Fräulein Else
Arthur Schnitzler
Biografischer Hintergrund
Die Monolognovelle „Fräulein Else“ ist ein Spätwerk Arthur Schnitzlers (1862–1931),
der zur Zeit der Entstehung der Novelle als einer der berühmtesten Dramatiker Österreichs
galt und vor allem auch durch sein umfangreiches Prosawerk große Berühmtheit erlangt hatte.
Sein privater und beruflicher Weg war jedoch nicht frei von zahlreichen Hürden und
Niederschlägen: Scharfsichtig und einfühlsam wie kaum ein anderer Autor dieser Zeit
durchlebte Schnitzler die von Melancholie und Hoffnungslosigkeit geprägte Krisenstimmung
der Jahrhundertwende, die sich auch in seinen Werken widerspiegelt.
Als Sohn eines jüdischen Professors belasteten Arthur Schnitzler persönlich vor allem
auch die antisemitischen Tendenzen, die sich damals in Österreich auszubreiten begannen und
die er – wenngleich er kein praktizierender Jude war – immer wieder zu spüren bekam. Nicht
zuletzt bedeuteten die schreckenerregenden Jahre des Ersten Weltkriegs (1914–1918) und der
darauffolgende Untergang der Doppelmonarchie Österreich-Ungarn einen tiefen Einschnitt in
Schnitzlers Leben. Neben diesen desillusionierenden gesellschaftlichen Ereignissen führten in
seinem Privatleben die beiden Scheidungen und vor allem die Selbsttötung seiner Tochter, die
sich im Jahr 1928 das Leben nahm, zu einer zunehmenden Lebensmüdigkeit des Autors.
Als weiteres belastendes Problem kam für Schnitzler hinzu, dass er – vorrangig auf
Betreiben seines Vaters, der als Arzt und später als Kehlkopfspezialist tätig war und der mit
allen Mitteln versuchte, seinen Sohn von dessen literarischen Neigungen abzubringen – neben
seiner schriftstellerischen Tätigkeit auch den Beruf des Arztes ausübte.
Über viele Jahre hinweg haderte Schnitzler mit diesem Zwiespalt zwischen Kunst und
Wissenschaft, in den er sich zeitlebens gestellt sah und den er erst im späteren Verlauf seines
Lebens in einer produktiven Synthese aufzulösen vermochte. Als derartige produktive
Verbindung kann insbesondere die Monolognovelle „Fräulein Else“ charakterisiert werden,
zumal sich Schnitzler als Arzt auch mit Fällen der Hysterie beschäftigte, und zwar sogar noch
bevor Freud seine Studien über die Hysterie veröffentlicht hatte. Auf diese Weise nimmt
Schnitzler in „Fräulein Else“ einerseits eine wissenschaftlich-medizinische Sicht ein, setzt
diese andererseits aber literarisch versiert um.
Ebenso wie Schnitzlers Privatleben zeichnet sich auch sein künstlerisches Schaffen
durch große Ambivalenz aus. Demnach sind hier neben großen Erfolgen auch zahlreiche
Skandale zu verzeichnen: So erregte nicht nur die im Jahr 1900 geschriebene Novelle
„Lieutenant Gustl“ vor allem in militärischen Kreisen großen Unmut, was schließlich nach
einem gegen Schnitzler angestrengten Ehrengerichtsverfahren zur Aberkennung seines
Offiziersrangs als Oberarzt der Reserve führte.
Einen noch größeren Skandal löste Arthur Schnitzlers Theaterstück „Reigen“ aus, das
1921 uraufgeführt wurde: in diesem Stück beschreibt Schnitzler die Begegnung von zehn
Paaren, die sich ganz im Sinne eines Reigens in jeder Szene einem neuen Sexualpartner
zuwenden. Obwohl der Geschlechtsverkehr nicht explizit beschrieben wird, sondern nur
erahnt werden kann, führte das Stück zu einem handfesten Skandal: Es folgten Krawalle und
Demonstrationen, Schnitzler wurde vor allem in völkisch-nationalen Zeitungen als „jüdisch-
entarteter“ „Pornograph“ beschimpft.
Gegen Schnitzler wurde damals sogar ein Gerichtsverfahren wegen Erregung
öffentlichen Ärgernisses angestrengt, das allerdings zugunsten des Autors entschieden wurde.
Nichtsdestotrotz hat Schnitzler wenig später darum gebeten, keine weiteren Aufführungen des
Stücks mehr zuzulassen. Das selbst angestrebte Aufführungsverbot wurde erst im Jahr 1982
von Schnitzlers Sohn wieder aufgehoben.
Entwurf und Schreibphase
Die ersten Entwürfe zu „Fräulein Else“ werden im Jahr 1921 verfasst. Hierzu vermerkt
Schnitzler in seinem Tagebuch, dass er die Idee zu einer Novelle entwickelt habe, die er
gedenkt, in „Gustl Technik“, das heißt in Form des inneren Monologs, zu verfassen. Damit
greift Schnitzler mehr als 20 Jahre nach seiner ersten Monolognovelle wieder auf jene
innovative Erzähltechnik zurück.
Inhaltlich soll die geplante Novelle von einem jungen Mädchen handeln, das nackt den
Speisesaal eines Berghotels betritt, und zwar mit dem Ziel, die um sie werbenden Männer zu
prüfen. Die grundlegende Idee, dass sich eine junge Frau nackt den Augen der Öffentlichkeit
präsentiert, ist demnach bereits im ursprünglichen Plan der Novelle enthalten. Verändert hat
Schnitzler demgegenüber aber das Motiv für diese öffentliche Selbstentblößung, indem er
diese Tat mit der Forderung der Eltern und der anschließenden Erpressung des
Darlehnsanbieters psychologisch begründet.
Den eigentlichen Text der Novelle erarbeitet Schnitzler dann in einem Zeitraum von
drei Jahren, das heißt zwischen 1921 und 1924. Die wichtigste Schreibphase liegt hierbei
zwischen Dezember 1922 und April 1923, als er die Novelle erstmals für beendet erklärt. In
den folgenden Monaten korrigiert er wiederholt den Text, bis dieser schließlich im Oktober
1924 als Vorabdruck in der „Neuen Rundschau“ und im November 1924 als Buchfassung im
Wiener Paul Zsolnay Verlag erscheint.
Historischer Hintergrund
Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn
Die Doppelmonarchie Österreich-Ungarn, die sich nach der militärischen Niederlage
gegen Preußen 1866 sowie nach der Auflösung des Deutschen Bundes 1867 konstituierte,
wurde von Franz Joseph I. regiert, der als doppeltes Staatsoberhaupt sowohl Kaiser von
Österreich als auch König von Ungarn war. Unter Kaiser Franz Joseph erreichte das
Habsburger Weltreich, das sich aus einer Vielzahl an Völkern, Kulturen, Sprachen und
Religionen zusammensetzte, seine Hochphase.
Im Hinblick auf Schnitzlers Novelle „Fräulein Else“ ist in diesem Zusammenhang
bedeutsam, dass um 1900 ungefähr neun Prozent der Wiener Bürger jüdischer Herkunft
waren. Sie bildeten einen Großteil der intellektuellen und kulturellen Elite Wiens – so waren
zum Beispiel Arthur Schnitzler, Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Sigmund Freund
jüdischen Glaubens – und hatten entscheidenden Anteil an dem künstlerischen und
wissenschaftlichen Aufschwung jener Zeit. In der Novelle ist Elses Familie jüdisch. Auch der
Kunsthändler Dorsday ist jüdischer Abstammung.
Der Sittenkodex
Die Wiener Gesellschaft um 1900 wird von der Prämisse bestimmt, dass die
Institution der Ehe mit leidenschaftlicher Liebe letztlich nicht zu vereinbaren sei. Somit galt
erfüllende Sexualität nicht als Garant und Ausdruck tiefer seelischer Verbundenheit, sondern
wurde im Gegenteil als destabilisierender Faktor der familiären Ordnung angesehen:
Zwischen Gattin und Ehemann sollte keine leidenschaftliche, sondern eine Art funktionale
Liebe praktiziert werden, welche die Nachkommenschaft zu sichern hatte. Vielfach wurde
dieser Umstand auch zur Legitimierung und Rechtfertigung des Ehebruchs herangezogen.
Aufgrund der traditionellen Moral der patriarchalischen Gesellschaft wurde ein
(außereheliches) Ausleben sexueller Triebe jedoch einzig dem Mann zugestanden. Für die
verheiratete Frau gab es demnach keine Möglichkeit, ihr sexuelles Verlangen zu stillen, ohne
sogleich zur „Dirne“ herabgewürdigt zu werden. Zwischen den beiden Extremen der
treusorgenden Ehefrau und Mutter und der sündigen Dirne – und damit zwischen den
Konstrukten der Heiligen und der Hure – konnte kein Ausgleich gefunden werden.
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Das allgemeine Wahlrecht für die Frauen in Österreich trat erst 1918 in Kraft.
Beginnende Emanzipationsbewegungen
In der Phase der gesellschaftspolitischen Umbrüche und Neuorientierungen nach dem
Ersten Weltkrieg wurden jedoch die Stimmen der Frauenrechtsbewegung immer lauter,
sodass der Frau langsam auch im öffentlich-wirtschaftlichen Bereich ein Platz zugewiesen
wurde. Insbesondere in der Zeit der politischen und auch finanziellen Unsicherheit im Zuge
der Weltwirtschaftskrise nahm die Frau eine doppelte Position ein: Zum einen die der
Hausbesorgerin, die sich um Haushalt und Familie kümmert, und zum anderen die der
Emanzipierten, welche die Familie durch eine eigene Erwerbsarbeit unterstützt.
Die Frau befand sich am Anfang des 20. Jahrhunderts in einer Grenz- und
Übergangsphase zwischen der Aufrechterhaltung ihrer gesellschaftlichen Rolle als Gattin und
Mutter auf der einen und ihrem Wunsch nach Befreiung, Selbstständigkeit und Emanzipation
auf der anderen Seite. In dieser Umbruchszeit zwischen tradiertem und modernerem
Frauenbild, zwischen Tradition und Emanzipation ist Schnitzlers „Fräulein Else“ angesiedelt.
Die Ambivalenz der zeitgenössischen gesellschaftlichen Anforderungen trägt in hohem Maße
zu Elses psychischer Instabilität bei.
Merkmale der Novelle in „Fräulein Else“
Die Novelle ist eine Erzählung mittleren Umfangs, die entsprechend ihrem Namen
(lat. „novus, novellus“ = neu) etwas Neues, bislang nicht Dagewesenes darstellen möchte.
Johann Wolfgang von Goethe spricht in seiner berühmten Definition der Novelle folglich
auch von einer „unerhörten Begebenheit“ als wesentlichem Charakteristikum dieser
Erzählform. Die Novelle handelt somit von einem Vorfall, der unerhört, neu und singulär sein
soll. Die Neuartigkeit bezieht sich dabei zum einen auf die Thematik, insofern die Novelle
eine Geschichte von zeitgenössischer Aktualität mit einem überraschenden Handlungsverlauf
erzählt.
Zugleich kann sich das innovative Potenzial der Novelle aber zum anderen auch auf
formale Aspekte, wie unkonventionelle Techniken des Erzählens und der Sprache, beziehen.
Die Singularität der Novelle besteht in diesem Zusammenhang darin, dass hier ein einziges
zentrales Ereignis im Mittelpunkt steht, von dem aus die gesamte Handlung straff organisiert
ist. Jenes Ereignis beinhaltet oder mündet in einen zentralen Konflikt, durch den das Leben
des Helden plötzlich eine neue Wendung nimmt. Meist hat dies die Störung einer Ordnung
zur Folge, die wieder ins Reine gebracht werden muss, wodurch der Leser zugleich auch zum
Nachdenken über die geltenden Normen und Maßstäbe angeregt wird.
In formaler Hinsicht führt die Fokussierung auf den besagten Konflikt – ähnlich wie
im geschlossenen Drama – zu einer einsträngigen Handlungsführung, die ohne Abdriften in
Nebenhandlungen auf einen pointierten Höhe- und Wendepunkt zuläuft. Außerdem zeichnet
sich die Novelle neben der Reduktion des Figurenarsenals auf wenige Personen durch
Stilmittel, wie die Vorausdeutungstechnik und die häufige Verwendung von Leitmotiven und
Dingsymbolen, aus.
Elses Träume
Eine kühne Neuerung in der Erzähltechnik stellt in „Fräulein Else“ der Versuch dar,
die Träume der Hauptfigur zu versprachlichen und den inneren Monolog in die Welt des
Unbewussten hinübergleiten zu lassen. Während Gustls Schlaf auf der Parkbank durch eine
Ellipse übersprungen und nur durch eine Leerzeile typografisch im Text sichtbar gemacht
wird, begleitet der Leser Else bis in ihre Träume hinein.
Die Erkundungen der menschlichen Psyche werden demnach in der Monolognovelle
dadurch vorangetrieben, dass Schnitzler hier den Raum des Bewusstseins um die Darstellung
von Elses Träumen und ihren bildhaften Assoziationen erweitert. Zudem scheint das Denken
Elses noch weniger rational gesteuert und in seiner Inkohärenz auch noch radikaler erfasst.
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Verwendung oder Einbeziehung wenigstens zweier Kommunikationsmedien,
hier Musik und Literatur.
Literatur. Der hieraus resultierende und florierende Kulturbetrieb zwischen den Jahren 1890
und 1910 wird als „Wiener Moderne“ bezeichnet.