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ZRS 2017; 9(1–2): 78–82

Konstantin Niehaus. 2016. Wortstellungsvarianten im Schriftdeutschen. Über


Kontinuitäten und Diskontinuitäten in neuhochdeutscher Syntax (Germanistische
Bibliothek 58). Heidelberg: Universitätsverlag Winter. 267 S.

Besprochen von Ralf Vogel: Universität Bielefeld, Fakultät für Linguistik und
Literaturwissenschaft, Universitätsstraße 25, D-33615 Bielefeld,
E-Mail: ralf.vogel@uni-bielefeld.de

https://doi.org/10.1515/zrs-2017-0013

Der Autor analysiert in dem vorliegenden Buch (seine Dissertationsschrift, die


2014 an der Universität Augsburg angenommen wurde) drei bereits oft und gut
studierte Phänomene der deutschen Syntax: die Wortstellung insbesondere in
satzfinalen 3-Verb-Komplexen, die Nachfeldbesetzung im deutschen Satz sowie
die NP-interne Position von Genitivattributen. Es ist weniger das Ziel des Buches,
wesentliche Impulse für die strukturelle Analyse der drei syntaktischen Phäno-
mene zu liefern; vielmehr geht es hier darum, bekannte Analysemodelle anhand
einer historischen Rekonstruktion einer kritischen Evaluierung zu unterziehen.
Dabei wird beabsichtigt, mit der Konzentration auf historische Zeitungskorpora
im Neuhochdeutschen auch eine empirische Forschungslücke zu schließen. Was
Konstantin Niehaus dabei herausarbeitet, sind die historischen Kontinuitäten
und Diskontinuitäten in der Wirkungsweise der Prinzipien und Faktoren, die die
Syntax der genannten drei Phänomenbereiche bestimmen, eingeschränkt auf die
durch die Zeitungssprache repräsentierte standarddeutsche Schriftsprache zwi-
schen 1700 und 2013.
Die verwendeten Korpora decken den Zeitraum von 1700 bis 1918 stichpro-
benartig ab. Mit einer Lücke von knapp 100 Jahren wird das 20. Jahrhundert
weitgehend übergangen. Das verwendete Gegenwartskorpus umfasst die Jahre
2010 bis 2013. Für das 18. Jahrhundert greift der Autor auf die Zeitungstexte des
GerManC-Korpus (Durrell et al. 2007) zurück. Die anderen Korpora wurden groß-
teils vom Autor selbst neu zusammengestellt. Geachtet wurde dabei auch auf
regionale und thematische Ausgewogenheit. Bezüglich der Korpusgrößen beste-
hen nicht geringe Unterschiede mit den bekannten Einschränkungen für weiter
zurückliegende Zeiträume. Der Autor selbst schränkt denn auch selbstkritisch
ein, dass die Repräsentativität der zusammengestellten Korpora nicht völlig
absicherbar ist. Soweit ich sehen kann, bewegt sich die Arbeit aber dabei im
üblichen und für historische Korpora möglichen Rahmen. Die Korpora wurden
von Konstantin Niehaus händisch annotiert und quantitativ ausgewertet. Dabei
wird allerdings auf die in der Korpuslinguistik üblichen inferenzstatistischen
Analysen, wie Signifikanztests, verzichtet. Es ehrt den Autor, dass er dieses

Open Access. © 2017 Ralf Vogel, publiziert von De Gruyter. Dieses Werk ist
lizenziert unter der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivatives 4.0 Lizenz.
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Manko selbst einräumt (auch wenn seine Begründung kaum überzeugt). Der Sinn
von Signifikanztests besteht schließlich gerade darin, dass man überprüft, ob
man aus beobachteten Unterschieden zwischen Stichproben, um die es sich hier
zweifellos handelt, auf Unterschiede der Gesamtheiten schließen darf, denen die
Stichproben entstammen. Einfache hier anwendbare Tests, wie etwa der Fisher-
Test oder der Chi-Quadrat-Test, sind auch dem Laien zumutbar. Anhand der vom
Autor bereitgestellten deskriptiven Statistik lassen sich solche Tests auch im
Nachhinein leicht bewerkstelligen. Es trifft sicher zu, dass man sich darauf nicht
blind verlassen darf, aber ohne solche Tests (oder einen Ersatz für sie) verbietet
sich eigentlich jede Bewertung der gezählten Quantitäten. Bewertungen dieser Art
sind bezüglich Kontinuität oder Wandel eines grammatischen Mittels im Zeitver-
lauf in der Arbeit allerdings zuhauf zu finden. Zu diesem Zweck macht man ja
schließlich Korpusauswertungen wie hier.
Der Autor betreibt durchaus umfangreiche deskriptive Statistik. Tabellen und
Diagramme finden sich reichlich. Manchmal wirkt der Umgang mit diesen Mitteln
wenig souverän, so die Diagramme der Abbildungen 6 bis 10, ab Seite 79, deren
Platzerfordernis in umgekehrt proportionalem Verhältnis zu der Anzahl der
jeweils ausgewerteten Belege steht. Abbildung 10 ist der Höhepunkt, denn hier
entspricht fast jedem der wenigen gefundenen Belege einer Kategorie ein riesiger
schwarzer 100 %-Balken für den entsprechenden Zeitraum.

Ich bin etwas skeptisch, ob die weniger offensichtlichen Ergebnisse der


Arbeit für die Forschung einen größeren Gewinn darstellen. Dies ist allerdings
nicht der einzige Mangel, den ich in der Arbeit erkenne (dazu ausführlicher
unten).
Der Aufbau des Buches in fünf Hauptabschnitte neben Einleitung und Zu-
sammenfassung der Ergebnisse ergibt sich aus dem Vorhaben: ein Theoriekapi-
tel, ein Methodenkapitel sowie jeweils ein Kapitel zu den drei untersuchten
Phänomenen.
Das Theoriekapitel stellt die Grundannahmen zur historischen Linguistik vor,
diskutiert die hier grundlegenden Begriffe Kontinuität und Wandel und rezipiert
dabei, was für eine linguistische Arbeit lobend hervorzuheben ist, auch die ein-
schlägige Diskussion in der Geschichtswissenschaft. Auch wenn mir manche
Formulierung des Autors hier zu vage gerät, wird deutlich, dass die sprachhis-
torische Grammatikforschung auch ein Theoriedefizit zu haben scheint: Schon
die synchrone Grammatik einer Sprache als von der Gemeinschaft im Sprach-
gebrauch beachtetes Regelsystem – dem als Teil der „langue“ Existenz als sozia-
les Artefakt zuzusprechen ist – kann ja nicht direkt beobachtet, sondern nur
linguistisch rekonstruiert werden. Umso mehr gilt dies natürlich für ihre Ge-
schichte. Der über Korpora notwendigerweise nur eingeschränkt nachvollzieh-
bare Sprachgebrauch ist nicht einfach ein Abbild der Grammatik, sondern hat
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vielmehr eine eigene Geschichte, die genauso rekonstruiert werden muss wie die
Wechselwirkung von Grammatik und Gebrauch in ihrem historischen Verlauf.
Schon der Klärungsversuch für die Frage, wann genau überhaupt ein Wandel
stattgefunden hat und ob es sich dabei um Grammatikwandel oder Gebrauchs-
wandel handelt – bzw. wie man das empirisch feststellt und auseinanderhält –,
verlangt Antworten auf bislang wenig bearbeitete grammatiktheoretische Grund-
fragen.
Ein solches Grundproblem in der vorliegenden Arbeit sind die Kriterien für
die Unterscheidung zwischen Prinzipien/Regeln der Grammatik einerseits und
Wirkungsfaktoren des Sprachwandels andererseits bei der Analyse eines Phäno-
mens. Der Autor nimmt hier hauptsächlich Anleihen bei den Arbeiten von Vilmos
Ágel (bspw. Ágel 2003, 2010), besonders für die hier wichtige Akzentuierung von
Kontinuität in der Sprach- und Grammatikgeschichte.
Die Teilstudie zur Wortstellung in satzfinalen Verbalkomplexen orientiert
sich methodisch zunächst an den von Härd (1981) verwendeten Kategorien. Für
lediglich vier dieser insgesamt 16 Typen 3- bzw. 4-stelliger Verbkomplexe ist in
den Teilkorpora mehr als nur anekdotische Evidenz zu finden. Die Belege der
zumeist 3-stelligen Verbkomplexe sind nach der Stellung des Finitums eingeteilt
in Voran- (132-Stellung), Zwischen- (312-Stellung) und Nachstellung (321-Stel-
lung). Im Wesentlichen wird der Befund aus anderen Studien bestätigt, dass die
Nachstellung dominant ist. Die Zahlenverhältnisse sind hier auch so eindeutig,
dass statistische Signifikanz selbstverständlich gegeben ist, wie wir das aus ver-
gleichbaren Studien kennen.
Ansonsten zeigen sich die aus der Forschung bekannten Haupttendenzen:
die Tendenz zur Rechtsköpfigkeit der Verbalphrase im Standarddeutschen sowie
die Voranstellung des finiten Auxiliars bei Ersatzinfinitiv im Perfekt. Auch der
Konflikt von Rechtsköpfigkeit und Auxiliar-voranstellung wird anhand der Daten
sowie anhand der breit und gewissenhaft zusammengefassten Literatur beschrie-
ben. Neues oder für die bestehenden Ansätze Herausforderndes fördert die Studie
allerdings nicht zutage, auch wenn der Autor dies hin und wieder zu suggerieren
scheint.
Auch das gehäufte, aber historisch abnehmende Auftreten der afiniten Kon-
struktion, über das schon bei Härd (1981) berichtet wird, findet sich wieder. Da es
genau wie die Voranstellung nur temporale Auxiliare betrifft, spricht der Autor
vom „Auxiliarfaktor“, der neben und entgegen der Nachstellungstendenz als
wesentlicher Faktor wirkt. Hier erwartet der rezensierende Grammatiktheoretiker
nun die Suche nach Erklärungsansätzen. Worin besteht denn dieser Auxiliarfak-
tor? Was macht ihn aus? Der Autor spekuliert lediglich ein wenig darüber, dass
der Auxiliarfaktor desto weniger Wirkung entfalte, „je mehr modale Semantik die
einzelnen Verben bündeln“ (S. 92). Schon die Frage, warum das so sein soll, wird
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aber nicht mehr gestellt. Das Stichwort, das mir hier fehlt, ist Grammatikalisie-
rung, mit der damit einhergehenden phonetischen Reduktion und der auch von
anderen Phänomenen bekannten Tendenz zur Linksversetzung leichter Elemen-
te.
Einigermaßen irritiert bin ich in diesem Zusammenhang über die Einlassung,
dass „phonologische Erklärungen – für den von mir gewählten Zeitrahmen und
zumal für verschriftlichte Sprache – keine historisch verlässlichen Herangehens-
weisen“ seien (S. 58). Denkt man dies konsequent zu Ende, dann dürfte man ja
gar keine historische Phonologie betreiben. Hier geht es konkret um prosodische
Erklärungsansätze zur Stellung in Verbalkomplexen: Wenn man glaubt, dass
Prosodie ein wesentlicher Faktor für das Verständnis des Phänomens in der
Gegenwart ist, dann liefert eine historische Analyse unter Verzicht auf Prosodie
wahrscheinlich nur ein Zerrbild des Phänomens in der Vergangenheit.
Ähnlich unspektakulär wie die Studie zu den Verbalkomplexen verläuft die
Untersuchung zu Ausklammerungsformen. Noch deutlicher als im Falle der Ver-
balkomplexe gilt hier, dass mit der Herausbildung des Satzklammerschemas auch
die Grammatik möglicher Ausklammerungen weitgehend abgeschlossen wurde,
also im Grunde schon zu Beginn der neuhochdeutschen Phase. Niehaus konzen-
triert sich auf Fälle tatsächlicher Ausklammerungen, also auf solche Fälle, für die
eine Mittelfeldplatzierung als Normalfall gelten kann. Die vorrangig ausgewer-
teten Konstruktionen sind restriktive und appositive Relativsätze, Präpositio-
nalphrasen, Konjunktionalphrasen (vor allem Vergleichsausdrücke wie in
„... sehe sie aus wie eine Kampfmaschine“, S. 155) und Nominalphrasen. An Fak-
toren, die eine Ausklammerung begünstigen, wird die Schwere der Konstituente
als wesentlicher Faktor bestätigt. Weiter zeigen sich nur sehr marginale Fälle
ausgeklammerter Nominalphrasen, die nicht über das Gewicht der Konstituente
motivierbar sind.
Die Analyse zu Genitivattributen in NPn fördert zutage, dass diese über die
gesamte neuhochdeutsche Phase hinweg präferiert postnominal realisiert wer-
den. Pränominale Genitive sind bevorzugt Eigennamen und relativ kurz. Auch
dieser Befund ist nicht neu und keine Herausforderung für bestehende Ansätze.
Der Autor geht in seiner Diskussion auf weitere in der Literatur besprochene
Faktoren näher ein, die ebenfalls eine gewisse Relevanz haben könnten, wie
Belebtheit, flexionsmorphologische Eindeutigkeit, verschiedene semantische
Funktionen des Genitivs. Auch hier werden im Wesentlichen bekannte Befunde
bestätigt.
Eine ungünstige methodische Einschränkung dieser Teilstudie besteht darin,
dass der analytische präpositionale Genitiv mit von nicht in die Studie einbezogen
wird. Schließlich ist der Genitivabbau eine Entwicklung des Neuhochdeutschen,
und am Zahlenverhältnis postnominaler morphologischer und präpositionaler
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Genitive ließe sich gerade auch anhand historischer Korpora ein guter Überblick
über den Verlauf des Wandels im Genitivgebrauch gewinnen. Inwiefern es ein
Manko darstellt, dass darüber hinaus die s-Possessiva bei Feminina (wie in
Marias/Mutters Bücher) nicht eigens analysiert, sondern einfach unter Genitiv
subsumiert werden, vermag ich nicht zu sagen. Auch hier fehlt mir jedenfalls
gerade auch im postnominalen Bereich die relative Gebrauchshäufigkeit von
Mustern wie die Bücher Marias, die Bücher der Maria, die Bücher von Maria über
die untersuchten 300 Jahre hinweg, um einen aussagekräftigen Gesamteindruck
zu bekommen.
Der wesentliche Gewinn des Buches besteht in den erhobenen Daten, die
sicher als Vergleichsmaßstab für künftige Untersuchungen verwendet werden
können. Es ist nun durchaus nicht so, dass darüber hinaus keine weiterführenden
theoretisch gewichtigen Fragen aufgeworfen werden. Im Gegenteil, das geschieht
permanent. Sie werden aber viel zu selten wirklich vertieft angegangen. Zu oft
verbleibt der Autor im Unentschiedenen oder verweist auf weitere künftige Arbei-
ten. Selbst die substantielleren Äußerungen zum Zusammenhang von Gramma-
tikschreibung und empirischer Erforschung der Sprachgebrauchsgeschichte ver-
bleiben auf einer programmatischen Ebene und sind, zumindest für meine
Begriffe, zu wenig mit dem empirischen Kern der Arbeit verbunden, mit den drei
Teilstudien, in denen sich der Autor zu schnell zu sehr in Details verliert.

Literatur
Ágel, Vilmos. 2003. Prinzipien der Grammatik. In: Anja Lobenstein-Reichmann & Oskar Reich-
mann (Hg.). Neue historische Grammatiken. Zum Stand der Grammatikschreibung histori-
scher Sprachstufen des Deutschen und anderer Sprachen (Germanistische Linguistik 243).
Tübingen: Max Niemeyer, 1–46.
Ágel, Vilmos. 2010. +/–Wandel. Am Beispiel der Relativpartikeln so und wo. In: Dagmar Bittner &
Livio Gaeta (Hg.). Kodierungstechniken im Wandel. Das Zusammenspiel von Analytik und
Synthesetechniken im Gegenwartsdeutschen. Berlin, New York: De Gruyter, 199–222.
Durrell, Martin, Astrid Ensslin & Paul Bennett. 2007. GerManC. A historical corpus of German
1650–1800. In: Sprache und Datenverarbeitung 31, 71–80.
Härd, John Evert. 1981. Studien zur Struktur mehrgliedriger deutscher Nebensatzprädikate. Dia-
chronie und Synchronie. Göteborg: Acta Universitatis Gothoburgensis.

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