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Von den mehr als eintausend Briefen im Zeitraum von 1754 bis 1785 zwischen
Moses Mendelssohn und seinen Zeitgenossen haben sich von 1766 an drei Briefe
von ihm an Kant und vier Briefe von Kant an Mendelssohn erhalten. Zur Vervoll-
ständigung des Gedankenaustauschs der beiden Philosophen gehörten bisher drei
Rezensionen Mendelssohns von Werken Kants zwischen 1764 und 1767 sowie der
Briefwechsel zwischen Kant und seinem Schüler und Mitdenker Marcus Herz
(*1747).
Als Glücksfund eigener Art ist nun ein wohl spätestens im Dezember 1770 ent-
standenes, doppelseitig beschriebenes, bisher in der Forschung unbeachtetes Folio-
blatt in der Handschrift Mendelssohns aus dem Mendelssohn-Nachlass in Berlin an-
zusehen (SBPK, NL 162, D I.4; siehe die Edition im Anhang). Die auf diesen beiden
Manuskriptseiten in den Text eingeflochtenen lateinischen Zitate stammen (bis auf
eine eigene lateinische Formulierung Mendelssohns) aus Kants Inauguraldisserta-
tion De mundi sensibilis atque intelligibilis forma et principiis aus dem Jahr 1770.
Mit dem (hier erstmals transkribierten) Text versuchte Mendelssohn, die Raum-
Zeit-Theorie Kants zu widerlegen, wie sie in dessen Dissertation (Sectio III §§ 13–15)
enthalten ist. – Leider hat sich nur der Beginn dieses Entwurfes einer kritischen Stel-
lungnahme Mendelssohns zu Kant erhalten.
Marcus Herz war der Respondent, als Kants Dissertation am 21. August 1770 in
Königsberg öffentlich im Auditorium Maximum, in Gegenwart dreier ‚Angreifer‘,
verteidigt wurde, um Kants Ernennung zum ordentlichen Professor der Logik und
Metaphysik zu bestätigen. Noch im August 1770 lag De mundi sensibilis atque
intelligibilis forma et principiis im Druck vor. Herz war seit September 1770 in Ber-
lin und besuchte Mendelssohn sehr bald. In einem ungewöhnlich langen Brief an
Kant vom 11. September 1770 berichtet Herz, wie intensiv und freudig Mendels-
sohn sich „vier ganze Stunden“ lang im gemeinsamen Gespräch mit der Dissertation
befasst hatte.
I.
Bereits früher, seit seinen Kant-Rezensionen von 1764 und 1765,1 hatte Mendels-
sohn, bei aller bewundernden Wertschätzung für Kant, auf Vervollständigung
der neuen, vorläufig embryonalen Gedankengänge des Königsberger Philosophen
gedrängt. Ebenso lässt sich nachweisen, dass Kant seitens Mendelssohns, Garves
und Tetens’ eingehende Kritik erwartete und begrüßen würde.2 Der Verlauf der phi-
losophischen Auseinandersetzung und Mendelssohns frühzeitige Anteilnahme an
Kants Ideenrevolution lässt sich am Briefwechsel und den im Druck vorliegenden
Rezensionen nachvollziehen.
Die Etappen des Gedankenaustauschs im einzelnen lassen sich bis zu Mendels-
sohns früher Erkenntnis zurückverfolgen, welche Revolution der Denkart sich in
Königsberg bemerkbar zu machen begann: eine Revolution, die geistige Welt mittels
einer Kritik der reinen Vernunft ein für allemal entscheidend zu verwandeln. Kants
Vorwort zu Der einzig mögliche Beweisgrund zu einer Demonstration des Daseyns
Gottes (1762/63) muss Mendelssohns Aufmerksamkeit erregt haben. Mendelssohn
erkannte, dass Kant hier ganz bewusst einen neuen Weg zur Erkenntnis des Wesens
der Dinge suchte, den er als Fahrt ins Ungewisse unternehmen will (AA II, 66). Nur
zu gut hatte Mendelssohn Verständnis für solches Wagnis. Er selber hatte sich auch
im Jahr 1762/63 auf eine Fahrt ins Ungewisse mit seiner Abhandlung Evidenz in
metaphysischen Wissenschaften gewagt. Sowohl er wie Kant hatten sich um densel-
ben Preis der Berliner Akademie der Wissenschaften beworben. Somit verstand er
das Unterfangen Kants, den Wagemut und die Verlockung, den Unterschied zwi-
schen mathematischen und sinnlichen Denkstrukturen herauszuarbeiten. Daher
verwies er im April/Mai 1764 in LB 280/281 (JubA 5.1, 602–616) gegen Ende seiner
ausführlichen Besprechung der Kantischen Gottesbeweise quasi auf eine Fortset-
zung dieser Seefahrt ins Ungewisse.
Im April 1764 hatte Mendelssohn am Schluss seiner Besprechung den Raum-Zeit-
Begriff Kants in den Blickpunkt der Öffentlichkeit gerückt und angedeutet, diese
aufsehenerregende Entwicklung fortgesetzt zu wünschen:
Den Unterschied, den er hierbey S. 36. u. f. in Absicht der compossibilitatis realitatum in Gott
zwischen der logischen und Realrepugnanz der Realitäten macht, scheint gegründet, und werth
zu seyn, dem philosophischen Leser zu genauerer Prüfung und Anwendung empfohlen zu wer-
den. Vielleicht unterhalte ich Sie einst mit meinen Gedanken über diese Materie, bey Gelegen-
heit einer andern Schrift des Hrn. Kant, in welcher er von den negativen Größen in der Welt-
weißheit [1763] handelt. (LB 280: 3. Mai 1764; JubA 5.1, 608)
Kants zweite Veröffentlichung des Jahres 1763 Versuch den Begriff der negativen
Größen in die Weltweisheit einzuführen ließ Mendelssohn zum zweiten Mal auf
Kants Revolution in Denkstrukturen aufmerksam werden. Mendelssohn beschrieb
den Begriff der negativen Größen als den Versuch,
1 Litteraturbrief 280, 26. April/Mai 1764: JubA 5.1, 602–616; Litteraturbrief 324, 25. April/
9. Mai 1765: JubA 5.1, 662–669.
2 Vgl. BW AA X. 341, 346.
Mendelssohn contra Kant 271
hiemit nicht allein einen Schritt zur Versöhnung der Metaphysik und Mathematik zu thun, son-
dern auch neue Aussichten zu eröfnen, wie die Begriffe der letztern in jener eben so nutzbar ge-
macht werden könnten, als sie es bereits in der Naturlehre geworden sind (Litteraturbrief 324,
25. April 1765: JubA 5.1, 662).
Er bat Kant, „seine Ideen in dieser Absicht [zu] prüfen, und die Aussichten, die sie
ihm zeigten, der Welt darlegen“ zu wollen (ebd., S. 665). – Mit der Schlussbemer-
kung seiner Rezension bewies Mendelssohn dann – wie zum Beispiel bei Boscovich
im Jahr 1759 (LB3 42, 45, 54–56) – ein ihm eigentümliches Fingerspitzengefühl für
schicksalhaft-neue Ideen. Er erwähnt Kants „höchst merkwürdige Frage“. Derje-
nige, der sie zu beantworten wisse, würde „der Schöpfer einer neuen und vollstän-
digern Metaphysik“ (JubA 5.1, 668) werden.
Schon 1763 habe Kant daher in diesem Aufsatz versprochen, „das, was er darü-
ber gedacht“ habe, der Welt vorzulegen. Statt dessen gebe er nur eine „vorläufige
Nachricht“, die „jeden philosophischen Kopf in Verwundrung setzt, daß es gar
nicht durch ein Urtheil, sondern blos durch einen Begrif ausgedruckt werden
könne“ (JubA 5.1, 669).
Kant muss dies als willkommenen Ansporn betrachtet haben. Leider fehlt hierzu
jegliche briefliche Spur vor Kants sichtlich nicht erstem Brief an Mendelssohn vom
Februar 1766 (AA X. 67 f.; JubA 12.1, 102 f.). In diesem Jahr 1766 veröffentlichte
Kant die Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik. Dass
hier der Raum-Zeit-Begriff eine grundlegende Rolle spielt, liegt in der Natur der
Swedenborgschen Behauptungen – aber auch in Kants Bestreben, die Erklärung
Wolffs (Ontologia §§ 588–593): „spatium […] resultat ex possibilitate coexistendi“
(§ 591) zu widerlegen.
In seiner sehr kurzen Besprechung (Allg. deutsche Bibliothek 1767, 4.2, 281) ver-
wies Mendelssohn auf „den Saamen zu wichtigen Betrachtungen […] so wie einige
Einwürfe wider die bekannten Systeme [i.e. Wolffs Raumauffassung], die eine ernst-
haftere Ausführung verdienen“ (JubA 5.2, 73). Diese „Saamen“ Kants finden sich
dann successive in der Veröffentlichung Von dem ersten Grunde des Unterschiedes
der Gegenden im Raume4 von 1768 (die Schrift, die Kants Dissertation von 1770
voranging) und schließlich 1781 in der Kritik der reinen Vernunft.
Gerade Kants Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im
Raume (AA II. 377–383) ist für die Raumtheorie in Kants Dissertation von 1770 be-
sonders wichtig, und auch im Blick auf die Manuskriptseiten Mendelssohns wäre sie
von besonderem Interesse. Leider lässt sich vor 1770 kein Hinweis bei Mendelssohn
finden, ob er Kants Schrift von 1768 kannte. 1770 jedoch setzt er sich mit der un-
terschiedlichen Definition des Raumes bei Leibniz und bei Kant auseinander.
3 LB = Briefe, die neueste Litteratur betreffend, Berlin: Nicolai, 1759–1765. Von den ins-
gesamt 335 anonymen „Briefen“ sind über ein Drittel Mendelssohn zuzuschreiben. Seine
Chiffren waren: D, K, M, P, Z und einmal (LB 233–236) die sonst von Lessing 26 (von 58)
mal gebrauchte Chiffre: FII (flagello).
4 Diese wichtige kleine Schrift erschien nur in einer Königsberger Zeitschrift. Mendelssohn
scheint sie nicht zugänglich gewesen zu sein.
272 Eva J. Engel
Zu Beginn der Schrift Von dem ersten Grunde des Unterschiedes der Gegenden im
Raume bezog sich Kant nicht auf Wolff, sondern auf Leibniz:
Der berühmte Leibniz besaß viel wirkliche Einsichten, wodurch er die Wissenschaften berei-
cherte, aber noch viel größere Entwürfe zu solchen, deren Ausführung die Welt von ihm verge-
bens erwartet hat. […] Ich weiß nicht genau, in wie fern der Gegenstand, den ich mir hier zur
Betrachtung vorsetze, demjenigen verwandt sei, den der gedachte große Mann im Sinne hatte;
allein nach der Wortbedeutung zu urtheilen, suche ich hier philosophisch den ersten Grund der
Möglichkeit desjenigen, wovon er die Größen mathematisch [Hervorhebungen EE] zu bestim-
men vorhabens war. (AA II. 377)
Es ging Kant um die bis dahin vergebliche Bemühung der Philosophen, in der
Metaphysik einen belegbaren (‚evidenten‘) Beweis zu finden, „daß der absolute
Raum unabhängig von dem Dasein aller Materie und selbst als der erste Grund der
Möglichkeit ihrer Zusammensetzung eine eigene Realität habe“.5 (AA II. 378) Erst
in den letzten drei Absätzen der Schrift von 1768 wandte Kant sich der Bedeutung
des Raumes für die Metaphysik zu, nämlich dass die Bestimmung der Lagen der
Teile der Materie den Bestimmungen des Raumes folgen,
daß also in der Beschaffenheit der Körper Unterschiede angetroffen werden können und zwar
wahre Unterschiede, die sich lediglich auf den absoluten und ursprünglichen Raum beziehen,
weil nur durch ihn das Verhältniß körperlicher Dinge möglich ist, […].
Ein nachsinnender Leser wird daher den Begriff des Raumes, so wie ihn der Meßkünstler
denkt und auch scharfsinnige Philosophen ihn in den Lehrbegriff der Naturwissenschaft auf-
genommen haben, nicht für ein bloßes Gedankending ansehen, obgleich es nicht an Schwierig-
keiten fehlt, die diesen Begriff umgeben, wenn man seine Realität, welche dem innern Sinn an-
schauend gnug ist, durch Vernunftideen [Hervorhebung EE] fassen will. (AA II. 383)
5 Kant verweist hier (AA II. 378) auf Leonard Eulers Réflexions sur l’espace et le temps von
1748 (Histoire de l’Académie, 1750).
6 Die von Leibniz auf französisch geschriebenen Briefe an Clarke veröffentlichte Clarke als: A
Collection of Papers, which passed between the late Learned Mr. Leibnitz, and Dr. Clarke,
in the Years 1715 and 1716. Relating to the Principles of Natural Philosophy and Religion.
With an Appendix. […] London: Printed for James Knapton. 1717. – Christian Wolff rezen-
sierte diese englische Ausgabe in den Acta Eruditorum, 1717, S. 440 ff. Am 16. September
1720 signierte er das Vorwort zu Heinrich Köhlers Übersetzung des Briefwechsels ins Deut-
sche.
7 Das französische Original ist abgedruckt in C. J. Gerhardt (Hg.): Die philosophischen
Schriften von Gottfried Wilhelm Leibniz (ND Olms 1965), Bd. VII, S. 389– 426.
Mendelssohn contra Kant 273
Nr. 27 (zu §§ 5/6): „Die Teile der Zeit und des Ortes sind, für sich selbst genom-
men, Dinge, die nur in der gedanklichen Vorstellung [choses idéales] vorhanden
sind“;
Nr. 33 (zu § 7): „Da der Raum an sich wie die Zeit nur eine in der Vorstellung vor-
handene Sache ist […]“; vgl. Nr. 49 (zu § 10) zu dem Begriff ‚Teil‘ in Bezug auf
‚Zeit‘, so dass auch ‚Zeit‘ von Leibniz als gedankliche Vorstellung (chose idéale) be-
trachtet wird.
Nr. 47 (zu §§ 8/9) und Nr. 105 (zu § 41) bestätigen, dass ‚Raum‘ sich auf koexis-
tierende und ‚Zeit‘ sich auf aufeinanderfolgende Dinge bezieht.8
II.
Aus dem erhaltenen Korrespondenzmaterial geht hervor, dass die Initiative zum
brieflichen Austausch zwischen den beiden Gelehrten von dem sonst so zurückhal-
tenden Mendelssohn ausgegangen war. Mindestens ein nicht erhaltener Brief Men-
delssohns existierte bereits vor Kants Brief an Mendelssohn vom 7. Februar 1766.
Denn damals erwiderte Kant:
Es giebt keine Umschweife von der Art wie sie die Mode verlangt zwischen zwey Persohnen
deren Denkungsart durch die Ähnlichkeit der Verstandesbeschäftigungen und die Gleichheit
der Grundsätze einstimmig ist. Ich bin durch Dero gütige Zuschrift erfreuet worden und nehme
Ihren Antrag wegen künftiger Fortsetzung der Correspondenz mit Vergnügen an. (AA X. 67 f.;
JubA 12.1, 102 f.)
8 Vgl. den französischen Text ebd. S. 395, 396, 400, 402f. und 415.
9 Kants Träume eines Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik erschien 1766
bei Johann Jacob Kanter in Königsberg. Mendelssohns Kurzbesprechung erschien in der All-
gemeinen Deutschen Bibliothek, 1767, 4.2, 281 unter der Chiffre ‚G‘: „Der scherzende Tief-
sinn, mit welchem dieses Werkchen geschrieben ist, läßt den Leser zuweilen in Zweifel, ob
Herr Kant die Metaphysik hat lächerlich, oder die Geisterseherey glaubhaft machen wollen.
Indessen enthält es den Saamen zu wichtigen Betrachtungen, einige neue Gedanken über die
Natur der Seele, so wie einige Einwürfe wider die bekannten Systeme, die eine ernsthaftere
Ausführung verdienen.“ (JubA 5.2, 73)
274 Eva J. Engel
Meiner Meinung nach kommt alles darauf an die data zu dem Problem aufzusuchen wie ist die
Seele in der Welt gegenwärtig sowohl den materiellen Naturen als denen anderen von ihrer Art.
Man soll also die Kraft der äußeren Wirksamkeit und die receptivitaet von aussen zu leiden bey
einer solchen Substanz finden wovon die Vereinigung mit dem menschl. Körper nur eine beson-
dere Art ist. Weil uns nun keine Erfahrung hiebey zu statten kommt dadurch wir ein solches
Subieckt in denen verschiedenen relationen könnten kennen lernen […] so frägt man ob es an
sich möglich sey durch Vernunfturtheile a priori diese Kräfte geistiger Substanzen auszuma-
chen. (Kant, 8. April 1766: AA X. 71 f.; JubA 12.1, 106 f.)
D.h. bereits im Frühjahr 1766 war die Grundlage für das Gespräch geschaffen,
das in der von Marcus Herz am 21. August 1770 verteidigten Inauguraldissertation
des neuen Ordinarius Kant eine Rolle spielte.
Mit Recht vermutete Mendelssohn in seinem Brief an Kant vom 25. Dezember
1770 (AA X. 113–116; JubA 12.1 241–244) in den §§ 13–15 der Dissertation einen
neuen Ansatz in Bezug auf Zeit und Raum. Der Respondent Kants war wie gesagt
Marcus Herz, und von ihm stammt der erste Bericht des Eindrucks, den die Inaugu-
raldissertation auf Mendelssohn ausübte. Somit spielt Marcus Herz in diesem brief-
lichen Gedankenaustausch eine wesentliche Rolle. Er war von 1766 bis 1770 Kants
Schüler gewesen und kam im September 1770, also kurz nach der Drucklegung der
Inauguraldissertation, nach Berlin. Am 11. September 1770 berichtete Herz dem
„Ewig unvergeßlichen Lehrer“:
Mein erster Besuch den ich abstatete war bey HE. Mendelssohn, wir unterhielten uns vier ganze
Stunden über einige Materien in Ihre[r] dissertation. […] Die Dissertation gefält ihm über die
maßen schön, und er bedauert nur daß Sie nicht etwas weitläuftiger waren. Er bewundert die
Scharfsinigkeit die in diesem Satze ist, daß, wenn in einem Satze das Praedickat sensual ist, es
von dem Subieckt nur subiecktiv gilt, hingegen wenn es intellectual ist. u.s.w. […] kurz er hält
die ganze Dissert. für ein vortrefliches Werk, nur daß er einige Stücke darin noch nicht völlig zu
giebt, dahin gehört, daß man bey der Erklärung des Raums sich des Worts simul bedienen muß
noch bey der Zeit, des Wortes post, Auch im Satz des Widerspruchs darf seiner Meynung nach
nicht simul gesetzt werden, ich werde ins künftige Gelegenheit haben, mehr mit ihm davon zu
sprechen, u. ich werde nie unterlaßen meinem theuren Lehrer Rechenschafft davon abzulegen.
Es ist dieses Mannes liebste Unterhaltung, Metaphis[ische] Materien zu entwickeln, u. die
Helfte der Zeit welche ich hier bin, habe ich bey ihm zugebracht, Er wird auch an Sie, selbst
schreiben, aber er wird sich nur kurz faßen, er glaubt subtiliteten laßen sich durch correspon-
dence nicht schlichten. Ich bin eben beschäftigt ihm einen kleinen Aufsatz zu machen, worin ich
ihm die Falschheit des Beweises vom Daseyn Gottes apriori zeigen will, Er ist für diesen Beweis
sehr eingenommen, was wunder, er wird ja von Baumgarten angenommen. (AA X. 100 f.)10
Mendelssohn fühlte sich so sehr angetan von den Gedankengängen der Inaugu-
raldissertation, dass er sich getraute, Kant einige „Nebenbetrachtungen“ zu dessen
„Hauptideen“ beizufügen (AA X. 114; JubA 12.1, 242): hauptsächlich zum Thema
des Unendlichen, dem „Wörtlein post“ und dem von Mendelssohn nicht wider-
spruchslos anerkannten ‚bloss Subjektiven‘ der Zeit. So heißt es am 25. Dezember
1770:
10 Herz zählt dann die Schriften Mendelssohns auf, die „in kurzem“ erscheinen, darunter den
Anhang zu den Philosophischen Schriften, „in welchen er von der Materie handeln wird, die
der HE. Profeßor einst bearbeitet, nehmlich von dem Widerstreit der Realiteten unter ein
ander […]“ (AA X. 101).
Mendelssohn contra Kant 275
Ihre Dissertation habe ich mit der größten Begierde in die Hände genommen, und mit recht vie-
lem Vergnügen durchgelesen, ob ich gleich seit Jahr und Tag, wegen meines sehr geschwächten
Nervensystems, kaum im Stande bin, etwas spekulatives von diesem Werthe, mit gehöriger An-
strengung durch zu denken. Man siehet, diese kleine Schrift ist die Frucht von sehr langen Me-
ditationen, und muß als ein Theil eines ganzen Lehrgebäudes angesehen werden, das dem Verf.
eigen ist, und wovon er vor der Hand nur einige Proben hat zeigen wollen. Die anscheinende
Dunkelheit selbst, die an einigen Stellen zurük geblieben ist, verräth einem geübten Leser, die
Beziehung auf ein Ganzes, das ihm noch nicht vorgelegt worden ist. Indessen wäre, zum Besten
der Metaphysik, die leider! itzt so sehr gefallen ist, zu wünschen, daß Sie den Vorrath Ihrer Me-
ditationen uns nicht zu lange vorenthielten. […] Wie Sie (Seite 17) in dieser Art, sich die Zeit
vorzustellen, einen fehlerhaften Zirkel finden, begreiffe ich nicht. Die Zeit ist (nach Leibnitzen)
ein Phaenomenon, und hat, wie alle Erscheinungen, etwas Objektives und etwas Subjektives.
Das Subjektive davon ist die Continuität, die man sich dabey vorstellet […].11 (AA X. 113 ff.;
JubA 12.1, 241 ff.)
III.
Ihre Kritik der reinen Vernunft ist für mich auch ein Kriterium der Gesundheit. So oft ich mich
schmeichele, an Kräften zugenommen zu haben, wage ich mich an dieses Nervensaftverzeh-
rende Werk, und ich bin nicht ganz ohne Hoffnung, es in diesem Leben noch ganz durchdenken
zu können. (AA X. 308; JubA 13, 100)
Dieses Buch enthält den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den Begriffen
anfingen, welche wir zusammen, unter der Benennung des mundi sensibilis und intelligib:, ab-
disputirten und es ist mir eine wichtige Angelegenheit, demselben einsehenden Manne, der es
würdig fand meine Ideen zu bearbeiten und so scharfsinnig war, darinn am tiefsten hineinzu-
dringen, diese ganze Summe meiner Bemühungen zur Beurtheilung zu übergeben. (AA X. 266)
In Berlin sollen sofort nach der Drucklegung vier Exemplare verteilt werden, ein
Dedikationsexemplar an den Minister Carl Abraham v. Zedlitz, die anderen an
Herz, an Mendelssohn, an Christian Gottlieb Selle. Bereits am 11. Mai scheint dies
geschehen zu sein, und nun bekennt Kant gegenüber Herz:
Von einem Manne aber der unter allen die mir das Glück als Zuhörer zugeführt hat am ge-
schwindesten und genauesten meine Gedanken und Ideen begriff und einsah kan ich allein hof-
fen daß er in kurzer Zeit zu demienigen Begriffe meines Systems gelangen werde der allein ein
entscheidendes Urtheil über dessen Werth möglich macht. (AA X. 269)
eine gänzliche Veränderung der Denkungsart in diesem uns so innigst angelegenen Theile
menschlicher Erkenntnisse […] Meines Theils habe ich nirgend Blendwerke zu machen gesucht
und Scheingründe aufgetrieben um mein System dadurch zu flicken sondern lieber Jahre ver-
streichen lassen um zu einer vollendeten Einsicht zu gelangen […] Schweer wird diese Art
Nachforschung immer bleiben denn sie enthält die Metaphysik von der Metaphysik […].
Daß Herr Mendelssohn mein Buch zur Seite gelegt habe ist mir sehr unangenehm aber ich
hoffe daß es nicht auf immer geschehen seyn werde. Er ist unter allen die die Welt in diesem
Punkte aufklären könten der wichtigste Mann, und auf Ihn, HEn Tetens und Sie mein Werthe-
ster habe ich unter allen am meisten gerechnet. Ich bitte nebst meiner großen Empfelung Ihm
doch eine diätetische Beobachtung mitzutheilen die ich an mir selbst gemacht habe und von der
ich glaube daß sie bei der Ähnlichkeit der Studien und zum Theil daraus entsprungenen
schwächlichen Gesundheit vielleicht dazu dienen könte der gelehrten Welt einen so vortref-
lichen Mann wieder zu geben (AA X. 269 f.).
Mendelssohn scheint diesem Rat, „Abends [nicht] zu studiren ja sogar leichte Bü-
cher [nicht] anhaltend zu lesen“ (ebd. 270), meist Folge geleistet zu haben. Doch
selbst als er am 10. April 1783 Kant ein Exemplar seines Jerusalem, oder über reli-
giöse Macht und Judenthum schickt, heißt es: „Seit vielen Jahren bin ich der Meta-
physik wie abgestorben“ – gleichzeitig aber ist er „nicht ganz ohne Hoffnung“, die
Kritik der reinen Vernunft „in diesem Leben noch ganz durchdenken zu können“
(AA X. 308; JubA 13, 100).
Mendelssohn contra Kant 277
In dem besonders ausführlichen, ermunternden Brief vom 16. August 1783 packt
Kant gleich zu:
Daß Sie sich der Metaphysik gleichsam vor abgestorben ansehen, da ihr beynahe die ganze klü-
gere Welt abgestorben zu seyn scheint, befremdet mich nicht, ohne einmal jene Nervenschwä-
che (davon man doch im Jerusalem nicht die mindeste Spuhr antrifft) hiebey in Betracht zu zie-
hen. Daß aber an deren Stelle Critik, die nur damit umgeht, den Boden zu jenem Gebäude zu
untersuchen, Ihre scharfsinnige Aufmerksamkeit nicht auf sich ziehen kann, oder sie alsbald
wieder von sich stößt, dauert mich sehr, befremdet mich aber auch nicht; […] denn man kan
auch nicht immer, wenn man sich in ein System hineingedacht und mit den Begriffen desselben
vertraut gemacht hat, vor sich selbst errathen, was dem Leser dunkel, was ihm nicht bestimmt,
oder hinreichend bewiesen vorkommen möchte. Es sind wenige so glücklich, vor sich und zu-
gleich in der Stelle anderer zu dencken und die ihnen allen angemessene Manier im Vortrage
treffen zu können. Es ist nur ein Mendelssohn.
Wie wäre es aber, mein werthester Herr, wenn Sie […] Ihr Ansehen und Ihren Einfluß dazu
zu verwenden beliebeten, eine nach einem gewissen Plane verabzuredende Prüfung jener Sätze
zu vermitteln und dazu auf eine Art wie sie Ihnen gut dünckt aufzumuntern. […] Zu diesen Un-
tersuchungen würde ich gerne an meinem Theile alles mir mögliche beytragen weil ich gewiß
weiß, daß wenn die Prüfung nur in gute Hände fällt, etwas ausgemachtes daraus entspringen
werde. Allein meine Hofnung zu derselben ist nur klein. Mendelssohn, Garve u. Tetens schei-
nen dieser Art von Geschäfte entsagt zu haben und wo ist noch sonst jemand, der Talent u.
guten Willen hat, sich damit zu befassen? Ich muß mich also damit begnügen, daß dergleichen
Arbeit, wie Swift sagt, eine Pflanze sey die nur aufblüht wenn der Stock in die Erde kommt.
(AA X. 344 ff.; JubA 13, 126 ff.)
Leider fehlen nun weitere Briefe, so dass nur noch zwei Aussagen von Mendels-
sohn sich erhalten haben: vom 3. August 1784 (an Herder): „Wenn ich Herdern,
Kanten und Garven nicht mißfalle, so ist meine Eigenliebe befriedigt“ (JubA 13.
218 f.) und 1785, im Vorbericht zu den Morgenstunden:
Seit zwölf bis funfzehn Jahren befinde ich mich nehmlich in dem äußersten Unvermögen, meine
Kenntnisse zu erweitren. Eine sogenannte Nervenschwäche, der ich seitdem unterliege, verbietet
mir jede Anstrengung des Geistes, […] sie erschweret mir das Lesen fremder Gedanken fast noch
mehr, als eigenes Nachdenken. Ich kenne daher die Schriften der großen Männer, die sich unter-
dessen in der Metaphysik hervorgethan, die Werke Lamberts, Tetens, Plattners und selbst des
alles zermalmenden Kants, nur aus unzulänglichen Berichten meiner Freunde oder aus gelehrten
Anzeigen […]. Für mich stehet also diese Wissenschaft noch itzt auf dem Punkte, auf welchem
sie etwa um das fünf und siebenzigste Jahr dieses Jahrhundert gestanden hat (JubA 3.2, 3).
Das hindert nicht, dass er sich um so mehr bewusst ist, dem Verfall der zeitgenös-
sischen Philosophie Einhalt gebieten zu müssen und „dem Rade einen Schwung zu
geben“:
Allein ich bin mir meiner Schwäche allzusehr bewußt, auch nur die Absicht zu haben, eine sol-
che allgemeine Umwälzung zu bewirken. Das Geschäft sey beßren Kräften aufbehalten, dem
Tiefsinn eines Kants, der hoffentlich mit demselben Geiste wieder aufbauen wird, mit dem er
niedergerissen hat. Ich begnüge mich mit der eingeschränktern Absicht, meinen Freunden und
Nachkommen Rechenschaft zu hinterlassen, von dem, was ich in der Sache für wahr gehalten
habe. (JubA 3.2, 5)
Ich bin so frey gewesen Ihnen durch den Buchhändler Voß u Sohn ein Exemplar von meinen
Morgenstunden […] zuzuschicken.
Ob ich gleich die Kräfte nicht mehr habe, Ihre tiefsinnige Schriften mit der erforderlichen
Anstrengung zu studiren; so weiß ich doch, daß wir in Grundsätzen nicht übereinkommen. Al-
lein ich weiß auch, daß Sie Wiederspruch vertragen; ja daß Sie ihn lieber haben als Nachbeten.
So wie ich Sie kenne, ist die Absicht Ihrer Critik blos das Nachbeten aus der Schule der Philo-
sophie zu verbannen. Sie lassen übrigens einem jeden das Recht andrer Meinung zu seyn, u die
seinige öffentlich zu sagen. (JubA 13, 312)
IV.
Veränderungen nur in der Zeit denkbar, aber nicht die Zeit denkbar durch Verän-
derungen, sondern umgekehrt.“14
Da Mendelssohn Leibniz’ Opera omnia (6 Bde.) in der Ausgabe von Ludwig Du-
tens von 1768 (Verzeichniß: 4o 38– 43), die von Raspe herausgegebenen Oeuvres
philosophiques (mit dem Vorwort A. Kästners) von 1765 (Verzeichnis: 4o 307) und
die Epistolae ad diversos (Verzeichniß: 8o 397) von 1734 bis 1742 besaß, wird er an
den Briefwechsel mit Clarke, insbesondere das 3. Schreiben (Abschnitt 5) von Leib-
niz an Samuel Clarke, gedacht haben.
14 Die deutsche Übersetzung der Zitate aus Kants Dissertation stammt von N. Hinske, siehe
Immanuel Kant: Werke. Hrsg. von W. Weischedel. Bd. III. Wiesbaden 1958, S. 43–55; vgl.
die entsprechenden lateinischen Formulierungen Kants MSI AA II. 397– 401.
280 Eva J. Engel
losophie noch eine entsetzliche Kluft, und sehen kaum die Möglichkeit ein, aus einer
Wissenschaft in die andere auf ebenem Wege reisen zu können.“ (JubA 5.1, 57f.) –
Diese Möglichkeit aber war es, die sich Mendelssohn von Kant erhoffte.
[1r]
1. p. 13.–17.
Die Schwierigkeiten, die H. K. gegen die gewöhnl.
Erklärung der Zeit macht, scheinen mir daher
zu kommen, daß er nicht bemerkt, wie die
5 Sele durch die Empfindung ihrer innern auf ein-
ander folgenden Veränderungen schon eine anschauen-
de E.Vorstellung15 von der Zeit hat, sie mag nun
so wenig klar seyn, als sie will. Denn diese
von den äußern Dingen unabhängige Vorstellung
10 der Zeit ist der Intuitus purus, welchen
niemand läugnet. Aber es scheint zu rasch
geschloßen, wenn man die deutliche Vorstellung
des Verstandes, der über seine eignen Wirkungen
nachdenkt, u. sich daraus eine Erklärung der
15 Zeit abzieht, läugnen wollte. Daher glaube
ich auch zeigen zu können, daß bey Leibnitzens Defini-
tion der Zeit kein fehlerhafter Cirkel sey (S. 17.)
Dieser Cirkel soll wenn ich recht rathe, da-
durch entstehen, daß Series successivorum, den
20 Begriff des post voraussetzt, weil successiva
post se invicem ordinata sind, u. dieses post
schon den Begriff der Zeit voraussetzt. Ja
aber den Intuitiven. <wir> Nemlich wir haben
lange schon diesen intuitiven Begriff der Zeit
25 gehabt, ehe wir daran gedacht ihn deutlich zu machen,
u. also das ante u. post deutl. darin wahrzunehmen.
Denn sonst müßte ich auch sagen: <simultanea
wo> Der Begriff des Raums setzte nicht simultanea
voraus, weil simultanea, juxta se posita sind,
30 u. der Begriff von juxta <sich> den Begriff des
Raums voraussetzt.
[H SBPK, Nachlass 162, Serie D I, Nr. 4, 2 Seiten 2o; beschrieben jeweils auf der
rechten Spalte.]
Abkürzungen