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Mendelssohn contra Kant 269

Mendelssohn contra Kant

Ein frühes Zeugnis der Auseinandersetzung


mit Kants Lehre von Zeit und Raum in der Dissertation von 1770

von Eva J. Engel, Wolfenbüttel

Von den mehr als eintausend Briefen im Zeitraum von 1754 bis 1785 zwischen
Moses Mendelssohn und seinen Zeitgenossen haben sich von 1766 an drei Briefe
von ihm an Kant und vier Briefe von Kant an Mendelssohn erhalten. Zur Vervoll-
ständigung des Gedankenaustauschs der beiden Philosophen gehörten bisher drei
Rezensionen Mendelssohns von Werken Kants zwischen 1764 und 1767 sowie der
Briefwechsel zwischen Kant und seinem Schüler und Mitdenker Marcus Herz
(*1747).
Als Glücksfund eigener Art ist nun ein wohl spätestens im Dezember 1770 ent-
standenes, doppelseitig beschriebenes, bisher in der Forschung unbeachtetes Folio-
blatt in der Handschrift Mendelssohns aus dem Mendelssohn-Nachlass in Berlin an-
zusehen (SBPK, NL 162, D I.4; siehe die Edition im Anhang). Die auf diesen beiden
Manuskriptseiten in den Text eingeflochtenen lateinischen Zitate stammen (bis auf
eine eigene lateinische Formulierung Mendelssohns) aus Kants Inauguraldisserta-
tion De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis aus dem Jahr 1770.
Mit dem (hier erstmals transkribierten) Text versuchte Mendelssohn, die Raum-
Zeit-Theorie Kants zu widerlegen, wie sie in dessen Dissertation (Sectio III §§ 13–15)
enthalten ist. – Leider hat sich nur der Beginn dieses Entwurfes einer kritischen Stel-
lungnahme Mendelssohns zu Kant erhalten.
Marcus Herz war der Respondent, als Kants Dissertation am 21. August 1770 in
Königsberg öffentlich im Auditorium Maximum, in Gegenwart dreier ‚Angreifer‘,
verteidigt wurde, um Kants Ernennung zum ordentlichen Professor der Logik und
Metaphysik zu bestätigen. Noch im August 1770 lag De mundi sensibilis atque
intelligibilis forma et principiis im Druck vor. Herz war seit September 1770 in Ber-
lin und besuchte Mendelssohn sehr bald. In einem ungewöhnlich langen Brief an
Kant vom 11. September 1770 berichtet Herz, wie intensiv und freudig Mendels-
sohn sich „vier ganze Stunden“ lang im gemeinsamen Gespräch mit der Dissertation
befasst hatte.

Kant-Studien 95. Jahrg., S. 269–282


© Walter de Gruyter 2004
ISSN 0022-8877
270 Eva J. Engel

I.

Bereits früher, seit seinen Kant-Rezensionen von 1764 und 1765,1 hatte Mendels-
sohn, bei aller bewundernden Wertschätzung für Kant, auf Vervollständigung
der neuen, vorläufig embryonalen Gedankengänge des Königsberger Philosophen
gedrängt. Ebenso lässt sich nachweisen, dass Kant seitens Mendelssohns, Garves
und Tetens’ eingehende Kritik erwartete und begrüßen würde.2 Der Verlauf der phi-
losophischen Auseinandersetzung und Mendelssohns frühzeitige Anteilnahme an
Kants Ideenrevolution lässt sich am Briefwechsel und den im Druck vorliegenden
Rezensionen nachvollziehen.
Die Etappen des Gedankenaustauschs im einzelnen lassen sich bis zu Mendels-
sohns früher Erkenntnis zurückverfolgen, welche Revolution der Denkart sich in
Königsberg bemerkbar zu machen begann: eine Revolution, die geistige Welt mittels
einer Kritik der reinen Vernunft ein für allemal entscheidend zu verwandeln. Kants
Vorwort zu Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns
Gottes (1762/63) muss Mendelssohns Aufmerksamkeit erregt haben. Mendelssohn
erkannte, dass Kant hier ganz bewusst einen neuen Weg zur Erkenntnis des Wesens
der Dinge suchte, den er als Fahrt ins Ungewisse unternehmen will (AA II, 66). Nur
zu gut hatte Mendelssohn Verständnis für solches Wagnis. Er selber hatte sich auch
im Jahr 1762/63 auf eine Fahrt ins Ungewisse mit seiner Abhandlung Evidenz in
metaphysischen Wissenschaften gewagt. Sowohl er wie Kant hatten sich um densel-
ben Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften beworben. Somit verstand er
das Unterfangen Kants, den Wagemut und die Verlockung, den Unterschied zwi-
schen mathematischen und sinnlichen Denkstrukturen herauszuarbeiten. Daher
verwies er im April/Mai 1764 in LB 280/281 (JubA 5.1, 602–616) gegen Ende seiner
ausführlichen Besprechung der Kantischen Gottesbeweise quasi auf eine Fortset-
zung dieser Seefahrt ins Ungewisse.
Im April 1764 hatte Mendelssohn am Schluss seiner Besprechung den Raum-Zeit-
Begriff Kants in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und angedeutet, diese
aufsehenerregende Entwicklung fortgesetzt zu wünschen:
Den Unterschied, den er hierbey S. 36. u. f. in Absicht der compossibilitatis realitatum in Gott
zwischen der logischen und Realrepugnanz der Realitäten macht, scheint gegründet, und werth
zu seyn, dem philosophischen Leser zu genauerer Prüfung und Anwendung empfohlen zu wer-
den. Vielleicht unterhalte ich Sie einst mit meinen Gedanken über diese Materie, bey Gelegen-
heit einer andern Schrift des Hrn. Kant, in welcher er von den negativen Größen in der Welt-
weißheit [1763] handelt. (LB 280: 3. Mai 1764; JubA 5.1, 608)
Kants zweite Veröffentlichung des Jahres 1763 Versuch den Begriff der negativen
Größen in die Weltweisheit einzuführen ließ Mendelssohn zum zweiten Mal auf
Kants Revolution in Denkstrukturen aufmerksam werden. Mendelssohn beschrieb
den Begriff der negativen Größen als den Versuch,
1 Litteraturbrief 280, 26. April/Mai 1764: JubA 5.1, 602–616; Litteraturbrief 324, 25. April/
9. Mai 1765: JubA 5.1, 662–669.
2 Vgl. BW AA X. 341, 346.
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hiemit nicht allein einen Schritt zur Versöhnung der Metaphysik und Mathematik zu thun, son-
dern auch neue Aussichten zu eröfnen, wie die Begriffe der letztern in jener eben so nutzbar ge-
macht werden könnten, als sie es bereits in der Naturlehre geworden sind (Litteraturbrief 324,
25. April 1765: JubA 5.1, 662).

Er bat Kant, „seine Ideen in dieser Absicht [zu] prüfen, und die Aussichten, die sie
ihm zeigten, der Welt darlegen“ zu wollen (ebd., S. 665). – Mit der Schlussbemer-
kung seiner Rezension bewies Mendelssohn dann – wie zum Beispiel bei Boscovich
im Jahr 1759 (LB3 42, 45, 54–56) – ein ihm eigentümliches Fingerspitzengefühl für
schicksalhaft-neue Ideen. Er erwähnt Kants „höchst merkwürdige Frage“. Derje-
nige, der sie zu beantworten wisse, würde „der Schöpfer einer neuen und vollstän-
digern Metaphysik“ (JubA 5.1, 668) werden.
Schon 1763 habe Kant daher in diesem Aufsatz versprochen, „das, was er darü-
ber gedacht“ habe, der Welt vorzulegen. Statt dessen gebe er nur eine „vorläufige
Nachricht“, die „jeden philosophischen Kopf in Verwundrung setzt, daß es gar
nicht durch ein Urtheil, sondern blos durch einen Begrif ausgedruckt werden
könne“ (JubA 5.1, 669).
Kant muss dies als willkommenen Ansporn betrachtet haben. Leider fehlt hierzu
jegliche briefliche Spur vor Kants sichtlich nicht erstem Brief an Mendelssohn vom
Februar 1766 (AA X. 67 f.; JubA 12.1, 102 f.). In diesem Jahr 1766 veröffentlichte
Kant die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Dass
hier der Raum-Zeit-Begriff eine grundlegende Rolle spielt, liegt in der Natur der
Swedenborgschen Behauptungen – aber auch in Kants Bestreben, die Erklärung
Wolffs (Ontologia §§ 588–593): „spatium […] resultat ex possibilitate coexistendi“
(§ 591) zu widerlegen.
In seiner sehr kurzen Besprechung (Allg. deutsche Bibliothek 1767, 4.2, 281) ver-
wies Mendelssohn auf „den Saamen zu wichtigen Betrachtungen […] so wie einige
Einwürfe wider die bekannten Systeme [i.e. Wolffs Raumauffassung], die eine ernst-
haftere Ausführung verdienen“ (JubA 5.2, 73). Diese „Saamen“ Kants finden sich
dann successive in der Veröffentlichung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes
der Gegenden im Raume4 von 1768 (die Schrift, die Kants Dissertation von 1770
voranging) und schließlich 1781 in der Kritik der reinen Vernunft.
Gerade Kants Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im
Raume (AA II. 377–383) ist für die Raumtheorie in Kants Dissertation von 1770 be-
sonders wichtig, und auch im Blick auf die Manuskriptseiten Mendelssohns wäre sie
von besonderem Interesse. Leider lässt sich vor 1770 kein Hinweis bei Mendelssohn
finden, ob er Kants Schrift von 1768 kannte. 1770 jedoch setzt er sich mit der un-
terschiedlichen Definition des Raumes bei Leibniz und bei Kant auseinander.

3 LB = Briefe, die neueste Litteratur betreffend, Berlin: Nicolai, 1759–1765. Von den ins-
gesamt 335 anonymen „Briefen“ sind über ein Drittel Mendelssohn zuzuschreiben. Seine
Chiffren waren: D, K, M, P, Z und einmal (LB 233–236) die sonst von Lessing 26 (von 58)
mal gebrauchte Chiffre: FII (flagello).
4 Diese wichtige kleine Schrift erschien nur in einer Königsberger Zeitschrift. Mendelssohn
scheint sie nicht zugänglich gewesen zu sein.
272 Eva J. Engel

Zu Beginn der Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im
Raume bezog sich Kant nicht auf Wolff, sondern auf Leibniz:
Der berühmte Leibniz besaß viel wirkliche Einsichten, wodurch er die Wissenschaften berei-
cherte, aber noch viel größere Entwürfe zu solchen, deren Ausführung die Welt von ihm verge-
bens erwartet hat. […] Ich weiß nicht genau, in wie fern der Gegenstand, den ich mir hier zur
Betrachtung vorsetze, demjenigen verwandt sei, den der gedachte große Mann im Sinne hatte;
allein nach der Wortbedeutung zu urtheilen, suche ich hier philosophisch den ersten Grund der
Möglichkeit desjenigen, wovon er die Größen mathematisch [Hervorhebungen EE] zu bestim-
men vorhabens war. (AA II. 377)

Es ging Kant um die bis dahin vergebliche Bemühung der Philosophen, in der
Metaphysik einen belegbaren (‚evidenten‘) Beweis zu finden, „daß der absolute
Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der
Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe“.5 (AA II. 378) Erst
in den letzten drei Absätzen der Schrift von 1768 wandte Kant sich der Bedeutung
des Raumes für die Metaphysik zu, nämlich dass die Bestimmung der Lagen der
Teile der Materie den Bestimmungen des Raumes folgen,
daß also in der Beschaffenheit der Körper Unterschiede angetroffen werden können und zwar
wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen,
weil nur durch ihn das Verhältniß körperlicher Dinge möglich ist, […].
Ein nachsinnender Leser wird daher den Begriff des Raumes, so wie ihn der Meßkünstler
denkt und auch scharfsinnige Philosophen ihn in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft auf-
genommen haben, nicht für ein bloßes Gedankending ansehen, obgleich es nicht an Schwierig-
keiten fehlt, die diesen Begriff umgeben, wenn man seine Realität, welche dem innern Sinn an-
schauend gnug ist, durch Vernunftideen [Hervorhebung EE] fassen will. (AA II. 383)

Aus den beiden im Anhang vorgelegten, bisher unveröffentlichten Folioseiten


geht hervor, dass Mendelssohn 1770 nicht einer Meinung mit Kant war und sich an
diejenige von Leibniz hielt. Dabei stützte er sich auf das 5. Schreiben von Leibniz an
Samuel Clarke vom August 1716. Diesen brieflichen Gedankenaustausch hatte
Clarke 1720 auf englisch veröffentlicht.6
Die drei Hauptthemen des Briefwechsels bezogen sich auf die natürliche Religion,
den Raum als sensorium Gottes und die Definitionen von ‚Raum‘ und ‚Zeit‘. Mit
diesen letzteren Begriffen befasste sich Leibniz im 5. Schreiben.7 Die wichtigsten
Feststellungen innerhalb dieses Teils finden sich in folgenden Absätzen:

5 Kant verweist hier (AA II. 378) auf Leonard Eulers Réflexions sur l’espace et le temps von
1748 (Histoire de l’Académie, 1750).
6 Die von Leibniz auf französisch geschriebenen Briefe an Clarke veröffentlichte Clarke als: A
Collection of Papers, which passed between the late Learned Mr. Leibnitz, and Dr. Clarke,
in the Years 1715 and 1716. Relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion.
With an Appendix. […] London: Printed for James Knapton. 1717. – Christian Wolff rezen-
sierte diese englische Ausgabe in den Acta Eruditorum, 1717, S. 440 ff. Am 16. September
1720 signierte er das Vorwort zu Heinrich Köhlers Übersetzung des Briefwechsels ins Deut-
sche.
7 Das französische Original ist abgedruckt in C. J. Gerhardt (Hg.): Die philosophischen
Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz (ND Olms 1965), Bd. VII, S. 389– 426.
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Nr. 27 (zu §§ 5/6): „Die Teile der Zeit und des Ortes sind, für sich selbst genom-
men, Dinge, die nur in der gedanklichen Vorstellung [choses idéales] vorhanden
sind“;
Nr. 33 (zu § 7): „Da der Raum an sich wie die Zeit nur eine in der Vorstellung vor-
handene Sache ist […]“; vgl. Nr. 49 (zu § 10) zu dem Begriff ‚Teil‘ in Bezug auf
‚Zeit‘, so dass auch ‚Zeit‘ von Leibniz als gedankliche Vorstellung (chose idéale) be-
trachtet wird.
Nr. 47 (zu §§ 8/9) und Nr. 105 (zu § 41) bestätigen, dass ‚Raum‘ sich auf koexis-
tierende und ‚Zeit‘ sich auf aufeinanderfolgende Dinge bezieht.8

II.

Aus dem erhaltenen Korrespondenzmaterial geht hervor, dass die Initiative zum
brieflichen Austausch zwischen den beiden Gelehrten von dem sonst so zurückhal-
tenden Mendelssohn ausgegangen war. Mindestens ein nicht erhaltener Brief Men-
delssohns existierte bereits vor Kants Brief an Mendelssohn vom 7. Februar 1766.
Denn damals erwiderte Kant:
Es giebt keine Umschweife von der Art wie sie die Mode verlangt zwischen zwey Persohnen
deren Denkungsart durch die Ähnlichkeit der Verstandesbeschäftigungen und die Gleichheit
der Grundsätze einstimmig ist. Ich bin durch Dero gütige Zuschrift erfreuet worden und nehme
Ihren Antrag wegen künftiger Fortsetzung der Correspondenz mit Vergnügen an. (AA X. 67 f.;
JubA 12.1, 102 f.)

Die Bedeutung eines gegenseitigen Gedankenaustausches bezeugt Kants ausführ-


licher Brief vom 8. April 1766, in dem er geradezu um Mendelssohns Mitwirken
bittet (AA X. 69–73; JubA 12.1, 104–108). Damals ging es einerseits um die von
Kant abgekanzelte Geisterseherei Swedenborgs,9 andererseits um die Immateriali-
tät der Seele, auf welche die hier edierte Handschrift gleich zu Beginn (1r, Zeile 5)
anspielt.
Von ganz besonderer Wichtigkeit war folgende Feststellung, die für Kant und für
Mendelssohn der eigentliche Ansatzpunkt, sowohl der Inauguraldissertation (wie
schließlich der 1781 veröffentlichten Kritik der reinen Vernunft) war:

8 Vgl. den französischen Text ebd. S. 395, 396, 400, 402f. und 415.
9 Kants Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik erschien 1766
bei Johann Jacob Kanter in Königsberg. Mendelssohns Kurzbesprechung erschien in der All-
gemeinen Deutschen Bibliothek, 1767, 4.2, 281 unter der Chiffre ‚G‘: „Der scherzende Tief-
sinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen in Zweifel, ob
Herr Kant die Metaphysik hat lächerlich, oder die Geisterseherey glaubhaft machen wollen.
Indessen enthält es den Saamen zu wichtigen Betrachtungen, einige neue Gedanken über die
Natur der Seele, so wie einige Einwürfe wider die bekannten Systeme, die eine ernsthaftere
Ausführung verdienen.“ (JubA 5.2, 73)
274 Eva J. Engel

Meiner Meinung nach kommt alles darauf an die data zu dem Problem aufzusuchen wie ist die
Seele in der Welt gegenwärtig sowohl den materiellen Naturen als denen anderen von ihrer Art.
Man soll also die Kraft der äußeren Wirksamkeit und die receptivitaet von aussen zu leiden bey
einer solchen Substanz finden wovon die Vereinigung mit dem menschl. Körper nur eine beson-
dere Art ist. Weil uns nun keine Erfahrung hiebey zu statten kommt dadurch wir ein solches
Subieckt in denen verschiedenen relationen könnten kennen lernen […] so frägt man ob es an
sich möglich sey durch Vernunfturtheile a priori diese Kräfte geistiger Substanzen auszuma-
chen. (Kant, 8. April 1766: AA X. 71 f.; JubA 12.1, 106 f.)
D.h. bereits im Frühjahr 1766 war die Grundlage für das Gespräch geschaffen,
das in der von Marcus Herz am 21. August 1770 verteidigten Inauguraldissertation
des neuen Ordinarius Kant eine Rolle spielte.
Mit Recht vermutete Mendelssohn in seinem Brief an Kant vom 25. Dezember
1770 (AA X. 113–116; JubA 12.1 241–244) in den §§ 13–15 der Dissertation einen
neuen Ansatz in Bezug auf Zeit und Raum. Der Respondent Kants war wie gesagt
Marcus Herz, und von ihm stammt der erste Bericht des Eindrucks, den die Inaugu-
raldissertation auf Mendelssohn ausübte. Somit spielt Marcus Herz in diesem brief-
lichen Gedankenaustausch eine wesentliche Rolle. Er war von 1766 bis 1770 Kants
Schüler gewesen und kam im September 1770, also kurz nach der Drucklegung der
Inauguraldissertation, nach Berlin. Am 11. September 1770 berichtete Herz dem
„Ewig unvergeßlichen Lehrer“:
Mein erster Besuch den ich abstatete war bey HE. Mendelssohn, wir unterhielten uns vier ganze
Stunden über einige Materien in Ihre[r] dissertation. […] Die Dissertation gefält ihm über die
maßen schön, und er bedauert nur daß Sie nicht etwas weitläuftiger waren. Er bewundert die
Scharfsinigkeit die in diesem Satze ist, daß, wenn in einem Satze das Praedickat sensual ist, es
von dem Subieckt nur subiecktiv gilt, hingegen wenn es intellectual ist. u.s.w. […] kurz er hält
die ganze Dissert. für ein vortrefliches Werk, nur daß er einige Stücke darin noch nicht völlig zu
giebt, dahin gehört, daß man bey der Erklärung des Raums sich des Worts simul bedienen muß
noch bey der Zeit, des Wortes post, Auch im Satz des Widerspruchs darf seiner Meynung nach
nicht simul gesetzt werden, ich werde ins künftige Gelegenheit haben, mehr mit ihm davon zu
sprechen, u. ich werde nie unterlaßen meinem theuren Lehrer Rechenschafft davon abzulegen.
Es ist dieses Mannes liebste Unterhaltung, Metaphis[ische] Materien zu entwickeln, u. die
Helfte der Zeit welche ich hier bin, habe ich bey ihm zugebracht, Er wird auch an Sie, selbst
schreiben, aber er wird sich nur kurz faßen, er glaubt subtiliteten laßen sich durch correspon-
dence nicht schlichten. Ich bin eben beschäftigt ihm einen kleinen Aufsatz zu machen, worin ich
ihm die Falschheit des Beweises vom Daseyn Gottes apriori zeigen will, Er ist für diesen Beweis
sehr eingenommen, was wunder, er wird ja von Baumgarten angenommen. (AA X. 100 f.)10
Mendelssohn fühlte sich so sehr angetan von den Gedankengängen der Inaugu-
raldissertation, dass er sich getraute, Kant einige „Nebenbetrachtungen“ zu dessen
„Hauptideen“ beizufügen (AA X. 114; JubA 12.1, 242): hauptsächlich zum Thema
des Unendlichen, dem „Wörtlein post“ und dem von Mendelssohn nicht wider-
spruchslos anerkannten ‚bloss Subjektiven‘ der Zeit. So heißt es am 25. Dezember
1770:
10 Herz zählt dann die Schriften Mendelssohns auf, die „in kurzem“ erscheinen, darunter den
Anhang zu den Philosophischen Schriften, „in welchen er von der Materie handeln wird, die
der HE. Profeßor einst bearbeitet, nehmlich von dem Widerstreit der Realiteten unter ein
ander […]“ (AA X. 101).
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Ihre Dissertation habe ich mit der größten Begierde in die Hände genommen, und mit recht vie-
lem Vergnügen durchgelesen, ob ich gleich seit Jahr und Tag, wegen meines sehr geschwächten
Nervensystems, kaum im Stande bin, etwas spekulatives von diesem Werthe, mit gehöriger An-
strengung durch zu denken. Man siehet, diese kleine Schrift ist die Frucht von sehr langen Me-
ditationen, und muß als ein Theil eines ganzen Lehrgebäudes angesehen werden, das dem Verf.
eigen ist, und wovon er vor der Hand nur einige Proben hat zeigen wollen. Die anscheinende
Dunkelheit selbst, die an einigen Stellen zurük geblieben ist, verräth einem geübten Leser, die
Beziehung auf ein Ganzes, das ihm noch nicht vorgelegt worden ist. Indessen wäre, zum Besten
der Metaphysik, die leider! itzt so sehr gefallen ist, zu wünschen, daß Sie den Vorrath Ihrer Me-
ditationen uns nicht zu lange vorenthielten. […] Wie Sie (Seite 17) in dieser Art, sich die Zeit
vorzustellen, einen fehlerhaften Zirkel finden, begreiffe ich nicht. Die Zeit ist (nach Leibnitzen)
ein Phaenomenon, und hat, wie alle Erscheinungen, etwas Objektives und etwas Subjektives.
Das Subjektive davon ist die Continuität, die man sich dabey vorstellet […].11 (AA X. 113 ff.;
JubA 12.1, 241 ff.)

III.

Der weitere Gedankenaustausch zwischen Kant und Mendelssohn nach ihrer


Auseinandersetzung um die Dissertation von 1770 stellt sich so dar: Im August
1777 lernen sich Mendelssohn und Kant persönlich kennen. Die gegenseitige Hoch-
achtung bleibt unvermindert, doch noch immer setzen Mendelssohn die Folgen des
Nervenzusammenbruchs von 1769/70 zu: Ausführliche Denkarbeit steht außer
Frage, und Kant weiß dies.
Mittlerweile grübelte Kant unermüdlich weiter und scheint in die Ausarbeitung
von dem, was er nun (1771) als „Die Grentzen der Sinnlichkeit und der Vernunft“
(AA X. 123) betitelt, vergraben zu sein.12 Es dauert fast zehn Jahre, ehe er, am 1. Mai
1781, dem „hochgeschätzten Freund“ Herz berichtet: „Diese Ostermesse wird
ein Buch von mir, unter dem Titel: Critik der reinen Vernunft, herauskommen.“
(AA X. 266).
Zu dieser Kritik der reinen Vernunft war Kant nun auf Tetens’, Garves und be-
sonders auf Mendelssohns Beurteilung erpicht, ohne dass es, wie spätere Briefe
Kants belegen, zu dieser Mithilfe, diesem Weiterdenken kommt.13 – Erst vom
10. April 1783 liegt eine direkte Aussage Mendelssohns vor:

11 Vgl. Transkription 1r, Zeile 15 ff.


12 Zu besonders aufschlussreichen Briefen über die Entstehung der Kritik der reinen Vernunft
siehe Kant an Herz vom 7. Juni 1771 (AA X. 121 ff.), vom 24. November 1776 (ebd. 198f.)
und vom 20. August 1777, nach der Zusammenkunft mit Mendelssohn in Königsberg (ebd.
211 ff., insbesondere 213). Am 28. August 1778 glaubt Kant die „Deutlichkeit des Planes“
Herz übermitteln zu können (ebd. 241), und am 24. November 1778 antwortet Herz: „Es
wird nunmehr lediglich von Ihnen abhängen, ob ich mich in der Metaphisick werde erhal-
ten könen“ (ebd. 244). Kants Brief vom 4. Februar 1779 bestätigt die Absendung des Ma-
nuskripts (ebd. 248).
13 An Herz (20. August 1777) unmittelbar nach der Abreise Mendelssohns aus Königsberg
(AA X. 211); Anfang April 1778 (ebd. 232), am 28. August 1778 (ebd. 241). Vom Novem-
ber 1778 an drängt Herz auf Übersendung der bisher abgeschlossenen Arbeit (ebd. 244,
247 f. [Januar 1779]).
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Ihre Kritik der reinen Vernunft ist für mich auch ein Kriterium der Gesundheit. So oft ich mich
schmeichele, an Kräften zugenommen zu haben, wage ich mich an dieses Nervensaftverzeh-
rende Werk, und ich bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken
zu können. (AA X. 308; JubA 13, 100)

Nach 1770 litt Mendelssohn ziemlich ununterbrochen körperlich und geistig, so


dass er die ihm 1781 übersandte Kritik der reinen Vernunft zu Kants innigem Be-
dauern „zur Seite gelegt“ (AA X. 270) hat. Als das Buch noch bei Grunert in Halle
im Druck war, lässt Kant am 1. Mai 1781 Marcus Herz wissen, wie sehr er Herz des
Mitdenkens wegen dankt. Hier fallen Begriffe, die zum Aufhorchen veranlassen:

Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen
anfingen, welche wir zusammen, unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligib:, ab-
disputirten und es ist mir eine wichtige Angelegenheit, demselben einsehenden Manne, der es
würdig fand meine Ideen zu bearbeiten und so scharfsinnig war, darinn am tiefsten hineinzu-
dringen, diese ganze Summe meiner Bemühungen zur Beurtheilung zu übergeben. (AA X. 266)

In Berlin sollen sofort nach der Drucklegung vier Exemplare verteilt werden, ein
Dedikationsexemplar an den Minister Carl Abraham v. Zedlitz, die anderen an
Herz, an Mendelssohn, an Christian Gottlieb Selle. Bereits am 11. Mai scheint dies
geschehen zu sein, und nun bekennt Kant gegenüber Herz:

Von einem Manne aber der unter allen die mir das Glück als Zuhörer zugeführt hat am ge-
schwindesten und genauesten meine Gedanken und Ideen begriff und einsah kan ich allein hof-
fen daß er in kurzer Zeit zu demienigen Begriffe meines Systems gelangen werde der allein ein
entscheidendes Urtheil über dessen Werth möglich macht. (AA X. 269)

Kant erhofft sich

eine gänzliche Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen Theile
menschlicher Erkenntnisse […] Meines Theils habe ich nirgend Blendwerke zu machen gesucht
und Scheingründe aufgetrieben um mein System dadurch zu flicken sondern lieber Jahre ver-
streichen lassen um zu einer vollendeten Einsicht zu gelangen […] Schweer wird diese Art
Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik […].
Daß Herr Mendelssohn mein Buch zur Seite gelegt habe ist mir sehr unangenehm aber ich
hoffe daß es nicht auf immer geschehen seyn werde. Er ist unter allen die die Welt in diesem
Punkte aufklären könten der wichtigste Mann, und auf Ihn, HEn Tetens und Sie mein Werthe-
ster habe ich unter allen am meisten gerechnet. Ich bitte nebst meiner großen Empfelung Ihm
doch eine diätetische Beobachtung mitzutheilen die ich an mir selbst gemacht habe und von der
ich glaube daß sie bei der Ähnlichkeit der Studien und zum Theil daraus entsprungenen
schwächlichen Gesundheit vielleicht dazu dienen könte der gelehrten Welt einen so vortref-
lichen Mann wieder zu geben (AA X. 269 f.).

Mendelssohn scheint diesem Rat, „Abends [nicht] zu studiren ja sogar leichte Bü-
cher [nicht] anhaltend zu lesen“ (ebd. 270), meist Folge geleistet zu haben. Doch
selbst als er am 10. April 1783 Kant ein Exemplar seines Jerusalem, oder über reli-
giöse Macht und Judenthum schickt, heißt es: „Seit vielen Jahren bin ich der Meta-
physik wie abgestorben“ – gleichzeitig aber ist er „nicht ganz ohne Hoffnung“, die
Kritik der reinen Vernunft „in diesem Leben noch ganz durchdenken zu können“
(AA X. 308; JubA 13, 100).
Mendelssohn contra Kant 277

In dem besonders ausführlichen, ermunternden Brief vom 16. August 1783 packt
Kant gleich zu:
Daß Sie sich der Metaphysik gleichsam vor abgestorben ansehen, da ihr beynahe die ganze klü-
gere Welt abgestorben zu seyn scheint, befremdet mich nicht, ohne einmal jene Nervenschwä-
che (davon man doch im Jerusalem nicht die mindeste Spuhr antrifft) hiebey in Betracht zu zie-
hen. Daß aber an deren Stelle Critik, die nur damit umgeht, den Boden zu jenem Gebäude zu
untersuchen, Ihre scharfsinnige Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen kann, oder sie alsbald
wieder von sich stößt, dauert mich sehr, befremdet mich aber auch nicht; […] denn man kan
auch nicht immer, wenn man sich in ein System hineingedacht und mit den Begriffen desselben
vertraut gemacht hat, vor sich selbst errathen, was dem Leser dunkel, was ihm nicht bestimmt,
oder hinreichend bewiesen vorkommen möchte. Es sind wenige so glücklich, vor sich und zu-
gleich in der Stelle anderer zu dencken und die ihnen allen angemessene Manier im Vortrage
treffen zu können. Es ist nur ein Mendelssohn.
Wie wäre es aber, mein werthester Herr, wenn Sie […] Ihr Ansehen und Ihren Einfluß dazu
zu verwenden beliebeten, eine nach einem gewissen Plane verabzuredende Prüfung jener Sätze
zu vermitteln und dazu auf eine Art wie sie Ihnen gut dünckt aufzumuntern. […] Zu diesen Un-
tersuchungen würde ich gerne an meinem Theile alles mir mögliche beytragen weil ich gewiß
weiß, daß wenn die Prüfung nur in gute Hände fällt, etwas ausgemachtes daraus entspringen
werde. Allein meine Hofnung zu derselben ist nur klein. Mendelssohn, Garve u. Tetens schei-
nen dieser Art von Geschäfte entsagt zu haben und wo ist noch sonst jemand, der Talent u.
guten Willen hat, sich damit zu befassen? Ich muß mich also damit begnügen, daß dergleichen
Arbeit, wie Swift sagt, eine Pflanze sey die nur aufblüht wenn der Stock in die Erde kommt.
(AA X. 344 ff.; JubA 13, 126 ff.)

Leider fehlen nun weitere Briefe, so dass nur noch zwei Aussagen von Mendels-
sohn sich erhalten haben: vom 3. August 1784 (an Herder): „Wenn ich Herdern,
Kanten und Garven nicht mißfalle, so ist meine Eigenliebe befriedigt“ (JubA 13.
218 f.) und 1785, im Vorbericht zu den Morgenstunden:
Seit zwölf bis funfzehn Jahren befinde ich mich nehmlich in dem äußersten Unvermögen, meine
Kenntnisse zu erweitren. Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet
mir jede Anstrengung des Geistes, […] sie erschweret mir das Lesen fremder Gedanken fast noch
mehr, als eigenes Nachdenken. Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unter-
dessen in der Metaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Plattners und selbst des
alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten
Anzeigen […]. Für mich stehet also diese Wissenschaft noch itzt auf dem Punkte, auf welchem
sie etwa um das fünf und siebenzigste Jahr dieses Jahrhundert gestanden hat (JubA 3.2, 3).

Das hindert nicht, dass er sich um so mehr bewusst ist, dem Verfall der zeitgenös-
sischen Philosophie Einhalt gebieten zu müssen und „dem Rade einen Schwung zu
geben“:
Allein ich bin mir meiner Schwäche allzusehr bewußt, auch nur die Absicht zu haben, eine sol-
che allgemeine Umwälzung zu bewirken. Das Geschäft sey beßren Kräften aufbehalten, dem
Tiefsinn eines Kants, der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er
niedergerissen hat. Ich begnüge mich mit der eingeschränktern Absicht, meinen Freunden und
Nachkommen Rechenschaft zu hinterlassen, von dem, was ich in der Sache für wahr gehalten
habe. (JubA 3.2, 5)

Doch die gleichen Morgenstunden veranlassen am 16. Oktober 1785 Mendels-


sohns ehrenhaftes Fazit:
278 Eva J. Engel

Ich bin so frey gewesen Ihnen durch den Buchhändler Voß u Sohn ein Exemplar von meinen
Morgenstunden […] zuzuschicken.
Ob ich gleich die Kräfte nicht mehr habe, Ihre tiefsinnige Schriften mit der erforderlichen
Anstrengung zu studiren; so weiß ich doch, daß wir in Grundsätzen nicht übereinkommen. Al-
lein ich weiß auch, daß Sie Wiederspruch vertragen; ja daß Sie ihn lieber haben als Nachbeten.
So wie ich Sie kenne, ist die Absicht Ihrer Critik blos das Nachbeten aus der Schule der Philo-
sophie zu verbannen. Sie lassen übrigens einem jeden das Recht andrer Meinung zu seyn, u die
seinige öffentlich zu sagen. (JubA 13, 312)

IV.

Mehrere Tatsachen belegen Mendelssohns Auseinandersetzung bis Ende Dezem-


ber 1770 mit der Kantischen Raum-Zeit-Lehre innerhalb der Inauguraldissertation
vom August 1770, die sich mit der Form und den Prinzipien der Sinnen- und Ver-
standeswelt auseinandersetzt:
1. Mendelssohns ausführliches (oben zitiertes) Schreiben vom 25. Dezember
1770 an Kant, in welchem er sagt, dass er dessen Dissertation „mit recht vielem Ver-
gnügen durchgelesen“ habe.
2. Die Tatsache, dass sein doppelseitig beschriebenes Folioblatt mit der Notiz
„p. 13–17“ einsetzt. Diese Seitenzahlen der Originalausgabe von Kants Inaugural-
dissertation beziehen sich auf
§ 11: „sofern man aber die Urteile über das sinnlich Erkannte betrachtet, so be-
steht die Wahrheit im Urteilen in der Übereinstimmung des Prädikats mit dem gege-
benen Subjekt […].“
§ 12: „Alles, was sich als Gegenstand zu unseren Sinnen verhält, ist ein Phaeno-
menon, was aber nur eine einzelne Form der Sinnlichkeit enthält, […] gehört zur rei-
nen […] Anschauung. […] Die reine (menschliche) Anschauung aber ist kein allge-
meiner oder logischer Begriff, unter dem, sondern ein einzelner, in dem man alles
beliebige Sensible denkt, und enthält deshalb die Begriffe des Raumes und der
Zeit […]. Daher betrachtet die reine Mathematik den Raum in der Geometrie, die
Zeit in der reinen Mechanik.“
§ 14 befasst sich mit der Zeit und geht aus von der Annahme: „Die Vorstellung
der Zeit entspringt nicht aus den Sinnen, sondern wird von ihnen vorausgesetzt. […]
Deshalb erklärt man den Begriff der Zeit, gleich als wäre er durch Erfahrung erwor-
ben, sehr schlecht durch die Reihe des nacheinander daseienden Wirklichen. Denn
was das Wörtchen ‚nach‘ bedeutet, verstehe ich nur, wenn der Begriff der Zeit schon
vorhergeht. Denn nacheinander ist, was in verschiedenen Zeiten da ist, so wie zu-
gleich [simul] ist, was zu derselben Zeit da ist.“ Daher kommt es bei Kant zu der
Feststellung: „Die Vorstellung [idea] der Zeit ist demnach Anschauung, […] nicht
Sinnes-, sondern reine Anschauung.“
Die von Mendelssohn bekämpfte Position Kants – auf S. 18 der Originalausgabe –
zitiert er wörtlich auf lateinisch (1 v, Zeilen 10–17): „Daher ist die Möglichkeit von
Mendelssohn contra Kant 279

Veränderungen nur in der Zeit denkbar, aber nicht die Zeit denkbar durch Verän-
derungen, sondern umgekehrt.“14
Da Mendelssohn Leibniz’ Opera omnia (6 Bde.) in der Ausgabe von Ludwig Du-
tens von 1768 (Verzeichniß: 4o 38– 43), die von Raspe herausgegebenen Oeuvres
philosophiques (mit dem Vorwort A. Kästners) von 1765 (Verzeichnis: 4o 307) und
die Epistolae ad diversos (Verzeichniß: 8o 397) von 1734 bis 1742 besaß, wird er an
den Briefwechsel mit Clarke, insbesondere das 3. Schreiben (Abschnitt 5) von Leib-
niz an Samuel Clarke, gedacht haben.

Mendelssohn hatte nachweislich die Angewohnheit, sich während der Lektüre


anregenden Materials Notizen zu machen, in der Absicht, darüber einen Aufsatz zu
verfassen, in welchem er sich mit dem Inhalt auseinandersetzt. In einem solchen
Kontext mögen auch die beiden hier veröffentlichten Folioseiten stehen, auf denen
er dem Text der Dissertation Kants unter Angabe der entsprechenden originalen Sei-
tenzahlen (13–17, 18, 20–22) folgt, die Kants Ausführungen über Raum und Zeit
enthalten. Vielleicht handelt es sich aber auch um den Anfang einer unmittelbaren
Vorarbeit für das Schreiben an Kant, das Mendelssohn am 25. Dezember 1770 ab-
schickte. Dies spräche dafür anzunehmen, dass Mendelssohns Manuskript ur-
sprünglich mehr als die erhaltene Seite umfasste, da der genannte Brief inhaltlich
mehr Kritikpunkte an Kants Dissertation enthält als das Manuskript. Allerdings ist
heute nicht mehr mit Sicherheit zu entscheiden, ob Mendelssohn in diesem Manu-
skript seine Bemerkungen zu Kants Dissertation von 1770 weiter geführt hat und –
wenn dies der Fall war – ob der Textverlust dadurch eingetreten ist, dass – wie leider
so häufig – sein Sohn Joseph vorhandene Manuskripte nach Mendelssohns Tod in
einzelnen Blättern als Souvenirs verschenkte.
Bereits in seiner frühesten Schrift hatte Mendelssohn für die „Doppelbödigkeit“
der Thematik – mathematisches und sinnliches Denken – Interesse bewiesen. So
heißt es 1755 in dem 4. der Philosophischen Gespräche, anlässlich des Principium
identitatis indiscernibilium (JubA 1, 35 f.):
Ich habe Ihnen schon gesagt, daß zwey ähnliche Dinge, die auch nicht einmal durch den Raum,
oder durch die Zeit erkannt und von einander unterschieden werden können, Jahrhunderte vor
Leibnitzen eben so viel galten, als zwey Dinge, die nicht zwey sind. […]
Wenn Leibnitz die innere Möglichkeit zweyer ähnlichen Dinge zugesteht; so verstehet er es
nur so, daß Gott sich eben dasselbe Ding in verschiedener Verbindung der Zeit, oder des Rau-
mes vorstellen […] könne, wenn er es vermöge seiner unendlichen Weisheit für gut befände.

1759 schrieb Mendelssohn zu Beginn seiner intensiven Auseinandersetzung


(LB 42, 45, 54–56: JubA 5.1, 57–88) mit Roger Boscovichs Versuch, in seiner Phi-
losophiae naturalis Theoria als Mathematiker ein neues System der Philosophie vor-
zustellen: „Wir finden vor der Hand zwischen der Metaphysik und natürlichen Phi-

14 Die deutsche Übersetzung der Zitate aus Kants Dissertation stammt von N. Hinske, siehe
Immanuel Kant: Werke. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. III. Wiesbaden 1958, S. 43–55; vgl.
die entsprechenden lateinischen Formulierungen Kants MSI AA II. 397– 401.
280 Eva J. Engel

losophie noch eine entsetzliche Kluft, und sehen kaum die Möglichkeit ein, aus einer
Wissenschaft in die andere auf ebenem Wege reisen zu können.“ (JubA 5.1, 57f.) –
Diese Möglichkeit aber war es, die sich Mendelssohn von Kant erhoffte.

[ ] = Ergänzung der Hrsg. < > = in der Handschrift gestrichen


kursiv = lateinische Handschrift [?] = unsichere Lesung

[1r]
1. p. 13.–17.
Die Schwierigkeiten, die H. K. gegen die gewöhnl.
Erklärung der Zeit macht, scheinen mir daher
zu kommen, daß er nicht bemerkt, wie die
5 Sele durch die Empfindung ihrer innern auf ein-
ander folgenden Veränderungen schon eine anschauen-
de E.Vorstellung15 von der Zeit hat, sie mag nun
so wenig klar seyn, als sie will. Denn diese
von den äußern Dingen unabhängige Vorstellung
10 der Zeit ist der Intuitus purus, welchen
niemand läugnet. Aber es scheint zu rasch
geschloßen, wenn man die deutliche Vorstellung
des Verstandes, der über seine eignen Wirkungen
nachdenkt, u. sich daraus eine Erklärung der
15 Zeit abzieht, läugnen wollte. Daher glaube
ich auch zeigen zu können, daß bey Leibnitzens Defini-
tion der Zeit kein fehlerhafter Cirkel sey (S. 17.)
Dieser Cirkel soll wenn ich recht rathe, da-
durch entstehen, daß Series successivorum, den
20 Begriff des post voraussetzt, weil successiva
post se invicem ordinata sind, u. dieses post
schon den Begriff der Zeit voraussetzt. Ja
aber den Intuitiven. <wir> Nemlich wir haben
lange schon diesen intuitiven Begriff der Zeit
25 gehabt, ehe wir daran gedacht ihn deutlich zu machen,
u. also das ante u. post deutl. darin wahrzunehmen.
Denn sonst müßte ich auch sagen: <simultanea
wo> Der Begriff des Raums setzte nicht simultanea
voraus, weil simultanea, juxta se posita sind,
30 u. der Begriff von juxta <sich> den Begriff des
Raums voraussetzt.

15 Einzelvorstellung = Mendelssohns Übersetzung von ‚idea singularis‘.


Mendelssohn contra Kant 281

Die Folgerung, daß die Def. des Leibnitz die Ge-


setze der Mechanik u. der Chronologie unge-
wiß machen würde, weil die Zeit zufolge
35 derselben nicht nach der Bewegung selbst,
sondern nach der Vorstellung derselben
müßte gemeßen werden, will mir nicht
einleuchten. Ich weis nicht, ob ich H. K. recht ver-
standen habe. Denn wenn er das wirklich
40 sagt, so macht er hier eine Schwierigkeit,
die seine eigne Erklg. trift. Mir scheint
aber die Leibnitzische Definition dadurch noch
bestätigt zu werden; daß <nach einem> in ver-
schiedenen Gemüthszuständen uns dieselbe Dauer
45 <ungleich> bald größer, bald kleiner scheint.
Daß aber dieses keine Ungewisheit in die Wissen-
schaft der Gesetze der Zeit u. der Bewegung
[1 v]
bringe, dafür ist durch beständige Maßstäbe
der Zeit gesorgt, <außer daß> wenn es neml.
auf wirkl. Ausmeßung ankömt; In den allge-
meinen Regeln, kömt die Zeit als ein unbestimter
Theiler oder Coefficient mit in die Rechnung.
Daß er aber die Simultanea mit in den
Begriff der Zeit bringen will, geschieht durch
eine nicht zuläßige Erdichtung.
Den Satz S. 18.: <drücke ich so>
10 Inde possibilitas mutationum non nisi in
tempore cogitabilis, <neque tempus cogitabile per
mutationes, sed vice versa.> [drücke ich so aus:]
Impossibile est, mutationes confuse sibi re-
praesentare <, sine i> sine notione intuitiva
15 temporis.
Den Satz: neque tempus cogitabile per
mutationes, sed v[ice] v[ersa] glaube [ich] unrichtig
sowohl von der deutl. als anschauenden
Vorstellung der Zeit.
20 Das principium contrad. kann den intuitiven
Begriff der Zeit nicht entbehren. Daraus folgt
also nur; daß wir eher eine Confiction [von] Begriffen,
die um deswillen k[eine]. Abhängigkeit <unter> von ein-
ander erfodern.
25 Eben so glaube ich, daß H. K. den Leibnitz aus Miß-
verstand widerlegt S. 20, 21, 22, wo er vom
282 Eva J. Engel

Raume handelt. Denn wenn Leibnitz [sagte], daß der Raum


die Ordnung war [?] der neben einander seyenden Dinge
so versteht er unter Vorstellung des Raums, die [?]
30 <Vor> wirkl. Vorstellung desselben außer uns, denn die
Abstrakt. Vorstellung kann davon in der Seele
bleiben, wenn auch die Dinge außer uns weg-
fallen. Und da die Geometrie sich nur mit
der Abstracten Vorstellung des Raums beschäftigt,
35 so ist nicht zu befürchten, daß durch des Leibn.’
Def. die Grundsätze der Geometrie ungewiß werden.
Indem der Begriff des Raums mit den innern
Eigenschaften der Dinge nichts zu schaffen hat, sondern
aus der bloßen <Vor> verwirrten Vorstellung
40 des nebeneinanderseyns entsteht, so werden auch
die Eigenschaften desselben, womit sich die Geometrie
beschäftigt dieselben seyn, so lange dieses Nebenein-
anderseyn, nebst der wesentl. Einrichtung unsere
bleibt.

[H SBPK, Nachlass 162, Serie D I, Nr. 4, 2 Seiten 2o; beschrieben jeweils auf der
rechten Spalte.]

Abkürzungen

JubA Moses Mendelssohn: Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe


Friedrich Frommann Verlag, Günther Holzboog 1971ff.
Literaturbrief Briefe die Neueste Litteratur betreffend. Berlin: Friedrich Nicolai
(4. Januar 1759 – 4. Juli 1765).
Verzeichniß Verzeichniß der auserlesenen Büchersammlung des seeligen Herrn
Moses Mendelssohn. Berlin 1786.

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