Pädagogisches Rollenspiel: Wissensbaustein und Leitfaden für die psychosoziale Praxis
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Pädagogisches Rollenspiel - Manfred Günther
© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019
Manfred GüntherPädagogisches Rollenspielessentialshttps://doi.org/10.1007/978-3-658-22793-7_1
1. Einleitung
Manfred Günther¹
(1)
Berlin, Deutschland
Manfred Günther
Email: email@manfred-guenther.de
Im Leben wird viel gespielt und mehr oder weniger authentisch gelebt. Je entwickelter die Zivilisation, desto mehr wird innerhalb des Alltagslebens inszeniert. Naturvölker kennen dieses Verstellen im unmittelbaren Lebensprozess nicht. Von vielen Naturvölkern ist bekannt, dass sie nicht oder selten lügen. Europäer und Nordamerikaner lügen statistisch betrachtet zwei bis vierzig Mal am Tag. Das kann auch als Rollenspielen betrachtet werden, denn so findet schließlich ein gefälschtes, nicht authentisches Leben statt, ein Schein-Dasein, wenn ich mich verstelle. Hatte Friedrich Nietzsche übertrieben, als er klagte „Die Menschen lügen unsäglich oft?" Heranwachsende tun es, wenn sie Prüfungen zu bestehen haben und nachweislich häufiger auch die Besserverdienenden, oft nur, um sich in ein noch besseres Licht zu setzen. Lügendetektoren können das auch nicht aufdecken, wenn die zu Überprüfenden starke Nerven haben…
„Es gibt kein richtiges Leben im Falschen", sagte Theodor W. Adorno, womit er wohl zum Ausdruck bringen wollte, man solle sich bloß nicht den Sinn für das Richtige nehmen lassen. Tatsächlich findet ja im modernen Familien- wie Berufsleben ständiges Sich-Verstellen statt, also falsches, wenn man so will verlogenes oder rollengespieltes Leben. Auch in weniger entwickelten Kulturen gibt es „natürlich (Rollen-)Spielgeschehen in großem Ausmaß, allerdings dann in rituell-religiösen Kontexten und Zeremonien sowie im Kult. „Kirchen
-Gründer L. Ron Hubbard (Scientology) brachte es auf den Punkt: Man müsse eine Sekte aufziehen wie ein Rollenspiel – mit eigener Sprache, Ideologie, Musik und Kultur, sodass Mitglieder in jedem Moment an ihre Rolle getriggert werden. Freimaurer, ebenfalls elitär-geheim (Arkanprinzip), veranstalten zeremonielle und rituelle Treffen, „Alte Pflichten sowie Tempelarbeit, also Bräuche, in der „Loge
, machen sich chic (zur Standard-Kleidung gehören Schurz, Handschuhe, Bijou sowie auch der hohe Hut) zu einem Live Rollenspiel, förmlich z. B. zu einer vorgeschriebenen Wechselrede zwischen Anwesenden. Ein wenig ähnlich spirituell, aber in Gegnerschaft, hat sich seinerzeit das Rosenkreuzlertum geformt, aber der Aufklärung widersetzt.
„Der Rollenbegriff hat eine anthropologische Komponente: Menschen verhalten sich rollengemäß, (…) weil ihr Handeln gesellschaftlich-sozialen Lernprozessen unterworfen und an Normen orientiert ist (…). R. sind nichts natürliches, sondern Ergebnis von Typisierungs- und Interaktionsprozessen, sind kulturabhängig (…), ein reales, aber auch veränderbares Phänomen zur Regulierung menschliches Zusammenlebens (…)." (Griese, in Kreft und Mielens 2. 1996, S. 467).
Rollenspiele sind – soziologisch betrachtet – eine komplexe Methode zur Aneignung gesellschaftlicher Wirklichkeit. In der allgemeinen Didaktik werden sie seit Jahrzehnten genutzt, um Lernenden zu ermöglichen, sich in das Handeln, Empfinden und Denken von Bezugspersonen einzufühlen. Gleichzeitig lernt man spielerisch, das eigene Handeln besser zu verstehen. Viele renommierte Autoren empfehlen und zeigen Paar- sowie Gruppenspiele im Unterricht (vgl. Bliesener und Brons-Albert 1994; Ernst 1982; Klippert 2008; Rosenberg 2007; Wendlandt Hrsg. 1977; sowie Wendlandt 1979). Gegenstand sind in der Regel Alltagssituationen und Eigenerfahrungen. Rollenspiele werden zunächst in einem geschützten Raum gezeigt. Das simulierte Sprachverhalten bereitet auf die Wirklichkeit vor. Fortgeschrittene können später auch ins Feld hinausgehen und mutig mit Mitbürgern „spielen. Alle Autoren unterstreichen, dass die Bedenken gegen Rollenspiele wie „mir fehlt die Fantasie
, „es entsteht Angst, „man will sich nicht vor anderen produzieren
und „fürchtet, Fehler zu machen in der Praxis widerlegt werden. Die Aufgaben selbst müssen natürlich gut ausgewählt und „entsprechend
sein; rasch kommt Spaß, Spielfreude und bei fast allen Teilnehmenden die Erkenntnis auf, dass das Einüben im Spiel sehr geeignet ist, sich auf Realsituationen einzustimmen. Auf der Suche nach geeigneten Spielideen sind der Fantasie aller TeilnehmerInnen keine Grenzen gesetzt.
Um LeserInnen aus dem Feld der psychosozialen Versorgung im weitesten Sinn (Sozialpädagogik, Psychologie, Erwachsenenbildung, Schule, Hort u. a.) an den Einsatz von Rollenspielen in der Pädagogik heranzuführen, haben wir etwas ausgeholt, um die Hintergründe sowie Kerne des Ansatzes zunächst sowohl in ihrer Entstehungsgeschichte, als auch in Abgrenzung zu ähnlichen Verfahren, die etwas mit „Rollen" zu tun haben, zu zeigen. Deshalb gehen wir am Anfang auch ein auf Theater allgemein und auf seine Spielarten. Alle Feinheiten können natürlich auf dem bereitgestellten Raum