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Abo ist es höchste Zeit, dass der Staat jetzt
Krise im Stich? Vieles spricht dafür. Deswegen
regulierend eingreift.
Von Jürgen Kaube, Joachim Müller-Jung

Moralische Verantwortung oder das große Geld? Noch zeigt sich die


Pharmaindustrie mit Arzneien oder Impfstoffen zurückhaltend.   dpa
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Wenn Rom brennt, sagt ein bekanntes Wort, ist es unrecht, Geige zu spielen, aber es ist
ganz in Ordnung, während Rom brennt, Hydraulik zu studieren. Was ist in Zeiten der
Corona-Krise die Hydraulik, die jetzt studiert werden muss? Bleibt man nahe an dem
Vergleich, so geht es um das Studium all der Mechanismen, die vielleicht verhindern
könnten, dass sich eine solche Epidemie wiederholt.
Zwei Dinge, schreibt in diesem Sinne der Microsoft-Gründer Bill Gates, der mit seiner
Stiftung inzwischen eine Weltmacht in der Gesundheitsbranche ist, müssen die Führer
dieser Welt in der Corona-Krise – in jeder Krise – tun. Sie müssen das Problem
unverzüglich lösen und dann dafür sorgen, dass es nicht wieder passiert. Im wichtigsten
Medizinjournal der Welt, dem „New England Journal of Medicine“, lässt Gates wissen,
wen er mit den „Führern dieser Welt“ meint. Nicht allein die Regierungen, internationalen
Organisationen, die Weltgesundheitsbehörde, nein, er nimmt vor allem die
Pharmabranche in die Gemeinwohlpflicht. Industrie und Regierungen müssten zusammen
einen Impfstoff entwickeln und auch gemeinsam dafür sorgen, dass der Impfstoff
schnellstmöglich bei allen ankommt. Auch bei denen, die nichts dafür zahlen können:
„Während einer Pandemie dürfen Vakzinen und antivirale Medikamente nicht einfach an
den Höchstbietenden gehen.“ Moralische Verpflichtungen dieser Art schmecken der
Pharmaindustrie nicht, sie vernimmt sie aber immer öfter. Zum Studium der Hydraulik
gehört also auch das Studium des Marktes für Gesundheit.
Vor siebzehn Jahren blickte die Welt mit der ersten Corona-Pandemie in einen Abgrund.
Das Sars-Virus war extrem gefährlich. Glücklicherweise war es wenig ansteckend,
weswegen das Problem nach wenigen Monaten mit Eindämmungsmaßnahmen gelöst war.
Dafür sorgen aber, dass man, falls es wiederkehren würde, nicht noch einmal bei null
anfangen müsste, wollte keiner. Bevor der Corona-Impfstoff fertig war, den man zu
entwickeln begonnen hatte, winkten alle ab, die Pharmaindustrie zuerst. Für die
Medikamentenentwicklung gab es kein neues Geld, weder aus privatwirtschaftlichen noch
aus öffentlichen Kassen. Der Schock der Sars-Epidemie, die auch damals schon eine
Weltwirtschaftskrise auslöste, war schnell vergessen.
Die vertane Chance mit dem Corona-Impfstoff
Die zweite drohende Coronavirus-Seuche ein paar Jahre später, die den Namen Mers trägt,
ist bis heute nicht aus der Welt. Ein Drittel der Infizierten stirbt an dem Erreger, aber auch
er ist zu wenig infektiös und fordert, zynisch gesprochen, zu wenig Opfer, um die Chefs der
Welt bisher beeindrucken zu können. Spezielle antivirale Arzneien oder Impfstoffe?
Fehlanzeige. In die dritte Coronavirus-Pandemie, Covid-19, sind wir deshalb genauso
hineingerauscht, wie wir aus jeder der jüngeren Seuchengefahren herausgekommen
waren: Bis auf ein paar Spezialistenlabors und abgebrochene Studien hatte die Welt seit
Beginn der Covid-19-Seuche vor zwei Monaten nichts anzubieten, was die Wirtschaft und
die Köpfe hätte schützen und den Auswüchsen einer digital entfachten Pandemieangst
etwas entgegensetzen können.
Vorsorge ist ein lausiges Geschäftsmodell, wenn es um steigende Margen und Aktienkurse
geht. Warum etwas ändern oder sich in die Pflicht nehmen lassen, wenn es gut läuft? Und
es läuft prächtig: Nach den IT-Riesen zieht die Pharmaindustrie das meiste Risikokapital
an. Von der Digitalbranche abgesehen, winken nirgends mehr Profite als hier. In allen
ökonomischen Erfolgskennzahlen liegen die 35 börsennotierten Arzneimittelkonzerne seit
Beginn dieses Jahrhunderts doppelt so hoch wie vierhundert andere Teilnehmer des
amerikanischen S&P-500-Index, rechnete man jetzt in einem Themenschwerpunkt des
Journals der amerikanischen Medizingesellschaft („Jama“) vor. Darüber der Titel:
„Verdienen Pharmafirmen zu viel?“.
Üppige Profite wären noch kein Grund, höhere moralische Ansprüche an die Industrie zu
stellen, Mediziner sind selten Antikapitalisten. Dennoch ist eine inzwischen heftige
Debatte entbrannt, ob der Staat nicht eine größere Rolle spielen, steuernd eingreifen soll,
damit die Interessen der Allgemeinheit nicht gegenüber legitimen Gewinninteressen
marginalisiert werden. „Ist es an der Zeit, die Pharmaindustrie zu verstaatlichen?“, fragt
das „British Medical Journal“ in seiner aktuellen Ausgabe und lässt im Pro und Contra
durchblicken, dass die Party so ungetrübt nicht weiterlaufen kann. Marktversagen wird
immer öfter konstatiert.
Aus ökonomischer Sicht ist Gesundheit zumeist ein privates Gut. Wer Kopfschmerzen hat,
kauft sich Tabletten nach individueller Zahlungsbereitschaft. Ist das Auftreten einer
Krankheit ungewiss und ihre Behandlung kostspielig, werden Versicherungen sinnvoll.
Staatliche Pflichtversicherungen wiederum können dafür sorgen, dass die Versicherer sich
nicht nur die „guten“ Risiken heraussuchen oder umgekehrt bei den Schadensfällen
angemessene Prämien dafür sorgen, dass es sich nur noch für „schlechte“ Risiken lohnt,
eine Versicherung abzuschließen. Das ließe den Markt zusammenbrechen.
So weit, so normal, wenn die Krankheiten der einen nicht die Krankheiten der anderen
sind. Bei ansteckenden Krankheiten aber sind sie es. Wer sich im Verdachtsfall auf Corona
testen lässt, tut nicht nur etwas für sich, sondern auch für alle anderen. Wenn im
Krankheitsfall behandelt wird, fällt der Nutzen der Behandlung nicht nur individuell an,
sondern gesellschaftlich. Bei Corona darf man sagen: weltgesellschaftlich. Das verändert
die ökonomische Logik auf dem Markt für Medizin. Die hartnäckige Weigerung
beispielsweise, in den Vereinigten Staaten ein System öffentlicher Krankenkassen
einzuführen, wird durch eine Epidemie vor ihre Konsequenzen geführt. Wenn umgekehrt
die deutsche Kassenärztliche Vereinigung dieser Tage mitteilt, dass in Arztpraxen
(Kliniken also nicht mitgerechnet) in der vergangenen Woche 35 000 Tests auf das
Coronavirus durchgeführt worden sind, das sind etwa 435 auf eine Million Einwohner,
dann geht in solche Zahlen auch ein, dass Tests keine Frage der Zahlungsfähigkeit sind.
Zum Vergleich: In Südkorea sind bislang 210 000 Tests durchgeführt worden, das sind
3800 auf eine Million Einwohner, in Italien 60 000, in Großbritannien gut 26 000 und in
den Vereinigten Staaten 8500. Für die Ökonomie der Behandlung von Infektionsfällen gilt
dieselbe Logik. Sollte es einmal einen Impfstoff geben, wäre es absurd, seinen Preis dem
Spiel von Angebot und Nachfrage zu überlassen.

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Für die Pharmaindustrie hingegen ist Gesundheit ein ganz normales Gut. Besonders
schwer an ihrem Bein klebt hier die Antibiotika-Krise. Seit Jahren werden keine neuen
Antibiotika mehr produziert oder entwickelt, und die Arzneimittelindustrie macht keinen
Hehl daraus, dass ihr die Gewinnmargen zu dünn sind, um ihre Haltung zu ändern. Selbst
der Versuch auf höchster politischer Ebene, auf G-20- und G -7-Konferenzen, die sich
ungehindert ausbreitenden, tödlichen Antibiotikaresistenzen mit Forschungszuschüssen
aus öffentlichen Haushalten zu mildern, konnte die Konzerne bisher nicht überzeugen. Ihr
Fokus hat sich längst auf das zukunftsträchtigste Geschäft überhaupt verlagert:
Krebsmedikamente haben die Innovationslaune der Branche mächtig gesteigert. In dreißig
Jahren werden wegen der Alterung doppelt so viele Menschen an Krebs erkranken wie
heute. Kein Pillensegment wächst schneller. Und viele dieser Mittel mit dem größten
onkologischen Potential, gentechnisch maßgeschneiderte Zelltherapien vor allem, erzielen
Mondpreise von weit mehr als hunderttausend Euro pro Behandlungsjahr.
Dass solche Preise klinisch zu rechtfertigen sind, wird umso heftiger angezweifelt, je
beliebiger sich die Preisgestaltung selbst für die Mediziner gestaltet. Dazu kommt die
Verknappung. Seit Jahren wächst die Liste im Bundesinstitut für Arzneimittel und
Medizinprodukte von Medikamenten, für die es Lieferengpässe gibt. Mehr als
zweihundertsiebzig sind es aktuell, bei Krebsmitteln haben sich die Lieferengpässe in
sieben Jahren verzehnfacht. Der Hauptgrund: Die vergleichsweise wenigen großen
Konzerne, die sich den Weltmarkt aufteilen, denken global. Und wenn in anderen Ländern
mehr Gewinne zu erwarten sind, weil etwa in Deutschland die Preise durch
Rabattverhandlungen der Kassen mit den Firmen ordentlich gedrückt werden, gehen die
Arzneimittel eben an diese Märkte im Ausland.
Ein anderer Grund, der jetzt in der Corona-Krise spürbar wird: Die Herstellung der Mittel,
vor allem auch der billigen Generika, wurde ins Ausland verlegt – Dutzende Anlagen
befinden sich in China. Damit ist man von ausländischen Billigzulieferern abhängig. Auf
dem jüngsten Krebskongress in Berlin wurde vorgerechnet, wie der Preis für
Krebsarzneien plötzlich um tausend Prozent steigen kann und die Apotheker lediglich
zweitrangige Alternativen anbieten, in den Augen der Ärzte jedoch die „Fehleranfälligkeit
der Therapie“ damit auch drastisch erhöhen können. Dass die Hälfte der Mediziner in
Umfragen unter Klinikärzten angegeben hat, eine Therapie mindestens einmal vorzeitig
aus Kostengründen beendet zu haben, hat auch oft den Grund darin, dass ihnen die Preise
für bestimmte Mittel überhöht erscheinen.
„Unmoralische Gewinnerwartungen“
Die Arzneipreise sind nach einer neuen amerikanischen Berechnung in der
zurückliegenden Dekade dreimal so schnell gestiegen wie die Inflation. So richtig erklären
kann sich das keiner mehr. „Auch unmoralische Gewinnerwartungen können
Verschwendung sein“, mahnte der Bayreuther Medizinethiker Eckhard Nagel auf dem
deutschen Krebskongress. Es ist aber nicht nur die Unzufriedenheit über
unverhältnismäßige Preise oder Intransparenz, die den Medizinern zu schaffen macht, es
ist auch der moralisch fragwürdige Umgang mit dem branchenüblichen ökonomischen
Maß insgesamt. Im „Jama“ wird gezeigt, dass kein anderer Industriezweig so viel Geld –
Hunderte Millionen Dollar jährlich – in die Taschen von Lobbyisten schleust, um ihren
Interessen bei Politikern Gehör zu verschaffen. Warum soll der Staat da nicht gleich die
Industrie stärker in die Pflicht nehmen, wie Bill Gates sich das wenigstens in Krisenzeiten
wünscht?
Natürlich werden dagegen die üblichen Warnungen vor „Verstaatlichung“ oder einem
„Gesundheitssozialismus“ in Stellung gebracht. Das aber würde zum einen verkennen, dass
der Begriff „Marktversagen“ vorsichtig und sachgemäß, also diesseits der gängigen
antikapitalistischen Phrasen, verwendet werden kann. Ein solches Versagen im Fall von
epidemischen Krankheiten gegeben zu sehen bedeutet nicht automatisch etwas für alle
anderen Gesundheitsgüter, geschweige denn die Wirtschaft insgesamt. Es bedeutet auch
nicht zwingend, dass nun staatliche Pharmaunternehmen aufgebaut werden sollten. Es
bedeutet nur eine stärkere Intervention in die pharmazeutische Grundsicherung, die nicht
einfach dem Gewinnkalkül überlassen werden sollte, so als sei dieses Kalkül die mit immer
demselben Zitat von Adam Smith belegbare Lösung aller Probleme.
Zum anderen liefe die Warnung davor, in den Markt für Pharmazeutika noch stärker als
ohnehin schon zu intervenieren, angesichts der jetzigen Situation ins Leere. Denn es liegt
auf der Hand, wie stark Epidemien über das Leben der Betroffenen hinaus die Freiheit
selbst gefährden und unter allen Freiheiten dann auch die der Wirtschaft, in deren Namen
oft reflexhaft staatliche Interventionen abgelehnt werden. Wenn das, was sich als
entscheidend erweist, um die Freiheit des öffentlichen und privaten Lebens zu schützen,
von Firmen allein nicht bereitgestellt wird, sind – mit einem freundlichen Ausdruck –
„Public Private Partnerships“ ohne Alternative.
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