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Goethe redivivus?
Was heißt und zu welchem Ende betreibt man
Kulturmorphologie im 20. Jahrhundert?
Es ist keine konventionelle Form der Heroen-Verehrung, die uns immer wieder
zu Goethe zurückkehren läßt; sondern diese ständige Rückkehr entspringt ei-
ner inneren Forderung, die jeder von uns, gleichviel in welchem Gebiet er tätig
ist, an sich selbst stellen muß. Immer wieder, wenn wir uns zu ihm hinwenden,
verspüren wir jene »ewige Anregung«, die von seinem Wesen und seinem Werk
ausgeht.1
Morphologie der Weltgeschichte, der Welt als Geschichte, die im Gegensatz zur
Morphologie der Natur, bisher fast dem einzigen Thema der Philosophie, alle Ge-
stalten und Bewegungen der Welt in ihrer tiefsten und letzten Bedeutung noch
einmal, aber in einer ganz andern Ordnung, nicht zum Gesamtbilde alles Er-
kannten, sondern zu einem Bilde des Lebens, nicht des Gewordenen, sondern
des Werdens zusammenfaßt.3
Für Frobenius und Spengler entsteht die Kultur zusammen mit einem
bestimmten Raumbewusstsein. Spengler zufolge hat jede Hochkultur ihr
»Ursymbol«: Dieses ist eine »Art der Ausgedehntheit« (UA, S. 226), ein mit
dem Erwachen der ›Kulturseele‹ zugleich gegebenes »Erlebnis der Tiefe«
(UA, S. 218), eine bestimmte ursprüngliche Wahrnehmung von Raum und
Zeit (somit fast ein Apriori à la Kant, nur dass es sich in jeder Kultur an-
ders darstellt). Das Ursymbol der ägyptischen Hochkultur ist der Weg, das
der antiken der Einzelkörper, das der arabisch-magischen Kultur die Welt-
höhle, das der europäisch-»faustische[n]« Kultur der »grenzenlose Raum«
(UA, S. 234), das der zukünftigen russischen Hochkultur die Ebene. Bei Fro-
benius finden sich ähnliche Gedanken, wobei er nur das »paideumatische[-]
Raumbewusstsein[-]« des Orients von dem des Okzidents unterscheidet:
Der Morgenländer lebt in einer Welthöhle. Ein Außen kennt er nicht. Sein Zelt
ist kein Inneres, sondern eine gleichgültige Zwischenwand, die ihn nur vorüber-
gehend umhüllt wie sein Kleid. Der Abendländer dagegen lebt in einem Haus.
Dem entspricht ein Innengefühl und erst hieraus konnte sich ein Außengefühl
entwickeln. Dieses Außen ist ein Unendlichkeitsraum. Es entsteht die Weltweite.
(P, S. 92)
Die »Weltweite« ist, wie Frobenius selbst zugibt, nichts anderes als Speng-
lers »faustische[r] Geist[-]« (P, S. 92f.). In der überarbeiteten Ausgabe des
Untergangs von 1922 wird Spengler in einer Fußnote auf das Wort »Höh-
lengefühl« (P, S. 92) von Frobenius verweisen (UA, S. 236). Man kann durch-
aus von einer wechselseitigen Beeinflussung der beiden Denker sprechen,
auch wenn Frobenius seine Kulturmorphologie erst unter dem Einfluss
Spenglers voll entwickelt hat.
Bei Frobenius durchläuft die Kultur die organisch-zyklischen Phasen je-
des Lebewesens: Geburt, Kindheit, Jugend, Reife, Greisenalter,8 die mitun-
ter auch (wie bei Spengler) als Jahreszeiten gefasst werden. Es geht dabei im-
mer um mehr als bloße Metaphern: Kulturen sind wirkliche Organismen.9
Die Entwicklung dieser Kultur-Organismen wird (entgegen der darwinis-
tisch-evolutionistischen Konzeption) weniger von äußeren Faktoren als von
der inneren ›Gestalt‹ der Organismen bestimmt. Die Wachstumsprozesse der
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8 »Ich behaupte, jede Kultur entwickle sich wie die lebendigen Organismen, erlebe also ei-
ne Geburt, ein Kindes-, ein Mannes-, ein Greisenalter und endlich ein Hinscheiden. Und
so geht es jedem Teil der Kultur, jeder Idee und also auch jeder Wissenschaft« (Leo Fro-
benius: Der Ursprung der Kultur (Anm. 2). Bd. 1: Der Ursprung der afrikanischen Kul-
turen. Berlin 1898, S. X).
9 Trotz des Vorbehalts von Frobenius: »Alles Folgende ist kein: ›Es ist so‹, sondern ein: ›So
ist es verständlich‹« (P, S. 12). Siehe UA, S. 36: »[M]an sehe in den Worten Jugend, Auf-
stieg, Blütezeit, Verfall, die bis jetzt regelmäßig und heute mehr denn je der Ausdruck sub-
jektiver Wertschätzungen und allerpersönlichster Interessen sozialer, moralischer oder äs-
thetischer Art waren, endlich objektive Bezeichnungen organischer Zustände«.
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12 Die organologisch-rhythmische Interpretation der Geschichte hört nicht mit Spengler auf.
Vgl. Pitirim A. Sorokin: Kulturkrise und Gesellschaftsphilosophie. Moderne Theorien über
das Werden und Vergehen von Kulturen und das Wesen ihrer Krisen. Stuttgart, Wien 1953.
13 Vgl. Heinrich Rückert: Lehrbuch der Weltgeschichte in organischer Darstellung. 2 Bände.
Leipzig 1857.
14 »Das Verstehen […] ist ein Denken aus dem Besonderen, ein Zurückschließen auf das im
Besonderen ausgedrückte Allgemeine, auf das in dem Morphologischen ausgeprägte Geis-
tige« (Johann Gustav Droysen: Historik. Historisch-kritische Ausgabe. 3 Bände in 5 Teil-
bänden u. 1 Supplementband. Hg. v. Peter Leyh. Ab Bd. 2.1 hg. v. Peter Leyh u. Horst
Walter Blanke. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977ff. Bd. 1: Historik. Rekonstruktion der ers-
ten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten
handschriftlichen (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Hg. v. Peter
Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 57). Vgl. hierzu den Beitrag von Helmut Hühn
im vorliegenden Band.
15 Novalis: Schriften. Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs. 3 Bände.
Hg. v. Hans-Joachim Mähl. Darmstadt 1978–1987. Bd. 2: Das philosophisch-theoretische
Werk. Darmstadt 1978, S. 588, Nr. 263.
16 Die von Carus verfassten Werke Psyche, zur Entwicklungsgeschichte der Seele (1846) und
Symbolik der menschlichen Gestalt (1853) wurden in den zwanziger Jahren des 19. Jahr-
hunderts von Ludwig Klages und Theodor Lessing neu herausgegeben.
respondierte und von dem dieser sich eine Weiterentwicklung seiner eige-
nen morphologischen Ideen versprach.17
Obwohl diese morphologisch-physiognomische Strömung nie ganz ab-
brach, wurde sie im Laufe des 19. Jahrhunderts von der kausal-erklärenden
Wissenschaft in den Hintergrund gedrängt. Von daher erscheint es berech-
tigt, die Frage nach den Entstehungsbedingungen der Kulturmorphologie zu
Beginn des 20. Jahrhunderts zu stellen. Eine ganze Reihe von Faktoren wäre
hier zu erwähnen:
auch wenn Breysig ein gutes Beispiel für den Durchbruch morphologi-
scher Geschichtsschreibung am Anfang des 20. Jahrhunderts wäre.
7. Im Rahmen des Historismus avanciert die Kulturgeschichte zu einer
Alternative der herkömmlichen Ereignisgeschichte (Staaten-, Fürsten-,
Kriegs- und Kirchengeschichte), wobei nicht mehr von einer Kultur,
sondern von Kulturen im Plural die Rede ist. In der Kulturmorpholo-
gie meldet sich nach den Dissoziationen und dem Sinnverlust des His-
torismus wieder das Bedürfnis nach Universalgeschichte und Orien-
tierung. Sie sucht nach einer »Logik der Geschichte«,34 die eine ›Bio-
Logik‹ ist. Dabei beansprucht sie, mehr zu sein als ein nachträgliches
hermeneutisches Verstehen der geschichtlichen Welt, also mehr als eine
Rekonstruktion von ›Ideal-Typen‹, Strukturen oder Sinnzusammen-
hängen. Spenglers und Frobenius’ Unterscheidung zwischen der Welt
als Natur (die es zu erklären gilt: Systematik) und der Welt als Ge-
schichte (die es zu verstehen gilt: Physiognomik) geht über die epis-
temologische Debatte hinsichtlich erklärender (nomothetischer) und
verstehender (ideographischer) Methoden (Wilhelm Dilthey, Wilhelm
Windelband, Heinrich Rickert) hinaus. Für sie ist die Welt als Geschich-
te die ursprünglichere, wahre Wirklichkeit, die Welt des Werdens und
des Schicksals. Alles ist zwar Leben, aber die Natur nach Newton ist
eine nachträglich analysierte ›tote‹ Natur gegenüber der erlebten leben-
digen Natur Goethes.
Der Aufstieg des Historismus ist andererseits nicht zu trennen von der
Nationalisierung des deutschen Bildungsbürgertums. In diesem Zusam-
menhang erklären sich der Neu-Idealismus und die Neo-Romantik der
Zeit um 1900. Hier ging es nicht zuletzt darum, die Spezifik des ›deut-
schen Geistes‹ (oder des ›deutschen Wesens‹) sowie dessen kognitive
und moralische Überlegenheit über den ›mechanistischen‹ Ansatz und
den Vulgärmaterialismus der ›artfremden‹ positivistischen Periode zu
betonen. Für einige völkische Ideologen – wie Houston Stewart Cham-
berlain, der sich in seiner Verstandeskritik auch auf Goethe beruft –
verfügt der ›nordische‹ Mensch gar über eine Gabe zur ›Wesensschau‹,
die den anderen ›Rassen‹ abhandengekommen ist. Das klassische Dop-
pelgestirn Goethe und Schiller wird als Bollwerk gegen den schnöden
Naturalismus verherrlicht und das kleine Weimar der ›amerikanischen‹
Groß- und Weltstadt Berlin entgegengesetzt. Mehr Goethe fordert Ru-
dolf Huch im Jahre 1899 – anlässlich von Goethes 150. Geburtstag – in
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34 Vgl. UA, S. 3: »Gibt es eine Logik der Geschichte? Gibt es jenseits von allem Zufälligen
und Unberechenbaren der Einzelereignisse eine sozusagen metaphysische Struktur der
historischen Menschheit, die von den weithin sichtbaren, populären, geistig-politischen
Gebilden der Oberfläche wesentlich unabhängig ist?«
In Paideuma wird Goethe von Frobenius einige Male zitiert, aber eher ober-
flächlich, gleichsam als konventionell-obligates Zitat. Einmal wird an Goe-
thes vorzeitige, bahnbrechende Formulierung des »biogenetischen Grund-
gesetzes« erinnert (P, S. 89). An anderer Stelle stützt sich Frobenius auf ein
paar Aussprüche Goethes, um die Bedeutung der Wechselwirkung zwischen
Mensch und Umwelt (oder »Lebensraum[-]«) mindestens in den ersten zwei
von ihm beschriebenen Kulturstufen zu betonen (P, S. 99, 103). Auch Goe-
thes »intuitive« »Weltanschauung« wird beschworen und ihr Zurückdrän-
gen durch die spezialisierte Wissenschaft des 19. Jahrhunderts beklagt (P,
S. 8). Der mit empirischen Methoden vertraute Ethnologe Frobenius fügt
jedoch hinzu, »daß es weder eine absolut mechanistische, noch eine abso-
lut intuitive Weltauffassung geben kann« (P, S. 9).
Bei Spengler hingegen ist die Bezugnahme auf Goethe anhaltend und
massiv. Er beansprucht für sich eine »kopernikanische Entdeckung im Be-
reich der Historie« (UA, S. 24). Nur zwei Vorgänger will er dabei anerken-
nen: Goethe und Nietzsche. Am Ende seiner Einleitung zur zweiten, über-
arbeiteten Ausgabe des Untergangs (1922) schreibt er: »Zum Schlusse drängt
es mich, noch einmal die Namen zu nennen, denen ich so gut wie alles ver-
danke: Goethe und Nietzsche. Von Goethe habe ich die Methode, von Nietz-
sche die Fragestellungen« (UA, S. IX). Im Haupttext wird diese Danksa-
gung mehrmals wiederholt: »Die Philosophie dieses Buches verdanke ich
der Philosophie Goethes […] und erst in viel geringerem Grade der Philo-
sophie Nietzsches« (UA, S. 68). Warum Goethe unter seinen geistigen Vä-
tern einen privilegierten Platz einnimmt, erklärt Spengler in einer längeren
Anmerkung. Goethes Philosophie sei in der »westeuropäischen Metaphy-
sik« nicht gebührend gewürdigt worden, und diese Unkenntnis sei auf das
Fehlen eines ausgearbeiteten Systems bei dem großen »Weimaraner« (FA I,
2, S. 661) zurückzuführen:
Plato und Goethe repräsentieren die Philosophie des Werdens, Aristoteles und
Kant die des Gewordnen. Hier steht Intuition gegen Analyse. Was verstandes-
mäßig kaum mitzuteilen ist, findet sich in einzelnen Vermerken und Gedichten
Goethes wie den Orphischen Urworten, Strophen wie »Wenn im Unendlichen«
und »Sagt es niemand«, die man als Ausdruck einer ganz bestimmten Metaphy-
sik zu betrachten hat. An folgendem Ausspruch möchte ich nicht ein Wort ge-
ändert wissen: »Die Gottheit ist wirksam im Lebendigen, aber nicht im Toten;
sie ist im Werdenden und sich Verwandelnden, aber nicht im Gewordnen und
Erstarrten. Deshalb hat auch die Vernunft in ihrer Tendenz zum Göttlichen es
nur mit dem Werdenden, Lebendigen zu tun, der Verstand mit dem Geworde-
nen, Erstarrten, daß er es nutze« (zu Eckermann). Dieser Satz enthält meine gan-
ze Philosophie. (UA, S. 68f.)
Auf Goethe kann sich Spengler in der Tat berufen, sowohl was seine Phi-
losophie als auch was seine Methode betrifft:
Mit Blick auf seine Gegenwart konstatiert Spengler, dass neuerdings dyna-
mische Konzeptionen in die modernen Naturwissenschaften – insbesonde-
re in die Physik – eingedrungen seien: Somit werde ein historisches Prinzip
auf die anorganische Natur angewandt, und es zeichne sich eine Wende ab.
Das 19. Jahrhundert wurde zwar vom Entwicklungsgedanken beherrscht,
aber »in seiner flachen zivilisierten Fassung, mag sie nun nationalökono-
misches oder biologisches Gepräge tragen« (UA, S. 475). »Zwischen den Be-
griffen der Goetheschen Formvollendung und der Evolution Darwins liegt
der ganze Gegensatz von Schicksal und Kausalität, aber auch der zwischen
deutschem und englischem Denken und zuletzt deutscher und englischer
Geschichte« (UA, S. 590f.). Es sei nun an der Zeit, zur »erhaben[en]« »Ent-
wicklungsidee« (UA, S. 475) Goethes zurückzukehren und sie auf die Ge-
schichte anzuwenden:
Was wirklich Geschichtsforschung sei, reine Physiognomik nämlich, ist durch
nichts deutlicher zu machen als durch den Verlauf von Goethes Naturstudien.
[…] Nirgends ist von Kausalität die Rede. Er empfand die Notwendigkeit des
Schicksals so, wie er sie in seinen orphischen Urworten ausgedrückt hat: »So
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Phänomene ganzheitlich auf sich wirken zu lassen«. In einem Brief an den Althistoriker
Hans Erich Stier, der ihn fragte, wie er auf seinen Begriff der Kultur gekommen war, ant-
wortete Spengler: »Ich habe die Entwicklung der Mathematik, die Geschichte der Kunst
und die neuere Politik, jedes für sich und in anderer Weise kennengelernt, teils durch sys-
tematische Arbeit, teils durch zwanglose Anschauung, und als ich darin eine Einheit fand,
entstand ganz von selbst der Eindruck von etwas Lebendigem, wofür es nur das Wort
Kultur geben konnte. Es war also ein Erlebnis und keine Konstruktion« (Oswald Speng-
ler: Briefe. Hg. v. Anton Mirko Koktanek. München 1963, S. 447). Ungefähr auf die glei-
che Weise hat Goethe seine »Urpflanze« während seiner italienischen Reise entdeckt.
39 Siehe hierzu die Bemerkung Spenglers: »Goethes Unterscheidung von Verstand (= Wach-
sein, der das Gewordene bemerkt, ›daß er es nutze‹) und Vernunft (= Erleben)« (Oswald
Spengler: Urfragen. Fragmente aus dem Nachlass. Unter Mitwirkung v. Manfred Schrö-
ter hg. v. Anton Mirko Koktanek. München 1965, S. 302). Siehe zudem die Definition
der ›Anschauung‹ bei Goethe in FA I, 24, S. 447, 391.
mußt du sein, dir kannst du nicht entfliehen. | So sagten schon Sibyllen, so Pro-
pheten; | Und keine Zeit und keine Macht zerstückelt | Geprägte Form, die le-
bend sich entwickelt«. (UA, S. 205f.)
An Lavater wird im Untergang nicht erinnert. Es ist hier nicht der Ort, um
auf die ambivalente Beziehung Goethes zum Vater der neueren Physiogno-
mik einzugehen. Bekannt ist, dass Goethe sich nach anfänglicher Zusam-
menarbeit von ihm abwandte. Obwohl er das physiognomische Genie als
Naturanlage gerühmt hatte, betrachtete er die Physiognomik später als wis-
senschaftlichen Betrug und Selbstbetrug.41 Bei seinem botanischen Berater
August Johann Batsch ist dagegen verschiedentlich von einem »sensus phy-
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40 Oswald Spengler: Urfragen (Anm. 39), S. 298.
41 Vgl. Goethes Gespräch mit Eckermann vom 17. Februar 1829: »Lavater war ein herzlich
guter Mann, allein er war gewaltigen Täuschungen unterworfen, und die ganze strenge
Wahrheit war nicht seine Sache; er belog sich und Andere« (FA II, 12, S. 309f.).
siognomicus« die Rede.42 Batsch sah darin das Vermögen zur anschaulichen
(nicht wie bei Linné rational-logischen) Erfassung der Ähnlichkeiten und
Verwandtschaften im Pflanzenreich. Dieser Sinn für Analogien geht erkenn-
bar über die von Lavater als Physiognomik verstandene Fähigkeit, am Äu-
ßeren das Innere abzulesen, hinaus und scheint insofern schon auf Speng-
ler zu verweisen.
Es fragt sich aber, ob Spengler seinen »physiognomische[n] Takt« (UA,
S. 247) nicht direkter von Klages’ Ausdruckslehre übernommen hat. Dieser
betrachtet den Leib als »die Erscheinung der Seele«, die Seele jedoch als den
»Sinn der Leibeserscheinung«.43 Für Klages ist »[d]ie gesamte Welterschei-
nung« ein »rhythmischer Sachverhalt«,44 und dieser Rhythmus erschließt
sich nur dem ›physiognomischen Takt‹. Dieser ist auch für Spengler ein Mit-
tel, den Rhythmus (also die Richtung, das Schicksal und so fort) des Leben-
digen und somit der Geschichte zu erfassen, genauer: nachzuempfinden.
Spengler hat Klages eingehend studiert; sein spürbarer Antiintellektualismus
stimmt mit dem des zukünftigen Autors von Der Geist als Widersacher der
Seele (1929–1932) überein. Trotzdem wird Klages im Untergang kein einzi-
ges Mal zitiert. Spengler konzipiert seine Hochkulturen vielmehr ausdrück-
lich nach dem Modell der Goethe’schen Urpflanze:
Kultur ist das Urphänomen aller vergangenen und künftigen Weltgeschichte. Die
tiefe und wenig gewürdigte Idee Goethes, die er in seiner ›lebendigen Natur‹ ent-
deckte und seinen morphologischen Forschungen stets zugrunde gelegt hat, soll
hier in ihrem genauesten Sinne auf all die vollkommen ausgereiften, in der Blüte
erstorbenen, halbentwickelten, im Keim erstickten Bildungen der menschlichen
Geschichte angewendet werden.45
Die Weltgeschichte besteht Spengler zufolge aus einer Reihe von Hochkul-
turen, die aufeinanderfolgen, ohne einander fortzusetzen. Auf die Unter-
schiedlichkeit der Ursymbole gründet er seine relativistische Geschichts-
schau. Da er in allen Erscheinungen einer Kultur in jeder Epoche den Aus-
druck dieses arteigenen Ursymbols herausstellt, spricht Spengler von einer
»universellen Symbolik«: »Dem vergangenen Denken war die äußere Wirk-
lichkeit Erkenntnisprodukt und Anlaß ethischer Schätzungen; dem künf-
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42 August Johann Batsch: Tabula affinitatum regni vegetabilis. Weimar 1802, S. VI. Diesen
Hinweis sowie jenen auf Novalis’ physiognomischen Sinn verdanke ich Jonas Maatsch.
43 Zitiert nach Ernst Frauchiger: Einleitung. In: Ludwig Klages: Sämtliche Werke. 9 Bände.
Hg. v. Ernst Frauchiger, Gerhard Funke, Karl J. Groffmann, Robert Heiß u. Hans Eggert
Schröder. Bonn 1964–1999. Bd. 6: Ausdruckskunde. Bonn 1964, S. VII–XXI, hier S. XVI.
44 Ludwig Klages: Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck. Leipzig 1936, S. 299 (5.,
völlig umgearbeitete Auflage von Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft).
45 UA, S. 141. Siehe auch Spenglers Brief an Georg Misch vom 5. Januar 1919: »[V]on ihm
und seinem Urphänomen habe ich denn auch den Gedanken der selbständigen, pflanzen-
haften Kulturindividuen« (Oswald Spengler: Briefe (Anm. 38), S. 116).
tigen ist sie vor allem Ausdruck und Symbol. Die Morphologie der Weltge-
schichte wird notwendig zu einer universellen Symbolik« (UA, S. 64).
Das jeweilige Ursymbol bestimmt den »Stil« (UA, S. 265) sämtlicher Le-
bensäußerungen einer Hochkultur.46 Die Anwendung des Stilbegriffes auf
Völker, Epochen oder Staaten ist nichts Neues. Spengler erinnert sich hier
wahrscheinlich an Nietzsches Definition in der Zweiten Unzeitgemäßen Be-
trachtung: »Die Cultur eines Volkes als der Gegensatz jener Barbarei ist
einmal, wie ich meine, mit einigem Rechte, als Einheit des künstlerischen
Stiles in allen Lebensäusserungen eines Volkes bezeichnet worden«.47 Die
bereits erwähnten Kunsttheorien um 1900 sind vermutlich auch nicht oh-
ne Einfluss auf diese ästhetische Konzeption der Kultur geblieben. Speng-
ler will sie aber auch auf Goethe beziehen: »Der Stil ist wie die Kultur ein
Urphänomen im strengsten Sinne Goethes, sei es der Stil von Künsten, Re-
ligionen, Gedanken oder der Stil des Lebens selbst« (UA, S. 265).
Auch für seine Vergleichsmethode, die sich auf eine Zyklentheorie stützt,
kann Spengler Goethes Schirmherrschaft für sich beanspruchen:
Als Homologie der Organe bezeichnet die Biologie deren morphologische Gleich-
wertigkeit im Gegensatz zur Analogie, die sich auf die Gleichwertigkeit ihrer
Funktion bezieht. Goethe hat diesen bedeutenden und in der Folge so frucht-
baren Begriff konzipiert, dessen Verfolgung ihn zur Entdeckung des os inter-
maxillare beim Menschen führte; Owen hat ihm eine streng wissenschaftliche
Fassung gegeben. Ich führe […] diesen Begriff in die historische Methode ein.
(UA, S. 149)
Als »ein echt Goethesches, auf Goethes Idee vom Urphänomen zurückzu-
führendes Verfahren, das in beschränktem Umfange der vergleichenden Tier-
und Pflanzenkunde geläufig ist, das sich aber in einem nie geahnten Grade
auf den gesamten Bereich der Historie ausdehnen läßt« (UA, S. 152), be-
zeichnet Spengler die mögliche Rekonstruktion verschollener Bereiche der
Geschichte, ja ganzer Epochen und Kulturen der Vergangenheit aufgrund
einiger erhaltener Züge. Der Historiker verfahre in diesem Falle wie ein Pa-
läontologe, der aus einzelnen erhaltenen Gliedmaßen ein ganzes fossiles Le-
bewesen wiederherstellt. Hier soll der von Goethe gerühmte »Genius der
Analogie« (FA I, 24, S. 832) ins Werk gesetzt werden.
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46 Vgl. Oswald Spengler: Urfragen (Anm. 39), S. 28: »[Ich möchte] überall statt Tendenzen
oder Richtung Imperativ sagen: Imperativ der Form, des Blutes, des Lebens. Die Ursym-
bole der Kulturen sind räumliche Zeichen des zeithaften Imperativs (des Lebewesens Kul-
tur)«.
47 Friedrich Nietzsche: Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Bänden. Hg. v. Gior-
gio Colli u. Mazzino Montinari. Neuausgabe. München 1999. Bd. 1: Die Geburt der Tra-
gödie. Unzeitgemäße Betrachtungen I–IV. Nachgelassene Schriften 1870–1873, S. 274.
Die Mühe, die sich Spengler gibt, als Musterschüler von Goethe zu erschei-
nen, darf nicht über fundamentale philosophische, methodische und ethi-
sche Divergenzen hinwegtäuschen. Tief überzeugt von der Einheit der Na-
tur einschließlich der menschlichen Gebilde hätte Goethe gegen die Aus-
dehnung der Morphologie auf den Bereich der Geschichtsschreibung keine
prinzipiellen Einwände gehabt.51 Auf der anderen Seite kennt man seine
Distanz zur Geschichte bei allem antiquarischen Interesse für die Spuren
der Vergangenheit – wie es sich in seinen Sammlungen niedergeschlagen
hat – oder für den historischen Stoff, den er in manchen Dichtungen ver-
wertete. Groß war sein »skeptischer Agnostizismus«52 gegenüber der His-
torie,53 groß auch sein Sinn für ihre Komplexität und ihre »Willkür«:54
Man mag sich die Bildung und Wirkung der Menschen unter welchen Bedin-
gungen man will denken, so schwanken beide durch Zeiten und Länder, durch
Einzelnheiten und Massen, die proportionierlich und unproportionierlich auf
einander wirken; und hier liegt das Inkalkulable, das Inkommensurable der Welt-
geschichte. Gesetz und Zufall greifen in einander, der betrachtende Mensch aber
kommt oft in den Fall beide mit einander zu verwechseln, wie sich besonders an
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schreitende, denn sie ist eine subjektive« (FA II, 12, S. 168–172, hier S. 170). Nach Rüdiger
Bubner hat Goethe die dritte Epoche von Hermann »paradoxerweise«, »in Abkehr von
seinem wissenschaftlichen Gewährsmann«, »in den Rationalismus der Neuzeit« verlängert
(R. Bubner: Die Gesetzlichkeit der Natur und die Willkür der Menschheitsgeschichte. Goe-
the vor dem Historismus. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993), S. 135–145, hier S. 144).
51 So lautet Goethes methodische Definition seiner ›Morphologie‹: »Ruht auf der Überzeu-
gung daß alles was sei sich auch andeuten und zeigen müsse. Von den ersten physischen
und chemischen Elementen an, bis zur geistigen Äußerung des Menschen lassen wir diesen
Grundsatz gelten« (FA I, 24, S. 349). In den Maximen und Reflexionen definiert Goethe
seine Herangehensweise an die Wirklichkeit folgendermaßen: »Um mich zu retten betrach-
te ich alle Erscheinungen als unabhängig von einander und suche sie gewaltsam zu isoli-
ren; dann betrachte ich sie als Correlate, und sie verbinden sich zu einem entschiedenen
Leben. Dieß bezieh’ ich vorzüglich auf Natur; aber auch in Bezug auf die neueste um uns
her bewegte Weltgeschichte ist diese Betrachtungsweise fruchtbar« (FA I, 13, S. 47).
52 Hans-Dietrich Dahnke: [Art.] Geschichte. In: Goethe-Handbuch in 4 Bänden mit Sup-
plementen. Hg. v. Bernd Witte, Theo Buck, Hans-Dietrich Dahnke u. a. Stuttgart, Wei-
mar 1996–2012. Bd. 4.1: Personen, Sachen, Begriffe. A–K. Hg. v. Hans-Dietrich Dahnke
u. Regine Otto. Stuttgart, Weimar 1998, S. 354–365, hier S. 354.
53 Vgl. zum Beispiel zur Pflicht des Historikers: »[D]as Publicum muß aber nicht ins Ge-
heimniß hineinsehen, wie wenig in der Geschichte als entschieden ausgemacht kann an-
gesprochen werden« (FA I, 13, S. 365). Siehe auch Fausts Reaktion auf Wagners Begeiste-
rung für die Geschichte: »Mein Freund, die Zeiten der Vergangenheit | Sind uns ein Buch
mit sieben Siegeln; | […] Ein Kehrichtfaß und eine Rumpelkammer« (FA I, 7.1, S. 40,
V. 575f., 582). Alexander Demandt zitiert diese Stellen in seiner Abschiedsvorlesung (A.
Demandt: Geschichte bei Goethe. In: Merkur 60 (2006), H. 684, S. 317–327).
54 Siehe Rüdiger Bubner: Die Gesetzlichkeit der Natur (Anm. 50).
parteiischen Historikern bemerken läßt, die zwar meistens unbewußt, aber doch
künstlich genug, sich eben dieser Unsicherheit zu ihrem Vorteil bedienen.
(FA I, 23.1, S. 613)
Es gibt zwei Momente der Weltgeschichte, die bald auf einander folgen, bald
gleichzeitig, teils einzeln und abgesondert, teils höchst verschränkt, sich an In-
dividuen und Völkern zeigen.
Der erste ist derjenige, in welchem sich die Einzelnen neben einander frei aus-
bilden; dies ist die Epoche des Werdens, des Friedens, des Nährens, der Künste,
der Wissenschaften, der Gemütlichkeit, der Vernunft. Hier wirkt alles nach innen,
und strebt in den besten Zeiten zu einem glücklichen, häuslichen Auferbauen;
doch löst sich dieser Zustand zuletzt in Parteisucht und Anarchie auf.
Die zweite Epoche ist die des Benutzens, des Kriegens, des Verzehrens, der Tech-
nik, des Wissens, des Verstandes. Die Wirkungen sind nach außen gerichtet; im
schönsten und höchsten Sinne gewährt dieser Zeitpunkt Dauer und Genuß un-
ter gewissen Bedingungen. Leicht artet jedoch ein solcher Zustand in Selbstsucht
und Tyrannei aus, wo man sich aber keineswegs den Tyrannen als eine einzelne
Person zu denken nötig hat; es gibt eine Tyrannei ganzer Massen, die höchst ge-
waltsam und unwiderstehlich ist. (FA I, 23.1, S. 613)
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55 Reinhart Koselleck: Goethes unzeitgemäße Geschichte. In: Goethe-Jahrbuch 110 (1993),
S. 27–39, hier S. 36.
56 Bezeichnenderweise lautet der erste Satz von Spenglers Untergang: »In diesem Buche wird
zum erstenmal der Versuch gewagt, Geschichte vorauszubestimmen« (UA, S. 1).
Hier treffen wir auf einen Kulturkritiker, der das Wohl der Kultur nicht mit
denselben Maßstäben misst wie sein Nachfolger Spengler, und der Vernunft,
Friede, Gemütlichkeit samt dem materiellen Komfort der Zivilisation (wenn
auch »unter gewissen Bedingungen«) zu schätzen weiß. Wir haben es hier
mit einem Humanisten zu tun, der einige Zeilen zuvor den »Lobgesang«
der Menschheitsgeschichte angestimmt hatte.57
Wie Spenglers Schematismus hätte Goethe auch dessen Relativismus
verworfen. Zwar ist Spengler sich der Relativität der Standpunkte durchaus
bewusst; dennoch treibt er Missbrauch mit dem Goethe’schen Satz »Alles
Vergängliche ist nur ein Gleichnis« (UA, S. 217), wenn er seine »universel-
le[-] Symbolik« (UA, S. 64) mit ihm zu rechtfertigen versucht. Denn diese
ist alles andere als universell, da die in jeder Kultur vorhandene Formen-
sprache nur auf das je partikulare Ursymbol einer spezifischen Kultur zu-
rückweist.58 Eine weitere semantische Verzerrung vollzieht Spengler, wenn
er Goethes Aussage gegenüber Heinrich Luden zitiert, um seine These von
der allgemeinen und vollkommenen Relativität zu stützen: »Die Mensch-
heit? Das ist ein Abstraktum. Es hat von jeher nur Menschen gegeben und
wird nur Menschen geben« (UA, S. 28). In diesem Satz drückte Goethe je-
doch nur seine Abneigung gegen die Abstraktion (Schiller’scher Art?) und
seine Vorliebe für das Konkrete aus. Für Spengler ist »die Menschheit« »ein
zoologischer Begriff oder ein leeres Wort« (UA, S. 28).
Spengler ist auf das Trennende orientiert, Goethe hob hingegen auf das
Gemeinsame ab und sprach vielfach von Weltliteratur. Die von ihm bevor-
zugte Geschichtsschreibung war eine ›monumentale‹ im Sinne Nietzsches,
welche die beständigen Wesenszüge der Menschheit zum Ausdruck bringt
und deshalb begeistern kann.59 Im Gegensatz zur durch und durch ästheti-
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57 Vgl. FA I, 23.1, S. 612: »Der Lobgesang der Menschheit, dem die Gottheit so gerne zu-
hören mag, ist niemals verstummt, und wir selbst fühlen ein göttliches Glück, wenn wir
die durch alle Zeiten und Gegenden verteilten harmonischen Ausströmungen, bald in ein-
zelnen Stimmen, in einzelnen Chören, bald fugenweise, bald in einem herrlichen Vollge-
sang vernehmen«.
58 Daher die berechtigte Frage Karl Joëls: »Aber meinte Goethe wirklich wie Sp.[engler],
das Vergängliche sei nur ein Gleichnis wieder des Vergänglichen? Wollte er einen abso-
luten Symbolismus lehren, d. h. einen absoluten Relativismus, der sich im unendlichen
Kreislauf selber verschlingt? Nein, alles Vergängliche ist nur ein Gleichnis – aber des Ewi-
gen, einer Sonne der Wahrheit, die niemals untergeht« (K. Joël: Die Philosophie in Speng-
lers Untergang des Abendlandes. In: Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der
Kultur 9 (1920/1921), S. 135–170, hier S. 170). Ein Vergleich mit Cassirers Philosophie der
symbolischen Formen würde im Hinblick auf die Frage des Universalismus zur Feststel-
lung ähnlicher Unterschiede führen. Cassirer rechnete Spengler als Verdienst an, dass er
in den Kulturproduktionen ›symbolische Formen‹ erblickte, warf ihm aber seinen Anti-
intellektualismus und seinen Fatalismus vor.
59 »Das Beste was wir von der Geschichte haben ist der Enthusiasmus den sie erregt« (FA I,
13, S. 41). Vgl. Alexander Demandt: Geschichte bei Goethe (Anm. 53), S. 9: »Sein anthro-
pologisches Credo lautet, dass in den Werken des Geistes ›die Zeiten sich bespiegeln‹, will
schen Auffassung des Urphänomens und der Kultur bei Spengler verband
Goethe die Idee der historischen Einheit mit der Wertidee. Auf diesen nor-
mativen Idealismus berufen sich dann auch Ernst Troeltsch und Friedrich
Meinecke. Letzterer schreibt: »Historische Individualitäten aber sind nur
solche Erscheinungen, die irgendeine Tendenz zum Guten, Schönen oder
Wahren in sich haben und dadurch für uns bedeutungs- und wertvoll wer-
den«.60
Spenglers vergleichende Morphologie beschränkt sich darauf, ›gleich-
zeitige‹, analoge Phasen, Ereignisse oder Persönlichkeiten der verschiede-
nen Kulturen (zum Beispiel Alexander den Großen und Napoleon) in eine
Art »Kulturchronometer«61 einzuordnen, um dann aufgrund der Verschie-
denheit der ›Kulturseelen‹ ihren semantischen Unterschied zu betonen. Un-
ter diesem Gesichtspunkt ist Spengler mehr ein Linné als ein Goethe der
Kulturmorphologie. So vermisst man bei seinem »Kulturchronometer« das
rhythmisch pulsierende Leben, welches in Goethes Polaritäten spürbar ist.
Jene Polaritäten, die Spenglers Denken durchsetzen, sind dagegen erstarrte
Polaritäten, schroffe Entgegensetzungen, bei denen die Wechselwirkung fehlt.
Wo Goethe in Natur und Geschichte ein ständiges Alternieren von Fort-
und Rückschritten erblickte (Diastole – Systole), teilt Spengler den Verlauf
der Hochkultur in zwei Phasen (Kultur – Zivilisation), die aufeinanderfol-
gen, aber kaum aufeinander einwirken. Die einzige Polarität, die bei ihm
zum Zuge kommt, bei Goethe dagegen unvorstellbar wäre, ist die vitalisti-
sche zwischen Leben und Geist: Die Kulturen sterben am Geist. Karl Joël
kommentiert: »Spengler kann eben nur in Reihen kontrastieren, aber nicht
synthetisch aufbauen. Er selber ist nur ein ›Intellekt‹ voll ›Spannungen‹ und
›Polaritäten‹, ein Dogmatiker der Antithesen ohne lebendigen Ausgleich zu
geschichtlicher Entwicklung«.62
Spengler beruft sich zwar auf Goethes Konzept der Metamorphose,
aber für ihn macht die Metamorphose an den Grenzen der Kulturen halt.63
Im Gegensatz dazu vertritt Goethe eine Sicht der Geschichte, in der sich
Kreisläufe vollziehen, die mit einer – zumindest möglichen – Höherent-
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sagen, dass in einzelnen Erzeugnissen, einzelnen Büchern, einzelnen Persönlichkeiten We-
senszüge der Menschheit zum Ausdruck kommen. Daher kann man bei ihm von einer
paradigmatischen Geschichtsauffassung sprechen, von einem exemplarischen Ansatz«.
60 Friedrich Meinecke: Kausalitäten und Werte in der Geschichte. In: Historische Zeitschrift
137 (1928), S. 1–27, hier S. 17.
61 Karl Joël: Die Philosophie in Spenglers Untergang des Abendlandes (Anm. 58), S. 156.
62 Karl Joël: Zum zweiten Band Spenglers. In: Wissen und Leben 16 (1922/1923), H. 12,
S. 561–575, hier S. 570.
63 Vgl. Uwe Janensch: Goethe und Nietzsche bei Spengler (Anm. 36), S. 173: »Was bei Speng-
ler mit dem Ende der Kulturphase als Erschöpfung der Gestaltbildung eintritt, unterliegt
bei Nietzsche den Möglichkeiten beständiger Regeneration, bei Goethe dem ewigen Ver-
wandlungsprozeß der Entelechie als zyklische Gestaltenfolge«.
wicklung (oder Steigerung) verbunden sind und die er im Bild der Spirale
fasst. In der Einleitung zu den Materialien zur Geschichte der Farbenlehre
schreibt er zum Beispiel:
Nichts ist stillstehend. Bei allen scheinbaren Rückschritten müssen Menschheit
und Wissenschaft immer vorschreiten, und wenn beide sich zuletzt auch wieder
in sich selbst abschließen sollten. […] Der Kreis, den die Menschheit auszulau-
fen hat, ist bestimmt genug, und ungeachtet des großen Stillstandes, den die Bar-
barei machte, hat sie ihre Laufbahn schon mehr als einmal zurückgelegt. Will man
ihr auch eine Spiralbewegung zuschreiben, so kehrt sie doch immer wieder in
jene Gegend, wo sie schon einmal durchgegangen. Auf diesem Wege wiederho-
len sich alle wahren Ansichten und alle Irrtümer. (FA I, 23.1, S. 515)
Goethe steht damit Vico oder Herder viel näher als Spengler, wobei man die
›evolutionistischen‹ Züge seiner Morphologie nicht überbetonen sollte.64
Mit Blick auf die Beziehungen zwischen den Kulturen spricht Spengler
nicht von Metamorphose, sondern von »Pseudomorphose«,65 ein Begriff,
der der Kristallographie entlehnt ist: Eine junge ›Kulturseele‹ kann sich zu-
nächst in die Formen einer alten, zur erstarrten Zivilisation gewordenen
Hochkultur ›gießen‹ und diese Formen mit einem ganz anderen Geist zu
füllen versuchen. Wenn die Metamorphose oder auch die Epigenese die Kon-
tinuität im Wandel betont, so ist die Pseudomorphose dazu bestimmt, die
Diskontinuität hervorzuheben.
Spengler entfernt sich auch dort von Goethe, wo er, gestützt auf sei-
nen physiognomischen Blick, eine Metaphysik der Geschichte postuliert,
die in festen, unveränderlichen Strukturen erstarrt ist und – entgegen der
Goethe’schen Anschauung – nicht offen bleibt für alle noch möglichen Ent-
wicklungen oder Entfaltungen des Lebens. Diese Metaphysik der Geschich-
te erstickt die menschliche Freiheit vollkommen. In dieser Hinsicht bezich-
tigt ihn Heinrich Rickert mit einigem Recht des Biologismus.66 Das Orga-
nische selbst wird dabei zum Erstarren gebracht: Kann eine Pflanze nicht
wieder aufblühen? Hinterlässt sie im Boden keine Samen? Wenn die Kul-
tur das Urphänomen oder besser die ›Urpflanze‹ der geschichtlichen Welt
ist, dann lässt sich nicht nachvollziehen, warum Spengler die Einheit der
Menschheitsgeschichte leugnet und in einen wahren Nominalismus der Kul-
turen verfällt, statt in den verschiedenen Kulturen Varianten derselben Ur-
pflanze, das heißt derselben Menschheit zu erblicken.
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64 Hinsichtlich der schwierigen Frage, ob Goethes Naturphilosophie schon eine evolutio-
nistische Tendenz (also eine Metamorphose in der Zeit) aufweist, verweise ich auf zwei
französische Bücher: Jean Lacoste: Goethe. Science et philosophie. Paris 1997. Jean-Michel
Pouget: La science goethéenne des vivants. De l'histoire naturelle à la biologie évolution-
niste. Bern 2001.
65 Vgl. hierzu das Kapitel »Historische Pseudomorphosen« (UA, S. 784–840).
66 Vgl. Heinrich Rickert: Die Philosophie des Lebens. Tübingen 1920, S. 32.
In der Betonung der Diskontinuität und Relativität der Geschichte ist kein
Vertreter des Historismus – im weitesten Sinn des Wortes – so weit gegan-
gen wie Spengler: Die Menschheit habe keine Einheit, kein Ziel; es gebe keine
Vererbung, keine Renaissance, die Hochkultur sterbe ohne Nachfolge. Auch
die Vertreter der Kulturmorphologie sind nicht so weit gegangen, obwohl
sich kulturkritische Akzente auch bei ihnen finden. Breysig betrachtet es als
seine Hauptaufgabe, »das Leben« zu retten, »das in Gefahr steht, zum Groß-
betrieb, zur Fabrik, zum Warenhaus zu werden«.67 Auch für Frobenius stellt
die »Mechanei« eine Gefahr für die Kultur dar. In den Großstädten, die nun
emporwachsen, erlahmt »[d]ie Lebenskraft des in die Weite wirkenden Dä-
monischen« (P, S. 93). Es ist erstaunlich, dass fast jeder Denker, der in der
Geschichte Phasen oder Stufen unterscheidet, geneigt ist, seine Zeit als die
letzte zu betrachten. Aber Breysig wollte – wie Goethe – die »Symphonie
der Weltgeschichte« singen,68 deren Harmonie verherrlichen. Jedes einzelne
Volk mit seiner Kultur ist ihm bloß ein Glied in der Geschichte der Mensch-
heit, die er letzten Endes doch auf einem linearen Entwicklungsweg fort-
schreiten sieht. Frobenius glaubte an die Einheit der Menschheit trotz aller
Differenziertheit im Seelenleben der Kulturen. Er glaubte an Vererbung, an
Kontinuität, und er war der Meinung, jede neue Kultur entstehe aus der ge-
genseitigen Befruchtung anderer, vorhergehender. Wie Breysig wandte er die
Phasenfolge, die er beim Einzelnen wie bei Gemeinschaften feststellte, auch
auf die ganze Menschheit an: Die Menschheit als Ganzes durchlaufe diesel-
ben Phasen wie der Einzelne und die einzelnen Kulturen. So seien in der
Menschheitsgeschichte mythologische, religiöse, philosophische und mate-
rialistische Kulturen aufeinandergefolgt, wobei die Selbstbestimmung des
Menschen immer mehr an Bedeutung gewonnen und seine Determination
durch die Umwelt entsprechend abgenommen habe. Wie bei Breysig ver-
mögen auch bei Frobenius nur die besten ›Steiger‹ die höchsten Kulturstu-
fen zu erreichen. Die Phase der Spengler’schen Hochkulturen entspricht
für ihn menschheitsgeschichtlich der juvenilen »monumentalen« »Kulturei«
(P, S. 114). Nun habe aber die »Mechanei« die ganze Welt ›umzingelt‹. Der
Verstand habe seine Herrschaft über die Seele und das Gefühl (die »Ergrif-
fenheit«) etabliert; der »Tatsachensinn[-]« und der Materialismus hätten sich
überall durchgesetzt.69 Trotz dieser Charakterisierung, die an das Speng-
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67 Zitiert nach Pierluca Azzaro: Deutsche Geschichtsdenker um die Jahrhundertwende
(Anm. 29), S. 146.
68 Zitiert nach ebenda, S. 121.
69 Vgl. hierzu Leo Frobenius: Schicksalskunde im Sinne des Kulturwerdens. Leipzig 1932,
S. 167f.: »Damit ist im Kulturwerden die Periode, in der Zerlegen und Zweckdenken lei-
ler’sche »Klimakterium der Kultur« (UA, S. 459) erinnert, hat Frobenius kei-
ne negative Auffassung von der sich anbahnenden Weltzivilisation. Im Ge-
genteil: er sieht auch in der »Mechanei« die schöpferische Kraft der Natur
am Werk und hofft auf eine höhere Synthese, eine neue Totalität, die Ver-
stand und »Ergriffenheit« miteinander versöhnt. In seiner eigenen ›paideu-
matischen‹ Theorie sieht Frobenius übrigens eines der Symptome dieser
neuen Kulturschwelle.
Um die Einheit der Menschheitsgeschichte und der menschlichen Kul-
tur zu versinnbildlichen, greift Frobenius – wie später auch Ernst Jünger70 –
auf Herders Bild des Baumes zurück, dessen Äste die einzelnen Kulturen
verkörpern. Unter dem Einfluss von Frobenius wird Spengler die Lücken in
seinem Geschichtssystem anerkennen. In seiner »zweiten Geschichtsphilo-
sophie«71 will er die Menschheitsgeschichte schildern, indem er sich den pri-
mitiven und früheren »Kulturstufen« zuwendet, die den allgemeinen Sockel,
den Humus für das Aufblühen der Hochkulturen bilden.72 Aber er kann nur
mit Mühe über seinen eigenen Schatten springen, das heißt auf die ›fenster-
losen Monaden‹ seiner Hochkulturen verzichten, die Voraussetzung seiner
vergleichenden Morphologie und seiner Prognostik sind. Das Phänomen
der Weltzivilisation kann er nur in der Form eines ›Posthistoire‹ ins Auge
fassen, in dem nichts kulturell Neues passiert und nur technische Verände-
rungen zu verzeichnen sind.73 Für Spengler hätte Frobenius’ Hoffnung auf
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teten, abgeschlossen. Sie tritt zurück vor dem Vorrecht der Anerkennung der ›Planmäßig-
keit‹, deren Erfüllung das Leben in allen Gestalten der organischen Umwelt, des mensch-
lichen Daseins und der Kultur darstellt. Mit diesem Wandel der Weltanschauung kehrt die
Menschheit zurück in den Bereich der ›Natur‹. Das mechanische Werk ist in hartem Rin-
gen geworden. Die Schlacht ist geschlagen. Als Sieger kehrt die Menschheit zum heimi-
schen Herd zurück. In Ruhe findet sie die Muße, sich auf sich selbst zu besinnen, nach dem
Verlauf des Werdens und dem Sinn des Gewordenen zu fragen. Der Periode der Konzen-
tration auf das Räumliche folgt die der Sinntiefe des Zeitlichen. Der Rausch des Tatsa-
chensinnes verfliegt, und die Wirklichkeit wird wieder sinnvoll. Die intellektuell erschöpf-
te Menschheit ist bereit zu neuer Ergriffenheit«.
70 Ernst Jünger: Sämtliche Werke. 22 Bände. Stuttgart 1978–2003. Bd. 8: Essays II. Der Ar-
beiter. Stuttgart 1981, S. 456: »Die Hauptgefahr der Morphologie ist, daß man den Wald
vor Bäumen nicht sieht«.
71 Siehe die Disposition dazu in Oswald Spengler: Urfragen (Anm. 39), S. 354–360. Inwie-
fern darin die Morphologie eine Rolle spielt, bliebe noch zu untersuchen. Dominico Con-
te geht auf diese zweite Geschichtsphilosophie Spenglers ein (D. Conte: Catene di civilta.
Studi su Spengler. Neapel 1994. Ders.: Oswald Spengler: Eine Einführung. Aus dem Ita-
lienischen übersetzt v. Charlotte Voermanek. Leipzig 2004).
72 Vgl. Oswald Spengler: Frühzeit der Weltgeschichte. Fragmente aus dem Nachlaß. Unter
Mitwirkung v. Manfred Schröter hg. v. Anton Mirko Koktanek. München 1966.
73 Zu allen diesen Problemen siehe Gilbert Merlio: Oswald Spengler. Témoin de son temps.
Stuttgart 1982. Siehe auch die neuere Publikation von Manfred Gangl, Gilbert Merlio u.
Markus Ophälders (Hg.): Spengler. Ein Denker der Zeitenwende. Bern 2009.
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74 »Optimismus ist Feigheit« (Oswald Spengler: Der Mensch und die Technik. Beitrag zu ei-
ner Philosophie des Lebens. München 1931, S. 88).
75 Ebenda.
76 Spengler an Hans Klöres, 14. Juli 1915. In: Oswald Spengler: Briefe (Anm. 38), S. 41–46,
hier S. 44.