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Die Weihnachtsüberraschung

Emily Murdoch

Aus dem Englischen


von Kathinka Nohl

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© Emily Murdoch 2015

Emily Murdoch hat sich als Autorin dieses Werkes, nach den Rechten des „Copyright, Design
and Patents Act 1988”, identifiziert.

Übersetzung von Endeavour Press Ltd. 2015

Erstveröffentlichung von Endeavour Press Ltd. 2015

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Für meine Schwägerin Sophie, meine Schwiegermutter Jane und meine Schwiegergroßmutter
Jan: Mein erstes Regency-Abenteuer widme ich euch.
Für den Thomas, der mich immer wieder dazu inspiriert, mehr zu lernen: meinen Großvater
Graham Thomas.
Und, wie immer, für Joshua.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel Eins
Kapitel Zwei
Kapitel Drei
Kapitel Vier
Kapitel Fünf
Kapitel Sechs
Kapitel Sieben
Kapitel Acht
Kapitel Neun
Kapitel Zehn
Kapitel Elf
Nachbemerkung der Autorin
Danksagung
Über die Autorin

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Kapitel Eins

„Völlig lächerlich!“
Lord Robert, der Viscount von Marchwood war unzufrieden und das sollte gefälligst jeder
wissen. Die Tatsache, dass er sich allein mit seinem Kammerdiener im Raum befand, war ihm
dabei nicht aufgefallen.
„In der Tat“, sagte sein Diener sanft und präsentierte seiner Lordschaft eine Auswahl
Krawatten. „Höchst lächerlich.“
„In meinem Alter!“, brodelte Marchwood. „Zu denken, ich könnte meine eigenen
Angelegenheiten nicht regeln – so wenige es auch sein mögen – und mich über die richtige
Etikette zu belehren! Ich ertrage es nicht, Thomas, und ich werde es nicht dulden!“
Thomas wusste, dass er sich mit Ratschlägen, ja allen Äußerungen zu diesem Thema, besser
zurückhielt. Der Viscount war zur kalten Jahreszeit oft mürrisch und dieser Winter war einer
der kältesten und elendsten seit Menschengedenken. Nicht einmal der Gedanke an den
Weihnachtsball der Marchwoods konnte seine Laune bessern.
„Dreißig Jahre!“, donnerte der Viscount. „Dreißig Jahre, Thomas, in denen ich Weihnachten
auf diese Art gefeiert habe, und dennoch behandelt man mich immer noch wie ein Kleinkind!“
„Ich bin mir sicher, dem ist nicht so.“ Thomas reichte ihm die blaue Krawatte, auf die
Marchwood gezeigt hatte und nutzte so die Pause im Monolog seiner Lordschaft.
„Der Butler hier…“
„Der Butler hat keine Ahnung“, sagte Marchwood gereizt, während er erfolglos versuchte
seine eigene Krawatte zu binden und seine Finger dabei mit hineinknotete. „Hätte ich gewusst,
dass ein solch undankbarer Schwachkopf Scotchmore Castle betreibt, hätte ich es nie als Ort
für unseren Weihnachtsball gewählt.“
Thomas sagte nichts, sondern machte sich daran, Marchwoods Finger zu befreien, die
langsam die blaue Farbe der Krawatte angenommen hatten. Seine Lordschaft grunzte ein Wort
des Dankes und Thomas verneigte sich leicht.
In den fünf Jahren, die Thomas nun Kammerdiender des vierten Viscounts von Marchwood
war, hatte er ihn nie in einer solchen Verfassung erlebt. Natürlich hatte Marchwood wesentlich
größere Probleme als einen Weihnachtsball, sollten sich die Gerüchte, die im Moment
herumgingen, als wahr erweisen.
Scotchmore Castle, eingebettet in die Mitte der schottischen Highlands, war groß und
dominierte die Landschaft, in der es thronte. Eine spektakuläre Burg zwischen zwei großen
Bergen, umgeben von einem Loch. Zwei große verbundene Türme stiegen im Norden auf und
die hohen Zinnen waren mit Statuen von Wasserspeiern und grotesken Kobolden verziert. Und
trotzdem erschien Scotchmore Castle in der kargen Natur der Highlands so etwas wie ein

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Hafen der Sicherheit und der Wärme zu sein.
Zugegeben, das erste Mal hatte Marchwood Scotchmore Castle in einem warmen,
sommerlichen Licht gesehen. Er hatte seine Schwester besucht, die in der Nähe lebte, und
während eines Ausritts an einem stürmischen Junitag war er über diesen Ort gestolpert. Es war
ihm wie ein Märchenschloss vorgekommen, versteckt außer Sichtweite von gewöhnlichen
Besuchern. Marchwood hatte das Gefühl gehabt, einen Traum gestört zu haben. Als er nach
London zurückgekehrt war, hatte er mit Leichtigkeit die Namen der Besitzer herausgefunden
und sie – selbstverständlich zunächst anonym – kontaktiert.
Die derzeitigen Besitzer genossen die Freuden der Jahreszeit in Bath und hatten ihren Sitz an
den Viscount vermietet – bestanden jedoch auf einer Vorauszahlung, ehe er ihr Anwesen für
einen Monat in Besitz nahm, da ihnen vor kurzem Neuigkeiten bezüglich seiner finanziellen
Situation zu Ohren gekommen waren. Natürlich konnte man es nicht mit Sicherheit sagen und es
wäre niemandem im Traum eingefallen in Anwesenheit des Viscount von Marchwood laut
auszusprechen, dass er sich in einer ernsten Notlage befand und es mehr als nur einen
finanziellen Engpass zu überwinden galt … und trotzdem wurden derartige unaussprechliche
Dinge in jedem Kaffeehaus und jedem Privathaus des Landes leise erwähnt.
„My Lord“, sagte Thomas vorsichtig, „wenn die Geldmittel für einen derart üppigen und
festlichen Ball nicht sofort zur Hand sind, vielleicht –“
„Sofort zur Hand?“, wiederholte Marchwood mit aufgerissenen Augen. „Ich habe nicht den
blassesten Schimmer, wovon Sie reden, mein Freund.“
Thomas ignorierte den Ausdruck ‚mein Freund‘ – seit über einem Jahrzehnt war das nicht der
Fall, aber schließlich war er auch mit seinen sechsundzwanzig Jahren wohl kaum ebenbürtig.
Offensichtlich wurde jegliche Erwähnung finanzieller Umstände einfach nicht geduldet.
Stattdessen warf er einen scharfsichtigen Blick auf die Kleidung seiner Lordschaft. Obwohl
Marchwood in seiner Art sich zu kleiden noch ein wenig an älteren Traditionen festhielt – aus
seinen Ärmelaufschlägen schaute Spitze heraus und seine Kniehosen saßen wesentlich lockerer,
als es Mode war – war es Thomas gelungen, ihn langsam auf subtile Weise an einen
moderneren Stil heranzuführen. Seine Pluderhosen waren kurz geschnitten, wie bei allen
modebewussten Männern der Gesellschaft, und seine Lederstiefel waren auf Hochglanz poliert,
sodass sie das Kerzenlicht reflektierten. Das Seidenhemd war vom Schneider des Viscounts
perfekt geschnitten worden, um zum Revers zu passen – allerdings könnte es Mitternacht
werden, ehe es Thomas gelang, es ihm anzuziehen.
Thomas hustete. „Es ist noch eine Woche bis Weihnachten, my Lord; ich bin sicher,
McGerald –“
„Es dauert länger als eine Woche, um einen Butler auszubilden, Thomas, gerade Sie sollten
wissen, wie viel Übung man dafür braucht“, unterbrach Marchwood. Drei verschiedene blaue
Seidenwesten lagen auf dem Bett und er sprach abwesend, während er sie prüfte. „Man sollte
annehmen, dass ich diesen Leuten genug bezahle, um mir und meinen Gästen korrekten Dienst

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zu leisten.“
Lächelnd machte Thomas einen Schritt nach vorne und ignorierte seinen Herrn. „Die
dunkelblaue Weste, my Lord. Etwas Helleres würde von Ihrem Gesicht ablenken.“
Marchwood nickte und sein langes graues Haar wurde immer zerzauster, während er durch
das Zimmer lief. „Der Weihnachtsball muss perfekt werden, Thomas, absolut perfekt. Um
Audreys willen muss er perfekt sein.“
Thomas beendete gerade die Toilette des Viscounts und als Marchwood diese Worte sprach,
hielt er gerade eine große Parfumflasche in der Hand – die er prompt fallen ließ. Aber er hatte
Glück: Der große Aubusson-Teppich war weich und fing die Glasflasche sicher auf, ohne dass
etwas verschüttet wurde.
„Vorsicht, Thomas!“ Marchwood war nicht verärgert, sondern zu aufgebracht über seine
Meinungsverschiedenheit mit dem Butler von Scotchmore Castle, um seinen Ton zu mäßigen.
Mit flammendroten Backen hob Thomas die Flasche auf und stammelte eine Entschuldigung.
Er stellte die Glasflasche zurück auf den Beistelltisch und erhaschte einen Blick auf sein
goldumrahmtes Spiegelbild. Seine Röte wurde noch dunkler.
Lady Audrey, wie sie für Thomas hieß, war gerade achtzehn geworden. Der Weihnachtsball
war ihre erste offizielle Einführung in die Gesellschaft und es war allen bekannt, dass dies
vermutlich ihre erste, beste und einzige Möglichkeit war, sich einen Ehemann zu sichern – ehe
die Kassen der Marchwoods endgültig leer waren.
Jede junge Dame ihres Alters hatte einen Debütantinnenball oder eine Veranstaltung, die von
ihrer Familie veranstaltet wurde, um sie formell der Gesellschaft vorzustellen. Alle zu
erwartenden Leute nahmen daran teil – Familie, Paten, Freunde der Familie, Menschen, denen
sie tatsächlich nicht mehr ‚vorgestellt‘ werden musste – und dann noch andere, die wichtig und
einflussreich waren. Ein guter Bericht über den Debütantinnenball eines jungen Mädchens
konnte ihre Chancen, den vielversprechendsten Freier anzuziehen, erheblich steigern.
Thomas räusperte sich und nahm die dunkelblaue Weste, knöpfte sie auf und half seiner
Lordschaft hinein.
„Die Einführung ihrer Ladyschaft in die Gesellschaft wird mit Sicherheit ein Erfolg, my
Lord“, sagte Thomas und nahm mit Stolz wahr, dass seine Stimme nicht zitterte. „Sie wissen
doch aus vielen Quellen, dass sie während der vielen kleinen Zusammenkünfte, denen sie in
den letzten zwölf Monaten beiwohnte, triumphierte; ja, ich habe von vielen anderen
Kammerdienern aus meinem Bekanntenkreis vernommen, dass unzählige Menschen hofften, ihr
Debüt möge sich schon ein Jahr früher ereignen.“
Marchwood hob eine Augenbraue. „Ist das so, Thomas?“ Seine Stimme klang hoffnungsvoll
und er schien den Streit mit den neuen Hausangestellten, die er während seines Aufenthalts in
Scotchmore Castle zur Verfügung hatte, vergessen zu haben.
Thomas nickte. „Das kann Sie doch kaum überraschen, my Lord, da sie doch in allen ihren
Vorzügen nach Ihnen kommt. Sie sollten“, und hier hörte man ein einziges kleines Beben in der

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Stimme, „sehr stolz auf sie sein. Sie macht Ihnen wirklich alle Ehre.“
Der Viscount war Komplimenten und Charme gegenüber nicht gleichgültig. „Thomas, ich
danke Ihnen für Ihre Worte, sie werden freudig empfangen. Ich gebe zu, das arme Kind als
Witwer großzuziehen, war sicherlich nicht die Art, in der ich den Familiennamen
weitergegeben sehen wollte. Ich hatte einige Probleme zu bewältigen.“
Thomas musste lächeln, während er verschiedene Kleidungsstücke, die Marchwood für den
Abend abgelehnt hatte, zusammenlegte und wieder aufhängte. Lady Audrey hatte ohne Zweifel
einen starken Charakter – und trotzdem hatte sie eine Sanftheit an sich, die nur diejenigen, die
mit ihr unter einem Dach lebten, je sehen würden.
„Sie wird eine tolle Ehefrau werden“, fuhr Marchwood fort. „Und es wird meinen alten
Knochen gut tun zu sehen, wie sie ein gutes Heim findet und selbst Mutter wird.“
Thomas ballte seine Hände, in denen er die Seidenkrawatten hielt, und dankte Gott dafür,
dass er mit dem Rücken zu seinem Herrn stand. Der Gedanke daran, dass Lady Audrey
irgendwann das Haus ihres Vaters verlassen würde, war ihm schon ab und zu durch den Kopf
gegangen, aber es war immer ein Ereignis in der weit entfernten Zukunft gewesen, eine Zeit,
die von Sterblichen nie erreicht werden würde. Und nun stand der Moment kurz bevor.
„Und es muss perfekt sein“, sagte der Viscount besorgt. „Perfekt, das sage ich Ihnen,
Thomas!“
„Ich sehe keinen Grund, warum Perfektion nicht erreicht werden sollte, my Lord“, sagte er
sanft. „Und, wie gesagt, Sie haben noch eine ganze Woche, um McGerald und dem Rest der
Bediensteten hier ihre hohen und peniblen Standards zu demonstrieren.“
Marchwood sah ihn zögernd an. Das Leben hatte es mit dem Viscount nicht gerade gut
gemeint; der frühe Verlust seiner Frau trug daran den Hauptanteil. Seine grauen Augen blickten
unter einer faltigen Braue hervor und seine Kotletten waren lang gewachsen.
„Glauben Sie das wirklich, Thomas?“
„Ich weiß es“, sagte der Kammerdiener beruhigend und legte das dicke schwarze Samtjackett
auf die Schultern seines Herrn. „Jeder Weihnachtsball der Marchwoods war ein voller Erfolg
und ich sehe keinen Grund, warum es dieses Jahr anders sein sollte.“
Marchwood nickte langsam und ließ sich dann halb fallend auf einen versilberten und mit
Seide überzogenen Stuhl sinken. Die weiteren fünf Stühle, die zu dem Set gehörten, waren über
das Zimmer verteilt, dessen Mittelpunkt der Teppich bildete. Die bemalte Decke entsprach
diesem perfekt, auf der eine Vielzahl von Farben und geometrischen Formen zu sehen waren.
Vielleicht war es nicht die modernste Interpretation dekorativer Künste, wenn man aber das
Alter der Burg bedachte, war es ein Wunder, dass das Mobiliar noch intakt war.
Es war eigentlich nur das zweitbeste Schlafzimmer in Scotchmore Castle. Das beste stand
natürlich der Dame des Hauses zu.
Unvermittelt wurden die Flügeltüren des Raums, die sich gegen den Flur öffneten, mit einer
solchen Gewalt und Kraft aufgestoßen, dass sie beide gegen die Wand krachten. Thomas konnte

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eine große Delle in der Holzverkleidung auf der linken Seite erkennen und zuckte zusammen.
Der Viscount musste wohl Geld zusammenkratzen, um den Schaden zu bezahlen.
Eine Frau stand in Ermangelung von Kerzen, die Marchwood für alle Flure während seiner
Anwesenheit angeordnet hatte, in der Dunkelheit des Flurs. Sie machte einen Schritt nach vorne
und trat ins Licht. Sie war nicht so alt, wie sie zunächst erschienen war. Ihr Haar war blond
und ordentlich gezähmt. Ihre Gesichtszüge zart und fein. Ihre Gestalt war zierlich – und
trotzdem brannte in ihren Augen ein Feuer, das Thomas schon so oft gesehen hatte.
„Audrey“, sagte ihr Vater erfreut.
„Vater“, sagte sie wütend. „Endlich habe ich dich gefunden.“

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Kapitel Zwei

„Mich gefunden?“, antwortete Marchwood etwas verwirrt. „Ich habe mich nicht versteckt,
meine Liebe.“
„Dummes Gewäsch“, sagte Audrey und wischte seine Worte mit einer Handbewegung weg.
Sie marschierte ins Zimmer und setzte sich angriffslustig auf den Stuhl neben dem Bett, wo
sowohl ihr Vater als auch dessen Kammerdiener sie vollständig sehen konnten. Sie trug ein
schönes Kleid – so grün wie Efeu, mit blasser Spitze, die um ihre offenen Ärmelaufschläge und
um die Korsage verlief. Sie trug keinen Schmuck, aber Lady Audrey von Marchwood musste
ihrer natürlichen Schönheit nicht mit Kunstmitteln nachhelfen.
„Meine Liebe“, sagte ihr Vater herzlich und drehte sich um, als sie durch das Zimmer schritt.
„Ich ziehe mich fürs Abendessen an. Der Gong ist ertönt, wie du weißt, und ich möchte nicht zu
spät sein.“
„Dummes Gewäsch“, sagte Lady Audrey entschlossen, aber in ihrer Stimme war ein Zögern
zu hören. „Du weißt sehr gut, Vater, dass wir die Diskussion, die wir in der Kutsche begonnen
haben, noch nicht zu Ende geführt haben und ich bin fest entschlossen, es jetzt zu tun, ehe wir
wieder nach Hause zurückkehren.“
Es war vor Ende des Sommers entschieden worden, dass die Marchwoods nach Scotchmore
Castle ziehen sollten – aber es dauerte deutlich länger, bis Marchwood seiner Tochter die
Neuigkeiten beigebracht hatte. Er wusste, dass die Enttäuschung, während der festlichen
Jahreszeit von ihren Freundinnen in Bath getrennt zu sein, groß sein würde.
Thomas hielt sich im Hintergrund. Er legte unauffällig die Massen an Kleidern, die der
Viscount diesen Abend nicht tragen wollte, zusammen. Es würde ihm nicht bekommen, in
diesen Streit mit hineingezogen zu werden. Er hatte einem ebensolchen schon einige Male
beigewohnt und wusste, dass keiner der Marchwoods umgestimmt werden würde. Die Tochter
des Viscounts hatte jedes Jota der Dickköpfigkeit ihres Vaters geerbt.
„Mein liebstes Kind“, sagte Marchwood erschöpft, während er an seiner Krawatte
herumzupfte und sie in eine schiefe Position erst links und dann sofort rechts brachte. „Du
weißt, dass wir aus gutem Grund nach Scotchmore Castle gekommen sind.“
„Ich kann nicht erkennen, was uns zu Hause gefehlt hat!“ Das Feuer in Audreys Augen
loderte. Es war die Eigenschaft, über die alle Leute, die sie trafen, immer redeten. Die Farbe
ihrer Augen. Sie waren gleichzeitig grün und blau, wie Opale, und änderten ihre Farbe je
schneller sie sich bewegten. Aber der aufblitzende Farbwechsel, erschien nur in Situationen
wie diesen – wenn Lady Audrey vor Wut außer sich war. „Ich verlange, dass du mir genau
sagst, warum wir in dieses kalte und nicht einladende Land gekommen sind, und in diese
unselige Burg, die – wirklich, Vater, ich habe in meinem Leben noch keinen derart irritierenden

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Butler erlebt!“
„Audrey, ärgere dich nicht. Ich dachte doch nur, dass unser Weihnachtsball dieses Jahr etwas
ganz Besonderes sein sollte, dadurch, dass wir ihn hier in der schottischen Wildnis
veranstalten! Ich habe dich doch nicht für lange hierher gebracht, weg von unserer Familie und
unseren Freunden. Sie kommen uns hier besuchen, noch ehe die Woche herum ist.“
Lady Audreys Augenbraue war argwöhnisch nach oben gezogen. „Uns besuchen?“
Der Viscount seufzte und schüttelte kaum merklich den Kopf. „Kind, du bist nun achtzehn
Jahre alt. Dies ist eine bedeutsame Zeit für eine jede junge Person, aber vor allem für eine
junge Lady kennzeichnet es die Zeit, da sie nicht mehr als Kind, sondern als eine Frau
wahrgenommen wird. Eine Frau im heiratsfähigen Alter.“
Audrey schnaubte. In jedem ihrer Gesichtszüge sah man die Ungläubigkeit. „Dummes
Gewäsch! Viele meiner Freunde sind jenseits dieses erlauchten Alters und wurden von ihren
Eltern nicht zu Kuppelveranstaltungen gezwungen, die nur ihnen nutzen!“
„Ich zwinge dich nicht dazu zu heiraten“, sagte Marchwood. „Tatsächlich ganz im Gegenteil!
Mein Leben wird sinnentleert sein, wenn ich dich verliere, meine Liebe, und trotzdem muss
genau das geschehen. Du weißt, dass dieser Weihnachtsball … unser letzter sein könnte.“
Lady Audrey zuckte leicht zusammen. Sie hatte es nie für angebracht gehalten, mit ihrem
Vater direkt über das Gemurmel zu sprechen, das sie bezüglich seiner Finanzen gehört hatte. Es
stimmte, sie hatte den Mangel an Geld, über den jeder um sie herum mit gedämpfter Stimme
redete, nie sonderlich zu spüren bekommen – aber ihr Vater beraubte vermutlich sich selbst zu
ihren Gunsten.
Aber auch vor diesem Hintergrund, dachte Lady Audrey entschlossen, war der momentane
finanzielle Engpass noch kein Grund sie schon ins Ehebett zu zwingen!
„Der letzte Weihnachtsball oder nicht, ich sehe keinen Grund, warum nun die Zeit für mich
gekommen sein sollte zu heiraten“, wandte Audrey ein. Ihr Respekt für ihren Vater war zwar
groß, galt aber nicht für ihre hitzigen Debatten, besonders, wenn sie sich im Recht glaubte.
„Wenn das tatsächlich unser letzter Weihnachtsball ist und sich viele Dinge zwischen uns
ändern, habe ich nur noch mehr Grund, bei dir zu bleiben und mich um dich zu kümmern.“
Ihr Vater seufzte. „Mein Kind, du musst heiraten.“
„Warum?“ Lady Audreys Stimme war nicht mehr anklagend; sie klang nun besorgt, die
Wildheit war aus ihren Augen gewichen und hatte sich in Verwirrung verwandelt. „Willst du …
willst du etwa, dass ich nicht mehr bei dir wohne, Vater? Ich will dich nicht verlassen.“
„Schhhh“, sagte Marchwood beruhigend und mit einem sanften Lächeln im Gesicht.
„Natürlich will ich nicht, dass du gehst, Audrey. Du weißt, dass du mir in all den Jahren der
größte Trost gewesen bist – aber du bist achtzehn Jahre alt. Du hättest schon vor zwei Jahren in
die Gesellschaft eingeführt werden sollen und nur meine eigene Selbstsucht, dich bei mir haben
zu wollen, hat die Gesellschaft eines solchen Juwels beraubt.“
Lady Audrey lächelte, aber es war offensichtlich schwierig für sie, diese Positivität

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beizubehalten, als sie weitersprach. Die feurigen Funken kehrten erneut in ihre Augen zurück.
„Ich verstehe es nicht. Was, wenn ich auf unserem Weihnachtsball niemanden treffe, den ich
genug mag, um ihn auch nur in Erwägung zu ziehen?”
Thomas war mit dem Zusammenlegen und Aufhängen der Kleider, die seine Lordschaft nicht
hatte tragen wollen, fertig und wusste nicht, was er noch tun sollte, um beschäftigt zu wirken.
Nun war er gezwungen, eine Entscheidung zu treffen; entweder er trat weiter ins Zimmer
hinein, wo man ihn bemerken würde, oder er würde verlegen an der Seite stehen. Er zögerte.
Er hob den Blick zu Lady Audrey. Das Feuer, das aus ihren Augen sprühte, leuchtete nun hell
und er konnte nicht anders, er musste sie ansehen. Er nahm jeden Moment wahr, in dem er sie
ohne Unterbrechung ansehen konnte – vor allem, wenn ihnen bald durch ihre Hochzeit mit
einem der Schwachköpfe, die seine Lordschaft zum diesjährigen Weihnachtsball eingeladen
hatte, ein Ende gemacht werden würde.
Lady Audrey fuhr fort, mit ihrem Vater zu streiten, und er beantwortete ruhig und sanft alle
ihre Fragen. Thomas sah sie immer noch bewundernd an. Die beiden schlanken Arme, die man
aus den ellbogenlangen Ärmeln ihres Kleides sehen konnte, bewegten sich elegant, während sie
sprach. Ihrem zarten und seidigen Gesicht war nur ihr Hals ebenbürtig, wenn sie beim Lachen
über etwas, das ihr Vater gesagt hatte, den Kopf zurückwarf.
Das war genau die Haltung gewesen, in der Thomas sie vorgefunden hatte, als er vor etwas
mehr als fünf Jahren zum Haushalt der Marchwoods gestoßen war. Sie hatte draußen bei den
Ställen neben dem Dienstboteneingang mit einer Frau gestanden, bei der es sich um ihre
Gouvernante handelte. Sie war nicht älter als zwölf oder dreizehn gewesen, aber die
Schönheit, die nun offenbar war, hatte bereits begonnen, zu erblühen. Sie hatte ihren Kopf in
den Nacken geworfen und gelacht. Und Thomas hatte sehen können, dass die Gouvernante
äußerst gereizt gewesen war.
„Also wirklich, Lady Audrey!“ Ihre Stimme hatte wütend geklungen. „Sie sollten sich
wirklich nicht auf eine so undamenhafte Weise benehmen! Ich habe lediglich vorgeschlagen,
dass Sie ihren pelzgefütterten Mantel anziehen sollen, sonst –“
„Dummes Gewäsch“, hatte die dreizehnjährige Lady Audrey erwidert. Und Thomas hatte
gesehen, dass sie lediglich leichte Reitkleidung trug, trotz des Herbstwindes – allerdings
zitterte sie im Gegensatz zu ihrer Gouvernante nicht. „Wenn ich erst einmal reite, fühle ich die
Kälte nicht mehr. Dann genieße ich nur noch die Geschwindigkeit und die –“ Ihre Stimme war
abgebrochen, als sie den großen Mann mit dunklem Haar erblickt hatte, der langsam auf sie
zukam. „Kann ich Ihnen helfen?“
Und Thomas erinnerte sich, wie er gelächelt hatte, und wie sein Lächeln von dem Bisschen
Frau, das sie damals gewesen war, erwidert worden war. Über die Jahre hatten sie oft
miteinander gesprochen: sie, eine Frau, die zu einer eleganten jungen Dame wurde, die die
Welt außerhalb der vier Wände ihres Vaters kennenlernen wollte; er, ein Mann, der nicht umhin
konnte, die Kraft und Intelligenz zu sehen, die in ihr gegen den festen Griff ihres Vaters

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kämpften. Der Viscount liebte sein Kind so sehr, dass er alles tun würde, um es zu beschützen –
selbst wenn das bedeutete, seine Tochter der Gesellschaft (und andersherum) vorzuenthalten.
Thomas hatte Lady Audreys Fragen immer beantwortet. Und als sie älter wurde, begann sie
für Unterhaltungen mehr und mehr von ihm abhängig zu werden. Sie waren im Haushalt der
Marchwoods die einzigen in einem ähnlichen Alter. Es waren schließlich nur fünf Jahre
zwischen ihnen. Aber als Lady Audrey vor ein paar Monaten achtzehn Jahre alt geworden war,
hatte diese Freundschaft – wenn man sie denn so nennen konnte – begonnen, sich zu verändern.
Sie war kurz davor aus ihrem vergoldeten Käfig gelassen zu werden und das bedeutet nur eins:
Heirat.
Die tiefe Stimme des Viscounts brachte ihn mit einem dumpfen Schlag zurück in die Realität.
Marchwood seufzte erneut. „Liebstes Kind, du weißt, dass ich recht habe; bitte, streite nicht
mit mir nur um des Streites willen.“
Lady Audrey öffnete ihren Mund, zögert und schloss ihn wieder.
„Habe ich Ihre Erlaubnis, mich zurückzuziehen, my Lord?“ Thomas sprach mit tiefer und
leiser Stimme, aber obwohl er so sehr versucht hatte, sich so unauffällig wie möglich in die
Unterhaltung einzuklinken, brachte er doch Vater und Tochter dazu, aufzuspringen, ihre Köpfe
zu drehen und ihn anzustarren.
„Thomas“, sagte Audrey mit einem Hauch Überraschung. „Meine Güte. Ich hatte gar nicht
bemerkt, dass Sie da sind.“
Thomas’ Wangen glühten wie Feuer, aber er antwortete nicht. Es gab viele Dinge, die er
unbedingt zu Lady Audrey sagen wollte, aber jetzt, genau wie in jedem anderen Moment, den er
in ihrer Anwesenheit verbracht hatte, war nicht der richtige Zeitpunkt. Auf jeden Fall nicht,
während ihr Vater nur ein paar Fuß von ihnen beiden entfernt saß.
Statt mit ihr zu sprechen wandte er sich um und verbeugte sich vor dem Viscount. „My Lord,
ich glaube, der Gong zum Abendessen wurde schon geläutet. Ich muss um Ihre Erlaubnis bitten,
zu gehen.“
„Zu gehen?“ Marchwood holte langsam auf. „Aber natürlich, auf jeden Fall, Thomas.“
Ohne seiner Lordschaft Hilfe anzubieten, um sich vom Stuhl zu erheben (etwas, das er hätte
machen sollen), schritt er an beiden vorbei und aus dem Zimmer – sein Gesicht glühte immer
noch vor Scham, nicht das sagen zu können, was er wollte.

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Kapitel Drei

Es hatte vier volle Tage gebraucht, bis Lady Audrey sich mit der Tatsache angefreundet hatte,
dass sie unmöglich dem Weihnachtsball fernbleiben konnte, den ihr Vater dieses Jahr
veranstalte. Einen weiteren Tag brauchte sie um zu akzeptieren, dass sie hingehen würde. Nur
weil sie sich mit diesen Fakten anfreundete, bedeutete es jedoch nicht, dass sie die Hoffnung
völlig aufgegeben hatte, ihren Willen zu bekommen.
Am Abend des zweiundzwanzigsten genossen sie und ihr Vater das Dinner im blauen
Esszimmer. Der Butler McGerald, der viele Unterredungen mit seinem vorübergehenden Herr
hatte über sich ergehen lassen müssen, wusste nun über die kleinen Eigenarten und Vorlieben
Bescheid, die sich jeder Butler merken musste; und bislang machte er sich recht gut. Es war so
wenig Besteck wie möglich aufgedeckt worden, obwohl Scotchmore Castle drei vollständige
Sets Silber hatte, und eine große Silberkaraffe mit Wasser stand statt Wein auf dem Tisch, was
weit traditioneller gewesen wäre. Das schlimmste war, dass ein Diener mit einem fiesen
Anfall von Grippe darniederlag, sodass McGerald gezwungen war Thomas, den
Kammerdiener seiner Lordschaft, zu bitten zu bedienen.
McGerald versuchte, seine Abneigung nicht zu zeigen. Thomas war gern zu Diensten, aber er
war nicht als Diener ausgebildet – seine Kenntnisse beschränkten sich auf die Tätigkeiten als
Kammerdiener. Diese Art des Abendessens war definitiv nichts, was er sich für seinen eigenen
Herr und seine Herrin je erträumt hatte, aber er war von ihnen vor ihrer Abreise sorgfältig
instruiert worden, ausnahmslos alle Wünsche des vorübergehenden Herrn zu erfüllen. Und das
tat er; unter stillem Protest.
„Vater”, sagte Lady Audrey plötzlich und brach damit die Stille, die seit der Suppe, die das
Abendessen eingeläutet hatte, über den Fischgang, den sie gerade zu sich nahmen, geherrscht
hatte. „Ich habe mir Gedanken über den Weihnachtsball gemacht.“
Marchwood versteifte sich. Er machte sich auf einen Streit gefasst. „Meine Liebe, ich dachte
wir hätten diese Diskussion ein für alle Mal beendet. Der Weihnachtsball der Marchwoods ist
eine altehrwürdige Tradition, die mein Urgroßvater, der erste Viscount von Marchwood in
unserem Familiensitz begründete. Und ich sehe absolut keinen Grund, warum ich damit brechen
sollte, nur weil es dir nicht gefällt.“
McGerald und Thomas standen an der Wand des blauen Esszimmers, stramm und steif, als
wären sie zwei Ritterrüstungen, von denen sechs bereits das Zimmer säumten. Thomas konnte
nicht anders, er musste seine Augen auf Lady Audrey richten.
Sie wurde ein wenig rot. „Vater, ich möchte nicht deinen Unwillen erregen – und ich
akzeptiere, dass der Weihnachtsball Teil unserer Familie ist. Und ich stimme zu, dass wir mit
dieser Tradition fortfahren sollten.“

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Marchwood sah seine Tochter über den Tisch hinweg überrascht an.
„Trotzdem“, fuhr Lady Audrey sanft fort und spielte mit ihrer Gabel, während sie sprach,
„bin ich immer noch ein wenig verwirrt, warum ich nicht über die genauen Details des
diesjährigen Balls in Kenntnis gesetzt wurde, vor allem, da es ja anscheinend darum geht, mich
unter die Haube zu bringen.“
McGerald kämpfte einmal mehr gegen den Drang an, seine Emotionen auf seinem Gesicht zu
zeigen – aber dieses Mal war es Lachen und nicht Missbilligung, das versuchte an die
Oberfläche zu dringen. Thomas trat von einem Fuß auf den anderen, sein Gesicht wie
versteinert.
Der Viscount blinzelte, er war völlig entsetzt. „Unter die Haube zu bringen?“
„Genau“, nickte Lady Audrey. „Falls, wie du sagst, dies die perfekte Möglichkeit für mich ist
einen Ehemann zu finden, dann sollte der Weihnachtsball doch– zumindest teilweise – ein
sichtbarer Ausdruck meines Geschmacks sein. Dieser Mann kennt mich schließlich vielleicht
nicht.“
„Welcher Mann?“ Marchwood hatte völlig den Faden der Unterhaltung verloren und hatte den
Verdacht, dass er auch noch die Kontrolle über den Weihnachtsball verlieren würde. Er warf
seinem Butler einen schnellen Blick zu und McGerald trat sofort nach vorne, da er genau
antizipierte, was sein neuer Herr brauchte. Ein Glas wurde gehoben und mit Rotwein gefüllt.
McGerald verdrehte die Augen, als keiner hinsah. Er wusste, dass seine Lordschaft keine
Mahlzeit ohne seinen Lieblingswein überstehen würde.
Lady Audrey lächelte. Sie griff mit ihrer linken Hand nach ihrem Glas und hielt es hoch.
Thomas stolperte beinahe über seine eigenen Füße, als er versuchte vor McGerald bei ihr zu
sein. Er schenkte vorsichtig eiskaltes Wasser in ihr Glas, aber seine Bemühungen ließen sie
nicht einmal aufsehen. „Danke, Thomas. Der Mann, den ich heiraten soll, natürlich“, antwortete
sie ihrem Vater. „Wenn er in drei Tagen auf unseren Weihnachtsball kommt, wird er doch nach
Anzeichen meiner guten Haushaltsführung, meines guten Geschmacks, meiner eleganten
Auswahl an Essen und Musik und Dekoration Ausschau halten. Ich hatte angenommen, dieser
Gedanke wäre dir auch gekommen.“
Marchwood schüttelte langsam seinen Kopf, während er auf dem letzten Mundvoll Lachs
kaute. „Ich gebe zu, meine Liebe, darüber habe ich nicht nachgedacht.“
„Dachte ich es mir.“ Lady Audrey gestattete ihrer Stimme einen Hauch von Traurigkeit. „Ich
nehme an, alle Vorkehrungen wurden bereits getroffen; und ich würde sie natürlich auch nicht
mehr ändern wollen.“
Sie schlug die Augen auf das Essen auf ihrem Teller nieder und fuhr fort, es mit ihrer Gabel
hin und her zu schieben. Ihr Appetit war – für alle Augen im Raum sichtbar – vergangen.
McGerald und Thomas waren an ihre Stationen an der Wand zurückgekehrt, und obwohl Lady
Audrey mit dem Rücken zu ihnen saß, war es ihnen offensichtlich, was sie vorhatte.
Ihr Vater seufzte. Er blickte ein weiteres Mal McGerald an und die beiden Diener schritten

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nach vorne, um die Teller abzuräumen. Erst als die Teller nach unten gebracht und der
Nachtisch (Aprikoseneis, das am Morgen frisch zubereitet worden war) serviert worden war,
sprach er erneut. „Meine Liebe, wenn du denkst, du kannst mir eine Zusage entlocken, dass wir
den Ball nach deinen Wünschen gestalten, liegst du falsch.“
Lady Audrey lächelte beschämt und schob ihren Löffel durch das Eis. „Das funktioniert schon
lange nicht mehr.“
„Nicht mehr, seit du ungefähr acht Jahre alt warst“, sagte Marchwood lächelnd. „Damals
habe ich an deiner bezaubernden Art so viel Gefallen gefunden; deiner Mutter sehr ähnlich,
weißt du.“
„Ich wünschte, ich hätte sie besser gekannt“, sagte Lady Audrey wehmütig.
Marchwood lächelte langsam. „Ihr Verlust fühlte sich nur wie meiner an, als es geschah, aber
während die Zeit verstreicht, wird mir der Schaden in deinem eigenen Leben bewusst. Weißt
du, ihr liebster Weihnachtsball, den wir je hatten, war dein erster. Du warst noch ein Säugling.“
Lady Audrey lehnte sich interessiert nach vorne. „Du hast noch nie darüber gesprochen.“
Er zuckte mit den Schultern. „Bislang habe ich dazu keine Notwendigkeit gesehen. Außerdem
war es … schmerzhaft.“
Seine Tochter wartete einen Moment, bis er seine Gedanken gesammelt hatte.
„Es hatte am frühen Morgen geschneit“, sagte Marchwood langsam. Seine Augen hatte er auf
etwas gerichtet, das für sterbliche Augen unsichtbar war. „Wir hatten dich mit nach draußen
genommen, um den ersten Schneefall zu sehen, und das war der Morgen, an dem du das erste
Mal gelächelt hattest. Wir verbrachten den ganzen Tag draußen, spazierten durch den langen
Gang, den wir erst gepflanzt hatten, saßen auf dem rohen Zierbau, den wir erst im Sommer
davor gebaut hatten. Wir hatten so viele Pläne, deine Mutter und ich“, sagte er liebevoll und
Audrey lächelte ihn an. „Und an diesem Abend veranstalteten wir den Weihnachtsball von
Marchwood; den maskierten Weihnachtsball von Marchwood.“
Lady Audrey zuckte auf ihrem Stuhl. „Maskiert?“
Marchwood nickte. „Es war das Jahr, in dem wir es ausprobierten, und ich muss sagen, dass
wir uns selbst übertrafen. Es war, als wäre das Venedig der Renaissance ausgefegt und über
unserem Ballsaal ausgeleert worden, damit wir es genießen konnten. Die Musik, das Essen –
und die Masken! Es war wahrhaftig der schönste Weihnachtsball, den ich je veranstaltet habe.“
Lady Audrey lächelte, aber sie wusste, dass es keinen Sinn hatte, nach weiteren Details zu
fragen. Sie wusste, dass die festliche Jahreszeit in diesem Jahr nicht freudig geendet hatte; der
Schnee, der ihre Eltern veranlasst hatte, den ganzen Tag draußen zu verbringen, war derselbe,
der ihrer Mutter das Fieber beschert hatte, das sie dahingerafft hatte, ehe es noch Neujahr
wurde.
Marchwood hustete schroff. „Du weißt, dass die Details unseres Weihnachtsballs in Stein
gemeißelt sind; wenn es etwas gibt, das du gerne ändern würdest …“
„Naja“, sagte Lady Audrey nachdenklich, „ein maskierter Ball ist eine solch wunderbare

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Idee …“
Sie wartete auf die Antwort ihres Vaters, aber der sagte kein Wort. Lady Audrey begann zu
lächeln, aber nur zögerlich. „Ich möchte keine … schmerzhaften Erinnerungen zurückbringen,
Vater.“
Aber ihr Vater schüttelte den Kopf. „Unsinn, meine Liebe! Wenn du einen maskierten Ball für
dein erstes Mal in der Gesellschaft wünschst, sehe ich keinen Grund, warum wir nicht ein paar
Änderungen in letzter Minute durchführen sollten.“
„Danke!“ Lady Audrey strahlte über beide Ohren und begann ihren Löffel mit Bergen des
leckeren Aprikoseneises zu füllen. „Du musst dir keine Gedanken machen, Vater. Ich werde die
Vorkehrungen selbst treffen!“

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Kapitel Vier

Die meisten Bewohner der Küche waren lange vor Sonnenaufgang auf den Beinen. Schon vor
sechs Uhr morgens zündeten die Dienstmädchen Feuer an und machten Frühstück. Und dennoch
warteten sie, trotz der späten Stunde, auf die Gäste und warteten auf Anweisungen. Sie saßen in
dem großen Raum zur Tür der Eingangshalle gewandt. Die Tür hinter ihnen führte in den
Bedienstetentrakt.
„Das Essen sollte natürlich nach und nach aufgetragen werden“, sagte Lady Audrey. Sie hatte
die Bediensteten von Scotchmore Castle vor sich aufgereiht und stand vor ihnen, wie ein
Bischof vor seiner Gemeinde. Sie hatte auf jeden Fall die nötige Präsenz. „Ich möchte nicht,
dass die Speisen nach nur einer Stunde aufgegessen sind – aber ebenso wenig soll das Essen zu
spät serviert werden, sodass es welk und unappetitlich aussieht. Es liegt an Ihnen …“
Einige derjenigen, die geduldig auf das Ende von Lady Audreys Anweisungen warteten,
lächelten. Von der Kammerzofe zu den Stallburschen waren sie alle da – alle außer Thomas:
Der einzige Bedienstete, der nicht mit den Gästen in Berührung kommen würde, war der
Kammerdiener des Viscounts. Die Mehrzahl der Zuhörer kannte Audrey nicht, aber ein paar
waren mit den Marchwoods zusammen in ihr Weihnachtsdomizil gekommen. Die Kammerzofe
von Lady Audrey, Charlotte, lächelte breit über die Art, in der Lady Audrey sprach – nicht
spöttisch natürlich, sondern in deren Kühnheit und Geistesgegenwart schwelgend.
Diese Gefühle wurden in den Gesichtern derjenigen, die sie nicht kannten, nicht gespiegelt.
Ihnen war offensichtlich niemals zuvor eine junge Dame mit solch starkem Charakter begegnet.
Als sie langsam ihr Crescendo aufbaute, fiel vielen das Feuer in ihren Augen auf.
„… es werden also die ganze Zeit über Masken getragen und das schließt Sie mit ein“, sagte
Lady Audrey, der es schwerfiel, still zu stehen, so lebendig war ihre Aufregung. Ob sie sie nun
kannten oder nicht, sie mussten alle schmunzeln. Ihre Leidenschaft für den Weihnachtsball war
ansteckend.
Lady Audrey erwiderte ihr Lächeln, aber es erlosch ein wenig, während sie weitersprach.
„Ich weiß, dass viele von Ihnen mich nicht kennen und ich kann mir vorstellen, dass einige von
Ihnen nicht verstehen, warum ich so stolz auf den Weihnachtsball bin. Es ist mein erster Auftritt
in der Gesellschaft und ich“, und hier stockte ihre Stimme ein wenig, „ich muss gestehen, dass
ich etwas nervös bin. Wenn Sie etwas tun können, um es für mich leichter zu machen, stehe ich
in Ihrer Schuld.“
Sie antworteten nicht, aber das Nicken und das beruhigende Lächeln, das ihr
entgegengebracht wurde, sagte Lady Audrey, dass sie auf ihrer Seite waren. Sie hatte einen
Kloß im Hals, schaffte es aber, ihr Lächeln aufrecht zu erhalten.
„Ich muss noch ein paar Worte zu den Dienern im Speziellen sagen, aber Sie können alle

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einen Nutzen daraus ziehen, also bleiben Sie bitte noch einen Augenblick. Wenn die Kutschen
vor der Tür halten –“
Sie wurde davon unterbrochen, dass die Tür geöffnet wurde. Dort stand Thomas. Sein Haar
war feucht und gut gekämmt und er hatte seine Kammerdieneruniform abgelegt. Der
schwungvolle Schnitt seines Jacketts und der elegante Krawattenknoten waren für Audrey neu.
Wenn sie sich Thomas vor ihrem inneren Auge vorstellte, sah sie ihn immer in seiner Uniform.
Sie war mehr eine zweite Haut als Kleidung. Der Gedanke, dass Thomas andere Kleider als
diese tragen könnte, war unmöglich. Und trotzdem stand er hier.
Er hatte sich nicht bewegt, seit er durch die Tür getreten war und sie stand hinter ihm immer
noch offen. Seine Augen sahen in die ihren und sein Blick brannte sich in sie hinein.
Lady Audrey Mund stand offen und es dauerte volle fünf Sekunden, bis sie merkte, dass
nichts herauskam.
„Thomas!“ McGerald rettete sie vor weiteren Peinlichkeiten und stand von seinem Platz auf,
um den Kammerdiener zu begrüßen. Sein schroffer schottischer Akzent durchschnitt die Stille.
„Ich habe die Zeit ganz vergessen – können Sie noch ein wenig auf mich warten?“
„Natürlich, Angus“, sagte Thomas locker. „Wir haben noch jede Menge Zeit, ehe der Queen’s
Head schließt und ich habe keine Eile.“
Es gab ein Wort für das, was Lady Audrey fühlte: Durcheinander. Ihr war unglaublich heiß,
obwohl die Küchenfeuer schon vor Stunden gelöscht worden waren. Sie fühlte, wie ihre
Wangen sich rot färbten, aber das war nichts gegen das Beben ihres Herzens und das Blut, das
immer schneller durch ihre Adern gepumpt wurde.
Aber niemand sonst im Raum schien von diesem plötzlichen Anstieg der Temperatur
betroffen zu sein. Die Gesichter waren nicht gerötet; ein paar bewegten sich auf ihren Stühlen,
um eine bequemere Sitzposition zu erlangen, aber die einzigen Menschen, die sich wirklich
bewegten, waren McGerald, der sich wieder setzte, und Thomas selbst, der sich gegen einen
Arbeitstisch lehnte und seine Augen dabei nicht von Audrey abwandte.
Ihr Herz schlug für eine Sekunde schmerzhaft schnell, dann fasste sie sich.
„Die Kutschen“, brachte sie heraus, obwohl ihr Mund trockener war, als sie es in Erinnerung
hatte. „Wenn die Kutschen kommen …“ Etwas war mit ihr ganz offensichtlich nicht in Ordnung,
dachte sie. Sie hatte sich noch nie so gefühlt, nicht seit der letzten ernsthaften Erkältung. Und
sie konnte den Blick nicht von Thomas abwenden – Thomas, sie musste ihn wieder als das
sehen, was er war: der Kammerdiener ihres Vaters, ein Bediensteter, kein Mann von Fleisch
und Blut, dessen Blick der kraftvollste war, den sie je gesehen hatte.
Es war schwierig für Lady Audrey den genauen Grund dafür auszumachen, warum sie sich
Thomas nie außerhalb ihres Zuhauses vorgestellt hatte. Vielleicht, weil er seinem Herrn völlig
ergeben war, ihrem Vater, und sich nur sehr selten einen der freien Tage nahm, die ihm
angeboten wurden. Vielleicht war es, weil er nie seine eigenen Kleider trug, wenn er sich auf
dem Anwesen der Familie aufhielt, sodass sie ihn nie in anderen Kleidern als der Livree der

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Familie gesehen hatte. Oder vielleicht, und das erschien Lady Audrey die beste Erklärung zu
sein, lag es daran, dass Thomas ebenso zur Familie gehörte, wie ihr Vater.
Lady Audrey hustete und räusperte sich. „Wie gesagt: die Ankunft der Kutschen am
Haupteingang –“
Thomas hob die Arme und verschränkte sie über seiner Brust. Nicht mal für einen kurzen
Moment ließ er den Blick von ihr ab.
Und erneut konnte Lady Audrey nichts mehr sagen.
Es entstand ein schmerzafter Moment der Stille, von dem Lady Audrey ernsthaft dachte, er
könnte den Großteil ihres Lebens einnehmen. Schließlich wurde er jedoch von dem Mann
unterbrochen, der für ihren unerklärlichen Zustand verantwortlich war.
„Wenn Sie nichts dagegen haben, my Lady“, sagte er sanft, „würde ich gerne draußen warten,
bis McGerald bereit ist.“
Statt ihr einen Moment zu gestatten, innezuhalten und ihre Antwort abzuwarten, löste er seine
Arme, ging an den sitzenden Bediensteten vorbei, die sich auf ihren Stühlen herumdrehten, um
seinen Fortgang zu beobachten, schritt an Lady Audrey vorbei und verließ die Küche. Hinter
sich zog er die Tür zu.
Lady Audrey hatte sich nicht dagegen wehren können. Wie eine Sonnenblume, die sich der
Sonne zuwendet, war sie seinem Gang durch die Küche gefolgt und stand nun mit dem Rücken
zu ihrem Gefolge mit Blick auf die Tür, die soeben den Mann verschluckt hatte, den sie noch
nie zuvor richtig angesehen hatte.
Natürlich war er ein sehr beständiger Teil ihres Lebens gewesen für die letzten – waren es
fünf Jahre? Um diese Zeit war Thomas zu ihnen gekommen. Er war eine starke, sanfte und
beinahe stille Präsenz in ihrem Heim gewesen. Jemand, den ihr Vater ständig zu Gesicht bekam,
für das einzige Kind des vierten Viscounts von Marchwood jedoch nur ein vorbeigehendes
Gesicht unter vielen gewesen war.
Und doch … es hatte auf jeden Fall Zeiten gegeben, da sie nach ihm gerufen hatte – und er
war gekommen. Das eine Mal, als sie absichtlich auf den höchsten Baum im Park geklettert
war, um dann herunterzufallen und sich das Bein zu verletzen. Thomas war derjenige gewesen,
der sie gefunden hatte. Er hatte vorsichtig ihr Bein verbunden, sodass sie kaum hatte humpeln
müssen. Sie hatten es nie wieder erwähnt, aber sie wussten beide, dass sie seine Lordschaft
nicht beunruhigen sollten.
Und das andere Mal, als sie ihrer Gouvernante einen Streich spielen wollte – sie war eine
gemeine Frau gewesen, die Audrey nie gemocht hatte: Thomas hatte die Gouvernante, sehr zur
Enttäuschung des vierzehnjährigen Mädchens, das endlich gegen ihre Tyrannin vorgehen wollte,
in Sicherheit gebracht – und doch hatte er ihr zugelächelt und die arme alte Dame überzeugt,
dass sie lediglich ihre Brille verloren hatte und die Handcreme vermutlich einfach verdorben
war.
Je mehr Lady Audrey darüber nachdachte, desto mehr Begebenheiten fielen ihr ein, bei denen

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der große Mann, von dem sie nicht mehr als den Namen wusste, eine große Rolle gespielt
hatte. Es war beinahe unmöglich sich ein Zuhause ohne ihn vorzustellen.

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Kapitel Fünf

Der Weihnachtsabend war im Hause Marchwood immer eine magische Zeit gewesen. Lady
Audrey und ihr Vater tauschten oft kleine Geschenke aus und verbrachten den Abend in ruhiger
Unterhaltung und gespannter Erwartung des Weihnachtsballs am folgenden Abend.
Dieses Jahr war es jedoch anders. Lady Audrey war sich beinahe sicher, dass ihr Vater
bereits ins Bett gegangen war, obwohl es noch relativ früh war. Sie stand währenddessen auf
einem Plüschsessel in ihrem Schlafzimmer, wo man an ihr herumzupfte und zog und sie mit
Nadeln piekte und Stoff hochsteckte, um ihr Kleid für den nächsten Abend fertig zu kriegen.
Der Schein der vielen Kerzen, die im Zimmer aufgestellt worden waren, damit die Schneiderin
und ihre Gehilfin so viel Licht wie möglich hatten, verteilte sich im Zimmer und ergoss sich
sogar in den Flur.
„Autsch!“ Lady Audrey zuckte zusammen. „Noch eine Nadel, Henrietta, und ich bin mehr
Nadelkissen als Lebewesen!“
Die Gehilfin der Schneiderin entschuldigte sich übermäßig und wurde angesichts ihres
eigenen Fehlers rot. Sie entfernte die Nadel aus dem Korsett, das sie und ihre Herrin anpassten.
„Ruhig, my Lady“, sagte die Schneiderin Madame Choud missbilligend, „wenn Sie sich
weiter bewegen, ist das Kleid maßgeschneidert für einen Elefanten und nicht für ihre delikate
Figur!“
„Dummes Gewäsch!“ Lady Audreys Stimme war bestimmt. „Sie haben doch noch die Maße
vom Herbst, Madame Choud. Ich verstehe nicht, warum eine weitere Anprobe so kurz vor dem
Ball überhaupt nötig ist.“
Madame Choud verdrehte die Augen. Sie war eine reife Frau um die vierzig Jahre und hatte
mehr als genug Debütantinnen bei ihrem ersten Auftritt in der Gesellschaft gesehen – obwohl
bei den meisten dieser Fälle eine irritierende Mama herumschwebte und lächerliche
Forderungen stellte, die immer unmöglicher wurden, je länger die Anprobe dauerte. Bei der
kleinen Lady Audrey war es anders. Keine Mama, die sie zu einer bestimmten Mode oder
einem bestimmten Mann drängte, dachte Madame Choud mit einem wissenden Lächeln auf dem
Gesicht. Und sie war außerdem nicht mehr die kleine Lady Audrey.
Sie trat einen Schritt zurück und sah sich die Veränderung an. Was sie erblickte, sah
allgemein gut aus; eine kleine Frau, das stand fest, und ohne irgendwelche auffälligen
Gesichtszüge – aber doch, da waren die Augen. Im einen Moment völlig unscheinbar, im
nächsten loderte in ihnen ein Feuer wie in einem Schmelzofen. Diese Augen konnte man nicht
verwechseln. Das erste Erbe, das ihre Mutter ihr gegeben hatte. Ihre Gestalt war voll, jedoch
unter den Roben, die sie jeden Tag trug versteckt. Sie schien sich nicht für die Kurven zu
schämen, die sie in den letzten Jahren bekommen hatte, viel eher war sie sich derer nicht

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bewusst.
Lady Audrey fing ihren Blick. „Sehen Sie etwas Interessantes?“, neckte sie lächelnd.
Madame Choud trat lachend wieder näher und zupfte an der Nadel, die sie hatte
steckenlassen, um einen guten Blick auf die Frau vor ihr werfen zu können. „Ich bewundere Sie
nur, my Lady“, sagte sie charmant. „Und Sie haben natürlich unrecht. Sie haben sich seit der
Anprobe im Herbst noch einmal ein wenig verändert – und ein Kleid wie dieses kann dadurch
unmöglich zu tragen sein.“
Lady Audrey konnte ihr nicht widersprechen. Das Kleid, das ihre Schneiderin aus der Ferne
in den letzten drei Wochen kreiert hatte, war ein Kleid für eine ausgewachsene Frau, die bereit
war, in die Welt hinaus zu treten. Die dramatisch tiefen, reichen Pflaumentöne wurden von dem
Goldfaden, mit dem es genäht worden war, weicher gemacht und die kurzen Ärmel stellten
einen Gegensatz zum fein ausbalancierten tiefen Ausschnitt dar. Die falschen Maße würden
besonders in diesem Bereich für einen Skandal sorgen.
Sie hatte sich sofort in ihr Kleid verliebt, als sie es das erste Mal gesehen hatte, und Madame
Choud war in absolute Verzückung geraten, als sie ihr erzählt hatte, dass der Weihnachtsball
ein Thema erhalten hatte – Masken!
Thomas hatte seine Lordschaft, nun bettfertig vor dem aufregenden Tag morgen, gerade erst
verlassen, als er zufällig auf Lady Audreys Schlafzimmer zulief. Und er konnte eine lange helle
Linie strahlenden Lichts an der Wand gegenüber ihrer Tür entdecken. Als er näher kam,
erkannte er erschrocken, dass die Tür nicht richtig zugezogen war, sodass ein kleiner Spalt
zwischen Türrahmen und Tür entstanden war. Durch diese Lücke trat ein kleiner Lichtstrahl, zu
klein, um bemerkt zu werden, stand man nicht direkt davor – und Lärm; Geräusche; Stimmen.
„Ich kann es nicht glauben“, sagte eine Frau. Thomas erkannte die Stimme zunächst nicht,
aber als er näher an die Tür trat – er wusste, dass man ihn sofort entlassen würde, sähe man ihn
in dieser Position – erblickte er eine große Frau. Sie schwebte um eine Gestalt, die über ihr
stand. Es war Lady Audrey. Er sah sofort, dass die Frau, die um ihn herumlief, ihre persönliche
Schneiderin, Madame Choud, war. Sie sprach immer noch.
„Ernsthaft, ich kann es nicht glauben!“, sagte Madame Choud wehmütig, während sie die
Änderungen, die ihre Assistentin Henrietta an Lady Audreys Kleid vornahm, mit ihren Händen
dirigierte. „Ein Maskenball! Davon habe ich seit Jahren nicht mehr gehört, my Lady: Es ist eine
wirklich inspirierte Wahl. Wenn Sie mir nur mehr Zeit für die Vorbereitung gegeben hätten!“
Lady Audrey biss sich auf die Lippe. Ihre Nerven eilten plötzlich voran. „Daran hatte ich
nicht gedacht, Madame. Denken Sie, es ist überhaupt möglich –“
Madame Choud warf ihr ein warmes Lächeln zu und nahm aus einer der Kisten, die von
einem Diener in Lady Audreys Schlafzimmer getragen worden waren, ein kleineres Kästchen
aus rotem Samt. Madame Choud lief langsam auf ihre Kundin zu und öffnete das Kästchen, um
Lady Audrey zu zeigen, was sich darin befand – und sie keuchte auf.
Darin befand sich die eleganteste, schönste und verblüffendste Maske. Sie schien in ihrer

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Form perfekt zugeschnitten zu sein und passte schon perfekt auf Lady Audreys feine und
delikate Gesichtszüge. Sie war mit derselben pflaumenfarbenen Seide überzogen, aus der Lady
Audreys Kleid geschneidert war. Eine Bordüre aus Goldfaden zierte sie und in diesen
Goldfaden waren Bänder aus der pflaumenfarbenen Seide gewebt, die an jedem Ende zu dem
Band wurden, die die Maske auf ihrem Gesicht halten sollte. Und als wäre das nicht genug,
waren drei Diamanten und fünf Rubine um die linke Augenöffnung der Maske gestickt worden.
Sie war perfekt.
„Oh, Madame Choud!“ Lady Audrey konnte ihre Freude beim Anblick dieses Traums kaum
zurückhalten. Sie würde auf unglaubliche Weise in die Gesellschaft eingeführt warden. „C’est
beau, c’est gentil, c’est parfait! Wie ist es Ihnen gelungen, sie rechtzeitig fertigzustellen?“
Von seiner Position an der Schlafzimmertür hatte Thomas nicht sehen können, was Madame
Choud Lady Audrey gezeigt hatte, aber aufgrund der Geräusche, die sie machte, erriet er, dass
es sich um etwas Glitzerndes handelte.
Madame Choud war so überwältigt von all dem Lob, dass sie gezwungen war, ein großes
Seidentaschentuch aus ihrem Ärmel zu holen und sich die Augen abzutupfen. „Mein Täubchen,
das ist doch nicht der Rede wert“, sagte sie endlich durch eine verstopfte Nase. „Sie
vergessen, dass Ihre Mutter eine meiner ersten Kundinnen war, die erste Frau in der
Gesellschaft, die meine schönen Kleider trug. Ich werde das nie vergessen – ebenso wenig,
dass Ihr erster Weihnachtsball auch ein Maskenball war. Ich hatte eine Ahnung, könnte man
sagen, dass sich das Ereignis wiederholen könnte.“
Tränen drohten aus Lady Audreys Augen zu kullern. „Sie sind zu freundlich, Madame“, sagte
sie sanft und bemerkte gar nicht, dass Henrietta sie weiter mit Nadeln piekte. „Wie kann ich
mich dafür erkenntlich zeigen?“
Madame Choud schnaufte stolz. „Sie schulden mir nichts, mein Kind. Wenn eine Frau einer
anderen nichts Gutes tun kann, in was für einer Welt leben wir dann? Morgen Abend werden
alle Augen auf Sie gerichtet sein – die der Damen vor Neid und die der Männer aus
Faszination. Wer ist diese mysteriöse Dame, werden sie sagen!“
Als Madame Choud in sich hinein kicherte und zur Anpassung des Kleides zurückkehrte,
lächelte Lady Audrey. Sie hatte über den ganzen Vorbereitungen der letzten Tage –
Anweisungen an die Musiker, die Auswahl des Essens, das Durchsehen der
Einladungsantworten – völlig vergessen, dass sie die Hauptperson einer Rinderversteigerung
sein würde. Aber ja, der Weihnachtsball dieses Jahr hieß nicht nur die festliche Jahreszeit
willkommen, sondern diente vor allem dazu, ihr einen Mann zu finden.
Lady Audrey verzog kaum merklich das Gesicht. Es war auf seine eigene Weise barbarisch:
eine schöne Frau in die Mitte einer Horde junger Männer zu stellen, damit sie sich darum
streiten konnten, wer sie am Ende bekommen sollte. Auf der anderen Seite, grübelte sie, wäre
es wunderbar, könnte sie den Mann ihrer Träume treffen.
Das würde aber natürlich voraussetzen, dass sie genau wusste, was der Mann ihrer Träume

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war. Mit einem Zucken, das nichts mit Henriettas Absteckfähigkeiten zu tun hatte, erkannte sie,
dass sie darüber noch nie wirklich nachgedacht hatte. Sie hatte schon einige junge Männer
getroffen, das stimmte; aber die Mehrzahl von ihnen waren Brüder ihrer Freundinnen gewesen
oder andere männliche Verwandte. Sie war ihnen kaum vorgestellt worden, meistens waren sie
zusammen aufgewachsen. Sie konnte sie sich ebenso wenig als potentielle Bewerber
vorstellen, wie sie sich selbst einen Traummann ausmalen konnte!
Lady Audrey gab sich Mühe, nicht leise zu kichern und damit die Anprobe zu ruinieren, als
sie darüber nachdachte, sich selbst einen Verehrer zu erschaffen. Nicht zu ernst natürlich,
jemand mit Sinn für Humor, mit dem sie lachen konnte. Ein Mann, der intelligent war – und
gutaussehend, dachte sie. Ihr Kichern verwandelte sich sofort in eine Röte, die sich vorsichtig
auf ihre Wangen und Schlüsselbeine legte.
Thomas, der immer noch hinter der fast geschlossenen Tür versteckt war, konnte seine Augen
nicht von ihrem Gesicht abwenden. Mal war sie fröhlich, dann nachdenklich oder unschlüssig.
Sie bewegte sich durch Gefühle schneller als Thomas es für möglich hielt. Und doch, dachte er,
morgen war einer der wichtigsten Tage ihres Lebens – der die nächsten Jahre bestimmen
konnte. Gemischte Gefühle waren etwas, das ihr niemand übel nehmen konnte.
Ihre Überlegungen waren auch an Madame Choud nicht unbemerkt vorbei gegangen, die
schon zu vielen jungen Damen in einem ähnlichen Alter und einer ähnlichen Position gedient
hatte, um diese Art der Gedanken, die Lady Audrey durch den Kopf gingen, nicht zu kennen.
Als wäre sie vollkommen allein, dachte Lady Audrey über all die jungen Männer nach, die
sich bereits in ihrem Bekanntenkreis befanden, und verglich sie mit ihrer Wunschliste. Schnell
wurde ihr klar, dass sie noch keinen Mann kennengelernt hatte, den sie sowohl mochte und
respektierte als auch begehrte. Die Leidenschaft, der es für eine Heirat bedurfte, hatte sie noch
nie erlebt. Kein Mann war je für einen Kuss in Frage gekommen, geschweige denn für das
Ehebett …
Sie konnte die Röte in ihrem Gesicht nicht verbergen und Madame Choud lächelte wissend.
„Denken Sie darüber nach, auf welchen jungen Mann ihre Wahl fallen wird, my Lady?“ Die
Röte wurde tiefer, aber Madame Choud war zu freundlich, um zu lachen. „My Lady, das muss
Ihnen nicht peinlich sein! Der Mann, an den man sich bindet, ist eine ernste Angelegenheit und
Sie müssen sichergehen, dass er all die Qualitäten hat, von denen Sie wissen, dass sie Sie
glücklich machen. Was hat die Ehe sonst für einen Zweck?“
„Ich schätze, Sie haben recht“, sagte Lady Audrey langsam und versuchte sich auf den extra
Stoff zu konzentrieren, den Henrietta an ihr zukünftiges Kleid steckte. „Ein bisschen kürzer,
Henrietta. Da ich eine Maske tragen werde, möchte ich ungern immer auf den Boden starren,
wenn ich einen Schritt nach vorne gehe.“
Es bereitete Thomas beinahe körperliche Schmerzen weiter zuzuhören. Der Gedanke, dass
Lady Audrey bald verheiratet sein könnte – heiraten musste, wenn das Vermögen der
Marchwoods tatsächlich so schnell versiegte, wie man dachte – und jemandes Ehefrau werden

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sollte, der sie nicht kannte oder wertschätzte; dieser Gedanke war ihm äußerst zuwider. Dass
überhaupt eine Frau heiraten musste, um sich selbst zu schützen! Dass diese Frau einen Mann
heiraten musste, den er nicht kannte, einen Mann, den er nicht beurteilen konnte, einen Mann,
der vermutlich genug Geld hatte, um sie aus dem Schutz ihres Vaters herauszulocken …
Thomas riss sich von der Tür los und lief leise zurück in den Bedienstetentrakt. Mehr konnte
er nicht aushalten.
Zwischen den drei Frauen breitete sich Stille aus und die vergoldete Uhr auf dem Kaminsims
über dem Feuer begann zu schlagen. Es war neun Uhr abends.
Madame Choud befeuchtete ihre Lippen und beschloss es zu riskieren. „Hat my Lady einen
bestimmten Mann vor Augen?“
Lady Audrey hatte diese Frage erwartet und die tiefe Röte im Gesicht, die die Schneiderin
erwartet hatte, stellte sich daher nicht ein. „Nein, Madame Choud; nicht im Mindesten.“
„Nicht einmal einen ihrer Bekannten, der Ihnen gefallen hat?“ Madame Choud konnte nicht
glauben, dass es nicht einen einzigen Gentleman zwischen sechzehn und dreißig geben sollte,
der selbst der einzigen Tochter des vierten Viscounts von Marchwood gefiel.
Lady Audrey lächelte entschuldigend. „Nein, Madame, nicht ein einziger. Ich habe nie einen
Mann getroffen, mit dem ich mir vorstellen könnte, verheiratet zu sein. Eine Unterhaltung, ja,
ein Kartenspiel, auf jeden Fall. Aber eine Hochzeit?“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist etwas,
das ich bislang noch nicht ernsthaft in Erwägung gezogen habe.“
Die letzte Nadel war untergebracht und Henrietta erhob sich von ihren Knien, auf denen sie
gekauert hatte, um den Saum des Rocks festzustecken. Sie knickste vor ihrer Herrin und Lady
Audrey.
Madame Choud winkte mit einer Handbewegung ab und hielt die andere Hand Lady Audrey
hin, um ihr von ihrem Sessel zu helfen. Als sie sicher auf dem Boden stand, führte sie das
Kommando vor den großen aufrechten Spiegel, der in einer Ecke des Raums zu finden war.
Lady Audrey erkannte gutes Handwerk und elegante Kleider, wenn sie sie sah, und ein Blick
in den Spiegel sagte ihr, dass sie wahrhaftig und in allen Bedeutungen des Wortes die Schönheit
des Balls sein würde.
„Wissen Sie“, sagte Madame Choud nachdenklich, „manchmal muss man wissen, wo man
suchen muss, wenn man nach etwas Ausschau hält. Ob es nun eine verlorene Nadel oder ein
potentieller Ehemann ist – es ist ein großer Vorteil, wenn man an den richtigen Orten sucht.
Vielleicht werden Sie morgen Abend überrascht sein, über das, was Sie finden.

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Kapitel Sechs

Lady Audrey holte tief Luft.


Es war ein Wunder, dass sie dazu überhaupt in der Lage war. Durch eine behutsame Technik
von Madame Choud am Abend zuvor war es möglich, dass sie ein Korsett trug und trotzdem
atmen konnte – eine Kreation, von der Lady Audrey wusste, dass sie kaum bekannt war. Sie
schätzte sie hoch, vor allem, da ein tiefer Atemzug so nötig war.
Es war beinahe, als hätte sie sich nicht vom Spiegel in der Ecke ihres Zimmers wegbewegt –
aber es war ein ganzer Tag vergangen, seit sie das letzte Mal in ihrem Ballkleid hier gestanden
hatte. Sie hatte nun vorsichtig ihre Maske aufgesetzt, die Bänder um ihr Haar geschlungen und
festgesteckt. Das Kleid und die Maske waren eine Symphonie der Schönheit, aber der Musiker
in ihrem Zentrum war Lady Audrey.
Sie war nie eine stolze Frau gewesen, stimmte aber zu (zumindest im Stillen), dass sie
ausnehmend schön aussah heute Abend. Ihre Toilette und Vorbereitungen waren nun
abgeschlossen; sie waren tatsächlich schon seit zwanzig Minuten abgeschlossen. Das
Unvermeidbare konnte nicht länger aufgeschoben werden. Es war Zeit, nach unten zu gehen.
Dies war natürlich nicht der erste Ball, den sie besuchte. Da waren all die vergangenen
Weihnachtsbälle von Marchwood gewesen, ebenso die paar, zu denen sie eingeladen worden
war, als sie sechzehn geworden war. Viele der Einladungen waren unter der falschen Annahme
verschickt worden, dass sie schon in die Gesellschaft eingeführt worden war; was natürlich
nicht stimmte. Ihr Vater hatte dies natürlich für einen massiven Bruch des Protokolls gehalten
und war besonders über die Spielsteine für Almacks erbost. Lady Audrey hatte versucht ihm zu
erklären, dass Almacks ein sehr respektabler Ort war und dass die Spielsteine nur an die
Creme der jungen Damen ausgegeben wurden, die man für würdig erachtete. Er ließ sich nicht
überzeugen. Sie hatte jedoch die Erlaubnis erhalten, einige Bälle zu besuchen, die von
Verwandten ausgerichtet worden waren, da der Viscount es offensichtlich nicht für schicklich
erachtete abzusagen. Natürlich waren auch einige Fremde auf diesen Bällen, aber Lady Audrey
war stets bei den Freunden und Familienmitgliedern geblieben, die sie kannte; unter dem
sorgend liebenden Blick ihres Vaters.
Ihr Wissen über die rudimentäre Organisation eines Balls war daher genau so, wie man es
sich vorstellen würde. Viele waren eingeladen und noch mehr würden kommen; es würde eine
Menge Punsch geben und man erwartete, dass Champagner und Essen gereicht wurde; jedem
würde es zu heiß werden und es würde viel länger getanzt werden, als man erwartete; Klatsch
und Tratsch würden ausgetauscht werden, Geschäfte abgeschlossen, Brautwerbung begonnen
und beendet, und alle würden mit der freudigen Vorstellung gehen, sie wären der alleinige
Grund dafür, dass der Ball ein Erfolg wurde.

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So war es jedenfalls immer gewesen, wenn Lady Audrey auf einem Ball gewesen war, und
sie sah keinen Grund, warum es heute anders sein sollte. Mit der Ausnahme natürlich, dass es
diesmal sie gewesen war, die den Ball orchestriert hatte, ihre Geschmäcker wurden ausgestellt,
ihr Ruf stand auf dem Spiel und ihre Einführung in die Gesellschaft würde das Gesprächsthema
schlechthin sein.
Als sie durch die schwach beleuchteten Flure lief und sich der Treppe näherte, stellte Lady
Audrey sich vor, wie sie den Ballsaal an jenem Nachmittag verlassen hatte, ehe sie von ihrer
Kammerzofe nach oben gescheucht worden war. Die Musiker hatten ihre Bühne aufgebaut, die
Dienstmädchen waren gerade mit dem Fegen des Bodens fertig geworden und die Diener hatten
begonnen die Tische für die Getränke aufzustellen. Und schließlich hatte der Butler McGerald
alles auf Perfektion überprüft – und eben jene gefunden.
Aber nichts war vergleichbar mit dem Anblick desselben Ballsaals voller Menschen. Als
Lady Audrey sich dem unteren Treppenabsatz näherte, konnte sie, obwohl die Türen zum
Ballsaal geschlossen waren, sanfte Musik, das Trippeln von tanzenden Füßen und das
aufgeregte Gemurmel von beinahe hundert Menschen hören.
Lady Audrey blieb genau vor diesen Türen stehen und gab den beiden Dienern, die auf jeder
Seite der Tür standen, ein Signal zu warten. Sie brauchte noch einen weiteren tiefen Atemzug.
Sie schüttelte sich, gestattete dem Lächeln, das unter der Oberfläche gelauert hatte, sich auf
ihren Lippen auszubreiten und nickte den Dienern zu.
Sie griffen gleichzeitig zu den Türklinken und in einem dramatischen Moment, der auserlesen
war, öffneten sie die Türen. Licht flutete in ihre Augen, da die hunderte von Kerzen, die sie
vorbereitet hatte, angezündet waren. Die Musik war nun, da die Türen offen waren,
ohrenbetäubend.
Lady Audrey schritt bedächtig in den Saal. Sie sah sofort, dass es sinnvoll gewesen war, die
Vorbereitungen für eine größere Anzahl an Gästen zu treffen, denn es schien, als hätte jede
Person, die ihr Vater eingeladen hatte, eigene Gäste mitgebracht! Es waren wesentlich mehr als
hundert Menschen gekommen und beinahe alle hatten ihre Köpfe gedreht, um zu sehen, wie die
Dame des Hauses den Saal betrat.
Sie lächelte und war dankbar zu sehen, dass viele unter ihren Masken ihr Lächeln erwiderten
– aber sie stellte erschrocken fest, dass sie kaum ein Zehntel der Gäste im Saal kannte. Die
Masken waren so einzigartig, dass es zumindest aus der Entfernung unmöglich war
festzustellen, wer sie trug. Einige bedeckten lediglich die Augen ihrer Besitzer, andere reichten
bis unter das Kinn. Alle waren pfiffig und wunderschön verziert und es herrschte eine
aufgeregte und erwartungsvolle Atmosphäre, wie man sie sehr selten bei Gesellschaftsbällen
wie diesem spürte.
Aber das war genau, was Lady Audrey gewollt hatte. Einen richtigen Maskenball! Einen
Ball, während dem sie den Abend genießen konnte, ohne von sich sorgenden Müttern, die sich
verzweifelt eine schöne Schwiegertochter wünschten, überfallen zu werden.

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Die Musiker spielten noch und es waren die Tänzer, die ihre Augen als erstes von der
Gastgeberin abwanden, um begeistert wieder zum Tanz und ihren Partnern zurückzukehren.
Schließlich wandten sich die meisten Leute wieder ihren Unterhaltungen zu und Lady Audrey
konnte einen bedächtigeren Blick durch den Raum schweifen lassen. Von denen, die sie
erkannte, waren viele die Freunde und Gäste ihres Vaters; es war schließlich ihre Einführung in
die Gesellschaft und dementsprechend war ihr eigener Bekanntenkreis derzeit noch recht klein.
Die Bekannten ihres Vaters waren natürlich viel älter als sie, aber aus der Tatsache, dass viele
Frauen sich an Jüngere hielten, die ihr altersmäßig näher waren, schloss sie, dass viele Gäste
ihre Kinder mitgebracht hatten. Das hielt aber einige ihrer engsten Freunde nicht davon ab auch
anwesend zu sein und sie entdeckte schnell drei ihrer engsten Freunde, die zusammen in der
Nähe eines Kamins standen. Selbst in einem Saal, der voller Menschen mit Masken war, gab es
keine andere Familie mit derart goldenem Haar.
Zu ihnen zu kommen war jedoch eine weitaus schwierigere Angelegenheit. Viele Augen
sahen sie forschend an und ein großer älterer Herr mit schwarzer Maske, die sein Gesicht
inklusive Kinn und Hals vollständig bedeckte, kam auf sie zu und unterbrach ihre Schritte.
„Meine liebe Lady Audrey“, sagte er mit lauter Stimme, lauter als sie es erwartet hatte bei
seiner gebückten Haltung und der Abhängigkeit von einem starken Spazierstock, den er in
seiner linken Hand hielt. „Ihr Anblick ist eine Wonne und wir können uns glücklich schätzen,
Sie in Ihrer ganzen Schönheit zu sehen.“
Lady Audrey senkte den Kopf und lächelte. „Ich danke Ihnen“, sagte sie und sah, dass viele
Leute um sie herum in ihren Unterhaltungen inne gehalten hatten, allerdings ohne die Köpfe zu
drehen. Sie wollten lauschen, aber ohne dabei ertappt zu werden. „Es ist wunderbar, so viele
Freunde zu haben, die uns an Weihnachten Gesellschaft leisten.“
Sie neigten die Köpfe und der ältere Mann wandte sich ab, sodass Lady Audrey den Weg zu
den wenigen Leuten wieder aufnehmen konnte, auf die sie sich wirklich gefreut hatte. Sie war
sich nicht sicher, wer der Mann gewesen war, da die Maske es beinahe unmöglich machte,
irgendeine Art von Merkmal zu entdecken. Es konnte der Finanzminister sein; aber große,
buschige, graue Augenbrauen waren weit verbreitet …
Sie kämpfte sich ihren Weg durch die Menge, erwiderte das Lächeln vieler Leute, senkte den
Kopf in Richtung der unendlichen Anzahl junger Männer, die sich vor ihr verbeugten, als sie
vorbeiging, und hielt Freunden ihre Hand hin. Zwei von ihnen waren offensichtlich
Schwestern: Joy und Harmony Fitzroy, zwanzig und achtzehn Jahre alt, mit goldenem Haar und
blauen Augen, die denen ihrer Mutter glichen. Ihre Kleider waren in unterschiedlichen
Hellblautönen gehalten, die perfekte Farbe für ihren Teint. Ihre Cousine Jemima Fitzroy auf der
anderen Seite war etwas dunkler, größer und schlanker und trug weißen Satin. Sie war in Joys
Alter und sah dennoch wesentlich älter aus. Alle drei trugen natürlich Masken: Joy und
Harmony trugen zusammenpassende silberne Masken mit blauen Bändern, um sie im Gesicht zu
befestigen, und Jemimas hatte dieselbe Farbe wie ihr Kleid mit stilisierter Einsäumung am

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Rand. Alle ihre Masken bedeckten zu Lady Audreys Erleichterung lediglich die Augen und
Nase, sodass sie in der Menge einfach zu finden waren.
„Nun beehrst du uns also endlich mit deiner Anwesenheit!“ Jemimas scharfe Zunge sprach
zuerst, wurde jedoch vom bewundernden Blick auf ihrem Gesicht abgeschwächt. „Du hast uns
wirklich in Atem gehalten, weißt du, ich war schon versucht zu glauben, du hättest dich
entschieden früh zu Bett zu gehen, statt uns hier unten Gesellschaft zu leisten!“
Sie lachten alle zusammen und Lady Audrey entspannte sich das erste Mal, seit sie ihr Kleid,
das Madame Choud kreiert hatte und in dem sie sich wie die eleganteste und edelste Dame im
ganzen Land fühlte, angezogen hatte. Sie war mit dem Fitzroy-Klan aufgewachsen und all die
Cousinen und Schwestern kamen einer eigenen Schwester am nächsten.
Lady Audrey nahm Jemimas Hand, die keine Champagnerflöte hielt. „Als würdest du je
glauben, dass ich mir eine Möglichkeit entgehen lasse zu sehen, wie du verheiratet wirst“,
neckte sie. „Wie vielen jungen Männern hat dein Vater dich bei Gelegenheit nun vorgestellt?“
„Vierzehn, als ich das letzte Mal gezählt habe“, sagte Jemima mürrisch, aber das Lächeln auf
ihrem Gesicht war nicht verschwunden. „Warte nur, Audrey – nun bist auch du Teil des
Heiratsmarkts! Dein Vater wird schneller als du denkst eine Reihe junger Gentlemen für dich
bereithalten, um dich loszuwerden!“
Obwohl Heiterkeit in ihrer Stimme lag, hörte man doch auch einen Hauch Traurigkeit. Ihr
Vater, Arthur Fitzroy, hatte den Wunsch, seine Tochter schnell zu verheiraten, definitiv nicht für
sich behalten, und obwohl sie ihn sehr liebte, hatte sie ihm das nicht verziehen. Sie nahm einen
Schluck aus ihrem Glas und sah sich um. Sie war offensichtlich besorgt darüber, eine Person
außerhalb der Gruppe könnte ihre Worte mitgehört haben. Lady Audrey nahm sich vor mit ihren
Fragen vorsichtiger zu sein. Der Druck schien Jemima ernsthaft zuzusetzen.
„Schhh, Jemima“, sagte Joy beruhigend. Ihre Stimme war tief und angenehm und ihr Lächeln
liebevoll. „Du wirst vor uns allen heiraten, denk an meine Worte.“
„Ich verstehe nicht, warum wir uns damit so beeilen müssen.“ Harmony war wie Audrey
gerade erst achtzehn Jahre alt geworden und war mehr als nur ein bisschen begeistert über den
Weihnachtsball. „Ich bin viel zu beschäftigt mich zu amüsieren, um zur Ruhe zu kommen und
einen Ehemann zu finden – und Männer sind so langweilig!“
Lady Audrey lächelte ihren Freundinnen zu. „Es ist so lange her, dass ich euch alle gesehen
habe! Harmony, du siehst so erwachsen aus!“
Aber ihre Freundin ließ Lady Audreys Neckerei nicht stehen. „Erwachsen! Audrey, du bist
doch die jüngste von uns – und die letzte, die in die Gesellschaft eingeführt wird. Wir sollten
die Ratschläge geben und dich in die Geheimnisse der Männerwelt einführen.“
Alle vier kicherten und es war Jemima, die die Unterhaltung wieder aufnahm, nachdem sie
ihr Glas ausgetrunken hatte.
„Nun, wir sind jetzt alle auf dem Heiratsmarkt.“ Ihre Stimme war etwas bedrückt und Lady
Audrey sah, dass ihr Blick durch den Saal schweifte, von Gentleman zu Gentleman, und nie

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stillstand. „Und es wird ein trauriger Anblick sein, wenn wir vier beim nächsten
Weihnachtsball der Marchwoods ebenso unverheiratet wie jetzt aufeinandertreffen.“
Harmony schnaubte. „Wie schrecklich dramatisch du bist, Jemima! Wir sind noch jung und da
es in unserem Bekanntenkreis derzeit kaum junge Männer gibt, ist es unmöglich für unsere
Väter eine schnelle Hochzeit zu erwarten.”
Lady Audrey wusste, dass die Väter ihrer Freundinnen Brüder waren und dass sie hohe
Erwartungen für ihre Töchter hatten. Ebenso wie ihr Vater sie für sie hatte.
„Das Problem ist“, sagte sie und wandte ihren Blick auf die Tänzer, die über den Tanzboden
schwebten, „dass es unmöglich ist zu sagen, wer wer ist!“
„Ja“, neckte Joy, „wie soll man da einen auswählen?“
Jemimas Gesicht blieb dunkel und grüblerisch. „Wenigstens habt ihr noch zwei Jahre, Audrey
und Harmony. Ihr habt noch zwei Jahre, ehe ihr zu unverheirateten Enttäuschungen für eure
Eltern werdet.“
„Dummes Gewäsch“, sagte Lady Audrey barsch und nahm zwei Champagnerflöten von einem
vorbeigehenden Diener in Empfang, die sie an Joy und Harmony reichte. „Euer Vater wird
untröstlich sein, falls und wenn ihr euch entscheidet zu heiraten. Und das wisst ihr. Er will nur
das Beste für euch.“
Jemima machte ein Gesicht, aber Lady Audrey wusste, dass hinter der Neckerei eine ernste
Sorge lag. Jemima hatte Halbschwestern, jüngere Halbschwestern; und sie würden nicht in die
Gesellschaft eingeführt werden, ehe ihre ältere Halbschwester nicht geheiratet hatte. Der
Großteil ihrer Familie war davon abhängig, dass sie schnell einen Ehemann fand, als man sie
der Gesellschaft mit sechzehn Jahren vorgestellt hatte, und das war schon vier Jahre her.
„Auf Audrey“, sagte Harmony verwegen und hielt ihre Champagnerflöte hoch. „Möge sie
eine gute Partie landen, nur noch nicht jetzt sofort!“
Die Frauen lächelten, als sie ihre Gläser hoben und Lady Audrey verzog das Gesicht, als sie
einen Schluck Champagner nahm. Sie war den Geschmack von alkoholischen Getränken noch
nicht gewöhnt, trank aber genug für den Trinkspruch.
Die Musiker spielten eine neue Melodie und Paare bewegten sich aus allen Ecken des Saals
in die Mitte, wo getanzt wurde.
„Oh nein“, sagte Harmony, „ich habe den nächsten Tanz jemandem versprochen und jetzt
erinnere ich mich nicht mehr an seinen Namen …“
Joy lachte. „Ich denke nicht, dass er deinen vergessen hat, Harmony. Siehst du, da kommt er.”
Lady Audrey blickte in die Richtung, in die Joy zeigte und sah einen großen jungen Mann,
kaum älter als sie, auf sie zukommen. Er war schrecklich rot im Gesicht und vermutlich auch
unter seiner Maske.
„Oh Gott“, sagte Harmony flüsternd und lächelte dann. „Sie erinnern sich also an mich!“
Die Röte des jungen Mannes wurde tiefer, und er schien unfähig zu irgendeiner Art verbaler
Antwort. Stattdessen hielt er seinen Arm hin, den Harmony folgsam nahm. Noch ehe sie außer

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Hörweite waren, drehte er sich um und rief: „Mein Bruder würde sehr gerne mit Ihnen tanzen,
Miss Fitzroy.“
Joy und Jemima tauschten Blicke aus.
„Du bist dran“, sagte Joy rundheraus. „Ich habe schon zwei Tänze getanzt und du warst erst
einmal auf der Tanzfläche.“
„Das ist das Problem“, sagte Jemima seufzend, „wenn man einen Namen teilt. Wenn du
willst, liebe Cousine – aber denk daran, egal, wie hässlich oder charmant die nächste
Einladung ist, es ist deine Pflicht, sie anzunehmen.“
Lady Audrey lächelte sanft. „Ist es wirklich so schlimm, Jemima?“
Jemima lächelte traurig. „Zumindest, wenn dein Vater sich notiert, mit welchem Gentleman
du schon getanzt hast.“
Verwirrt versuchte Lady Audrey Jemimas Vater in der Menge auszumachen – und sah
überrascht, dass seine Tochter nicht im Mindesten übertrieb. Mit einem konzentrierten
Ausdruck im Gesicht hielt er ein Notizbuch in seiner linken Hand und betrachtete den
Gentleman, der eine erstaunliche Ähnlichkeit zu demjenigen hatte, der Harmony aufgefordert
hatte; ihre Haare hatten den exakt gleichen staubigen Blondton und bei hatten große abstehende
Ohren. Mr. Fitzroy nickte anerkennend und machte sich eine weitere Notiz.
„Guter Gott“, sagte Lady Audrey flüsternd.
„Genau“, antwortete Jemima, ehe sie für den nächsten Tanz mitgenommen wurde.
Joy und Lady Audrey beobachteten, wie ihre beiden Freundinnen sich der Tanzfläche
näherten, lachten und den anderen, die sich ebenfalls in der Mitte des Ballsaals einfanden,
etwas zuriefen, um sich dem Tanz anzuschließen. Jemimas Lachen schien kürzer als das ihrer
Cousine.
„Die arme Jemima“, sagte Joy sanft. „Es ist wahr, was man über ihren Vater sagt; Onkel
Arthur versucht oft, von unserem Vater neue Informationen über die Männer einzuholen, die
nach ihr fragen. Aber Papa weigert sich, sich einzumischen.“
Lady Audrey seufzte. „Das ist doch sicher nicht die beste Methode, eine Tochter dazu zu
bringen zu heiraten?“
Joy zuckte mit den Schultern und senkte den Kopf, als eine Gräfin an ihnen vorbeilief. „Ich
glaube nicht, dass Onkel Arthur viel Zeit damit verbracht hat, Jemima zu verstehen.“ Sie
zögerte und sagte dann leise: „Er ist viel zu beschäftigt mit seinen … jüngeren Kindern.“
Lady Audreys Mitleid mit Jemima nahm erneut zu. Die beiden Freundinnen schwiegen,
während sie dem Tanz zusahen, und Lady Audreys Stimmung hob sich wieder als sie sah, dass
Jemima – wenn sie die wachsamen Augen ihres Vaters vergessen konnte – sich amüsierte. Zu
schnell war der Tanz vorbei, aber Harmony und Jemima blieben bei den beiden Brüdern.
Es dauerte nicht lange und junge Männer kamen, um Joy und Lady Audrey zum nächsten Tanz
aufzufordern und die Stunden vergingen im allgemeinen Vergnügen. Viele der Gäste stimmten
überein, dass die Marchwoods sich mit dem diesjährigen Weihnachtsball selbst übertroffen

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hatten – was vermutlich mit der bezaubernden Dame zusammenhing, die in dieser Nacht geehrt
wurde. Die Masken, so die allgemeine Meinung, waren das i-Tüpfelchen.
Es war schon beinahe elf Uhr, als die vier Freundinnen wieder zusammenkamen und
aufregenden Klatsch, Tratsch und Gelächter austauschten. Harmonys Haare begannen den
Nadeln und Spangen zu entkommen und selbst Jemima hatte eine erregte Röte auf den Wangen.
„Nun“, sagte Joy und nahm Lady Audreys Arm, „auf welchen jungen Mann hast du ein Auge
geworfen?“
Lady Audrey lachte. „Was meinst du nur, Joy?“
„Du weißt, was ich meine”, antwortete Joy schnell und Harmony kicherte, als sie ihren Arm
um Joy legte und sie auf eine Höhe mit Joy und Audrey zog, um die Tänzer und fröhlichen
Gestalten zu beobachten. „Welcher elegante junge Mann soll es sein?“
„Zumindest heute Nacht“, sagte Jemima trocken und sorgte damit dafür, dass Harmony vor
Lachen beinahe zusammenbrach.
Lady Audrey ließ den Blick schweifen. Es war auf jeden Fall eine große Anzahl von
Gentlemen erschienen und viele von ihnen waren nach der neuesten Mode gut gekleidet.
Trotzdem konnte sie sie kaum voneinander unterscheiden – lediglich die Frauen, die
beschlossen hatten, dass eine Reise in die schottischen Highlands für den Weihnachtsball der
Marchwoods gerechtfertigt war, stellten einen Kontrast dar.
„Die Masken schienen mir so eine gute Idee zu sein“, sagte sie unsicher, „so eine
wundervolle Art sich zu amüsieren. Aber jetzt erkenne ich, dass ich alle meine Bewerber
maskiert habe! Es ist unmöglich zu sagen, wer die Leute wirklich –“
„My Lady?“
Lady Audrey zuckte zusammen und wandte sich nach links, von wo die Stimme, die sie
unterbrochen hatte, gekommen war. Dort, genau neben Harmony (die dankenswerterweise ihr
Kichern unterdrücken konnte), stand ein großer Gentleman in einem dunkelblauen
Damastjackett und Kniehosen. Sein Hemd und seine Strümpfe waren cremefarben und waren in
ihrer Leuchtkraft nur seinen Schuhen und der Krawatte ebenbürtig, beides seidenschwarz.
Seine dunklen Haare waren lang und verstrubbelt und sie konnte dunkelbraune Augen durch die
Maske erkennen, die er trug. Sonst konnte sie nichts sehen.
Joy stieß sie in die Seite.
„Ja?“, brachte Audrey hervor.
Der Mann verbeugte sich. „Es wäre mir eine Ehre, wenn Sie mich mit Ihrer Anwesenheit
erfreuen würden.“
„Mit meiner Anwesenheit?“, sagte sie und Harmony schnaubte – wurde aber schnell von
ihrer Schwester in die Rippen gestoßen.
Der Mann lächelte und Lady Audrey bemerkte, dass er seine Augen nicht von ihr abgewandt
hatte.
„Ihre Anwesenheit beim nächsten Tanz.“

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Kapitel Sieben

Lady Audreys Fähigkeit zu sprechen, war immer noch nicht vorhanden, sodass es Joy oblag,
sie erneut leicht mit dem Ellenbogen zu stoßen, um sie zu einer Art Reaktion zu zwingen.
„Aber natürlich“, sagte sie und blickte eindringlich in die dunklen braunen Augen, die von
Moment zu Moment tiefer zu werden schienen und trotzdem vor Glanz sprühten. „Es… es wäre
mir eine Freude.“
Das Lächeln, das auf dem Gesicht des Mannes erschien, war auf eine seltsame Art wissend;
als hätte er die Verwirrung, die durch ihren Kopf wirbelte, erraten. Er streckte seine Hand aus
und Lady Audrey legte ihre behandschuhte Hand wie in Trance in die seine.
Es war, als wäre das Material ihres Handschuhs verschwunden, hätte sich in der Hitze des
Moments aufgelöst. Lady Audrey zog beinahe ihre Hand erschrocken zurück, so stark war die
Intensität, das Glühen zwischen ihnen verbrannte ihre Finger. Sein Lächeln wurde breiter und
er führte sie auf den Tanzbereich zu, in dem sich die anderen Paare einfanden und begeistert
darauf warteten, den nächsten Tanz beginnen zu dürfen. Sie warfen den Musikern, die durstig
Wein ihre ausgetrockneten Kehlen hinunterstürzten.
Lady Audrey wusste, dass die Augen beinahe aller Gäste nun in diesem Moment auf sie
gerichtet waren – dass viele Mütter verzweifelt versuchten, ihre Söhne davon zu überzeugen
vorzutreten, um sie um den nächsten Tanz zu bitten, sobald dieser vorbei war. Sie wandte sich
um und suchte nach einem besonders bekannten Gesicht. Ihr Vater war, so wie er strahlte, nicht
schwer auszumachen; er saß bei ihrem Taufpaten Sir Roger Brodie in der Nähe des
Hauptkamins und hob eine Hand zum Gruß. Lady Audrey wollte ihn gerade erwidern, als
sanfter Applaus den Saal füllte. Die Musiker nahmen wieder ihre Plätze ein und der nächste
Tanz würde gleich beginnen.
Sobald der erste Ton erklungen war, lächelte sie. Es war eines ihrer Lieblingsstücke und ein
Tanz, der gleichzeitig leicht und elegant war. Sie blickte auf und sah, dass ihr Partner sie immer
noch direkt anstarrte. Die Intensität seines Blickes hatte nicht einen Moment nachgelassen. Und
es reichte aus um ihr eine leichte Röte ins Gesicht zu zaubern. Sie hoffte, dass diejenigen,
denen es auffiel, es der Hitze des Saals zuschreiben würden und nicht dem schönen Mann ihr
gegenüber.
Oh ja, er war definitiv schön. Obwohl Lady Audrey sein Gesicht nicht vollständig erkennen
konnte, war doch genug sichtbar, um ihn als gutaussehend zu beschreiben. Er war
wohlproportioniert, hatte eine breite Brust und eine ausgeprägte Kieferpartie, die in dunklen
Kotletten endete: Ihr Tanzpartner war ohne Zweifel der auffälligste Mann in der Reihe und aus
den neidischen Blicken, die man ihr zuwarf, schloss sie, dass die anderen Damen es auch
sahen.

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Als die erste Schrittfolge des Tanzes begann, bewegte sich Lady Audrey auf ihren Partner zu
und war überrascht, dass seine Nähe sie erneut erhitzte. Sie hatten sich noch nicht einmal
berührt und trotzdem gelang es ihm, diese seltsame Wirkung auf sie auszuüben.
„Sie sind so still, my Lady“, sagte der unbekannte Fremde und bedachte sie mit einem
Lächeln, das man beinahe als frech hätte bezeichnen können. „Gefällt Ihnen der Tanz nicht?“
„Oh nein, ganz im Gegenteil“, beeilte Lady Audrey sich zu sagen, während sie sich zwischen
zwei Frauen hindurchbewegte und wieder auf ihrer angestammten Position landete. „Ich
versuche lediglich alle Eindrücke in mich aufzunehmen; vielleicht ist Ihnen nicht bekannt, dass
dies der erste Weihnachtsball ist, auf dem ich offiziell Teil der Gesellschaft bin.“
„Doch, das ist mir bekannt“, sagte er und bewegte sich an ihr vorbei. „Und trotz der
Schönheit, die Sie den vorherigen Bällen beschert haben, denke ich, dass Sie sich heute Abend
selbst übertroffen haben.“
„Sie waren also auch auf den vorherigen Bällen?“ Lady Audrey stürzte sich auf diesen
Klumpen Information, als wäre es Gold.
Ihr Partner kicherte. „Schon oft“, nickte er. „Und doch ist es das erste Mal, dass wir
miteinander tanzen. Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“
Lady Audrey lächelte angesichts dieses Kompliments und drehte sich, wie der Tanz es
vorschrieb. Sie sah nun ihre Freunde, die feinen Köstlichkeiten von den silbernen Tellern
nahmen, die vorsichtig ihren Weg durch den Raum fanden. Es schien, als hätten die Diener sich
ihre Anweisungen zu Herzen genommen und begannen nun, das Essen unter die Gäste zu
bringen.
Jemima blickte sie an und hob fragend eine Augenbraue über ihrer Maske. Lady Audrey
wusste nicht genau, was für eine Art von Signal sie mitten während des Tanzes geben konnte,
da zwischen ihnen mehrere Tanzbeine waren – aber sie lächelte. Tatsächlich lächelte sie breit.
Sie hatte sich kaum je so wundervoll und so frei gefühlt.
Nachdem sie erneut mit einer ihrer weiblichen Mittänzerinnen den Platz getauscht hatte, stand
sie nun wieder dem Gentleman gegenüber, mit dem sie tanzte. Als sie ihre Hände für eine
langsame Drehung in der Mitte der Reihen an die seinen legte, war sie erneut überrascht, was
für eine Hitze von ihm auszugehen schien … waren es seine Hände oder ihre? Noch nie zuvor
hatte sie eine derartige Temperatur von einem menschlichen Wesen ausgehen spüren. Jede
Berührung fühlte sich an, als würde er sein Zeichen in sie einbrennen.
In ihrem Bekanntenkreis gab es nur einen jungen Mann, den sie einigermaßen regelmäßig
gesehen hatte, als sie ein Kind war, und das war Jonathan Brodie, der einzige Sohn ihres
Taufpaten. Er war nur ein paar Monate jünger als sie und sie war sich sicher, dass er hier auf
dem Weihnachtsball war. Aber er konnte nicht ihr Tanzpartner sein. Jonathan hatte Brodie-
blondes Haar, mit dem all seine Geschwister gesegnet waren und ihr Partner war dunkel wie
ein Italiener. Außerdem hatte sie sich nie so gefühlt, wenn sei mit Jonathan gespielt, gelesen
oder getanzt hatte. Was auch immer das hier war, es war etwas vollkommen anderes.

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Die einzigen anderen Männer, die sie wirklich kannte, waren die Bediensteten im Hause
ihres Vaters. Und wenn man von Thomas absah, hatte sie nie wirklich mit einem von ihnen
gesprochen. Aber dieser Gentleman …
„Sie scheinen nachdenklich, my Lady“, unterbrach ihr Partner ihre Gedanken. Sie zuckte
zusammen und wandte sich ihm zu. Sie wurde rot, da man sie bei ihrer Unaufmerksamkeit
ertappt hatte. Glücklicherweise zeigten die jahrelangen Tanzstunden Wirkung. Sie war
unbewusst den Schritten gefolgt, ohne dass sie darüber hatte nachdenken müssen. „Und wie
gefällt Ihnen Ihr Weihnachtsball?“
„Wie kommen Sie darauf, dass es meiner ist?“, sagte sie kokett. „Lady Audrey schwirrt hier
natürlich irgendwo herum. Ich hoffe, dass ihr der Prunk gefällt, den man für sie vorbereitet
hat.“
Ihr Partner kicherte erneut. „Lady Audrey, Sie müssen mich für einen Narren halten, wenn Sie
glauben, ich würde Sie nicht erkennen.“
„Aber ich trage eine Maske“, sagte Lady Audrey verwirrt. „Sie können mich doch sicherlich
nicht erkennen!“
Die Herren in der Reihe traten einen Schritt nach vorne im Takt der Musik und Lady Audrey
bewegte sich mit den anderen Damen auf ihren Partner zu. Zwischen ihnen lagen nun nur noch
ein paar Zentimeter, als sie den anspruchsvollsten Teil des Tanzes begannen.
Seine Stimme war nun ganz dicht an ihrem Ohr, sodass er nur noch flüstern musste. Und seine
tiefe Stimme und der warme Atem bereiteten ihr eine Gänsehaut. „Jeder hier weiß genau, wer
Sie sind. Eine Rose kann sich nicht zwischen Gräsern verstecken, my Lady.“
Audrey lachte freundlich und wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte. Feurige Pfeile
schienen durch ihren Körper zu schießen, auf eine Weise, die ihr beinahe Angst machte. Wäre
sie nicht so selbstsicher gewesen, hätte sie vermutet, dass ihre Füße bald nachgeben würden
und sie Fieber bekam. Und dennoch hätte es sie nicht überrascht, wenn sie tatsächlich eine
Krankheit ausbrütete – eine andere Erklärung gab es für ihre Gefühle wohl kaum: gleichzeitig
warm und lebendig und kurz davor, vor Hitze ohnmächtig zu werden.
Sie schluckte und der Moment war vorbei. Sie wurden aus ihrer Nähe befreit. „Dann scheint
die Maskierung sinnlos zu sein, wenn sofort allen um einen herum offenkundig ist, um wen es
sich handelt.“
„Und doch“, erwiderte er schnell, während das Lächeln auf seinem Gesicht noch breiter
wurde, „erlauben die Masken eine Sache, die ohne sie völlig unmöglich wäre.“
Lady Audrey wollte unbedingt hören, was es war, aber die Pause wurde so lang, dass sie es
nicht mehr aushielt. „Und das wäre?“
„Ich kann mit Ihnen sprechen, ohne dass Sie wissen, wer ich bin.“
Seine Stimme war nun tief und gesenkt, während der anspruchsvolle Teil des Tanzes im
Gange war und sich dem Ende neigte. Ein unbekanntes Gefühl floss durch ihre Brust und nach
einem Moment des sorgfältigen Nachdenkens, verstand Lady Audrey, dass es sich um

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Enttäuschung handelte. Der Tanz wäre bald vorbei und sie war höchst überrascht darüber. Der
Tanz musste doch noch länger dauern – sie waren doch sicher noch nicht alle Schrittfolgen
durchgegangen? Und je länger sie in die Augen des Mannes blickte, desto mehr Feinheiten
fielen ihr in seinem Lächeln auf. Die kleinen Falten neben seinen Augen, wenn er sie ansah –
die Tatsache, dass er ihr völlig unbekannt war und sich daran offensichtlich erfreute. Sie
musste mehr wissen. Sie konnte sich nicht einfach verbeugen, wenn die Musik verstummt war,
und die Tanzfläche verlassen. Sie konnte nicht nie wieder mit ihm sprechen. Es war nicht
genug.
Lady Audrey war gebannt. „Ich gebe zu, Sir, dass ich nicht die geringste Ahnung habe, wer
sie sind. Ich bin fasziniert.“
Ihr Partner lächelte erneut und diesmal breitete sich die Wärme dieses Lächelns auf die
Augen aus. Seine Fröhlichkeit hatte sich gesteigert und Lady Audrey war der wirkliche Grund
dafür ein Rätsel.
„Faszination ist eins der besten Gefühle, die unser Herz besitzen kann“, sagte er sanft, als sie
noch ein letztes Mal zusammen kamen. „Sie sollten es genießen, solange Sie können, denn
obwohl die Erwartung Ihnen Freude bereitet, kann die Enthüllung eine Enttäuschung sein. Und
Sie, my Lady, haben schon so viele Enttäuschungen in ihrem Leben durchgemacht: den Verlust
Ihrer Mutter, den Verlust Ihres Pferdes, den Strom von Gouvernanten, die Sie nicht so zu
schätzen wussten, wie es angemessen gewesen wäre. Ich möchte keine weitere sein.“
„Sie sprechen, als würden Sie mich kennen“, flüsterte Lady Audrey beinahe ängstlich, auf
jeden Fall ehrfürchtig. „Sie sprechen, als lägen die Sorgen meines Lebens vor Ihnen
ausgebreitet.“ Sie starrte ihn an und versuchte in ihrer Erinnerung ein Anzeichen für die
Identität dieses Mannes zu finden, etwas, das ihr bislang noch nicht aufgefallen war, einen
Hinweis, wann sie sich begegnet waren, wie er sie kennengelernt haben könnte.
„Sagen Sie mir“, keuchte sie atemlos, als die Musik zum Ende kam und die Reihen der
Damen und Gentlemen ihre Köpfe neigten und sich gegenseitig für den Tanz dankten.
„Sagen Sie mir, wer Sie sind.“
Sie blickte ihn an, als er schluckte. „Audrey, ich –“
„Lady Audrey!“ Eine unangenehme, jaulende Stimme hinter ihr schnitt ihrem Partner das Wort
ab. „So schön, Sie wiederzusehen!“

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Kapitel Acht

Es schmerzte Lady Audrey, sich von ihrem Partner abzuwenden und die Person, die so
unhöflich ihr Gespräch unterbrochen hatte, zu begrüßen, sie hatte aber keine andere Wahl.
Anstand, Höflichkeit und die Gesellschaft selbst verlangten es von ihr. Sie machte eine
Pirouette, sodass ihr Tanzpartner nun hinter ihr stand.
Vor ihr stand ein Mann, der in keiner Weise ihrem vorigen Partner ebenbürtig war, selbst
wenn sie nur seine Haltung und Kleidung bewertete. Seine Kleider waren beinahe völlig
Orange und wäre Lady Audrey umgeben von ihren Freundinnen gewesen, hätten sie ein Lachen
nicht unterdrücken können. Es war eine schreckliche Farbe und das gemusterte Seidenhemd,
das er trug, machte es nur noch schlimmer – die Krawatte mit Schottenkaro stand dazu in
grauenhaftem Kontrast und sollte vielleicht auf den Ort des diesjährigen Weihnachtsballs
anspielen.
„Lady Audrey!“, wiederholte der Mann und zeigte seine fleckigen Zähne. „Es kommt mir vor,
als sei es erst gestern gewesen, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Cornelius
Cripwell, stets zu Diensten.“
Er verbeugte sich tief und Lady Audrey war gezwungen ihren Kopf in Erwiderung zu senken.
„Mr. Cripwell, welch Freude, Sie zu sehen“, log sie. Sie wollte sich unbedingt wieder
umdrehen in der Hoffnung, dass ihr Tanzpartner immer noch da war. Sie hatte, um ehrlich zu
sein, keine Erinnerung daran, jemanden namens Cornelius Cripwell je zuvor getroffen zu
haben, und diesen Mann hatte sie mit Sicherheit noch nie gesehen. „Ich hoffe, Sie genießen die
Freuden der Festtage?“
„Das tue ich, das tue ich“, antwortete Mr. Cripwell und trat einen Schritt nach vorne, was die
Entfernung zwischen ihnen halbierte. „Ich hatte gehofft, Lady Audrey, dass Sie noch niemandem
den nächsten Tanz versprochen haben und meine Einladung annehmen würden!“
Obwohl seine Worte als Frage gemeint waren, schien es sich dabei mehr um eine Feststellung
zu handeln. Ihre Hoffnungen, sie könnte sich auf einem Maskenball unerkannt zwischen ihren
Gästen bewegen, waren offensichtlich vergebens gewesen.
„Naja“, sagte sie langsam, „ich bin…“ Sie drehte ihren Kopf ein wenig und warf einen Blick
hinter sich. Doch der dunkelhaarige Gentleman, mit dem sie gerade getanzt hatte, war
verschwunden. Ihr wurde ganz bang, und das nur teilweise, weil sie den nächsten Tanz mit Mr.
Cripwell tanzen musste. Wohin war er gegangen – und würde er später nochmal zu ihr kommen
und ihr sagen, wie er hieß? „Wenn es Ihnen beliebt“, sagte sie schließlich und wandte sich
wieder Mr. Cripwell zu.
„Wunderbar!“
Er nahm ihre linke Hand und halb zog, halb schob er sie zur Reihe der Frauen, die sich erneut

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aufstellten und die Musiker erwartungsvoll ansahen.
„Mr. Cripwell!“, rief Audrey auf und brachte ihn dazu, abrupt stehenzubleiben.
Er blickte sie an und sah unter seiner Maske ganz besorgt aus. „Lady Audrey, geht es Ihnen
gut?“
„Sehr gut, ja“, sagte Lady Audrey und versuchte ihr Kleid zu glätten, das in der Eile ganz
faltig geworden war. „Aber ich muss meinen Freunden erst sagen, dass ich ihnen erst nach
diesem Tanz wieder Gesellschaft leisten werde. Das macht Ihnen doch nichts aus, hoffe ich?“
Mr. Cripwell warf einen Blick auf die Musiker, die offensichtlich erst in einigen
Augenblicken ihr Spiel wieder aufnehmen würden. „Nicht im Geringsten, Lady Audrey“, sagte
er großzügig. „Solange Sie rechtzeitig für unseren Schabernack wieder hier sind.“
Lady Audrey runzelte über seine Antwort die Stirn, räumte ihm aber nicht genug Zeit ein, um
noch etwas zu sagen. Sie riss sich von ihm los und machte sich schnell auf den Weg in die
Ecke, die ihre Freunde für sich besetzt hatten. Noch ehe sie angekommen war, wusste sie, was
genau sie ihr sagen würden. Sie enttäuschten sie nicht.
„Auf mein Wort!“, keuchte Harmony, die eine weitere halbleere Champagnerflöte in der
Hand hielt. „Wer ist dieser Gentleman, der dich zum ersten Tanz aufgefordert hat? Er ist der
eleganteste von allen, habe ich recht? Wie er getanzt hat, so gelassen und doch so
leidenschaftlich!“
„Weißt du, wie er heißt?“, fragte Joy begeistert.
Jemima lachte. „Und hat er Brüder?“
Nun lachten alle vier.
„Ich komme kaum zu Atem!“, sagte Lady Audrey und legte einen Arm um Joy. „Seine
Eindringlichkeit ist etwas, das ich nur in kleinen Dosen vertrage.“
„Aber er sieht gut aus“, sagte Jemima beinahe wehmütig. Ihr Blick wanderte über die Menge.
„Wo ist er denn so schnell hingegangen?“
Harmony lächelte ihre Freundin an. „Es sah so aus, als würdet ihr eure Zeit zusammen sehr
genießen; warum ist er verschwunden?“
Lady Audrey schüttelte den Kopf. „Es ist wirklich zu dumm. Ich wurde von einem Ochsen
belästigt und jetzt muss ich den nächsten Tanz mit ihm tanzen.“
„Wie schrecklich ärgerlich“, sagte Joy mitleidig. „Und du erinnerst dich nicht mehr an seinen
Namen?“
„Er hat ihn mir nicht verraten!“, sagte Lady Audrey triumphierend. „Ich habe einen
mysteriösen Tanzpartner, der mich besser kennt als ich mich selbst und mir trotzdem seinen
Namen nicht nennen wollte!“
Ihre drei Freundinnen standen in stiller Überraschung da. Lady Audrey konnte an ihren
Blicken sehen, dass ihnen so etwas Seltsames noch nie begegnet war: Ein Gentleman, der eine
junge Dame um einen Tanz bat, wollte beinahe ohne Ausnahme dieser Dame bekannt werden.
Warum sollte er sonst fragen?

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„Sehr seltsam“, sagte Jemima schließlich und brach damit die Stille. „Wirklich sehr
seltsam.“
„Vielleicht ist er ein Räuber.“ Harmonys jugendliche Fantasie war immer noch nicht gezähmt
worden. „Oder ein Wegelagerer, der vor dem Gesetz flieht! Oder –“
„Lady Audrey, kommen Sie schon!“ Dieselbe durchdringende Stimme war erneut hinter ihr
aufgetaucht und Lady Audrey versuchte, sich ihre Enttäuschung nicht anmerken zu lassen. Ein
kleiner Teil von ihr hatte gehofft, Mr. Cripwell würde ihren Tanz vergessen.
Sie verdrehte die Augen, sodass nur ihre Freundinnen es sehen konnten, und da Harmony ein
weiteres Mal die Kontrolle über ihr Kichern verlor, drehte sie sich zu ihrem Tanzpartner.
„Haben Sie keine Angst, Mr. Cripwell, ich habe Sie nicht vergessen.“
„Das sollte ich wohl meinen!“, sagte er unhöflich, nahm erneut ihre Hand und zog sie auf die
Tanzfläche.
Als der Tanz begann, stellte er sich als genau das heraus, was Lady Audrey erwartet hatte:
als etwas durch und durch Unerfreuliches. Natürlich wäre es für jeden Mann schwer gewesen
auf den gutaussehenden Fremden, mit dem sie gerade getanzt hatte, zu folgen; er hätte nicht nur
schön und ein guter Tänzer, sondern auch lustig und charmant sein müssen. Leider war Mr.
Cripwell nichts dergleichen.
Als Lady Audrey mit der Frau zu ihrer Linken auf ihn zu schritt und alle vier Tänzer ihre
rechte Hand zusammenbrachten, um sich in der Gruppe zu drehen, griff Mr. Cripwell ihre und
hielt sie fest. Seine Hände waren feucht und kühl, obwohl es im Saal sehr warm war. Lady
Audrey begann jedes Bisschen dieses Tanzes zu verabscheuen, während dem sie sich ihrem
Partner nähern musste; wann immer dies der Fall war, roch sie seine Whiskyfahne, die mehr als
unangenehm war.
Und es wurde auch nicht besser, als der Tanz an Lebendigkeit verlor, sodass sie sich besser
unterhalten konnten.
„Ich habe gehört“, begann Mr. Cripwell, „dass dieser Ball zu Ihren Gunsten veranstaltet
wird, Lady Audrey!“
Lady Audrey Lächeln war kühl. „Das haben Sie ganz richtig gehört, Mr. Cripwell –
zumindest teilweise. Mein Vater veranstaltet jedes Jahr einen Weihnachtsball, aber da dies
meine Einführung in die Gesellschaft ist, durfte ich mir das Thema aussuchen.“
„Verflixt lästig, diese Masken“, sagte Mr. Cripwell und zog an seiner. Lady Audrey sah
einige Schweißperlen, die sich auf seiner Stirn gebildet hatten. „Ein richtiger Unfug, wenn Sie
mich fragen.“
Lady Audrey wurde rot, beherrschte sich jedoch. „Sie müssen mir meine kleinen Freuden
schon gestatten“, sagte sie mit einem leichten Lächeln. „Was ist denn das Leben ohne die
kleinen Freuden?“
„Hmmm“, sagte Mr. Cripwell. „Sei es wie es sei. Und Sie sagen, Sie sind nun endlich in der
Gesellschaft? Auf der Jagd nach einem Ehemann, nehme ich an.“ Seine Augen bewegten sich

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gierig über ihren Körper, während beide darauf warteten an der Reihe zu sein. „Haben Sie sich
schon entschieden?“
„Entschieden?“ Lady Audrey hatte versucht, die Menschen hinter ihrem Partner anzusehen,
teils weil er sich ihr gegenüber so schäbig benahm, teils, um zu sehen, ob ihr erster, wesentlich
angenehmerer Partner tatsächlich den Raum verlassen hatte oder sich immer noch zwischen den
Gästen bewegte. „Es tut mir leid, Mr. Cripwell, ich verstehe nicht, was Sie meinen. Für was
entschieden?“
„Nicht für was, für wen.“ Mr. Cripwells Lächeln wurde anzüglich. „Für wen sie sich auf den
Rücken legen, wenn ihre Feier hier vorbei ist.“
Es war Mr. Cripwells Glück, dass der Tanz in diesem Moment vorbei war und Lady Audreys
lautstarke Antwort im Applaus unterging, der für die langsam schwitzenden Musiker durch den
Raum schallte.
„Nun denn“, sagte Mr. Cripwell und, ohne jedes weitere Wort, nahm er erneut ihre Hände und
begann, sie durch die Menschenmenge zu zerren. Lady Audrey merkte, wie sie langsam erhitzt
wurde, allerdings nicht wegen der vielen Menschen im Saal, sondern vor Wut.
Obwohl sie an Joy, Harmony und Jemima vorbeiliefen, die sie alle unsicher anlächelten,
hatte sie keinen Augenblick, um mit ihnen zu reden – Mr. Cripwells Schritt war wesentlich
schneller als ihr eigener und sie musste immer wieder ein paar Schritte rennen, um mit ihm
mitzuhalten.
„Mr. Cripwell“, sagte sie nicht laut, jedoch fest. „Mr. Cripwell, wo gehen wir hin?“
„Ich möchte Sie meiner Mutter vorstellen“, rief er über seine Schulter und umfasste ihre
Hand noch fester. „Sie ist einen Moment in eins der Seitenzimmer gegangen, um sich
auszuruhen – ich glaube hier.“
Für Lady Audrey war es, nach dem ganzen Herumgezerre an ihren Armen, beinahe eine
Erleichterung, als Mr. Cripwell sie in die kleine Bibliothek zog, die neben dem Ballsaal von
Scotchmere Castle war. Dann ließ er ihre Hände los, die sie sofort aneinander rieb, und
schloss die Tür.
Lady Audrey sah sich um. In der Bibliothek waren nur wenige Kerzen – ihr Vater hatte
angeordnet, man sollte mit Kerzen sparsam umgehen – und so konnte sie die Einbuchtungen am
anderen Ende des Zimmers kaum sehen, wo ein Durchgang in einen Seitenflur führte. Es war
ihr jedoch trotz des nur flüchtigen Blicks durch den Raum klar, dass Mr. Cripwells Mutter nicht
hier war.
„Wie schade“, sagte sie erleichtert. „Mrs. Cripwell scheint den Raum verlassen zu haben.
Lassen Sie uns in den Ballsaal –“
Es war Lady Audrey nicht gestattet ihren Satz fortzuführen; nicht weil Mr. Cripwell sie mit
eigenen Worten unterbrochen hatte, sondern weil er auf sie zugeeilt war und seine Lippen auf
die ihren presste, sodass ihr der einzigartige Geruch von Schweiß und Whiskey in die Nase
stieg.

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Sie hob die Arme, um den niederträchtigen Mann von sich zu drücken, aber Lady Audrey war
nicht schnell genug. Er packte ihre Handgelenke und drückte ihre Arme weg, während er seinen
eigenen Körper benutzte, um sie nach hinten zu pressen. Lady Audrey stolperte beinahe, sein
Mund immer noch auf den ihren gedrückt, sodass sie nicht schreien konnte. Sie spürte, wie ihr
Rücken gegen etwas krachte, und begriff, dass er sie gegen ein Bücherregal gedrückt hatte. Sie
kämpfte, aber sein Griff um ihre Gelenke war schneidend und stark.
Lady Audrey drehte ihr Gesicht zur Seite. „Mr. Cripwell, wie können Sie es wagen! Lassen
Sie mich sofort frei, oder –“
Aber sie konnte nicht mehr präzisieren, was die Bestrafung sein würde, die er von ihrem
Vater und vielen anderen mit Sicherheit zu erwarten hatte, denn Mr. Cripwell drehte lediglich
sein feuchtes Gesicht mit dem widerlichen Grinsen vor das ihre und zwang ihr erneut einen
ungewollten Kuss auf die Lippen. Lady Audrey krümmte sich unter ihn und versuchte
verzweifelt zu entkommen, aber das schien sein Vergnügen nur zu verstärken. Eine nasse Zunge
kämpfte mit ihren Lippen und versuchte sich einen Weg hindurchzubahnen.
Lady Audreys Augen waren zusammengekniffen. Das konnte alles nicht wahr sein, dachte sie
verzweifelt und versuchte ihre Hände freizubekommen, sodass sie ihn so weit weg stoßen
konnte, wie es nur möglich war. Es durfte einfach nicht passieren.
Und es passierte auch nicht. Mr. Cripwell schrie auf und ließ plötzlich ihre Handgelenke frei.
Lady Audrey öffnete die Augen und sah, dass er auf dem Rücken auf dem kleinen Teppich lag
und sein rotes Gesicht rieb. Seine Nase blutete und die Maske war von seinem Gesicht
gerutscht. Es war noch ein zweiter Mann im Zimmer.
Ihr Tanzpartner, der mysteriöse Gentleman, der so sanft zu ihr gewesen war, schüttelte seine
rechte Hand. Er hatte offensichtlich Mr. Cripwell ins Gesicht geschlagen und obwohl Lady
Audrey Gewalt nie befürwortete, fand sie, dass ihr Retter in diesem Fall relativ milde gewesen
war.
Ihre Blicke trafen sich und Lady Audrey versagte die Stimme. Das Feuer, das seine Augen
versprühten, zusammen mit seinem Keuchen und dem Heben und Senken seiner Brust, verlieh
ihm eine Macht, die Lady Audrey noch nie an einem Mann gesehen hatte.
Ehe sie noch etwas sagen konnte, nahm er ihre Hand und zog sie durch den Durchgang in den
Flur. Ein weiteres Mal wurde Lady Audrey an einen Ort gezerrt, den sie nicht kannte, und doch
konnte sich dieses Mal nicht deutlicher vom ersten Mal unterscheiden. Er stieß eine Tür auf,
schubste sie hinein und knallte die Tür zu.
Lady Audrey öffnete ihren Mund, um etwas zu sagen: Ihre Dankbarkeit und Wertschätzung für
seine Hilfe wollten soeben aus ihr heraussprudeln, aber er sprach zuerst.
„Warum um Himmels willen haben Sie ihm das gestattet?“

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Kapitel Neun

„Ihm gestattet?“ Lady Audrey starrte ihn entsetzt an. „Was sagen Sie denn da? Sah ich so aus,
als würde es mir Spaß machen von diesem Unmenschen geküsst zu werden?“
„Ich habe nicht gesehen, dass Sie ihm widersprochen hätten!“ Der Mann, der völlig ruhig und
gefasst gewirkt hatte, als sie mit ihm vor weniger als einer Stunde getanzt hatte, sah völlig
verstört aus.
„Wie lange waren Sie schon da?“, konterte Lady Audrey. „Warum haben Sie nicht daran
gedacht, schon früher zu meiner Rettung zu kommen?“
Der Mann sah aus, als wäre er es gewesen, der einen Schlag abbekommen hatte. Obwohl er
noch seine Maske trug, konnte Lady Audrey sehen, dass alle Farbe aus seinem Gesicht
gewichen war. Er war beinahe weiß. „Ich lauere nicht in dunklen Zimmern in der Hoffnung
geheime Liebende zu überraschen, wenn Sie das meinen!“
Lady Audrey riss erschrocken die Augen auf. „Geheime Liebende?“ Die Worte schienen ihr
so lächerlich zu sein, und jetzt, da sie ein zweites Mal ausgesprochen worden waren, klangen
sie noch dümmer. „Ich habe diesen Ochsen noch nie zuvor gesehen, und wenn Sie ernsthaft
glauben, ich hätte irgendeine Art von Vergnügen oder Genuss daraus gezogen, dass er sich so
über mich hermachte, müssen Sie sich überlegen, ob es an der Zeit ist, eine Brille
aufzuziehen!“
„Vielleicht muss ich das“, gab ihr Retter zurück, obwohl Lady Audrey begann, ihn nicht mehr
als ihren Retter zu betrachten, jetzt, da er sie für etwas kritisierte, das ihr so abscheulich war.
„Ich verstehe nicht, warum Sie diese Charade mit mir gespielt haben. Warum haben Sie so
getan, als genössen Sie unseren Tanz, wenn Sie doch in Wirklichkeit an einen anderen
Gentleman dachten!“
Lady Audrey verdrehte die Augen. „Und ich dachte, Sie wären ein Mann des Intellekts und
des Geistes!“ Sie zitterte ein wenig, da sie sich immer noch von dem Grobian erholte, der ihr
seine Lippen aufgezwungen hatte.
„Und dieser Ball“, fuhr er fort, als hätte sie nichts gesagt, „Ich dachte, es wäre Ihre
Einführung in die Gesellschaft, der Moment, da Sie beginnen, nach einem Ehemann zu suchen.
Stattdessen haben Sie die ganze Zeit Männer in dunkle Räume gelockt und –“
Aber ein Blick auf Lady Audrey unterbrach den Ausbruch des Mannes. Ihre Augen loderten
und die Stärke und Leidenschaft in ihrer Stimme brachten den Mann vor ihr beinahe dazu, einen
Schritt zurückzutreten. Lady Audrey machte einen Schritt auf ihn zu und nutzte ihren Vorteil.
„Dieser Mann ekelt mich an“, sagte sie und sah, wie sich die Augen ihres Tanzpartners und
Retters ungläubig zu Schlitzen verengten. „Oh ja, Sie können glauben, was Sie wollen, Sir, aber
wenn ich eine Wahl gehabt hätte, hätte ich mich nie dazu entschieden, mit ihm allein in einem

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Raum zu sein!“
„Und doch waren Sie es!“, sagte er anklagend. „Von dort, wo ich stand, konnte ich nicht
sehen, dass Sie eben gekämpft hätten.“
„Dann haben Sie nicht richtig hingesehen!“, schnappte Lady Audrey. „Sehen Sie!“
Sie streckte ihre Arme aus, zog die weißen Seidenhandschuhe über ihren Ellenbogen und von
ihren Handgelenken und warf sie auf den Boden. Mit ausgestreckten Handgelenken sah sie ihn
an.
Der Mann trug zwar immer noch eine Maske, aber Lady Audrey konnte dennoch sehen, wie
seine Augen sich auf ihre Arme senkten. Um ihre Handgelenkte hatte sie rote Male und
besonders an ihrer linken Hand zeichneten sich schon erste blaue Flecken ab. Die roten Stellen
und die Schmerzen zeigten eindeutig, dass man sie gegen ihren Willen festgehalten und sie
gekämpft hatte.
„Ich habe mehr als genug Funken in mir, um zurückzuschlagen“, sagte Lady Audrey leise,
jedoch mit einer Festigkeit in der Stimme, die den Mann fast zurückweichen ließ. „Leider
fehlte mir jedoch die körperliche Stärke.“
Der Mann schluckte. Er konnte anscheinend seine Augen nicht von ihren schmerzenden,
gequetschten Gelenken abwenden.
„Aber…“, sagte er und seine Stimme klang plötzlich unsicher, fasste sich dann jedoch. „Sie
hätten nicht mit ihm alleine in die Bibliothek gehen sollen, my Lady – Sie haben sich in große
Gefahr gebracht und sollten es besser wissen!“
„Ha!“ Lady Audrey lachte spöttisch auf und ließ ihre Arme fallen. Die Handschuhe lagen
vergessen auf dem Boden. Sie entfernte sich von dem Mann und begann erst jetzt zu begreifen,
wo sie war. Sie hatten das Arbeitszimmer ihres Vaters betreten. Naja, dachte Lady Audrey
bitter, immerhin würde sie hier niemand stören. Sie ging zum Kamin, in dem glücklicherweise
ein Feuer entfacht war. „Sie sprechen, als wäre es mein Fehler, als würde es mir gefallen
beleidigt, angegriffen und verspottet zu werden.“
Der Mann machte ein verärgertes Geräusch und folgte ihr zum Kamin. Lady Audrey musste
einen Schritt zurücktreten, als er auf sie zueilte. Es schien ihm selbst aufzufallen, sodass er ein
paar Fuß entfernt von ihr stehen blieb.
„Lady Audrey, bitte verstehen Sie mich nicht falsch.“ Er hatte Schwierigkeiten seine Stimme
zu kontrollieren und die Flammen, die sie zuvor in seinen Augen bemerkt hatte, waren
zurückgekehrt. „Ich wünsche mir nur Ihre Sicherheit und ihr Glück – deswegen versuche ich zu
verstehen, warum Sie einem Mann wie Cornelius Cripwell“, und hier spuckte er beinahe den
Namen aus, „in einen abgeschlossenen, dunklen und völlig verlassenen Raum folgen!“
„Ich bin keine Närrin“, gab Lady Audrey zurück. „Unter keinen Umständen wäre ich mit Mr.
Cripwell in die kleine Bibliothek gegangen, hätte ich gewusst, dass seine Mutter nicht da ist!“
Der Mann runzelte verwirrt seine Stirn. „Seine Mutter?“
Lady Audrey nickte. Langsam spürte sie das Brennen und den Schmerz in ihren

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Handgelenken, ein Stechen, das nicht nachließ. Sie würde ins Eishaus gehen müssen, um ihre
schmerzende Haut mit ein wenig Eis kühlen zu können. „Seine Mutter“, wiederholte sie. „Er
hatte um Erlaubnis gebeten, mich seiner Mutter vorstellen zu dürfen und aus Höflichkeit ließ
ich es zu. Hätte ich auch nur geahnt, was er vorhatte, hätte ich ihn zuerst geschlagen.“
Er hob eine Augenbraue. „Tatsächlich?“, sagte der Mann trocken. „In diesem Fall wird es Sie
traurig stimmen zu erfahren, dass Mrs. Cripwell vor einigen Jahren verstorben ist. Ich glaube
nicht, dass Mr. Cripwells Absichten völlig ehrenhaft waren.“
„Seine Absichten waren absolut unehrenhaft und das wissen Sie.“
Der Mann ging einen Schritt auf sie zu und Lady Audrey war es auf einmal wärmer, obwohl
die Temperatur im Raum nicht gestiegen war. Wie war das möglich?
„My Lady“, sagte der Mann, „Sie sind nun achtzehn Jahre alt und kein Kind mehr. Sie müssen
wissen, dass ein Mann, der so schlecht und verdorben ist wie Cripwell, ist nur hinter einer
Sache her.“
„Ach ja?“, fragte Lady Audrey herausfordernd. „Und was ist das?“
Beide schwiegen. Sie waren jeweils wütend und überzeugt davon, vom anderen absichtlich
missverstanden zu werden. Und dann geschah etwas, das Lady Audrey nicht hätte vorhersagen
können.
„Sie wollen wissen, was Männer wollen, wenn sie Sie sehen?“ Der Mann sprach mit rauer
Stimme und Lady Audrey lief es heiß und kalt den Rücken hinunter.
„Sie wollen das hier.“
Er überwand die Entfernung zwischen ihnen mit einem großen Schritt, nahm mit einer
fließenden Bewegung ihren Kopf in seine Hände und hielt dann einen schmerzhaften Moment
lang inne. Lady Audreys Atmung wurde schneller und sie starrte in seine dunklen, flammenden
Augen. Der Moment dauerte länger als sie ertragen konnte und endlich senkte er seine Lippen
auf die ihren.
Lady Audrey verkrampfte sich sofort. Sie hatte für heute genug davon gehabt und war schon
bitter enttäuscht, dass Küssen – etwas, auf das sie sich gefreut hatte, nun, da sie in der
Gesellschaft war – so ekelhaft und widerlich war. Aber die Lippen des Mannes waren weich
und sanft, nicht rau und forsch wie die von Mr. Cripwell. Statt ihre Handgelenke zur Seite zu
drücken, streichelten die Hände dieses Mannes vorsichtig ihren Hals und in ihrem Körper
schien etwas Seltsames entfacht zu werden.
Von diesem Mann geküsst zu werden war eine Erfahrung, die ihrem ersten Kuss in nichts
glich und Lady Audrey zitterte vor Vergnügen. Dem Mann schien das nicht zu entgehen und
seine linke Hand wanderte langsam tiefer um ihre Taille herum und blieb auf ihrem Rücken
liegen. Lady Audrey wusste nicht warum, aber sie beugte sich nach vorne. Ihre Arme hoben
sich wie von Geisterhand und blieben auf den Schultern des Mannes liegen. Sie hatte sich noch
nie so sicher, so im Reinen mit sich selbst gefühlt.
Aber das war nicht das Ende des Kusses. Langsam, langsam wurde der Druck seiner Lippen

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erhöht und er zog sie mit leichtem und willkommenem Druck an sich. Lady Audrey fühlte, dass
sich der Kuss intensiver wurde, und wusste sofort instinktiv, was zu tun war. Ihre Lippen
öffneten sich und sie ergab sich bereitwillig der Intimität des Kusses.
Jetzt wusste sie, woher die Hitze, die durch ihren Körper geströmt war, kam – es war
Leidenschaft, Sehnsucht und Verlangen nach diesem Mann. Alles an ihm fühlte sich stark und
mächtig an, aber es war eine Macht, die sie auch mächtiger werden ließ, statt sie unterwerfen
zu wollen. Lady Audrey stöhnte leise. Sie wurde von den Küssen ihres Beschützers
davongetragen und er antwortete, indem er sie noch näher an sich heranzog und sich in die
Wärme ihres Mundes senkte. Er huldigte ihr, wie jemand der seiner Sehnsucht nach ihr
vollkommen würdig war.
Als Mr. Cripwell sie geküsst hatte, hatte sich alles falsch, schrecklich und widerlich
angefühlt. Aber als dieser Mann der Leidenschaft nachgab, die er fühlte, war es etwas völlig
anderes gewesen. Lady Audrey konnte sich nichts Schöneres vorstellen und trotzdem spürte sie
eine Regung in ihr, die ihr sagte, dass es da noch mehr gab, wenn sie es nur wollte.
Lady Audrey konnte kaum denken, so sehr konzentrierte sie sich aufs Fühlen. Auf einmal
verwoben sich ihre Hände mit seinen Haaren und seine Arme umgaben sie, hielten sie eng bei
ihm – was der einzige Ort auf der Welt war, an dem sie sein wollte.
Ohne Vorwarnung brach er den Kuss plötzlich ab und sprach mit rauer Stimme voller
Leidenschaft und Feuer. „Lady Audrey“, sagte er und seine Augen suchten nach den ihren.
Sie öffnete ihren Mund, um seinen Namen auszusprechen – stellte dann aber erschrocken fest,
dass sie immer noch nicht wusste, wie er hieß. Sie kannte seinen Namen, sein Alter nicht, hatte
keine Ahnung, wer er war! Sie küsste einen Mann leidenschaftlich, als wäre es ihre letzte
Hoffnung auf Glück auf Gottes großer Welt, und wusste nicht einmal, wer er war!
Er beobachtete sie, sah wie die Glut in ihre Augen erlosch und Verwirrung und Zweifel ihren
Platz einnahm. „Audrey?“
„Nein“, brachte Lady Audrey hervor und riss sich aus seinem Griff.
„Audrey!“, rief er, aber sie beachtete ihn nicht. Sie eilte zur Tür, die sich wie durch ein
Wunder vor ihr öffnete, sodass sie die Möglichkeit zur Flucht hatte, die sie so dringend
brauchte – aber der Weg war ihr von niemand geringerem als ihrem eigenen Vater verstellt!
„Audrey, meine Liebe“, waren seine Worte, bis er den Ausdruck auf ihrem Gesicht sah.
„Mein Kind, was ist los?“
Sie beachtete seine Worte nicht und musste unbedingt die Rufe des Mannes ignorieren, der ihr
bis vor ein paar Minuten noch als einzige Person auf der Welt neben ihr erschienen war. Keiner
von beiden erhielt eine Antwort, als sie am Viscount vorbeidrängte.
Sie eilte aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters und auf den Flur, konnte aber immer noch nicht
der ganzen Welt entfliehen. Denn hier, auf der Suche nach ihren Mänteln und Hüten, war die
Hälfte der Gäste und bereitete sich auf den Aufbruch vor. Darunter sah sie ihre Freundinnen
Joy, Harmony und Jemima.

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Letztere sah sofort den wilden Ausdruck auf ihrem Gesicht.
„Audrey!“, sagte Jemima besorgt. „Was ist passiert? Geht es dir gut?“
Hinter sich konnte Lady Audrey die Schritte ihres Vaters und die des Mannes hören, der den
Weihnachtsball der Marchwoods, der eigentlich eine Freude, und zwar eine reine Freude hätte
sein sollen, in eine solche Unruhe gebracht hatte. Die Rufe des Vaters, der Freundinnen und des
Fremden reichten nicht, um sie zum Bleiben zu bewegen. Sie ignorierte alle um sie herum, als
wären sie unsichtbar und rannte die Treppe hinauf in die Sicherheit ihres Schlafzimmers, in das
keiner hineindurfte.

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Kapitel Zehn

Die Sonne war am zweiten Weihnachtsfeiertag aufgegangen, aber die wenigsten Menschen
waren wach gewesen, um es zu sehen. Die Weihnachtsfeierlichkeiten in Kombination mit der
Aufregung um das Drama am Abend zuvor hatten die meisten Leute bis in die frühen
Morgenstunden wachgehalten. Diejenigen, die bis zum Ende des Balls ausgeharrt hatten, waren
mit dem Anblick der jungen Lady Audrey, deren Ball es schließlich gewesen war, belohnt
worden, wie sie am Ende des Abends vor ihrem Vater und einem sehr gutaussehenden
Gentleman davongelaufen war. Beide Männer schienen entschlossen, mit ihr zu sprechen, aber
Lady Audrey war ebenso entschlossen mit niemandem zu reden.
Der Klatsch, was zur Hölle in diesem Seitenraum geschehen war, hatte viele der Damen um
den Schlaf gebracht. Vielleicht hatte der unbekannte Gentleman Lady Audrey einen
Heiratsantrag gemacht und ihr Vater hatte abgelehnt? Oder vielleicht war es andersherum: Der
Gentleman war die Wahl des Viscounts für seine schöne Tochter, aber sie trug einen anderen
Mann im Herzen und weigerte sich, den Wünschen ihres Vaters nachzukommen? Oder
vielleicht, sagte die wilde champagner- und punschbereicherte Vorstellung der Gäste, ging es
um etwas vollkommen anderes! Vielleicht war der junge Mann der lange verlorene uneheliche
Sohn, der endlich auf den Weihnachtsball seines Vaters gekommen war (der schließlich bekannt
dafür war, dass alle Berühmtheiten des Landes geladen wurden), um seine wahre Identität
aufzudecken und die schöne Lady Audrey zu enterben?
Die Gerüchteküche kochte über und Köpfe wurden argwöhnisch zusammengesteckt und so
war es wohl das Beste für Lady Audrey, die für den Großteil der Unterhaltung und Spekulation
der Gäste ihres Vaters gesorgt hatte, dass sie von diesen wilden und albernen Theorien nichts
mitbekam. Statt um ungefähr neun Uhr an diesem Morgen aufzustehen – die meisten der Gäste
hatten, wie es die Einladung verkündet hatte, die Nacht auf Scotchmore Castle verbracht –
blieb Lady Audrey in ihrem Schlafzimmer.
Sie versteckte sich nicht wirklich; das war nicht ihr Plan, da sie sich bewusst war,
irgendwann die Treppe, die sie nur einige Stunden zuvor so schnell hochgeeilt war,
hinuntergehen und sich ihren Gästen stellen zu müssen. Aber dies waren immer noch die
Festtage und da sie eben erst ihren ersten offiziellen Ball genossen hatte, war sie sich sicher,
dass es ihr niemand übel nahm, wenn sie noch etwas liegen blieb.
Als Lady Audrey aufgewacht war, stand die Sonne schon hoch am Himmel und ihre
Kammerzofe war schon da gewesen und wieder gegangen. Nun half sie Lady Audrey in ein
schönes cremefarbenes Kleid mit warmer, blauer Stola und bemerkte flüsternd, dass ihr Vater
und dessen Gäste zu einem morgendlichen Ausritt aufgebrochen waren. Dann ließ sie Lady
Audrey allein.

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Genau das wollte Lady Audrey. Obwohl sie nun vollständig angezogen war, konnte sie sich
nicht aufraffen, sich zurück in die Gesellschaft zu begeben. Schließlich war es durchaus
möglich, dass der Mann, der ein solches Chaos der Gefühle in ihrem Herzen angerichtet hatte,
immer noch auf Scotchmore Castle weilte und in diesem Moment unten herumwanderte! Und so
saß sie am Ende ihres Bettes und blickte aus dem Fenster auf die nun verschneite Welt.
Es war ein ganz schöner Schrecken für Lady Audrey gewesen, als Charlotte ihr gesagt hatte,
sie müsse noch einen weiteren Tag mit den Gästen ihres Vaters verbringen, da anscheinend ein
neuerlicher Schneefall vielen von ihnen eine Abreise unmöglich machte. Scotchmore Castle
hielt jedoch genug Platz für alle bereit, sodass Marchwood bereitwillig die freundliche
Einladung auf alle Gäste ausgeweitet hatte. Das war allerdings gewesen, ehe er seine Tochter
so erschreckt hatte. Sie hätte erwarten sollen, dass ihr Vater den perfekten Gastgeber gab,
dachte Lady Audrey; aber nun wünschte sie, er hätte es nicht getan.
Ihre Gedanken wirbelten herum und sie konnte nie lange bei einem bleiben. War Mr.
Cripwell unten? Sie würde lieber den ganzen Tag verbringen, ohne etwas zu essen, als ihn
nochmal zu sehen. Manchmal fürchtete sie sich sogar noch mehr vor einem Zusammentreffen
mit ihrem Vater: Was für eine Erklärung würde sie ihm für ihr seltsames Verhalten am Ende des
Abends liefern können?
Wenn sie aber völlig ehrlich zu sich selbst war, dann gab es nur eine Person, die sie
unbedingt wiedersehen und gleichzeitig mit jeder Faser ihres Körpers meiden wollte. Den
namenlosen Gentleman.
Plötzlich stand Lady Audrey auf. „Es hat keinen Sinn hier zu bleiben“, sagte sie streng zu sich
selbst. „Die Welt hört nicht auf sich zu drehen, nur weil du beschließt, dass du nicht jeden
Moment des gestrigen Abends genossen hast.“
Sie ging auf den Flur und die Treppe hinunter, die in die Eingangshalle führte.
Glücklicherweise war, bis auf einen Diener, der anscheinend losgeschickt worden war, um ein
Paar Schuhe zu finden, das er nun in seiner behandschuhten Hand hielt, niemand zu sehen. Er
verneigte den Kopf vor seiner Herrin, sagte aber nichts.
Lady Audrey atmete erleichtert auf. Dieses Gefühl sollte jedoch nicht lange anhalten.
Innerhalb von wenigen Augenblicken hörte sie Schritte. Sie hatte keine Zeit die Halle zu
verlassen und ehe sie sich versah, rief eine freundliche Stimme ihren Namen.
„Audrey!“
Sie wandte sich um und sah, dass Harmony, Joy und Jemima die Treppe herunter und auf sei
zu kamen. Sie entspannte sich sofort und lächelte erschöpft.
„Liebe Audrey“, sagte Jemima verwundert. „Du siehst geschafft aus. Konntest du letzte Nacht
nicht schlafen?“
Lady Audrey schüttelte den Kopf. „Es war schwierig einzuschlafen“, gab sie zu. „Und als ich
dann endlich eingeschlafen war, brauchte es nicht viel, um mich wieder aufzuwecken.“
Statt ihren Abendkleidern trugen die drei Fitzroys nun sehr hübsche pastellfarbene Kleider:

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Harmonys war blau, das ihrer Schwester Joy pfirsichfarben und Jemimas hatte ein schönes
butterblumengelbes. Ihr Haar war einfach zurechtgemacht und alle drei trugen dicke wollene
Stolas um ihre Schultern, da Scotchmore Castle nicht gerade für Wärme im Winter bekannt
war.
Joy streckte mitfühlend einen Arm nach Lady Audrey aus und drückte ihre Hand. „Ein Ball
wie deiner kann einen völlig überwältigen“, sagte sie sanft. „Ich kann mich nicht erinnern, dass
ich nach dem Ball geschlafen hätte, auf dem ich in die Gesellschaft eingeführt wurde. Heute
Nacht schläfst du aber mit Sicherheit wie ein Stein!“
„Und jetzt“, sagte Jemima eifrig, „wollen wir ausreiten! Dein Vater hat uns freundlicherweise
die Erlaubnis gegeben, jedes Pferd, das wir finden können, zu nehmen und die Luft ist
unglaublich frisch. Kommst du mit?“
„Oh ja“, sagte Harmony, „du musst unbedingt!“
Trotz ihres Flehens hatte Lady Audrey sich schon entschieden. „Ich muss ablehnen. Es tut mir
leid, aber ich bin einfach zu müde, selbst für einen kurzen Ausritt.“ Davon, dass sie einfach zu
viel zu verarbeiten und nachzudenken hatte, dachte sie dunkel, ganz zu schweigen. Und es gab
zu viele Menschen, denen sie aus dem Weg gehen wollte.
Jemima musterte sie besorgt. „Audrey, geht es dir gut?“
„Macht euch um mich keine Sorgen“, sagte Lady Audrey, als Joy ihre Hand losließ und
Audreys Temperatur an ihrer Stirn zu fühlen. „Ich flehe euch an, sorgt euch nicht! Ich entlasse
euch, um die winterlichen Freuden zu genießen, die Scotchmore Castle bietet – und ich werde
dafür sorgen, dass McGerald euch sofort zu mir führt, wenn ihr wieder da seid, dann können
wir zusammen Tee und Kuchen zu uns nehmen.“
„Du würdest es uns doch sagen“, sagte Joy langsam, „wenn etwas nicht stimmen würde.“
„Natürlich.“ Lady Audrey fand es einfacher zu lügen, als sie gedacht hatte.
Jemima schüttelte traurig den Kopf. „Weißt du, es wäre besser, wenn du mitkommen würdest.
Ich habe den Verdacht, dass mein Vater an Cornelius Gripwell, mit dem du gestern getanzt hast,
einen Narren gefressen hat. Er möchte, dass ich in dessen Gruppe reite.“
Lady Audreys Magen zog sich zusammen, aber sie tröstete sich im Stillen damit, dass ihr
eigener Vater mit Jemimas sprechen würde, um sicherzustellen, dass die Verbindung diesen Tag
nicht überschreiten würde.
„Sei unbesorgt, meine Liebe“, sagte sie lächelnd. „Ich bezweifle, dass du in sonderlicher
Gefahr schwebst, in naher Zukunft Mrs. Cripwell zu werden.“
Die vier Freundinnen lachten und schließlich konnte Lady Audrey sie davon überzeugen, zu
gehen und ihren Ausritt zu genießen, während das Wetter noch schön war. Endlich war sie
allein in der Halle und sah sich um. Wo konnte sie hingehen, um sicher zu sein, dass sie ein
paar Stunden ungestört war?
Lady Audrey machte ein paar zögerliche Schritte Richtung Bibliothek. Die war einst ein Ort
gewesen, wo sie sich stundenlang in den Folianten verlieren konnte, die die Wände säumten.

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Aber jetzt rief sie lediglich Atemlosigkeit und Hass hervor. Mr. Cripwell hatte diesen Ort für
sie ruiniert.
Aber die Nacht hatte nicht dort geendet, erinnerte sich Lady Audrey. Der bessere Teil des
Abends hatte sich im Arbeitszimmer ihres Vaters zugetragen – ein Raum, der für den Großteil
des Tages verlassen sein würde, da der Viscount die Zeitvertreib seiner Gäste trotz
Geldmangel sehr ernstnahm. In seinem Arbeitszimmer konnte sie mit Sicherheit ein paar
Stunden alleine nachdenken.
Es dauerte nur ein paar Augenblicke, ehe Lady Audrey die Tür hinter sich schloss. Sie
lächelte angesichts des lodernden Feuers und den beiden gemütliche Sesseln, die zu beiden
Seiten standen. Sie ließ sich auf einen davon fallen und blickte in die Flammen.
Es war ihr unmöglich, diese leidenschaftlichen Momente nicht noch einmal Revue passieren
zu lassen, die Gefühle, die sie erlebt hatte, an beinahe genau demselben Ort, an dem sie jetzt
saß. Lady Audrey schloss ihre Augen und ließ das Feuer ihr Gesicht wärmen, während sie die
feurige Leidenschaft noch einmal durchlebte, die sie mit einem Mann geteilt hatte, den sie
gerade erst getroffen hatte und von dem sie immer noch nichts wusste.
Sie errötete. Was hatte sie sich nur gedacht? In was für einer seltsamen Stimmung sie
gewesen war. Einem Mann, der noch nicht einmal die Höflichkeit besaß, ihr seinen Namen zu
nennen, zu erlauben, sie auf eine solch … solch wunderbare Weise zu küssen. Auf eine Weise,
die ihre Seele mit seiner zu verschmelzen schien. Auf eine Weise, die ihr einredete, dass sie so
viel mehr wollte. Und sie hatte beinahe gedacht, er könnte der Mann sein, der –
Lady Audrey öffnete die Augen. Der große dunkle Mann, der sich in ihr Leben getanzt hatte,
und weiterhin in ihrem Kopf herumspukte, war ihr vollkommen fremd. Wer war er und was
wollte er? Woher wusste er so viel über sie und warum war er so schrecklich aufgebracht
gewesen, als Mr. Cripwell sie auf diese abscheuliche Weise geküsst hatte?
Keines der Gefühle, keine der Emotionen, die ihr durch den Kopf gingen, schien Sinn zu
ergeben und sie verstand von alldem nichts. Die Küsse, die sie geteilt hatten, kamen ihr vor
wie Rätsel, die sie nicht ergründen konnte.
Auf dem Rost bewegte sich etwas Kohle und verursachte Funken, die in die Luft stoben.
Dieses Geräusch übertönte das Öffnen der Tür. Lady Audrey bemerkte nicht, dass eine weitere
Person den Raum betreten hatte, bis die Schritte sie beinahe erreicht hatten. Da sie beinahe
völlig von dem großen Sessel verschluckt wurde, nahmen der Eindringling und sie beinahe
gleichzeitig Notiz voneinander und sprachen im selben Moment.
„Lady Audrey –“
„Thomas!“
Lady Audrey starrte Thomas an und er lächelte unsicher zurück.
„Ich bitte um Verzeihung, my Lady“, sagte er leise und trat sich verbeugend einen Schritt
zurück. „Ich war auf der Suche nach Ihrem Vater und dachte, er wäre vielleicht in seinem
Arbeitszimmer. Ich wollte Sie nicht stören.“

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Lady Audrey lächelte ihn schwach an. „Machen Sie sich keine Sorgen, Thomas, Sie stören
mich nicht. Ich brauchte nur ein wenig Zeit abseits des Trubels.“
Thomas lächelte zögerlich. „Das kann ich vollkommen verstehen, my Lady. Ich werde Sie
allein lassen.”
Er wandte sich um, machte ein paar Schritte und wollte den Raum soeben durch die Tür
verlassen, durch die er eingetreten war, als Lady Audrey plötzlich den unbedingten Wunsch
nach Gesellschaft verspürte – und sie und Thomas kannten sich schon seit Jahren. Er war
immer derjenige gewesen, an den sie sich gewandt hatte, und sie sah keinen Grund, warum sie
ihn nicht auch jetzt ins Vertrauen ziehen sollte.
„Nein, bleiben Sie, Thomas.“ Ihre Stimme war sanft, aber laut genug, dass der
Kammerdiener sie auf seinem Weg nach draußen hören konnte. Er blieb stehen.
Er sah besorgt aus. „Ich möchte nicht in ihrer Einsamkeit herumschnüffeln, my Lady.“
„Dummes Gewäsch“, sagte Lady Audrey und rutschte auf ihrem bequemen Sessel herum. „Sie
kennen mich mit Sicherheit besser als die Mehrzahl der Gäste hier, und Sie haben in den letzten
fünf Jahren, die wir uns nun kennen, immer für mein Wohl gesorgt.“
Thomas‘ Lächeln wurde unbewusst breiter. „Das stimmt auf jeden Fall“, sagte er
zurückhaltend.
„Dann setzen Sie sich“, bat Lady Audrey und zeigte auf den Sessel ihr gegenüber. „Ich würde
Ihre Meinung über eine Sache, die mich… beschäftigt, begrüßen.”
Thomas zögerte, aber die Versuchung von Lady Audreys Einladung war zu groß, um sie zu
ignorieren. Er senkte seinen Kopf zum Dank, trat ins Zimmer zurück und setzte sich in den
Sessel, der ihr gegenüber neben dem Kamin stand.
Lady Audrey sah ihn an – sah ihn richtig an. Thomas war immer eher wie ein Teil des
Inventars ihres Lebens gewesen: Er war immer da, erregte dabei jedoch nicht viel
Aufmerksamkeit. Seine Abwesenheit fiel mehr auf als seine Gegenwart und trotzdem war er ihr
so tief vertraut. Etwas nagte in der hintersten Ecke ihrer Seele, aber wann immer sie danach
griff, schwamm es davon und entzog sich ihrer Erinnerung.
„Sie sehen beunruhigt aus, my Lady“, sagte Thomas sanft. Er lehnte sich zurück und schien
vollkommen entspannt zu sein – und nur er wusste, wie stark sein Herz klopfte, immer
schneller.
Lady Audrey lächelte traurig. „Mir geht so vieles im Kopf herum, wenn ich ehrlich bin. Ich
habe letzte Nacht zwar sehr genossen, vor allem die Momente, die ich mit meinen engen
Freundinnen verbringen konnte, aber sie war auch schwierig und verwirrend.“
Thomas rutschte auf seinem Sessel nach vorne. „Schwierig und verwirrend?“
Ein weiteres Stück Kohle bewegte sich auf dem Rost und Lady Audrey streckte ihre Hände
gens Feuer, um Thomas‘ Blick auszuweichen. Sie war sich immer noch nicht ganz sicher, was
sie ihm erzählen sollte.
„Thomas“, begann sie, „waren Sie auf dem Ball? Ich weiß, dass mein Vater Ihnen deutlich zu

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verstehen gegeben hat, dass Sie herzlich willkommen waren.“
Thomas schluckte. „Und ich nahm dieses Angebot an, my Lady.“
Lady Audrey lehnte sich ungeduldig nach vorne. „Haben Sie einen der Männer gesehen, mit
dem ich getanzt habe?“
„Nicht alle“, sagte Thomas lachend. „Ich kann mir vorstellen, dass viele junge Männer Ihre
Bekanntschaft machen wollten.“
„Ja, so war es“, nickte Lady Audrey, „und doch gab es einen Bestimmten, zu dem ich gerne
Ihre Meinung hätte.“
Thomas‘ Lächeln verblasste nicht, aber aus Anstrengung statt unbewusster Freude.
„Tatsächlich?“
„Ja“, sagte Lady Audrey mit Nachdruck. „Er war groß, ungefähr so groß wie Sie und, ich
würde sagen, mit dunklen Haaren. Er…“ Sie versuchte die Eindrücke, die sie von ihm hatte in
Worte zu fassen, so wenige es auch waren. „Er schien mich gut zu kennen und doch erinnerte
ich mich nicht, ihn jemals zuvor gesehen zu haben. Er war charmant und ein exzellenter Tänzer.
Und obendrein hatte er einen exzellenten rechten Haken.“
Thomas setzte sich auf. „My Lady?“
„Oh, vergessen Sie, dass ich das gesagt habe“, sagte Lady Audrey schnell. Sie lehnte sich in
ihren Sessel zurück und ließ die Hände mit einem Seufzen in ihren Schoß sinken. „Es ist wohl
unmöglich, ihn in Wort zu fassen. Ich muss einfach akzeptieren, dass er, wer immer er war, nun
fort ist.“
Sie wurde vom Feuer beleuchtet und Thomas betrachtete sie für ein oder zwei Minuten
schweigend. Ihr ging offensichtlich jede Menge durch den Kopf und Thomas war sich beinahe
sicher, dass er wusste, was es war. Beinahe …
„Sagen Sie, Lady Audrey“, brach Thomas nach ein paar Minuten das Schweigen. „Wenn ich
Sie bitten würde, den perfekten Mann für Sie zu beschreiben. Wie sähe er aus?“
Lady Audrey lachte bitter. „Wenn ich keine Worte finde, meinen mysteriösen Fremden von
letzter Nacht zu beschreiben, wie soll ich dann die Merkmale meines Traummannes aufzählen?
„Sind sie sich ähnlich?“
Thomas‘ Stimme wirkte erneut angespannt, aber Lady Audrey war zu abgelenkt, um es zu
bemerken. „Beinahe identisch, Thomas. Liebevoll, natürlich; mit einem tiefen Charakter statt
lediglich oberflächlichen Nettigkeiten. Ich kann Männer nicht ertragen“, sagte sie träge und
wandte ihren Blick endlich vom Feuer ab und sah ihn an, „die nicht meinen, was sie sagen. Und
jedes Wort aus seinen Lippen, schmeckte nach der Wahrheit.“
Die bloße Erwähnung seiner Lippen ließ sie erröten und sie hielt peinlich berührt inne. Doch
Thomas sagte nichts dazu.
Stattdessen sprach er mit einer Heiserkeit, die Lady Audrey überraschte. „Sie scheinen
beinahe … verliebt in diesen Mann zu sein.“
Lady Audrey erhob sich schnell aus ihrem Sessel. „Das würde ich nicht sagen“, sagte sie

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abwehrend.
Thomas stand ebenfalls auf. „Was würden Sie sagen?”
Lady Audrey fiel plötzlich auf, dass sie unglaublich nahe beieinander standen. Sie sah auf in
Thomas‘ Augen – und erblickte in ihnen etwas Bekanntes.
„Ich würde sagen“, sagte sie und flüsterte beinahe, obwohl sie nicht genau wusste, warum,
„dass es sich anfühlte, als würde ich ihn bereits kennen.“
„Vielleicht tun Sie das“, sagte Thomas.
Einen Moment lang blickten sich die beiden an. Lady Audrey war sich nicht sicher, warum
dieser Moment so mit einem Gefühl angefüllt war, das sie nicht verstand. Alles, was sie
wusste, war, dass der Moment vorbei sein würde, sobald sie den Blick abwandte.
Plötzlich machte Thomas einen Schritt auf sie zu. Seine Arme streckten sich nach ihr aus und
er nahm ihr Gesicht in seine Hände. Sein Gesichtsausdruck war stark und Liebe floss direkt in
Lady Audrey Herz. Er hielt inne und wartete – und Lady Audrey keuchte.

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Kapitel Elf

Lady Audrey konnte kaum fassen, was geschah – aber es war die Wahrheit und es war
offenkundig und es war nun definitiv erwiesen, dass der Mann, der sie gestern Abend auf dem
Ball zum Tanz aufgefordert hatte, der Mann, der sie während des Tanzes so gebannt hatte, und
der Mann, der sie vor dem Unhold gerettete hatte, und der Mann, der so um ihre Sicherheit
besorgt gewesen war, dass er sie in Panik angeschrien hatte, und der Mann, der sie so
wunderschön und dann so leidenschaftlich geküsst hatte – alle diese Männer waren Thomas.
„Du warst es“, flüsterte sie und ihre Gesichter berührten sich beinahe, während er den
Moment in die Länge zog.
Er nickte beinahe ängstlich, als fürchtete er, sie könnte sich plötzlich aus seinem Griff
befreien und aus dem Zimmer stürzen, ebenso wie sie es am Abend zuvor getan hatte.
Aber das war das Letzte, was Audrey wollte. Sie lehnte sich nach vorne und küsste den
Mann, den sie liebte, auf den Mund.
Dieses Mal war es kein sanfter und langsamer Kuss. Dieses Mal traf das Feuer, das so oft
aus Audreys Augen funkelte auf das Feuer der Sehnsucht und Hingabe, das all diese Jahre in
Thomas‘ Herz gebrannt hatte. Zwei Hände waren auf Audreys Rücken gedrückt und zogen sie
verzweifelt an ihn, als würde nur das kleinste Zögern bedeuten, sie könnte durch seine Finger
gleiten. Lady Audreys Hände lagen währenddessen weit auseinander. Die eine war um seine
Hüfte geschlungen, als wäre er der Anker, der sie aufrecht hielt, und die andere war in seine
Haare verschlungen und hielt sein Gesicht dicht an ihrem.
Thomas war keineswegs mehr zu schüchtern, um seine Hingabe und Zuneigung zu ihr zu
zeigen: Stattdessen überhäufte er ihr Gesicht mit Küssen, und überschüttete sie mit den
aufgestauten Gefühlen eines Mannes, der endlich ohne Maske vor der Frau stehen konnte, die
er liebte. Lady Audrey bewegte ihren Kopf, um erneut seinen Mund zu finden und öffnete
bewusst und glücklich ihre hungrigen Lippen, um den Kuss zu verstärken.
Sie hätte mit Leichtigkeit stundenlang so stehen und dem Mann nachgeben können, von dem
sie nie gewusst hatte, dass er schon die ganzen letzten fünf Jahre der Richtige für sie gewesen
war. Doch Thomas wich zurück und nahm ihr Gesicht noch einmal in seine Hände.
„Es tut mir leid“, sagte er langsam. Seine Gefühle standen seiner Fähigkeit zu sprechen im
Weg. „Verzeih mir –“
„Ich hätte es wissen müssen“, sagte Lady Audrey zwischen den Küssen, „ich hätte gestern
schon die ganze Zeit wissen müssen, dass du es bist.“
„Ich hatte eine Maske auf“, erinnerte Thomas sie und folgte mit seinen Küssen ihrer
Kinnpartie nach oben, bis er bei ihrem Ohr angekommen war und wanderte dann mit seinen
Lippen ihren Hals hinunter.

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Lady Audrey hatte große Schwierigkeiten sich aufs Sprechen zu konzentrieren, so verwirrend
waren seine erforschenden Küsse.
„Seitdem du vor fünf Jahren zu uns gekommen bist“, sagte sie atemlos, „war an dir, an uns
immer etwas Besonderes.“
„Ich habe darauf gewartet, dass du es verstehen würdest“, sagte Thomas und riss seine
Lippen von der Porzellanhaut los, die oberhalb des Schnürbands ihres Kleides offen lag. „Ich
wusste, dass du es irgendwann erkennen würdest.“
Lady Audrey lächelte ihn an und betrachtete erneut sein Haar, das aus der vorsichtig
gekämmten Frisur ausgebrochen war, als die Leidenschaft zwischen ihnen entflammt war, und
seine Augen, die nur glänzten, wenn er sie ansah.
„Es tut mir leid, Audrey“, begann Thomas erneut, aber Lady Audrey unterbrach ihn.
„Was sollte dir denn leidtun?“
Sie bewegte die Hand, die in seinem Haar gelegen hatte seinen Nacken hinunter und er bebte,
als Funken des Verlangens ihn durchzuckten, wo immer sie ihn berührte.
„Die Art, wie ich mich dir genähert habe“, brachte er heraus. „Ein Maskenball – es war
kindisch und ich hätte mit dir schon vorher über das sprechen müssen, was ich fühlte.“
Lady Audrey lächelte. „Und warum hast du nicht?“
„Weil ich Angst hatte“, antwortete er ehrlich. „Angst, vor dem, was du sagen würdest, Angst
vor deiner Antwort, Angst vor meiner eigenen, wenn du mich … abgewiesen hättest.“
Lady Audrey lächelte den Mann an, der sie offensichtlich so sehr liebte. „Dummes
Gewäsch“, sagte sie leise, „das war eine perfekte Weihnachtsüberraschung“, und lehnte sich
nach vorn, um die Lücke zwischen ihnen ein weiteres Mal zu schließen.
*
Keiner von beiden konnte mit Gewissheit sagen, wie viel Zeit vergangen war. Lady Audrey
saß glücklich auf Thomas‘ Schoß beim Feuer. Sie redeten leise über gemeinsame Erinnerungen
– und Erinnerungen, die sie in Zukunft gestalten wollten. Als sie erneut in einen
leidenschaftlichen Kuss abtauchten, wurde die Tür des Arbeitszimmers aufgestoßen und dort
stand der Viscount.
„Vater!“ Lady Audreys Stimme war schrill und sie fiel beinahe auf den Boden, als Thomas
sich beeilte aufzustehen.
„Audrey.“ Marchwoods Stimme war tief und trocken. Und als Lady Audrey ihre Balance
wiedergefunden hatte und sich zu ihrem Vater drehte, sah sie zu ihrer Beschämung, dass eine
Vielzahl von Gästen neben ihm stand – mit einem guten Blick auf das, was sich im
Arbeitszimmer abgespielt hatte.
Die Szene, die sich vor ihren Augen auftat, würde schon vor dem Wochenende alle größeren
Klatschblätter Londons füllen. Dort stand Lady Audrey, Tochter des Hauses und anerkannte
Schönheit, noch ehe sie richtig Teil der Gesellschaft war; und dort stand der Kammerdiener,
ein bloßer Bediensteter in einem Hause, das vor Luxus und Schönheit strahlte. Und zwischen

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diesen beiden Menschen war kaum Platz; tatsächlich saß erstere fröhlich auf dem Schoß von
letzterem.
„My Lord!“ Thomas glättete sein Hemd und Jackett. Seine Wangen waren nur leicht gerötet.
„Der Anstand gebietet es mir, Ihnen zu sagen, dass ich Ihre Tochter liebe.“
„Wirklich?“, sagte Marchwood sarkastisch. „Wie nett von Ihnen mir das mitzuteilen, ehe Sie
sie in meinem Arbeitszimmer küssen.“
Lady Audrey errötete und hörte Gemurmel des Großteils der Gesellschaft hinter ihrem Vater,
als die Information verdaut wurde. Dieser Tratsch, so wusste sie, wäre bald schon
Hauptgesprächsthema in London und Bath.
Aber Thomas war vom Ton seines Herrn nicht in Verlegenheit gebracht. „Ich gebe zu, dass
dies nicht die beste Art war, damit umzugehen“, sagte er fest, „und trotzdem liebe ich sie und
möchte sie heiraten.“
Nun erreichten verblüffte und erschrockene Ausrufe Lady Audreys Ohren, aber sie hörte sie
kaum, als sie zu dem Mann aufsah, der sie liebte und den sie liebte.
„Mich heiraten?“, flüsterte sie.
Thomas sah sie an und lächelte entschuldigend. „Das ist vielleicht nicht der beste Antrag, das
gebe ich zu“, sagte er lächelnd, „aber wenn du annimmst, dann werde ich den Rest meines
Lebens damit verbringen, dich so glücklich zu machen, wie du mich in diesem Moment.“
Lady Audrey lächelte und Tränen drohten aus ihrem Augenwinkel zu fließen. „Eine Hochzeit
wäre schön“, sagte sie und nahm seine Hand.
„Ich hatte gedacht“, sagte Marchwood hilflos, „dass ich derjenige wäre, der sein
Einverständnis für derlei Angelegenheiten geben müsste, wisst ihr.“
„Ist das nicht Ihr Kammerdiener, Marchwood?“
Lady Audrey konnte nicht genau sehen, wer das gesagt hatte, aber das musste sie auch nicht.
Sie wusste, dass ihnen ab jetzt für den Großteil ihres Lebens ähnliche Bemerkungen, Witze und
Beleidigungen entgegengeworfen werden würden. Aber sie war bereit dafür.
„Ja“, sagte sie fest und sah ihren Vater direkt an. „Das ist er. Und obwohl er nicht reich oder
vornehm oder hochgeboren oder in der Gesellschaft bekannt ist, liebe ich ihn. Ich weiß, Vater“,
und hier bekam ihre Stimme etwas leicht Bittendes, „dass der Zweck des Balls war, mich
jungen Gentlemen mit Titel und Vermögen vorzustellen, aber der Mann, den ich liebe, war
schon jahrelang vor meiner Nase und ich habe es erst jetzt gemerkt. Ich muss bei ihm sein.“
„Aber –“, versuchte ihr Vater zu sagen, aber Audrey war noch nicht fertig.
„Thomas wird deine Geldprobleme nicht lösen“, sagte sie zögernd, „und das tut mir leid.
Aber ich liebe ihn und möchte ihn heiraten.“
Die Menschenmenge hinter ihrem Vater sah nun von ihr auf ihn in Erwartung einer Antwort.
Sie warteten mit angehaltenem Atem auf die Wut und das Untersagen der Heirat, das Verbot
sich jemals wiedersehen zu dürfen und den Rauswurf des wagemutigen Kammerdieners, der
die Tochter dazu gebracht hatte, ihn zu lieben.

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Aber sie warteten immer noch, als der Viscount von Marchwood anfing zu lachen. Es begann
als tiefes, leises Brummen und brach dann schallend aus ihm heraus. Audrey hatte ihren Vater
seit Wochen – vielleicht Monaten – nicht mehr so lachen hören.
Vielleicht war er krank, dachte sie. Vielleicht haben ihn meine Worte wahnsinnig gemacht!
Aber sie musste nicht sehr lange auf eine Erklärung warten. Als der Viscount sich die
Lachtränen aus dem Gesicht gewischt hatte, sagte er: „Liebstes Kind, wovon in Gottes Namen
redest du? Geldprobleme?“
Lady Audrey runzelte die Stirn. „Ja, du hast sie natürlich nie direkt erwähnt und ich habe nie
verlangt, dass du mich ins Vertrauen ziehst, aber es ist wohlbekannt, dass –“
„Na dann, wenn es wohlbekannt ist“, sagte Marchwood lächelnd. Das erste Mal, seit er die
Tür geöffnet hatte, machte er einen Schritt auf seine Tochter und den Mann zu, dessen Hand sie
noch immer hielt. „Audrey, ich habe keine finanziellen Schwierigkeiten. Gar keine. Tatsächlich
ist das Gegenteil der Fall.”
Lady Audrey blinzelte verwirrt. „Gar keine?“
Marchwood schüttelte den Kopf.
„Aber Ihre Lordschaft“, sagte Thomas, der es hasste sich einzumischen, aber unbedingt die
Wahrheit hören musste. „Sie haben alle glauben lassen, dass Ihr Vermögen sich dem Ende
neigt!“
Marchwood nickte und setzte sich in den Ledersessel, der an seinem Schreibtisch stand. „Ich
wollte sichergehen“, sagte er langsam und die Menge an der Tür bewegte sich nicht, „dass
derjenige, der das Herz meiner Tochter gewann, wirklich nur ihr Herz wollte. Ich wollte, dass
derjenige sie als das liebte, was sie ist, und nicht weil sie reich ist.“
Langsam begriff Lady Audrey und es schien, als würde auch Thomas den Sinn dieser Worte
verstehen. Sein Mund stand offen und er brachte keinen Ton hervor.
„Vater“, sagte Lady Audrey, ließ Thomas‘ Hand nun los und ging zu ihrem Vater. Sie kniete
sich vor ihn und nahm seine Hand. „Vater, heißt das, dass wir deine Erlaubnis haben … zu
heiraten? Obwohl Thomas … kein Vermögen hat?
Der Viscount seufzte und erneut richteten sich alle Augen von seiner Tochter auf ihn.
„Audrey, weißt du, was ich in den letzten Jahren begriffen habe?“
Lady Audrey schüttelte ihren Kopf. Ihr Vater rutschte auf seinem Stuhl hin und her und
brachte sich in eine bequeme Position, ehe er weitersprach.
„Wenn die Menschen denken, man sei arm”, sagte er geradeheraus und ließ seine Augen von
ihr zu Thomas und wieder zurückwandern, „behandeln sie einen anders. Freunde, von denen
man annahm, man könnte sich immer an sie wenden, wenn es einem schlecht ging, wenden sich
plötzlich ab. Die älteren Verwandten der Freunde sind komischerweise dauernd krank und
können einen nicht mehr besuchen. Sie ignorieren einen einfach.“ Sein Gesicht verdunkelte
sich. „Und das ist nicht richtig. Ein Mann sollte nicht nach dem Vermögen in seiner Tasche
beurteilt werden, sondern nach dem Vermögen seines Herzens.“

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Lady Audrey konnte nicht glauben, was sie da hörte – aber ihr Vater war noch nicht fertig.
„Kind, ich war nie arm, nicht einmal im Ansatz. Aber der bloße Verdacht schien genug zu
sein, um einige Freunde zu verlieren, die mir Jahrzehnte lang treu waren. Wenn du jemanden
finden kannst, der dich jenseits deines finanziellen Wertes liebt, dann solltest du an ihm
festhalten, sodass er dich nie verlassen will.“
„Heißt das …?“ Lady Audrey war ganz heiser und musste schlucken, ehe sie fortfuhr. „Heißt
das, du gibst uns deine Erlaubnis?“
Marchwood lächelte und schien plötzlich wesentlich jünger zu sein. Die Jahre verschwanden
aus seinem Gesicht und seine Augen hellten sich das erste Mal seit langer Zeit auf.
„Die habt ihr auf jeden Fall, meine Liebe“, sagte er flüsternd. „Und ich hoffe, dass ihr so
glücklich sein könnt, wie ich es mit deiner lieben Mutter gewesen bin – und dass ihr Zeit genug
habt, es zu genießen.“
Thomas wartete nicht länger. Er eilte zu Audrey und zog sie hoch. Er legte seine Arme um sie
und flüsterte ihr ins Ohr: „Du bist die beste Weihnachtsüberraschung, die ich je hatte.“
Lady Audrey schloss die Augen, unfähig die Glückseligkeit all dessen zu ertragen – und trotz
der Anwesenheit ihres Vaters, trotz der Menschen an der Tür, trotz der Rufe und des Gelächters
ihrer Freunde, küsste sie Thomas, den Mann, den sie liebte.

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Nachbemerkung der Autorin

Da dies mein erstes Werk aus der Regency-Zeit ist, habe ich mein Bestes gegeben,
entsprechende und akkurate Recherchen anzustellen. Mögliche Fehler, die mir unterlaufen sind,
bitte ich zu entschuldigen, da ich zwar eine Liebhaberin dieser Epoche, jedoch keine Expertin
bin.
Die Regency-Zeit war eine aufregende Periode für viel Menschen, besonders für Frauen. Es
gab neue Wege zu beschreiten und neue Möglichkeiten auszuprobieren, allerdings waren viele
begrenzt durch die Vorstellungen der Männer dieser Zeit: ihre Väter, Brüder, Ehemänner. Ich
fand, es wäre eine nette Abwechslung, einen Vater zu porträtieren, der seine Tochter liebevoll
unterstützt, auch wenn sie es wohl nicht immer versteht oder zu schätzen weiß.
Es handelt sich in diesem Buch um fiktionale Charaktere, aber ich liebe sie alle, seid also
bitte nett zu ihnen.

61

Danksagung

Einmal mehr gilt mein Dank Endeavour Press – es war mir eine große Freude, dieses Buch
zu schreiben und ich bedanke mich für euer Vertrauen. Joshua, du weißt, wie wundervoll du
bist. Meine Familie war besonders geduldig mit mir, während ich mich an dieser neuen Epoche
probierte; vielleicht sollte ich bald wieder dorthin zurückkehren. Besonderen Dank gilt PB, PB
und BB, ihr wisst, wer gemeint ist.

62
Über die Autorin

Emily Murdoch ist Geschichtswissenschaftlerin mit Schwerpunkt Mittelalter. Sie arbeitete in


der Bodleian Library in Oxford an der Transkribierung von Dokumenten, entwarf Teile einer
Ausstellung für das Yorkshire Museum, kümmerte sich mithilfe des National Trust um ein
historisches Haus und trug zu Recherchen einer BBC-Dokumentation bei. Sie hat einen
Bachelor in Geschichte und Englisch, sowie einen Master in Mediävistik. Emily publizierte
bereits zwei Romane und zwei Novellen. Es sind jedoch noch weitere geplant.
Für mehr Informationen zu Emily und ihren Büchern besuchen Sie
www.emilyekmurdoch.blogspot.co.uk oder folgen Sie ihr auf Twitter @emilyekmurdoch.
Conquests
Love Letters
Captives
Conquered Hearts (Sammelband)

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel Eins 6
Kapitel Zwei 11
Kapitel Drei 15
Kapitel Vier 19
Kapitel Fünf 23
Kapitel Sechs 28
Kapitel Sieben 35
Kapitel Acht 39
Kapitel Neun 44
Kapitel Zehn 49
Kapitel Elf 56
Nachbemerkung der Autorin 61
Danksagung 62
Über die Autorin 63

64

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