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Gesundheitssystem

In der Fortschrittsfalle
Man kann unendlich viel für seine Gesundheit tun. Das hat aber
nicht viel, oft sogar gar nichts damit zu tun, ob und in welchem
Maße man sich als gesund empfindet – und Letzteres zählt.
Klaus Dörner

D
er Begriff „Gesundheit“ entzieht Vitalität. Denn seit wir uns mit der Säku- eine Krankheit oder ein Präventionspro-
sich – wenn man einmal von der larisierung, der Aufklärung und der Mo- gramm objektiv und messbar die Ge-
platten Floskel der Weltgesund- derne vom metaphysischen Ballast aller sundheit fördert, kann dennoch eine Ge-
heitsorganisation (WHO) vom Zustand Transzendenz befreien (von der Aristo- sundheitsverschlechterung dabei heraus-
vollständigen Wohlbefindens absieht – kratie und der Kirche bis zu Gott und der kommen:
weitgehend einer Definition. Schon die Natur), alles andere nur noch als Aneig- > wenn eine hypochondrische Über-
Frage nach ihr kann sie beeinträchtigen nungsobjekt wahrnehmen können, ha- aufmerksamkeit auf das Selbst das Er-
oder zerstören, wie dies gebnis ist;
für ähnlich sensible Gebil- > wenn wir Gesundheit
de wie Vertrauen, Liebe, für einen Stoff halten, den
Gnade, aber auch zum man nicht als Gabe zu
Beispiel für den Schlaf empfangen hat, sondern
oder die Sättigung gilt. sich aneignen und immer
Man kann unendlich viel mehr davon haben wollen
für seine Gesundheit tun; kann;
das hat aber nicht viel, oft > wenn wir denken, wir
sogar gar nichts damit zu könnten Gesundheit ra-
tun, ob und in welchem tional planen, herstellen,
Maß man sich als gesund machen;
empfindet – und Letzteres > wenn wir Gesundheit
zählt. So kann das Para- aus einem Mittel zum Le-
dox zustande kommen: Je ben zu einem Lebens-
mehr ich für meine Ge- zweck erheben und sie so
sundheit tue, desto weni- missbrauchen;
ger gesund fühle ich mich. > wenn wir sie zum
In diesem Sinne ist Ge- höchsten gesellschaftli-
sundheit eben nicht mach- chen Wert verklären, wo-
bar,nicht herstellbar,stellt durch sie, die eigentlich
sich vielmehr selbst her. auf Verborgenheit ange-
Gesundheit gibt es nur als wiesen ist, vollends ver-
Zustand, in dem der hindert wird;
Mensch vergisst, dass er gesund ist. Nach ben wir zwar allen Anlass, uns über den > und wenn wir uns somit die leidens-
Hans-Georg Gadamer ist dies der Zu- grandiosen Zugewinn an Freiheit, Ver- freie Gesundheitsgesellschaft zum Ziel
stand „selbstvergessenen . . . Weggege- fügbarkeit und Reichtum dieser Erobe- setzen, in der jeder Bürger das Gesund-
benseins“ an den Anderen oder „das An- rungsfeldzüge zu freuen, in denen der heitssystem mit der Erwartung ver-
dere“ der privaten, beruflichen und ge- Mensch sich zunehmend an die Stelle der knüpft, ihm gegenüber ein einklagbares
sellschaftlichen Lebensvollzüge. Natur, des Schicksals oder Gottes stellt, Recht auf Gesundheit zu haben.
Vor diesem Hintergrund kommt man gewinnen aber offenbar erst allmählich Die Gesundheitsgesellschaft treibt
um die ebenso logische wie bedrückende ein Gespür für die Nebenwirkungen die- der Gesellschaft mit der Gesundheit die
Feststellung nicht herum, dass wir seit et- ses Fortschrittsprozesses, wozu wir so et- Vitalität aus – und so lange wird es im
wa 200 Jahren mit zunehmender Wut ka- was wie eine „zweite Aufklärung“ (Hu- Vergleich mit anderen Gesellschaften
tegorial falsch mit Gesundheit umgehen bert Markl) bräuchten. Wettbewerbsfähigkeit weder in Lebens-
– mit katastrophalen Folgen für die Ent- Dieses gilt nicht zuletzt für die Ge- lust noch in Verantwortungsbereitschaft,
wicklung der Gesundheit als Mittel der sundheit. Denn auch wenn der Sieg über noch in wissenschaftlichen oder industri-

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ellen Spitzenleistungen geben; und nur in zum Kranken werden zudem durch et- Kranken“, die das selbstvergessene Weg-
Kombination dieser drei Merkmale wäre was begünstigt, was man als Top-down- gegebensein vitaler Gesundheit kaum
eine Gesellschaft vital und in diesem Sin- Prinzip des Gesundheits- und Sozialsy- noch leben können.
ne auch gesund. stems in Praxis und Wissenschaft be- 5. Bereits dem 19. Jahrhundert ver-
Für diese These werden im Folgenden zeichnen kann: Eine wissenschaftliche dankt eine andere, freilich ebenfalls heu-
einige Belege beziehungsweise Hinweise oder industrielle Innovation bei der te noch wirksame Strategie der Leidens-
auf Einflussfaktoren genannt, die eine schweren Ausprägung einer Erkrankung vermeidung ihre Entstehung: Um näm-
Fülle bisher eher vernachlässigter For- ist höchst segensreich; sie wird aber auch lich die Familien der damals erstmals
schungsthemen zumindest andeuten: des größeren Marktes wegen bei geringe- wichtig werdenden Vollbeschäftigung zu-
1. Mit zunehmender Wirksamkeit rer Intensität derselben Krankheit ange- führen zu können, mussten sie von der
schmerztherapeutischer Verfahren wird wandt, obwohl dies eigentlich nicht indi- Sorge für ihre Pflegebedürftigen und Be-
die Zahl der Schmerzkranken nicht etwa ziert wäre (so zum Beispiel das Antibioti- hinderten befreit werden. So entstanden
kleiner, sondern größer, kum bei leichter Grippe). Wenn sie die flächendeckende Netze sozialer Institu-
> weil gerade die Therapieerfolge die Wahl haben, beginnen Ärzte gern ihre tionen für geistig Behinderte, Körperbe-
Erwartung und den Rechtsanspruch auf Interventionen der größeren und schnel- hinderte, psychisch Kranke. So unsicht-
Herstellbarkeit von Schmerzfreiheit bar gemacht, gehörten die Be-
oder Leidensfreiheit auslösen, hinderten und die Verantwor-
> weshalb Schmerzen schon bei im- tung für sie nicht mehr zur als ge-
mer geringerer Intensität als unerträglich sund empfundenen, normalen
erlebt werden und nicht mehr als gesun- Lebenswelt. Stattdessen konnte
de, normale Befindlichkeitsstörung; sich – mangels Erfahrung – die
> damit wird normale Schmerzemp- Angst vor dem Behinderten erst
findung immer weniger als positiv wichti- richtig entwickeln.
ges Signal für Gefahren oder auch nur 6. Ähnlich steht es mit den
Widerstände im Rahmen einer gesunden Alten und Altersverwirrten.
und damit vitalen Lebensführung gewer- Zwar haben diese sich dank des
tet, sondern nach der ideologischen medizinischen Fortschritts erst
„Ethik des Heilens“ als Krankhaftes und im Laufe des 20. Jahrhunderts zu
damit von anderen chemisch oder psy- einer nennenswerten Bevölke-
chisch Wegzumachendes aus dem eige- rungsgruppe vervielfacht, man-
nen Kompetenzbereich ausgegrenzt. che sagen epidemisch inflatio-
> Während bisher stets der eigene niert. Der Pflegebedarf hat sich
Umgang mit Störung, Schmerz oder Lei- im Laufe dieses Jahrhunderts
den die Quelle jeglicher kreativer Lei- verhundertfacht. Noch wichti-
stung war, droht jetzt die Verwechslung ger dürfte aber sein, dass man
der nur noch selbstbezogenen, unendlich um 1900 noch aus dem Kran-
steigerungsfähigen Gesundheit mit der kenhaus zum Sterben nach
unendlich steigerungsfähigen Schmerz- Hause ging, wohingegen man
und Leidensfreiheit. heute in der Regel im Kranken-
Foto: BilderBox

> All dies wird noch in dem Maß ver- haus oder im Heim stirbt. Da
stärkt, wie die Diagnostik und Therapie man zudem heute nicht mehr in
des Schmerzes eigenständig institutiona- jedem Lebensalter gleich wahr-
Trotz ambulanter Alternativen nimmt die Zahl der
lisiert werden und daraus Eigeninteres- Heimbewohner immer mehr zu. scheinlich, sondern fast nur
sen erwachsen. noch im Alter stirbt, gilt auch
2. Auf ähnliche Weise und mit ver- hier: Sterben und Tod sind
gleichbaren katastrophalen Folgen wird leren Erfolgswahrscheinlichkeit wegen institutionell unsichtbar geworden,
der Bereich des Gesunden auch bei Be- bei „leichteren Fällen“. gehören nicht mehr zur als normal und
findlichkeitsstörungen immer mehr ver- 4. Die Zahl der an einem Patienten gesund erlebten Lebenswelt. Dadurch
kleinert und damit seiner motivierenden vorgenommenen Untersuchungen ent- konnte mangels sinnlich anschaulicher
Stacheln beraubt. Der Bereich des Krank- scheidet über die Wahrscheinlichkeit, ob Erfahrung die Angst vor dem Sterben
haften wird immer weiter aufgebläht. er zum Schluss eine Diagnose haben und dem Tod inflationär und irreal zu-
Dafür nur wenige Beispiele: Umgang mit wird, also ob er zu den Gesunden oder zu nehmen – mit allen fatalen Folgen für
Schlafstörungen, Essstörungen, Angst, den Kranken zu rechnen ist. In diesem die Vitalität, wie etwa der Wunsch nach
Aufmerksamkeitsstörungen bei Kin- Bereich eröffnen die fahrlässigerweise aktiver Sterbehilfe oder die mangel-
dern, aber auch unerwünschte Kinderlo- immer noch nicht gesetzlich geregelten, hafte Fähigkeit der Bürger, ihr Leben
sigkeit oder Schönheitsmängel. prädiktiven Gentests eine neue Dimensi- von ihrem Tod her zu begreifen und
3. Diese gefährlichen, weil devitalisie- on: Sie bescheren uns eine neue Bevölke- den jeweiligen Augenblick als kostbar
renden Verschiebungen vom Gesunden rungsgruppe, nämlich die der „noch nicht kreativ zu nutzen. 

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7. Die devitalisierenden Nebenwir- > dass noch unreife Produkte und Ver- Rehabilitations- und Kurkliniken wie der
kungen des medizinischen Fortschritts fahren auf den Markt geworfen werden Rest der Welt, der unser Jammern über
bei der therapeutischen Beherrschbar- und Geldknappheit nicht versteht, solange
keit vieler Akuterkrankungen bestehen > dass die Tendenz vorhanden ist, gute wir uns diesen – von Bismarck zur sozia-
darin, dass viele von denen, die früher Kunden lebenslang zu halten und zu len Befriedung geförderten – Zauber-
daran gestorben wären, heute weiterle- „melken“, schlechte Kunden aber an die berg-Sumpfblüten-Zopf noch leisten.
ben, jedoch in der mengenmäßig neuen Konkurrenz weiterzureichen. Dieser garantiert mehr Schaden als Nut-
menschlichen Daseinsform des chro- Gleichzeitig wird verzweifelt versucht, zen, statt die Rehabilitation konsequent
nisch Krankseins: heute schon 40 Prozent die der unsichtbaren Hand des Marktes dorthin zu „ambulantisieren“, wo die
der ärztlichen Klientel, die 75 Prozent verdankte Kostenexplosion durch ex- Menschen leben.Aber wo die unsichtba-
der Kosten ausmachen – Tendenz stei- zessive bürokratische Fremdkontrollen re Hand des Marktes regiert, darf nie-
gend, sodass chronisch Kranke bald den einzudämmen, zum Beispiel durch Qua- mand so recht steuern, maßt sich daher
ärztlichen Normalfall darstellen werden. litätsmanagement, Leitlinien, Fallpau- auch niemand die Autorität der Verant-
Aber die Medizin stülpt immer noch zu schalen, DMP. Auf diese Zwänge versu- wortung an, egal wie katastrophal das Er-
sehr ihr gewohntes Akutkranken-Sche- chen Ärzte etwa durch defensivmedizini- gebnis für die Gesundheit ist.
ma den chronisch Kranken in Behand- sche Absicherung oder durch Verschie- 10. Seit Rechtsanwälte, Psychologen,
lung, Lehre und Forschung über, wie bung ihrer Verantwortung auf den Pädagogen und Sozialarbeiter von der
zuletzt mit den zusätzlich stigmatisie- Patienten unter Berufung auf sein Selbst- gesetzlichen Betreuung (vormals Vor-
renden Disease-Management-Program- bestimmungsrecht und seine Kunden- mundschaft) leben können, hat sich in
men (DMP) noch einmal unter Beweis wünsche zu reagieren.Wenn der aktuelle wenigen Jahren die Zahl der Betreuten
gestellt. Die Etablierung einer eigenstän- Ärztemangel strukturell insofern neu ist, auf etwa eine Million mehr als verdop-
digen Chronisch-Kranken-Medizin dürf- als sich die Medizinstudenten nach dem pelt. Der neue und dynamische Berufs-
te eine der wichtigsten Forderungen für Examen beruflich anderweitig orientie- verband will natürlich weiter expandie-
ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen ren, mag das auch mit Arbeitszeit und ren, hält daher sechs Millionen Bundes-
sein. Hier geht es nicht so sehr um die Geld zusammenhängen; entscheidender bürger für betreuungsbedürftig. Deshalb
Bekämpfung von Krankheiten, sondern ist jedoch die Doppelzange aus Markt kann es nicht verwundern, dass man von
um die biografische Begleitung von be- und Bürokratie, die die Lust und die Ver- der vornehmsten gesetzlichen Aufgabe
einträchtigten Menschen, weshalb Ärzte antwortlichkeit der ärztlichen Tätigkeit der Betreuer, nämlich Betreuungen
auch weniger ein Disease-Management- abwürgt. überflüssig zu machen, fast nichts spürt.
Programm brauchen, sondern vielmehr 9. Die kostentreibende Übermacht 11. Der Wettbewerb zwingt zur Er-
bezahlte Zeit. des Marktes selbst über den Gesetzgeber schließung neuer Märkte. Das Ziel muss
8. All die beschriebenen Trends, die macht das alle einschlägigen Gesetze do- die Umwandlung aller Gesunden in
subjektiv Gesundheit fördern wollen, in minierende Prinzip „ambulant vor sta- Kranke sein, also in Menschen, die sich
Wirklichkeit aber der Gesellschaft die tionär“ zur Lachnummer; denn während möglichst lebenslang sowohl chemisch-
Vitalität austreiben, wirken sich zusätz- ambulante Hilfsangebote mit Nachteilen physikalisch als auch psychisch für von
lich umso destruktiver aus, je mehr sie bestraft werden, locken die größeren Experten therapeutisch, rehabilitativ
der Vermarktung und dem Wettbewerb Profite und Wettbewerbsvorteile im sta- und präventiv manipulierungsbedürftig
überlassen werden. Diese Prinzipien sind tionär-institutionellen Bereich, der sich halten, um „gesund leben“ zu können.
in der übrigen Wirtschaft segensreich, im zusätzlich rechtfertigt durch die ausgren- Das gelingt im Bereich der körperlichen
Sozialbereich und damit im Gesund- zende Entlastung der Gesellschaft von Erkrankungen schon recht gut, im Be-
heitswesen jedoch (vielleicht von Teilbe- allem Negativen. Drei Beispiele: reich der psychischen Störungen aber
reichen abgesehen) tödlich. Krankenhaus: Auch noch die jüngsten noch besser, zumal es keinen Mangel an
> Wenn Gesundheit zur Dienstlei- Spezialisierungen (Psychosomatik, Ger- Theorien gibt, nach denen fast alle Men-
stung und damit zur Ware wird, iatrie) sind überwiegend in Form sta- schen nicht gesund sind. Fragwürdig ist
> wenn jede medizinische Einrichtung tionärer Systeme erfolgt, obwohl ambu- die analoge Übertragung des Krank-
zu Gewinnmaximierung durch Lei- lante Liaison- und Konsiliardienste für heitsbegriffs vom Körperlichen auf das
stungsexpansion verurteilt ist, alle Beteiligten gesünder wären. Psychische. Einige Beispiele:
> wenn Wettbewerb zwar kurzfristig Heime: Obwohl es für alle Heimauf- a) Das Sinnesorgan Angst, zuständig
Kosten senken kann, was jedoch durch nahme-Indikationen erprobte ambulan- für die Signalisierung noch unklarer Be-
Mengenausweitung mehr als kompen- te Alternativen gibt, sind jetzt schon mit drohungen, ist zwar unangenehm, jedoch
siert wird steigender Tendenz mehr als eine Million vital notwendig und daher kerngesund;
– dann muss man sich nicht wundern, Bundesbürger Heimbewohner, den Ge- nur am falschen Umgang mit Angst (zum
> dass schließlich künstlich Bedürfnis- setzen der Massenhaltung unterworfen. Beispiel Abwehr, Verdrängung) kann
se erfunden werden, die man als Wunsch- Mehr als 95 Prozent der Sozialhilfelei- man erkranken. In den 70er- und 80er-
erfüllung für den Kunden zu befriedigen stungen fließen in den stationären Be- Jahren jedoch hat man die Angst als
verspricht, reich. Marktnische erkannt und etliche neue,
> dass auch sachlich nicht notwendige Rehabilitation: Deutschland hat etwa selbstständige Krankheitseinheiten kon-
Spezialisierungen entstehen, so viele Betten in psychosomatischen struiert – mit vielen wunderbaren Hei-

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lungsmöglichkeiten für die dafür dank- Tricks zu verhindern versucht hätten. ten Zeitpunkt wirklich für vital hält. Da-
baren Patienten. Dies öffentlich zu sagen bedeutet heute bei ist auch dieses Angebot, wieder von
b) Seit den 90er-Jahren ist die Depres- Mut, Zivilcourage. segensreichen Ausnahmen abgesehen,
sion weltweit als unzureichend vermark- d) Ein Selbstversuch, den jeder wie- bestenfalls folgenlos, da von außen kom-
tet erkannt. Eine Art Rasterfahndung derholen kann: Ich habe zwei Jahre lang mende Mittel ohne Sozialisierungsarbeit,
nach unentdeckten Depressiven, wovon aus zwei überregionalen Zeitungen alle also ohne die anstrengende integrieren-
immer einige Menschen real profitieren, Berichte über Forschungen zur Häufig- de Übersetzung in die biografische All-
die meisten jedoch durch zusätzliche Eti- keit psychischer Störungen (zum Bei- tags-Lebenswelt, dem Leben äußerlich
kettierung in ihrer Vitalität Schaden neh- spiel Angst, Depression, Essstörung, bleiben.
men, hat zum Beispiel in den USA dazu Süchte, Schlaflosigkeit, Traumata) ge- Diese Beispiele führen zu der Annah-
geführt, dass sich von 1987 bis 1997 die sammelt: Die Addition der Zahlen ergab, me, dass das Gesundheitssystem insge-
Zahl der wegen Depression Behandelten dass jeder Bundesbürger mehrfach be- samt eher wie eine Vitalitätsvernich-
von 1,7 auf 6,3 Millionen fast vervierfacht handlungsbedürftig ist. Die meist von be- tungsmaschine wirkt – und dies marktbe-
hat; entscheidend dafür war die suggesti- kannten Professoren stammenden Be- dingt mit expansiver Tendenz, sind doch
heute schon 4,2 Millionen Menschen im
Gesundheitssystem beschäftigt und da-
mit, ohne es zu wollen, an der Steigerung
dieser Wirkung interessiert. Es dürfte
sich zumindest lohnen, die Stimmigkeit
der vorstehenden zwölf Belegkomplexe
und insbesondere ihrer Wechselbezie-
hungen durch Forschungsprojekte zu
überprüfen, auch wenn ihnen jetzt schon
viele wissenschaftliche Expertisen zu-
grunde liegen.

Ständige Ausbalancierung
Abschließend wenigstens eine Schluss-
folgerung: Auf dem Weg zu einer vitalen
Foto: DAK

Gesellschaft müsste „gesund leben“ heu-


te nicht mehr nur – wie früher – die ein-
Fitness und Wellness – das Leben wird prozessualisiert als Vitalisierung ohne Ende. seitige Entlastung von Lasten bedeuten,
sondern vielmehr die ständige Ausbalan-
ve Aufklärungskampagne und aggressive richte versuchten in der Regel, dem Le- cierung des menschengemäßen Gleich-
Werbung für Antidepressiva. ser zunächst ein Erschrecken über den gewichts zwischen Entlastung und Bela-
c) Inzwischen hat die Psychotrauma- hohen Prozentsatz der jeweiligen Einzel- stung im Sinne des Spannungszustandes
Therapie den imperialistischen An- störungen zu suggerieren, um ihn dann zwischen Selbstgenuss und selbstverges-
spruch, möglichst alle Krisen durch Trau- wieder zu entlasten, weil es heute dage- senem Weggegebensein an Anderes.Ent-
matisierung (früheres Gewalterlebnis, gen die zauberhaftesten Heilmethoden lastung ist eben nicht zu maximieren,
Missbrauch, Misshandlung) zu erklären gäbe, fast immer in der Kombination von sondern nun zu optimieren – physisch
und zu therapieren. Auch hiervon kön- Psychopharmaka und Psychotherapie; wie sozial-moralisch. Das heißt konkret,
nen wenige profitieren, während die All- denn hier verspricht die Kooperation der dass wir uns künftig zwar weiterhin über
gemeinheit durch potenziell lebensläng- Konkurrenten den größten Gewinn. Schritte der Entlastung freuen dürfen,
liche punktuelle Aufmerksamkeitsfixie- 12. Der künftig expansivste Markt aber auch für Schritte der Wiederbela-
rung geschädigt wird; selbstvergessenes dürfte der der Prävention sein – von den stung zu sorgen haben. Es scheint so, als
Weggegebensein ist jetzt sehr erschwert. Experten der gesunden Ernährung über stünden die Medizin und das Gesund-
Bei jeder Katastrophe sind heute Opfer das Jogging bis zu den Fitness- und heitswesen nunmehr vor dem Paradig-
wie Helfer den öffentlichkeitswirksamen Wellness-Zentren, Agenturen, die das menwechsel, der in der Physik vor 100
oder verstehenswütigen Psychoattacken Leben der Menschen mit wechselnden Jahren erfolgte, als man zu der Erkennt-
fast zwangsweise, weil wehrlos ausge- Schwerpunkten begleiten und mit deren nis kam, dass Newtons Physik zwar nicht
setzt. Nach dem Erfurter Amoklauf blieb Hilfe sie ihre Gesundheit infinitesimal falsch sei, jedoch nur unter vereinfachten
einer Schülerin die Äußerung vorbehal- optimieren, in „Gesundheits-Bewusste“ Sonderbedingungen gelte, wohingegen
ten, das Schrecklichste seien eigentlich umerzogen werden sollen. Das Leben in der Sichtweise der Quantenphysik sich
die Psychologen gewesen, die das Allein- wird prozessualisiert als Vitalisierung oh- die Wirklichkeit als wesentlich umfang-
sein mit sich selbst und/oder mit Freun- ne Ende, wobei nur eins zu vermeiden ist: reicher, mehrdimensionaler und komple-
den/Angehörigen mit den raffiniertesten dass ein Mensch sich zu einem bestimm- xer darstellt. Oder um es in einem Bild

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auszudrücken: Damit ein Schiff oder ein Behandlungsfehler


Fesselballon optimal freie Fahrt machen
kann, muss auch der Ballast stimmen; ge-
rade im Interesse der Befreiung von der
Natur ist die Verankerung in der Natur Mehr Rechte für Patienten
von Bedeutung.
Wenn der durch Entlastungshilfen der
Medizin,der Technik und Industrie einge-
gefordert
schränkte körperliche Bewegungsraum
zur Muskelatrophie mit den Folgeschä- Die Techniker Krankenkasse will Patienten auch dann
den der Zivilisationskrankheiten (vom unterstützen können, wenn sie selbst
Diabetes bis zu den Herz-Kreislauf- keine Ersatzansprüche geltend machen kann.
Erkrankungen) führt, muss man die
Grenzen, innerhalb derer man sich von

S
der Last körperlicher Tätigkeit nicht ent- tärker als bisher will die Techniker Patienten geben. Danach vermutet je-
lasten lässt, verteidigen oder wieder hin- Krankenkasse (TK) Patienten un- der Fünfte, schon einmal einen Behand-
ausschieben. Allmählich scheint das Pro- terstützen, die meinen, einen Be- lungsfehler erlitten zu haben. Mehr als
blembewusstsein dafür wieder zu wach- handlungsfehler erlitten zu haben. Da- die Hälfte der Befragten gab an, diese
sen: An einem Bahnhof kann man zum zu fordert die TK gesetzliche Rege- Vermutung niemandem gemeldet zu
Beispiel beobachten, wie fast alle Men- lungen, die den Krankenkassen eine haben. Gründe: „Der Fehler war nicht
schen mit nur noch fahrbaren Köfferchen umfassendere Betreuung ihrer Versi- so schlimm“, meinten 21 Prozent, „man
die Rolltreppe hinaufstehen, aber zehn cherten erlauben. So sollen die Kran- hat sowieso keine Chance“, sagten
Prozent benutzen die normale Treppe. kenkassen künftig auch dann eingreifen 13 Prozent, „zu lange her“, elf Prozent.
Fragt man diese nach ihrem Motiv, so lau- dürfen, wenn sie selbst keine eigenen Von den Patienten, die über ihren mut-
tet die häufigste Antwort: „Ich bin doch Ersatzansprüche geltend machen kön- maßlichen Behandlungsfehler redeten,
nicht blöd, ich lasse mich doch nicht noch nen. Weiter plädiert die TK für eine ge- sprachen 38 Prozent mit dem Arzt,
von meinen letzten Selbstbewegungs- setzliche Regelung zur Herausgabe der sechs Prozent wandten sich an das
möglichkeiten enteignen.“ Behandlungsunterlagen an Patienten Krankenhaus, zwölf Prozent an die
Die Verteidigung oder Hinausschie- oder Krankenkassen, sofern diese vom Krankenkasse. Auf Ärztekammer, Ver-
bung der Grenzen der eigenen Verfüg- Patienten dazu ermächtigt wurden. Die braucherzentrale und Rechtsanwalt
barkeit und damit der Freiheit gegenüber Krankenkassen sollten auch die Kosten entfielen nach der Umfrage jeweils ein
helfend-entlastenden Zugriffen betrifft für eine erste Rechtsberatung des Versi- Prozent.
aber auch einen Grundbestand von cherten sowie für externe Gutachten
Schmerzen und Leiden (als Vorausset- übernehmen können.
zung personaler Reifung) sowie der Mit diesen Maßnahmen wolle er kei- Großes Informationsdefizit
Angst und anderer Gemeinsinne. Über- nesfalls die Arbeit von Ärzten in Miss-
haupt hat jeder sich sein Recht auf Kri- kredit bringen, versicherte TK-Vor- Das Informationsdefizit bei den Patien-
sen, Grenzsituationen und andere Lasten standsmitglied Helmuth Doose. Ge- ten ist groß. Ein Drittel der Betroffenen
wie Behinderung, Krankheit, Altern, messen an der Gesamtzahl der tägli- und zwei Drittel der Nicht-Betroffenen
Sterben und Tod als ihm zugehörig zu si- chen Behandlungen, bewege man sich gaben an, nicht zu wissen, an wen man
chern, soll das Leben wirklich erfahren, hier im Promillebereich. Dennoch regi- sich wenden könne. „Die Ergebnisse“,
soll Gesundheit Vitalität sein und sollen strierte die TK im vergangenen Jahr ei- so Doose, „zeigen zweierlei: Zum einen
Widrigkeiten biografisch genutzt werden. nen erheblichen Anstieg bei der Mel- müssten die Menschen besser infor-
Das gilt auch für Katastrophenopfer.Hier dung von vermuteten Behandlungsfeh- miert werden, wo sie Unterstützung be-
meint Bert Hellinger mit Recht: „Wer ein lern. 2 166 Meldungen im Jahr 2001 be- kommen. Zum anderen muss mehr
wirklich schweres Schicksal hat, ist in der deuteten eine Steigerung von fast 62 dafür getan werden, um schon frühzei-
Regel stark genug, es zu tragen.“ Thera- Prozent gegenüber dem Vorjahr. Die tig einen Behandlungsfehler von einem
peuten, die ohnehin nur die zweitbeste Anzahl der anerkannten Behandlungs- schicksalshaften Lauf zu unterschei-
Ersatzlösung bieten können, haben sich fehler bei TK-Versicherten habe in den den.“ Nicht jede Vermutung entpuppe
auf die Ausnahmen von der Regel zu be- Jahren 1996 bis 2000 annähernd kon- sich später als Behandlungsfehler, bei
schränken. stant bei fast 30 Prozent der gemeldeten der die Regeln der ärztlichen Kunst ver-
Fälle gelegen. In 72 Prozent der Fälle letzt wurden. „Oftmals ist es schwierig“,
kam eine Einigung zugunsten der Versi- so Prof. Dr. med. Martin Hansis, Leiten-
❚ Zitierweise dieses Beitrags: cherten ohne Klage zustande. der Arzt beim Medizinischen Dienst
Dtsch Arztebl 2002; 99: PP 449–453 [Heft 10]
Eine beim Forsa-Institut in Auftrag der Spitzenverbände der Krankenkas-
Anschrift des Verfassers:
gegebene Studie, deren Ergebnisse die sen, die Folgen der Krankheit selbst und
Prof. Dr. med. Dr. phil. Klaus Dörner TK präsentierte, sollte Aufschluss über die Folgen der Fehlbehandlung zu un-
Nissenstraße 3, 20251 Hamburg die Erfahrungen und Erwartungen von terscheiden.“ Dorthe Kieckbusch

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