlende Verant-
toritären Herrschaft fort. Macht wird über wortung für öffentliche Angelegenheiten. ❙13
das Bewusstsein der Menschen in dem Sinne
ausgeübt, dass die Menschen glauben, die Ar- Die gegenwärtige urbane Atomisierung be-
rangements des Staates seien zu ihrem eigenen wirkt einen Wandel vom Gruppen- (Fami-
Besten. Solche Auffassungen, in denen sich die lie, Clan, Dorf, Danwei ❙14) zum individuellen
Macht des Systems niederschlägt, erschweren Egoismus, der durchaus als Vorstufe zu gesell-
gleichsam eine Beteiligung der Menschen und schaftsbezogenem Individualismus begriffen
damit die Herausbildung von Bürgern, weil werden kann. Freiwilliges soziales Engage-
der Staat alles zu richten scheint. ment wird daher eher abgelehnt, die Menschen
konzentrieren sich auf ihre eigenen Lebensent-
würfe. „Der beste Nachbar“, erklärte ein Ver-
Individualisierung und treter des gehobenen Mittelstandes in einem
individuelle Autonomie der gehobenen Wohnviertel in der südchinesi-
schen Wirtschaftsmetropole Shenzhen, sei der,
Der Bürgerbegriff verlangt autonome Indivi- den man nie sieht. Mit anderen Bewohnern
duen, die selbstständige Entscheidungen tref- wolle man möglichst wenig zu tun haben.
fen können. Auch chinesische Wissenschaft-
ler argumentieren bereits entsprechend. Jedes Im Modernisierungsprozess kommt es zu
Individuum, schreiben Yang und Ma, sei Trä- einem dreifachen Individualisierungsprozess:
ger von Selbstverwaltungsrechten. ❙11 Zu ei- zum Verlust der Einbindung in traditionelle
nem solchen Individualisierungsschub trägt Sozialstrukturen und damit zum Verlust so-
zunächst der Modernisierungsprozess bei. zialer Absicherung und Bindungen, zur Auf-
Er bewirkt, dass traditionelle Strukturen und weichung traditioneller Werte, Normen und
Bindungen aufgebrochen werden (etwa durch Glaubensmuster und zu neuen Formen sozia-
Aufweichen von Verwandtschaftsbeziehun- ler Einbettung. Modernisierung bewirkt eine
gen, Wanderungsbewegungen, Ausweitung zunehmende Auseinanderentwicklung von
der Marktverhältnisse, Leistungsprinzipien öffentlichem und privatem Bereich – eben-
und Konkurrenzdruck, Erosion des Netzes falls ein Moment von Individualisierung. Vo-
sozialer Sicherheit oder Arbeitslosigkeit). Sozi- raussetzung für ein Mehr an Individualismus
ale Unsicherheit nimmt zu, der Einzelne wird in der Gesellschaft ist ein Mehr an individu-
stärker auf sich selbst zurückgeworfen, macht eller Freiheit. Dabei darf individuelle Freiheit
sich beruflich selbstständig und trägt selbst die nicht mit dem demokratischen Freiheitsbe-
Verantwortung für erhöhtes Risiko und sozi- griff als Freiheit der Partizipation verwechselt
ale Unwägbarkeiten. Traditionelle Werte und werden. Individuelle Freiheit nimmt in sozia-
Glaubensvorstellungen werden hinterfragt und listischen Gesellschaften zu, so der Ökonom
relativiert. Es tritt das ein, was Ulrich Beck in Janos Kornai, wenn (1) das Recht, bestimmte
Anlehnung an Norbert Elias „gesellschaftli- Arten von Entscheidungen zu treffen, von der
chen Individualisierungsschub“ genannt hat. ❙12 Bürokratie auf das Individuum übergeht und
wenn (2) bürokratische Zwänge gegenüber
Zwar finden wir auch in den städtischen den Entscheidungen von Individuen nachlas-
Nachbarschaftsvierteln Chinas einen Indivi- sen beziehungsweise aufgehoben werden. ❙15
dualisierungsschub, er unterscheidet sich al- Ein solches Anwachsen individueller Auto-

❙11  Vgl. Yang Zhangqiao/Ma Lihua, Chengshi shequ ❙13  Vgl. Fei Xiaotong, From the Soil. The Founda-
zizhi quanwei de minzhu jiangou (Demokratische tions of Chinese Society, Berkeley et al. 1992.
Errichtung autonomer Rechte urbaner Nachbar- ❙14  Dies sind Arbeits- und Wohneinheiten, die auch
schaftsviertel), in: Shehuixue (Soziologie), (2004) 3, als soziale Gemeinde dienen.
S. 21. ❙15  Vgl. Janos Kornai, Individual Freedom and Re-
❙12  Ulrich Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in form of the Socialist Economy, in: European Econo-
eine andere Moderne, Frankfurt/M. 1986, S. 116. mic Review, (1988) 32, S. 236 f.

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nomie und Privatheit können wir im urbanen Das Anwachsen individueller Autonomie
Raum Chinas gegenwärtig überall erkennen. lässt sich als Teil des Wandels der chinesischen
Gesellschaft von einer geschlossenen zu einer
Autonomie beinhaltet unter anderem eine offenen interpretieren. Geschlossene Gesell-
geringere Abhängigkeit der Menschen von schaften lassen sich als solche mit geringer so-
der Bürokratie, größere Eigenentscheidungen zialer Mobilität, Einbindung der Menschen in
hinsichtlich individueller Lebensentwürfe festgefügte Gemeinschaften und individueller
und die Akzeptanz von Nicht-Partizipation Abhängigkeit von kollektiven Zwängen defi-
durch den Parteistaat, ein wichtiger Faktor für nieren, wobei private und öffentliche Sphären
eine Zivilgesellschaft. In nahezu allen Gesell- nicht getrennt sind. Dies entspricht den sozi-
schaften stellen partizipierende Bürger eine alen und politischen Verhältnissen Chinas bis
Minderheit dar. Denn Teil des Bürgerseins ist in die 1980er Jahre hinein. Die offene Gesell-
auch die Entscheidung, nicht aktiv zu partizi- schaft ist charakterisiert durch sozialen Wan-
pieren. Die Menschen im gegenwärtigen Chi- del und verschiedene Formen räumlicher und
na können sich zwischen Abwanderung, Wi- gesellschaftlicher Mobilität. Traditionale Ge-
derspruch und „politischem Epikureismus“ meinschaften beginnen sich aufzulösen, Indi-
(Franz Neumann), das heißt einer bewussten vidualisierungsprozesse führen zu einer Erosi-
Abstinenz von der Politik und Konzentration on kollektiver Werte und Normen, persönliche
auf private Interessen, gekennzeichnet durch Lebensentwürfe beginnen sich von kollekti-
Passivität und Indifferenz, entscheiden. ven Zwängen zu lösen. Öffentliche und priva-
te Räume bilden zunehmend getrennte Sphä-
Entsprechend lässt sich feststellen, dass vor ren, kollektive Schicksale (von Dörfern, Clans,
allem in den gehobenen urbanen Wohnvier- Dorfgemeinschaften, Danwei etc.) werden zu
teln Chinas „Autonomie“ in Form individu- persönlichen. ❙17 Genau dieser Prozess individu-
eller Selbstbestimmung bereits vorhanden ist. eller Autonomisierung hat sich seit den 1980er
Abgesehen von den sozial Abhängigen (Sozi- Jahren vor allem im urbanen Raum vollzogen.
alhilfeempfängern) und den politisch Abhän-
gigen (Mitgliedern der Kommunistischen Par- In den boomenden Wirtschaftsmetropolen
tei Chinas, KPCh) kann kein Individuum mehr der chinesischen Ostküste wie in Shenzhen
verpflichtet werden, sich in seinem Wohnviertel macht sich das relativ freie und offene politi-
politisch oder sozial zu engagieren. Vielmehr ist sche Klima am deutlichsten bemerkbar. Men-
die Gestaltung der Lebensentwürfe heute An- schen aus dem Landesinneren fühlen sich hier
gelegenheit jedes Einzelnen. Von daher trifft wesentlich freier als in ihrer Heimat. In Inter-
das Argument Amitai Etzionis, dass ein we- views im Rahmen einer Feldstudie erklärte bei-
sentlicher Grund für den Zusammenbruch der spielsweise eine 35-jährige leitende Angestellte
kommunistischen Systeme im fehlenden Raum (Hochschulabsolventin, Parteimitglied, aus Si-
für Autonomie, „sowohl in Bezug auf politi- chuan stammend): „Hier fühle ich mich sehr
sche Äußerungen als auch wirtschaftliche Ini- frei. Solange man nicht gegen Gesetze verstößt,
tiativen und Innovationen“ bestanden habe, ❙16 kann man ungestört sein eigenes Leben führen.
auf das gegenwärtige China nicht zu. (…) In Shenzhen, wo die Wirtschaft relativ weit
entwickelt ist, gibt es ein höheres Bewusstsein
Individuelle (politische) Autonomie im Sin- zur Einforderung demokratischer Rechte als
ne von Freiheiten privater Bürger gegenüber im Landesinnern. (…) In Chengdu jedoch ist
dem Staatsapparat und seinen Untergliederun- alles anders. Hier sagen die Leute, was sie den-
gen besteht primär für jenen Personenkreis, der ken. In Chengdu gehorchen sie. Ich denke an-
weder sozial noch politisch von den staatlichen ders seit und weil ich in Shenzhen lebe.“
Strukturen abhängig ist. Diese Personengrup-
pe, bestehend aus Personen mit regelmäßigen Eine 30-jährige Kindergärtnerin aus Jiang-
und zum Teil hohen Einkommen, interessiert xi konstatierte: „Ich möchte nicht zurück nach
sich nur selten für die Belange der Nachbar- Jiangxi, dort finde ich es zu traditionell. Hier
schaftsviertel und möchte ganz bewusst in kei- haben die Kinder ein viel höheres Niveau. Ein
ne kollektiven Aktivitäten einbezogen werden. wesentlicher Unterschied besteht darin, dass

❙16  Amitai Etzioni, From Empire to Community. A ❙17  Vgl. Michael Baurmann, Der Markt der Tugend.
New Approach to International Relations, New York Recht und Moral in der liberalen Gesellschaft. Eine so-
et al. 2004, S. 29. ziologische Untersuchung, Tübingen 1996, S. 502 ff.

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in Jiangxi die Kindergärten staatlich sind, hier an der Schaffung einer neuen Moralordnung.
sind sie privat. In Jiangxi ist die Autorität der 2008 wurde eine Zentrale Kommission für die
Kindergärtnerinnen hoch, hier die der Eltern. Anleitung zum Aufbau einer geistigen Zivili-
In Jiangxi trauen sich die Eltern nicht, ihre Mei- sation eingerichtet mit dem Ziel der Schaffung
nung zu äußern, weil das Prestige der Erziehe- einer öffentlichen Meinung für freiwilliges
rinnen so hoch ist. Hier nehmen die Eltern re- soziales Engagement. ❙19 Das Ministerium für
gen Anteil am Kindergartenleben und äußern Zivilverwaltung hat bereits mehrfach betont,
häufig ihre Meinung. Auch üben sie oft Kritik dass die urbanen Nachbarschaftsviertel als
an unserer Arbeit. Wenn man nicht gut arbei- Instrument zum Erlernen „zivilisierten Ver-
tet, fliegt man raus. Mit den Eltern hier wird haltens“, zum „moralischen Aufbau“ der Ge-
man nicht so leicht fertig. Selbst bei Kleinig- sellschaft sowie zur Hebung der „moralischen
keiten regen sie sich auf und suchen ein Haar Qualität“ der Menschen fungieren sollen.
in der Suppe.“ In diesen Aussagen kommt das
selbstbewusste Lebensgefühl der neuen Mit- In vielen Nachbarschaftsvierteln findet sich
telschichten signifikant zum Ausdruck. der aus 20 Schriftzeichen bestehende Kurzmo-
ralkodex als öffentlicher Aushang: das Vater-
Die gesellschaftliche Entwicklung verlangt land lieben und sich an die Gesetze halten; höf-
jedoch längerfristig die Überführung von in- lich, ehrlich und glaubwürdig sein; solidarisch
dividueller Autonomie in Bürgersinn und und freundschaftlich sein; fleißig, genügsam
Bürgerengagement auf der Basis von Partizi- und voranschreitend sein; die Arbeit achten
pationsmöglichkeiten, Freiwilligkeit und so- und Opfer bringen. Es sind primär Patriotis-
zialer Solidarität. Dies ist nötig, um den Grad mus, die Einübung von moralischen Werten
an sozialer Stabilität erhöhen sowie zentrifu- durch Propagandaaktionen, soziale Kontrolle,
galen Dynamiken einer Überindividualisie- selbstbewusstes Verfolgen der geforderten
rung und anderen sozial-zentrifugalen Ten- Standards und behördliche Anleitung, die
denzen entgegenwirken zu können. zum Aufbau einer „Bürgermoral“ führen sol-
len. Dabei geht es aber nicht mehr um die Mo-
ral von neuen „sozialistischen Menschen“, son-
Staat als Moralstaat dern um die neue Moral von „Bürgern“. Der
Staat betätigt sich hier als Moralstaat, der von
Gleichwohl rufen auch in China Intellektuel- oben neue institutionelle Muster in Form von
le dazu auf, dem Verfall lokaler Gemeinschaf- Moralstandards zu setzen versucht.
ten Einhalt zu gebieten. Gemeinschaften (wie
Nachbarschaftsgemeinschaften) müssten wie-
dererrichtet und Bürger ermuntert werden, Schlussfolgerung
aktiver zu werden. Dabei solle der Staat eine
wichtige Rolle spielen. Die Schaffung einer Wachsender Lebensstandard, größere indivi-
neuen Moral- und Werteordnung erscheint duelle Freiheiten, zunehmende Partizipations-
hier als ein zentraler Faktor der intendierten möglichkeiten und Verrechtlichung begünsti-
Gemeinschaftsbildung. Darauf weist unter gen die Herausbildung von Bürgern im urbanen
anderem ein Programm zur Realisierung des Raum. Der Staat sucht von oben Strukturen zu
Aufbaus einer neuen Bürgermoral (gongmin schaffen und Werte zu propagieren, die dieser
daode jianshe shishi gangyao) hin, welches die Herausbildung förderlich sind. In und über die
politische Führung im Jahr 2001 beschlossen urbanen Nachbarschaftsviertel sollen die Be-
hat und regelmäßig von den Medien propa- wohner an partizipative Mitwirkung heran-
giert wird. 2003 veröffentlichte der Ausschuss geführt werden und diese erlernen. Freiwil-
für die Leitung des Aufbaus der geistigen Zi- lige soziale Tätigkeiten, Vereinsgründungen
vilisation des Zentralkomitees der KPCh oder der Transfer staatlicher Dienstleistungen
ein neues Dokument, mit welchem das Pro- in die städtischen Wohnviertel hinein schaffen
gramm von 2001 konkretisiert werden soll- Strukturen, die der Entwicklung von Gemein-
te. Darin wurde der 20. September zum „Tag sinn und sozialem Engagement förderlich sein
der Propagierung der Bürgermoral“ erklärt. ❙18 könnten. Mangelnde „bürgerliche“ Freiheits-
Regelmäßig berichtet die Parteizeitung Ren- rechte und fehlende Rechtssicherheit wirken
min Ribao von der Beteiligung von Bürgern hier allerdings beschränkend.

❙18  Vgl. Renmin Ribao (Volkszeitung) vom 19. 9. 2003. ❙19  Vgl. Renmin Ribao vom 10. 10. 2008.

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Signifikant gestiegen ist das Maß an indi- Tobias ten Brink
vidueller Autonomie. Eine solche Autono-
mie, verbunden mit größerer Individualisie-
rung, lässt sich auch als mögliche Vorstufe zu
Chinas neuer
größerer organisatorischer Autonomie oder
Selbstverwaltung der Nachbarschaftsviertel ­Kapitalismus:
Wachstum ohne Ende?
begreifen. Nach den negativen Erfahrungen
mit Planwirtschaft und sozialer Repression
streben die meisten Menschen zunächst nach
höherem Lebensstandard und individueller
Unabhängigkeit. Der Staat versucht diese Ent-
wicklung unter anderem mit Hilfe der Nach-
barschaftsviertel in Richtung sozialen Enga-
D ie Wirtschaftsentwicklung der Volks-
republik China gilt als die erfolgreichs-
te auf der Welt. In absehbarer Zeit wird das
gements zu lenken. Dabei geht er davon aus, Land zur zweitgröß-
dass zivilisatorische Lernprozesse, Partizipa- ten Volkswirtschaft Tobias ten Brink
tion und soziales engineering durch den Staat der Erde aufrücken. Dr. phil., geb. 1976; Postdocto-
erst die Voraussetzungen für Bürger und Bür- Die chinesische Ent- ral Fellow am Max-Planck-Insti-
gersinn erzeugen. wicklung überragt sta- tut für Gesellschaftsforschung,
tistisch betrachtet seit Paulstraße 3, 50676 Köln.
Zivilgesellschaft erfordert die Schaffung 1978, dem Beginn der tenbrink@mpifg.de
von zivilgesellschaftlichen Strukturen, ein un- Reformpolitik, jeden
abhängiges Rechtssystem und zivilisatorische anderen langen Aufschwung in der Geschich-
Kompetenz. Mit dem Begriff „zivilisatorische te der Moderne. Eine Steigerung des jährlichen
Kompetenz“, der die kognitive Seite von Zi- Pro-Kopf-Einkommens von etwa sechs Pro-
vilgesellschaft umfasst, ist das Entstehen von zent konnte selbst in Japan nicht über einen
Bürgern mit Bürgersinn gemeint, deren Den- derart langen Zeitraum erreicht werden, zu-
ken und Handeln stärker auf die Gesellschaft mal er nicht annähernd so viele Menschen be-
gerichtet ist. Gesellschaftliches Engagement traf. China ist nicht mehr nur die „Werkstatt
und Bürgersinn sind wichtige Elemente von der Welt“, sondern wird selbst zum Innovati-
Zivilgesellschaft. Teil der zivilisatorischen onsmotor. Freilich verläuft das Wachstum ähn-
Kompetenz ist aber auch, dass Staat und In- lich wie in anderen Ökonomien zyklisch, wenn
dividuen lernen, andere Meinungen zu akzep- auch auf einem höheren Niveau. Phasen mit
tieren, mit Andersdenkenden zivil umzuge- besonders hohen Wachstumsraten des Brutto-
hen und Konflikte friedlich zu lösen. inlandsproduktes (BIP) von zehn Prozent und
mehr wurden von schwächeren abgelöst. Und
Unter Bedingungen fehlender zivilisatori- auch wenn sich tatsächlich massenhafte Wohl-
scher Kompetenz wie in China kommt dem standssteigerungen nachweisen lassen, fallen
Staat die Aufgabe zu, die Voraussetzungen und diese doch immer noch bescheiden aus. Um die
Strukturen für zivilgesellschaftliche Prozesse Dynamik ebenso wie die Destabilisierungsge-
(soziale Vereinigungen, Internetdiskussionen, fahren der chinesischen Wirtschaft zu verste-
soziales Engagement, Werte etc.) zu schaffen. hen, lohnt sich ein Blick auf ihre Spezifika.
Die staatlich induzierte Schaffung von Bürgern
und Bürgerwerten ist der Versuch der Schaf-
fung von Bürgern „von oben“. Es zeichnet sich Neue Spielart des Kapitalismus
daher ein neues „chinesisches“ Entwicklungs-
modell ab: die Schaffung einer zunächst illi- Mitte der 1970er Jahre – am Ende der soge-
bertären Zivilgesellschaft von oben durch den nannten „Kulturrevolution“ – befand sich die
Staat. Auch ein solcher Prozess kann dazu bei- chinesische Gesellschaft in einer tiefen Krise.
tragen, aus „Massen“ (ein politischer Begriff) Mit dem Beginn des Reformprozesses 1978
„Bürger“ (ein rechtlicher Begriff) zu machen – begann die chinesische Machtelite unter Füh-
Bürger, die zumindest partiell die Möglichkeit rung des Reformflügels um Deng Xiaoping,
zu politischer Partizipation erhalten und diese das Land in einem Trial-and-Error-Verfah-
im Sinne zivilisatorischer Entwicklung zu nut- ren zu restrukturieren. In mehreren Reform-
zen beginnen. phasen durchlebte es tief greifende Verände-
rungen. Resultat ist eine bislang einmalige
Transformation eines kommandowirtschaft-

APuZ 39/2010 9
lichen Systems in ein stärker über den Markt Glück und Gefährdung: Chinas
gesteuertes Entwicklungsmodell.
Einbindung in die Weltwirtschaft
Wesentliche Merkmale des Wachstumser-
folgs Chinas müssten eigentlich jeden Vertei- Der Erfolg Chinas hängt zu einem großen
diger des freien Marktes verstummen lassen: Teil mit Faktoren zusammen, die nicht von
Die Wirtschaft ist durch eine hohe staatli- der chinesischen Machtelite beeinflusst wur-
che Interventionsdichte gekennzeichnet, im den, sondern die vielmehr auf günstigen welt-
Unterschied zu den Transformationsländern wirtschaftlichen und ostasiatischen Konstel-
des Ostblocks wurde auf vorschnelle Libera- lationen beruhten: Im Gegensatz zu anderen
lisierungen verzichtet und noch dazu regiert „staatssozialistischen“ Gesellschaften konnte
die Kommunistische Partei Chinas (KPCh). die Nation von der in den 1970er Jahren ein-
Das Erbe einer bürokratischen Kommando- setzenden Globalisierungsphase profitieren.
wirtschaft, der herrschenden Partei und die
Rolle eines industriellen Spätentwicklers ha- Der Versuch, die Wirtschaft auf den Ex-
ben  – unter den besonderen Bedingungen port auszurichten, war auf ausländische
der ostasiatischen Wachstumsregion und ei- ­Direktinvestitionen (ADI) und technisches
ner Phase fortgeschrittener Transnationa- Wissen angewiesen. Die Nähe zur ostasiati-
lisierung der Weltwirtschaft – eine neuarti- schen Wachstumsregion diente diesem Inte-
ge Spielart des Kapitalismus hervorgebracht. resse. Der ostasiatische Raum und die inner-
Diese Variante kann als marktliberaler asiatischen Handels- und Produktionsketten
Staatskapitalismus bezeichnet werden: Ein bildeten ein entscheidendes externes Moment
marktliberaler, unternehmerischer Geist ist in der weltwirtschaftlichen Einbindung Chi-
mit einem umfassenden Staatsinterventionis- nas. Die von vorübergehend oder dauerhaft
mus verbunden, der sich an makroökonomi- im Ausland lebenden Überseechinesen gebil-
schen Erfolgsparametern orientiert. ❙1 deten Geschäftsnetzwerke in Ostasien spiel-
ten dabei ab den 1980er Jahren eine besonders
Ein Bezug auf die offizielle Losung der wichtige Rolle in der Industrialisierung Chi-
KPCh, die das Land zur „sozialistischen nas. Sie ebneten den erst in den 1990er Jahren
Marktwirtschaft“ erklärt hat, greift hier zu steigenden ausländischen Investitionen aus
kurz. Die Staatsintervention sowie das Staats­ anderen Quellen den Weg.
eigen­t um stellen keine Negation kapitalisti-
scher Eigentumsverhältnisse dar, sondern fun- Von diesem Zeitpunkt an gründete die be-
gieren als eine Form der partikularen Verfügung deutende Zunahme der ADI auf einer speziel-
über ökonomische und politische Macht. Typi- len Situation, die nicht allein mit den niedrigen
sche Merkmale kapitalistischer Wirtschaften Arbeitskosten in China erklärt werden kann:
wie der Zwang zur Akkumulation des Kapitals, eine in den 1990er Jahren mitunter als „Anlage-
eine rücksichtslose Wachstumsorientierung notstand“ deklarierte Überakkumulation von
(und damit das Fehlen qualitativer, sozial-öko- Kapital in den klassischen Produktionszentren.
logischer Kriterien des Wachstums) sowie aus- Zu viel Kapital stand gewissermaßen wenigen
geprägte soziale Gegensätze haben die chinesi- lohnenden Investitionen gegenüber, weshalb
sche Ökonomie zu einem Mekka des globalen die Investitionsquote in Europa, Nordamerika
Kapitalismus gemacht, ohne dass diese jedoch und Japan entsprechend gering war.
ein und dieselben Charakteristika wie liberale
Kapitalismen westlicher Prägung aufweist. Im Seit Mitte der 1990er Jahre konnten die USA
Folgenden werden drei Dimensionen des neuen und China ihr Wachstum auf zwei unterschied-
chinesischen Kapitalismus beschrieben. lichen, jedoch voneinander abhängigen Wegen
erzielen. Während in den USA große Anteile
❙1  Vgl. ausführlicher Tobias ten Brink, Strukturmerk- des BIP-Wachstums auf den schuldenfinan-
male des chinesischen Kapitalismus, Max-Planck-In- zierten Konsum und weniger auf Investitionen
stitut für Gesellschaftsforschung, Discussion Pa- zurückzuführen waren, verlief der chinesische
per, (2010) 1, online: www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/ Aufschwung spiegelverkehrt: Er beruhte auf
dp10-1.pdf (13. 5. 2010); Barry Naughton, The Chi-
nese Economy: Transitions and Growth, Cambridge
einer beispiellos hohen Investitionsquote und
2007; Christopher A. McNally (ed.), China’s Emer- einer vergleichsweise geringen internen Kon-
gent Political Economy: Capitalism in the Dragons’s sumquote. Die relative Bedeutung der Investi-
Lair, London 2007. tionen nahm noch zu, von etwa 30 Prozent des

10 APuZ 39/2010
BIP zu Beginn der 1990er Jahre auf annähernd sammenbauen lassen, ist die Volkswirtschaft
40 Prozent nach 2000. Große Mengen an liqui- daher den Rhythmen des globalen Kapitalis-
den Mitteln im „Norden“ (das heißt in den tra- mus direkt ausgesetzt. Viele der chinesischen
ditionellen Industriestaaten) stellten die Ver- Exporte sind gegenwärtig nur in dem Sinne
sorgung mit Geldanlagen sicher und heizten „chinesisch“, dass sie in China zusammenge-
den Investitionsboom weiter an. Zudem fun- fügt wurden. Dies bedeutet: Den Großteil der
gierten die alten Zentren des globalen Kapita- Profite erzielen die multinationalen Konzerne,
lismus als Endabnehmer von Exportgütern. ❙2 nicht die lokalen Produzenten oder Zulieferer.
Zusätzlich machen Erstere den einheimischen
Die Unternehmen der entwickelten Volks- Herstellern auf dem chinesischen Binnenmarkt
wirtschaften (auch in Ostasien) schufen sich das Leben schwer – ein Sachverhalt, der in der
vor diesem Hintergrund neue Wettbewer- Krise an Bedeutung gewonnen hat, wie bereits
ber in dem Maße, wie sie selbst versuchten, der chinesische Markenführer unter den Com-
von der chinesischen Dynamik zu profitieren. puterherstellern, Lenovo, feststellen musste.
Das Ergebnis ist eine Restrukturierung der
Wettbewerbsverhältnisse auf den internatio-
nalen Märkten, da die chinesische Staatsfüh- Vorteile und Schwachstellen:
rung nicht nur ADI begünstigte, sondern auch Der fragmentierte Parteistaat
selbst beziehungsweise vermittelt durch chine-
sische Konzerne zum Global Player aufstieg. Das System der Volksrepublik zeichnet sich
entgegen der hierzulande immer noch existie-
Bis heute erzielt die chinesische Volkswirt- renden Legende eines von der KPCh von oben
schaft weltweit die höchsten BIP-Wachs- nach unten totalitär beherrschten Einheits-
tumsraten, wenngleich auch auf Kosten ande- staates durch eine bemerkenswerte Kombina-
rer Exportwirtschaften. Allerdings bringt die tion zentraler und dezentraler Macht aus. Ein
extrem hohe Abhängigkeit vom Weltmarkt durch kapitalistische Imperative wie Nütz-
erhebliche Gefährdungen mit sich. Die glo- lichkeitserwägungen und Profitinteressen ge-
bale Krise 2008/2009 und das Ende des Kon- prägtes Beziehungsgefüge verschiedener Ent-
sumbooms in den OECD-Ländern ❙3 zogen scheidungsstrukturen ist entstanden. Dieses
Kriseneffekte in den auf diese Verbraucher- Mehrebenensystem ist zugleich Ausdruck
märkte orientierten chinesischen Branchen und Förderer einer regionalisierten Binnen-
nach sich. Die Ausfuhren verringerten sich im wirtschaft. Die hierdurch resultierende Kon-
Jahr 2009 um ein Viertel. Bei der vorwiegend kurrenz der politischen Instanzen unterhalb
für den Weltmarkt produzierenden Elektro- der Zentralregierung, die sich gegenseitig bei
nik- und Textilindustrie, aber auch in anderen der Einwerbung von Investitionen überbie-
Sektoren, ging die Zahl der Entlassungen in ten, fördert sowohl dynamische als auch pro-
die Millionen. Dazu kam, dass durch die Kre- blematische Wirtschaftsentwicklungen.
ditkrise die finanziellen Ressourcen für aus-
ländische Investitionen geringer wurden. Zwar besitzt der Zentralstaat weiterhin
eine entscheidende Rolle. Er stellt grundle-
Hinzu tritt ein weiterer Aspekt der tie- gende Rahmenbedingungen der Kapitalak-
fen Einbettung in globale Produktions- und kumulation bereit – über die Verwaltung und
Konsumtionsketten. Viele Industriestätten die Rechtsetzung über die Schaffung wirt-
des chinesischen Festlandes fungieren als Pro- schaftlicher Infrastruktur im Transport-,
duktionsplattformen für Endprodukte. Als Be- Energie- und Kommunikationssektor bis zur
standteil globaler, meist von amerikanischen, Regulierung der Arbeitsbeziehungen. Auch
europäischen oder ostasiatischen Markenfir- kontrolliert er wichtige Konzerne und, was
men dominierter Produktionsverbünde, die noch wichtiger scheint, die größten Banken.
zum Beispiel das Apple iPhone in China zu- Dies hat der Pekinger Regierung einen er-
heblichen wirtschaftspolitischen Spielraum
verschafft, was die gewaltigen Konjunktur-
❙2  Vgl. Hung Ho-fung, Rise of China and the global programme, die im Zuge der Weltwirtschafts-
overaccumulation crisis, in: Review of International
Political Economy, 15 (2008) 2, S. 149–179.
krise ab 2008 aufgelegt wurden, bezeugen.
❙3  Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung; engl. Organisation for Economic Die Funktionen des Staates sind jedoch seit
Co-operation and Development. Ende der 1970er Jahre verstärkt auf den subna-

APuZ 39/2010 11
tionalen politischen Ebenen konzentriert wor- Überschusskapazitäten oder ­Büroleerstände
den. Die Koexistenz von 22 Provinzen, fünf führt, zumal die Konjunkturspritzen diese
Autonomen Regionen, vier regierungsunmit- Tendenzen noch beschleunigen können. Fer-
telbaren Städten mit dem Status einer Pro- ner erschweren die beträchtlichen regionalen
vinz (Peking, Shanghai, Tianjin, Chongqing) Unterschiede in den Entwicklungsniveaus des
und zwei Sonderverwaltungszonen (Macao, Landes eine stabile Entwicklung. Hoch entwi-
Hongkong) stellt ohnehin ein disparates Ge- ckelte städtische Zentren und große, agrarisch
bilde dar. Darüber hinaus machen die fünf geprägte, rückständige Gebiete bilden ein re-
relevanten Regierungsebenen – Zentralre- gelrecht gespaltenes Akkumulationsmodell.
gierung, Provinzen, Bezirke, Kreise und Ge-
meinden – eine Detailsteuerung unmöglich. ❙4 Dennoch wird das aktuelle Krisenmanage-
ment „mit chinesischen Charakteristika“ als
Weil die lokalen Staatsapparate auf ihrem ein großer Erfolg gewertet. Mittels enormer fi-
Hoheitsgebiet verstärkt wirtschaftliche Leis- nanzieller Ressourcen leiteten der Zentralstaat
tungen mittels Kontrolle von und direkter (nicht zuletzt auf Grundlage der umfangrei-
Intervention in Firmen anregen, interpretie- chen Währungsreserven) und die lokalen po-
ren dies China-Forscher als einen wesentli- litischen Instanzen fiskal-, zins- und kredit-
chen Rahmen der Wachstumsdynamik. Re- politische Maßnahmen ein, die bisher (August
gierungsbeamte fördern nicht nur, sondern 2010) einen Einbruch der Wachstumsraten un-
ersetzen gewissermaßen auch wirtschaftliche ter die kritische Rate von etwa sieben bis acht
Aktivitäten. Dabei unterstützen enge Bezie- Prozent verhindern konnten. (Unterhalb die-
hungen (guanxi), aber auch Korruption und ser Rate könnten mehrere Millionen zusätzli-
Bestechung die Allianzen zwischen (privaten, cher Arbeitskräfte pro Jahr nicht mehr in die
halbstaatlichen, staatlichen) Unternehmern, städtischen Arbeitsmärkte integriert werden.)
Partei und Staat. Etwa 90 Prozent der reichs- Das im Gefolge der Krise aufgelegte und nur
ten 20 000 Chinesen verfügen über sehr gute, teilweise von der Zentrale finanzierte Kon-
häufig verwandtschaftliche Beziehungen zu junkturpaket in Höhe von circa 4600 Milli-
hohen Regierungs- oder Parteifunktionären. ❙5 arden Yuan (etwa 460 Milliarden Euro) dient
dem weiteren Aufbau wirtschaftlicher und so-
Doch der Wettbewerb zwischen den lokalen zialpolitischer Infrastrukturen (Schienennetz,
Staatsapparaten (auch und gerade innerhalb Autobahnen, Gesundheits- und Bildungs-
von Provinzen etwa zwischen Stadtregierun- wesen) und der technologischen Modernisie-
gen), die massive Staatsintervention und die rung. Neben die fiskalpolitischen Stimuli tra-
Regionalisierung der Wirtschaft ziehen auch ten geldpolitische Maßnahmen. Während in
negative Effekte nach sich. So sind Probleme liberalen Volkswirtschaften die (private) Kre-
der Überinvestition von Produktionskapazitä- ditvergabe einbrach, konnte die chinesische
ten und der Dopplung von Investitionen fest- Regierung den großen Staatsbanken nicht nur
zustellen, die aus der anarchischen Konkur- vorgeben, dass, sondern auch in welcher Rich-
renz resultieren. Die Gefahr besteht, dass eine tung sie Geld zu verleihen hatten.
Stagnation der ADI und ein Nachlassen der
Wirkung des großen Konjunkturprogramms Doch die mittelfristigen Folgen dieser
zu einer Verschärfung etwa des Problems der Krisenlösungsstrategie erscheinen ungüns-
tig. Der Staat setzt darauf, dass die weltwei-
❙4  Vgl. Dali L. Yang, Remaking the Chinese Levia- te Konjunktur wieder anzieht, doch bislang
than: Market Transition and the Politics of Gover- hat sich diese Erwartung nicht in erhofftem
nance in China, Stanford 2004; Zheng Yongnian, De Maße erfüllt. Aktuelle Investitionen könn-
Facto Federalism in China: Reforms and Dynamics
of Central-local Relations, Singapur 2007.
ten sich also bald als Überinvestitionen, die
❙5  Auch die seit über einem Jahrzehnt wachsende Zahl Kredite sich als faule Kredite herausstellen. ❙6
der Privatisierungen und Privatunternehmen setzt die
engen Beziehungen zwischen Partei, Staat und Unter- ❙6  Von einer Analyse der chinesischen Kapitalmärk-
nehmen nicht außer Kraft. Das Privateigentum bleibt te muss an dieser Stelle abgesehen werden. Eine ri-
eingebettet in das (lokale) politische Umfeld. Viele gide staatliche Kontrolle des Kapitalverkehrs und
ehemalige politische Kader der KPCh gingen in den der Wechselkurse verhindert bislang eine tief grei-
1990er Jahren den Weg des red capitalist. Vgl. Bruce J. fende Integration in die globalen Finanzmärkte. Der
Dickson, Integrating Wealth and Power in China: The Shanghai Stock Exchange A Shares Index (Index in-
Communist Party’s Embrace of the Private Sector, in: ländisch handelbarer Aktien) hat in der ersten Jahres-
The China Quarterly, (2007) 192, S. 827–854. hälfte 2010 deutlich an Wert eingebüßt.

12 APuZ 39/2010
Auch der Immobilienmarkt gilt als Sorgen- Dem Vorschlag, die Unterkonsumtion zu
kind. Der Staat versucht nun, die erheblich bekämpfen, und dem Ziel, eine „harmonische
ausgeweitete Kredit­ausgabe wieder zu dros- Gesellschaft“ zu schaffen, also eine Art so-
seln. Doch auch dies funktioniert nicht immer zialpartnerschaftlicher Interessenausgleich,
wie gewünscht. Bis zum Sommer 2010 wuchs stehen erhebliche Hindernisse im Weg. Zwar
sie immerhin noch einmal um 15 Prozent. Fol- werden offiziellen Angaben zufolge etwa
ge werden (wieder einmal) notleidende Kredi- 20 Prozent des Konjunkturpaketes für Sozi-
te sein, die das Finanzministerium und andere alausgaben verwendet, doch dies kann eine
Staatsorgane wie der Staatsfonds Huijin bear- Umorientierung auf den Binnenmarkt al-
beiten müssen. lein kaum garantieren. Gleichzeitig verla-
gern ausländische Großkonzerne Teile ihrer
Produktion in die nördlichen, zentralen und
Ende des Niedriglohnmodells? westlichen Provinzen, um von den dortigen
„Vorteilen“, das heißt im Klartext: niedrige-
Eine schier endlose Zahl sehr niedrig ent- ren Arbeitskosten, zu profitieren. ❙9
lohnter Menschen, die häufig als sozial de-
klassierte Wanderarbeiter auf der Suche nach Darüber hinaus bestehen Zweifel, ob neue
Arbeit umherziehen, war jahrzehntelang das Bestimmungen etwa zur Heraufsetzung des
Rückgrat der chinesischen Wirtschaftsent- Mindestlohns in den Provinzen auch wirklich
wicklung. ❙7 Doch diese Konstellation kann implementiert werden. Einige Strömungen
nicht unbegrenzt andauern. Erst jüngst, im innerhalb der Machtelite (etwa in den Regie-
Juni 2010, kam in einer Reihe aufsehenerre- rungen der reichen Ostprovinzen) sehen die
gender Arbeitskämpfe zum Ausdruck, dass Krise als „Chance“ zur Modernisierung der
diese Grundlage des chinesischen „Wirt- Wirtschaft. Ihre Politik läuft auf die Schlie-
schaftswunders“ – hohe Ausbeutungsraten ßung kleinerer Firmen und die Konzentra-
und eine extreme Ungleichheit – zur Dis- tion des Kapitals in größeren Unternehmens-
position steht. Neueren Schätzungen zufol- konglomeraten hinaus, womit die Industrie
ge verfügen 0,4  Prozent der Haushalte über modernisiert werden soll. Eine Eindämmung
70  Prozent des Reichtums. Der Lohnanteil sozialer Ungleichheiten erscheint in diesem
am BIP ist von 53  Prozent im Jahr 1992 auf Szenario eher unwahrscheinlich.
etwa 40 Prozent im Jahr 2006 gesunken. ❙8
Tatsächlich fehlt dem Versprechen, den Bin-
Aufgrund der erheblichen Nachfrageaus­ nenkonsum zu stärken, in der Realität der chi-
fälle im Exportsektor und der weltwirtschaft- nesischen Arbeitsbeziehungen eine essenziel-
lichen Ungleichgewichte verweist die Staats- le Voraussetzung: die Vertretungskompetenz
führung seit einiger Zeit verstärkt auf die und Mobilisierungsfähigkeit der Gewerk-
Notwendigkeit, den Binnenmarkt zu stär- schaften. Im System der Arbeitsbeziehun-
ken. Um dies zu erreichen, müssten sowohl gen des „sozialistischen“ China besitzen die
die Löhne erheblich angehoben wie auch die (von Marx und anderen) eigentlich vorgese-
sozialen Sicherungssysteme massiv ausgebaut henen Träger einer nach-kapitalistischen Ge-
werden. Dadurch aber, so Kritiker, stünde sellschaft lediglich einen Platz als machtlose,
ein zentraler Wettbewerbsvorteil Chinas, die ausführende Objekte. In vielen Industriesek-
niedrigen Arbeitskosten und Steuern, die den toren liegen die Basislöhne gegenwärtig nur
Export beflügeln und Investitionen anziehen, bei etwa 50  Prozent des Gesamtlohns. Die
infrage. Ableistung von Überstunden und Prämien
als Lohnergänzung zeugt von der schwachen
Verhandlungsposition der Lohnabhängigen.
❙7  Im Jahr 2006 wies die Statistik 764 Millionen be-
rufstätige Menschen auf, darunter etwa 320  Millio- Damit einher geht eine heftige Konkurrenz
nen in der Landwirtschaft, 200 Millionen im sekun- zwischen den Mitarbeitern, die Gewerk-
dären und 250 Millionen im tertiären Sektor. In den
beiden letzteren Sektoren arbeiten etwa 200  Millio- ❙9  Freilich stellt die Lohnhöhe nur einen Teil der tat-
nen Wanderarbeiter. sächlichen Kosten dar. Würden in den Metropolen
❙8  Vgl. He Jianwu/Louis Kuijs, Rebalancing China’s Chongqing oder Wuhan keine niedrigen Steuern und
economy – Modeling a policy package, in: World Bank durch moderne Infrastrukturen erzeugte sinkende
China Research Paper, (2007) 7, online: www.world- Logistikkosten bestehen, würden große US-ame-
bank.org.cn/english/content/working_paper7.pdf rikanische oder taiwanesische Firmen wie HP oder
(2. 2. 2010). Foxconn dort wohl kaum ansässig.

APuZ 39/2010 13
schaften eigentlich zu überwinden trachten. den Mächtigen haben das Jahr 1989 noch in
Doch kollektive Verhandlungen über Löhne, wacher Erinnerung, als eine studentisch ge-
Arbeitsrechte und Arbeitsbedingungen feh- prägte Demokratiebewegung in eine Revolte
len genauso wie branchenweite Tarifverträge: der städtischen Bevölkerung und vieler Beleg-
Die Regelung des Lohnverhältnisses ist auf schaften überging und nur noch mittels Waf-
der Ebene der einzelnen Unternehmen kon- fengewalt gestoppt werden konnte. Bei den
zentriert. Bislang agieren die großen Staats- Streiks im Sommer 2010 bei Zulieferern von
gewerkschaften (sofern sie überhaupt im Be- Toyota oder Honda wurden offensive Forde-
trieb präsent sind) bei der Regulierung der rungen wie nach besserer Bezahlung gestellt,
betrieblichen Arbeitsbeziehungen vorwie- die beteiligten Arbeiter hielten Versammlun-
gend als Co-Manager und Organisatoren von gen ab und wählten eigene Delegierte. Die
Freizeitaktivitäten. Ihre enge Anbindung an sozialen Versprechen der Regierung, so be-
den Parteistaat verhindert eine unabhängige fürchten Teile der Machteliten, könnten sich
Interessenvertretung der Beschäftigten. nunmehr zu allzu „unrealistischen“ Ansprü-
chen der Arbeiter verselbstständigen. ❙11
Demgegenüber kontrollieren die Arbeit-
geber die wichtigsten volkswirtschaftlichen
Ressourcen und besitzen häufig – das betrifft Marktliberaler Staatskapitalismus
nicht nur die Manager der Staatsunterneh- chinesischer Prägung
men – den Status eines politischen Kaders,
was ihre Einflussmöglichkeiten erhöht. Ein In den letzten Jahrzehnten kombinierten die
Interesse an einer grundlegenden politischen chinesischen Machteliten in Politik und Wirt-
Umwälzung haben sie nicht. schaft erfolgreich die Selbsterhaltungsinteres-
sen des Parteistaates mit der Umorientierung
Der Parteistaat tritt diesem Ungleichge- auf die Kräfte des Marktes. Die Doppelstruk-
wicht zwar rhetorisch entgegen. Doch sei- tur von Partei und Staat hat sich vor dem Hin-
ne ausgleichende Stimme weist in diesem tergrund einer günstigen weltwirtschaftlichen
Zusammenhang eher auf eine grundlegende Lage alles in allem als erstaunlich flexibel er-
Aufgabe des Staates in kapitalistischen Syste- wiesen. Auch wenn innerhalb der Machteliten
men gegenüber unternehmerischen Partiku- Zentrifugalkräfte wirken, schafft deren relati-
larinteressen hin. Das offensichtliche Ziel des ve Homogenität einen Spielraum für die Ini­
Parteistaates besteht darin, rechtliche Nor- tiierung und Implementierung neuer Politi-
men zur Regulierung des Lohnarbeitsver- ken. Es existiert ein Fortschrittsglaube, der an
hältnisses zu institutionalisieren. die Hochzeiten der Moderne erinnert und in
neuartiger Weise zugleich auf die Vorzüge der
In den letzten Jahren haben die Widerstän- „wissenschaftlichen“ Planung und der einzel-
de jedoch zugenommen. Die Arbeiter ent- unternehmerischen Schöpferkraft setzt.
wickeln (wie in vielen anderen Ländern zu-
vor) soziale Ansprüche. Neben den bereits Es stellt sich allerdings heraus, dass ge-
vom Staat eingeräumten Klagemöglichkei- nau diejenigen Merkmale, die als Quellen
ten sind neue Formen der kollektiven Ge- des wirtschaftlichen Erfolgs gelten – wie die
genwehr entstanden. ❙10 Die lokale Einhaltung streng nach quantitativem Wachstum streben-
der Arbeitsgesetze hängt vom sozialen Druck
ab, was sich teilweise in erfolgreichen Klagen ❙11  Diese neueren Entwicklungen unterstützen eine
etwa bezüglich der Auszahlung ausstehender Strömung in den Staatsgewerkschaften, die eine größe-
Löhne manifestiert. re Unabhängigkeit und eine Stärkung gewerkschaftli-
cher Vertretungskompetenz in den Betrieben anstrebt.
Ebenso fordert eine kleine Zahl chinesischer Exper-
Die Regierung befürchtet nun, vereinzelte ten Reformen des Systems der Lohnfindung, um die
Unruhen könnten in einen sozialen Flächen- „Lohnempfänger reich zu machen“. Vgl. Boy Lüthje,
brand münden. Das Regime weiß um die Ex- Arbeitsbeziehungen in China: „Tripartismus mit vier
plosivität sozialer Proteste, die Älteren unter Parteien?“, in: WSI-Mitteilungen, (2010) 9, S. 473–479.
Chinesische Soziologen veröffentlichten jüngst eine
scharfe Kritik an den unwürdigen Arbeits- und Le-
❙10  Vgl. China Labour Bulletin 2009, Going It Alone: bensbedingungen der Wanderarbeiter. Vgl. Appeal by
The Workers’ Movement in China (2007–2008), online: Sociologists, Address to the Problems of New Gene-
www.clb.org.hk/en/files/share/File/research_­reports/ rations of Chinese Migrant Workers, online: http://­
workers_movement_07-08.pdf (5. 6. 2009). sacom.hk/archives/644 (12. 7. 2010).

14 APuZ 39/2010
den lokalen Entwicklungsstaaten sowie eine Anja-Désirée Senz
angebotsorientierte, Lohn- und Verteilungs-
fragen kaum berücksichtigende und den Aus-
bau zivilgesellschaftlicher Strukturen gering
Zwischen kultureller
schätzende Politik –, in sich ihre krisenhaften
Schattenseiten tragen. Während die Dezen-
tralisierung der politischen Regulierung ei-
Anpassung und
nen Trend zur Überinvestition und Dopplung
von Investitionen beschleunigt, gefährdet die
Autonomie: Nationale
soziale Polarisierung das Wachstum der inne-
ren Nachfrage. Eingeklemmt zwischen dem Minderheiten in China
öffentlichen Versprechen, den Konsum zu
stärken und die soziale Sicherung auszubau-
en, womit nicht zuletzt die wachsenden An-
sprüche der arbeitenden Bevölkerung befrie-
digt werden sollen, und dem fortdauernden
D as heutige China zeichnet sich durch eine
große Heterogenität aus, die nicht nur
aus regionalen und ökonomischen Unterschie-
Glauben an die mit niedrigen Löhnen ver- den resultiert, sondern
bundenen Wettbewerbsvorteile, schwankt die auch ethnisch bedingt Anja-Désirée Senz
Staatsführung zwischen ausgleichend-autori- ist. Denn in China lebt Dr. phil.; wissenschaftliche
tativen und desorganisiert-despotischen For- eine Vielzahl von Ge- Geschäftsführerin des Konfuzi-
men des Krisenmanagements. sellschaften, deren kul- us-Instituts Metropole Ruhr an
turelle Prägung sich der Universität Duisburg-Essen,
Die Wohlstandsmehrung in breiten Bevöl- von den „Han-Chi- Bismarckstraße 120,
kerungsschichten und die hiermit verbun- nesen“ unterscheidet. 47057 Duisburg.
denen individuellen Aufstiegsmotivationen Der Name „Han“ geht anja.senz@uni-due.de
bildeten bis heute die Grundlage der Herr- zurück auf die Han-
schaftssicherung und -stabilisierung. Wenn Dynastie zwischen 206 v. u. Z. und 220 n. u. Z.
dies infrage gestellt wird, droht auch der chi- und wurde zur Selbstbezeichnung für die heu-
nesische Entwicklungsweg vor ernsthafte tige chinesische Mehrheitsbevölkerung. Je-
Zerreißproben gestellt zu werden. doch sind auch die Han-Chinesen keineswegs
eine homogene Gruppe, sondern das Ergeb-
Es lag unter anderem an der hohen interna- nis der Vermischung verschiedener Völker im
tionalen Nachfrage, dass die chinesische Wirt- Laufe der Geschichte. Insofern gibt es inner-
schaft seit den 1990er Jahren keinen ernsthaf- halb dieser Gruppe erhebliche, zumeist regio-
ten Einbruch erlebt hat. In der gegenwärtigen nal gedeutete Unterschiede bei Sprache, Sitten
Krise hat sich dieser Faktor abgeschwächt und und Gebräuchen. Trotz dieser unterschiedli-
die Exportwirtschaft belastet. Dass die hohe chen Lebensweisen ist ihre gemeinsame Iden-
Wachstumsrate nicht empfindlich gestört tität jedoch sehr ausgeprägt, und ein wichti-
wurde, ist seitdem vor allem den Rettungsak- ges verbindendes Element ist der Stolz auf die
tionen des Staates zu verdanken – und der Tat- Heimat China und die chinesische Kultur.
sache, dass es an keinem anderen Ort der Erde
bessere Wachstumsaussichten gibt. Auch des- Nach offizieller chinesischer Lesart gibt
halb strahlt der Stern Chinas weiter. es neben den Han-Chinesen weitere 55 Na-
tionalitäten – ethnische Gruppen, die als an-
Zweifellos ist die chinesische Wirtschafts- erkannte „nationale Minderheiten“ Chinas
entwicklung imposant – ein Gang durch die gelten und deren Größe zwischen einigen
Metropolen des Landes oder die giganti- Tausend und mehreren Millionen Personen
schen Industrieparks und Fertigungsanlagen variiert. Chinesische Lieder besingen die Be-
sagt mehr als tausend Worte  –, doch wider- ziehungen zwischen den verschiedenen Nati-
spruchsfrei ist sie beileibe nicht. Einmal mehr onalitäten der multiethnischen Gesellschaft
zeigt sich, dass ein Kapitalismus ohne Krisen Chinas gern als das Zusammenleben einer
und soziale Widersprüche nicht zu haben ist. großen Familie bestehend aus „56 Brüdern
Das gilt auch für den marktliberalen Staats- und Schwestern“. Die Han-Chinesen sind mit
kapitalismus chinesischer Prägung. etwa 1,2 Milliarden Menschen die zahlenmä-
ßig größte Gruppe und stellen, um im Bild zu
bleiben, den „großen Bruder“ für die übrigen

APuZ 39/2010 15
55 nationalen Minderheiten dar, die als eine und zivilisiertesten Menschen betrachteten.
Gruppe „kleiner Geschwister“ zusammen Im Zuge der Auseinandersetzung mit dem
etwa 106 Millionen Menschen umfassen. Das Westen wich das Denken in kulturellen Ein-
sind nur etwa 8,6 Prozent der Gesamtbevöl- flusszonen ab Ende des 19.  Jahrhunderts all-
kerung, aber die von ihnen bewohnten Regi- mählich der Notwendigkeit, feste territoriale
onen umfassen zwei Drittel der Gesamtfläche Grenzen zu definieren und einen National-
Chinas, insbesondere die rohstoffreichen, staat zu schaffen. Nach den politischen Wirren
aber wenig erschlossenen Grenzgebiete. zu Beginn des 20.  Jahrhunderts bestand für
die neue kommunistische Führung Chinas ab
1949 eine wesentliche Herausforderung darin,
Traditionelles chinesisches Weltbild das chinesische Territorium und seine Gren-
zen zu sichern und die nationale Einheit zu er-
Im traditionellen Weltbild galt China als das reichen. Die chinesische Politik gegenüber den
„Reich der Mitte“. Dieses Zentrum der zi- auf chinesischem Gebiet lebenden ethnischen
vilisierten Welt, in dessen Mittelpunkt der Minderheiten reflektiert diesen Aspekt inso-
chinesische Kaiser lebte, war umgeben von fern, als im offiziellen Sprachgebrauch nicht
„Barbaren“, deren kulturelles Niveau mit von verschiedenen Ethnien (zuqun), sondern
wachsender Entfernung vom Mittelpunkt ab- von 56 in China lebenden Nationalitäten (min-
nahm. Die Ackerbau treibenden Han-Chine- zu) beziehungsweise 55 nationalen Minderhei-
sen fühlten sich diesen „Barbaren“, vielfach ten (shaoshu minzu) gesprochen wird.
waren es Nomaden- und Jägervölker, überle-
gen. Der Konfuzianismus, für viele Jahrhun- Nach der Gründung der Volksrepublik
derte die staatstragende Ideologie Chinas, China bemühte sich der chinesische Staat um
war die Basis dieses Überlegenheitsgefühls. die Identifizierung nationaler Minderheiten.
Nach offizieller chinesischer Definition gilt
Im konfuzianischen Denken ging man da- eine Gruppe dann als nationale Minderheit,
von aus, dass die Ausstrahlung der chinesi- wenn sie sich durch gemeinsame historische
schen Kultur und ihrer Errungenschaften Wurzeln, eine stabile Gemeinschaft von Mit-
so stark sei, dass sich die nicht-chinesischen gliedern mit einem erkennbaren Siedlungsge-
Völker an diese anpassen würden, wenn man biet, eine gemeinsame Sprache sowie ökono-
sie ihnen nur vermittelte. So konnten aus mische und kulturelle Gepflogenheiten von
„Barbaren“ „Chinesen“ werden, wenn diese anderen Menschen unterscheidet. Doch er-
sich in das chinesische System einfügten und weist sich die Anwendung dieser Definition
ihre kulturellen Eigenarten aufgaben. ❙1 Ein als schwierig. Manche Gruppen (wie die Hui)
interessantes Beispiel für die kulturelle An- haben keine eigene Sprache. Zudem leben die
passung sind die in den nördlichen Regionen etwa zehn Millionen Menschen, die den Hui
Chinas lebenden Mandschuren. Zu ihnen zugerechnet werden, in sechs chinesischen
werden heute etwa 10  Millionen Menschen Provinzen – sie gelten als diejenige ethnische
gerechnet. Im 17.  Jahrhundert eroberten sie Gruppe, die am weitesten verstreut in China
China und installierten die letzte Dynastie, lebt. Ihr Siedlungsgebiet ist also kaum abzu-
die Qing. Während dieser Herrschaftszeit, grenzen. Der zentrale Unterschied zwischen
die erst 1911 ein Ende fand, passten sie sich den Han-Chinesen und den Hui ist ihre Re-
jedoch in hohem Maße chinesischen Lebens- ligion, denn die Hui sind islamisch geprägt.
gewohnheiten an. Inzwischen ist sogar ihre Ihre Herkunft geht auf Kaufleute aus dem
Sprache nahezu in Vergessenheit geraten. arabischen und persischen Raum zurück, die
im 7. Jahrhundert nach China kamen. ❙2
Die Unterschiede zwischen verschiedenen
Völkern wurden in China vornehmlich kultu-
rell und über unterschiedliche Stadien der kul- Frühe chinesische Nationalitätenpolitik
turellen Entwicklung interpretiert, wobei sich
die Han-Chinesen als die fortschrittlichsten Der erste Verfassungsentwurf von 1949 ver-
folgte mit Bezug auf ethnische Minderheiten
den Gedanken der „Einheit und Gleichheit“.
❙1  Vgl. Gudula Linck, Die Menschen in den Vier
Himmelsrichtungen. Chinesische Fremdbilder, in:
Helwig Schmidt-Glintzer (Hrsg.), Das andere Chi- ❙2  Vgl. Michael Dillon, China’s Muslim Hui Commu-
na, Wiesbaden 1995, S. 257–289. nity: migration, settlement and sects, Richmond 1999.

16 APuZ 39/2010
Dessen Artikel 50 formulierte, dass alle Na- Namen Tay, Giay oder Nung bekannt sind.
tionalitäten innerhalb der chinesischen Gren- Ein gemeinsames ethnisches Bewusstsein der
zen gleich und Diskriminierung, Unterdrü- Zhuang war zunächst jedoch gering ausge-
ckung sowie Separatismus verboten seien. prägt. In den frühen 1950er Jahren bezeichne-
Der Theorie nach sollten offiziell anerkann- te sich die Mehrheit der Menschen, die heute
te Minderheiten den Han-Chinesen rechtlich zu den Zhuang zählen, selbst nicht als Zhu-
gleichgestellt und in der Ausübung ihrer Reli- ang, sondern identifizierte sich mit verschie-
gion, Sprache und Kultur nicht eingeschränkt denen kleinen, lokalen sozialen Gruppen, die
werden. Zugleich wurde im Sinne der natio- verstreut in Chinas Südwesten lebten und teils
nalen Einheit die unbedingte Integration in im Streit miteinander lagen, andere definierten
den chinesischen Staat gefordert. sich als Han-Chinesen. Keine Regierung vor
1949 hatte sie als Zhuang beziehungsweise als
Wichtiger Teil der chinesischen Nationali- eine gemeinsame ethnische Gruppe betrach-
tätenpolitik war die offizielle Anerkennung tet. Vor diesem Hintergrund scheint es, dass
ethnischer Gruppen als nationale Minderhei- frühe Sonderregelungen für Minderheiten-
ten. Bis zum Jahr 1979 erkannte der chinesi- angehörige wie Selbstverwaltungsrechte oder
sche Staat insgesamt 55 Minderheiten an. Alle Quoten in politischen Gremien Strategien des
späteren Forderungen ethnischer Gruppen chinesischen Staates waren, die isoliert leben-
auf Anerkennung als eigenständige nationale den sozialen Gemeinschaften Südwestchinas
Minderheit wurden von der politischen Füh- unter einer gemeinsamen Bezeichnung in den
rung Chinas abgelehnt. Doch erweist sich die chinesischen Staat zu integrieren. ❙3
offizielle Anerkennung nicht nur deshalb als
problematisch. Es wurden z. B. auch verschie- Beispiele zeigen, dass viele ethnische Grup-
dene ethnische Gruppen, die mehrheitlich in pen nicht prinzipiell die staatliche Berechti-
den Provinzen Sichuan und Yunnan leben, gung zur ethnischen Zuordnung in Zweifel
unter der gemeinsamen Bezeichnung Yi zu- zogen, sondern ihre Kritik gegen eine falsche
sammengefasst, obwohl sie große kulturelle Kategorisierung richteten und sich damit letzt-
Unterschiede aufwiesen. Die Mosuo wiede- lich in die staatliche Ordnung einfügten. Inso-
rum wurden aus vielfältigen, hauptsächlich fern resultiert ethnisches Bewusstsein in Chi-
politischen Gründen nicht als eigenständige na heute aus einem Dreiklang von ethnischem
Gruppe anerkannt, sondern zählen bis heu- Selbstverständnis, der Abgrenzung zu anderen
te zur Minderheit der Naxi. Diese in der Pro- Gruppen sowie der staatlichen ­Zuschreibung.
vinz Yunnan lebende Gruppe umfasst insge- Bereits in den 1950er Jahren fielen die positi-
samt 300 000 Menschen. Im Gegensatz zu den ven Ansätze der chinesischen Nationalitäten-
Naxi ist die Sozialstruktur der Mosuo jedoch politik – das heißt diejenigen politischen Pro-
matrilinear geprägt, die verwandtschaftlichen gramme, welche die ethnischen Minderheiten
Verhältnisse, das Erbrecht und die Abstam- betrafen – den teils mit großer Radikalität in
mungslinie sind also an der Familie der Mut- ganz China umgesetzten politischen Experi-
ter und nicht an der des Vaters orientiert. menten der kommunistischen Führung zum
Opfer. So galt z. B. „lokaler Nationalismus“,
Anerkannte Minderheiten mit größeren also die Förderung der lokalen ethnischen
zusammenhängenden Siedlungsgebieten er- Gruppenzusammengehörigkeit, als schwe-
hielten eine regionale Gebietsautonomie. Da- res Delikt. Mit dem Klassenkampf als Leitli-
her gibt es neben den chinesischen Provin- nie wurden ethnische Konflikte als Konflikte
zen heute fünf sogenannte Autonome Gebiete. zwischen Klassen gedeutet. Nach dem Ver-
Darüber hinaus bestehen weitere autonome ständnis der damals in China dominanten sta-
Verwaltungseinheiten auf den nachgeordne- linistischen Lehre, welche Gesellschaften nach
ten staatlichen Ebenen, den Kreisen und Ge- unterschiedlichen Entwicklungsniveaus ab-
meinden. So wurde beispielsweise im süd- stuft, galten ethnische Minderheiten außer-
westlichen China 1958 das Autonome Gebiet dem als historisch rückständig, wurden nicht
Guangxi der Zhuang geschaffen. Von den 55 selten als unterentwickelt verachtet und sollten
nationalen Minderheiten sind die Zhuang mit mit Hilfe der kommunistischen Ideologie mo-
etwa 16,2 Millionen Menschen heute die größ- dernisiert werden. Besonders schlimm traf es
te Gruppe. Ihr Siedlungsgebiet erstreckt sich
neben drei Provinzen im Südwesten Chinas ❙3  Vgl. Katherine Palmer Kaup, Creating the Zhuang:
auch auf Vietnam und Laos, wo sie unter den Ethnic politics on the PR China, Ann Arbor 1997.

APuZ 39/2010 17
die Minderheiten in der Kulturrevolution von (KPCh) allen Verwaltungsorganen übergeord-
1966 bis 1976, als ihre Sitten und Gebräuche, net. Das Autonomiegesetz bezieht sich auf den
die Schriften und religiösen Ausdrucksfor- staatlichen Verwaltungsapparat und vermag
men verboten wurden. ❙4 Moscheen und Tem- daher die Rechte der ethnischen Minderhei-
pel wurden geschlossen und religiöse Würden- ten nicht ausreichend zu schützen. Außerdem
träger ebenso wie Gläubige verfolgt. Religiöse können formal gewährte Rechte nicht einge-
Feste, bei denen zur Ahnenverehrung Tiere ge- klagt werden, weil China kein Rechtsstaat ist.
opfert wurden, wurden als „Verschwendung“ Bei wichtigen Punkten wie der Ansiedlung
gebrandmarkt, Schamanen wurden als „Be- von Industrieanlagen, der Ausbeutung natür-
trüger“ bezeichnet, Liederfeste verboten, weil licher Ressourcen oder Zuwanderungsregeln
sie „die Produktion behinderten“ oder weil für Han-Chinesen haben die Minderheiten
„anstößige Texte“ gesungen wurden. Vielfach kein formales Mitspracherecht. So kommt es,
kam es zur Zerstörung und Schändung von das in vielen sogenannten Autonomen Gebie-
Kulturgütern und religiösen Stätten, Aufstän- ten ethnischer Minderheiten Han-Chinesen
de wurden brutal niedergeschlagen. ❙5 Diese die Bevölkerungsmehrheit bilden, was zu gro-
Ereignisse stellen eine schwere Hypothek für ßer Unzufriedenheit bei vielen Minderheiten-
die Beziehungen zwischen den Han-Chinesen angehörigen führt. Die Migration erfolgte in
und den ethnischen Minderheiten dar. den vergangenen Jahrzehnten durch staatliche
Umsiedlungen von Han-Chinesen aus den be-
völkerungsreichen Zentren Ostchinas, durch
Wandel der Nationalitätenpolitik die Stationierung von Armee-Einheiten, die
in den 1980er Jahren Verschickung von städtischen Mittelschulab-
gängern in Minderheitengebiete sowie durch
Im Zuge der Reform- und Öffnungspolitik ab inoffizielle Einwanderung. ❙6
1978 und dem wachsenden politischen Inter-
esse, die wirtschaftliche Entwicklung auch in Seit den 1990er Jahren haben sich aufgrund
den Minderheitengebieten zu forcieren, änder- des Rückzugs des Staates und des durch die
te sich die Nationalitätenpolitik. Sie verfolg- Reformpolitik bedingten raschen sozialen
te fortan den Gedanken der „Autonomie und Wandels neue Freiräume für die ethnischen
Gleichheit“. Dieser fand einen ersten Ausdruck Minderheiten und lokale Kulturen ergeben.
in der Verfassung von 1982 und dem „Autono- Im religiösen und kulturellen Bereich wer-
miegesetz“ von 1984, welches den Minderhei- den viele Traditionen wieder gepflegt. Dies gilt
ten formell die weitreichendsten Freiheiten seit nicht nur für den Islam und den Buddhismus,
1949 gewährte. Neben verwaltungstechnischen sondern auch für animistische Vorstellungen.
Rechten wie bei Entscheidungen zur Gestal- So können traditionelle Heiler und Schama-
tung der lokalen Wirtschaftsentwicklung oder nen ihren Tätigkeiten wieder nachgehen und
im Bildungswesen zählten dazu auch Sonder- erfreuen sich auch im urbanen Raum wachsen-
regelungen für Minderheitenangehörige beim der Popularität. Auch steigt die Repräsentation
Hochschulzugang, der Geburtenplanung, der der Minderheiten in den staatlichen Gremien
Verwendung eigener Sprachen und Schriften und eine Ergänzung des Autonomiegesetzes
und einer Quotenregelung in den Parlamenten von 2001 betont insbesondere den Aspekt der
(Volkskongressen) auf den verschiedenen po- Verbesserung von Rekrutierungschancen eth-
litischen Ebenen. Eine wirkliche Autonomie nischer Minderheiten in die staatliche Ver-
besteht jedoch bis heute nicht. waltung. Doch auch weiterhin entspricht der
Anteil der Minderheiten besonders in der Lo-
Aufgrund der politischen Struktur der Volks- kalverwaltung zumeist nicht ihrem jeweiligen
republik ist die Kommunistische Partei Chinas lokalen Bevölkerungsanteil.

❙4  Vgl. June Dreyer, Assimilation and accomodation


in China, in: Michael Brown/Sumit Ganguly (eds.), Armut und Konflikte
Government policies and ethnic relations in Asia and
the Pacific, Cambridge–London 1997, S. 351–391. Das Verhältnis zwischen der Han-Mehrheit
❙5  Vgl. Thomas Heberer, Die Nationalitätenfrage in
und den nationalen Minderheiten ist zwei-
China am Beginn des 21.  Jahrhunderts, in: Gunter
Schubert (Hrsg.), China: Konturen einer Übergangs-
gesellschaft auf dem Weg in das 21. Jahrhundert, ❙6  Vgl. Mette Halskov Hansen, Frontier people, Van-
Hamburg 2001, S. 81–134. couver et al. 2005.

18 APuZ 39/2010
felsfrei konfliktbehaftet. Es lassen sich drei betroffen. Die Umweltverschmutzung durch
zentrale Konfliktfelder unterscheiden: Industriebetriebe führt zu hohen Krank-
heitszahlen. In einigen Bezirken der Miao in
Politisch: Zum einen sind Konflikte politi- Südwestchina beispielsweise ist die Lebens-
scher Natur, weil den Minderheiten Selbstbe- erwartung im Vergleich zum Landesmaßstab
stimmungsrechte beziehungsweise eine gleich- deutlich niedriger. Nach offiziellen Angaben
berechtigte politische Teilhabe fehlen. Sehr ist der Grund in der Wasserverschmutzung
wesentlich resultiert dieser Mangel aus der durch Industrieabfälle zu sehen. Der Nordwes-
Grundstruktur des chinesischen politischen ten Chinas wiederum, in dem früher haupt-
Systems und wird im Rahmen des gegenwär- sächlich Viehzucht betrieben wurde, ist öko-
tigen Gefüges kaum zu überwinden sein. logisch schwer geschädigt, weil Weidegebiete
in großem Umfang in Ackerland umgewan-
Ökonomisch: Zum zweiten basieren Kon- delt wurden. Die für den Ackerbau notwendi-
flikte auf ökonomischen und damit eng ver- ge Bewässerung führte zur Austrocknung von
bunden auch auf ökologischen Problemen. Flüssen und Binnenseen, der Überweidung
Landumwidmung, industrielle Erschließung, der Graslandschaften folgten Versalzung und
Rohstoffexploration und Umweltzerstörung Vegetationsrückgang sowie eine Ausbreitung
bilden den Kerninhalt dieser Art von Konflik- der Wüsten. Die Verschlechterung der Boden-
ten. Die Siedlungsgebiete ethnischer Minder- qualität sowie der Verlust von Anbauflächen
heiten werden in starkem Maße ökonomisch und der Rückgang der Erträge entzieht vie-
ausgebeutet, oftmals allerdings, ohne dass len Angehörigen ethnischer Minderheiten die
die ethnischen Minderheiten an den Erträgen Existenzgrundlage, so dass gerade die jünge-
partizipieren würden. Insgesamt zählt ein ren auf der Suche nach alternativen Einkom-
großer Teil der heutigen Minderheitengebie- mensquellen in die Städte abwandern. In den
te zu den ärmsten Regionen Chinas: 80 Pro- Städten kam es jedoch in den vergangenen Jah-
zent der Menschen in Minderheitengebieten ren immer wieder zu Gewalttätigkeiten zwi-
lebten zu Beginn des neuen Jahrtausends un- schen der Han-Bevölkerung und ethnischen
terhalb der Armutsgrenze. Seit Gründung Zuwanderern, die oftmals für den Anstieg von
der Volksrepublik im Jahr 1949 flossen Sub- städtischer Kriminalität oder den Drogenhan-
ventionen in diese Gebiete, doch wurden sie del verantwortlich gemacht werden.
häufig im Interesse der Han-Gebiete einge-
setzt. Und obwohl ein Wirtschaftswachstum Soziokulturell: Insgesamt ist der chinesische
in den Siedlungsgebieten ethnischer Minder- Modernisierungsweg und der gesellschaftliche
heiten zu verzeichnen ist, haben sich die Ent- Wandel in China für die ethnischen Gruppen
wicklungsunterschiede zu den Han-Gebie- mit einem unterschwelligen Gefühl der Be-
ten, die sich deutlich rascher entwickeln, in drohung verbunden, weil mit ihm die Zuwan-
den vergangenen Jahren vergrößert. derung von Han-Chinesen, die Abwanderung
von Angehörigen der eigenen Ethnie, die in-
Benachteiligt sind Minderheitenangehörige dustrielle Erschließung der Minderheitenge-
auch auf dem Arbeitsmarkt, was zu deutlich biete, Umweltprobleme sowie die Aufwei-
höheren Arbeitslosenraten im Verhältnis zur chung der jeweiligen Kultur einhergehen. So
han-chinesischen Mehrheit führt. Zwar flie- sind es zum Dritten soziokulturell begründe-
ßen Finanzmittel für den Infrastrukturauf- te Spannungen, die aus dem mangelnden Res-
bau und zur Förderung der wirtschaftlichen pekt für die ethnischen Gruppen und die Be-
Entwicklung im Rahmen des sogenannten wahrung ihrer Kultur resultieren.
Go-West-Programms explizit nach Westchi-
na, wo ein Großteil der ethnischen Minder- Die ethnischen Minderheiten reagieren un-
heiten lebt. Dies hat jedoch unter anderem die terschiedlich auf diese Konfliktformationen.
Zuwanderungen von Han-Chinesen begüns- Generell scheint der Gebrauch der eigenen
tigt und damit massiven Einfluss auf die loka- Sprachen und Schriften unter den meisten
len Strukturen genommen. Minderheitenangehörigen ebenso abzuneh-
men wie das Tragen von Trachten. Ausschlag-
In ganz China hat die rasante Wirtschafts- gebend hierfür dürfte zum einen der gesell-
entwicklung schwere ökologische Folgen. Von schaftliche Modernisierungsprozess sein,
dieser Umweltzerstörung sind auch die Sied- mit dem eine Angleichung in Alltagsleben
lungsgebiete ethnischer Minderheiten stark und Konsumgewohnheiten einhergeht. Da

APuZ 39/2010 19
im Bildungssystem außerdem Schriften und diesem westlichsten Teil Chinas leben zehn
Sprachen der Minderheiten als zweitran- nationale Minderheiten. Von den insgesamt
gig betrachtet werden, werden Minderhei- 17 Millionen Einwohnern Xinjiangs sind die
tensprachen oftmals nur in der Grundschule Uiguren mit acht Millionen die größte ethni-
oder der ersten Stufe der Mittelschulen ge- sche Gruppe. Daher heißt das Gebiet offiziell
lehrt, danach ist Chinesisch die einzige Spra- Autonomes Gebiet Xinjiang der Uiguren. Die
che. Wer eine Universität besuchen oder be- Uiguren sind ein islamisch geprägtes Turk-
ruflich aufsteigen möchte, benötigt in erster volk mit langer Tradition und Geschichte und
Linie gute Chinesisch-Kenntnisse. Viele El- Lebensgewohnheiten, die im klaren Kontrast
tern bevorzugen daher aufgrund angenom- zu denjenigen der Han-Chinesen stehen. Als
mener besserer Zukunftschancen eine „chi- Anfang der 1990er Jahre die sowjetischen Re-
nesische“ Ausbildung. ❙7 Insgesamt tendieren publiken Kasachstan, Kirgisistan und Tad-
viele der kleineren ethnischen Gruppen dem- schikistan unabhängig wurden, keimte auch
nach zu Resignation und Anpassung an die bei den chinesischen Uiguren die Hoffnung
Mehrheitskultur. Bei einigen Gruppen wächst auf eine gemeinsame uigurische Republik.
aber auch das Bewusstsein ethnischer Identi- Forderungen nach einem eigenen Staat aber
tät durch eine Rückbesinnung auf die eigenen wurden von den chinesischen Behörden ge-
Traditionen. Bei einem weiteren Teil schlägt waltsam unterdrückt und als Terrorismus be-
dieses Bewusstsein in Widerstand um, wobei zeichnet. Repression, Versammlungsverbote,
vielfältige Formen des aktiven und passiven, die Überfremdung durch die chinesische Zu-
des gewaltfreien und gewalttätigen Wider- wanderung und die vielfältigen Formen der
standes unterschieden werden können. ethnisch bedingten Benachteiligung haben
die Konflikte geschürt, die Polarisierung zwi-
schen Chinesen und Uiguren gefördert und
Xinjiang und Tibet führen anhaltend zu Gewalttätigkeiten. ❙8

Besonders konfliktgeladen ist die Situation Ähnlich problematisch ist die Situation in
der ethnischen Minderheiten im westchinesi- Tibet. Wie bei den Uiguren ist auch bei den
schen Xinjiang. Dort kommt es seit Beginn Tibetern das ethnische Wir-Gefühl und das
der 1990er Jahre immer wieder zu schweren Bewusstsein, nicht „chinesisch“ zu sein,
Auseinandersetzungen mit den han-chine- stark ausgeprägt. ❙9 Der gesamte tibetische
sischen Machthabern und dies konfrontiert Kulturraum ist etwa doppelt so groß wie die
die chinesische Zentralregierung mit größe- heutige chinesische Verwaltungseinheit, die
ren innenpolitischen Problemen als der Fall nach der Gründung der Volksrepublik Chi-
Tibet. Doch anders als die Tibeter haben die na geschaffen wurde. In diesem Autonomen
ethnischen Gruppen Xinjiangs weder inner- Gebiet Tibet sowie in den angrenzenden chi-
halb noch außerhalb Chinas einen dem Dalai nesischen Provinzen Qinghai, Gansu, Sichu-
Lama vergleichbar bekannten Vertreter. Ihre an und Yunnan leben Tibeter. Allerdings sind
Anliegen werden daher international weniger sie ethnisch und sprachlich keine einheitliche
vernommen. Gruppe. Zu der von China anerkannten nati-
onalen Minderheit der Tibeter werden etwa
Das westchinesische Xinjiang, dort wo 4,5  Millionen Menschen gerechnet. Im Au-
China an die Mongolei, Russland, Kasachs- tonomen Gebiet Tibet leben neben den Ti-
tan, Kirgisistan, Tadschikistan und die Regi- betern weitere offiziell von China anerkann-
on Kashmir grenzt, umfasst ein Sechstel der te nationale Minderheiten wie die Salar und
Gesamtfläche Chinas. Als Grenzregion zur die Tu.
früheren Sowjetunion war es stets von beson-
derem sicherheitspolitischem und strategi- Aus chinesischer Perspektive ist Tibet seit
schem Interesse. Heute ist die Region wegen vielen hundert Jahren ein Teil Chinas. Nach
ihres Reichtums an Bodenschätzen wie Erd- dem Verständnis der politischen Führung in
öl, Gas und Kohle von hoher Bedeutung. In
❙8  Vgl. Colin Mackerras, China, Xinjiang and Cen-
❙7  Vgl. Gerard Postiglione, Education of Ethnic tral Asia, London et al. 2009.
Groups in China, in: James Banks (ed.), The Rout­ ❙9  Vgl. Thomas Heberer, Verwaltungsmethode zur
ledge International Companion on Multicultural Ed- Reinkarnation eines Lebenden Buddhas, in: Zeit-
ucation, New York–London 2009, S. 501–511. schrift für chinesisches Recht, 15 (2008) 1, S. 1–9.

20 APuZ 39/2010
Peking wurden die Menschen in Tibet durch Im chinesischen Kernland und an der pros-
den chinesischen Einmarsch 1950 von den perierenden Ostküste siedeln vornehmlich
mittelalterlichen Verhältnissen der Leibei- Han-Chinesen. Die han-chinesische Mehr-
genschaft befreit. Aus Sicht der Tibeter hin- heit lernt die nationalen Minderheiten da-
gegen war dies eine Invasion. Mit Verweis auf her kaum durch persönliche Kontakte bezie-
längere Perioden der faktischen Unabhän- hungsweise im Zusammenleben kennen. Sie
gigkeit Tibets von China betrachten sie die beziehen ihre Kenntnisse über die Lebensge-
Herrschaft der Chinesen über Tibet als illegi- wohnheiten und die Kultur der Minderheiten
tim. Aufgrund der wechselvollen Geschichte vielmehr aus der Schule, aus Büchern, Zei-
ist der völkerrechtliche Status Tibets bis heu- tungen oder aus Film und Fernsehen.
te umstritten.
Betrachtet man diese mediale Wiedergabe
Für China ist Tibet von großer ökonomi- genauer, zeigt sich, dass in Reportagen über
scher und strategischer Bedeutung. War das einzelne Regionen und die dort lebenden eth-
tibetische Hochland früher vor allem eine nischen Gruppen oftmals spezifische Bilder
Pufferzone gegenüber den geostrategischen erzeugt werden. So wird beispielsweise ein
Interessen Russlands und Großbritanniens, scharfer Kontrast zwischen modernen und
ist es heute wirtschaftlich wichtig. Die Er- traditionellen Lebensformen gezeichnet. Die
schließung und Ausbeutung der Rohstoffe, farbenreichen Trachten, natürlichen Land-
die Zerstörung von Klöstern und eine Politik schaften und einfachen landwirtschaftlichen
der ethnischen Verdrängung durch Besied- Arbeitsmethoden der ethnischen Gruppen
lung aus Zentralchina haben das Gesicht Ti- kontrastieren mit der großstädtischen Mo-
bets in den vergangenen Jahrzehnten verän- derne und neuen Technologien. Damit wird
dert. Lhasa, die Hauptstadt der Region und beim Betrachter das Bild der Rückständigkeit
ehemalige Residenz des Dalai Lama, gleicht ethnischer Minderheiten erzeugt und wach
in vieler Hinsicht inzwischen einer chinesi- gehalten, die mit chinesischer Hilfe über-
schen Stadt. wunden werden kann. Nationale Minderhei-
ten werden auch gerne in exotischer Weise
Seit 2006 verbindet eine Eisenbahn Tibet in bunten Gewändern singend und tanzend
mit dem restlichen China. Sie ist das sichtbare dargestellt, wobei Musik, Gesang und Tanz
Symbol für Chinas Willen, Tibet zu erschlie- häufig an den han-chinesischen Geschmack
ßen. Neben wirtschaftlichem Fortschritt will angepasst werden. Diese Bilder verfügen
man auch den Tourismus nach Tibet brin- über einen ästhetischen Wert für die Han-
gen und so hatte sich nach chinesischen An- Chinesen. Aber durch die Reproduktion von
gaben die Zahl der Touristen bereits im ers- Stereotypen über „die Anderen“ dienen sie
ten Halbjahr nach Eröffnung der Zugstrecke kaum dem Erwerb tatsächlicher Kenntnisse
nahezu verdoppelt. Die überwiegende Mehr- über die jeweilige Kultur. ❙10
heit der rund eine Million Besucher kam aus
China, nur 73 000 ausländische Gäste waren Ein Effekt der erfolgreichen wirtschaft-
darunter. Der Widerstand der Tibeter gegen lichen Entwicklung des vergangenen Jahr-
diese „Entwicklungspolitik“ äußert sich in zehnts sind Einkommenssteigerungen, die
Unruhen sowie Fluchtbewegungen beson- es den Chinesen erlauben, zu verreisen. Traf
ders nach Indien und Nepal. Zugleich ist aber man vor 15  Jahren noch vornehmlich Tou-
auch eine Angleichung der tibetischen Jugend risten aus Europa, Amerika und den asiati-
an ein weltliches Leben und seine Konsum- schen Nachbarländern an allen wichtigen Se-
kultur zu beobachten. Diese entfremdet sie henswürdigkeiten Chinas, hat sich das Bild
möglicherweise stärker von ihren religiös- inzwischen gewandelt. Zwar kommen nach
kulturellen Wurzeln, als jeder administrative wie vor viele ausländische Touristen, aber
Druck aus Peking es vermag. die Zahl der Chinesen, die das eigene Land
erkunden, ist in den vergangenen fünf Jah-
ren um 600  Millionen gestiegen. Die Reise-
Tourismus als Wirtschaftsfaktor lust erstreckt sich neben den aus historischen
Gründen berühmten Orten auch auf die Ge-
Die Mehrheit der ethnischen Minderhei-
ten lebt in den dünnbesiedelten chinesischen ❙10  Vgl. Anja-Désirée Senz/Yi Zhu, Von Ashima zu
Randgebieten im Norden, Westen und Süden. Yi-Rap, Duisburg 2001.

APuZ 39/2010 21
biete der ethnischen Minderheiten, vor al- Gerhard Paul
lem die nord- und südwestlichen Landesteile.
Aufgrund der vielen dort lebenden ethni-
schen Minderheiten gelten diese Regionen als
„Chinas Mona Lisa“ –
exotisch.

Für diese Gebiete ist der Tourismus eine


Zur Geschichte des
wichtige, oft die einzige Einnahmequelle. So
entstanden in den vergangenen Jahren auch
Mao-Porträts und sei-
sogenannte „Minderheitenparks“. Dort soll
die Lebensweise einzelner Minderheiten, ihre ner globalen Rezeption
Trachten, Zeremonien und Musik für Touris-
ten vorgeführt werden. Oftmals werden da-
bei auch Teile der materiellen Kultur – Klei-
dung, Gefäße, Musik – feilgeboten, die an den
Geschmack der Touristen angepasst wurden,
E nde des Jahres 2007 erschien in spani-
schen Zeitungen eine Anzeige des fran-
zösischen Automobilherstellers Citroën: Von
um sie besser vermarkten zu können. Diese einer Anschlagfläche
Form der Kommerzialisierung wird nicht herunter schielt Mao Gerhard Paul
von allen positiv beurteilt. Während die Ei- Zedong, Vorsitzender Dr. rer. pol., geb. 1951; Profes-
nen die Einkommensverbesserungen begrü- des Zentralkomitees sor am Institut für Geschichte
ßen, sehen Andere darin einen Ausverkauf (ZK) der Kommunis- und ihre Didaktik an der
beziehungsweise eine Aushöhlung der loka- tischen Partei Chinas Universität Flensburg, Auf dem
len Kultur. Die Einen lehnen diese Form der (KPCh) von 1949 bis Campus 1, 24943 Flensburg.
musealen Präsentation als unauthentisch ab, 1976, dem neuesten paul@uni-flensburg.de
die Anderen sehen darin eine Chance, kul- Citroën-Modell hin- www.prof-gerhard-paul.de
turelle Gebräuche vor dem Vergessen zu be- terher. Nach Protes-
wahren. Und wo die Einen die Parks als „tou- ten aus China musste sich der Autobauer beim
ristische Ausweichorte“ begrüßen, welche chinesischen Volk entschuldigen und die Wer-
touristische Überfremdung und die damit bung einstellen. Der Anzeige zugrunde lag
verbundenen Probleme für die Dörfer (wie das offizielle Staatspor­trät Maos auf dem Platz
Müllentsorgung) reduzieren helfen, kritisie- des Himmlischen Friedens, dem Tiananmen
ren die Anderen die stereotype Darstellung Platz, in Peking. ❙1 Dieses Porträt ist als „Chinas
von traditionellen Lebensweisen. Mona Lisa“ und als „Mona Lisa der Weltrevo-
lution“ bezeichnet worden. Es sei Chinas erster
Wie auch immer man urteilt, die „Minder- und einziger globaler Markenartikel, befand
heitenparks“ könnten zumindest ein Hinweis die New York Times, „a kind of George Wa-
darauf sein, dass die Mehrheitsgesellschaft shington, James Dean and Che Guevara wrap-
im Gegensatz zu früher Interesse an den na- ped in one“. ❙2 Wie die Fotos von Marilyn Mon-
tionalen Minderheiten zeigt und langsam ein roe und Che Guevara gehört es zu den Ikonen
Umdenkungsprozess einsetzt, der die Re- des 20. Jahrhunderts. Mit Maßen von sechs mal
levanz ethnischer Vielfalt für das kulturel- vier Metern und einem Gewicht von zwei Ton-
le Leben Chinas erkennt. Wenn mit dem ge- nen ist es ein Bild der Superlative und vermut-
stiegenen Interesse auch der Respekt für die lich das größte Outdoor-Porträt, das es gibt.
Minderheiten wächst, wäre dies ein wichtiger Allein während der Kulturrevolution wurde
Beitrag zur Minderung bestehender sozialer es in einer Auflage von 2,2 Milliarden Exemp-
Spannungen. In politischer Hinsicht müsste laren vervielfältigt. Der Vergleich mit Leonar-
die gegenwärtige Autonomie in ein System do da Vincis „Mona Lisa“ drängt sich auf. Wie
der territorialen Selbstverwaltung überführt diese schaut Mao den Betrachter frontal an,
werden, bei dem den ethnischen Minderhei- und wie Da Vincis Gemälde entfaltet auch das
ten die Gestaltung ihres Lebensraumes ob- Mao-Bild eine eigene ästhetische Kraft.
liegt und dadurch eine Bewahrung ihrer
lokalen Kulturen unter selbstgewählten Vor-
zeichen möglich wird. Bild-Variationen
Mindestens acht Varianten des Mao-Porträts
auf dem Tiananmen Platz lassen sich unter-

22 APuZ 39/2010
scheiden. Über ein erstes Porträt ist nur be-
kannt, dass es im Frühjahr 1949 und damit
noch vor der Gründung der Volksrepublik
(VR) China auf dem Balkon über dem Tor des
Himmlischen Friedens angebracht war. Das
erste offizielle Porträt, das man während der
Proklamation der VR am 1. Oktober 1949 den
Massen präsentierte und das nun unterhalb
des Balkons angebracht war, war ein Tag zu-
vor aufgehängt worden. Es beruhte auf einer
Fotografie, auf der Mao eine achteckige Kap-
pe und eine grobe, dunkle Uniformjacke mit
Stehkragen trägt. Seine unmittelbare Funk-
tion war es, den Menschen auf dem riesigen
Platz das Bild ihres Staatsgründers zu zeigen,
der auf der Tribüne nur als winziger Punkt
zu sehen war und von dem es bislang nur we-
nige Bilder gab. Mao hat den Kopf hier leicht
nach rechts gewendet. Über die Betrachter
auf dem Platz hinweg schaut er teilnahmslos
in die Ferne. Zum 1.  Mai 1950 ersetzte man
dieses Bild durch ein Gemälde, das Mao nun
ohne Kappe zeigte. Wie auf dem ersten Por-
trät war der „Große Vorsitzende“ aus der
Untersicht dargestellt, den Kopf leicht nach
links und den Blick gegen den Himmel ge-
richtet – ebenfalls ohne Blickkontakt zu den
Menschen auf dem Platz. Zum ersten Jahres-
tag der Staatsgründung löste ein viertes Port-
rät dieses Bild ab, auf dem Mao den Kopf nun
wieder leicht nach rechts gedreht hatte, aber
weiterhin den Blickkontakt zu den Massen Mao Zedong; verschiedene Bild-Variationen
mied. Das eigentliche Ursprungsporträt, wie Quelle: Sammlung Paul, Flensburg.
es bis heute dem offiziellen Porträt zugrun-
de liegt, stammt aus dem Jahr 1952. Es wurde
von dem Kunsterzieher Zhang Zhenshi ge- nach rechts gewendet hat, wodurch nur mehr
schaffen und beruhte ebenfalls auf einer foto- sein rechtes Ohr zu erkennen ist; sowie das
grafischen Vorlage. Erstmals schaute Mao die seit Ende der 1970er Jahre bis heute offizi-
Betrachter nun mild lächelnd und direkt an. ell gültige Two-ear-Porträt von Liu Yang.
Dass nur ein Ohr zu sehen war, wurde später Der „Große Vorsitzende“ wirkt hier deut-
als ignorant kritisiert und abgeändert. lich älter, die Augenhöhlen weisen Schatten
auf, sein Gesicht ist breiter und leicht aufge-
Neben diesen Porträts lassen sich drei wei- dunsen, wodurch die bislang markanten Ge-
tere Varianten ausmachen: das Two-ear-Por- sichtszüge verschwimmen.
trät von 1958; das im Unterschied zu 1952 ge-
glättete, auf der linken Gesichtshälfte leicht
verschattete Porträt Wang Guodongs von Zeitloses Herrscherbild
1966, auf dem Mao nun deutlich älter und vä-
terlicher dargestellt ist und seinen Kopf wie Im Unterschied zu anderen Herr­scher­por­
schon auf dem Porträt von 1950 wieder leicht träts des 20. Jahrhunderts dominiert seit nun-
mehr 60  Jahren eine immer gleiche, ikonen-
haft starre Darstellung das offizielle Porträt
❙1  Vgl. Gerhard Paul, Das Mao-Porträt. Herrscher-
Maos. Dieser erscheint nicht als der Agitator
bild, Protestsymbol und Kunstikone, in: Zeithistori-
sche Forschungen/Studies in Contemporary Histo- wie vor ihm Lenin, als Anführer einer Mas-
ry, 6 (2009) 1, S. 58–84. senbewegung wie Hitler oder als Verkünder
❙2  New York Times vom 28. 5. 2006. des Fortschritts wie Stalin, sondern einzig als

APuZ 39/2010 23
der alterslose väterliche „Führer“. Mit dem Anders als spätere Poster lässt das offiziel-
Verzicht auf jedwede Herrschaftssymbole le Mao-Porträt keine originären chinesischen
und -insignien betont das Porträt die über- Traditionen etwa der Tusche- oder Bauern-
natürlichen und göttlichen Fähigkeiten des malerei erkennen. Vielmehr ist es der westli-
„Großen Vorsitzenden“, dessen Wille und chen beziehungsweise der sowjetischen Ma-
Kraft als Person im Mittelpunkt der Dar- lerei verpflichtet, wie sie seit 1949/50 an den
stellung stehen. Anders auch als das bekann- Kunstakademien in China gelehrt wurde, de-
te Stalin-Bild von Fjodor Schurpin, das den ren Lehrer vielfach in der Sowjetunion stu-
Diktator mit Moderne und Zukunft  – sym- diert hatten. Und auch der Kult, der um das
bolisiert durch Traktoren, Hochspannungs- Porträt später gemacht wurde, erinnert eher
masten und Sonnenaufgang – in Verbindung an byzantinische Traditionen, in dem der
bringt, verzichtet das Mao-Porträt auf jegli- Kaiser als Abbild Gottes erschien. Wie da-
che identifizierbaren Hintergründe. Dadurch mals sollten die Untertanen in ihrer Haltung
wird die transzendente Qualität des Porträ- zum Bild und im Umgang mit diesem Staat
tierten hervorgehoben und dieser zur über- und Partei ihre Loyalität bezeugen.
menschlichen Figur verallgemeinert. Durch
den fehlenden Bildhintergrund, den Ver-
zicht auf zusätzliche Herrschaftsinsignien als Blick aus dem Bild und Aura des Ortes
auch durch die nur minimalen Änderungen
am Ursprungsbild ist es den Einflüssen der Das Mao-Porträt stellt eine offene Kompo-
Zeit enthoben. Mao erscheint keiner beson- sition dar, die ihre Wirkung vor allem durch
deren Rolle verpflichtet, sondern einzig als die von ihm ausgelösten Blickbeziehungen
über den Massen schwebender gottähnlicher zwischen Betrachter und Bild sowie durch
„Führer“. Durch die fotorealistische Abbil- den Ort seiner Präsentation bezieht. ❙4 Mit
dung sowie durch die Fixierung der Betrach- dem Blick aus dem Bild findet eine Raum-
ter durch den Porträtierten bleibt Mao zu- erweiterung statt. Das Bild öffnet sich dem
gleich eine ­diesseitige Person. Betrachter und fängt ihn geradezu ein. In
diesem Sinne ist das Porträt nicht nur ge-
Unterstrichen wird dieser Eindruck durch staltetes Abbild, sondern zugleich Medi-
die graue, Uniform ähnliche Jacke, die er auf um, das den Betrachter zur Teilnahme auf-
allen Porträts seit 1951 trägt. Zeigten ihn die fordert. Wie die „Mona Lisa“ entfaltet das
ersten Porträts noch in einem dunklen Mili- Mao-Porträt damit eine eigene Kraft, indem
täranzug mit hoch geschlossenem Stehkragen, es unabhängig von den Standorten und Be-
bildete ihn Xin Mang erstmals in einem grauen wegungen jedes einzelnen Betrachters auf
Anzug ab. Dieses, später als Mao-Anzug po- dem Platz auf jeden Blick simultan reagiert
pulär gewordene Kleidungsstück bestand aus und die Betrachter durch den Blick auf das
einem modernisierten schmalen Rundkragen, Bild an Maos „übernatürlichem Wesen“ teil-
zwei symmetrisch aufgenähten Brust- und haben lässt. Allerdings agieren Porträt und
Seitentaschen sowie fünf Uniformknöpfen, Betrachter nie auf Augenhöhe. Vielmehr
die den Anzug bis zum Kragen verschließen. schwebt Mao über diesen, was das Über-
Anders als Stalin verzichtete Mao auf jedwe- natürliche und Göttliche des Porträtier-
den Ordensschmuck; vielmehr bestach seine ten betont. Sein Blick überstrahlt den Platz
Kleidung durch betonte Schlichtheit, absolu- und von diesem aus die Welt. Dieser Effekt
te Korrektheit und strenge Symmetrie. His- sei sehr bewusst geschaffen worden, wie ei-
torisch geht das Kleidungsstück auf einen ner der Mao-Porträtisten später einräum-
von Sun Yat-sen, den Revolutionsführer und te: „This image is very different from any
Gründer der chinesischen Republik, in Auf- indoor painting in its method of represen-
trag gegebenen Anzug zurück, der 1923 von tation and visual effect. (…) It should be
der Kuomintang zur Pflichtkleidung der chi- equally ideal when viewed from front or si-
nesischen Beamten erklärt und seit 1927 auch dewalks, and equally powerful when ­v iewed
von dem jungen Mao getragen wurde. ❙3 from any spot in Tiananmen Square, whe-
ther from the Golden Water Moat, the nati-
❙3  Vgl. Tina Mai Chen, Mao Zedong and Sun Yat-
sen suits, in: Edward L. Davis (ed.), Encyclopedia of ❙4  Vgl. Wu Hung, Remaking Beijing: Tiananmen
contemporary Chinese culture, London-New York Square and the Creation of a Political Space, London
2005, S. 373 f. 2005, S. 78.

24 APuZ 39/2010
onal flag pole, or from the Monument to the deren Elementen des Platzes einen symboli-
People’s Heroes.“ ❙5 schen Raum, der traditionelle mit neuen sozi-
alistischen Elementen verknüpft. Seit 1950 ist
Seine Wirkung erzielt das Mao-Porträt da- das Porträt durch die Schriftzüge „Lang lebe
rüber hinaus durch den besonderen Ort sei- die Volksrepublik China“ und „Lang lebe die
ner Präsentation. Zur klassischen Ikonografie Einheit der Völker der Welt“ eingefasst, wel-
des Herrschers zählte immer auch ein entspre- che die Bedeutung Maos als Gründer des mo-
chendes architektonisches Umfeld. Vor allem dernen China wie als Weltpolitiker betonen.
symbolische Orte des Sieges wie Feldherren-
hügel, Triumphbögen oder Siegessäulen eig- Die Funktion des Ortes und des Tores als
neten sich als Hintergründe, vor denen man Resonanzkörper des Porträts ist das Ergebnis
sich wie in einer Blue Box porträtieren ließ. einer rigorosen Stadtplanung. Diese löste das
Auch das Mao-Porträt macht hiervon keine Tor seit 1958 aus seinem traditionellen Um-
Ausnahme. Seine Wirkung ist daher auch im feld, ließ andere Tore und Monumente sowie
Kontext des Ortes und dessen Architektur die den Platz begrenzenden Mauern schleifen
zu sehen. Diese statteten das Bild mit einer und neue Monumente wie das Denkmal der
zusätzlichen Aura aus. Der Ort fungiert da- Volkshelden errichten. Zusätzliche symboli-
bei als metaphorischer Körper, der dem Bild sche Bedeutung erhielt der Ort dadurch, dass
Bedeutung und Sinn verleiht. Für die kana- das Tor seit 1949 mit dem offiziellen Staats-
dische Kunsthistorikerin Francesca Dal Lago emblem über eine Krone verfügte.
ist der Ort des Porträts der wichtigste Faktor
der Bildwirkung überhaupt. ❙6 Bis zur Kulturrevolution wurde das Porträt,
einer christlichen Reliquie vergleichbar, nur
Seit 1949 hängt das Porträt unverändert an wenige Tage im Jahr gezeigt: um den 1.  Mai
der Nordseite des Tiananmen Platzes. Für sowie am Nationalfeiertag, dem 1.  Oktober.
die Betrachter befindet es sich optisch vor Seit 1966 hängt das Bild dauerhaft an seinem
der Kulisse des mächtigen Kaiserpalastes. heutigen Platz. Einmal im Jahr, jeweils unmit-
Das Bild thront gleichsam über dem Tor des telbar vor den Feiern zum 1. Oktober, wird es
Himmlischen Friedens aus dem 15. Jahrhun- seitdem durch ein weitgehend identisches Bild
dert, das bis 1911 für alle normal Sterblichen ersetzt. Lediglich ein einziges Mal – nach dem
den Zugang zur Verbotenen Stadt versperr- Tode Stalins – hing an seiner Stelle zu Ehren
te, und exakt an der Stelle, an der bis zum des verstorbenen Sowjetführers dessen Kon-
Ende der Kaiserzeit die kaiserlichen Dekre- terfei. Nach Maos Tod 1976 wurde das farbige
te der Öffentlichkeit bekannt gemacht wor- Porträt als Zeichen der Trauer für kurze Zeit
den waren – traditionell ein Ort besonderer durch eine Schwarzweißfotografie ersetzt, an
Bedeutung. Topografisch befindet es sich auf dessen Rändern ein Trauerflor angebracht war.
der Zentralachse des Pekinger Stadtplans. Seit dieser Zeit nun bezieht sich Mao gleich-
Zugleich hängt es unterhalb der Tribüne, von sam auf sich selbst, indem er über den riesigen
der aus Mao 1949 die VR China proklamierte Platz auf sein eigenes Mausoleum blickt und
und die wiederum von dem offiziellen Staats- somit den gesamten Platz beherrscht.
emblem – den ährenumkränzten fünf golde-
nen Sternen und dem goldenen Zeichen des
Kaiserpalastes und des Tores des Himmli- Bildkult
schen Friedens – gekrönt wird. Für Millionen
chinesischer Kommunisten ist der Tianan- Erst mit der Kulturrevolution setzte sich
men Platz seit 1949 der Ort des Sieges und das Mao-Porträt als wichtigstes Andachts-
das symbolische Zentrum des neuen Chi- bild und als allgegenwärtige Ikone in China
na. Das Porträt besitzt somit keine dekora- durch. ❙7 Voraussetzungen hierfür waren sei-
tive Funktion, es beherrscht vielmehr einen ne multimediale Präsenz und die unterschied-
zentralen Ort und kreiert zusammen mit an- liche Materialität seiner Darstellungen. Seit

❙5  Ge Xiaoguang zit. nach: Jia Yinting (Hrsg.), Tianan- ❙7  Vgl. Robert Benewick, Icons of Power: Mao Ze-
men, Peking 1998, S. 92. dong and the Cultural Revolution, in: Harriet Evans/
❙6  Vgl. Francesca Dal Lago, Personal Mao: Reshaping Stephanie Donald (eds.), Picturing Power in the
an Icon in Contemporary Chinese Art, in: The Art People’s Republic of China – Posters of the Cultural
Journal, 58 (1999) 2, S. 46–59, hier: S. 48. Revolution, Lanham 1999, S. 123–138.

APuZ 39/2010 25
der Kulturrevolution begrüßten lebensgro- ter zum alleinigen Führer der neuen kommu-
ße Maos die Besucher in den Eingängen von nistischen Regierung Chinas; kleinere Abbil-
öffentlichen Gebäuden. An markanter Stel- dungen sollen regional die Autorität über das
le positioniert zierten sie in Form von Plaka- geeinte Land gewährleisten.“ ❙10
ten Regierungsgebäude, Schulen, Kindergär-
ten, Parks und Kultureinrichtungen. Kopien
des Tiananmen Porträts befanden sich jetzt in Bild gegen Bild
fast jedem Haus. Mit der Mao-Bibel, die 1966
die Auflagenhöhe von einer Milliarde Exem- Die Beziehungen zwischen Herrschern und
plare überschritt und deren Frontispiz eben- Beherrschten erschöpften sich auch in China
falls das Porträt des „Großen Vorsitzenden“ keineswegs nur in kultischer Verehrung und
schmückte, erfuhr das Bild eine weitere Ver- Erlösungsglauben. Gerade dort, wo die Bür-
breitung. Für einige Zeit nahm die Verehrung ger in ihrer Haltung zum Bild und im Um-
Maos geradezu rituellen Charakter an, wenn gang mit diesem Staat und Partei ihre Loya-
Mao-Worte vor dem Bild rezitiert, Loyalitäts- lität bezeugen sollten, war das Porträt immer
tänze vor dem Porträt aufgeführt oder gera- auch Ziel von Protest. Bekannt wurden vor
dezu fanatisch Kopien hergestellt wurden. Ein allem die Demonstrationen vom Frühjahr
sowjetischer Beobachter schrieb beeindruckt: 1989. Wu Hung hat diese als Kulminations-
„Bauern ziehen mit Mao-Postern auf die Fel- punkt einer image-making movement be-
der. Manchmal zäunen sie die Felder mit ziehungsweise als war of monuments be-
Mao-Bildern ein. Bauern aus Tibet platzie- zeichnet. ❙11 Nicht zufällig handelte es sich
ren Mao-Büsten neben Bildnissen von Bud- bei vielen Akteuren um Kunststudenten und
dha. Rotgardisten tragen das Porträt Maos Künstler. Die Aktionen begannen am 19. Ap-
auf Brusthöhe wie Ikonen durch Straßen ril, als Studenten der Pekinger Zentralakade-
und Gänge.“ ❙8 Mitunter hatte der Kult skur- mie der Bildenden Künste nach dem Tod des
rile Züge, wenn dem Porträt Erlösungs- und Reformpolitikers Hu Yaobang ein Porträt des
Wunderqualitäten zugeschrieben wurden. Die Politikers am Denkmal der Heroen des Vol-
Zeitung Peking Review berichtete von einem kes gegenüber dem Mao-Bild anbrachten. Für
Mann, der bewusstlos in einem Krankenhaus Schlagzeilen sorgte am 23.  Mai der Farban-
gelegen und beim Betrachten eines Mao-Por­ schlag von drei jungen Männern aus dem Ge-
träts die Erinnerung zurück erhalten habe. ❙9 burtsort Maos auf das Mao-Porträt. Wie ei-
ner der Beteiligten später erklärte, habe man
Das US-Satiremagazin The Onion brachte die Kritik an der Kommunistischen Partei
die Herrschaftsfunktion des Bilderkults auf „an ihrer Wurzel Mao“ demonstrieren wol-
den Punkt. Unter der Überschrift „Riesiges len. Da andere Demonstranten eine Diskre-
Mao-Poster erringt die Macht in China“ hieß ditierung ihrer Bewegung befürchteten, und
es in einer fiktiven Meldung aus Peking vom auch Mao unter ihnen vielfach noch als po-
2.  Oktober 1949: „Das chinesische Volk fei- sitive Ikone gegen das korrupte Regime und
erte heute, einen langen Bürgerkrieg been- sein Porträt damit als sakrosankt galt, wur-
dend, die Machtübertragung an ein sechs mal den die drei „Frevler“ von Mitstreitern ge-
vier Meter großes Poster des Vorsitzenden packt und der Polizei übergeben. Höhepunkt
der Kommunistischen Partei Chinas Mao der Proteste war die Errichtung eines Ge-
Zedong. Nachdem die postergeführte Regie- genmonuments, der Goddess of Democracy,
rung in ihr Amt eingeführt war, fand ein gro- am 30.  Mai 1989 durch Kunststudenten un-
ßer Parteitag auf dem Platz des Himmlischen mittelbar gegenüber und auf Augenhöhe mit
Friedens statt, währenddessen das Bild vom dem Mao-Porträt. ❙12 Die Freiheitsgöttin auf
Balkon herunter über die versammelte Mas- dem Tiananmen Platz schaute Mao direkt an.
se schaute. Tausende waren gekommen, um Sie bekundete damit symbolisch ihren An-
dem Poster, das jetzt die bevölkerungsreichs-
te Nation der Erde führt, ihren Tribut zu ❙10  Scott Dikkers (ed.), Our Dumb Century: 100
zollen. Das Zentralkomitee wählte das Pos- ­ ears of Headlines from America’s Finest News
Y
Source, New York et al. 1999, S. 77.
❙11  W. Hung (Anm. 4), S. 109, 85 und 113.
❙8  Zit. nach: George Urban (ed.), The Miracles of ❙12  Vgl. Tsao Tsing-yuan, The Birth of the Goddess
Chairman Mao: A compendium of devotional litera- of Democracy, in: Jeffrey N. Wassertrom/Elisabeth
ture 1966–1967, London 1971, S. 171–178, hier: S. 175 f. J. Perry (eds.), Popular Protest and Political Culture
❙9  Ebd., S. 144. in China, Boulder 1994, S. 140–147.

26 APuZ 39/2010
spruch auf Teilhabe an der Macht. Unmittel- und Kapitalismus, zur „Mona Lisa der Welt-
bar zu Beginn der blutigen Niederschlagung revolution“, avanciert. ❙15 Sich einen Mao-But-
der Protestbewegung am 4. Juni 1989 wurde ton anzustecken oder das Porträt an die Wand
das Gegensymbol unter den Augen Maos von seiner Studentenbude zu pinnen, galt als ra-
einem Armeepanzer zerstört. Nachdem ein dikalste Antithese zur bürgerlichen Welt wie
Panzer die Zelte der auf dem Platz campie- zur revisionistischen Alt-Linken. Das Mao-
renden Demonstranten überrollt hatte, steu- Bild avancierte durch solche Praktiken zu eine
erte er mit Vollgas die Statue der Freiheits- der Hauptikonen der Studentenbewegung
göttin an, die daraufhin zusammenstürzte und zur „Popikone der Weltrevolution“, ❙16
und so zur wichtigsten Märtyrerin der De- ohne dass sich die „68er“ jemals ernsthaft mit
mokratiebewegung avancierte. der Herrschaftspraxis ihres leuchtenden Vor-
bilds auseinandergesetzt hätten.

„Mona Lisa der Weltrevolution“ Indes demonstrierte die spätkapitalistische


Gesellschaft zugleich ihre Fähigkeit, solche
Mit den antiautoritären Protestbewegungen Protestsymboliken in Warenkultur und Kul-
der 1960er Jahre und der Pop Art der 1970er turindustrie einzuverleiben. Die Rockgruppe
Jahre begann das Mao-Porträt um den Erd- Pink Floyd integrierte es in ihre Bühnenshow.
ball zu zirkulieren. Es wurde Teil eines glo- Angeregt vom Mao-Kult der französischen
balen cultural beziehungsweise visual flow, ❙13 Studenten verhalf der Pariser Modeschöpfer
in dem sich Bedeutung und Funktion des Bil- Pierre Cardin seit 1967 dem Mao-Anzug im
des immer neu veränderten. Befördert durch Westen zum Durchbruch. International ver-
eine merkwürdig positive Rezeption der Kul- blasste dabei immer mehr die Erinnerung an
turrevolution in den antiautoritären Milieus Mao als brutalem Gewaltpolitiker.
des Westens übertrug sich der Mao-Bildkult
seit 1967 auf die studentischen Protestbewe-
gungen in Westeuropa und den USA: der erste Mona Lisa der Pop Art
Schritt auf dem Weg des Mao-Bildes zur glo-
balen Ikone des Jahrhunderts. Vergleichbar Inspiriert vom Mao-Kult der „68er“ griffen
der zwischen Reliquienkult und Protestgestus Künstler das Mao-Porträt auf. Auch diesen
schwankenden Verehrung Che Guevaras wur- ging es weniger darum, sich kritisch mit der
de das Mao-Bild auf Demonstrationen in Pa- diktatorischen Praxis oder dem totalitären
ris, New York und Berlin wie eine Monstranz Kunststil in China auseinanderzusetzen als
mitgeführt. Es wurde Teil eines öffentlichen vielmehr darum, die eigenen Mechanismen
Kollektivakts, der politische Identität und me- der Bildproduktion in Medien und Kunst zu
diale Wirkung gleichermaßen zu garantieren reflektieren. Das Mao-Porträt fungierte dabei
schien. In Deutschland war es vor allem die lediglich als Folie. Bereits 1966 schuf Thomas
Kommune 1, die durch spektakuläre Aktio- Bayrle ein mit einem Elektromotor betriebe-
nen wie den Abwurf von Mao-Bibeln von der nes kinetisches Holzrelief mit dem Mao-Por-
Berliner Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche trät der 1950er Jahre, das sich in drei Schritten
das Mao-Porträt als Protestsymbol und Pro- in einen roten Stern verwandelte. Ein Mao-
vokationsmedium bekannt machte. ❙14 Anfangs Porträt der 1960er Jahre lag einem Gemälde
sei der Mao-Kult noch eine „Jugendstim- Gerhard Richters zugrunde. Dieser reprodu-
mung“ und „radikal chic“ gewesen; später sei zierte Maos Gesicht in extremer Unschärfe,
das Mao-Porträt zur Antithese und zum Sym- wodurch dieser gespensterhaft wie verklärt
bol des Protestes gegen Konsumgesellschaft zugleich wirkte. Ebenfalls noch vor Andy
Warhol hatten auch Roy Lichtenstein, Sig-
❙13  Vgl. Marita Sturken/Lisa Cartwright, Practices of mar Polke und Salvador Dali Mao zum Ge-
looking. An introduction to visual culture, Oxford genstand künstlerischer Arbeiten ­gemacht.
2001, S.  315 ff.; Fuwei Shen, Cultural Flow between
China and the outside world throughout history, Pe-
king 1996. ❙15  Gerd Koenen, Rotwelsch und Zeichensprache, in:
❙14  Vgl. Laura K. Diehl, Die Konjunktur von Mao- Andreas Schwab/Beate Schappach/Manuel Gogos
Images, in: Sebastian Gehrig/Barbara Mittler/Fe- (Hrsg.), Die 68er. Kurzer Sommer – lange Wirkung,
lix Wemheuer (Hrsg.), Kulturrevolution als Vor- (Ausst.-Kat.), Frankfurt/M. 2008, S.  262–271, hier:
bild? Maoismen im deutschsprachigen Raum, S. 269.
Frankfurt/M. 2008, S. 179–201, hier: S. 179. ❙16  L. K. Diehl (Anm. 14), S. 179.

APuZ 39/2010 27
Zur Ikone der Pop-Kultur wurde Mao in- es konsumierbar und trugen damit letztlich
des erst durch Andy Warhol und die Pop Art, zur globalen Popularisierung und Mytholo-
die als transnationale Übersetzungsmaschi- gisierung Maos bei.
ne fungierte. ❙17 Indem sich Warhol der ideolo-
gisch wie propagandistisch geformten Ikone Am radikalsten dekonstruiert wurde das
bediente, die er in seinem Stil adaptierte und Mao-Porträt von dem aus Peking stammen-
nach Gesetzen des kapitalistischen Kunst- den, der Kunstrichtung des Zynischen Realis-
marktes vertrieb, führte er den mit dem Mao- mus verpflichteten Künstler Zhang Hongtu.
Porträt verbundenen Mythos ad absurdum. In Installationen wie „Pingpong-Mao“ griff
Wie in der Markenwerbung reduzierte er den Zhang die Ikonenhaftigkeit des Mao-Bildes
chinesischen Staatschef auf den Status einer auf, dessen Gesichtumriss bereits genügt, um
Markenware, bei der es letztlich nur auf die die Erinnerung an das Ursprungsbild zu ak-
richtige Verpackung, das heißt auf die Farb- tivieren. Einer der wenigen Künstler, die die
gebung von Gesicht und Hintergrund, an- Produktion des Mao-Bildes und den Mao-
kam. Insgesamt schuf Warhol mehr als 2000 Kult selbst zum Thema machten, war Jörg
Mao-Porträts. ❙18 Mit ihnen machte Warhol Immendorf, ehemals selbst Mitglied der mao-
Mao noch zu dessen Lebzeiten zum größ- istischen Kommunistischen Partei Deutsch-
ten Popstar des Jahrhunderts und zur belie- lands (KPD). Mit seinem Gemälde „Anbe-
big reproduzierten Massenware. In der ver- tung des Inhalts“ von 1985 betrieb er zugleich
fremdenden Entpersonalisierung geriet das ein Stück künstlerischer Biografiearbeit.
Mao-Porträt zur teuer gehandelten Ware des
Kunstmarktes.
„Mao Craze“
Im Zentrum der künstlerischen Themati-
sierung Mao Zedongs im Westen standen so Obwohl nach Maos Tod und dem öffentli-
primär die eigenen medialen und künstleri- chen Eingestehen von Fehlern Maos, dessen
schen Perspektiven und Mechanismen und Bilder schrittweise aus der Öffentlichkeit
kaum einmal das offizielle Herrscherpor- verschwanden, blieb das Porträt vom Tianan-
trät in China selbst oder gar die historische men Platz hiervon verschont. Da Mao anders
Gestalt. Wie andere Künstler thematisiere als andere Diktatoren des 20.  Jahrhunderts
Warhol nicht den historischen Partei- und selbst nie entmachtet oder fundamental in-
Staatsführer, „sondern das modifizierte, frage gestellt wurde, überlebte sein Porträt
kommerzialisierbare Symbol, die künstli- die politischen und kulturellen Veränderun-
che Maofigur der westlichen Perspektive, gen nach 1989. Es blieb daher als politische
die für bestimmte Schlagworte stand“. ❙19 In- Ikone, als banaler Alltagsgegenstand sowie
dem Künstler wie Warhol und Richter Mao als Objekt der Kunst auch im modernen Chi-
in markt- und medienkritischer Absicht auf na präsent.
eine von Kunstsammlern zu erwerbende
Ware und auf ihre dekorative Hülle reduzier- Der Bruch mit der chinesischen Variante
ten, ihn damit zur konsumierbaren Kunst- des Sozialistischen Realismus nach 1989 be-
person machten, lösten sie ihn aus seinen förderte eine kritisch-ironische Auseinan-
originären historisch-politischen Kontexten dersetzung mit dem Mao-Bild in der chine-
heraus und leisteten somit der Aufspaltung sischen Gegenwartkunst. Künstler begannen
von Oberfläche und Hintergrund, von Bild mit dem idealisierten Porträt zu spielen wie
und Abbild Vorschub. Auf diese Weise ent- etwa Wang Keping, der das Abbild des gereif-
ideologisierten sie das Porträt, negierten sei- ten Mao mit dem einer korpulenten buddhisti-
ne originäre Herrschaftsfunktion, machten schen Gottheit verband und damit auf dessen
Vergötzung anspielte, oder Liu Wei, in des-
❙17  Vgl. Lydia Haustein, Global Icons. Globale Bild- sen Gemälde Mao nur mehr Hintergrund für
inszenierung und kulturelle Identität, Göttingen ein Kinderfoto ist. In ihrer Thematisierung
2008, S. 233 ff. des Mao-Kults orientierten sich chinesische
❙18  Vgl. Sabine Müller, Symbole in der modernen Me- Künstler vor allem an den Mao-Bildern Ger-
dien- und Konsumgesellschaft – Andy Warhols Mao
Wallpaper, in: Jörn Lamla/Sighard Neckel (Hrsg.),
hard Richters und Andy Warhols. Als bedeu-
Politisierter Konsum – konsumierte Politik, Wiesba- tendster Repräsentant der Pop Art-Künstler
den 2006, S. 185–204. Chinas und einer der ersten, der Mao als Su-
❙19  Ebd., S. 202. jet in die chinesische Kunstszene einführte,

28 APuZ 39/2010
gilt Yu Youhan. Seit den frühen 1990er Jahren Marcus Hernig
setzte er sich wiederholt mit dem Mao-Por-
trät und seiner Vergangenheit auseinander.
Dabei benutzte er sowohl Darstellungstech-
„Großartiges
niken der traditionellen chinesischen Malerei
als auch der offiziellen Propagandakunst und
der Pop Art. Nur selten erfolgte die Ausein-
Reich der Mitte“:
andersetzung in genuin chinesischen Kunst-
traditionen wie den populären Neujahrsbil-
Zur ­Aktualität
dern, die die Luo Brothers verwendeten.
­chinesischer Mythen
Heute könne man in China auf keine mo-
derne Kunstausstellung gehen, auf der sich
nicht mindestens ein Drittel der Künstler „ir-
gendwie an Mao abarbeitet, und sei es nur,
weil sich solche Kunst gut verkauft“, so der in
W eida de zhongguo“ (großartiges Reich
der Mitte) – so lautet das Urteil vieler
Chinesen über ihr Land. Die Aussage wird
Peking lebende ehemalige Titanic-Redakteur oft spontan und we-
Christian Y. Schmidt im Jahr 2008. ❙20 Tatsäch- nig reflektiert getrof- Marcus Hernig
lich provozierte beziehungsweise motivierte fen, als wäre sie eine Dr. phil., geb. 1968; Außer-
weniger die Politik und herausragende Stellung S elbst verst ä nd l ich- ordentlicher Professor für
Maos die Künstler, sondern vor allem dessen keit. Das „großarti- German and Chinese Studies
Porträt und der es umgebende Bilderkult. Zum ge Reich der Mitte“ an der Zhejiang-Universität
Teil war und ist diese Auseinandersetzung bio- ist ein Mythos, der so in Hangzhou; Sida Lu 266,
grafisch oder politisch motiviert, zum Teil ver- alt ist wie die Kultur 2/3 f, 200081 Shanghai/China.
selbständigte sie sich analog der öffentlichen des Reiches am Gel- mhernig@gmx.net
Nutzung des Mao-Bildes zum modischen ben Fluss und Yangt-
Selbstzweck. „Überall und immer wieder“, so se-Strom. Eine beispiellose Entwicklung zu
Schmidt, werde Mao „mit Ikonen der westli- einem nicht nur wirtschaftlich bedeutenden
chen Moderne kombiniert, tritt er mit Marilyn Staat in der globalisierten Welt des 21. Jahr-
Monroe und der Freiheitsstatue auf oder trinkt hunderts lässt den Mythos heute wieder ak-
Coca Cola“. Die standardisierte Kunstwa- tuell erscheinen.
re Mao löste die standardisierte Propaganda­
kunst um den „Großen Vorsitzenden“ ab. Ursprünglich war der Begriff „Reich der
Mitte“ ein Plural und bezeichnete die geogra-
Im heutigen China ist der ideologische fische Lage kleiner Fürstentümer am Gelben
Mao-Kult einem unpolitischen Alltagskult Fluss, die als „Staaten der Mitte“ ❙1 den Kern
gewichen, der das Mao-Bild als mächtiges des heutigen Chinas bildeten. Im Laufe der
Motiv im Leben der meisten Chinesen prä- Jahrhunderte entstanden weitere Staaten um
sent hält. ❙21 Mao-Porträts zieren Schaufenster diese geografischen Kerne herum. Sie wur-
und Kioske. Models gefallen sich in T-Shirts den schließlich vom Potentaten Qin Shi Hu-
mit dem Aufdruck des Konterfeis des „Gro- ang (259–210 v. Chr.), der sich als „erster Kai-
ßen Vorsitzenden“. Das Mao-Bild fungiert ser von Qin“ bezeichnete, im Jahr 221 v. Chr.
als Warenzeichen für anspruchsvolle Kon- geeint. So wurden die „Länder in der Mitte“
sumartikel. Das Bild hat gar den Status eines zum „Reich der Mitte“.
Talismans erhalten, indem es von Taxi- und
Busfahrern benutzt wird, um Gefährt wie Der geografische Begriff „Reich der Mitte“
Passagiere vor Unfällen zu bewahren. All das wurde sehr bald zu einem kulturellen: Das,
hatten die Werbefachleute von Citroën nicht was in der Mitte lag und ein geeintes Reich
bedacht, als sie 2007 ihre Werbekampagne bildete, galt als höherstehender und entwi-
mit dem Porträt Maos planten. ckelter als die meist nomadisierenden „Bar-
barenländer“ an der Peripherie. Wer „in der
Mitte“ lebte, der war gewiss, in einer Regi-
❙20  Frankfurter Rundschau vom 1. 8. 2008.
on zu leben, die laut Selbstwahrnehmung als
❙21  Vgl. Michael Dutton, From Culture Industry to
Mao Industry, in: Boundary, 32 (2005) 2, S. 151–168.
❙1  Jacques Gernet, Die chinesische Welt, Frankfurt/M.
1988, S. 58.

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politisches und kulturelles Zentrum der Welt zu verstehen, welche vielen Menschen in ei-
galt, ohne dass diese Region viel von der „Au- ner Gesellschaft bekannt ist, und welche die
ßenwelt“, besonders jener in Europa, wusste. Welt der Menschen mit der Welt der Götter
und Geister verknüpft. Doch ist dies im Fol-
Auch viele Europäer waren bis zu Beginn genden nicht gemeint, wenn vom Mythos des
des 19.  Jahrhunderts davon überzeugt, dass „Reichs der Mitte“ die Rede ist. Passender
China eine der „bestmöglichen Welten“, ist die Definition von Roland Barthes: Un-
wenn nicht gar die „beste mögliche Welt“ un- ter Mythos versteht er viel allgemeiner und
seres Planeten darstellte – im Unterschied zu wesentlich diesseitiger eine „Aussage“ des
heute waren darunter viele prominente Deut- aktuellen öffentlichen Diskurses. Er ist „im
sche: Denker wie Gottfried Wilhelm Leibniz allgemeinsten Sinn (…) ein Begriff, ein Pro-
oder Christian Wolff outeten sich damals als dukt oder ein Erklärungsmuster mit großer
„China-Fans“, die in sinoskeptischen und eu- öffentlicher Ausstrahlung.“ ❙4
rozentrischen Denkern wie Johann Gottfried
Herder ihre „Gegenspieler“ fanden. Ihre Dis- Der Gedanke des „Reichs der Mitte“ er-
kurse drifteten schnell ins Extreme, egal ob innert an jenen Baum, den Roland Barthes
Leibniz den chinesischen Kaiser als „hervor- als Beispiel für seine Definition des Mythos
ragenden Fürsten“ ❙2 pries oder Herder China anführt: „Ein Baum ist ein Baum. Gewiss!
als eine „balsamierte Mumie, mit Hierogly- Aber ein Baum, der von Minou Drouet aus-
phen bemalt und mit Seide umwunden“ ❙3 ab- gesprochen wird, ist schon nicht mehr ganz
tat. Nicht zuletzt seit Marco Polos Erzählun- ein Baum, er ist ein geschmückter Baum,
gen war der Mythos vom sagenumwobenen der einem bestimmten Verbrauch angepasst
„Reich der Mitte“ auch im Westen geboren. ist, der mit literarischen Wohlgefälligkeiten,
mit Auflehnungen, mit Bildern versehen ist,
Genährt wurde der Mythos aktuell durch kurz: mit einem gesellschaftlichen Gebrauch,
die beiden internationalen Großereignisse: der zu der reinen Materie hinzutritt.“ ❙5 Weit
den Olympischen Spielen 2008 in Peking und wichtiger als die geografische Situation, „in
der Weltausstellung Expo 2010 in Shanghai. der Mitte zu liegen“, ist demnach die kultu-
Beide Veranstaltungen waren beziehungs- relle Bedeutung des „Reichs der Mitte“, das
weise sind Superlative staatlicher Planungs- heißt der „gesellschaftliche Gebrauch“ die-
leistung, die China wieder in den Mittel- ser Aussage: Spätestens seit der Reichseini-
punkt der Welt rückten: Mit 16 Medaillen gung und den ersten Kaisern manifestierte
Vorsprung wurden während der Olympi- sich in den Köpfen der gesellschaftlichen Eli-
schen Spiele die USA von China in der Na- ten Chinas ein kulturelles Überlegenheits-
tionenwertung auf Rang zwei verwiesen. gefühl als Bewohner dieses zentralen Rei-
70  Millionen Besucher holten die Welt mit- ches, „das an Alter und Cultur sich selbst das
ten hinein nach Shanghai, das sich noch bis Erste aller Länder, die Mittelblume der Welt
Oktober 2010 mit Akteuren aus 242 Natio- nennet“. ❙6
nen und internationalen Organisationen als
„Stadt der Mitte“ fühlen kann. In einer glo- Das „Reich der Mitte“ galt als „Erfolgssto-
balisierten Welt kulturell erneut zum „Reich ry“, das selbst Krisenzeiten in Form von Er-
der Mitte“ zu werden, ist ein Kerninhalt des- oberungen durch feindlich gesinnte Völker
sen, was heute gern als „Chinesischer Traum“ wie die Mongolen erfolgreich überstand. Der
bezeichnet wird. Erfolg bestand darin, diese „niedrig stehen-
den Barbaren“ ohne entwickelte Agrar- und
Stadtkultur und vor allem ohne entwickelte
Gefühl des Besonderen: Literatur zu höherwertigen Menschen umzu-
Mythos vom „Reich der Mitte“ formen – kurzum: sie zu sinisieren. Sie erhiel-

Im griechischen Sinne ist unter dem Begriff ❙4  Roland Barthes, Mythen des Alltags, Frankfurt/M.
„Mythos“ eine Geschichte oder Erzählung 2003, S. 85.
❙5  Ebd.
❙6  Herder zit. nach: A. Hsia (Anm.  2), S.  118. Der
❙2  Gemeint war der Mandschu-Kaiser Kangxi (von Ausdruck „Mittelblume“ geht zurück auf die Selbst-
1654 bis 1722). Zit. nach: Adrian Hsia, Deutsche bezeichnung Chinas als zhonghua, dessen zweiter
Denker über China, Frankfurt/M. 1985, S. 14. Bestandteil -hua sowohl Blume oder Blüte als auch
❙3  Ebd., S. 129. aufblühen bedeutet.

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ten damit eine neue Identität: die chinesische. nem Male empfindlich gestört, weil der Me-
Der Mythos vom „Reich der Mitte“ erweiter- chanismus der „Sinisierung“ des Fremden
te sich um das in China verbreitete Bild einer bei den „widerspenstig-arroganten Europä-
„großen Familie“ verschiedener Volksgrup- ern“ nicht funktionierte: Sie nahmen sich,
pen (minzu), die nun nach vielen blutigen was sie wollten, erzwangen einen ungleichen
Kriegen und Konflikten verbunden durch ei- Vertrag nach dem anderen und trotzten sich
nen kulturellen Kanon lebten. weite Küstenstriche als Handelshäfen und
koloniale Einflusszonen ab. Überall zeigten
Einer beeindruckenden Verwaltungsbüro­ sie offen ihre technologische Überlegenheit.
kratie gelang es spätestens ab der Zeit der Zwischen 1894 und 1895 gelang es auch dem
Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 220 n. Chr.), kleinen Inselreich Japan den großen Drachen
chinesische Kulturmerkmale fest in die Orga- China derart vernichtend zu schlagen, dass
nisationsstruktur des Staates zu integrieren, China „von dieser Zeit an nicht mehr Herr
so dass diese zu einem allgemein verbindli- über sein Schicksal“ war. ❙8 Danach herrsch-
chen Bildungskanon wurden. Der Konfuzi- te Chaos. Der Schriftsteller Lu Xun bezeich-
anismus und seine Schriften gehörten zu den nete den Zustand Chinas während des frü-
bekanntesten Merkmalen einer spezifisch hen 20. Jahrhunderts in einem Brief an seine
chinesischen Kultur. Wer in China Erfolg ha- spätere Frau Xu Guangping „hoffnungs-
ben beziehungsweise das Land führen wollte, los“, wenn nicht bald die Revolution erfolgen
der musste sich diese Kulturmerkmale aneig- ­w ürde. ❙9
nen. Dazu gehörte vor allem das darin vor-
geschriebene Verhältnis zwischen Herrscher Spätestens mit der Niederlage des „Reichs
und Untertanen zu verinnerlichen, wie sie die der Mitte“ im Opiumkrieg 1842 gegen die
fünf Beziehungen (wulun) konfuzianischer Engländer begann der hartnäckige chinesi-
Ethik vorgeben. ❙7 Für den Untertan bedeute- sche qifu-Komplex, das Gefühl des „Gede-
te dies: „Diene Deinem Herrscher und ordne mütigt werdens“, aus dem nur die Zukunft
Dich unter“. Auch der Herrscher wurde ver- das Land befreien konnte. Eine Zukunft, die
pflichtet: „Sorge für Stabilität und Ordnung aus „mehr Kampfstärke, erfolgreichen Krie-
im Staate, so dass Dein Untertan ein sicheres gen gegen die Unterdrücker und allgemein
Leben führen kann.“ mehr Aggressivität gegenüber Unterdrü-
ckern aller Art“ bestehen müsste. ❙10 Selbst-
Bis heute stellen diese Ver­hal­tens­prin­zi­ stärkung durch wirtschaftliches und einge-
pien die Grundlage des chinesischen Staa- schränkt auch militärisches Wachstum ist
tes dar. Ihre Erfüllung legitimiert das Man- seit den Niederlagen des 19. Jahrhunderts, vor
dat des Herrschers und ist Kernaufgabe der allem aber seit dem Zweiten Japanisch-Chi-
Politik. Ein wesentlicher Grund dafür, dass nesischen Krieg von 1937 bis 1945, einer der
der Mythos des „Reichs der Mitte“ bis heute wichtigsten Diskurse Chinas.
aufrechterhalten werden konnte, so auch un-
ter der „modernen“, sogenannten sozialisti- Zwar etablierten die Kommunisten unter
schen Regierung, liegt im Erfolg dieses Regu­ Mao 1949 eine neue Dynastie und knüpf-
lierungs­prinzips. ten damit wieder an das starke „Reich der
Mitte“ der Vergangenheit an. Doch auch
die „Mao-Dynastie“, die Strategien politi-
„Reiches Land und starkes Volk“: scher Stärke und wirtschaftlicher Autarkie
Mythos von der Auferstehung Chinas verfolgte, konnte das kollektive Gefühl ei-
ner gedemütigten Nation nicht überwinden.
Mitte des 19.  Jahrhunderts traf China der Seine Herrschaftsjahre von 1949 bis 1976
größte Schock seiner Geschichte: Die erfolg-
reichen Angriffe britischer Kanonenboo- ❙8  J. Gernet (Anm. 1), S. 504.
te stürzten das stolze „Reich der Mitte“ in ❙9  Lu Xun/Xu Guangping, Letters Between Two.
die quasi-koloniale Abhängigkeit. Das his- Correspondence between Lu Xun and Xu Guang-
torische Gedächtnis Chinas sah sich mit ei- ping, Beijing 2000, S. 36.
❙10  Vgl. Warum sind Chinesen das am meisten  gede­
mütigte Volk der Welt? (Weishenme zhongguoren shi
❙7  Die fünf Beziehungen regeln das Verhältnis zwi- shijie shang zui shou qifu de minzu?), online: www.­
schen Eltern und Kindern, Herrschern und Unterta- 360doc.com/­content/­08/1020/13/­77483_1794042.shtml
nen, Ehepartnern, Geschwistern und Freunden. (21. 8. 2010).

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werden im kollektiven Bewusstsein der chi- Demütigungen“ endgültig zur Vergangenheit
nesischen Gesellschaft zumindest teilweise werden lässt.
als weitere Jahre der „Demütigung“ ❙11 emp-
funden, weil sie am Ende in der „Großen An die Stelle des agrarischen Chinas, das
Proletarischen Kulturrevolution“ münde- noch in den 1990er Jahren das Selbstbild präg-
ten, während derer fast jede Familie ein Op- te, ist im 21. Jahrhundert eine zukunftsorien-
fer zu beklagen hatte und „das eigene Land tierte und technologiegläubige urbane Kultur
seine Kinder fraß“. In der Mao-Zeit fielen getreten. Sie treibt die gesellschaftliche Ent-
bis zu 70  Millionen Menschen direkt oder wicklung an und fördert den neuen Mythos
indirekt politischen Kampagnen und Ver- eines Phönix, der endgültig aus der Asche
folgungen zum Opfer. ❙12 der Vergangenheit aufsteigt. Dieser Phönix
– im Übrigen ein chinesischer Mythos ❙14 – ist
Symbol dessen, was in Anklang an den ame-
„China der Demütigungen“ rikanischen Traum als „Chinesischer Traum“
bezeichnet wird. Die Olympischen Spiele in
Das Gefühl der Demütigung sitzt tief in der Peking und die Weltausstellung in Shanghai
kollektiven Erinnerung Chinas. Denn trotz gaben Chinas Zukunft ein weltweit beach-
wirtschaftlich äußerst erfolgreicher drei tetes Gesicht. Beide Großereignisse führten
Jahrzehnte nach der Reform- und Öffnungs- Chinas „großen 100-jährigen Traum“ (bai
politik seit 1978, welche der chinesischen Ge- nian da meng) deutlich vor Augen: „ein rei-
sellschaft neuen Stolz und Selbstbewusst- ches Land und ein starkes Volk“ (fu guo qi-
sein einflößten, sind besonders die Stimmen ang min) zu sein – „der Traum eines jeden
laut, die an Chinas Demütigung durch die ­Chinesen“. ❙15
Europäer vor mehr als 150  Jahren erinnern.
Die Beispiele hierfür sind zahlreich wie etwa Gerade der kollektive Wunsch, „ein starkes
der Bestseller aus den 1990er Jahren Chi- Volk zu sein“, könnte Anzeichen für einen
na kann „Nein“ sagen. ❙13 Er war eine emoti- tief sitzenden Minderwertigkeitskomplex
onale Protestschrift gegen die internationale vieler Chinesen gegenüber Europäern und
Führungsrolle der USA. Sein Erscheinen fiel Amerikanern sein. Man empfindet sich als
in eine Phase besonders starken wirtschaft- schwach im Vergleich zu den erfolgreichen
lichen Wachstums, weshalb China kann Völkern des Westens und wünscht sich mehr
„Nein“ sagen als Symbol für ein neues Chi- Mut und Stärke, wie sie der Autor Jiang Rong
na gilt, das fortan um die Wiedererlangung in seinem erfolgreichen Buch Wolf Totem
seines Status als „Reich der Mitte“ mit dem (Lang Tu Teng) seinen Protagonisten einfor-
„Reich der Mitte der Gegenwart“, den USA, dern lässt: „Noch immer thronen Wölfin und
konkurriere. ihre Kinder über der Stadt Rom. In den star-
ken Volks-Adern ihrer Nachfolger, Germa-
Erst mit der Reform- und Öffnungspolitik nen und Angelsachsen, floss ebenfalls Wolfs-
seit 1978 bot sich aus Sicht der chinesischen blut. Und das schwache chinesische Volk, das
Eliten eine historische Chance, das Image ei- Han-Volk bedarf unbedingt einer solchen In-
nes gedemütigten Landes zu überwinden. In fusion wilden Blutes. Ohne den Wolf gäbe es
dieser Phase übernahm der technologische die Geschichte der Menschheit so nicht, wie
Fortschritt die Aufgabe, die Gegenwart so zu sie ist.“ ❙16
gestalten, dass wirtschaftliche Stärke gepaart
mit internationalem Ansehen das „China der Der „Chinesische Traum“ neuer Stärke be-
steht an der Oberfläche aus jenen Bildern,
die ein Times-Reporter in den ­Wochen der
❙11  Vgl. J. Gernet (Anm. 1), S. 504.
❙12  Vgl. Jung Chang/Jon Halliday, Mao – Das Le-
ben eines Mannes, das Schicksal eines Volkes,
München 2007, S.  17; kontroverse Debatten über ❙14  Der Phönix ( fenghuang oder feng) gilt als König
die Regierungszeit Maos online: lkcn.net/bbs/­ der Vögel und symbolisiert Glück und Harmonie.
index.­php?showtopic=227331 (21. 8. 2010). Wie der Drache (long) ist er eine Art Totem der Han-
❙13  Song Qiang (Hrsg), Zhongguo keyi shuo bu: Chinesen, der großen Mehrheit im Lande.
lengzhan hou shidai de zhengzhi yu qinggan jue- ❙15  Zhongguo ren de bai nian da meng (Der große
ze (China kann „Nein“ sagen: Politische und emo- Traum der Chinesen), online: www.ddbc.org/gospel/
tionale Entscheidungen in der Ära nach dem Kalten sky/revel-1.htm (23. 7. 2010).
Krieg), Peking 1996. ❙16  Jiang Rong, Lang tu teng, Peking 20082, S. 148.

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Olympischen Spiele eingefangen hat: Ein lung vor allem mit den USA, die der einzige
Land, das zum ersten Mal sportlich die USA wirkliche Rivale um die Position des Primus
bezwingen und somit ein wenig „Wolfsna- sind, und ein wenig auch mit den Europä-
tur“ im Sinne Jiang Rongs zeigen konnte. ern, was künftig allerdings von der Einig-
Noch stärker aber beeindruckte den Korres- keit Europas abhängen wird. Wieder im kul-
pondenten, dass er den alten amerikanischen turellen Sinne „Reich der Mitte“ zu sein,
Pioniergeist des 19. und 20.  Jahrhunderts, nährt den „Chinesischen Traum“ neuer na-
„the optimism, dynamism, the patriotism, tionaler Größe.
the cando-spirit, the determination to leave
the next generation better off than one’s Mit dem zwangsläufigen Niedergang der
own“, ❙17 im China des 21. Jahrhunderts wie- transatlantisch geprägten Weltordnung kommt
derfinden konnte. dem alten und neuen „Reich der Mitte“ eine
Schlüsselposition zu, dessen konkrete Auf-
Im Gegensatz dazu messen einige chine- gaben der „Chinesische Traum“ kaum an-
sische Autoren den „Chinesischen Traum“ spricht: China muss zu einer der wichtigen
eines wirtschaftlich, politisch und kulturell Integrationskräfte für eine stabile Weltord-
erstarkten Landes eher an den Bedürfnissen nung aus Ost und West, Nord und Süd wer-
des Alltags: In der Verbesserung adäqua- den. Die Funktion, die es im Kleinen bereits
ter Bildungsangebote für eine breite Masse im Falle des Korea-Konflikts inne hat, gilt es
junger Menschen ❙18 als große Hoffnung ei- zunehmend auch in anderen Spannungsbe-
ner bildungsorientierten Gesellschaft, die reichen zu erfüllen: die der friedlichen po-
China immer war, werde der „Chinesische litischen Mittlerrolle. Gerade Chinas gute
Traum“ wach gehalten. Ein anderer chine- Beziehungen zum Iran und anderen Kon-
sischer Autor zeigt sich gar äußerst kritisch fliktherden können einer wirklich integrati-
gegenüber dem Konstrukt des „Chinesi- ven Rolle Chinas in der Welt, einem neuen
schen Traums“ als das kollektive Streben ei- Verständnis als „Reich in der Mitte“, dienlich
nes Staates, endlich die Demütigungen der sein.
Vergangenheit zu überwinden. Für ihn ist
diese Art des „Chinesischen Traums“ derje- Die Zukunft liegt daher eher bei denen
nige einer privilegierten Ober- und Mittel- – sei es in Europa oder in China  –, die er-
schicht des Landes, die ihre Verantwortung kannt haben, dass ein friedliches Zusam-
für das „Kollektiv“ nie gefunden habe. Die menleben „in der Mitte“ nur durch interna-
armen Schichten der Bevölkerung blieben tionale Kooperation Wirklichkeit werden
davon völlig ausgenommen. Ein „Chinesi- kann. Zur weiteren Einbindung des Landes
scher Traum“ könne nur dann ein kollekti- in multilateral-globale Organisationen, Ver-
ver sein, wenn die Privilegierten ihre Auf- bände und Abkommen bedarf es einer Inter-
gabe darin sähen, die Unterprivilegierten zu nationalisierung des Landes (auch im Inne-
unterstützen. ❙19 ren) und Kooperationen von Chinesen und
Nicht-Chinesen bei der Bewältigung chine-
sischer Strukturprobleme beispielsweise in
Land zwischen den Bereichen Bildung und Armutsbekämp-
Traum und Wirklichkeit fung. Davor steht aber die Notwendigkeit für
den Abbau der auf beiden Seiten propagier-
Ökonomisch und zunehmend auch politisch ten kulturellen Dichotomie: „wir und die“,
ist China wieder in den Mittelpunkt der „unsere Kultur und ihre Kultur“. Wenn diese
Welt gerückt. Allerdings teilt es diese Stel- Art der Zusammenarbeit möglich wird, dann
vergrößert sich die Chance, dass China auch
❙17  The Chinese Dream has replaced America’s, in: international als ein „großartiges“ Land an-
The Times vom 23. 8. 2008. erkannt wird.
❙18  Cherish the Chinese Dream, in: People’s Daily
Online vom 12. 2. 2009, online: http://english.peop-
le.com.cn/90001/90780/6591151.pdf (23. 7. 2010).
❙19  Vgl. Meiguo meng yu Zhongguo meng (Der ame-
rikanische und der „Chinesische Traum“), in: Guang-
ming Wan (Guangming Netz) vom 17. 7. 2010, online:
http://view.news.qq.com/a/20100717/000025.htm
(23. 7. 2010).

APuZ 39/2010 33
China: Administrative Gliederung und ethnolinguistische Gruppen
Heinrich Kreft auf (etwa 100 Milliarden US-Dollar im Jahr
2009). Durch die globale Finanz- und Wirt-
Chinas Aufstieg – schaftskrise ist die Bedeutung Chinas für die
Weltwirtschaft weiter gestiegen. Während

eine Herausforderung die Wirtschaftsleistung in den OECD-Län-


dern 2009 deutlich schrumpfte, konnte Chi-
na dank erheblicher Konjunkturspritzen sei-
für den „Westen“ nen Wachstumskurs halten. In 2010 wird ein
Wachstum der chinesischen Volkswirtschaft
von über neun Prozent erwartet, womit Chi-

D er wirtschaftliche und in der Folge po-


litische Aufstieg Chinas ist der Mega­
trend unserer Zeit. Wir sind Zeitzeugen einer
na wie schon im vergangenen Jahr der wich-
tigste unter den wenigen verbliebenen Wachs-
tumspolen der Weltwirtschaft sein dürfte.
geopolitischen Macht-
Heinrich Kreft verschiebung vom eu-
Dr. phil., geb. 1958; Botschafter ro-atlantischen Raum Wachsender Einfluss Chinas
und Sonderbeauftragter für den in die asiatisch-pazifi- in der Weltpolitik
Dialog zwischen den Kulturen sche Region mit China
im Auswärtigen Amt. als neuem Machtzen­ Der ökonomische Aufstieg des Landes führt
heinrichkreft@msn.com trum. Aus Warte der auch zu einem politischen: Das Land entwi-
USA ist China der ckelt sich zu einer Macht mit nicht nur re-
einzige ernst zu nehmende zukünftige Riva- gionalen, sondern globalen Ambitionen.
le. Daher sehen einige bereits eine neue Zeit China ist ohne Zweifel eine Weltmacht im
der Bipolarität (G-2) heraufziehen – was nicht Werden. Nach Jahrzehnten relativer Isolation
nur in Europa auf Skepsis und Ablehnung und der Konzentration auf die eigene wirt-
stoßen würde. Seit Beginn der Reform- und schaftliche Entwicklung ist das Land seit den
Öffnungspolitik Chinas im Jahr 1978 ist das 1980er Jahren auf die Weltbühne zurückge-
„Reich der Mitte“ dank zumeist zweistelliger kehrt – mit schnell wachsenden Handelsbe-
Wachstumsraten von der Peripherie ins Zen­ ziehungen zu immer mehr Ländern und seit
trum der Weltwirtschaft gerückt. Im zweiten der Jahrtausendwende auch mit wachsendem
Quartal 2010 hat China gemäß eigener Sta- politischen, diplomatischen und kulturellen
tistiken die Wirtschaftsleistung Japans über- Einfluss. Damit einher gehen zunehmende
troffen und sich hinter den USA als weltweit Auslandsinvestitionen und Entwicklungs-
zweitgrößte Volkswirtschaft etabliert. Chi- hilfeprogramme vor allem in Afrika. Durch
nas Anteil am Welthandel ist von unter einem diesen Aufstieg werden für nahezu alle Staa-
Prozent vor 25  Jahren auf heute über sechs ten der Welt die bilateralen Beziehungen zu
Prozent angestiegen. Das Land hat Deutsch- China immer wichtiger: Auch der aktuelle
land im vergangenen Jahr als „Exportwelt- Auftragsboom für die deutsche Exportwirt-
meister“ abgelöst. Das Pro-Kopf-Einkommen schaft wird insbesondere von der hohen chi-
im Land konnte von 1980 bis 2008 mehr als nesischen Nachfrage nach Investitionsgütern
verzehnfacht werden. Damit ist auch die Ar- und Automobilen gespeist.
mut im Lande signifikant zurückgegangen.

Als weltweit größter Halter von Devi- Chinas Aufstieg verändert die Welt
senreserven spielt China auch im Weltwäh-
rungssystem eine immer wichtigere Rolle. Der Aufstieg Chinas hat nicht nur ökonomi-
Die wachsende Bedeutung Chinas auf den sche und ökologische Folgen, sondern auch
Weltfinanzmärkten wird dadurch deutlich, politische, geopolitische und sicherheitsrele-
dass die ersten vier der zehn größten Ban- vante. Europa und die USA sehen sich immer
ken der Welt ihren Sitz im „Reich der Mit- mehr gezwungen, ihre Position in einer im-
te“ haben. Ausländische Direktinvestitionen mer weniger euro-atlantisch geprägten Welt
strömen weiter in das Land – allein 2008 fast neu definieren zu müssen. Auch die gegen-
150 Milliarden US-Dollar. Chinesische Fir- wärtige geopolitische Lage in Asien wird vor
men sind in die Weltliga aufgestiegen und ex-
portieren nicht nur, sondern treten auch zu- Der Autor vertritt im Beitrag ausschließlich seine per-
nehmend selbst als Investoren im Ausland sönliche Meinung.

APuZ 39/2010 35
allem durch das größere Engagement und den China bereits 2035 – also erheblich früher
zunehmenden wirtschaftlichen, politisch-di­ als bisher angenommen – die USA als größte
plo­matischen, kulturellen und militärstrategi- Volkswirtschaft der Welt ablösen könnte.
schen Einfluss Chinas bestimmt. Durch sein
wachsendes wirtschaftliches Gewicht, seine Trotz des Wachstumstempos der vergan-
zunehmende soft power (wie kulturelle Anzie- genen Jahre verfügt China aber erst über ei-
hungskraft auf die asiatischen Nachbarn), sei- nen Anteil von etwa sieben Prozent am Welt-
ne Stellung als Nuklearmacht und ständiges bruttosozialprodukt gegenüber jeweils einem
Mitglied im Sicherheitsrat der Vereinten Na- Drittel Europas und der USA. Doch bereits
tionen (VN), sein Engagement in regionalen in 20  Jahren wird China seinen Anteil ver-
und multilateralen Organisationen ist ein chi- dreifacht und damit zu Europa und den USA
nesischer Beitrag zur Lösung vieler regionaler aufgeschlossen haben. Als Folge der rapiden
und globaler Fragen inzwischen unerlässlich. Wirtschaftsentwicklung verfügt China nicht
nur dank gewaltiger Exportüberschüsse über
Dennoch sind die USA nach wie vor der si- Rekorddevisenreserven von 2,4 Billionen
cherheitspolitische Stabilitätsanker Asiens und US-Dollar, sondern ist in diesem Jahr auch
werden es auf absehbare Zeit bleiben, da dies zum größten Emittenten von klimaschädli-
im Interesse der meisten Staaten Asiens, wel- chen Gasen geworden. Die künftige Energie-
che wichtige regionale Verbündete der USA politik Chinas wird einen prägenden Einfluss
sind, ist. ❙1 Das Verhältnis zwischen den USA auf den globalen Klimawandel haben.
und China und damit zwischen der bisherigen
Führungsmacht und dem aufstrebenden Land Trotz aller Dynamik darf nicht übersehen
ist weltweit zur wichtigsten bilateralen Bezie- werden, dass China nach wie vor mit großen
hung geworden, was weit reichende Auswir- innenpolitischen Problemen konfrontiert ist,
kungen für andere Akteure mit sich bringt. welche das weitere Wachstum negativ beein-
Jedoch werden China und die USA auf lange flussen können. ❙3 Die schnelle Modernisierung
Sicht sowohl Partner als auch Rivalen bleiben, des Landes geht mit einer Akzentuierung be-
so dass die Sorgen eines chinesisch-amerika- stehender innerer Widersprüche einher. Dazu
nischen Kondominiums (G-2 beziehungswei- gehören eine ständige Gratwanderung zwi-
se „Chinmerica“) auf Kosten Europas oder schen hohem Wachstum und Überhitzung,
anderer keine reale Grundlage haben. ❙2 massive gesellschaftliche Ungleichgewich-
te (große Wohlstandsunterschiede zwischen
Stadt und Land sowie zwischen Küstenpro-
Wachsendes Gewicht vinzen und Binnenland), bis zu 150 Millionen
in der Weltwirtschaft Wanderarbeiter und hohe Arbeitslosigkeit (in
zunehmendem Maße auch unter Hochschul-
Der Aufstieg Chinas bedeutet auch für die abgängern) sowie die fortgesetzte Zerstörung
Weltwirtschaft tiefgreifende Veränderun- natürlicher Lebensgrundlagen. Hinzu kom-
gen – obgleich diese de facto die Rückkehr men die Zunahme sozialer Proteste, Probleme
zu den vorkolonialen Kräfteverhältnissen be- bei der Implementierung von Politik und mo-
deuten. China hat heute wieder einen Anteil dernem Recht sowie eine systemische Kor-
am Weltsozialprodukt wie schon vor etwa ruption. Die Kommunistische Partei Chinas
200  Jahren. Der Aufstieg Chinas (und auch (KPCh) tut sich immer schwerer damit, die
Indiens) verändert weltweit die ökonomi- Entwicklungen zu steuern und zu kontrollie-
schen und damit auch die politischen Kräf- ren. Die Folge ist eine zunehmende Erosion
teverhältnisse und Grundmuster nachhaltig. der Legitimität der Partei. Ungeachtet der un-
Mittlerweile gilt es als wahrscheinlich, dass bestrittenen Erfolge der vergangenen 30 Jah-
re und der wiederholt unter Beweis gestellten
❙1  Vgl. Heinrich Kreft, Die USA – Stabilitätsanker Anpassungsfähigkeit der KPCh bleiben daher
für Asien?, in: Petermann Geographische Mittei- Zweifel an ihrer Zukunftsfähigkeit.
lungen, 148 (2004) 2, S. 32–37; ders., United States –
Indispensable World Power, in: The World Today, Allerdings muss anerkannt werden, dass
(2009) 2, S. 11 ff.
China, das aufgrund seiner starken Export­
❙2  Vgl. Elisabeth Economy/Adam Segal, The G-2 Mi-
rage. Why the United States and China Are Not Rea-
dy to Upgrade Ties, in: Foreign Affairs, (2009) 5–6, ❙3  Vgl. Heinrich Kreft, China – Die soziale Kehrseite
S. 14–23. des Aufstiegs, in: APuZ, (2006) 49, S. 15–20.

36 APuZ 39/2010
orientierung massiv von der Finanz- und auch Europa aufgrund transnationaler Zu-
Wirtschaftskrise 2008/2009 betroffen war, sammenhänge und Dynamiken unweigerlich
die  Finanzkrise in einem großen Kraftakt davon betroffen wäre.
besser bewältigt hat als die USA, Europa
oder andere Schwellenländer. Um der Wachs- Die ökonomischen Herausforderungen
tumsabschwächung zu begegnen, hat die des Aufstiegs Chinas bestehen für Deutsch-
chinesische Regierung Ende 2008 ein Kon- land und Europa vor allem im davon ausge-
junkturprogramm von umgerechnet 586 Mil- henden Wettbewerbs- und Anpassungsdruck
liarden US-Dollar aufgelegt, das im Verhältnis für unsere Volkswirtschaft und Gesellschaft,
zum Bruttoinlandsprodukt (BIP) 13 Prozent im unzureichenden Schutz geistigen Eigen-
ausmachte. Damit hat China die Krise ge- tums und dem ausgeprägten Druck der chi-
nutzt, um den Rückstand seiner Volkswirt- nesischen Regierung auf ausländische Unter-
schaft in puncto Größe und Entwicklungsni- nehmen zum Technologietransfer. Aber es
veau gegenüber den OECD-Staaten merklich darf auch nicht unterschlagen werden, dass
zu ­verringern. deutsche Firmen vom Aufstieg Chinas über-
durchschnittlich profitiert haben und weiter
profitieren werden.
Herausforderung für Europa
und Deutschland
Konkurrenz um
Für Europa und Deutschland bestehen die Energie und Rohstoffe
Herausforderungen zum einen darin, durch
den politischen Aufstieg Chinas (und der an- Die seit der Jahrtausendwende zu beobach-
deren BRIC-Staaten Brasilien, Russland und tenden Preissteigerungen für Energie, me-
Indien) einen Verlust von Einfluss auf die glo- tallische Rohstoffe und Agrarprodukte – nur
bale Agenda hinzunehmen. Besonders deut- kurz von der Wirtschafts- und Finanzkrise
lich wurde dieser Einflussverlust auf der Kli- unterbrochen – sind im Wesentlichen auf die
makonferenz in Kopenhagen Ende des Jahres gestiegene Nachfrage aus China zurückzu-
2009. ❙4 Zum anderen bestehen sie in Faktoren, führen. Der Anteil Chinas an der Weltnach-
welche die politische Stabilität und Entwick- frage nach Basismetallen stieg von etwa fünf
lung in Asien und darüber hinaus gefährden Prozent Anfang der 1990er Jahre auf heute
können wie die militärische Aufrüstung, die 20 bis 25 Prozent. Insbesondere im Energie-
nicht zuletzt von China – mit entsprechenden bereich tritt China aufgrund seines schnell
Reaktionen in der asiatisch-pazifischen Regi- wachsenden Bedarfs (der Pro-Kopf-Verbrauch
on – betrieben wird. Nach dem Mittleren Os- liegt bei nur einem Zehntel des europäischen
ten hat sich Asien zu der Region mit den am Konsums) immer mehr als Wettbewerber auf,
schnellsten wachsenden Rüstungsausgaben insbesondere um die Energievorräte im Na-
entwickelt, was bei den Regionalstaaten neue hen Osten, Zentralasiens und Russlands und
Bedrohungsperzeptionen und Sicherheitsdi- in zunehmendem Maße auch Afrikas und
lemmas hervorgerufen und bestehende ver- Lateinamerikas. Gleiches gilt für eine Rei-
tieft hat. he metallischer Rohstoffe. ❙5 Das Engagement
Chinas in Afrika sticht hervor. Dort ist Chi-
Sicherheitspolitisch könnte China die USA na vielfach in das Vakuum vorgestoßen, das
und ihre Verbündeten in Asien zukünftig he- durch den Rückzug westlicher Unterneh-
rausfordern. Auf deutsche oder europäische men entstanden war. Die Triebkraft des chi-
Interessen haben Chinas Anstrengungen zur nesischen Engagements in Afrika ist wirt-
militärischen Modernisierung bisher zwar schaftlich motiviert, wobei die chinesische
keinen direkten negativen Einfluss: China Afrikapolitik inzwischen sehr viel breiter an-
und die EU treten sich nicht als sicherheits- gelegt ist. ❙6
politische Konkurrenten oder geopolitische
Rivalen gegenüber. Dennoch kann nichts im
deutschen beziehungsweise europäischen In- ❙5  Vgl. Heinrich Kreft, Die geopolitische Dimension
der Ressourcensicherheit – eine wachsende Heraus-
teresse liegen, was die Gefahr eines militäri- forderung für Deutschland und Europa, in: Sicher-
schen Konflikts in Asien erhöhen würde, da heit + Frieden, (2009) 4, S. 225–231.
❙6  Vgl. hierzu den Beitrag von Jin Ling in dieser Aus-
❙4  Vgl. dazu die APuZ Klimawandel, (2010) 32–33. gabe.

APuZ 39/2010 37
Ordnungspolitische Herausforderung deren links-populistischen Regimes in Latein-
amerika eingegangen. Dieses bleibt nicht ohne
China ist zwar erst eine globale Macht im Auswirkungen auf westliche Anstrengungen,
Werden, entfaltet jedoch bereits weltpoli- im Rahmen der internationalen Entwicklungs-
tisches Gewicht. Aufgrund seiner Stellung kooperation Demokratie und Krisenpräven-
als VN-Vetomacht und Führungsmacht der tion zu fördern. Die hohen Devisenreserven
Schwellen- und Entwicklungsländer sowie erlauben es der chinesischen Regierung, Ent-
seines wachsenden Einflusses in multilate- wicklungsländern günstige Kredite anzubie-
ralen Strukturen ist ein chinesischer Beitrag ten – ohne die im Rahmen westlicher Ent-
zur Lösung vieler globaler Fragen inzwi- wicklungskooperation etablierten Sozial-,
schen unerlässlich. Allerdings ist die chine- Umwelt-, Transparenz- und Menschenrechts-
sische Regierung bislang nur zögernd bereit, auflagen beachten zu müssen. China scheint
sich dieser wachsenden globalen Verantwor- dem Westen damit in zunehmendem Maße die
tung zu stellen. Eine positive Ausnahme ist Systemfrage zu stellen und sich als alternatives
Chinas Engagement zur Beilegung der Nu- politisches Ordnungsmodell zu projizieren.
klearkrise mit Nordkorea, seine Beteiligung Selbst in krisengeschüttelten westlichen In-
an VN-Friedensmissionen und die jüngs- dustrieländern hat das „chinesische Modell“
te Entscheidung, Sanktionen gegen den Iran in jüngster Zeit Sympathien gewonnen. ❙7
nicht zu verhindern.

Mit China steigt ein nicht-demokratischer, Sozioökonomischer Anpassungsdruck


nicht-liberaler Staat in der weltwirtschaftli- und Verschärfung des Wettbewerbs
chen und weltpolitischen Hierarchie auf, der
sich in Konkurrenz zum Westen zu einem ei- Der Aufstieg Chinas löst in anderen Welt-
genen ordnungspolitischen Modell für ande- regionen einen sozioökonomischen Anpas-
re Staaten entwickeln könnte. China hat in sungsdruck aus. So sind in der chinesischen
den vergangenen 30 Jahren ein Entwicklungs- Industrie über 100  Millionen Arbeitskräf-
und Modernisierungsmodell geschaffen, wel- te beschäftigt und damit etwa so viele wie in
ches bisher außerordentlich erfolgreich ist und den 14 größten OECD-Ländern zusammen.
pragmatische Anpassungen zulässt: Autoritä- Weitere 100 bis 120 Millionen chinesische Ar-
re politische Führung wird kombiniert mit beitskräfte verfügen über vergleichbare Qua-
staatlich beaufsichtigtem Kapitalismus. Hier- lifikationen und könnten in den kommenden
bei darf aber nicht außer Acht gelassen wer- Jahren zusätzlich in den Industriesektor hi-
den, dass China aufgrund seiner Größe und neinwachsen. Angesichts dieser Situation ist
Geschichte und nicht zuletzt aufgrund seiner es unwahrscheinlich, dass die Lohnkosten in
im Vergleich zu europäischen Staaten spät be- China rasch steigen werden – auch wenn der
gonnenen Reform- und Öffnungspolitik eine Trend in jüngster Zeit (aufgrund vereinzel-
Ausnahme darstellt. Zudem hat die sich be- ter Lohnstreiks) in diese Richtung zu gehen
schleunigende Globalisierung seit den 1990er scheint. Die chinesischen Exporte setzen in ei-
Jahren erheblich zum Erfolg Chinas beigetra- ner steigenden Anzahl von Branchen die In-
gen. Der Beweis steht deshalb noch aus, ob dustrieunternehmen in Europa, in den USA
das „chinesische Modell“ auch langfristig eine und anderen Industrieländern – aber auch
nachhaltige Entwicklung ermöglichen kann. Schwellenländern – unter enormen Kosten-
druck. Zwar findet nur in Ausnahmefällen
Ohne Zweifel besitzt das „chinesische Mo- eine direkte Verlagerung von Arbeitsplätzen
dell“ in einigen Entwicklungsländern eine ge- nach China statt, doch schaffen etliche west-
wisse Attraktion und mindert damit zugleich liche Großunternehmen mehr Arbeitsplätze
die Anziehungskraft westlich-liberaler Ord- in China (und anderen asiatischen Standorten)
nungsprinzipien. China unterhält aus einem als an ihren Heimatstandorten. Im Blick blei-
engen wirtschaftlichen Interesse heraus die in-
tensivsten Beziehungen einer Großmacht zu
einer Vielzahl wegen ihrer Menschenrechts- ❙7  Vgl. Roger C. Altman, Globalisation in Retreat.
Further Geopolitical Consequences of the Financi-
verletzungen weltweit geächteter Regime al Crisis, in Foreign Affairs, (2009) 7–8, S. 2–7; John
wie Simbabwe, Sudan, Birma/Myanmar und Ikenberry, The Rise of China and the Future of the
Nordkorea und ist zudem eine enge Koopera- West. Can the Liberal System Survive?, in: Foreign
tion mit Hugo Chávez in Venezuela und an- Affairs, (2008) 1–2, S. 23–37.

38 APuZ 39/2010
ben sollte bei diesem Aspekt aber auch, dass die Gefahr einen unbeabsichtigten Technolo-
hierbei häufig die Erschließung neuer Wachs- gie- und Wissenstransfers zugunsten Chinas.
tumsmärkte im Vordergrund steht und weni- Westliche Firmen müssen verstärkt darauf ach-
ger die Senkung der Arbeitskosten. ten, dass sie bestehende „Lücken“ im Patent-
schutz rechtzeitig schließen. China hat inzwi-
schen ein gesetzliches Regelwerk zum Schutz
China holt auch technologisch auf geistigen Eigentums geschaffen, welches den
Standards der Welthandelsorganisation ent-
Dank steigender Qualifikation seiner Arbeits- spricht, allerdings mangelt es an seiner Um-
kräfte und rascher technologischer Lernpro- setzung. Da jedoch inzwischen die Mehrzahl
zesse wird der Kostendruck inzwischen auch der IPR-Fälle vor chinesischen Gerichten zwi-
in technologieintensiven Branchen spürbar. schen chinesischen Firmen ausgetragen wird,
In China gibt es etwa vier Millionen Hoch- steigt auch in China das Interesse an einem ef-
schulabgänger pro Jahr mit steigender Ten- fektiven Schutz gegen Produktpiraterie.
denz – darunter 600 000 Ingenieure, von de-
nen allerdings nur etwa ein Drittel eine mit Ein größeres Problem ergibt sich allerdings
deutschen Ingenieuren vergleichbare Quali- in der immer ausgeprägteren chinesischen In-
fikation erworben hat. Allerdings steigt auch dustriepolitik mit der gezielten Förderung „na-
das Niveau chinesischer Universitäten weiter tionaler Industrien“ (wie des Automobilsek-
an: Inzwischen verlagern Großunternehmen tors) und mit dem anhaltenden „Zwang zum
Teile ihrer Forschungs- und Entwicklungs- Technologietransfer“. Dieser hat im Wesentli-
abteilungen nach China, um sich den Zugang chen drei Komponenten: einen erzwungenen
zu den kostengünstigen Talentpools Chinas Technologietransfer im Gegenzug für die Be-
zu sichern. China rückt damit zunehmend teiligung ausländischer Firmen an öffentlichen
ins Zentrum globaler Innovationsnetzwerke. Aufträgen; einen erzwungenen Technologie-
transfer durch die Verpflichtung, zugewiesene
Die Ansiedlung von Forschungs- und Ent- chinesische Joint-Venture-Partner zu akzep-
wicklungseinrichtungen wird von der chi- tieren und diesen den Zugang zur Technologie
nesischen Regierung massiv gefördert. Chi- zu eröffnen; und die Bedingung, genaue Engi-
na ist bislang zwar lediglich in sehr wenigen neering- und Baupläne für Investitionsgeneh-
Bereichen in die Weltspitze vorgedrungen, migungen beziehungsweise Firmengründun-
allerdings beginnen sich die zunehmenden gen gegenüber einer staatlichen Behörde offen
staatlichen Investitionen in die Innovationsfä- zu legen. Während chinesische Unternehmen
higkeit chinesischer Unternehmen auszuzah- damit begonnen haben, europäische Automo-
len. Noch ist Deutschland das „Land der Ide- bilhersteller zu übernehmen (wie Volvo), wer-
en“ und die deutsche Verflechtung zwischen den ausländische Autofirmen in China noch
Industrie und industrienaher Forschung vor- immer in Joint Ventures mit einer 50-prozen-
bildlich – doch auch hier holt China auf. tigen Teilhabe eines chinesischen Partners ge-
zwungen – wie vor 30 Jahren. ❙9

Produktpiraterie und Marktbarrieren


Herausforderungen durch
Der unzureichende Schutz geistigen Eigen- China anerkennen
tums (Intellectual Property Rights, IPR) ist
immer noch einer der großen Herausforde- Während in den USA, Japan und Australi-
rungen westlicher Unternehmen im „China- en seit Jahren eine breite Diskussion über die
Geschäft“. Sie verlieren in China jedes Jahr Herausforderungen und Chancen, die mit
Milliardenbeträge durch Produktpiraterie. ❙8 dem Aufstieg Chinas verbunden sind, ge-
Durch die erheblichen Investitionen deutscher führt wird, fehlt diese in Deutschland und
und europäischer Unternehmen in China, die Europa weitgehend. Dabei ist es nicht zuletzt
überwiegend in Gemeinschaftsunternehmen auf dem Weltklimagipfel in Kopenhagen, als
(Joint Ventures) eingebracht werden, besteht Europa mit seiner Position isoliert war, deut-

❙8  Allein für deutsche Unternehmen entsteht ein ❙9  Vgl. EU Chamber of Commerce in China, Euro-
jährlicher Schaden in Höhe von 30 Milliarden Euro. pean Business in China, Positionspapier, 2009/2010,
Vgl. Financial Times vom 8. 6. 2010. Peking 2009.

APuZ 39/2010 39
lich geworden, dass wir eine strategische De- Raumfahrt, Finanzen und Energie – müssen
batte darüber brauchen, wie wir mit dem auf die globale Wettbewerbsfähigkeit abge-
Aufstieg Chinas und anderer Schwellenlän- stellt werden. Zudem ist es wichtig, bestehen-
der umgehen sollten. de Dialogforen wie die EU-China-Gipfel und
multilaterale Foren wie ASEM (Asia-Europe
Aus deutscher Sicht müssen wir dringend Meeting) weiter auszubauen. Oberste Maxi-
die beiden traditionellen Pfeiler deutscher me muss es sein, das partnerschaftliche Ver-
Außen- und Sicherheitspolitik – die transat- hältnis zu China weiterzuentwickeln.
lantischen Beziehungen und die europäische
Integration – um die euro-asiatische Dimen- Gerade die Finanzkrise hat gezeigt, wie
sion erweitern. Deutschland und Europa wichtig der chinesische Markt für die euro-
brauchen eine vielschichtige China- und Asi- päische, insbesondere die deutsche Exportin-
enstrategie, die sich in ihrer Breite und Tiefe dustrie ist. Deutsche Unternehmen gehören
an den transatlantischen Beziehungen orien- zu den größten ausländischen Investoren und
tiert. So, wie es sich heute kaum mehr ein Un- Technolgiegebern in China. Die wirtschaftli-
ternehmen erlauben kann, die Entwicklungen che Vernetzung zwischen Europa und China
in China nicht in all ihren Facetten zu beob- muss aber deutlich enger werden. Dazu gehö-
achten, müssen wir in der Außen-, Außen- ren auch Investitionen chinesischer Firmen
wirtschafts-, Entwicklungs- und Sicherheits- in Europa und die Sicherstellung eines fairen
politik, aber auch in unserer Bildungspolitik Wettbewerbs.
China und die anderen asiatischen Aufstei-
ger mit einbeziehen. China ist inzwischen Neben der wirtschaftlichen sollte auch die
ein Partner und Wettbewerber auf Augenhö- politische und sicherheitspolitische Vernet-
he. Dem wachsenden Konkurrenzdruck aus zung zwischen Europa und China ausgebaut
China kann und darf nicht mit protektionis- werden. Die Erhaltung von Stabilität und
tischen Maßnahmen begegnet werden, denn Sicherheit in China und seinen asiatischen
damit würde Europa sich von der Dynamik Nachbarn ist auch für Europa von großer Be-
Chinas abkoppeln und den eigenen ökonomi- deutung. Eine nachhaltige Entwicklung und
schen Niedergang einleiten. Stabilität dürfte auch in Asien nur unter den
Bedingungen von Partizipation und der Wah-
Vielmehr gilt es, der Herausforderung für rung von Menschenrechten erreicht werden.
die europäische Wettbewerbsfähigkeit mit ei-
ner neuen Wettbewerbsstrategie zu begegnen Deutschland und Europa treten für eine
und an die Dynamik Chinas und seiner asi- bessere Integration Chinas in die bestehen-
atischen Nachbarn anzukoppeln. Es spricht den internationalen Strukturen ein und stre-
vieles dafür, dass sich das Kraftfeld globalen ben Partnerschaften zur Durchsetzung von
Wachstums dauerhaft vom euro-atlantischen Anliegen an, die nur im globalen Rahmen
Raum nach Asien mit China als Zentrum ver- sinnvoll umgesetzt werden können, wie der
lagert hat. Ressourcen- und Klimaschutz. Wenn die EU
als außenpolitischer Akteur gestärkt und die
Der Aufstieg Chinas und Asiens verlangt euro-chinesischen Beziehungen ausgebaut
eine grundsätzliche Neuorientierung Eu- werden, bleibt Europa auch für die USA, de-
ropas. Die Neuausrichtung der USA vom ren Ausrichtung auf Asien sich weiter inten-
transatlantischen zum asiatisch-pazifischen sivieren wird, ein relevanter Partner.
Raum ist spätestens seit dem Ende des Kal-
ten Krieges im Gange. Während China in sei- Größere Machtverschiebungen zwischen
ner wirtschaftlichen Bedeutung für Europa Staaten oder Regionen sind selten, und da, wo
schnell wächst, sinken die Möglichkeiten es in der Geschichte dazu gekommen ist, sind
Europas, dort Einfluss zu nehmen. Die EU diese in den wenigsten Fällen friedlich verlau-
– wie auch Deutschland – muss eine Strate- fen. Es ist daher eine große gemeinsame Auf-
gie entwickeln, um ihren Interessen in Asien gabe Chinas, den USA, Europas und anderer
mehr Gewicht zu verleihen. Dazu müssen die relevanter Akteure, das jeweils in ihrer Macht
Europäer ihre gemeinsamen Interessen und stehende beizutragen, dass diese geopolitische
Werte eindeutig formulieren, aber auch alle Machtverschiebung friedlich verläuft.
Bereiche europäischer Politik – Bildung und
Forschung, Arbeitsmarkt, Technologie und

40 APuZ 39/2010
Jin Ling dahin gültigen. Sie reflektieren nicht nur die
Kontinuität der chinesischen Afrikapolitik,

Gemeinsam mehr. sondern auch Anpassungen an die veränder-


ten Rahmenbedingungen.

Wege für eine chine- Vor diesem Hintergrund geht es im Folgen-


den darum, durch eine Darstellung der Ent-

sisch-europäische
wicklung von Chinas Engagement in Afrika
das europäische Verständnis für dessen Hin-
tergründe und Intentionen zu vergrößern. ❙3

Zusammenarbeit Anschließend sollen aus chinesischer Sicht


Folgerungen für eine Kooperation zwischen
China und der EU diskutiert ­werden.

in Afrika? Kontinuität in den chinesisch-afrikani-


schen Beziehungen: Aufrichtigkeit, Freund-
schaft und Gleichheit. Im Grundsatzpapier

C hinas Engagement auf dem afrikanischen


Kontinent ist bei chinesisch-europäi-
schen Treffen zu einem der wichtigsten The-
von 2006 werden diese Prinzipien am stärks-
ten betont. ❙4 Sie gelten als Fortführung der
„Fünf Prinzipien der friedlichen Koexis-
men geworden. Auf tenz“, die seit spätestens 1954 offizielle Leit-
Jin Ling dem 9. China-EU- linien der chinesischen Außenpolitik sind.
Dr. phil., geb. 1975; Wissen- Gipfel im Jahr 2006 Dazu gehören: (1) gegenseitige Achtung der
schaftliche Mitarbeiterin in der wurde Afrika erstmals territorialen Integrität und Souveränität, (2)
Abteilung für EU-Studien am in der gemeinsamen gegenseitiger Nichtangriff, (3) gegenseitige
China Institute of International Erklärung erwähnt: Nichteinmischung in die inneren Angelegen-
Studies (CIIS), 3 Toutiao, Tai- Beide Seiten verein- heiten, (4) Gleichberechtigung und beidersei-
jichang, 100005, Peking/CHINA. barten, Wege prakti- tiger Nutzen sowie (5) friedliche Koexistenz.
jinling@ciis.org.cn scher Zusammenarbeit Auf dem 3. Gipfel des China-Afrika-Koope-
in Afrika in Fragen rationsforums (Forum on China-Africa Co-
wie der Wirksamkeit von Entwicklungszu- operation, FOCAC) 2006 in Peking erklär-
sammenarbeit und dem Erreichen der Millen­ te der chinesische Staatspräsident Hu Jintao
nium-Entwicklungsziele zu finden. ❙1  Die dazu: „Aufrichtigkeit und Freundschaft sind
­Realität hat aber gezeigt, dass es angesichts die solide Grundlage der Beziehungen zwi-
unterschiedlicher Wahrnehmungen und Ein- schen China und Afrika, Gleichheit ist der
schätzungen des Engagements der jeweils Garant für gegenseitiges Vertrauen. Beide
­anderen Seite schwierig ist, über die verschie- Seiten respektieren den Entwicklungsweg
denen Grundsätze hinweg eine wirkliche und die Angelegenheiten der jeweils ande-
Zusam­men­arbeit zu beginnen.
Übersetzung aus dem Englischen von Georg Danck-
Grundsätze und Prinzipien werts, Bonn.
❙1  Vgl. das Joint Statement of the Ninth EU-China
der Afrikapolitik Chinas Summit, online: http://trade.ec.europa.eu/doclib/
docs/2006/september/tradoc_130360.pdf (12. 7. 2010).
Anfang 2006 hatte China erstmals seine Stra- ❙2  Vgl. Ministry of Foreign Affairs of the People’s Re-
tegie für Afrika veröffentlicht und die offi- public of China, China’s African Policy, online: www.
fmprc.gov.cn/eng/zxxx/t230615.htm, (12. 7. 2010);
ziellen Grundsätze seiner Afrikapolitik dar-
Presseerklärung der chinesischen Botschaft in Ber-
gelegt: (1) Aufrichtigkeit, Freundschaft und lin, online: http://de.china-embassy.org/det/zgyw/
Gleichheit, (2) beiderseitiger Nutzen, Rezi- t231002.htm (12. 7. 2010).
prozität (Prinzip der Gegenseitigkeit) und ❙3  Aus Platzgründen kann an dieser Stelle keine Dar-
allgemeiner Wohlstand, (3) gegenseitige Un- stellung des Engagements der EU in Afrika stattfin-
terstützung und enge Koordinierung, (4) den. Vgl. hierzu das Online-Dossier der bpb, online:
www.bpb.de/themen/Q525HK,0,0,Afrika_und_
voneinander Lernen und Streben nach allge-
Europa.html (31. 8. 2010).
meiner Entwicklung. ❙2 Im historischen Ver- ❙4  Erstmals vorgestellt wurden diese Prinzipien vom
gleich sind die vorgestellten Prinzipien um- damaligen Ministerpräsidenten Zhou Enlai während
fassender und strategie­orientierter als die bis seines ersten Besuchs in Afrika 1964.

APuZ 39/2010 41
ren Seite.“ ❙5 Aufgrund ähnlicher historischer stützung als vielmehr auf wirtschaftliche Zu-
Erfahrungen mit dem Kolonialismus haben sammenarbeit bezieht.
China und die Staaten Afrikas stets Sympa-
thie füreinander gehegt, einander im Kampf Nach diesem Prinzip erkundete China ver-
für die nationale Befreiung unterstützt und schiedene Wege, über reine Hilfslieferungen
einen freundschaftlichen Umgang miteinan- für Afrika hinaus nutzbringende Zusam-
der ­gepflegt. menarbeit zu fördern, wie durch das Instru-
ment der konzessionären Darlehen, wel-
Durch die Verfolgung dieser Grundsätze ches die chinesische Regierung ab Mitte der
gelang es China, viele „Herzen und Köpfe“ 1990er Jahre einführte: Es wurden speziel-
in den afrikanischen Staaten zu gewinnen. le Geldmittel bereitgestellt, um Anreize für
Denn im Gegensatz zu traditionellen „west- Investitionen chinesischer Firmen in Afrika
lichen“ Geberländern, die als „Retter und Be- zu schaffen. 2006 wurden weitere Maßnah-
schützer“ Afrikas auftraten, bestanden China men zur Förderung von Handel und Inves-
und seine afrikanischen Partner auf Koopera- titionen in Afrika vorgestellt wie der China-
tion auf Augenhöhe: China stellte zwar An- Afrika-Entwicklungsfonds, Zollfreiheit und
gebote für die Entwicklung Afrikas zur Ver- die Einrichtung von Sonderzonen für Über-
fügung, jedoch ohne dass die Beziehungen seehandel und wirtschaftliche Zusammenar-
einem „Geber-Empfänger“-Prinzip folgten, beit. Kurzum: Das Prinzip der Reziprozität
in dem sich afrikanische Staaten unterlegen bedeutet, dass China sich darum bemüht, ne-
fühlten. Wichtigstes Merkmal war beispiels- ben der Verfolgung von Eigeninteressen auch
weise, dass die Angebote nicht konditioniert das Streben der afrikanischen Staaten nach
waren, was den afrikanischen Partnern grö- wirtschaftlicher Entwicklung und Nationen-
ßere Selbstständigkeit in der Umsetzung der bildung zu unterstützen, auf dem Gebiet der
Projekte verlieh. Da sie nicht an Vorgaben ge- wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung
bunden war, wirkte Chinas Hilfsleistung we- in verschiedenen Formen zusammenzuarbei-
sentlich attraktiver für diejenigen Afrikaner, ten und allgemeinen Wohlstand in China und
die lange Erfahrung damit haben, nicht res- Afrika zu fördern.
pektiert zu werden.
Verstärkt strategische Ausrichtung: Gegen-
Erweiterung der chinesisch-afrikanischen seitige Unterstützung und enge Koordinie-
Beziehungen: beiderseitiger Nutzen, Rezi- rung. Gegenseitige Unterstützung und enge
prozität und allgemeiner Wohlstand. Wäh- Koordinierung als Zielsetzung der Afrikapo-
rend des Kalten Krieges bezog sich „bei- litik Chinas bringt eine strategische Dimen-
derseitiger Nutzen“ noch hauptsächlich auf sion in die bilateralen Beziehungen. Sie zeigt
Chinas Wunsch, von der afrikanischen Sei- nicht nur die gewachsene Bedeutung des af-
te politische Unterstützung auf internatio- rikanischen Kontinents in der Welt, sondern
naler Ebene zu bekommen. Heute dagegen, reflektiert auch die Tatsache, dass die chine-
mit verändertem innenpolitischen Kontext sisch-afrikanischen Beziehungen heute weit
und der neuen internationalen Position Chi- über bilaterale Fragen hinausgehen. Chi-
nas, hat sich der Bedeutungsinhalt stark er- na als das größte aller Entwicklungsländer
weitert: Seit 1978, als China den Weg der Re- und Afrika als der Kontinent mit der größ-
form und der politischen Öffnung einschlug, ten Konzentration von Entwicklungsländern
ist wirtschaftliche Entwicklung zur Haupt- übernehmen immer wichtigere Rollen in der
aufgabe der chinesischen Gesellschaft ge- globalen Regierungsführung.
worden. Entsprechend wurden „beiderseiti-
ger Nutzen, Gegenseitigkeit und allgemeiner Wichtiger noch ist, dass der Wandel auch
Wohlstand“ zur zentralen Zielvorgabe für ein Spiegel der gemeinsamen Anliegen in der
die Umgestaltung der Afrikapolitik Chinas, globalisierten Welt von heute ist. China und
wobei sich „beiderseitiger Nutzen“ nunmehr Afrika haben über ein halbes Jahrhundert ein
weniger auf gegenseitige politische Unter- hohes Maß an gegenseitigem Vertrauen auf-
gebaut, das für die heutige Zusammenarbeit
❙5  Rede von Staatspräsident Hu Jintao bei der Er-
in der globalisierten Welt eine solide Grund-
öffnungszeremonie des FOCAC-Gipfels in Peking, lage bildet. Darüber hinaus teilen China und
2006, online: www.focac.org/eng/ltda/dscbzjhy/ die afrikanischen Staaten als „Entwicklungs-
SP32009/t606840.htm (12. 7. 2010). länder“ die gleiche „Identität“ und stehen vor

42 APuZ 39/2010
derselben Entwicklungsaufgabe, wenn auch räner Staat seine Interessen durchsetzen zu
mit verschiedenen Prioritäten. Angesichts ge- können, während Afrika sich auf den Weg
meinsamer Herausforderungen wie Frieden machte, Unabhängigkeit von Kolonialismus
und Entwicklung sprechen China und Afrika und Imperialismus zu erlangen. Beide Seiten
gewöhnlich eine gemeinsame „Sprache“. So standen vor gemeinsamen Aufgaben – Anti-
sehen beide Seiten beispielsweise den Klima- kolonialismus, Antiimperialismus und An-
wandel zuerst einmal als ein Entwicklungs- tihegemonialsmus  –, die gegenseitige Un-
problem an, das sie in ihrer Wirtschafts- und terstützung erforderten. In jener Zeit sagte
Industriepolitik einschränkt – und keine Ver- Tansanias Präsident Julius Kambarage Nye­
einbarung zu diesem Thema sollte auf Kos- rere stets: „Die afrikanischen Staaten sind
ten des Rechts der Entwicklungsländer auf klein, schwach und arm und werden von den
Entwicklung gehen. Die gleiche gemeinsame westlichen Staaten nicht respektiert. Nur ver-
Sprache findet sich auch für Themen wie die eint und mit der Unterstützung von Staaten
Strukturreformen in internationalen Institu- wie China können wir unsere Rolle in der
tionen (beispielsweise innerhalb der Vereinten Welt aufwerten.“ ❙6 Zurückschauend können
Nationen, VN) und die Doha-Runde (Ver- wir sagen, dass es in dieser Phase war, in wel-
handlungen im Rahmen der Welthandelsor- cher gegenseitiges Vertrauen aufgebaut und
ganisation zur Neustrukturierung des Welt- ein solides Fundament für die heutigen Be-
handels). Die Realität zeigt aber auch, dass ziehungen gelegt wurden. Diese Phase kenn-
China und Afrika aufgrund verschiedener zeichnete sich durch folgende Merkmale:
Prioritäten nicht notwendigerweise zu allen
internationalen Fragen gemeinsame Positio- • Gegenseitige politische Unterstützung war
nen einnehmen – was wiederum die Bedeu- für beide Seiten das wichtigste Ziel: Sie
tung von enger Koordinierung ­hervorhebt. wurde aufgrund der ähnlichen Vergangen-
heit als kolonisierte Länder und der ge-
Alles in allem bilden die genannten Prinzi- meinsamen Aufgabe der nationalen „Wie-
pien das Fundament der Afrikapolitik Chi- dergeburt“ zum verbindenden Element.
nas. Sie lenken die bilateralen Beziehungen China unterstützte afrikanische Länder,
in die Richtung einer neuen strategischen die für ihre Unabhängigkeit kämpften,
Partnerschaft, die politisch gegenseitiges und Afrika unterstützte China in der Tai-
Vertrauen, wirtschaftlich eine für beide Sei- wan-Frage. Ein Höhepunkt war die Un-
ten Gewinn versprechende Kooperation und terstützung, mit der Afrika der VR Chi-
kulturell Austausch und gemeinsames Ler- na im Jahr 1971 dazu verhalf, seinen Sitz in
nen bedeutet. den VN zurückzuerlangen, den bis dahin
die Republik China auf Taiwan inne hat-
te. Der damalige Vorsitzende der Kommu-
Chinas Engagement im Wandel nistischen Partei Chinas Mao Zedong wird
heute noch oft zitiert mit den Worten: „Es
China ist in Afrika kein Neuankömmling. waren afrikanische Freunde, die uns in die
Bereits seit der Gründung der VR ist es dort VN beförderten.“
vertreten. Beide Seiten verbinden politische
• Wirtschaftshilfe galt als eine Maßnahme
Beziehungen, regelmäßige hochrangige Be-
der Freundschaft: Angesichts der gemein-
suche und reger Austausch zwischen ihren
samen Herausforderung, unterdrückten
Bevölkerungen. Heute genießen China und
Völkern zur Unabhängigkeit zu verhel-
Afrika eine „Allwetterfreundschaft“. Rück-
fen, stand China in der Pflicht, trotz des
blickend lässt sich das Engagement in drei
großen wirtschaftlichen Drucks im eige-
Phasen einteilen:
nen Land, Hilfe leisten zu müssen. Gegen
Ende der 1970er Jahre erreichte Chinas Af-
1950er Jahre bis 1978: Aufbau von Freund-
schaft und Vertrauen. In dieser Phase wurde
Chinas Afrikapolitik hauptsächlich vom in- ❙6  Julius Kambarage Nyerere, South-South dialogue
ternationalen Kontext geprägt. Damals sah and development in Africa, in: Uhuru vom 23. 5. 1979.
Zit. nach: Liu Hongwu, Thirty Years of Sino-Afri-
sich China einer eher konfrontativen Politik can Relations: A Pivot in Reshaping the Structure of
der westlichen Staaten gegenüber und muss- China’s Relations with the Outside World, in: Chi-
te neuen diplomatischen Spielraum gewin- nese Academy of Social Sciences (CASS), Journal of
nen, um auf internationaler Ebene als souve- World Economics and Politics, (2008) 11, S. 82.

APuZ 39/2010 43
rika-Hilfe einen Umfang von 2,476 Milli- seitiger Nutzen die Kontinuität der chi-
arden US-Dollar, die in 36 afrikanischen nesischen Afrikapolitik, die anderen drei
Staaten mehr als 200 Projekte finanzierten. Prinzipien waren neue Elemente. Das Prin-
Höhepunkt war der Bau der Eisenbahnver- zip der Effektivität kündigte den Wechsel
bindung zwischen Sambia und Tansania, von einer „Hilfe ohne Kostenkalkulation“
die „Eisenbahn der Freiheit und Freund- (im Sinne von eher punktuellen Hilfsleis-
schaft“, deren Kosten von 455  Millionen tungen) zu „nachhaltiger Hilfe“ an, und
US-Dollar eigentlich weit über den Mög- Vielfalt der Methoden bedeutete, das Ver-
lichkeiten Chinas lagen. ❙7 hältnis nicht mehr nur auf Hilfsleistungen
zu gründen, sondern darüber hinaus auch
• „Bilaterale Freundschaft“ wurde zum
die wirtschaftliche Zusammenarbeit aus-
Schlagwort der Afrikapolitik Chinas: We-
zubauen – zu beiderseitigem Nutzen, was
gen seiner uneigennützigen Hilfe, beson-
sich im Prinzip der gemeinsamen Entwick-
ders aber wegen der Leistungsfähigkeit der
lung widerspiegelte.
entsandten medizinischen Einsatzkräfte
und anderer Entwicklungshelfer konnte • Es kam zum Wechsel von hilfezentrierter
sich China als Helfer in Afrika einen guten wirtschaftlicher Kooperation (das heißt
Namen machen. Wirtschaftsleistungen, die primär akute
Missstände beheben sollten) zu einer für
beide Seiten gewinnbringenden wirtschaft-
Von 1978 bis 2000: Transformation der Bezie-
lichen Kooperation: Auf seinem eigenen
hungen. Verglichen mit der ersten Phase wur-
Entwicklungsweg hatte China die Erfah-
den die Beziehungen in dieser Phase haupt-
rung gemacht, dass Hilfe von außen allein
sächlich von innenpolitischen Faktoren in
nicht zu Entwicklung führt. Daher erkun-
China bestimmt. Seit 1978 begann das Land
dete man neue Wege, um mehr Geld und
den Prozess der Reform und Öffnung. Wirt-
andere Ressourcen in die „durstigen“ afri-
schaftliche Entwicklung zur zentralen nati-
kanischen Märkte fließen zu lassen. 1992
onalen Aufgabe und dementsprechend wan-
führte China eine sozialistische Markt-
delte sich auch die Afrikapolitik Chinas von
wirtschaft ein. Drei Jahre darauf stellte es
gegenseitiger politischer Unterstützung zu
ein neues Finanzinstrument vor, konzes-
wirtschaftlicher Zusammenarbeit. Allgemein
sionäre Darlehen für chinesische Unter-
wird diese Phase weithin als Transformati-
nehmen. Die Kooperation hatte somit eine
onsphase der chinesischen Außenbeziehun-
zweifache Intention: Auf chinesischer Seite
gen angesehen. ❙8 Die Transformation zeigte
wurde internationales Engagement chine-
sich in folgenden Aspekten:
sischer Firmen gefördert, auf afrikanischer
Seite wurden finanzielle Lücken geschlos-
• Es gab eine Verschiebung der Schwerpunk- sen, welche bis dahin Investitionen in die
te in der Afrikapolitik von Politik hin zu wirtschaftliche Infrastruktur verhinder-
wirtschaftlicher Entwicklung: Der neue ten. Daneben wurde der bilaterale Handel
Ansatz wurde erstmals vorgestellt vom ausgebaut.
damaligen Premierminister Zhao Ziyang
während seines Afrikabesuchs im Dezem- • Der Aufbau einer zukunftsorientierten
ber 1982. Zhao stellte die vier Prinzipien mehrdimensionalen Partnerschaft wurde
(1)  Gleichheit und beiderseitiger Nutzen, vorangetrieben: Obwohl der Schwerpunkt
(2) Effektivität, (3) Vielfalt der Methoden auf der wirtschaftlichen Kooperation lag,
und (4) gemeinsame Entwicklung vor. Da- gestalteten sich die chinesisch-afrikani-
bei reflektierten Gleichheit und beider- schen Beziehungen während der 1990er
Jahre zunehmend umfassender und zu-
❙7  Vgl. die Rede des Botschafters der Volksrepub- kunftsorientierter. Seither hat China gro-
lik China in Südafrika Liu Guijin am South Afri- ßen Wert auf politischen und kulturellen
can Institute of International Affairs (SAIIA) am Austausch gelegt. So ist Afrika seit 1996
25. 10. 2006 in Pretoria, online: http://za.china-em- stets das erste Ziel von Auslandsreisen des
bassy.org/eng/dsxx/dshd/t277443.htm (12. 7. 2010). chinesischen Außenministers gewesen.
❙8  Vgl. Li Anshan, On the Adjustment and Transfor-
Und um afrikanischen Diplomaten China
mation of China’s African Policy, in: West Asia and
Africa, (2006) 8, online: http://en.cnki.com.cn/Artic- näher zu bringen, lädt die chinesische Re-
le_en/CJFDTotal-XYFZ200608001.htm (12. 7. 2007) gierung regelmäßig Vertreter der diploma-
(englische Zusammenfassung). tischen Korps zur Teilnahme an Symposien

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und zum Meinungs- und Erfahrungsaus- Sicherheits- und internationalen Politik ha-
tausch über Entwicklungsthemen ein. ben China und die afrikanischen Staaten
sich dazu entschieden, auch ihre „Zusam-
Von 2000 bis heute: strategische, umfassen- menarbeit in Wirtschaft, Handel, Finan-
de und gereifte Beziehungen. Zu Beginn des zen, Landwirtschaft, Gesundheitsfürsor-
21.  Jahrhunderts lassen sich die bilateralen ge und Gesundheitswesen, Wissenschaft
Beziehungen als gereift, strategisch und um- und Technologie, Kultur, Ausbildung,
fassend beschreiben. Nach über einem halben Entwicklung und Förderung des Arbeits-
Jahrhundert sind sie in eine neue Phase einge- kräftepotenzials, Transport, Umwelt, Tou-
treten, die alle Ebenen und Themenbereiche rismus und anderen Bereichen energisch
einschließt. Zentrales Zeichen dieser gereif- weiter auszubauen“. ❙11 Das spiegelt sich im
ten Beziehungen sind die bewährten und ins- Anstieg der chinesischen Präsenz in Afrika
titutionalisierten Instrumente des China-Af- wider.
rika-Kooperationsforums (FOCAC), die eine
• Ausgereifte Mechanismen garantieren lang-
effektive Plattform für eine routinierte Zu-
fristige und nachhaltige Beziehungen:
sammenarbeit bieten. Weitere Kennzeichen
Inzwischen haben sich die chinesisch-
dieser Phase sind folgende ­Wesensmerkmale:
afrikanischen Beziehungen durch Koope-
rationsmechanismen auf verschiedenen
• Die sich weiterentwickelnden chinesisch-
Ebenen zu Routineabläufen entwickelt.
afrikanischen Beziehungen gelten aus der
Dazu gehören beispielsweise abwechselnd
Warte Chinas als strategische Partner-
in China und Afrika stattfindende Mi-
schaft im Rahmen der Süd-Süd-Beziehun-
nistertreffen alle drei Jahre und Treffen
gen: Noch auf dem 1. FOCAC-Gipfel im
hochrangiger Funktionäre alle zwei Jahre.
Jahr 2000 in Peking wurde das Verhältnis
Außerdem wurden zwischen China und
als eine „langfristige und stabile Partner-
afrikanischen Staaten zur weiteren Regu-
schaft“ beschrieben; ❙9 auf dem Gipfel von
lierung der Zusammenarbeit zahlreiche bi-
2006 ging es einen Schritt weiter zur „stra-
laterale Vereinbarungen unterzeichnet.
tegischen Partnerschaft neuen Typs zwi-
schen China und Afrika“. ❙10 Stärkster In-
dikator für diesen Trend ist das steigende
Handelsvolumen zwischen beiden Seiten: Folgerungen für die chinesisch-
Während es im Jahr 1998 bei 5,5 Milliarden europäische Zusammenarbeit in Afrika
US-Dollar und im Jahr 2000 bei zehn Milli-
arden US-Dollar lag, waren es 2005 bereits Sowohl in den politischen als auch akademi-
knapp 40 Milliarden und einer jährlichen schen chinesisch-europäischen Debatten über
Steigerungsrate von 30  Prozent. Für die Afrika herrscht Konsens darüber, dass bei-
chinesische Wirtschaft sind die Rohstoffe de Seiten im Hinblick auf Friedenssicherung,
aus Afrika überlebensnotwendig und afri- Sicherheit, nachhaltige Entwicklung und die
kanische Märkte wichtige Absatzmärkte, Garantie des ownership der afrikanischen
während China zu einem bedeutenden In- Staaten (das heißt ihrer Eigenverantwortung
vestor auf dem Kontinent aufgestiegen ist. und Beteiligung an entwicklungspolitischen
Entscheidungsprozessen) ähnliche Ansichten
• Es findet eine rasante Ausdehnung der bi-
vertreten. Jedoch gibt es darüber, wie diese
lateralen Beziehungen statt, die alle Seiten,
Ziele zu erreichen sind, nach wie vor Mei-
Ebenen und Sektoren einschließt: Neben
nungsverschiedenheiten, die eine umfassen-
einer Expansion in Handel und Wirt-
de Zusammenarbeit zwischen China und der
schaftsbereichen sowie einer zunehmen-
EU in Afrika blockieren. Europäische Kri-
den Koordinierung der Positionen in der
tik zielt vor allem auf die nicht konditiona-
lisierte Hilfsleistung Chinas. Hinzu kommt,
❙9  Vgl. Beijing Declaration of the Forum on Chi- dass eine Reihe von Fehleinschätzungen und
na-Africa Cooperation vom 12. 10. 2000, online: Vorurteilen über die Afrikapolitik der jeweils
w w w.­f ocac.org/eng/ltda/dyjbzjhy/DOC120 09/ anderen Seite bestehen, die regelmäßig zu
t606796.htm (13. 7. 2010).
❙10  Vgl. Declaration of the Beijing Summit of the Fo-
Misstrauen und Missverständnissen führen.
rum on China-Africa Cooperation vom 5. 11. 2006, on- Angesichts dessen ist es an der Zeit, die Ein-
line: www.focac.org/eng/ltda/dscbzjhy/DOC32009/
t606841.htm (13. 7. 2010). ❙11  Ebd.

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schätzung beiseite zu schieben, dass es hier bekannt und werden geschätzt für ihre schnel-
primär um Systemkonkurrenz ginge, und sich len Lieferungen, was vor allem an der Ar-
auf die Gemeinsamkeiten zu konzentrieren. beitseffizienz und -kapazität in chinesischen
Betrieben liegt. Problematisch ist allerdings,
Logik hinter der Afrikapolitik der jeweils dass kaum Kapazitäten vor Ort (das heißt in
anderen Seite verstehen: Die verschiedenen den afrikanischen Staaten) aufgebaut oder die
Ansätze in der Afrikapolitik der EU und lokalen Arbeitsmärkte gestützt werden und
Chinas widersprechen sich nicht notwendi- auch kaum Technologietransfer stattfindet.
gerweise. Die Differenzen rühren von den Wie können daher die verschiedenen chine-
jeweils unterschiedlichen Entwicklungsmo- sischen Akteure in Afrika am besten koordi-
dellen, Entwicklungsstufen und verschiede- niert werden, besonders was die Einhaltung
nen Erfahrungen in der Entwicklungshilfe von Sozial- und Umweltstandards anbetrifft?
in Afrika her. Allgemein gesprochen, ist die Und eine grundsätzliche Frage: Wie können
Politik Chinas als Entwicklungsland eher Dialogmechanismen auf der Ebene der Af-
auf wirtschaftliche Entwicklung ausgerich- rikanischen Union und ihrer Mitgliedstaa-
tet, während die EU sich eher institutionellen ten angestrebt werden, ohne das Prinzip der
Reformen und der Politik zuwendet. Beide Nichteinmischung zu ­verletzen?
sind sich jedoch darin einig, dass keine äuße-
re Macht das Patentrezept für Afrikas Pro-
bleme besitzt, und dass Entwicklung niemals Pragmatische und flexible Kooperation
allein von außen bewirkt werden kann. So-
wohl die EU als auch China bieten verschie- Ein Blick auf die Herausforderungen zeigt,
dene Entwicklungsmodelle und Erfahrungen dass beide, sowohl China als auch die EU,
mit Entwicklung an, die für Afrika nutzbrin- verschiedene Vorteile in ihrem Vorgehen,
gend sein können. aber auch Erfahrungsschätze und Wissensbe-
stände haben; diese könnten in institutionali-
Selbstkritik gegenüber der eigenen Afrika- sierten Austauschmechanismen systematisch
politik: Um dem Ziel der Entwicklung Af- zusammengeführt werden. Bei der Konzepti-
rikas besser zu dienen, müssen sowohl Chi- on einer möglichen Zusammenarbeit müssen
na als auch die EU einen selbstkritischeren praktische, pragmatische und flexible Vor-
Standpunkt gegenüber ihren jeweiligen Stra- gehensweisen gefunden werden. Man könn-
tegien für Afrika einnehmen. Beide Ansät- te zunächst mit gemeinsamen Forschungs-
ze stehen kurzfristig und langfristig vor be- programmen beginnen, an denen Mitglieder
stimmten Problemen. Für die europäischen aus China, der EU und Afrika beteiligt sind.
Staaten bestehen die Herausforderungen in Gemeinsame Forschung bietet außerdem die
den Fragen, wie sie als ehemalige Kolonial- Gelegenheit, Defizite beim Fachwissen zu
herren ihr Image als ein Partner „auf Augen- überbrücken und durch mögliche Feldstudi-
höhe“ in Afrika wiederherstellen und wie sie en zu umfassenden und ausgewogenen Beur-
ihre eigenen politischen Ziele mit den Erfor- teilungen der jeweils anderen Strategie zu ge-
dernissen für die wirtschaftliche Entwick- langen. Zweitens würde ein wichtiger Ansatz
lung Afrikas in Einklang bringen, das heißt zur Förderung des Erfahrungsaustauschs da-
sicherheits- und entwicklungspolitische Ziel- rin bestehen, dass auf der Ebene der Politik-
konflikte auflösen können. Dabei muss über gestaltung Möglichkeiten zur Einrichtung
zwei Fragen ernsthaft nachgedacht werden: von Austauschprogrammen für die Funktio-
Warum ist für afrikanische Partner das Thema näre aus involvierten Fachbereichen geprüft
der Souveränität so wichtig? Warum kommt werden. Drittens sollte, sobald ein bilateraler
es zu so großen Missverständen, was die Um- oder multilateraler Rahmen geschaffen ist,
setzung des ownership-Prinzips angeht: Wie praktische Zusammenarbeit in weniger um-
kann es sein, dass die EU das Prinzip ange- strittenen Bereichen wie Gesundheit und Ar-
wandt sieht, während viele afrikanische Part- beitskräftequalifizierung beginnen. Jede Art
ner sich bei den Entscheidungsprozessen im von Erfahrungsaustausch muss jedoch un-
Rahmen der Hilfsprojekte nicht beteiligt be- ter den Prinzipien von Vielfältigkeit, gleicher
ziehungsweise involviert fühlen? Augenhöhe und gegenseitigem Respekt statt-
finden.
Für China sind die wichtigsten Herausfor-
derungen folgende: Chinesische Firmen sind

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Herausgegeben von
der Bundeszentrale
für politische Bildung
Adenauerallee 86
53113 Bonn

Redaktion
Dr. Hans-Georg Golz
Dr. Asiye Öztürk
(verantwortlich für diese Ausgabe)
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17. September 2010

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Hauke Brunkhorst
Die Macht der Intellektuellen ISSN 0479-611 X
China APuZ 39/2010

Thomas Heberer
3–9 Chinas zivilgesellschaftliche Entwicklung
Eine funktionierende Zivilgesellschaft braucht „Bürger“. Der chinesische Staat
versucht Bürgersinn und -moral als zentrale Charakteristika von Bürgern zu
schaffen. Er erweist sich hierin als Entwicklungsagentur.

Tobias ten Brink


9–15 Chinas neuer Kapitalismus: Wachstum ohne Ende?
Wer die Wachstumsraten der chinesischen Wirtschaft verstehen will, muss sich mit
den Besonderheiten dieses Systems auseinandersetzen. Dabei werden Entwicklungs-
dynamiken und Widersprüche sichtbar, die den weiteren Erfolg behindern können.

Anja-Désirée Senz
15–22 Nationale Minderheiten zwischen Anpassung und Autonomie
China ist ein multiethnischer Staat mit offiziell 56 ethnischen Gruppen. Seine Na-
tionalitätenpolitik setzt auf kulturelle Anpassung. Doch haben sich im Zuge der
Reform- und Öffnungspolitik für die Minderheiten neue Freiräume ergeben.

Gerhard Paul
22–29 Geschichte des Mao-Porträts und seiner globalen Rezeption

Das Mao-Porträt zählt zu den am meisten reproduzierten Herrscherbildern. Als
Kultobjekt der internationalen Studentenbewegung und Gegenstand der zeitge-
nössischen Kunst trug es zur globalen Mythologisierung Maos bei.

Marcus Hernig
29–33 Zur Aktualität chinesischer Mythen

Ausgehend vom Begriff des Mythos als kollektive Aussage stellt der Beitrag zwei
bedeutende Mythen Chinas vor, die eng miteinander verknüpft sind: den Mythos
vom „Reich der Mitte“ und den Mythos des „Chinesischen Traums“.

Heinrich Kreft
35–40 Chinas Aufstieg – eine Herausforderung für den „Westen“

Der Aufstieg Chinas führt zu einer Machtverschiebung vom euro-atlantischen
Raum nach Asien mit China als neuem Machtzentrum. Auf diesen Wettbewerb
muss sich der „Westen“ politisch und ökonomisch besser einstellen.

Jin Ling
41–46 Chinesisch-europäische Zusammenarbeit in Afrika?
Chinas Präsenz in Afrika wird in der EU mit großer Aufmerksamkeit verfolgt.
Trotz unterschiedlicher Ansätze entwickeln sich Potenziale für eine chinesisch-
europäische Kooperation auf Augenhöhe mit den afrikanischen Partnern.

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