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LUX-LESEBOGEN
NATUR- UND K U L T U R K U N D L I C H E HEFTE
FRITZ BOLLE
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greift zuerst nach dem dunklen, sonderbar geformten Stein, der
wie ein großes, flaches Schneckenhaus aussieht. Kräftige knotige
Leisten gliedern den schraubig aufgewundenen Umgang, und wenn
man ihn genau betrachtet, den merkwürdigen Stein, so erkennt man
feine Linien, die sich in schwingenden Wellenzügen vom Außen-
rand nach innen ziehen. An einem glückhaften Tag habe ich den
Stein aufgelesen, am Rand einer Straße, die über die kargen Felder
der thüringischen Hochfläche führt. Wir waren jung, freuten uns
an Sonnenschein und Vogelgesang; ab und zu bückte sich einer
von uns hinab zu den Haufen von Steinen, die der Bauer von
seinem Acker rafft und auf den Feldrain, an den Straßenrand wirft.
Wir suchten Versteinerungen — Reste eines längst vergangenen
Lebens der Vorzeit, und die Steinhaufen boten solche Sammelstücke
in reicher Fülle.
Uralt sind die Versteinerungen, unvergleichlich älter als jedes
Menschengedenken. Dieser schneckenhafte Stein auf meinem Schreib-
tisch ist seine hundertfünfundsiebzig Millionen Jahre alt — eine
Zahl, die wahrhaft schwindeln macht, und er ist nicht der Rest
einer Schnecke, sondern das Überbleibsel von der Schale eines
Tintenfisches. Hier, wo heute der Pflug seine Furchen zieht, wo
die Lerche jubelnd zum Himmel steigt, hier flutete damals ein
weites Meer. Die Kalkschale eines gestorbenen Tintenfisches sank
hinab auf den Meeresgrund, und feiner Schlamm füllte sie bis
in den letzten Winkel. Jahrtausend um Jahrtausend verging, Jahr-
hunderttausend um Jahrhunderttausend. Der Schlick verhärtete
unter dem Druck der sich türmenden Schlammassen, wurde zu
Stein. Und wieder vergingen Jahrmillionen. Wo einst Meeresfluten
rauschten, ragten nun Gebirge zum Himmel. Längst war die feine
Kalkschale aufgelöst, verwittert. Der Schlammkern aber, zu festen
Stein umgeformt, hatte ihre einstige Gestalt aufs feinste bewahrt,
wie der Gipsausguß einer Hohlform. Als im Laufe weiterer Jahr-
tausende und Jahrmillionen der einst gleichmäßige Meeresschlamm
von gewaltigen Kräften zerbrochen, zerstückelt und in immer
kleinere Steine verwandelt wurde, fiel auch der Steinkern aus seiner
Umhüllung. Und so geriet er schließlich auf den Acker, war vom
Bauern aufgelesen und achtlos beiseite geworfen worden. Und
nun liegt er auf dem Schreibtisch und redet von Jahrmillionen,
wenn man ihn nur richtig zu befragen versteht. Dieses Fragen
freilich haben die Menschen erst vor wenig mehr als hundert
Jahren gelernt — in derselben Gegend übrigens, aus der mein
Tintenfisch-Stein stammt, in Mitteldeutschland.
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Von der geheimnisvollen Formkraft
Solange es Menschen gibt, haben die Versteinerungen einen
eigenartigen Reiz auf sie ausgeübt. Aus uralten Tagen, von denen
nur steinerne Werkzeuge zeugen, kennt man Funde, die beweisen,
daß schon der Mensch der Steinzeit da und dort Versteinerungen
aufnahm, zusammentrug, sammelte — aus einem Spieltrieb viel-
leicht oder weil ihm die Formen der Fundstücke gefielen. Und
etwa zur gleichen Zeit, da am Ostseestrand ein Germane jene
Bronzefibel verlor, deren Rest vor mir liegt, hat in Mitteldeutsch-
land, im Anhaltischen, ein Mensch zum ersten Mal wohl systema-
tisch und mit Bedacht Versteinerungen gesammelt und vergleichend
beobachtet. In einer Aschenurne aus jener Zeit fand man eine
regelrechte Sammlung von Gehäusen ausgestorbener Schnecken, die
offenbar mit viel Aufmerksamkeit und Liebe zusammengetragen
war: 58 verschiedene Arten, und von jeder war ein Exemplar vor-
handen oder deren zwei. Daß der Besitzer an dieser seiner Samm-
lung besonders gehangen hat, beweist die Tatsache, daß man sie
ihm mit ins Grab gegeben hat.
Wir wissen nicht, was dieser Bronzezeit-Mensch sich bei der
vergleichenden Betrachtung seiner Schneckengehäuse gedacht hat.
Erst aus dem Lande" des Aufgangs der abenländischen Kultur, aus
Alt-Griechenland, liegen die ersten Zeugnisse von Versuchen vor,
die Versteinerungen zu deuten. Im siebenten vorchristlichen Jahr-
hundert findet der Philosoph Xenophanes von Kolophon Abdrücke
versteinerter Fische und anderer Meerestiere, macht sich Gedanken
darüber und meint, daß der Fundort einst von Meerwasser über-
flutet gewesen sei und daß sich die Gesteine aus dem Schlamm am
Meeresboden gebildet und dabei die tierischen Reste eingebettet
hätten. Diese Erklärung, die sich auch bei anderen Denkern des
alten Griechenlands findet, mutet durchaus modern an. Um so ver-
wunderlicher ist es, daß sie wenige Jahrhunderte später um einer
anderen Lehrmeinung willen völlig aufgegeben wurde. Der große
Denker Aristoteles (384—322 vor Christus), der Schüler Piatos und
Lehrer Alexanders des Großen, war es, der sie begründet hat. Er
behauptete, es gebe eine Lebenskraft, so mächtig, daß sie aus totem
Stoff lebende Wesen zu schaffen in der Lage sei — Fliegen aus
faulendem Aas, Frösche aus nasser Erde, Aale aus dem Schlick
der Teiche und Flüsse. Was lag näher als anzunehmen, daß diese
formende Lebenskraft sich auch an den festen Gesteinen versuchte
und ihnen ihren Willen aufprägte. Freilich — der harte Stein
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setzte der Formkraft stärkeren Widerstand entgegen als Schlamm,
nasse Erde oder Faulendes; so konnte nichts Lebendes aus dem
Stein entspringen, wohl aber der Stein wenigstens die Gestalt von
Lebendem annehmen — von Muscheln und Schnecken, Fischen und
Pflanzen. Dort, wo die Kraft offenbar nicht stark genug war,
kamen nur Teile lebender Wesen, von Knochen und Schädeln
zustande.
Zweitausend Jahre hindurch hat diese Lehre von der formenden
Lebenskraft und ihrem Einfluß auf das Entstehen der Versteine-
rungen geherrscht, selbst zu einer Zeit noch, als überall in Europa
gelehrte und ungelehrte Herren begannen, Versteinerungen zu
sammeln und in Kuriositäten-Kabinetten auf- und auszustellen.
Einzelne erleuchtete Geister, unter ihnen der Geistesriese Leonardo
da Vinci, waren zwar durch Beobachtung und Nachdenken zum
gleichen Ergebnis gekommen wie die frühen Griechen vor Aristoteles;
die Mehrzahl der Forscher und Sammler aber hielt noch bis ins
18. Jahrhundert hinein die Versteinerungen für Gebilde, die unter
dem Einfluß einer „vis formativa" oder „vis plastica" entstanden
seien — eben einer formenden Lebenskraft, Folge geheimnisvoller
Strahlungen von den Sternen und Planeten herab oder als ein-
fache „lusus naturae", als Spielereien der Natur. Noch verworrener
war schließlich die anno 1699 von dem Engländer Eduardus
Luidius und von manch anderen, sonst sehr ernsthaften Natur-
forschern vorgetragene Lehre, Keime von Fischen und änderen
Meerestieren stiegen mit dem verdunstenden Wasserdampf auf,
würden von den Wolken übers Land getragen, mit dem Regen ins
Innere der Erde gespült und befruchteten dort die Gesteine, die
daraufhin die Gestalt lebender Wesen annehmen müßten. Sie
konnten sich einfach nicht vorstellen, daß sie Reste einstmals
lebender Wesen vor sich hatten. Und noch 1819 meinte ein um
seine Wissenschaft durchaus verdienter Gelehrter, die Versteine-
rungen seien nichts anderes als vorzeitig abgebrochene Versuche
der Natur, aus Unbelebtem Lebewesen zu schaffen; die Pflanzen-
abdriicke in den Steinkohlenlagern Schlesiens beispielsweise seien
„eine Entwicklungsfolge ungeborener Pflanzenkeimlinge im Erden-
schoß". Aber damals hatte die Lehre von den Versteinerungen be-
reits eine weitere Erkenntnisstufe hinter sich gebracht, die Meinung
nämlich, alle Versteinerungen seien Zeugen der Sintflut.
5
Jacobus Scheuchzer, der Medizin Doctor und der Mathematik
Professor zu Zürich, eine großartige Entdeckung an: Ein
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Gängen des Gesteins lebendig erhalten haben, in denen heute
nach Uran geschürft wird, blühte im Mittelalter ein hochentwickelter
Bergbau. Uralt war seine Tradition. Mit Hauwerkzeugen aus
Hirschhorn und Feuerstein hatten die ältesten Bergleute schon
dreitausend Jahre vor Christus am Lousberg im Norden von
Aachen und auf Rügen unverwitterten Feuerstein aus der Kreide
gebrochen; am Mitterberg bei Salzburg wurde schon zweitausend
Jahre vor Beginn der christlichen Zeitrechnung Kupfer im Tag-
und Tiefbau gewonnen. Im Harz grub man nach Silber schon im
ersten nachchristlichen Jahrtausend, gegen 1200 entstanden die
Silberbergwerke Sachsens, und um dieselbe Zeit begann man, im
Mansfeldischen Kupfer abzubauen. Bis zur Entdeckung der Neuen
Welt war Deutschland das an Metallen reichste Land; Kaiser
Karl V. nannte im Jahre 1525 die Bergwerke „die größte Gabe
und Nutzbarkeit, die der Allmächtige dem deutschen Lande ge-
geben hat", und die Fugger und Welser verdankten ihren märchen-
haften Reichtum nicht zuletzt den deutschen Erzgruben. Blei ge-
wann man in der Eifel, Gold in Böhmen und Mähren, Salzburg
und Kärnten, Kupfer in Tirol und in Schlesien, Eisen in der
Steiermark, im Sieger- und Sauerland, im Harz, in Thüringen und
im Fichtelgebirge.
Dort, wo die Wiege des bis heute ununterbrochen betriebenen
Kupferschiefer-Bergbaues gestanden hat, im Mansfeldischen, dort,
wo die Bergknappen uraltes Wissen von den Gesteinsschichten
7
und Fossilien" veröffentlichte, war nicht mehr oder weniger als
die Begründung der neuzeitlichen Wissenschaft vom Aufbau der
Gesteinsrinde unserer Erde, von ihrem geschichtlichen Werden und
von den dabei wirkenden Kräften. Es ist die Wissenschaft der
Geologie, die Kunde von der Erde (im Gegensatz zur Geographie
als der Beschreibung der Erde). Mit Flözgebirgen hatte sich Berg-
rat Lehmann „aus eigener Wahrnehmung" beschäftigt: und er hatte
sehr genau auch auf die „Fossilien" in diesen Flözen geachtet,
also auf die in ihnen enthaltenen Versteinerungen. Flöz — so
nannten die Bergleute eine Gesteinsschicht; Lehmann hatte Schicht
über Schicht beobachtet, miteinander verglichen und schließlich
dabei erkannt, daß bestimmte Schichten regelmäßig aufeinander
folgen. Diese Schichtenfolge zeichnete er in einem gedachten Quer-
schnitt durch das Gebirge bildlich auf — und dieser Lehmannsche
Erdschnitt ist das erste „geologische Profil".
Schichtenfolgen zeichnet auch der Rudolstädter Hofmedicus
Georg Christian Füchsel auf, fünf Jahre später als Lehmann. Er
faßt verschiedene Schichtengruppen bereits zu Formationen zu-
sammen und setzt diese Formationen mit den zeitlichen Ab-
schnitten der Erdvergangenheit gleich, in denen sich die Schichten
einst abgelagert haben. Füchsel weiß auch bereits, daß manche Ver-
steinerungen in ganz bestimmten Schichten oder Schichtengruppen
regelmäßig wiederkehren.
Abermals vierzehn Jahre später, 1775, wird der damals erst
fünfundzwanzigjährige Abraham Gottlob Werner an die kurz zu-
vor begründete Bergakademie zu Freiberg in Sachsen berufen. Hier
hält er seine Vorlesungen über Mineralien und Gesteine, und sein
Einfluß zieht die ganze gebildete Welt in den Bann seiner Wissen-
schaft. Bis weit in das nächste Jahrhundert hinein wird die Geologie
zur bevorzugten Liebhaberei; Goethe und Alexander von Humboldt,
Novalis und Theodor Körner — diese vier Großen mögen für die
vielen Namen führender Geister stehen, deren Denken und Dichten
sich immer wieder um geologische Fragen bewegt.
Was Lehmann und Füchsel begonnen, führt Werner fort: Vier
räumlich übereinander liegende, zeitlich aufeinander folgende
geologische Abteilungen glaubt er unterscheiden zu können: Das
„Urgebirge", womit er die kristallinen, von jederlei versteinertem
Best ehemaliger Lebewesen freien Schiefer meint; er kennt sie aus
dem Sächsischen Erzgebirge, sie bilden die unterste und älteste
Schicht. Ihr folgt das „Übergangsgebirge", diesem das „Flöz-
gebirge", dem schließlich das „aufgeschwemmte Gebirge" überlagert
a
ist. Im Großen und Ganzen entsprechen diese vier Abteilungen der
noch heute gültigen zeitlichen Einteilung der Erdgeschichte: der
Urzeit, dem Erdaltertum, dem Erdmittelalter und der Neuzeit.
Doch ehe man zu dieser Gliederung kam, bedurfte es noch weiterer
Erkenntnisse. Den ersten Schritt zu ihnen machte William Smith.
William Smith — einfacher und alltäglicher kann ein englischer
Name kaum sein. Und wie der Name, so war sein Träger — ein
bescheidener, nachdenklicher Ingenieur und Landmesser. Aber er
hatte Augen im Kopf, und er hatte mehr —• einen scharfen Ver-
stand. Jahr um Jahr machte er in seiner ruhigen Art Beobachtung
um Beobachtung, wenn er bei der Vermessung für Kanalbauten
den tiefen Einschnitten in das Gelände gegenüberstand. Ihm fiel
dasselbe auf, was schon Füchsel gemerkt hatte, daß gewisse Ver-
steinerungen immer und immer wieder an ganz bestimmte Schichten
gebunden waren. Er sammelte solche Fossilien, erzählte dem einen
oder anderen von seinen Funden. Seine Untersuchungen ver-
öffentlichen? Er dachte nicht daran; mit Mühe und Not brachte
man ihn dazu, seine ungewöhnlich genauen Arbeiten über die Auf-
einanderfolge, Lagerung und das Vorkommen der Schichten in
weiten Gebieten Englands drucken zu lassen. „Strata Identified by
Organized Fossils — Schichten, durch versteinerte Lebewesen identi-
fiziert", so heißt sein geniales Hauptwerk aus dem Jahre 1816. Es
gibt Fossilien —• das ist die großartige Erkenntnis, die wir William
Smith verdanken —, die für eine ganz bestimmte geologische Schicht
oder Formation (aber nur für diese!) charakteristisch sind; man
kann deshalb umgekehrt die betreffenden Schichtenfolgen am Vor-
kommen eben dieser „Leitfossilien" erkenne^, kann neu entdeckte
Vorkommen nach solchen Leitfossilien in die bereits bekannte
Formationsfolge einordnen und sich so ein klares Bild vom Früher
oder Später machen.
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langen Zeiträumen alle geologischen Gebilde zerstört, so baut es
auch auf, bildet in ebenso langsam ablaufenden, unermeßlichen
Zeiten neue Mineralien und Gesteine, neue Formen und Gestalten.
Neptun ist der Gott des Wassers, und Neptunisten nannte man
damals all die, die wie Werner und Goethe an das Wasser als die
einzige treibende Kraft geologischen Werdens und Vergebens
glaubten.
Pluto — das ist der Gott der feurigen Gluten der Unterwelt.
Plutonisten nannten sich die Gegner der Neptunisten. Werners be-
gabteste Schüler Alexander von Humboldt und Leopold von Buch
waren es, die dieser neuen, der Anschauung ihres Lehrers direkt ent-
gegengesetzten Meinung zum Durchbruch verhalfen: Nur mit dem
Wirken unterirdischer, feurigflüssiger Glutmassen sei die Ent-
stehung des „Urgebirges", der kristallinen Gesteine, des Basalts, des
Porphyrs, des Gneises zu erklären. Jetzt war nicht mehr die Rede
vom leisen, stetigen Wirken des Wassers, jetzt erwartete man alles
geologische Heil von wilden Vulkanausbrüchen, von gewaltsamen
Aufstiegen glühend geschmolzener Massen, von Katastrophen. Grol-
lend wandte sich Goethe, dem alles Unstetige, alles revolutionär
Umwälzende verhaßt war, gegen die, die ein neues geologisches
Weltbild mit „Drücken, Stoßen und Schmeißen" zu schaffen sich an-
schickten. Es half nichts: Wie einst Werners Autorität den Sieg des
Neptunismus gesichert hatte, so stand nun hinter den Katastrophen-
machern, hinter den Vulkanisten und Plutonisten der große Franzose
Cuvier. Er kannte und überschaute wie kein anderer die Formen-
fülle der versteinerten Tiere und hatte sich eine ganz eigene
Meinung vom Werden der Erde und der Lebewesen gebildet. Ihm
war nämlich aufgefallen, daß die Tierwelt zweier aufeinander-
folgender erdgeschichtlicher Epochen oft außerordentlich ver-
schieden gestaltet war. Da schien keinerlei Übergang von einer
Formation zur nächsten zu bestehen. Was blieb übrig, als anzu-
nehmen, daß am Ende eines jeden geologischen Zeitabschnittes eine
gewaltige, erdumspannende Katastrophe — riesige Überschwem-
mungen oder ungeheure Vulkanausbrüche — alle Lebewesen dahin-
gerafft habe und nun mit Aufgang des nächsten Zeitalters ein neuer
Schöpfungsakt die verwüstete und leere Erde mit neuen Geschöpfen
belebt habe.
Dieser Katastrophentheorie, der die Erdgeschichte nichts anderes
war als eine Folge gewaltiger Revolutionen, trat schon zu Goethes
Zeiten und in Gestalt von Goethes Freund Carl Ernst Adolf von
Hoff eine andere Lehre entgegen. Sie wollte keinerlei wilden Um-
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brüche, auch nicht in der entferntesten Erdvergangenheit, sondern
meinte, schon damals hätten dieselben Kräfte am Aufbau und Ab-
bau der Gesteine und Gebirge gewirkt wie auch heute noch. Zum
Sieg kam diese Aktualitätstheorie, durch das im Jahre 1833 er-
schienene Werk „Principles of Geology" des Engländers Charles
Lyell. Stetige Entwicklung, wie im Geologischen so auch in der
Pflanzen- und Tierwelt, ein Hervorgehen jüngerer Geschlechter aus
älteren, höher organisierter Lebewesen aus einfacheren — das war
schließlich der Inhalt der Entwicklungs- und Abstammungslehre von
Charles Darwin, die er in seinem klassischen Werk von der Ent-
stehung der Arten (1859) niedergelegt hat.
Entwicklung — das war das Zauberwort, unter dem die folgenden
Jahrzehnte der erd- und lebensgeschichtlichen Forschung standen.
Und auch heute noch ist der Entwicklungsgedanke eines der leiten-
den Motive der Geologie ebenso wie der Paläontologie, der Wissen-
schaft von den Lebewesen der Erdvergangenheit. Heute aber weiß
man in beiden Wissenschaftszweigen, daß Neptunisten und Pluto-
nisten, daß Goethe und Cuvier recht hatten: Die erdgeschichtliche
Entwicklung und das Werden der Lebewesen während ihres Ablaufs
vollziehen sich im allgemeinen langsam und stetig. Plötzlich aber
kann es hier oder dort in der Erdrinde zu katastrophalen Um-
wälzungen kommen; und auch im Reich der Lebendigen kennt man
Zeiten geradezu explosiver Entwicklung.
Die Erdzeitalter
Was in den seitdem vergangenen gut hundert Jahren von
Tausenden von Forschern aus allen Teilen der Erde an Wissen über
den Gang der Erdgeschichte zusammengetragen worden ist, wird
heute in Urzeit, Altertum, Mittelalter und Neuzeit gegliedert —
ganz so, wie man auch die Geschichte der Menschheit unterteilt. Jedes
dieser vier Zeitalter umfaßt mehrere Formationen, die wiederum in
Epochen zerfallen. Unterabteilungen der Epochen sind schließlich
die Stufen. Entscheidend für die Zuordnung zu einer dieser Ab-
teilungen ist nicht die Gesteinsbeschaffenheit einer Schicht; denn
die Ausbildung der verschiedenen Gesteine hängt nicht von ihrem
Alter ab, sondern von der Art und vom Ort ihrer Entstehung. Kalk-,
gesteine, Sandstein oder Kohlen können in allen Erdzeitaltern ent-
stehen und sind auch in jedem Zeitalter entstanden. Erst die Ver-
steinerungen, die Fossilien, gestatten die richtige Einordnung einer
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Schicht. Aus der genauen Untersuchung der versteinert vorgefun-
denen Lebewesen unter gleichzeitiger Berücksichtigung der Gesteins-
art, in der sie eingebettet liegen, lassen sich weitreichende Schlüsse
auf den Lebensraum ziehen, in dem die Schicht entstanden ist
—• festes Land, Wüste, Sumpf, Süßwasser, Meeresboden, freie See —,
oder auf das Klima und auf vieles andere mehr. Erstes Kennzeichen
einer Schicht ist jedenfalls immer das Leitfossil; da die Tierwelt
die weit überwiegende Zahl von Leitfossilien gestellt hat, sind
die großen Erdzeitalter in der Sprache der Wissenschaft nach dem
griechischen Wort „zoon" für Tier benannt: Neozoikum oder Käno-
zoikum, das ist die Erdneuzeit, wobei „neos" und „kainos" dasselbe
bedeuten, nämlich „neu". Mesozoikum ist das Erdmittelalter (nach
griech. mesos, mittel), Paläozoikum das Erdaltertum (palaios be-
deutet alt). Für die Urzeit der Erde hat sich eine andere Bezeichnung
eingebürgert. Man nennt sie Präkambrium, das ist die Zeit vor dem
Kambrium als der ältesten Formation des Erdaltertums. Dieses
Präkambrium aber gliedert sich wiederum in zwei Unter-Abteilun-
gen, das Eozoikum und das Azoikum. Eos ist die griechische Göttin
der Morgenröte, das Eozoikum ist also die Zeit des Aufgangs des
Lebens auf unserer Erde, während die Vorsilbe a- die Bedeutung
„ohne" hat: Das Azoikum ist die Zeit, da es noch keinerlei Lebe-
wesen auf unserem Heimatgestirn gegeben hat.
Mit Hilfe der Leitfossilien kann man nun zwar eine Schicht nach
Zeitalter, Formation, Epoche und Stufe einordnen, kann genau
sagen, daß sie älter ist als diese, jünger als jene — nichts aber
vermag dieses Verfahren der Altersbestimmung auszusagen über
das wirkliche Alter. Leitfossilien und Schichtenfolge können nur
Verhältniswerte geben, können nur das „relative Alter" bestimmen.
Will man das „absolute Alter" einer Schicht, einer Epoche, einer
Formation kennen, so heißt es andere Wege gehen. Erst in unseren
Tagen hat man den richtigen gefunden.
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haben diese Zahlen schon in der ersten Blütezeit europäischen
Denkens keine volle Befriedigung geben können: Herodot, der
große Geschichtsschreiber des alten Hellas, versuchte im 5. Jahr-
hundert vor Christus bereits, aus Beobachtungen über die Ab-
lagerungen des Nils Schlüsse auf erdgeschichtliche Zeitabläufe zu
ziehen. Und als — nach vielen Jahrhunderten, in denen dem abend-
ländischen Menschen die mittelalterliche Ausdeutung der Heiligen
Schrift genügt hatte — mit dem Beginn der Neuzeit Bildungsgut
und Denkart des klassischen Altertums neu entdeckt wurden, war
auch sofort wieder die uralte Frage da. Leonardo da Vinci, gleich
überragend als Maler wie als Bildhauer, als Forscher wie als Techni-
ker, stellt sie als einer der ersten schon im 15. Jahrhundert, und
im Jahre 1715 gibt der Astronom Halley bereits ein recht ein-
leuchtendes Mittel an, „das Alter aller Dinge zu schätzen": Wenn
man annehme, daß die heute salzigen Meere einst aus reinem
Wasser bestanden und erst die Flüsse ihnen die Salze zugeführt
hätten, so müsse man doch aus der Größe der Weltmeere, ihrem
Salzgehalt und der Menge der jährlich von den Flüssen ins Meer
getragenen Salzmengen das Alter der Meere und damit den Zeit-
punkt der Weltschöpfung errechnen können. Einen anderen Weg
ging der Graf de Buffon (1707—1788), der berühmte Verfasser der
„Histoire Naturelle", der ersten lebendig geschriebenen, die ganze
Fülle aller Naturreiche umfassenden „Naturgeschichte". Er ver-
suchte, aus der Geschwindigkeit der Abkühlung weißglühender
Eisenkugeln auf die Dauer des Erkaltens der Erde und damit auf
ihr Alter zu schließen. Die von ihm gefundene Zahl von rund 75 000
Jahren erschien damals ungeheuerlich groß. Fern aller Spekulation
aber legte ein deutscher Zeitgenosse Buffons, derselbe Georg
Christian Füchsel, der die Schichtenfolge in Thüringen aufgezeichnet
hatte, den Grund für eine erdgeschichtliche Forschung. „Wer die
ganze Höhe, Zahl und verschiedene Stärke der Schichten des
Muschelkalks (so hatte er eine der Formationen genannt), den Ge-
halt der Muscheln nach ihrem Alter nebst dem Bestände der Kalk-
erde oder des ehemaligen Meeresschlammes nur ungefähr zu schätzen
versucht, wird den Zeitraum, innerhalb dessen dieses alte Meer eine
so große Menge Schlamm absetzte, soviel Seetiere großzog und
dabei erst jeder Schicht von Schlamm die Härte, wodurch sie sich
von der anderen absondern läßt, geben konnte, unmöglich durch
ein paar hundert Sonnenjahre bestimmen wollen."
Aber erst die Methode der Leitfossilien hat, als in der ersten
Hälfte des vorigen Jahrhunderts die ausgestorbenen Lebewesen
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immer genauer erforscht und in der zweiten Hälfte des Jahr-
hunderts ihre Entfaltung als eine in der Zeit ablaufende Entwick-
lung begriffen wurde, eine immer feinere Aufgliederung der
Formationen ermöglicht.. Man konnte nun zwar sehr genau sagen,
diese Schicht sei älter als jene, man konnte ein Fossil ins Paläo-
zoikum einordnen, ins Erdaltertum, ein anderes ins Erdmittelalter,
konnte immer feiner unterteilen nach Formation, Epoche, Stufe —
man konnte jedoch keine Aussagen darüber machen, wieviele Jahre,
Jahrhunderte, Jahrtausende oder gar Jahrmillionen die Bildung
dieser Ablagerungen gedauert hat, ebenso wenig, wie man sagen
konnte, welche Zeiträume seitdem verflossen sind. Man mußte sich
mit Schätzungen begnügen, bis man endlich mit der Entdeckung der
Radioaktivität eine „erdgeschichtliche Uhr" fand. Dieselben strah-
lenden Elemente, die wie das Radium der leidenden Menschheit
Genesung brachten, ermöglichten es auch, nicht nur wie zuvor eine
relative Zeitspanne der Erdgeschichte abzugrenzen, sie erlaubten
auch eine absolute geologische Zeitrechnung. Das gleiche Uran, das
seit der ersten Atombomben-Explosion zum Albdruck der Mensch-
heit geworden ist, wurde für die Geologen zum echten und rechten
„Stein der Weisen".
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steht man diejenige Zeit, in der sich jeweils die Hälfte der anfäng-
lich vorhandenen Menge umwandelt, wobei es gleichgültig ist, von
welcher Menge man ausgeht. Das Radium zum Beispiel, das man in
den Krankenhäusern zum Bestrahlen bösartiger Geschwülste ver-
wendet, hat eine Halbwertzeit von 1590 Jahren — das heißt, ein
Milligramm Radium zerstrahlt im Laufe von anderthalb tausend
Jahren so weit, daß dann nur noch ein halbes Milligramm übrig
ist. Und diese Halbwertzeit hält es genauestens ein, gleichgültig
ob man es bei Zimmertemperatur und unter normalem Druck auf-
bewahrt oder ob man es auf mehrere tausend Grad Celsius erhitzt
und mit vielen Tausenden von Kilogramm auf den Quadratzenti-
meter belastet. Uran hat eine Halbwertzeit von viereinhalb Milliar-
den Jahren, das Actinium B, ebenfalls ein strahlendes Element, eine
solche von sechsunddreißig Minuten, das Thorium C aber gar eine
solche von einer hundertmillionstel Sekunde.
ig
angaben machen. Ein ganz anderes Verfahren hat man schließlich für
die letzten sechshunderttausend Jahre der Erdgeschichte. Aus lang-
periodischen Veränderungen der Bahn, die unsere Erde um die
Sonne beschreibt, kann man in schwierigen mathematischen Be-
rechnungen die jeweiligen Schwankungen in der Stärke der Sonnen-
einstrahlung ermitteln. Die so aufgestellte „Strahlungskurve" — sie
stammt von dem jugoslawischen Forscher Milankowitsch — stimmt
sehr schön mit den Angaben überein, die auf Grund anderer Be-
obachtungen und Überlegungen für die einzelnen Abschnitte der
jüngsten Erdvergangenheit, der großen Eiszeit, getroffen worden
sind.
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zwischen den Weltkörpern herrschen, zu einer Kugel geballt, ziehen
sie ihre Bahn um die Erde — als unser guter alter Mond. Die Narbe
aber, die jenes Meteor der Urzeit in die Haut unserer Erde ge-
schlagen hat, sei nichts anderes als der Stille Ozean!
Nichts hindert uns anzunehmen, daß das Leben so alt ist wie
die ältesten uns überlieferten Gesteine: es gibt sogar eine Reihe
gewichtiger Gründe, die für diese Auffassung sprechen. Denn in
voller Entfaltung und reicher Gliederung tritt uns das Leben bereits
am Anfang des Erdaltertums entgegen, das vor rund 500 Millionen
Jahren begonnen hat. In den Gesteinen, die zur Kambrium-
Formation gehören, finden sich die Reste von Urtierchen und Algen,
von Schwämmen und muschelähnlichen Armfüßlern, von ersten
Schnecken, von Tintenfischen und von den berühmten Trilobiten,
den 'dreifach gegliederten urtümlichen „Urkrebsen", die freilich
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kohlige, kieselige, kalkige Einsprengsel selbst in den ältesten Ge-
steinen sind sicherlich Zeugen einstigen Lebens, bis zur Unkenntlich-
keit umgeformte Reste einst lebender Körper und ihrer schützenden
Schalen und Panzer.
Das Kambrium hat seinen Namen nach der altrömischen Be-
zeichnung des heutigen Nord-Wales in England, wo man Gesteine
dieser Formation erstmals untersucht hat. Aus derselben Gegend
stammt auch die Bezeichnung der nächstjüngeren Formation, des
Silur. Die Silurer waren ein keltischer Volksstamm in Wales, genau
wie die Ordovicier, nach denen die ältere der beiden Abteilungen
des Silur heißt. Die jüngere Abteilung nennt man Gotlandium nach
der großen zwischen Südschweden und Lettland gelegenen Ostsee-
insel Gotland, auf der man besonders schöne Aufschlüsse des oberen
Silur mit zahlreichen Versteinerungen aufgedeckt hat. Auch das
Silur ist noch Trilobiten-Zeit; charakteristischer für diese Formation
sind aber höchst merkwürdige Lebewesen, deren plattgedrückte
Überreste manchmal an rätselvolle Schriftzeichen erinnern und die
deshalb Graptolithen genannt werden (nach griech. graphein, schrei-
ben, und lithos, Stein). Viele Forscher haben sich mit den geheimnis-
vollen Versteinerungen der Graptolithen beschäftigt; lange Zeit hat
man geglaubt, sie stammten von Wesen, die wie die Quallen, wie die
Korallen und wie die Hydra-Polypen unserer Teiche und Tümpel
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die damals bereits ähnliche Riffe gebaut haben, wie es heute noch
in den Atollen der Südsee und den Korallenbänken der warmen
Meere geschieht. Da gibt es allerlei Muscheln, Schnecken, beschalte
Tintenfische. Plattige Rüstungen tragen die altertümlichen Ge-
stalten aus der Stachelhäuter-Sippe der heutigen Seelilien, Seeigel
und Seegurken. Und dick gepanzert sind auch die allerältesten
Wirbeltiere: Höchst absonderlich geformte Gesellen, deren Feinbau
man neuerdings durch besonders geistreiche Methoden des Heraus-
präparierens aus dem Stein sehr genau kennt. Diese Panzerfische
— verwandt mit den äußerlich aalähnlichen Neunaugen unserer
Flüsse -— hatten sogar bereits elektrische Organe, 60 wie jetzt noch
Zitteraal, Zitterrochen und Zitterwels.
Auf 90 Millionen Jahre berechnet man die Dauer des Kambriums,
auf 100 Millionen Jahre die des Silur. Trilobiten, Armfüßler und
Fische — darunter schon Haie, andere Knorpelfische und Lungen-
fische, die mit Kiemen und Lungen zu atmen vermögen — kenn-
zeichnen das Devon. Es hat wiederum einen englischen Namen (nach
der Grafschaft Devonshire); seinen Beginn kann man vor 350
Millionen Jahren ansetzen, seine Dauer mit 40 Millionen. Lungen-
fische! Noch heute beherbergen Australien, Südamerika und Süd-
afrika je einen Vertreter dieses uralten Fischgeschlechts, das heute
noch Zeuge ist von der Eroberung des Landes durch das Leben.
An der Grenze von Silur nämlich zum Devon muß das Leben, das
einst in den warmen Meeren der Erdurzeit entstanden ist, sich das
feste Land erobert haben. Und nicht nur die Lungenfische, die nach
Gestalt und Kiemenatmung zwar Wassertiere geblieben sind, aber
auch bereits einen längeren Aufenthalt außerhalb des Wassers zu
überstehen vermögen, erinnern an diese entscheidende Stunde der
Erd- und Lebensgeschichte. Aus dem ältesten Silur, vor allem aber
aus dem Devon kennt man nämlich auch die allerersten Landpflanzen
— recht ärmliche Erscheinungen noch, den Algen ähnlich, denen sie
entstammen, aber schon mit Sporenbehältern wie die Farne.
Mit dem Ausgang des Devon finden sich dann auch die ältesten
Vierfüßigen Tiere. Es sind höchst absonderliche Wesen, mit Fisch-
schädeln und mit einem Fischschwanz, aber schon mit richtigen vier
Beinen, deren jedes in fünf Fingern endet. Sie, von der Wissenschaft
mit dem schwierigen Namen Ichthyostegalia belegt, sind die Stamm-
gruppe, aus der alles entsprungen ist, was als Molch und Frosch, als
Eidechse und Schlange, als Vogel, als Hase und Löwe, als Elefant
und Pferd, als Fledermaus und Affe heute das Erdenrund belebt.
Bekannt und berühmt ist das Karbon, die Steinkohlenzeit, die
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ihren Namen nach dem lateinischen Wort carbo, die Kohle, trägt.
Gewaltige Wälder von üppig wuchernden Schachtelhalmen, Bär-
lappen, Schuppen- und Siegelbäumen entstanden damals in einer
klimatisch offenbar besonders günstigen Zeit, versanken im Laufe
von Tausenden und Millionen Jahren und bildeten schließlich jene
mächtigen Kohlenlager, deren schwarzes Gold immer noch die wich-
tigste Energiequelle unserer Zeit ist. Die Sonnenkraft, die vor einer
Viertel Milliarde von Jahren von den grünen Pflanzen des Stein-
kohlenwaldes eingefangen worden ist — sie treibt heute, in der
Hitze der Feuerung freigesetzt, Dampfmaschinen und Lokomotiven,
und mit zu Kohle verwandelten Urzeitpflanzen heizen wir, unsere
Öfen! Durch die karbonischen Sumpfwälder wälzten sich die plum-
pen Gestalten der Panzerlurche, der ältesten Nachfahren jener noch
fischhaften Ichthyostegalier; diese Panzerlurche wurden wiederum
zu Ahnen der ersten Kriechtiere, der Ursaurier, mit denen die hohe
Zeit dieses Echsengeschlechtes beginnt. Durch den Steinkohlenwald
schnurrten auch die ersten Insekten, merkwürdig ungeschickt ge-
staltete Wesen mit langgestrecktem Leib — eine Erinnerung an die
Herkunft von den Tausendfüßlern! Der Leib trug an jedem seiner
vielen Ringel zwei seitliche Fortsätze. Vorn aber, hinter dem Kopf,
waren diese Anhängsel zu — Flügeln geworden, zu zwei Paar
starren, geränderten Flügeln, vor denen sogar noch ein drittes,
kleineres lag.
Bärlappe und Schachtelhalme bildeten zum guten Teil die riesigen
Wälder des Karbon, Pflanzen, die heute zu unscheinbaren Zwergen
geworden sind. Auch die Farne, die damals zu hohen Bäumen heran-
wuchsen, sind heute klein und bescheiden. Stattlich geblieben aber
sind die nacktsamigen Blütenpflanzen, die damals zum erstenmal
aufgetreten sind; denn noch heute stellen sie mit einigen Nadel-
hölzern die höchsten Baumgestalten überhaupt (s. Abb. S. 2).
Den Ausgang des Erdaltertums bildet das Perm — so genannt
nach dem gleichnamigen, jetzt „Molotow" heißenden Gouverne-
ment in Rußland. Sein anderer Name Dyas weist auf die zwiefache
Untergliederung in Rotliegendes und Zechstein hin. Es war eine Zeit,
in der das Meer über weite Strecken hinweg zurückgedrängt war.
Die Trilobiten starben damals aus, und mit ihnen viele andere
Stämme, die einst die Ozeane der Urzeit und des Erdaltertums
bevölkert hatten. Dafür entfalten sich auf dem Festland die Panzer-
lurche, gehen aber mit dem Ende des Perm ihrem Untergang ent-
gegen, während die Saurier nun ihren Siegeszug durch das Erd-
mittelalter antreten.
20
Das Mittelalter der Erde
Vor zweihundert Millionen Jahren beginnt das Erdmittelalter
und mit ihm die Trias, die dreifach gegliederte Formation mit dem
roten Buntsandstein, dem Muschelkalk und dem Keuper. Jetzt
sind die Ammoniten die Hauptleitfossilien, die Ammonshörner, die
schneckenhaft aufgerollten Gehäuse von Tintenfischen. Schon im
Devon ist ihr Geschlecht entstanden, hervorgegangen aus For-
men, deren Schale nicht spiralig aufgerollt war, sondern
gerade gestreckt. Und so typisch sind die Gestalten der Ammoniten
gerade für die deutschen Vorkommen des Erdmittelalters, daß der
große Geologe Leopold von Buch, der noch ein Schüler A. G. Werners
war, allen Ernstes vorschlug, das Ammonshorn des Ceratites nodosus
in das deutsche Wappenschild aufzunehmen.
Neben den Ammoniten erobert sich ein zweites Tintenfisch-Ge-
schlecht die Weite der Meere, das der Belemniten. Ihre Schale ist
nicht spiralig, sondern gerade gestreckt mit kegelig zugespitztem
Ende. Als „Donnerkeile" gehören sie zu den bekanntesten Ver-
steinerungen. So wie die Ammoniten und Belemniten kennzeichnend
Belemnit: Das hintere Ende der Schale ist als „Donnerkeil" bekannt
21
Kampfwagen. In den Sümpfen wälzten sich wahre Fleischberge —
die Brontosaurier mit zwanzig, dreißig und mehr Meter Länge. Am
Meeresufer hüpften oder schritten, gigantischen Känguruhs ähnelnd,
die Iguanodonten daher. Ein fürchterliches Ungeheuer war der
Tyrannosaurus — ein Raubtier, sechs Meter hoch, fünfzehn Meter
lang, mit einem von riesigen Zähnen starrenden Maul. Vollendete
22
zarten Knochen wahrscheinlich ohne einen Auf- oder Abschlag
stundenlang segelnd über die Weiten der Meere dahintrugen.
2.'5
denn die einzigartigen Platten, die Dr. h. c. Bernhard Hauff aus
dem Schiefer präpariert hat, zeigen nicht nur die Seelilien oder die
Fische bis in die feinsten Einzelheiten ihrer Skelette, sondern
lassen sogar die Umrisse der Weichteile von Ichthyosauriern er-
kennen, verraten sogar Tragödien aus dem Jurameer: Es gibt eine
Platte im Stuttgarter Naturkunde-Museum, die ein Ichthyosaurus-
Weibchen im Augenblick der Geburt ihres Jungen zeigt.
Der Ausgang des Erdmittelalters mit der XreJrfe-Formation —
ihre schönsten Vorkommen sind die weißleuchtenden Felsen von
Rügen und an der englischen Kanalküste — bedeutet auch das Ende
der Saurier, der Ammoniten, der Belemniten und vieler anderer
für das Erdmittelalter kennzeichnender Tiergeschleehter. Die Neu-
zeit bricht an — sechzig Millionen Jahre vor unserer Zeit.
24
Hirsche und dann gar ein Ungeheuer aus dem Rhinozeros-Ge-
schlecht von fünfeinhalb Meter Schulterhöhe — dreimal so hoch wie
ein Mensch!
Es ist in der Tat so, als habe die schöpferische Kraft der Natur
in jener Zeit des Tertiär noch einmal ihr letztes großes Spiel ge-
spielt. Ihren Namen hat die Tertiärformation vom lateinischen
„tertius", der dritte. In ihm hat sich die alte erdgeschichtliche Ein-
teilung erhalten, die vier Perioden unterschied, die Primär-,
Sekundär-, Tertiär- und Quartärperiode; der letzte Name war der
jüngsten geologischen Vergangenheit, der Eiszeit und der Gegen-
wart eingeräumt und hat sich ebenfalls bis heute erhalten.
Tertiär und Quartär —• sie bilden die Erdneuzeit, das Neozoikum,
das Kaenozoikum; tatsächlich wird während dieses letzten Erd-
zeitalters die Tierwelt, die noch im Erdmittelalter so abwegige Ge-
stalten wie die Riesensaurier und all die anderen Drachen in sich
schloß, Schritt für Schritt der heutigen immer ähnlicher. Deshalb
gliedert man seit den Tagen des großen englischen Geologen Charles
Lyell Tertiär und Quartär in Stufen nach dem Gehalt an heute noch
lebenden Arten von Tieren. Freilich sind die Namen dieser Stufen
etwas kurios und machen dem, der sich mit ihnen bekanntmachen
will, das Leben schwer.
25
Pliozän schließen sich an; nun heißt es schon „mehr" und „viel",
weil jetzt vierzig und im Pliozän gar achtzig Prozent „moderner"
Formen gefunden werden. Für das Quartär führt man dann diese
Einteilung sinngemäß fort mit Pleistozän (pleistos heißt meist)
für die Eiszeit, die auch Diluvium, Überschwemmung, heißt nach
der alten Annahme, ihre Ablagerungen stammten nicht von
Gletschern, sondern von einer sintflutartigen Überflutung weitester
Gebiete. Die geologische Gegenwart schließlich nennt man Holozän
(holos bedeutet ganz), weil nun die hundert Prozent erreicht sind.
Ihren sonstigen Namen Alluvium, die Anschwemmung, hat sie
nach den von Ort zu Ort wechselnden Ablagerungen der Flüsse in
jüngster Zeit.
Es wäre freilich irrig, wollte man annehmen, die vielen Millionen
Jahre der Tertiärzeit seien eine einzige ununterbrochene Zeit des
Paradieses gewesen. Es hat Kühlzeiten gegeben; nach einem Höhe-
punkt im Eozän — damals herrschte bei uns tatsächlich rein tro-
pisches Klima — sank das Jahresmittel der Temperaturen immer
mehr ab. Deutlich lassen das die wichtigsten Zeugen der Tertiär-
formation erkennen, die sich bei uns erhalten haben, die Braun-
kohlen. Wie die riesigen Wälder von Schachtelhalmen, Bärlappen
und Farnen des Karbons sich zu mächtigen Steinkohlenlagern um-
gewandelt haben, so sind auch die sumpfigen Urwälder des Tertiär
zu Kohlen geworden — freilich noch nicht so weit umgeformt wie
die viele Jahrmillionen ältere und schwärzere Art. Die mittel-
deutschen Braunkohlenwälder aus dem Eozän sind echte und rechte
Tropenwälder gewesen, mit Gummibäumen, Palmen und Eukalyptus,
während die miozänen Braunkohlen Ostdeutschlands und am
Niederrhein mit ihren Sumpfzypressen und Mammutbäumen schon
aus einem gemäßigteren Klima stammen. Im Pliozän schließlich
sind schon dieselben Laubbäume am häufigsten, die auch heute noch
das Gesicht unserer Landschaft prägen, Buche und Eiche. Eines
Baumes muß aber noch gedacht werden, von dem das kostbarste
Überbleibsel der Tertiärzeit auf uns gekommen ist, des „Bernstein-
baumes": Kiefern, Tannen und Fichten, die im gleichmäßig feucht-
warmen Klima des Oligozän gediehen, haben den Bernstein ge-
liefert. Ihr Harz, das bei Windbruch und Verletzungen reichlich aus
den Wunden strömte, in Tränen und Knollen an der Rinde hängen
blieb oder auf den Boden niedertropfte, wandelte sich zu jenem
herrlichen „Gold aus dem Garten Eden", das die See aus den ver-
sunkenen Lagerstätten herauswusch und in den „Blauen Tonen" der
ostpreußischen Samland-Küste zusammensdiwemmte. So wunder-
26
• / '
vollen Sclimuck der Bernstein liefert, fast wertvoller noch ist er für
die Wissenschaft. Denn im erstarrenden Harz haben Tausende und
Abertausende von Tierchen ihr gläsernes Grab gefunden und zeugen
so von der Kleinlebewelt des Bernsteinwaldes.
27
Himalaya, aber seit der Kreidezeit arbeitet es am Grunde der
Tethys:Die in dieses Ur-Mittelmeer eingeschwemmtenAblagerungen
wurden zu verwickelten Falten und Decken zusammengeschoben.
Seit der Mitte des Tertiär beginnt die gefaltete Zone aus den
Fluten emporzusteigen. Die weltweite Hebung dieses alpinen
Systems gibt der Erdoberfläche ein völlig neues Gesicht: Vom Atlas
und von den Pyrenäen, über die Alpen als dem Rückgrat des wer-
denden Europas türmen sich die Hochgebirge der Neuzeit gen Him-
mel bis zu den Giganten des Himalaya, der Indien mit dem asiati-
schen Urkontinent zusammenschweißt. Gleichzeitig und in ganz
ähnlicher Weise schließt sich der Ring der Gebirgsketten um den
28
auch durch mächtige Brüche der Erdrinde „dem Erdboden gleich-
gemacht".
Die Entfaltung der Säugetiere
So revolutionär die Umgestaltung der Erdoberfläche war, deren
Antlitz gegen Ende des Tertiär dem der Jetztzeit immer ähnlicher
wurde, so grundlegend war auch der Wandel, der die Tierwelt er-
griff. Sie holte jetzt in einem geradezu sich überstürzenden Tempo
den Vorsprung ein, den die Pflanzenwelt während der Kreidezeit
gewonnen hatte. Mit Ausgang des Erdmittelalters nämlich hatten
die bedecktsamigen Pflanzen, die Pflanzen also mit den echten
Blumenblüten, begonnen, die Vorherrschaft der nacktsamigen
Nadelholzgeschlechter zu brechen. Das war in derselben Zeit ge-
schehen, als es von den Säugetieren nicht viel mehr gab als ein
paar Beutelratten und spitzmausähnliche Insektenfresser. Als aber
die Morgenröte der Tertiärzeit anbrach, sind mit einem Schlage
gleichsam alle Stämme der Säugetiere da; wohl entwickelt, ergießen
sie sich wie eine Flut in alle Lebensräume und erfüllen jeden
Winkel mit den oft eigenartigsten Ausprägungen. Die schnelle und
starke Aufsplitterung in die verschiedensten Typen aller möglicher
Raubtiere, Huftiere, Rüsseltiere findet wohl ihre Erklärung darin,
daß viele Lebensräume durch das Aussterben der Saurier völlig
freigeworden waren und hier jede nur einigermaßen lebensfähige
Form, die in schnell sich folgenden Erbsprüngen sich gebildet hatte,
ihren Platz fand; zunächst konnten sich sogar sehr einseitig ent-
wickelte Formen halten, wie die Über-Nashörner des Donnertier-
und Titanentiergeschlechts (man achte auf die Namen!). Später
wurden sie dann freilich von harmonischer ausgestalteten, im besten
Sinne des Wortes „moderneren" Arten verdrängt und schließlich im
unerbittlichen Lebenskampf vernichtet.
Menschwerdung
Die Zeit, da der Garten Eden noch grünte, ist aber auch die Zeit,
da der Mensch sich vom Tierreich löste. Noch übersehen wir nicht
bis in die letzten Einzelheiten diesen größten, entscheidenden Ent-
wicklungsschritt, der alle Erscheinungsfülle des Pflanzen- und Tier-
reiches überwölbt mit einem neuen Reich des Geistes, des freien
Willen, des Gewissens. Aber wir wissen heute durch eine Menge
schöner Funde, daß in den südafrikanischen Baumsteppen des
mittleren Pliozän, vor rund fünf Millionen Jahren also, Wesen ge-
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lebt haben, die den aufrechten Gang des heutigen Menschen hatten,
auf die Jagd nach Großtieren gingen und das Feuer benutzten. Unter
den Opfern, die diese von der Wissenschaft Prähomininen (von
prä vor, und homo, Mensch) genannten Wesen in einer felsigen
Busch- und Steppenlandschaft jagten, waren auch Paviane, Bruder-
wesen fast noch der Jäger; neueste Funde aber beweisen gar, daß
jenes Ur-Menschenwesen auch seinesgleichen anfiel und tötete. So
will es scheinen, als klinge in der modernsten Forschung wieder,
was frommer Glaube und uralte Überlieferung zu sagen wissen:
Als der Mensch seine Schuldlosigkeit verlor, jene Unschuld des
Tieres, das Gut und Böse nicht kennt, als er vom Baum der Er-
kenntnis gegessen hatte, als ihm die Prometheus-Tat des Feuers ge-
lungen, da war auch die Kains-Tat des Brudermordes nicht mehr
fern. Und die biblische Geschichte von der Vertreibung aus dem
Paradies in eine feindliche Welt, darin der Mensch, nun in „Röcke
von Fellen" gehüllt, mit Kummer sich nähren soll, sie mutet an wie
die große Erinnerung unseres Geschlechts an die Zeit, da die Pracht
des Wundergartens in Eden, da die Üppigkeit dahinsank im Klima-
sturz der Eiszeit, jener harten Schule ohnegleichen, die den Men-
schen erst zu dem geformt hat, was er heute ist.
Die Eiszeit
Bis zu tausend Meter hoch waren die Eismassen, die unaufhaltsam
von Norden her heranrückten, von Skandinavien her, und ganz
Norddeutschland unter sich begruben; die von den Alpen herab-
fließenden Gletscher bedeckten Süddeutschland bis etwa zur Donau.
Freilich — eine einzige Kältezeit von rund 750 000 Jahren Dauer
war das Diluvium nicht. Vier Perioden der mehr oder minder star-
ken Vereisung kennt man, zwischen denen drei „Zwischenzeiten"
lagen — man nennt sie besser Warmzeiten, von denen mindestens
eine sogar klimatisch günstiger war als die Gegenwart. Und wie
man nicht nur die alpine Gebirgsbildung der Kreide- und Tertiär-
formation kennt, sondern auch noch ältere, so sind sicherlich auch
in früheren Erdzeitaltern Vereisungen über weite Gebiete der Erde
gegangen. Entscheidend für uns Menschen aber ist die letzte Eis-
zeit geworden, die der üppigen Zeit des Tertiär folgte.
Diese Eiszeit war die Zeit dem Mammuts, die Zeit, da Mittel-
deutschland eine Tundra war wie heute das nördliche Sibirien, die
Zeit, da bei blakendem Kienspan der Altmensch mit steinernem
Faustkeil Bilder an die Wand der Höhlen malte, überraschend
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lebendige Bilder der Tiere, die er jagte in dieser Eiszeit, in der
ein Mensch schließlich sich ein Bild von seinesgleichen formte, ein
Menschenantlitz in einen Knochen ritzte. Mit der Eiszeit beginnt die
eigentliche Geschichte des Menschengeschlechts, die von der Alt-
steinzeit über Mittel- und Jung-Steinzeit, über Kupfer-, Bronze-
und Eisenzeit zur Gegenwart führt — der Zeit der Leichtmetalle,
der Kunststoffe, der Atomenergie.
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