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ISSN 1439-4324 | 10 Euro

Nr. 13 | Dezember 2008

Nr. 13

Electro UK Visual Kei Berlin Metal Death Metal in Germany


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Editorial

Liebe Leserinnen und Leser,

schwarzgekleidete, langhaarige, bärtige Männer, die biertrun- Ereignis wird mit einem kleinen Rückblick auf die Archiv-Ge-
ken den Kopf zu ohrenbetäubend lauter Musik schwingen – so schichte gewürdigt.
oder ähnlich stellen sich viele Außenstehende immer noch die Außerdem hat Joco Alexander eine vielfältige und span-
Heavy-Metal-Szene vor. Auch wenn ein Film wie „Full Metal nende Szene beleuchtet, die hierzulande sonst eher selten zu
Jacket“ sich als Publikumsliebling auch bei metal-fernen Zu- Wort kommt: die Elektro-Szene Großbritanniens, die musika-
schauern herausstellte, existieren Vorurteile über Metaller als lisch gerade auch auf den Mainstream großen Einfluss nimmt.
grobschlächtige, stumpfe und gewaltbereite Raubeine weiter. Einem noch recht neuen, aber stetig wachsenden Phäno-
Medial verbreitete Skandalberichte über satanisch mordende men hat sich die Fotografin Sophie Aigner angenommen. Sie
norwegische Black-Metal-Bands unterfüttern immer wieder hat Mitglieder der Visual-Kei-Szene, die meist auffällig im Stil
die landläufige Meinung über die „böse Szene“. japanischer Rock-Bands gekleidet sind, portraitiert.
Dass die Metal-Szene sehr viel vielfältiger, feinsinniger
und eigentlich gar nicht gefährlich ist, zeigen die Schwerpunk- Im zweiten Teil des Heftes finden sich wie immer eine gan-
tartikel dieser Ausgabe des Journal der Jugendkulturen. Jana ze Reihe Rezensionen und Annotationen. Christian Schmidt
Kimmritz hat sich dazu in der Berliner Szene umgeschaut und und Andi Kuttner beschreiben in ihrer Kolumne diesmal, wie
die Geschichte des Metal in Berlin aufgerollt. Sarah Chaker Fanzines ihren Weg ins Archiv finden und Klaus Farin wirft
lässt uns an ihren Beobachtungen im Soundlodge-Tonstudio in seiner neuen Kolumne „Quergelesen“ einen Blick in die ak-
teilhaben, wo sie die Band Suffocate Bastard bei der Aufnahme tuelle Fachpresse.
einer CD begleiten durfte. Die bisweilen stressige Studio-Si-
tuation offenbart nicht nur musikalische Feinheiten, sondern Zum guter letzt noch ein Hinweis für alle Graffiti-Interessier-
auch Zwischenmenschliches. Einen etwas abstrakteren Blick ten: Das Archiv der Jugendkulturen hat das „Kassler Archiv für
auf die Welt des Metal liefert Dietmar Elflein. Er fragt sich, wie Graffiti-Forschung“ von Axel Thiel übernommen. Der bereits
zwischen den Metal-Fans eigentlich Gemeinschaft entsteht, im Jahr 2006 viel zu früh verstorbene Axel Thiel gilt als einer
insbesondere wo bei all den Spielarten der Metal-Musik noch der Pioniere der wissenschaftlichen Erforschung der Graffiti-
das Verbindende liegt. Von der Musik zum Text führt dagegen Kultur im europäischen Raum. Bereits 1975 hatte er aus per-
der erfahrene Fanzine-Macher Thor Wanzek. Er breitet in sei- sönlichem Interesse mit der Dokumentation und systemati-
nem Beitrag die vielfältige Landschaft der Metal-Fanzines aus schen Archivierung des Kassler Graffiti-Geschehens begonnen
und stellt einige Größen der Szene und ihre Ansichten zum und wurde im Lauf der Zeit zum vielfach angefragten Experten,
Schreiben über Metal vor. vor allem in Sachen Graffiti-Prävention, welcher er stets kri-
tisch gegenüber stand. Die von ihm ins Leben gerufene „Inter-
Doch vor dem metallenen Schwerpunkt sind noch drei weitere national Work Group on Graffiti Research“ diente der von ihm
Texte zu beachten: Zum einen hat das Archiv der Jugendkul- geforderten weltweiten Vernetzung von Graffiti-ForscherInnen
turen dieses Jahr seinen zehnten Geburtstag gefeiert! Dieses und kann eine Vielzahl von Veröffentlichungen aufweisen.

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Das nun der Öffentlichkeit wieder zugänglich gemachte


„Graffiti-Archiv“ umfasst neben Thiels eigenen Titeln eine
große Auswahl an wissenschaftlichen Arbeiten, Lexika, Ar-
tikeln, Essays, Bildbänden, Fotografien und Filmen sowie
szene-eigene Graffiti-Fanzines und Zehntausende von Presse-
berichten zum Thema – von prähistorischen Felszeichnungen
und antiken Inschriften über Toilettengraffiti und politische
Wandmalereien bis zum Subway Writing, dem „American
Graffiti“ und den heutigen Ausprägungen des Phänomens
sind sämtliche Graffiti-Spielarten repräsentiert. Wer etwas
zum Thema Graffiti sucht, wird hier sicher fündig!

Silke Eckert

Impressum

Journal der Jugendkulturen Nr. 13, Dezember 2008


ISSN 1439-4324
Herausgeber: Archiv der Jugendkulturen e.V.
Fidicinstraße 3, 10965 Berlin
Tel.: 030/694 29 34
Fax: 030/691 30 16
archiv@jugendkulturen.de
www.jugendkulturen.de

Redaktion: Gabriele Rohmann (V.i.S.d.P.), Silke Eckert


Cover & Layout: Conny Agel
Coverfoto: Markus Mirschel
© Archiv der Jugendkulturen Verlag KG, Berlin

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Inhalt

Editorial ........................................................................................................ 3 Im Copyshop mit ... Andi und Christian


Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe ....................................... 6 Text: Andi Kuttner & Christian Schmidt
Fotos: Christian Karschnik ................................................................... 79

 THEMEN  REZENSIONEN

10 Jahre Archiv der Jugendkulturen – Literatur .................................................................................................... 88


und kein Ende in Sicht ............................................................. 8 Sachbuch .................................................................................................. 93
Fanzines .................................................................................................. 136
Eine kleine Geschichte der Posteingang .......................................................................................... 138
Elektronischen Musik in Großbritannien Quergelesen .......................................................................................... 145
Text: Costa Alexander ........................................................................... 15 Filme ......................................................................................................... 147
Neue wissenschaftliche Arbeiten .................................................. 153
Visual Kei Neue Veröffentlichungen unserer Mitglieder ........................... 158
Text und Fotos: Sophie Aigner .......................................................... 26

Berlin Metal – Geschichten einer Szene


Text: Jana Kimmritz
Fotos: Markus Mirschel + Henry Kramer ........................................ 33

Death Metal Made in Germany.


Mit Suffocate Bastard im Tonstudio
Text: Sarah Chaker
Fotos: Sarah Chaker + David Adamietz ........................................... 43

Show No Mercy
oder: All We Are – All We Are We Are –
We Are All – All We Need
Text: Dietmar Elflein
Fotos: Henry Kramer .............................................................................. 55

Besessene Zeilenschinder
Text: Thor Wanzek ................................................................................... 67

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Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe

Nana Adusei-Poku, wurde 1981 in Arvid Dittmann, Jahrgang 1967, büro ORTLOS space-engineering in
Essen geboren, hat Afrikawissenschaften Diplom-Sozialpädagoge, DJ und freier Graz. Reisender mit ausgeprägtem Hang
und Gender Studies an der Humboldt Mitarbeiter des Archivs der Jugendkul- zur Langsamkeit. Themenschwerpunkte
Universität zu Berlin studiert und setzt turen. im Journal: Filmkritiken und Analysen
derzeit ihre wissenschaftliche Ausbil- von internationalen Filmfestivals.
dung am Goldsmiths College London im Silke Eckert, Jahrgang 1981, Diplom-
Studiengang „Media and Communicati- Psychologin und Studentin der Kommu- Anne Hagemann, geboren 1985, 2008
ons“ fort. nikationswissenschaft an der Westfäli- hat sie ihr BA-Studium in Publizistik-
schen Wilhelms-Universität Münster. und Kommunikationswissenschaft und
Sophie Aigner, Jahrgang 1978, studierte Englischer Philologie abgeschlossen.
Freie Kunst an der Bauhaus Universität Dietmar Elflein, Jahrgang 1964, vgl. Sie war 2007 als Praktikantin im
Weimar. Nach verschiedenen Fotoassis- Musikwissenschaftler, lebt und arbeitet Archiv tätig.
tenzen ist sie seit 2004 als freie Foto- als Komponist, Sounddesigner und
grafin tätig. Ihr fotografisches Interesse Autor in Berlin. Arbeitet viel am Theater Edith Hartmann, Jahrgang 1955, Mitar-
gilt den Menschen im sozialen Kon- und sitzt an einer Dissertation zur beiterin in der Bibliothek des Archivs
text. Das Porträt im gesellschaftlichen musikalischen Sprache des Heavy Metal. der Jugendkulturen.
Rahmen steht für sie im Vordergrund. Projekte und Veröffentlichungen unter
kontakt@sophieaigner.de http://d-elflein.de/pageID_4826873.html. Nadine Heyman, geboren 1979, hat
Europäische Ethnologie, Rechtswissen-
Costa Alexander, hat in Hannover, Klaus Farin, Jahrgang 1958, Autor und schaft und Pädagogik in Berlin studiert.
Lyon und Istanbul studiert. Im Frühjahr Leiter der Archivs der Jugendkulturen Seit 2007 arbeitet sie im Archiv der Ju-
2008 ist das Debütalbum seiner Band e. V. gendkulturen als freie Mitarbeiterin und
Beatpoeten erschienen. ist in antifaschistischen Initiativen tätig.
Ela E. Gezen, geboren 1977 in Berlin. Als Referentin für politische Bildung
Sarah Chaker, Jahrgang 1979, Studium Seit 2005 Doktorandin der Germanistik arbeitet sie vor allem zu Rechtsextremis-
des Magisterstudiengangs Musik in den an der University of Michigan in Ann mus, Antisemitismus, Antirassismus
Massenmedien/Germanistik an der Carl Arbor. In ihrer Dissertation erforscht sie und Gender.
von Ossietzky Universität Oldenburg; Raumkonstruktionen/-konstellationen
momentan Erarbeitung einer Disserta- im Allgemeinen und Verortungen von Bernd Hüttner, geboren 1966, Politik-
tion zum Thema Black und Death Metal Heimat im Speziellen in deutsch-türki- wissenschaftler. Regionalmitarbeiter Bre-
im Fach Musikwissenschaft, Redakteurin scher Literatur und Rap Musik. men und Koordinator des Themenfeldes
beim Journal der Jugendkulturen und „Geschichte“ der Rosa-Luxemburg-Stif-
Team-Mitglied des Archiv-Projekts Emil Gruber, Baujahr 1959, Fotograf tung. Im Jahr 2000 Gründer des Archiv
„Culture on the Road“. und Multimediagestalter. Partner im der sozialen Bewegungen Bremen.
interdisziplinär arbeitenden Architektur-

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Christian Karschnik, geboren 1983 Markus Mirschel, Jahrgang 1979, Christian Schmidt, Jahrgang 1976,
in Berlin, arbeitet als Sachbearbeiter Geschichtswissenschaftler M.A.. Arbeitet Historiker und Ethnologe/Kulturwis-
im Projekt „Migrantenjugendliche in seit acht Jahren als freiberuflicher Foto- senschaftler, M.A. Betreut den Fanzine-
Jugendkulturen“. graf und Redakteur für das Metal-Maga- Bestand des Archivs der Jugendkulturen.
zin Legacy. Weitere Veröffentlichungen Thematische Schwerpunkte: Alterna-
Jana Kimmritz, Jahrgang 1979, Diplom- im Literaturressort des Printmagazins tivmedien, Street Art, Kulturtheorie,
Soziologin. Beruflich in der Medien- Multimania. Weitere Informationen Cultural Studies und Kritische Theorie.
forschung tätig. Ehrenamtliche Mitar- unter www.booth-van-bohr.com.
beiterin im Archiv der Jugendkulturen Corinna Steffen, Jahrgang 1968, Ma-
als Betreuerin des Fanzine-Bestandes Antje Pfeffer, Jahrgang 1964, Diplom- gister in Europäischer Ethnologie und
und Ansprechpartnerin für den Bereich Bibliothekarin, Magister in Geschichte, Kulturwissenschaft, Mitarbeiterin im
Metal. Amerikanistik, Europäische Ethnologie, Archiv der Jugendkulturen.
Bibliothekarin im Archiv der Jugendkul-
Michael Klarmann, Jahrgang 1968, turen. Roman Schweidlenka, geboren 1952
lebt und arbeitet in Aachen. Freischaf- in Wien. Studienabschluss (Geschichte/
fender Journalist, Autor, Pressefotograf Martin Pickelmann, Jahrgang 1973, Kunstgeschichte) mit dem Titel Dr. phil.
und Referent (regionale rechtsextreme Historiker M.A., Mitarbeiter im Archiv im November 1983. Mitarbeiter an zahl-
Szene; Rechtsrock; „Kameradschaften“; der Jugendkulturen. reichen wissenschaftlichen Forschungs-
Zeichen, Codes und Mode). Weitere Ar- projekten zur Thematik „Esoterik,
beitsschwerpunkte: Asyl, Linksextremis- Gabriele Rohmann, geboren 1968 Sekten, Okkultismus, Satanismus“. Seit
mus, Antifaschismus, Jugendkulturen, in Kassel, lebt in Berlin. Studium der 1987 als Referent und Schulungsleiter
Soziale- und Friedensbewegung, Innere Soziologie, Germanistik sowie der im gesamten deutschen Sprachraum und
Sicherheit. Arbeitet u. a. für Aachener Wirtschafts- und Sozialpsychologie in Italien tätig. Ca. 800 Veröffentlichungen
Nachrichten, Blick nach Rechts, Göttingen. Magistra Artium für Sozial- (Artikel, Rezensionen etc.), u.a. sechs
Telepolis, Ox-Fanzine. wissenschaften. Gemeinsam mit Klaus Bücher. Seit 1996 Leitung des LOGO
Weblogger: myblog.de/klarmann. Farin Gründung und Aufbau des Archivs ESO.INFO. Schreibt und liest Literatur
der Jugendkulturen e. V. in Berlin. unter dem Künstlernamen Michael
Andreas Kuttner, Jahrgang 1974, His- Autorin, Journalistin und Referentin in
Benaglio.
toriker und Herausgeber von Punk-Fan- der politischen Jugend- und Erwachse-
zines, Mitarbeiter im Fanzine-Team und nenbildung, pädagogische Leiterin des
Thor Wanzek, schreibt seit seinem 15.
Mailorder im Archiv der Jugendkulturen. Archiv-der-Kulturen-Projekts »Migran-
Lebensjahr für zahlreiche Metal-Fanzi-
tenjugendliche & Jugendkulturen«. Ver-
nes und Musik-Magazine. Seit zwölf Jah-
Ralf Mahlich, Jahrgang 1976, Studieren- antwortliche Redakteurin des Journals
ren arbeitet er mit Menschen, die unter
der der Sozialen Arbeit an der Alice- der Jugendkulturen.
dem Verdacht stehen, „autistisch“, „geis-
Salomon-Fachhochschule, Schwer-
tig behindert“ oder „psychisch krank“ zu
punktthemen Gender und Queer Studies, Kurt Schilde, Dr. phil., Jahrgang 1947,
sein – und wundert sich darüber.
Interkulturelle/Antirassistische Sozial- Historiker an der Universität Siegen,
arbeit, transnationale Ansätze kritischer wirtschafts- und sozialwissenschaftli-
Sozialarbeit. Freiberufliche Tätigkeit in ches Studium, Veröffentlichungen zur
der Bildungsarbeit in den Bereichen Nati- Geschichte des Nationalsozialismus,
onalsozialismus, Rechtsextremismus und zuletzt: Jugendopposition 1933-1945.
Jugendkulturen mit dem Schwerpunkt Ausgewählte Beiträge. Berlin 2007,
Techno. Er selbst ist DJ. Lukas Verlag.

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10 Jahre Archiv der Jugendkulturen –


und kein Ende in Sicht

Stichtag 18.Mai 1998: Das Archiv der Jugendkulturen erblickt meinen doch viele Wissenschaftler bereits alles über diese Sze-
das Licht der Welt. Zehn Jahre sind seitdem vergangen, Anlass ne zu wissen, ohne je einen Skin gesehen zu haben.
genug für einen kleinen Rückblick: So unkonventionell, aber auch so ertragreich wie Farins
Publikationen ist auch die Arbeit im Archiv. 2001 wurden die
Alles begann mit Desinteresse: Klaus Farin, Gründer und Lei- Räumlichkeiten bereits zu klein, mittlerweile umfasst das Ar-
ter des Archivs, wollte seine Sammlung von Flyern, Fanzines chiv 700 Quadratmeter. Während das Erdgeschoss in erster
und weiteren Devotionalien der unterschiedlichsten Jugends- Linie als Buchlager, für Ausstellungen und Veranstaltungen
zenen eigentlich einer Universität vermachen, aber niemand genutzt wird, befinden sich im ersten Stock die Büros der Mit-
zeigte sich sonderlich interessiert. Der Journalist und Autor arbeiterInnen und natürlich das Herz des Archivs: die Biblio-
ließ sich davon nicht verunsichern und nahm die Sache ein- thek. Diese umfasst auf 200 Quadratmetern mittlerweile rund
fach selbst in die Hand. Er gründete den Verein Archiv der 6.000 Bücher und Broschüren, 28.000 Fanzines, Zeitschriften
Jugendkulturen e.V., nahm einen Kredit auf, mietete Räume in und Zeitungen, 320 Magister- und Diplomarbeiten, 4.000 CDs,
der Fidicinstraße in Berlin Kreuzberg und eröffnete eine Bibli- LPs, MCs, DVDs und Videos sowie Zehntausende von Pres-
othek, damals 185 Quadratmeter groß. Es konnte losgehen. seausschnitten und ungezählte Flyer. Und der Bestand wächst
Aber wie kommt man überhaupt dazu, sich mit Jugend-
kulturen zu beschäftigen? Für Klaus Farin, geboren 1958 in
Gelsenkirchen, zieht sich dieses Thema durch seine gesamte
berufliche Laufbahn. Schon mit 20 Jahren schrieb er sein erstes
Buch (mit einem Vorwort von Günter Wallraff ), 1991 kam in
Zusammenarbeit mit Eberhard Seidel-Pielen der Band „Krieg
in den Städten“ über Jugendgangs und Rechtsradikalismus
heraus, ein Pionierwerk der modernen Jugendsozialforschung,
das mittlerweile den Status eines Klassikers erlangt hat. Seit-
dem hat sich Einiges an Publikationen angesammelt, allein 29
Bücher hat er mittlerweile veröffentlicht, dazu kommen etliche
Zeitungsartikel sowie einige Film- und Radiobeiträge. Immer
wieder geht Klaus Farin für die Recherche in die Szenen hinein
und redet mit den Jugendlichen, anstatt vom Schreibtisch aus
wilde Theorien zu bilden. Insbesondere bei den Betrachtungen
der Skinheadszene hat dieses Vorgehen für Aufsehen gesorgt,

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immer weiter. So hat das Archiv soeben die Sammlung des lei-
der viel zu früh verstorbenen Kasseler Graffiti-Forschers Axel
Thiel übernommen. Beinah täglich treffen neue Fanzines und
Bücher ein, immer wieder vermachen Wissenschaftler und
Privatpersonen ihre Sammlungen zu den unterschiedlichsten
Jugendkulturen dem Archiv. Manchmal gibt es mehr Material,
als die Regale halten können.

All dies muss natürlich auch verwaltet werden, und dazu ist
und war das Archiv von Beginn an auf die Hilfe ehrenamt-
licher MitarbeiterInnen angewiesen. Ohne ehrenamtliches
Engagement wären die Projekte, die neben der Bibliothek ei-
nen eigenen Verlag, das Schulprojekt „Culture on the Road“
und immer wieder einzelne Initiativen wie die Ausstellungen
„50 Jahre Bravo“ (2005-2007), „Hinter den Kulissen – All-
tag junger Migranntinnen“ oder „Keine Zukunft war gestern
– Punk“ umfassen. Das anfangs geliehene Kapital war schnell
verbraucht, die Finanzierung des Gesamtprojekts „Archiv der
Jugendkulturen“ steht permanent auf wackeligen Füßen. Ein
Teil wird durch Buchverkäufe des eigenen Verlags, der jährlich
etwa sechs Bücher herausgibt, gedeckt, es gibt Fördermittel
des Programms „Vielfalt tut gut“ des Bundesfamilienminis-
teriums, hin und wieder EU-Mittel oder Finanzspritzen des
Berliner Migrationsbeauftragten, eine Regelförderung fehlt
jedoch bis heute.

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Trotz der häufig wackeligen Finanzierung konnte sich


das Archiv bisher immer wieder behaupten, es konnte
wachsen und gedeihen – kurz: Es lebt!

Das Zehnjährige wurde natürlich gefeiert, und zwar mit PVC,


der dienstältesten Punkband Deutschlands, die mit ihrem Kon-
zert auch die Punk-Ausstellung „Keine Zukunft war gestern“
hochoffiziell eröffneten. Ein Anlass, der Berliner Punks mehre-
rer Generationen in die Räume des Archivs lockte. Außerdem Im Zuge dieses Events bekam auch die Wand im Hof des
spielten die Crumpets und die StattMatratzen auf der Jubilä- Archivs einen neuen „Anstrich“: Acht Graffiti-Künstlerin-
umsparty in der legendären Ostberliner Kirche von unten. nen aus allen Kontinenten der Erde gestalteten gemeinsam
die etwa 160 Quadratmeter große Fläche zum Thema Musik.
Natürlich ruht sich das Archiv nicht etwa auf zehn Jahren Und in den Köpfen der MitarbeiterInnen entstehen bereits die
erfolgreicher Arbeit aus, sondern macht weiter: Im August nächsten Projekte. Da werden neue Buchideen ausgebrütet,
2008 standen dabei Frauen und HipHop im Vordergrund. Im eine Jugendstudie ist geplant und natürlich sollen bewährte
Rahmen des internationalen Frauen-HipHop-Festivals „We Projekte wie „Culture on the Road“ weiterlaufen. Man kann
Be-Girlz“ fanden im Archiv Workshops zu Rap, Manga und also sicher sein, dass vom Archiv der Jugendkulturen auch in
Graffiti statt. Zukunft einiges zu erwarten ist!

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Eine kleine Geschichte der


Elektronischen Musik in Großbritannien

TEXT: COSTA ALEXANDER

Intro/ Fade In

Electro-Clash, Minimal House, Garage-House, Grime und bedienen sich eher aus der Szene Nordenglands um Man-
seit Herbst 2006 New Rave: Elektronische Musik hat in Groß- chester. Die Musik und die Kleidung, die sich aus Acid-House-
britannien, trotz des Rock-Revivals der unzählbaren „The- Zitaten und der Einheitsmode schwedischer Kleidungsketten
Bands“, die Gitarrenmusik als subkulturell relevantesten Teil- zusammensetzt, spricht in ihrer Breite eher ein weißes Publi-
bereich der Popkultur abgelöst. Wobei sich die verschiedenen kum an. Der Import nach Deutschland muss, wie vieles vor-
Spielarten einer Unterordnung in klar voneinander abzugren- her schon, scheitern, denn Deutschland hat eine ganz andere
zende Genres entziehen. Im Gegensatz zu den House-Varia- Tradition der Elektronischen Musik
tionen und den durch House Musik beeinflussten Rhythmen Der folgende Essay wird nicht alle Entwicklungsschritte
wirkt der organisch wirkende Breakbeat, den beispielsweise und Details der musikalischen, kulturellen und sozialen Aus-
Grime aus dem Drum and Bass entleiht, weniger linear und wirkungen der elektronischen Musik Großbritanniens genau
chaotischer, gleich einer musikalischen Metapher auf seinen skizzieren. Vielmehr soll der Text dazu dienen, einen Überblick
geographischen Ursprung, das Londoner East End. Die Ver- über ein musikalisches Phänomen der 1990er-Jahre zu geben.
wandtschaft zum Drum and Bass, sowohl musikalisch als
auch im Habitus, macht es wichtig, eine kleine Einführung
in die Musik des Schlagzeuggewitters mit seinen verschiede- Before the Night: From Disco to Acid
nen Spielarten von Jungle über Liquid bis hin zu Dubstep zu
geben und so die Musik in einen Kontext zu setzen, der sich Die moderne Britische Musik und ihre Szenen sind tief in der
weitgehend auf die Britischen Inseln und London im Spezi- politischen, sozialen und ökonomischen Wirklichkeit Groß-
ellen bezieht. Abgesehen von Musikliebhabern mit HipHop- britanniens in den 1980er-Jahren verwurzelt.
Affinität konnte Grime vor allem auch in Berlin begeistern. Die Regierungsübernahme Margaret Thatchers am 4. Mai
Wahrscheinlich ist Berlin die einzige deutsche Stadt mit rei- 1979 markierte das Ende der Nachkriegszeit mit ihrem Wohl-
nen Grime-Parties. standswachstum und läutete die sogenannte Achtziger-Jahre-
Im Gegensatz dazu zitieren Bands wie Klaxons oder Simi- Depression ein. Diese war von Sozial- und Steuerreformen, ei-
an Mobile Disco als bekannteste Vertreter des vermeintlichen ner kränkelnden Wirtschaft und der weltweiten Durchsetzung
New-Rave-Hypes Poppunkbands wie die Happy Mondays und einer neuen Arbeits- und Wirtschaftsmoral geprägt. Die Börse
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als Zentrum jedes Handelns stürzte das Land in eine Sinnkri- dieser Orte statt. So lebte das Bandkollektiv Chumbawamba
se. Mit dem Wegfall der Bergbau- und Eisenindustrie im Nor- für mehrere Jahre in einem besetzten Haus in der Nähe der
den und dem Zusammenbruch der Schiffsindustrie sowie der Stadt Leeds. Aber auch das Label Factory Records, Heimat von
Liberalisierung am Finanzmarkt wurden innerhalb kürzester Joy Division, den Happy Mondays und nach Ian Curtis Selbst-
Zeit Tausende Menschen arbeitslos. mord auch von New Order, betrieb seinen Nachtclub Hacien-
Die Jugend wuchs zwischen konservativer Biederkeit, Ne- da in einer ehemaligen Industrieanlage.
oliberalismus der Thatcher-Regierung, trauriger finanzieller Durch das „Squatting“, das Besetzen von Häusern, gab es
Realität und hoffnungsloser Zukunft auf. Der Slogan „No Fu- auf einmal Freiräume, die, oft an der Grenze zur Illegalität,
ture“ aus dem Punk war damals wenige Jahre alt und wirk- genutzt werden konnten. Diese Verfügbarkeit von Bereichen,
te auf viele Jugendliche nahezu prophetisch. Auf der einen die von Politik und Wirtschaft aufgegeben wurden und sich
Seite nahmen rassistische Übergriffe auf Immigranten aus jeglicher Verwertbarkeit entzogen, bot den perfekten Raum,
den Commonwealth Staaten zu, die ihrerseits ihrem Frust um eine Form musikalischer Expressivität auszuleben, die seit
vermehrt gewalttätig Ausdruck verliehen. Die regelmäßigen den frühen 1980er-Jahren in den USA eine funktionierende
Ausschreitungen im Londoner Stadtteil Brixton wurden auch Untergrund- und Minderheitenszene geschaffen hatte. Da in
international bekannt und inspirierten die Band The Clash zu Großbritannien das Konzept des Autonomen Jugendzent-
ihrem bekannten Lied „Guns of Brixton“. Wer hätte gedacht, rums vollkommen unbekannt ist, boten diese besetzten Orte
dass das ebenfalls als Problemviertel verschrieene Nottinghill für Jugendliche oftmals die einzige Möglichkeit, sich zu treffen
in den 1990er-Jahren als Prototyp des Gentrification-Prozesses und Musik zu hören.
dienen sollte. Auf der anderen Seite fand, inspiriert durch den Die House Musik entstand auf dem musikalischen Fun-
Verfall ehemaliger Industrie- und Lagerhallenanlagen und der dament von Disco, Funk und den Soundtüftlereien deutscher
damit verbundenen Verödung der Städte, eine Rückeroberung MusikerInnen im Dunstkreis des Elektronische-Musik-Pio-

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niers Karlheinz Stockhausen. Dazu zählten Can und beson-


ders Kraftwerk. In den frühen 1980er-Jahren konnte sich diese
Musik in Chicago im Umfeld der unterdrückten schwarzen
und homosexuellen Clubkultur voll entfalten. In Großbritan-
nien verbreitete sie sich in dem dafür wie geschaffenen Rah-
men schnell. Gerade der Club Hacienda in Manchester wurde
in kürzester Zeit eines der Zentren dieser neuen Musikrich-
tung, die in ihrer Anfangszeit etwas Revolutionäres hatte. Zu-
sammen mit der Entwicklung neuer technischer Geräte zur
synthetischen Klang- und Rhythmuserzeugung schien eine
Überwindung der bis dahin herrschenden Regeln und Gren-
zen der Popkultur machbar.
Dabei basieren die technischen Möglichkeiten zur Pro-
duktion von House Musik und der ersten kommerziell erfolg-
reichen und für Britannien wichtigsten Weiterentwicklung,
Acid-House, auf einem Zufall. Was wäre Pop schließlich ohne
seine Legenden?! Anfang der Achtziger entwickelte die japa-
nische Elektronikfirma Roland ein Gerät, das es Musikern
ermöglichen sollte, auf Pattern basierend Basslaufsequenzen
und Melodien zu erstellen, die vor allem als Begleitung ge-
dacht waren. Der TB 303 war trotz seines relativ günstigen
Preises von damals umgerechnet 730 DM ein Flop. Nach zwei
Jahren wurde die Produktion eingestellt. Es dauerte Jahre, bis
das Potenzial dieser Maschine in Verbindung mit der Drum- Vorbildern, war mitverantwortlich für eine klar britische
Machine TR 808 und deren Weiterentwicklung TR 909, beide Identität des Acid House und damit ein wichtiges Fundament
ebenfalls von Roland, entdeckt wurde. Gerade die Eigenschaft, für die nur in Europa wirklich relevante Rave Musik. Nach
mit dem Gerät Klänge zu erzeugen, die eine künstliche Orga- dem Ende von 808 State arbeitete sich Gerald Simpson, nun
nität schufen, ähnlich einem Sägen oder Zwitschern, war die als A Guy called Gerald, an seinem eigenen musikalischen
Basis für den späteren Erfolg und gab der Musik ihren Namen: Erbe sowie den Einflüssen seiner jamaikanischen Wurzeln ab
Acid – englisch für Säure. und schuf so 1991 mit wenigen 12’’-Singles die musikalische
Ausgehend von Manchester erreichte Acid auf den Inseln Grundlage dessen, was wenig später zu Jungle, der Mutter des
in kürzester Zeit eine bis dahin für elektronische Musik unbe- Drum and Bass, weiterentwickelt werden sollte.
kannte Popularität und kommerzielle Verwertbarkeit. Grup-
pen wie die Happy Mondays oder The KLF werkelten fleißig an
ihrer Idee einer ideologisch aufgeladenen Tanzmusik. Graham The Birth of something New: Jungle and Concrete
Massey, Martin Price und der ehemalige Tanzstudent Gerald
Simpson wurden unter dem Namen 808 State zu einer der Während immer mehr Jugendliche den Rave für sich ent-
ersten Supergruppen in Britannien. Der Name bezieht sich deckten und sich von Stadt zu Stadt leicht verschiedene kleine
in der zwar noch jungen aber schon mystifizierten Tradition Subkulturen mit eigenem Sound, Stil und Gestus herausbilden
des Acid auf die Liebe zur Drum Machine TR 808. Der Sound konnten, konnte sich ein weiteres musikalisches Phänomen
der Crew emanzipierte sich von seinen US-amerikanischen der 1980er-Jahre langsam auch in Großbritannien etablieren:

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Großstädten der USA als auch Britanniens der ghettoisierten


schwarzen Minderheit eine Stimme gab: dem Ragga-Dance-
hall. Ragga oder auch Raggemuffin ist eine Weiterentwicklung
des Reggaes, bei dem die Bassläufe mit Synthesizern produ-
ziert werden, so dass ein tiefer, verzerrter Sound entsteht, der
in den Riddims, den Instrumentals, die Melodie übernimmt,
auf die, wie im HipHop, die MCs, die Masters of Ceremony,
ihren Sprechgesang legen. HipHop wurde nun mit Ragga
vermischt, gepitcht und dem ganzen das Wort „Jungle“ aufge-
drückt. Das Wort „Jungle“ bezog sich im Reggae immer auf den
Platz Tivoli Gardens in Kingston/Jamaika, den alle nur Jungle
nennen. In der urbanen Wirklichkeit Britanniens wurde das
Wort jedoch mit dem grauen Betondschungel assoziiert. Jung-
le oder auch Hardcore stand im starken Kontrast zu den bis
dahin üblichen Housebeats der Raves. Der Beat in der House
Musik ist flächig, alle Schläge sind gleich akzentuiert, so dass
eine Maschinenhaftigkeit entsteht. Die Reduktion auf einen
treibenden Beat, der durch seine Parallelen zu urafrikanischen
Stammesritualen etwas Tribaleskes bekam, und der Gegen-
satz zu westlicher Rationalität und Perfektion in Sound und
Ebenfalls von einer schwarzen Minderheit geschaffen, breitete Struktur schafften das erste Mal in der Musikgeschichte etwas
sich der HipHop vor allem in der zweiten Hälfte der achtzi- vermeintlich Unmögliches: Der weiße Mann konnte nun tan-
ger Jahre bis in die tiefste englische Provinz aus. Die musi- zen. Hardcore oder Jungle versuchten dies nun noch ein Stück
kalisch produktive Grundlage für HipHop ist der Breakbeat, weiter zu entwickeln. Die Musik war schneller, die Bässe waren
ursprünglich ein kurzes Schlagzeugsolo in Jazz- und Funkstü- lauter und radikaler und die Struktur war auf den ersten Blick
cken. In den späten siebziger Jahren gelang es dem New Yorker chaotischer. Die Schläge pro Minute zeigten bis zu 180 bpm
DJ Kool Herc als einem der ersten, diesen meist nur wenige an, die Bässe erinnerten eher an Punk als an elektronische Mu-
Takte langen Break zu sampeln, also aus dem ursprünglichen sik und die Beats erschienen durch ihre unterschiedliche Ak-
Stück zu extrahieren. Kool Herc verband bei seinen Auftrit- zentuierung einerseits organisch, andererseits war es nahezu
ten als DJ Reggae- und Funktunes und „toastete“, eine Art des unmöglich für einen Schlagzeuger aus Fleisch und Blut, diese
frühen Rap, bei dem das Publikum angeheizt wird, auf diese auch nur wenige Minuten akkurat zu spielen. Die Urform die-
Mischung. Die gesampelten Schlagzeugteile, die Breakbeats, ses Beats findet sich in dem Stück „Amen my Brother“ von den
passten wegen ihrer repetitiven Wiedergabe perfekt zu den Winstons, das bis heute einer der meist gesampelten Tracks des
improvisierten Reimen des DJs. Die Musik war tanzbar, und Genres, wenn nicht sogar überhaupt, ist.
es konnten nun ganze Botschaften im Gegensatz zu simplen Nachdem das Produzententeam 4 Hero bereits 1990 mit
Ausrufen transportiert werden. Die Grundlage des Rap als seinem Hit „Mr.Kirk’s Nightmare“ dem jungen Genre eine
musikalischer Teil des HipHop war gelegt. musikalische Blaupause schuf, bekam die Szene circa 1992 mit
Diese wohl musikalisch reinste Form US-amerikanischer Goldie ihren ersten Star. Sein Track „Terminator“ verinnerlich-
Urbanität knallte nun in Londoner Stadtteilen wie Brixton mit te neben typischen House-Synthieflächen bereits die wesentli-
einem hohen Anteil an afrikanischen und jamaikanischen Im- chen Elemente des Jungle und wurde schnell zum Soundtrack
migranten auf eine andere Musikrichtung, die sowohl in den einer neuen Bewegung innerhalb der Rave-Szene.

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beschlagnahmen. Die Strafen für Organisatoren und Raver


lagen bei bis zu drei Monaten Gefängnis und/oder einer Stra-
fe von 2.500 Pfund.

Inner City Life: Massive and the right Frequencies

Während die gesamte Rave-Szene durch Medien, Polizei und


Drogendealer langsam zersetzt wurde, gelang es der Jungle-
Szene, sich von der House-Kultur weiter zu emanzipieren,
nicht nur aufgrund einer umfassenden Kommerzialisierung.
Jungle hieß inzwischen einfach Drum and Bass, wobei eine
musikalische und stilistische Teilung in zwei Hauptlager ent-
standen war: auf der einen Seite der dunkle, eher den klas-
sischen Reggae-Elementen zuzuordnende Stil um Dillinja,
auf der anderen Seite der geradlinigere, eher durch Funk und
HipHop beeinflusste Jump Up, den vor allem Aphrodite pro-
duzierte und aus dem später der so genannte Intelligent Drum
and Bass und der Techstep entstehen sollte. Die einzelnen
Subgenres unterscheiden sich untereinander für den Break-
Spätestens nach 1992 waren Raves auch abseits der USA beatlaien nur minimal, spielten innerhalb der Szene aber eine
und Großbritanniens in vielen anderen Ländern etabliert. große Rolle. Der dunkle Drum and Bass wirkte verstörend
Die Besucherzahlen der Loveparade stiegen jedes Jahr um ein und chaotisch, erzeugte eine Endzeitstimmung, wurde eher
Vielfaches: 1993 feierten 30.000, 1994 bereits 120.000 auf dem von einem schwarzen Publikum angenommen und besaß des-
Kurfürstendamm. wegen eine ausgeprägte Urbanität. Der Jump Up, wie später
Der Drogenkonsum in der Szene stand in der Medienbe- auch der Intelligent und der Techstep, war leicht verdaulich,
richterstattung im Mittelpunkt – insbesondere über Ecstasy sprach ein eher weißes Publikum in Großraumdiskos an und
und Amphetamine, die wegen ihrer aufputschenden Wirkung besaß deswegen eher eine Suburbanität.
auf die Tanzleistung besonders beliebt waren. Dass jede Mu- Durch den Reiz des Illegalen und des Hedonistischen in
sikbewegung auch ihre eigene Drogenkultur etablieren wür- den Veranstaltungen und der physischen und mentalen Befrei-
de, war seit den 1960er-Jahren Fakt. Die Kinder der 1990er- ung durch die Musik bei gleichzeitiger elitärer Attitüde ande-
Jahre führten diese Tradition fort, zum Schrecken ihrer an ren House Unterarten wie Acid oder Trance gegenüber, begann
Haschisch gewöhnten Elterngeneration. Die britische Regie- sich die Drum-and-Bass-Szene auch äußerlich abzugrenzen.
rung von Thatcher-Nachfolger John Major versuchte dies ab Schnell entstand genreübergreifend ein typischer Kleidungsstil,
1994 direkt zu bekämpfen und legte mit mehreren Sektionen der, inspiriert durch die Baggykultur des HipHop, militaristi-
im Criminal Justice and Public Order Act den weltweit ersten scher wurde. Die Hosen waren weit und oft aus Camouflage-
Rechtsgrundstein für das Verhalten von Polizeikräften auf stoff, die Mädels trugen Trägeroberteile, Jungs T-Shirts, an den
Raves und zur Unterbindung von Raves. Dieses Gesetz wurde Füßen klebten Skateschuhe. Die Jungs trugen ihre Haare kurz,
direkt in die Verfassung integriert. Der Polizei wurde erlaubt, die Mädels meist im Zopf. Natürlich gab es, so wie in jeder Ju-
bereits bei Verdacht eines Raves Platzverweise auszusprechen gendkultur, Ausnahmen, doch stand im Zentrum immer ein
und mögliches Material, also Platten, Musikanlagen etc. zu praktischer Wert: Die Kleidung musste stundenlanges Tanzen

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in engen, verrauchten und dreckigen Lokalitäten aushalten und Auch wenn einzelne Segmente der Szene kommerziell
gleichzeitig bequem genug sein. Der Hang zu militaristischer ausgeschlachtet werden konnten, schaffte es kein Drum-and-
Kleidung ergänzte sich perfekt mit der elitären Grundhaltung. Bass-Track in die kommerziellen Radioprogramme Großbri-
Im Zentrum jeder Veranstaltung stand das jeweilige tanniens. Ein wichtiges Instrument bei der Verbreitung der
Soundsystem, bestehend aus den DJs und den MCs, später Musik waren Piraten-Radio-Stationen, die oft alle paar Tage
wurden diese durch Licht- und Visualtechniker ergänzt. Das ihren Standort ändern mussten, um nicht gefasst zu werden.
Soundsystem ist im Ursprung eine Art Straßenparty, die sich Die Szene befand sich im direkten Krieg mit der Mainstream-
auf Jamaika bereits in den 1950er-Jahren etablieren konnte. gesellschaft und genoss diese Rolle als Underdog.
Die DJs luden ihre Anlagen auf Trucks und schufen so eine
mobile Disko. Dieses Prinzip wurde später auch in Deutsch-
land auf jeder Demonstration oder „Reclaim the Streets“-Pa- The Sons and Daughters: Trip-Hop und 2Step
rade umgesetzt. Die Rolle der MCs auf den Raves war es, eine
Verbindung zwischen den Tracks, also dem Handwerk des Anfang der 1990er-Jahre entstanden aus der militaristischen
DJs, und dem Publikum herzustellen. Eines der Themen, die Attitüde und letzten Bewegungen der HipHop-Welle weitere
der MC verbal aufgriff, war das „Massive“. Eine klare Defini- Untergenres, die sich musikalisch und kulturell bereits weit
tion gibt es nicht. Es handelt sich um einen Ausruf, der so- von ihrer kreativen Mutter Drum and Bass entfernt hatten.
wohl Stärke als auch Gruppe ausdrücken sollte. Die positiven Wichtig ist, dass Sound, Stil und Struktur des jeweiligen Un-
gruppendynamischen Effekte des Raves auf das Individuum tergenres von der Stadt beziehungsweise dem Stadtteil Lon-
werden dadurch noch verstärkt, es geht ein Signal der Einig- dons abhingen. Die Hafenstadt Bristol mit ihrer mittelgroßen,
keit und der Kraft von der zentralen musikalischen Stelle aus. aber ethnisch sehr diversifizierten Bevölkerung inspirierte
Massive entspricht einem militaristischen Gestus. durch ihre Langsamkeit und Entspanntheit den Trip-Hop, der

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bis spät in die Neunziger als große Hoffnung der Pop-Musik einiges schneller ab als in den USA und bevorzugten Dub
galt. Aus der Künstlergruppe The Wild Bunch, bekannt durch Versions, also reine Instrumentals. Diese Freiflächen konnten
eine Partyreihe, in der HipHop-Wurzeln perfekt mit Reggae- nun wiederum von MCs genutzt werden. Schnell distanzierte
und House-Einflüssen gemischt wurden, entstammt die wohl sich diese Musikform von ihrem Nischendasein und, vor al-
bekannteste Band Massive Attack. Diese legte mit ihrem 1991 lem durch die Pirate Radio Stations gepusht, entstanden eigene
erschienenen Album „Blue Lines“ das Fundament des Gen- Partyreihen, die sich nur dieser neuen Form widmeten. Den
res und inspirierte Bands wie Portishead, Morcheeba und Tri- ersten Clubhit landeten The Artful Dodger gemeinsam mit
cky. Wichtig war dabei die Rückentwicklung vom Track hin Craig David, der Ende der 1990er-Jahre mit der bis heute in der
zu einer Songstruktur, was in der elektronischen Musik bis Szene legendären Nummer „Re-rewind“ eine riesige Solokarri-
dahin unmöglich erschien, untergrub es doch das Hauptan- ere machen sollte. Die Verbindung von Garage mit Funk und
liegen der Dekonstruktion der Rock- und Pop-Einflüsse auf vor allem amerikanischem R&B schuf eine Mischung, die vor
die Musik. Der Sound aus Bristol war düster, an der Grenze allem Frauen ansprach: Der 2Step war geboren und damit ein
zur autoaggressiven Depression, das Ganze begleitet von einer weiterer Schritt in der Schaffung einer eigenen, vom US-ameri-
melodramatischen Frauenstimme, die gleichzeitig verrucht kanischen Vorbild emanzipierten Form des HipHop gemacht.
und zerbrechlich wirken sollte – ein gutes Beispiel dafür ist
die Portishead-Sängerin Beth Gibbons.
Der zweite Spross der Breakbeatpflanze hatte seine Wur- Push things forward;
zeln eher im US-Garage, einer Art des House, die durch starke The Millenium between Chillout and Grime
Soul- und Gospel-Anleihen geprägt ist. Diese Richtung wurde
auf britischen Drum-and-Bass-Raves oft in den Second Areas Drum and Bass erhielt 1998 mit Grooveriders Album „Myste-
oder Rooms aufgelegt. Die DJs spielten die Tracks jedoch um ries of Funk“ eine neue Richtung. Der Liquid Funk war geboren,

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der Terminus stammt jedoch nicht von Grooverider oder sei- Entfremdung der Inhalte von UK Garage und 2Step und fing
nem DJ Partner Fabio. Liquid Funk basiert auf einer geraden, an, eigene Tracks zu produzieren, auf denen er sich mit Vorliebe
wenig variierten Bassline und einer Konzentration auf Sphären an den Themen eines weißen, britischen Jugendlichen abarbei-
und Ambient. Die Musik, neben Grooverider vor allem durch tete: Drogenkonsum, alltägliche Gewalt postpubertärer Halb-
LTJ Bukem beeinflusst, richtete sich durch ihre dem Songkon- starker, Frauen, die Halbwelt zwischen Popzitaten, Fußball-
strukt näher stehende Struktur nicht unbedingt an ein Clubpu- spielen und den richtigen Klamotten für einen Samstagabend.
blikum. Die Musik wirkte eher entspannend, ein musikalischer Sein erster selbst finanzierter Track „Has it come to this“ wurde
Erzählfluss wurde deutlich. Ähnlichkeiten zu Ambient oder sofort ein Hit. 2000 erschien unter dem Namen The Streets mit
brazilesken Spielformen des House sind offensichtlich. Dies „Original Pirate Material“ die Blaupause britischer Jugend zwi-
fügte sich perfekt in das zwar nicht neue, aber unter dem Deck- schen schwarzer Musik und White Trash. Dass Skinner sein
mantel des Retro-Chics verhippte Party/Bar-Konzept „Lounge“. Debüt und auch den Nachfolger von 2004, „A Grand don’t
Die Drum-and-Bass-Hörspiele bildeten die ideale Klangtapete come for free“, alleine an seinem Laptop produzierte, ist ein
für die im 1960er- und 1970er-Jahre-Stil eingerichteten Mini- interessanter Aspekt: Fallende Preise von Synthesizern und an-
mallokalitäten der New-Economy-People der Jahrtausendwen- deren Geräten zur elektronischen Klangerzeugung sowie eine
de und verkamen so zur Muzak von teuren Alkoholika und für Anfänger einfachere Bedienung führten zu einer allgemei-
billigen Eitelkeiten. Schnell wurde Drum and Bass easy-listi- nen Demokratisierung der Produktionsmittel in der Elektro-
ningisiert, jazzig oder soulig und verlor damit zwar nicht seine nischen Musik. Seinen Authentizitätsbonus konnte der inzwi-
Qualität, die eigentliche Aussage aber wurde verzerrt. schen in London lebende Skinner auch nicht durch seine von
Während Europas Festlandjugend den Soundtrack der der britischen Boulevard-Presse eifrig beobachteten Eskapaden
Neue-Medien-After-Work-Parties bei südamerikanischen und dem mittelmäßigen Drittwerk „The Hardest Way to Make
Cocktails genoss, erkannte Mike Skinner in Birmingham die an Easy Living“ verspielen. Vom deutschen Feuilleton und der

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len. Dass die HipHop-Dreifaltigkeit „Bitches, Beef and Bling“,


also Frauen, Stress und Kohle, auch in London eine größere
Rolle spielen sollte, war abzusehen, hielt die Berlin-Mitte-
Bohemians aber nicht davon ab, die Musik in ihren Coffee-
shops und Flagshipstores abzuspielen. Die Clubbesucher in
England waren zu Beginn von dieser neuen Musik verwirrt,
denn sie wussten nicht, wie sie sich dazu bewegen sollten – so
verzichteten sie lieber gleich ganz aufs Tanzen und entluden
ihre Aggressionen in Schlägereien. Wenig später verboten
Clubbesitzer auf der ganzen Insel das Spielen von bestimmten
Stücken dieser Musikrichtung. Während die eine Hälfte der
britischen Jugendlichen als kleine Bob Dylans verkleidet oder
mit Pünktchen und Streifen ausgestattet dem Rock- und Brit-
pop-Revival ihre Ehre erwies, überlegten Londoner Politiker,
Kapuzenpullis zu verbieten, in der Annahme, so die Gewalt in
den Clubs in den Griff zu kriegen.

Outro/ Afterhour

Indie-Polizei gefeiert, gründete Skinner sein eigenes Label, um Trotz seiner Energie und der stetigen Weiterentwicklung, trotz
seine Idee von britischem HipHop erfolgreich zu verbreiten. seiner Kultur und seiner Struktur hat Drum and Bass nicht das
Die gefallenen Preise für Produktionsmittel und deren geschafft, was von ihm Anfang der Neunziger erhofft wurde:
Vereinfachung im Handling ermöglichte es auch Menschen die Zersetzung der Idee des Pop-Songs und die Weiterent-
aus prekären sozialen Milieus mit zwar geringer klassischer wicklung des Pop-Konstruktes hin zur Auflösung in Tracks,
musikalischer Bildung, aber einer aggressiven Kreativität die- Flächen, Rhythmus und Struktur. Im Rückblick erscheint die-
ser musikalisch Ausdruck zu verleihen. Das Londoner East se Hoffnung, die Drum and Bass wieder mit seinem Ursprung
End, ein ehemaliger Arbeiterstadtteil, nun überwiegend von House verbindet, naiv spirituell. Gerade die Zersetzung von
Immigranten, Künstlern und inzwischen auch von MacBook- Macho-Kultur und fremdbestimmten Geschlechterkonstruk-
Hipstern besiedelt und durch seinen schlechten Ruf von der ten durch die Elektronische Musik schien in den Anfängen
bürgerlichen Mittelschicht weitgehend gemieden, spuckte möglich. Trotzdem erlag die House-Musik, wie auch der Hip-
nun eines seiner typischen Kinder aus: Dylan Mills, gerade Hop vor ihm und später der Drum and Bass den typischen
einmal 19 Jahre alt, erschuf 2003 mit seinem preisgekrönten Krankheiten, die durch Zersetzung und Kommerzialisierung
Debüt „Boy in da Corner“ den Grundstein dessen, was kurz entstehen. Frauen sind als Produzenten immer noch unterre-
darauf von der Presse als Grime bezeichnet wurde. Grime ist präsentiert. Ausnahmen bilden die beiden Metalheadz-DJanes
eine Musik, die die Realität englischer Innenstädte wie kei- Kemistry und Storm, wobei Kemi Olusanya 1999 bei einem
ne vorher einzufangen schien: dunkel, aggressiv, chaotische Autounfall ums Leben kam. Die beiden legten als Duo auf,
Beats gemischt mit kehligen Bässen und futuristischen Bleeps. konnten so ihren eigenen, eher femininen Stil entwickeln und
Eine musikalische Emanzipation des britischen HipHop von dadurch die Szene wesentlich mitprägen. Die Londonerin
seinem US-amerikanischen Vorbild, ohne mit sexistischer, Lady Sovereign schaffte es hingegen bereits mit 17 von Jay Z
Gewalt verherrlichender Inhaltslosigkeit provozieren zu wol- für das US-amerikanische Label Def Jam entdeckt zu werden

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Amanda Harman, so ihr bürgerliche Name, eine Brücke zwi-


schen Cockney Rotz und HipHop-Protz zu schlagen.
Eine Errungenschaft der elektronischen Musik bleibt zwei-
fellos der Abriss typischer Unterteilungen in schwarze und
weiße Musik. Begründet auf Afrika Bambaatas musikalischer
Verbindung aus schwarzem Breakbeat und weißer Elektronik
in seinem Stück „Planet Rock“, war die frühe House-Szene
und die Drum-and-Bass-Szene bis heute von keiner Seite do-
miniert, vielmehr schien Drum and Bass die Hoffnung einer
entleibten und damit nicht auf Hautfarbe zu reduzierenden
Musik, im Gegensatz zu den Geschlechterkonstrukten, zu er-
füllen. Dass Techno trotzdem von Neonazis als Marschmusik
adaptiert wurde und schwarze DJs in Berlin sich auch nicht
sicher sein können, nach einem gefeierten Set nicht körper-
lich angegriffen zu werden, ist trotzdem traurige Realität und
zeugt von der unaufhaltsamen Einverleibung von Popkultur
durch den rechten Rand.
Das größte Problem jedoch wird weiterhin die Vermark-
tung in aggressiver Hype-Manier sein, für die Englands Medi-
en, allen voran die Zeitschrift NME, bekannt sind. Während
2006 Londoner Plattenläden vor allem deutschen Minimal
von Kompakt oder Minus importierten und Goa-Trance ein
Comeback feierte, rief der NME im Herbst 2006 das Rave Re-
vival aus. New Rave soll als Name für das Auftauchen neuer
Bands wie die oben erwähnten Klaxons, Simian Mobile Disco
und Shitdisco und einen Wandel des Kleidungsstils der jugend-
lichen Mittelschicht gelten. „How many glowsticks does it take
to prop up a new rave movement.“ – „Wie viele Glowsticks
braucht man, um eine neue Rave-Bewegung zu starten?“, fragt
Guardian-Autorin Kitty Empire im Oktober 2006 in einem
Artikel über die Klaxons und macht damit auf die Oberfläch-
lichkeit aufmerksam, mit der die Pop-Industrie verschiedene
Strömungen zu einem Pitch-fähigen Trend zusammenbackt.
Musikalisch der nächste Schritt nach Elektro-Punk: Die Bands
spielen in bunten, neonfarbenen Klamotten, die Haare hän-
gen tief und gerne auch gefärbt ins Gesicht und Elektronische
Musik darf wieder mit Instrumenten präsentiert werden, statt
wie früher nur mit Vinyl. Während sich in Deutschland die
und mit ihrer frechen Schnauze ihre Idee von Frauen in briti- Frickler hinter ihren MacBooks versteckten, kramten die Eng-
scher Rap-Musik zu vertreten. Der Erfolg gibt ihr Recht: Auf länder ihre alten Synthies wieder raus. Wohngemeinschaften
ihrem Album „Public Warning“ von 2007 schafft es Louise und verlassene Industriegebäude werden wieder für illegale

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Raves genutzt und eine Elektro-Pop-Band wie Hot Chip, de-


ren Lied „Over and Over“ als Pop/House/Funk-Hybrid von
den Lesern des New Musical Express zum Lied des Jahres 2006
gewählt wurde, diente der konservativen Partei als Übel, das
die Jugendlichen zum Drogen-Konsum verleiten könnte.
Die Szene existiert in einem Schwebezustand zwischen
Hedonismus, der Fernsehserien wie „Spaced“ oder „Nathan
Barley“ entlehnt wird, und der Befürchtung, dass es morgen
schon wieder vorbei sein könnte mit dem fröhlichen Zappeln.
Die Britische Regierung erwägt bereits den Criminal Justice
Act zu erneuern. Inzwischen sind Hot Chip mit ihrem im Fe-
bruar 2008 erschienen Album „Made in the Dark“ im Feuille-
ton der bürgerlichen Presse sowohl auf der Insel als auch auf
dem Europäischen Festland angekommen.
Insgesamt wird die britische Elektro-Szene derzeit von
drei Trends beeinflusst: Minimal House hat über DJ-Expor-
te, vor allem aus Paris, Barcelona und Berlin, den Weg in die
urbane Schickeria Londons und Manchesters gefunden. Aus-
gerüstet mit Laptops der Marke Apple und Ableton Live wer-
den die gleichen Hits gespielt, die die britischen Kids bereits
von Billig-Flug-Touren nach Berlin kennen. Dubstep-Parties wie Final Scratch oder Serrato erlösen DJs auch ganz praktisch
um Künstler wie Skream, Burial, Venetian Snares oder Kode9 von einer die Profession beutelnde Krankheit: den Rücken-
verbinden locker Elemente des Grime, Drum and Bass und schmerzen. Denn nur mit einem Laptop, dem Kopfhörer und
Acid miteinander, wobei die Tanzbarkeit aufgrund der hohen einem Mixer ausgestattet reist es sich sehr viel bequemer, als
strukturellen Komplexität zuweilen auf der Strecke bleibt. Der mit einer Tasche gefüllt mit über hundert Platten. So frisst sich
dritte Trend setzt konsequent das fort, was die belgische DJ- die Berufung DJ selbst auf, zumal die Elektro-Acts inzwischen
Gruppe 2many DJs, auch bekannt als Soulwax, mit ihrem Bas- wieder viel Wert darauf legen, selbst live aufzutreten. Immer-
tard-Pop gestartet hat. Hits aus dem Punk-, Indie- und Hip- hin bleibt der Kreislauf in Schwung.
Hop-Bereich werden gnadenlos durch den Computer-Wolf
gedreht und geremixt. Die Masse an Remixen, die täglich in
den zahlreichen Internet-Blogs erscheint, die sich ausschließ-
lich darum kümmern, ist unüberschaubar. Kein DJ kommt da
noch mit dem Plattenkaufen hinterher, wobei die Mehrzahl
der Remixe weder legal erstellt wird, noch jemals den Weg in
einen normalen Plattenladen findet. Das MP3-Format ersetzt
die Vinyl-Scheibe.
Allen drei Trends liegt erneut die technische Weiterent-
wicklung zugrunde. Aufgelegt wird mit dem Laptop, eben
wegen der fehlenden Manifestierung der Remixe in richtigen
Platten und wegen dem Wunsch nach Aktualität in einem
Business, das sich mehrmals jährlich neu erfindet. Programme

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Visual Kei

TEXT UND FOTOS: SOPHIE AIGNER

Fahr, 26, Mangazeichnerin

„Ich bin einfach eine Exzentrikerin.“

Morgen könne sie schon wieder einen Rappel kriegen und


nur Kleider tragen, wie sie im viktorianischen England üblich
waren.
Fahr ist eher unfreiwillig Teil einer Szene. Gruppendenken
findet sie blöd. Sie kam 2004 ins NeoTokyo mit der Absicht,
eine Fotostrecke über Visus zu machen. Als dann kurze Zeit
später ein Mangaauftrag kam, hörte sie mit der Fotoidee auf,
begeisterte sich aber weiterhin für Visual Kei. Sie zeichnete oft
im Laden und ließ sich von den Kunden inspirieren. Heute
gibt es schon 19 Leute, die sich auf größeren Veranstaltungen
wiederum im Stil ihrer Manga-Figuren kleiden. Für die Pro-
motion ihrer Mangas ist es natürlich auch förderlich, selbst im
Visual-Kei- oder Oshare-Kei-Stil zu erscheinen.
Mit ihrer Mangareihe „Losing Neverland“ will Fahr gegen
die Verharmlosung von Kinderpornographie in Comics vor-
gehen und ist damit schon vom „Rat für nachhaltige Entwick-
lung“ von der Bundesregierung geehrt worden.

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Dieter, 47, Angestellter im NeoTokyo sowie Sportjournalist

„Manchmal wünschte ich, Visual Kei hätte es


gegeben, als ich zwanzig war.“

Für Glam Rock war er sich damals zu jung, für New Wave zu
schüchtern. Heute fühlt er sich zu alt, das Visual-Kei-Dasein
voll auszuleben. So fühlt er sich auch eher im Geiste als Visu.
Als Verkäufer im NeoTokyo, Konzertveranstalter und „of-
fenes Ohr“ ist er Teil der Szene, für viele sogar noch mehr: eine
Art Vater- oder Bruder-Ersatz.
Auch vor seiner Arbeit im Laden hatte Dieter schon eine
Faszination für japanische Musik. Eine Zeit lang hat er eine
Radiosendung für den Offenen Kanal über das Thema pro-
duziert.
Für die Zukunft von Visual Kei beziehungsweise von J-
Rock würde er sich wünschen, dass es seinen festen Stand in
der Musikszene bekommt und dabei nichts von seiner Exotik
verliert.

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Anne (Atsushi), 20, Auszubildende zur Physiotherapeutin

„Man muss ein bisschen Selbstvertrauen haben,


um in der Szene überleben zu können. Es gibt
viele Neider.“

2002 ist Anne durch Anime und Manga zum J-Rock gekom-
men und somit zu Visual Kei.
Die ganze Schulzeit hindurch war sie sehr unglücklich,
weil sie kaum Freunde hatte. Durch Visual Kei hat sie gemerkt,
dass es auch noch etwas Anderes gibt, und sie hat begonnen,
wieder mehr auf ihr Äußeres zu achten.
Anne sagt, sie fühle sich im falschen Körper geboren. Auch
deswegen fühlt sie sich in der Visual-Kei-Szene aufgehoben,
denn hier kann jede so sein wie sie will. Männliche Frauen
stoßen hier auf große Begeisterung, denn sie können am ehes-
ten die Musiker imitieren, die von den Mädchen angehimmelt
werden. Das heißt, die Mädchen geben sich so wie die Jungs,
die sich als Mädchen geben. Oft heißt es in den Medien, viele
weibliche Visus wären lesbisch. Anne und alle ihre Freundin-
nen sagen, dass es bei den Visuals schon eine größere Offenheit
bezüglich der sexuellen Orientierung gäbe. Vor allem auch die
Musiker spielen gerne mit den Geschlechterrollen. Aber der
überwiegende Teil der Mädchen seien „Teilzeitlesben“: Sie ge-
ben sich so, auch um etwas Besonderes darzustellen, stehen
aber insgeheim doch auf die männlichen Musiker.

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Christin (Tatsu), 21, in der Lehre zur Bürokauffrau

„Vor dem J-Rock war ich ein Niemand.“

J-Rock und Visual Kei hat Christin durch Anne kennen ge-
lernt. Auch sie hat sich vorher eher ungeliebt gefühlt und war,
wie sie selber sagt, oft sehr zickig.
„Man sammelt Selbstvertrauen, weil man immer mehr
Leute kennen lernt, die so sind wie man selbst“, sagt sie. Oft
kriegen sie und ihre Freunde Sprüche hinterhergeworfen, die
auf Tokio Hotel anspielen. Das wird immer als Beleidigung
aufgefasst, „denn die Leute wissen ganz genau, dass wir nichts
mit Tokio Hotel am Hut haben.“ Christin erschüttern solche
Sprüche oder komische Blicke aber immer weniger, schließ-
lich ist sie viel mit ihrer Gruppe unterwegs.

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Paul (Taiji), 20, Auszubildender zum Tischler

„Wir sind praktisch die Hippies der neuen


Generation.“

Denn erlaubt ist, was gefällt, und er selber bezeichnet sich als
überaus fröhlichen und entspannten Menschen.
Paul war immer recht beliebt. Durch Freunde hat er erst
J-Pop kennengelernt, später auch J-Rock. Der Visual-Kei-Stil
hat ihn schnell fasziniert.
Er selber ist Visu seit mehreren Jahren und hat noch frü-
he Visu-Treffs in Bremen mitgemacht. Damals kamen um die
dreißig Leute. Heute ist die Visu-Szene nicht mehr so familiär,
es existieren viele kleine Grüppchen, die sich auf den Konzer-
ten gegenseitig eher misstrauisch beäugen. Im Groben, sagt er,
könne man die Visuals auch in zwei Gruppen aufteilen: die,
die Spaß haben wollen und die, die sich sehr depressiv geben.
Letztere werden auch oft „Emos“ (von Emotion) genannt, sie
entwickeln sich nach und nach zu einer eigenen Szene. „Emos“
sind es auch oft, die ritzen. Eines der Vorurteile gegenüber Vi-
sual Kei („alle Visus ritzen“), mit denen die fröhlicheren Visus
leben müssen.
Paul versteht nicht, warum sich so wenig Jungs für Visu-
al Kei interessieren. Schließlich ist es doch Rock-Musik! Er
vermutet, dass die meisten Angst haben, als ein Visu, der sich
stylt wie manche Frau, als schwul zu gelten.
Pauls Eltern zumindest sind stolz, einen Sohn zu haben,
der anders ist als die anderen. Wobei sie gleichzeitig auch das
Credo hatten: „Hauptsache, er wird kein Punk!“

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Sara (Hiro), 25, Verkäuferin für Kosmetik


stellt hier den Sänger Hizumi von Déspairs Ray dar

„Das Hauptproblem sind die Bravo-Visus.“

Und dass H&M und Pimkie jetzt die Stile vom Visual Kei ko-
pieren, findet sie schlimm, schließlich würden die gar nicht
richtig wissen, was Visual Kei sei. Der Vorteil daran sei höchs-
tens, dass die Klamotten billiger werden, wenn sie überhaupt
richtig gefallen, denn „die kombinieren dann Visual-Elemente
mit Tussi-Style.“
Sara ist Pauls Schwester. Sie ist zwar älter als er, hat aber
durch ihn J-Rock kennengelernt. Als sie das erste Mal mit ihm
auf ein Konzert gegangen ist, hat sie sich bloß visu-mäßig ge-
stylt, um nicht so aufzufallen. Später hat sie dann fast mehr bei
animexx.com gechattet als Paul. Animexx ist ein Internetpor-
tal, über das viele Visus sich kennengelernt haben. Mittlerweile
aber kennt sie genug Leute und ihre neuen Freundschaften ge-
hen heute auch über die Begeisterung für Visual Kei hinaus.

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Franziska (Amo), 19, Studentin für Japanologie und Sinologie

„Die japanischen Stimmen haben einfach einen


besonderen Klang.“

Franziska ist total fasziniert von der japanischen Kultur. Aus


diesem Grund fängt sie im Herbst auch an, Japanologie zu
studieren. Sie hört zwar auch westliche Musik, aber an der
japanischen Musik mag sie besonders gerne die japanischen
Männerstimmen.
Sie hatte immer schon eine Faszination für Mangas und
Animes und hat auch selber ein bisschen gezeichnet. Dann
fing sie vor fünf Jahren an, J-Rock zu hören. Bald fing sie auch
an, sich im Visual-Kei- oder viel mehr im Oshare-Kei-Look zu
kleiden. Mindestens ein- bis zweimal pro Woche geht sie ins
NeoTokyo, um Freunde zu treffen und „abzuhängen“. Außer-
dem arbeitet dort Dieter, ihr „Bruder“.
Es gibt zwar auch einen regelmäßigen Treff am Alexan-
derplatz, aber da gehen nur Visus hin, die trinken und pöbeln.
Alkohol, Drogen, Rauchen, unangenehmes Auffallen im All-
gemeinen ist bei den meisten Visus sehr verpönt.

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Berlin Metal – Geschichten einer Szene

TEXT: JANA KIMMRITZ


FOTOS: MARKUS MIRSCHEL + HENRY KRAMER

Wer die Wahl hat, hat auch immer die Qual. Kneipen, Diskos, Bogen um Berlin machen: Die härteren Spielarten Black Metal
Konzerte – in Berlin kann man immer Metal hören und Metal und Death Metal finden in Berlin mehr Gehör.
leben. Als das enthusiastischste Publikum gelten die Berliner
nicht. Das haben schon viele Bands erfahren, selbst Kultbands Wie jede Musikszene trifft sich die Metal-Szene auf Konzer-
bekommen manchmal nur höflichen Szenenapplaus. Die Le- ten, in Kneipen, auf Partys und Festivals. Auch wenn es in
gende vom mit verschränkten Armen vor der Bühne stehenden Berlin viele Metal-Jünger gibt, die Szene ist überschaubar.
Berliner Metaller ist keine Mär. Gründe dafür gibt es viele. Die Denkt man. Woran misst man das, an den Kneipen, an den
Konzertsaison geht in der Regel von Herbst bis Frühjahr, im Konzerten? Wer sich eine Weile in Berliner Metal-Kneipen
Sommer ist, bedingt durch die Festivals, weitgehend Konzert- bewegt und Metal-Konzerte besucht, wird schnell feststel-
pause. Die Konzertdichte ist enorm. Da es in Berlin mehrere len, dass er viele Gesichter immer wieder sieht. Ist Berlin
große und kleine Veranstalter gibt, wird fast jede Metal-Tour also auch nur ein Dorf? Sicherlich nicht, aber derart unü-
gebucht, die möglich ist. Die Berliner Metaller finden sich also berschaubar, wie man es ob der Großstadt annehmen könn-
in der komfortablen Situation wieder, ständig die Matte schwin- te, ist es letztlich auch nicht. Es gibt einige Clubs, in denen
gen zu können. Daher kann man bei hiesigen Konzerten weit mehr oder weniger regelmäßig Metal-Partys stattfinden, von
weniger von Events sprechen, denn das dargebotene Konzert kommerziellen Partys mit relativ barrierefreiem Zutritt bis
per se ist nichts Besonderes. Es erfüllt nicht zwingend die Auf- hin zu durchaus exklusiven Underground-Veranstaltungen.
gabe der Vergemeinschaftung Gleichgesinnter, denn Berliner Metal-Kneipen verschiedener Ausrichtungen bedienen ein je
Metaller gehen allein schon wegen des relativ reichhaltigen verschiedenes (Stamm-)Publikum, an erster Stelle steht da si-
Angebots nur zu ausgesuchten Konzerten. Da kann es schon cherlich das Access im Prenzlauer Berg, welches nicht nur die
mal passieren, dass der Kult-Musiker Dan Swanö mit seiner Metaller nach der Arbeit oder der Bandprobe mit Bier ver-
Band Nightingale und die Band Circle II Circle um den langjäh- sorgt, sondern wo auch die After-Show-Partys der umliegen-
rigen Sänger der alten Helden von Savatage vor geschätzten 40 den Metal-Konzerte stattfinden sowie seit einigen Monaten
Leuten spielen, während vor dem SO 36 zig Metaller lange Ge- auch kleine Konzerte von lokalen und internationalen Bands.
sichter ziehen, weil das Konzert der Death Metaller Bolt Thro- Daneben gibt es natürlich in Berlin weitere Möglichkeiten bei
wer ausverkauft ist. Wahrscheinlich ist auch dies ein Grund, Rock und Metal Kaltgetränke zu genießen, so zum Beispiel
warum viele Power-Metal-Bands in der Regel einen großen im Yard, ebenfalls im Prenzlauer Berg, oder im Jailbreak, im

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Brutz & Brakel und der Wikingerbar in Friedrichshain. Das Die Friedrichshainer Kneipen Amnesie und Paules Metal Eck
Friedrichshainer Halford ist, der Name deutet es an, mehr vervollständigen den Eindruck der auf den Osten Berlins
dem klassischen Metal gewidmet. Sven Rappold, ein großer konzentrierten Metal-Szene.
Judas-Priest-Fan, benannte sein Lokal nach dem Sänger der Denkt man an Berlin und harte Bands, fallen einem si-
cher zuerst Subway To Sally, In Extremo, Knorkator oder
Rammstein ein. Im Untergrund brodelt es jedoch gewaltig.
Es gibt viele altgediente wie auch junge Bands aus Berlin und
Brandenburg. Mit den Jahren stieg natürlich auch die Anzahl
der Bands. Jede Woche bekommt Jakob Kranz, Moderator der
Radio-Sendung „Stahlwerk“, Demos von guten und talentier-
ten Bands aus der Region. Einige davon finden dann in der
Sendung Gehör: Seit vielen Jahren schon featured das „Stahl-
werk“ Berliner und Brandenburger Metal-Bands, lädt sie in
die Sendung ein, spielt ihre Songs und lässt sie zu Wort kom-
men. Viele dieser Bands können nicht live spielen, weil ihnen
die Möglichkeiten fehlen und weil Veranstalter natürlich auch
eher bekannte Bands buchen.
Die Idee, einen Sampler von und mit lokalen Metal-Bands
zusammenzustellen wuchs 2002 beim Konzert von Sinners
Bleed bei der Fête de la Musique heran. 2006 wurde sie kon-
kret, in Zusammenarbeit des „Stahlwerks“ mit sechs Berliner
Bands und lokalen Clubs und Kneipen kam der erste „Ber-
lin Extreme“-Sampler in einer 1.000er Auflage heraus. In der
zweiten Auflage 2007 waren bereits elf Bands zu hören, der
dritte Sampler befindet sich nun in Planung. Damit erfährt
die lokale Szene Unterstützung und unterstützt sich letztlich
selbst. Ziel ist es, die Berliner Bands regional wie überregi-
onal bekannter zu machen; der Sampler fungiert dabei als
Visitenkarte der Bands, stellvertretend für die Berliner Me-
tal-Szene, bei auswärtigen Spielgelegenheiten oder auch bei
Bewerbungen der einzelnen Bands um die Spielmöglichkeit
auf Festivals oder Tourneen. Es gibt viele netzwerkstärkende
Projekte im Metal-Netzwerk Berlin: Zum einen wären da die
Berlin Metal Legion als Web-Projekt sowie das Magazin Me-
tal Guardian. Der Metal Guardian ist ein Web-Zine, welches
sich als Info-Magazin für die Berliner und Brandenburger
Metal-Szene versteht. Anders als herkömmliche Fanzines, die
Halford, Foto von Markus Mirschel
sich per Post beziehen lassen, oder als Web-Zines, die es in
Band, Rob Halford. Vor dem Eingang steht entsprechend eine aktueller, aber hinsichtlich ihrer Präsenz und Verfügbarkeit
überlebensgroße Rob-Halford-Plastik und in der Regel dröh- in vergänglicher Form im weltweiten Netz gibt, erscheint der
nen Judas Priest, Accept, Sodom oder Metallica aus den Boxen. Metal Guardian als PDF-Zine.

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Sinners Bleed im K17, Foto von Henri Kramer

Die Metal-Sendung „Stahlwerk“ läuft nun, nach jahrelan- Teilen Deutschlands, von Sachsen über Stuttgart bis Ham-
gem sonntäglichen Sendeplatz, immer donnerstags auf dem burg, aber auch aus Südamerika und weiteren Erdteilen. „In-
Jugendradiosender Fritz. Die Berechtigung für diese Sendung teressant ist jedoch immer, dass die Berliner tendenziell Mails
liegt auf der Hand, Jakob Kranz erinnert sich musikverliebt schicken, während aus ländlicheren Gegenden oft Karten ge-
an eine Aussage des amerikanischen Metal-„Zombies“ Rob schrieben werden“, resümiert Jakob.
Zombie, der einmal als Gast in seiner Radio-Show mein- Konzerte gibt es wie erwähnt durchaus viele. Veranstalter
te: „Diese Musik ist ehrlich.“ Seit 1987 gibt es die Sendung wie Triple Six Concerts, Blackland und Iron Bonehead Produc-
bereits, damals noch auf DT64 unter dem Namen „Tendenz tions versammeln von Zeit zu Zeit interessante Underground-
Hard ist Heavy“, von den Hörern liebevoll „Tendenz“ oder Billings und beliebte Death-, Thrash- und Black-Metal-Bands
„Hard’n’Heavy Stunde“ genannt. Das „Stahlwerk“ wird mitt- in kleineren und mittleren Clubs, während die szeneüberge-
lerweile nicht mehr nur in Berlin und Brandenburg empfan- ordneten Konzertveranstalter regelmäßig Tourneen in die
gen und gehört, längst ist es auch deutschland- und weltweit Stadt holen. Hier liegt der Fokus auf größeren, kommerziellen
zu hören. Jakob erinnert sich gern an Zuschriften aus allen Unterhaltungsreisen etablierter Bands.

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Fuck The Commerce 2005, Foto von Markus Mirschel

Natürlich gibt es auch regelmäßige Partys in der Stadt und werk-Party mittlerweile auch Magdeburg, Neuruppin und
mittlerweile nicht einmal mehr wenige. Eine der etablierteren Potsdam an, wo Jakob zufolge das Publikum interessanterweise
ist die Stahlwerk-Party. Sie entstand 2003 und fand zuerst im dieselben Songs hören will wie in Berlin. In Neuruppin findet
eigentlich für Gothic-Events bekannten Lime Club ein Zu- außerdem regelmäßig die Headbangers Night statt.
hause. Das Publikum der Stahlwerk-Party ist tendenziell jung. Betrachtet man Berlin aus der Metal-Perspektive, sollte
Als der Club 2007 schließen musste, war die letzte Stahlwerk- der Beobachtungsradius also durchaus größer gewählt wer-
Party mehr als voll, 500 bis 600 Leute standen noch auf der den. Berlin ist nicht nur geographisch vom Land Brandenburg
Straße. Mittlerweile hat die Party in Berlin-Friedrichshain im umschlossen, sondern auch die Szenen sind stark miteinan-
Club Cassiopeia ein neues Domizil gefunden. Für DJ Jakob der verbunden: Bands und Fans kommen auch aus und nach
Kranz versteht sie sich als Knotenpunkt: „Die Stahlwerk-Party Frankfurt (Oder), Neuruppin und Cottbus. Im Umland Ber-
soll ein Treffpunkt sein und unterschiedliche Metal-Szenen lins finden nämlich jährlich eine Reihe kleinerer Festivals statt.
zusammenführen.“ Jakob legt neben der Mischung vor allem Das Under The Black Sun mit dem Schwerpunkt Black Metal
auch auf Publikumsnähe Wert. Neben Berlin steuert die Stahl- beschallte dieses Jahr bereits zum elften Mal das nordöstliche

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Umland von Berlin. In Nauen, nordwestlich von Berlin, findet


alljährlich, nun zum sechsten Mal, das Rock For Roots statt.
Entstanden ist dieses auf Pagan Metal fokussierte Festival mit
dem Ziel, per Benefiz-Festival Geld für den Aufbau der sem-
nonischen Siedlung Gannarhall zu sammeln. Mittlerweile sind
Festival und Gannarhall gleichsam wichtig, da das Rock For
Roots mit seiner familiären Atmosphäre bereits zur lokalen
Institution geworden ist. Wie das Under The Black Sun ist das
Rock For Roots ein kleines Festival, das auf einer Waldbüh-
ne stattfindet. Neben der Musik und der Versorgung mit Bier
und Met gibt es ein historisches Lager mit Handwerksständen
und Schwertkampf-Schauvorführungen des Vereins „Semno-
nenbund“. Ebenfalls zum elften Mal jährte sich das Fuck The
Pille, Foto von Markus Mirschel
Commerce. Hier kommen vor allem die Fans von Death Metal
und Grind Core auf ihre Kosten. Für viele Berliner Metaller Konkurrenz durch große Elektronik-Märkte und aufgrund
ist dieses Festival ebenso fest im jährlichen Festivalplan ein- der Verfügbarkeit nahezu aller Shirts und CDs über Mailorder
getaktet wie das gleichfalls auf Death Metal und Grind Core konnten sich entsprechend fokussierte und spezialisierte Ein-
ausgerichtete Protzen Open Air, das auch bereits im elften zelhändler in der Stadt nicht halten.
Jahr stattfand. Im vergangenen Jahr war das ebenfalls famili-
äre Festival, das jährlich in einem Flugzeughangar stattfindet, Metal und Berlin, das ist so eine Geschichte für sich. Es gibt
ausverkauft. „Wenn Protzen ist, dann ist Berlin wie leergefegt“, einige, die sie erzählen können, und einer davon ist Pille, sei-
meint Jakob. Weitere Festivalinstitutionen und junge Festivals nes Zeichens Chef der Metal-Kneipe Access. Wie viele Metal-
lassen sich aufzählen: Angefangen bei den Morbiden Festspie- heads hat Pille in jungen Jahren mit dem Hören harter Musik
len in Bischofswerda, bei denen es kräftig auf die Mütze gibt, angefangen. Damals waren das vor allem noch Hard-Rock-
weiterhin das Midnight Rock in Berlin Kreuzberg, Gahlen und Glam-Rock-Bands wie Black Sabbath, AC/DC, Deep
Mosht in der Nähe von Cottbus und das Filth-Rock-Festival Purple, Sweet oder Slade. Richtig reingestupst ist er dann 1984
im uckermärkischen Prenzlau. und fuhr so 1985 nach Ungarn zum Monsters-Of-Rock-Fes-
tival, um Iron Maiden zu sehen: „Zwei oder drei Jahre später
wollte ich noch mal, da wollte ich dann zu KISS, da waren wir
dann aber leider eine Truppe von 30 Mann, wir waren auch
nicht zu überhören, an der Grenze haben sie uns dann raus-
geholt. Wir repräsentierten nicht das DDR-Jugendbild eines
FDJlers oder so.“

Das waren also doch erschwerte Bedingungen damals. Abge-


sehen davon, dass die Festivals damals, im Gegensatz zu heu-
te, allgemein noch recht überschaubar waren, wie sah es denn
mit der (Ost-)Berliner Club-Szene aus? Wo konnte man denn
Protzen Open Air, Foto von Markus Mirschel
hingehen, und wer hörte Metal? „Es gab das Abbi um die
Ganz anders als bei den Festivals kann man bei Plattenlä- Ecke vom Jugendclub in der Langhansstraße, das war schon
den bei weitem nicht von einer Vielzahl sprechen. Wegen der so ein Metal-Klub. Rocky aus dem Jailbreak kennt auch die

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ganzen Anfänge vom Abbi noch. Ich bin ja da nur ab und zu Ja, die Berliner heute sind dank des großen Angebots schon
rüber gegangen. Im Abbi war freitags und sonnabends Disko, recht reisefaul, wenn man mal von den ab Frühjahr stattfin-
da sind die Leute aus Wittenberge angefahren, aus Jena und denden Festivals wie dem vorösterlichen Ragnarök bis zum
Rostock, nur wegen dieser Disko. Das war eine Presspappen- herbstlichen Rock For Roots absieht. Pille kann sich auch
Baracke, eine längliche Laubenpieper-Baracke, und das war noch sehr gut erinnern, wie der Metal damals auf die ersten
auch draußen recht laut. Das ging dann oft bis nachts um Plattenteller der Berliner Diskotheken kam: „Eigentlich hat
drei. Das war eine Metal-Disko, nicht so wie der Jugendclub Peter Schramm die ganze Metal-Szene in Berlin angeleiert.
in der Langhansstraße, wo dann auch mal Pop oder so was Wäre er nicht gewesen, ich weiß nicht, ob sich da einer gefun-
lief. Von Manowar, AOK, Brutal Glöckel Terror lief im Abbi den hätte, der das gemacht hätte. Vielleicht nach der Wende,
alles: Venom, Metallica, Forbidden, Bathory, Sodom, Kreator aber vor der Wende war das einfach mal Peter Schramm, der
und Tankard und so was, also das war schon ne richtig hefti- dann auch das Ablaze-Fanzine gemacht hat. Er hat damals
ge, harte Szene.“ schon im Abbi aufgelegt. Angefangen hat das in Buchholz in

Es scheint also einige Metal-Fans gegeben zu haben. Wo Nach-


frage, da auch Angebot. Auch im Sozialimus? Wer regelmäßig
eine Zeit lang ins Abbi ging, hatte in der Regel schon die meis-
ten Metalheads kennen gelernt. Ein Großteil der Metaller kam
aus dem Umland, vor allem aus Strausberg und Neuenhagen:
„Es gab zum Beispiel auch mal ein Konzert von Desaster Area
auf einem Metal-Tag in der Langhansstraße, wie gesagt, also
Montag. Siebenhundert Mann haben sie rein gelassen, und
draußen haben noch dreihundert gestanden. Und die haben
natürlich, weil sie nicht rein gekommen sind, so sauer wie
die waren, die Straßenbahnen blockiert und die Autos, und
da musste die Polizei dann die Straße räumen. Na, und wenn
mal, was weiß ich, Hartholz gespielt hat, so zweihundert bis
dreihundert haben sich dann schon eingefunden in Berlin.
Übrigens hatte dort Sven Rappold die Clubleitung, der ja spä-
ter das Halford eröffnete.“

Wenn man nun meint, die Berliner Metaller hätten sich auf
ihre eigenen Partyaktivitäten verlassen, so ist das weit gefehlt.
Es gab damals schon einen regen Partyaustausch mit den Um-
ländern: „Ich kann mich daran erinnern, da sind wir zu so
einer Dorfdisko gefahren, da haben Beast gespielt. Und Beast
war so eine Band, die haben dann auch Judas Priest gecovert
und Saxon. Das waren zwar immer nicht so viele, drei- bis
vierhundert, wenn überhaupt. Aber man hat damals Wege auf
sich genommen. Da würdest du heute sagen: ‚Was, die spielen
in Herzfelde? Na und, lass sie doch spielen da, da fahr ich nicht
hin, ist mir zu weit.’“ Harmony Dies, Foto von Markus Mirschel

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der Diskothek Treffpunkt, wo er sonntags ganz normale Disko dann an der Tür. Man kann sagen, es kamen so bis 150 Mann.
gemacht hat. Die Leute haben denn mal eine Kreator-Platte Wenn gute Tage waren, wenn Ferien waren, kamen natürlich
mitgebracht oder eine Sodom-Platte, Accept und Warlock und auch welche von außerhalb. Ansonsten hat sich das immer
so was. Daraufhin hat er gemerkt, da ist ein Potential in Berlin, zwischen 80 und 120 Leuten bewegt.
die Musik hat ihm wohl auch ganz gut gefallen, und dann ist Zwischenzeitlich hatte Peter Schramm Anfang der Neun-
er voll auf Metal aufgesprungen. Er hat dann auch wirklich an- ziger dann als Lokalpromoter in Zusammenhang mit Noise
gefangen mit einem richtigen Thrash-Block und einem Death- Productions das riesen Ding in der Seelenbinder-Halle auf-
Metal-Block. Und ich glaube, ohne ihn wäre das in Berlin gezogen mit Tankard, Kreator, Sabbath und Coroner. Und da
wohl nie so groß geworden. Dann ist er natürlich ein bisschen hat er so die Kleinigkeit von 6.000 Mann gezogen. Da waren
herumgetingelt, hatte einen Club nach dem Abbi circa 1990 Autoschilder aus Rostock über Jena bis Görlitz runter. Da war
im Baumschulenweg, wo ich auch das erste Mal Darkthrone alles. Wenn da 500 Berliner waren, waren es viele. Das hat ihm
gehört hatte. Na und irgendwann ist dann Peter Schramm ir- keiner mehr nachgemacht, was er da aufgezogen hat, das war
gendwie in der Linse gelandet mit seiner Disko. Da stand ich der Hammer.“

Harmonie Dies im K17, Foto von Henri Kramer Postmortem, Foto von Markus Mirschel

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Es gab auch eine Szene an Berliner Bands, die damals regelmä- Nachdem Pille und das Halford sich trennten, war seine
ßig spielten, zum Beispiel Metall, die Band von Sven Rappold, nächste Station die Insel. Auf der Insel der Jugend in Treptow
oder Mephisto und Merlin. Die meisten bewegten sich aller- veranstaltete Freity (Triple Six Concerts) Konzerte, nach de-
dings hauptsächlich im Power-Metal-Bereich. Zu damaligen nen Pille Metal für Tanzbären auflegte. Aber auch die Metal-
Zeiten durften die Bands zwar nicht so viel covern, aber trotz- Ära auf der Insel ging vorbei: „Irgendwann war in der Insel
dem wusste jeder, die Band spielt Venom, die spielt Helloween. auch Ende wegen rechtsradikaler Tendenzen in der Black-Me-
1991 schloss das Abbi, wo auch die ersten Konzerte der tal-Szene. Der Burzum-Abend hatte dem Black Metal auf der
Berliner Bands Postmortem und Fatal Embrace, damals noch Insel den Gnadenstoß gegeben.“
unter anderen Namen, stattfanden, seine Tore. Während Pille
für Peter Schramm an der Tür der Linse arbeitete, eröffnete Durch Freity war auf der Insel auch das erste Fucking-Christ-
Sven Rappold den Club Halford. Innerhalb der ersten drei mas-Festival entstanden, das später dann Pille organisierte
Monate wurde es dort immer voller: „Er hat ja so den klassi- und das noch heute eine feste Berliner Weihnachtsinstitution
schen Metal gemacht. Er hat natürlich auch bewusst anfangs unter Metallern ist. Dieses Jahr wird es zum 14. Mal stattfin-
Power Metal hochgehalten, weil er aus dem Sound in West- den. Auf Konzerte gebracht hat Pille allerdings die Berliner
Berlin und aus einem anderen Laden die West-Berliner ge-
zogen hat.“

Später zog auch Pille von der Linse zum Halford. Vom Glä-
serabräumer, über Bierzapfer zum DJ, im Halford durchlief
Pille damals alle Stationen: „Und irgendwie hat es sich nach
und nach herumgesprochen: ‚Pille macht Disko und der hört
ja auch harte Musik und dann kann er ja auch was Hartes spie-
len.’ Und irgendwann ist es Rappold dann zu blöd geworden,
hat die erste Etage mit angemietet und hat die ausgebaut als
Black- und Death-Metal-Etage. Und das Gute war, er konn-
te da ja in der Herzbergstraße Radau machen, wie er wollte.
Und irgendwann wollte er auch Konzerte veranstalten und
hatte auch über Noise-Records ein paar Kontakte, also Accept,
UDO und so. Und das Haus, in dem er drin war, das allererste
Halford, das war eigentlich mal ein FDGB-Haus. Und dann ist
er in die Storkower Straße in so eine kalte Halle gezogen. Die
Halle selber und der Laden waren der Hammer, für Berliner
Verhältnisse. Was er nicht bedacht hat, ist, dass in der Woche
da nichts passiert und dass im Winter da auch die Heizung
gar nicht so funktioniert, wie er sich das gedacht hat. Zur Er-
öffnung hat er 1.400 Mann da gehabt. Das war der Hammer
gewesen. Ich hatte dann einen schweren Unfall und konnte
nicht arbeiten. Ich hab dann am Wochenende immer im Black
Point gesessen. Und generell gegen zwölf/halb eins haben die
alle das Black Point verlassen und sind rüber ins Halford. Da
hab ich mit Lutze da dann meistens alleine gesessen.“ Necromorph, Foto von Markus Mirschel

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Death-Metal-Band Necromorph. Weiter ging es dann nicht Kästen Bier gespielt. Und das Schlimme ist ja, ich hab das al-
nur mit Berliner Bands, sondern beispielsweise mit Amon les mit der Kamera aufgenommen. Ich hatte ja hinten an der
Amarth im alten K17, bei denen sich Pille mit einem außeror- Wand immer mein Blackland-Logo zu hängen. Und das ha-
dentlichen Band-Catering ins Gedächtnis gebrannt hat, oder ben die aber abgemacht, weil die dachten, Blackland wäre eine
Nile. Zu Nile gibt es auch eine spaßige Anekdote: „Dadurch, Vorband. Da hab ich mich ein bisschen geärgert. Das Video
dass Freity bei mir im Haus wohnte, und durch das Schaffen hab ich noch zu Hause.“
in der Insel der Jugend und durch das Festival [Under The
Black Sun] hab ich dann auch durch ihn viele Leute kennen Und wie kam Pille dann zum Access bzw. Black Point?
gelernt. Und dann meinte er irgendwann: ‚Ja, du machst doch „Im Dezember 2001 kam dann der Anruf von Palaske, ob ich
Sonnabend Konzert. Hier ist eine Band aus Amiland, die nicht im Black Point anfangen will. Lutz und Georg von Necro-
Jungs sind gerade im Studio hier, und die wollen auch ganz morph und Geli, die haben alle zusammen mit einem Schlag
gerne mal auftreten. Die wollen bloß einen Kasten Bier haben aufgehört. Keine Frage, na klar, Kneipe kenn ich, Musik kenn
oder zwei.’ Und ich meine, der hat mir da Nile hingestellt! Die ich, sauber machen kann ich auch noch alleine. Ja, und mittler-
haben dann bei mir auf dem Blackland-Konzert für zwei, drei weile hab ich den Laden seit viereinhalb Jahren selbständig.“

Gruppenbild Berliner Bands nach Auftritt im K17, Foto von Henri Kramer

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Allerdings heißt der Laden seit 2001 nicht mehr Black Point an Konzerten in Berlin liegt. Teilweise liegt es aber auch an der
sondern Access, und die Kneipe musste im Juli 2001 eini- schlechten Werbung oder an den neuen Kanälen der Infor-
ge hundert Meter umziehen, aber sonst ist alles beim Alten. mationsübertragung. Auch unter Metallern übernimmt das
Doch Pille erinnert sich gerne an die Anfänge: „Das Black Internet mehr und mehr die Funktion der Netzwerkbildung
Point hochgebracht hat Lutze. Er hat sich darum gekümmert, über Foren und Plattformen, und ordnet die Gewichtungen
dass die Bands, die im Knaack gespielt haben – Satyricon, Dis- der herkömmlichen Szenetreffgelegenheiten neu.
section, Emperor, Impaled Nazarene, Cradle Of Filth – er hat Trotzdem gibt es mittlerweile verschiedene Bühnen für
sich darum gekümmert, dass die danach noch ins Black Point Berliner Metal-Bands jeder Spielart. Im Access finden seit
kommen. Und das war natürlich auch ein Deal, die Bands hat- kurzem regelmäßig kleine, teilweise kostenfreie Konzerte
ten Freigetränke. Da hat natürlich jede Band gesagt, ‚Okay, wir statt, der Gothic-/Metal-Club K17 bietet neuerdings den Ber-
kommen.’ Und dadurch, dass Lutz das mal so angeleiert hat, liner Metal Bands eine Bühne und lässt sie in regelmäßigen
war das natürlich auch für die ganzen Fans selbst sehr inter- Abständen zu fairen Eintrittspreisen auftreten. In der Kneipe
essant, mal auf ein Bier mit Impaled Nazarene zu sitzen oder Amnesie servieren zunehmend magenfreundliche Death- und
mit den Jungs von Cradle Of Filth anzustoßen. Also er hatte Grind-Core-Bands ihre musikalischen Häppchen. Aber auch
da umgeschwenkt, zuerst war es nämlich eine ganz normale in kleineren Clubs entern lokale Bands die Bretter, zum Bei-
Rock-Kneipe. Und irgendwann hat sich das dann so etabliert, spiel in der Alten Feuerwache in Schöneweide, der Garage in
dass Lutze dann auch volle Pulle Death und Black Metal und Pankow, im Knaack-Club und vielen mehr.
so gespielt hat. Also er ist eigentlich der, der hier im Prenzlau- Wie in jeder Musik-Szene gibt es deutliche regionale Unter-
er Berg das Black Point groß gemacht hat.“ schiede in der Entwicklung und Ausrichtung der lokalen Me-
tal-Szenen. Im Sommer treffen sich die Metaller auf größeren
Mit den Jahren hat sich auch die Bandszene in Berlin stark bis kleinen Festivals deutschlandweit. Aber lokal gesehen kann
erweitert. Gab es früher eine relativ überschaubare Anzahl an jede Stadt und jede Region ihre eigene Geschichte erzählen.
Berliner Metal-Bands, sind es mittlerweile deutlich mehr. Der
Vertrieb im Netz erleichtert den Bands vieles, doch letztlich be-
tont auch Jakob Kranz, dass man die Metal-Fans vor allem live Weblinks (Auswahl):
überzeugen muss: „Die Leute wollen Spaß haben.“ Bands, die
sich kaum auf der Bühne blicken lassen, werden in der Regel www.stahlwerkparty.de
auf Dauer nicht ernst genommen. Trotzdem ist es als Band na- www.myspace.com/headbangersnightneuruppin
türlich schwer, aus Berlin herauszukommen, die Auftrittsmög- www.myspace.com/berlinextreme
lichkeiten sind, ob der Fülle der Bands, letztlich auch begrenzt. www.myspace.com/berlinmetallegion
Auch Pille merkt, dass sich in Berlin etwas bewegt. Das www.myspace.com/accessberlin
Problem ist, dass die Auftritte lokaler Bands in Anbetracht der www.amnesie-online.de
Bandvielzahl trotz allem relativ gering sind. Pille ist ebenso der www.protzen-open-air.com
Meinung, dass dies nicht zuletzt am allgemeinen Überangebot www.f-t-c.de

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Death Metal Made in Germany.


Mit Suf focate Bastard im Tonstudio

TEXT: SARAH CHAKER


FOTOS: SARAH CHAKER + DAVID ADAMIETZ

Death Metal – das sind rasend schnelle Double-Bass-Rhyth- der deutschen Death-Metal-Band Suffocate Bastard im Sound-
men und Blast Beats im Schlagzeug, das sind tiefe, drückende lodge-Tonstudio mit dabei war. Einen kurzen Einblick ge-
Bass- und Gitarrenwände, das ist ein röchelnder und grunzen- währt dieser Artikel. Die Informationen sind meinem wissen-
der Gesangsstil. Dem Sound entsprechend sind in Songtexten schaftlichen Forschungstagebuch entnommen.
und Bildern Krieg, Folter, Horror, Mord und Totschlag die
zentralen Themen. Entstanden Mitte der 1980er-Jahre zeit-
gleich in Schweden und den USA, verlor Death Metal durch Auftakt
das Aufkommen des norwegischen Black Metal Anfang der
1990er-Jahre an Bedeutung, lebt aber im internationalen Hea- Dienstagmorgen, kurz vor neun. Ich sitze im Regionalzug von
vy-Metal-„Underground“ fort. Oldenburg nach Leer. Draußen zieht die verregnete ostfriesi-
sche Landschaft an mir vorbei: grüne Weiden, Pferdekoppeln,
Jeglicher Versuch, die Anziehungskraft von Death Metal allein Bauernhöfe in Backstein-Optik. Meine Gedanken schweifen
aus den musikalischen Strukturen heraus erklären zu wollen, ab. Ich denke zurück an mein erstes Telefonat mit Jörg Uken,
muss scheitern. Denn neben dem Ton macht der spezielle Inhaber des Soundlodge-Tonstudios.
Death-Metal-Sound die Musik. Darüber hinaus ist Death Me- „Hallo Jörg, hier ist Sarah. Ich rufe an, weil ich deine Hil-
tal für viele SzenegängerInnen mehr als „nur“ Musik: es ist fe bräuchte. Ich schreibe hier gerade eine Doktorarbeit über
ein Lebensraum, eine Gemeinschaft Gleichgesinnter, eine Le- Black und Death Metal im Fach Musik und da wollte ich fra-
benseinstellung. Definiert als eine besondere Form kultureller gen, ob ich vielleicht einmal dabei sein könnte, wenn eine Band
Praxis, reicht es nicht aus, Death Metal allein mit Methoden eine Platte bei dir aufnimmt. Von der ganzen Technik habe ich
der Musikwissenschaft zu analysieren. Vielmehr ist bei dem nämlich, ehrlich gesagt, nicht so viel Ahnung.“ – „Hallo Sarah!
Versuch, das Phänomen Death Metal möglichst ganzheitlich Das ist ja ein gutes Thema für eine Doktorarbeit (lacht)! Ich
zu erschließen, ein multidisziplinärer Forschungsansatz sinn- denke, das ist kein Problem, ich schaue mal eben kurz nach,
voll. Wie fruchtbar sozialwissenschaftliche Methoden, wie wer in nächster Zeit so da ist. Dew Scented sind demnächst
die qualitative teilnehmende Beobachtung oder qualitative da, allerdings spielen die ja eher so eine Mischung aus Th-
Interviews, für eine Musikwissenschaftlerin sein können, er- rash und Death Metal. Aber warte mal. Hier: Im Dezember
fuhr ich, als ich im Dezember 2006 bei der CD-Produktion kommen die Jungs von Suffocate Bastard vorbei, das ist eine

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Herr der tausend Knöpfe – Jörg im Regieraum

Death-Metal-Band aus dem Ruhrpott.“ – „Aha. Wann genau „Always remember: It’s the band that makes
sind sie denn da?“ – „Laut Plan beginnen die Aufnahmen the sound – I’m just recording it!“
am 12. Dezember, und dann schätze ich sind sie so eine Wo- Jörg, Produzent und Tonstudio-Inhaber
che da.“ – „Mhm. Zeit hätte ich da auf jeden Fall. Am besten
werde ich den Jungs mal eine E-Mail schreiben, ob es für sie Der Zug verlangsamt sein Tempo, die Bremsen kreischen auf
okay wäre, wenn ich mit dabei bin.“ den Schienen und mit gut zwanzig Minuten Verspätung treffe
Das war im September. Und heute, gut drei Monate später, ich in Leer ein.
werde ich Suffocate Bastard im Soundlodge-Tonstudio per- Vor dem Bahnhof wartet Jörg bereits im Auto. Lässig
sönlich kennen lernen. winkt er meine Entschuldigungslitanei ab und erzählt mir

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stattdessen von seinen letzten Studioproduktionen. Da ist zum schmaler Flur führt von der Lounge aus in den Regie-Raum.
Beispiel die bekannte niederländische Death-Metal-Band God Dort ist die Technik untergebracht – Mischpult, Monitore und
dethroned, deren Album „Toxic Touch“ er gerade in seinem Effektgeräte, Verstärker und Boxen. Kabelsalat ohne Ende.
Studio aufgenommen und produziert hat. Ich bin ehrlich be- „Suffocate Bastard ist die letzte Band, die mit diesen Geräten
eindruckt, ist diese Platte doch von den Journalisten des Ma- hier aufnehmen wird“, sagt Jörg und drückt mir eine Tasse
gazins Rock Hard gerade erst zum Album des Monats gekürt Kaffee in die Hand. „Nach Weihnachten fliegt das meiste da-
worden. Auf der Fahrt überlege ich, was ich von Jörg sonst von raus. Ich stelle nämlich von Mackie auf das Computer-
noch so weiß: Dass er sein Studio 1997 gegründet und ganz programm Pro-Tools um, da kann ich viel mehr gleich intern
klein angefangen hat, indem er vor allem Demos für lokale am PC bearbeiten.“ Aha. Ich nehme auf einem der lilafarbe-
Rock und Metal Bands produzierte. Dass er heute bereits über nen Kinosessel Platz, die direkt hinter dem Mischpult stehen.
100 Alben aufgenommen hat. Und dass er als Keyboarder und Durch eine große Scheibe kann ich vom Regie-Raum aus in
Drummer schon in diversen Metal- und Rock’n’Roll Kapellen den riesigen Aufnahmeraum sehen. „Und wofür ist dieses
aktiv war und ist. Als Drummer der berühmten Punk-Metal- kleine Fenster dort da?“, frage ich Jörg. „Da liegt der Kabi-
Band Rumble Militia lernte er in den 1990er-Jahren die ganz nenraum – wie der Name schon sagt, ein sehr kleiner Raum,
Großen im Metal-Geschäft kennen: der sowohl mit dem Regieraum als auch mit dem Aufnahme-
Raum verbunden ist. Dort nehmen hauptsächlich Sänger und
„It was in 1994 when I recorded drums for Rumble Militia at manchmal auch Gitarristen auf. Der Sound klingt dann schön
the legendary Morrisound in Tampa, Florida. Obituary were trocken.“ Draußen fahren mehrere Autos vor. „Das werden sie
recording „World Demise“ at the same time in the same place, dann wohl sein“, meint Jörg und geht nach draußen. Suffocate
Sepultura were dropping by to invite everybody to their show Bastard sind angekommen.
in St.Petersburg/Tampa ... In 2 words: Metal Heaven!“ (www.
soundlodge.de/page4.aspx)
Suffocate Bastard
Nach einer halben Stunde Fahrt durch die unendlichen Wei- (to suffocate: engl. ersticken, umkommen, würgen; bastard:
ten Ostfrieslands erreichen wir Rhauderfehn, eine von Grach- engl. uneheliches Kind; auch: Biest, Miststück)
ten durchzogene 17.000-Einwohner-Gemeinde „zwischen
Meer und Moor“, wie die lokale Homepage stolz verkündet. Die Begrüßung fällt kurz, aber herzlich aus. Es folgt das gro-
Es sieht hier fast schon aus wie in Holland. In einer ruhigen ße Schleppen. Neben diversen Schlaf- und Rucksäcken muss
Seitenstraße parkt Jörg schwungvoll vor der Garage eines grö- nämlich vor allem das Equipment der Band aus den Autos ge-
ßeren Backstein-Einfamilienhauses mit Anbau. „Soundlodge. laden, ins Studio getragen und dort aufgebaut werden. Wäh-
Recording-Mastering-Layout“ steht auf einem Blechschild ne- rend ich eine der zahlreichen Schlagzeugtrommeln ins Haus
ben der Garage. Hier wären wir also. Von Suffocate Bastard hieve, lasse ich meinen ersten Eindruck von der Band geistig
noch keine Spur. Revue passieren.
Sogleich komplimentiert mich Jörg in die Studio-Räum- Da ist zuerst Thorsten Bertram, der Drummer von Suffo-
lichkeiten. Da ist zuerst ein kleiner Lounge-Bereich mit Couch cate Bastard. Schlank, hoch gewachsen, Glatze, schmales Ge-
und großem TV-Gerät. In einem Wandregal stehen unzählige sicht mit schwarzen Augen. Seine Bewegungen sind flink und
CDs. „Alles hier produziert“, erklärt Jörg mit leichtem Stolz zielgerichtet. Von Suffocate Bastards Homepage weiß ich, dass
in der Stimme. Angrenzend eine kleine, gemütliche Sitzküche. Thorsten bereits Mitte 30 ist und schon in zahlreichen Death-
Jörg setzt Kaffee auf. Von der Küche aus geht es ins Bad und in Metal-Bands gespielt hat. Vor zwei Jahren ist Thorsten zu Suf-
ein Schlafzimmer mit bezogenen Betten für die Musiker. Eine focate Bastard gestoßen, genau wie Bassist Karsten Boehnke,
Terrasse mit Garten schließt sich dem Schlafgemach an. Ein der ebenfalls seit 2004 mit dabei ist. Karsten ist eher klein

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gewachsen, stabil gebaut und ebenfalls glatzköpfig. Vielleicht „Ein guter Death-Metal-Drummer muss
aufgrund seines Alters – Karsten geht bereits stramm auf die sauber, schnell und präzise spielen können
Vierzig zu – und seiner musikalischen Erfahrung strahlt er die und dabei auch noch originelle Ideen haben.“
Gelassenheit eines Buddhas aus. Aufgeregt und aufgeweckt Thorsten, Schlagzeug
wirken dagegen die beiden Gitarristen Patrick Czerny und
David Adamietz. Beide stießen bereits kurz nach der Grün- Das lässt Thorsten sich nicht zweimal sagen. Er verschwin-
dung von Suffocate Bastard im Jahr 2000 durch einen Aus- det, um sich umzuziehen. Wenig später erscheint er statt in
hang des Sängers Stefan Brinkmann in einem Musikgeschäft Jeans und Kapuzenpullover nur noch mit einem T-Shirt und
zur Band und erlebten in den nächsten Jahren zahllose Be- kurzen Hosen bekleidet im Aufnahmeraum. In diesem sport-
setzungswechsel mit. Patrick, Mitte 20, mittelgroß, schwarze lichen Outfit hat Thorsten nun maximale Bewegungsfreiheit,
Kurzhaarfrisur und lachende Augen, hat neben Gitarre auch und warm wird es ihm auch bald werden. Denn Death-Me-
schon Schlagzeug bei Suffocate Bastard gespielt. David, eben- tal-Drums zu spielen ist ungefähr so anstrengend wie Hoch-
falls mittelgroß, schlank, glatzköpfig, mit dunklen neugierigen leistungssport. Über Stunden wird Thorsten ein Tempo jen-
Augen, ist ein enger Freund von Patrick und mit 24 Jahren seits von 250 Beats per Minute durchhalten müssen – zum
das Nesthäkchen der Band. Anfangs spielte David den Bass Vergleich: das Tempo eines Rocksongs beträgt im Schnitt
bei Suffocate Bastard, wechselte nach Karstens Einstieg aber 120 Beats per Minute. Wie im Sport beginnt Thorsten, sich
an die Gitarre. Zum Schluss ist da noch Stefan Brinkmann, langsam warm zu spielen. Währenddessen betrachte ich sein
der Sänger und Gründer von Suffocate Bastard. Der kleine, Schlagzeug genauer und versuche, mir den Klang der einzel-
schlanke Endzwanziger mit den rotblonden Haaren ist neben nen Trommeln und Becken einzuprägen.
dem Gesang auch für die englischsprachigen Texte von Suffo-
cate Bastard verantwortlich. Die auffälligste Besonderheit an Schlagzeugen aus dem Black-
und Death-Metal-Bereich sind die beiden Bass Drums, die
Inzwischen ist das Schlagzeug im Aufnahmeraum aufgebaut, durch zwei Fußpedale angeschlagen werden. Seltener wird nur
die Mikrofone sind angebracht, die Saiteninstrumente werden eine Bass Drum mit einer Doppelfußmaschine bedient. Im
verkabelt. Die Aufzeichnungen können beginnen. Thorsten Black und Death Metal werden die Bass Drums häufig „getrig-
wird heute als Erster das Schlagzeug-Set eintrommeln. Be- gert“. Trigger sind Impuls- bzw. Signalgeber, die an den Bass
vor es aber losgeht, hört sich Jörg auf Drängen von Suffocate Drums befestigt werden. Durch die Stimulation des Trom-
Bastard einige CDs von amerikanischen Death-Metal-Bands melfells der Bass Drums wird der Impuls eines Schlages als
an, die die Bandmitglieder zusammen ausgesucht haben, weil Auslöser genutzt, um aus einem Klangerzeugungsgerät, z. B.
diese ihrer Meinung nach den perfekten Death-Metal-Schlag- einem Drumcomputer, elektronisch einen Ton abzurufen. Das
zeug-Sound verkörpern. Besonders Thorsten hat eine recht bedeutet, dass der Bass-Drum-Sound, wie er auf einer Death-
differenzierte Vorstellung davon, wie die Drums bei Suffocate Metal-CD oder auf einem Death-Metal-Live-Konzert zu hören
Bastard am Ende klingen sollen: Ein Snare-Sound wie bei den ist, meistens nicht der natürliche Klang der Bass Drums ist,
Brutal-Death-Metallern von Deeds of Flesh (USA, Kaliforni- sondern ein künstlicher Sound, der von einem Drumcompu-
en), Tom-Klänge wie bei der New Yorker Death-Metal-Band ter ausgegeben wird. Das Triggern der Bass Drums, manchmal
Suffocation (USA, New York), leicht klickernde Bass Drums auch der Snare, ist im Black und Death Metal gängige Praxis,
wie bei Wasteform (USA, New York) und weiche Hi-Hats wie denn es birgt mehrere Vorteile: Erstens kann der Sound der
bei Decrepit Birth (USA, Kalifornien). Jörg lässt alle Erklärun- Bass Drums zeitlich und klanglich beliebig ausgewählt und
gen und Wünsche der Band geduldig über sich ergehen und festgelegt werden. Der Klang richtet sich allein nach den spe-
beendet schließlich die Diskussion mit dem Kommentar: „Wer ziellen Soundinteressen einer Band. Im Death-Metal-Bereich
wie Suffocation klingen will, muss wie Suffocation spielen.“ ist häufig ein besonders ‚fetter’, mächtiger Bass-Drum-Sound

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erwünscht, der auf natürliche Weise nicht zu erreichen wäre. wahrsten Sinne des Wortes aus dem Takt brächten. Live ver-
Zweitens kann durch Triggern im Bass-Drum-Sound eine hindern Trigger außerdem das Entstehen eines Sound-Breis
Gleichmäßigkeit, Sauberkeit und Präzision der Schlagzeug- durch zu hohe Umgebungslautstärken.
arbeit erreicht werden, wie sie für den Death Metal geradezu Neben den beiden Bass Drums besteht Thorstens Schlag-
charakteristisch ist. Für einen Death-Metal-Schlagzeuger wäre zeug aus einer Snare, drei Hänge-Toms und einer Stand-Tom,
es durch die hohen Geschwindigkeiten, komplizierten Breaks aus einer Hi-Hat, einem Ride-Becken, zwei Crash-Becken und
und ständigen Tempiwechsel praktisch unmöglich, über lange einem China-Becken. Nach Thorstens Auskunft handelt es
Zeiträume hinweg die Bass-Drums genau gleich laut zu spie- sich dabei um ein gutes Schlagzeug der mittleren Preisklasse.
len. Die Trigger „töten“ die Dynamik: Egal wie fest oder leicht Hersteller der Trommeln ist die Firma Tama, die Becken sind
ein Drummer auf die Bass Drums schlägt – das Signal wird am von Zildjian und bespielt wird das Schlagzeug mit Sonor 7A-
Ende durch einen Drumcomputer immer genau gleich laut Sticks. Während der Aufbauarbeiten im Aufnahmeraum hat
ausgegeben. Die so erzielte Gleichmäßigkeit des Bass-Drum- Jörg jede Trommel und jedes Becken mit einem Mikrofon ver-
Sounds ist einerseits für die Mitmusiker der Band wichtig, die sehen, die Snare mit zwei Mikrofonen, so dass von oben der
sich häufig an den Bass Drums orientieren. Aber auch für die Anschlag und von unten die Resonanz aufgenommen werden
Death-Metal-Fans ist es angenehmer, die Bass Drums, die im kann. Während der Aufnahme werden die am Schlagzeug
Wesentlichen Death-Metal-Musik strukturieren, deutlich he- erzeugten Töne durch die Mikrofone in elektrische Signale
rauszuhören. Dynamische Schwankungen in den Bass Drums umgewandelt, die Jörg im Regie-Raum aufzeichnet. Anschlie-
würden dagegen eher irritieren, weil sie den Zuhörer im ßend kann Jörg die so erzeugten 13 Schlagzeugspuren bear-
beiten und abmischen.

Inzwischen hat Thorsten sich warm gespielt. Die Schlagzeug-


Aufnahmen können beginnen. Um Thorsten die Orientierung
zu erleichtern, spielen David und Patrick alle Suffocate-Bas-
tard-Songs mit ihren Gitarren mit – Thorsten hört sie über
Kopfhörer. Die Pilotspuren dieser „Phantomgitarren“ werden
nach der Aufnahme der Schlagzeugspuren allerdings wieder
gelöscht. In rund dreieinhalb Stunden trommelt Thorsten das
gesamte Schlagzeug-Set von 14 Songs ein. Da er nur selten
Fehler macht, kann der Großteil der Songs am Stück aufge-
nommen werden. Bei groben Schnitzern setzt Thorsten direkt
im Song neu an und Jörg überspielt den falschen Part. Kleine-
re Fehler korrigieren Thorsten und Jörg während des erneuten
Durchhörens der Stücke. Anschließend schneidet Jörg un-
erwünschte Nebengeräusche aus den einzelnen Schlagzeug-
spuren heraus. Diese entstehen hauptsächlich dadurch, dass
die einzelnen am Schlagzeug angebrachten Mikrofone nicht
nur das aufnehmen, was sie aufnehmen sollen, sondern auch
Geräusche der benachbarten Trommeln oder Becken. Wäh-
rend dieser „wummernde“ Schlagzeugsound beispielsweise
im Punk Rock beliebt ist und sogar stilbildend wirkt, müssen
Thorsten beim Eintrommeln der Schlagzeugspuren im Death Metal die Schlagzeugspuren von Nebengeräuschen

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befreit werden, damit der Drum-Sound am Ende möglichst Während wir auf Jörg warten, erzählen mir Patrick und David,
sauber und druckvoll klingt. dass sie beide seit circa zehn Jahren Gitarre spielen und beide
Am Abend sind alle glücklich und erleichtert, dass die Autodidakten seien. Während Patrick vor allem von Freunden
Schlagzeug-Aufnahmen so problemlos geklappt haben. Denn immer wieder neue Griffe und Riffs beigebracht bekam, lernte
das ist nicht selbstverständlich, erzählt Jörg: „Normalerwei- David über das Studieren von Tabulaturen in Gitarrenbüchern
se verbringen wir deutlich mehr Zeit mit der Aufnahme des und über das „Abgucken“ bestimmter Grifftechniken in Me-
Schlagzeugs, weil viele Death-Metal-Drummer schneller klin- tal-Videoclips das Gitarrenspiel. „Und warum muss es gerade
gen wollen als sie tatsächlich spielen können. Meistens spielen Death Metal sein?“ frage ich. „Warum spielt ihr zum Beispiel
sie dann sehr unsauber und ich muss viel überspielen, her- nicht in einer Rock- oder Pop-Band?“ Verständnislos schauen
ausschneiden, einzelne Schläge einfügen und ganze Parts hin mich beide an. „Naja“, beginnt David, „Death Metal, das ist halt
und her schieben. Das kann Tage in Anspruch nehmen. Und eine Musik, die einen als Musiker noch richtig herausfordert,
am Ende geben gerade diese Drummer dann überall damit an, das ist teilweise schwer zu knacken. Man weiß nie, ob man es
was für ein Wahnsinns-Set sie da eingespielt haben.“ so hinkriegt, wie man es sich vorstellt und gerade live bleibt
Wahrscheinlich kam Thorsten bei den Aufnahmen sein Er- immer ein gewisser Nervenkitzel und ein Restrisiko, dass man
fahrungsreichtum zugute. Seit über 18 Jahren spielt er Schlag- es vermasselt.“ „Death Metal ist schwierige und komplexe Mu-
zeug, hat in diversen Bands getrommelt und bereits mehrfach sik“, schließt sich Patrick an. „Man kann immer wieder Neues
im Tonstudio CDs aufgenommen. Das Schlagzeugspielen hat in ihr entdecken. Und sie ist richtig anstrengend, wie Sport.
er sich selbst durch das Nachspielen von Metal-Songs anderer
Bands beigebracht. Wir beschließen den ersten Arbeitstag im
Regie-Raum mit dem erneuten Hören der Schlagzeugspuren.
Patrick und David, die am nächsten Tag die Gitarren einspie-
len, hören besonders genau hin. Irgendwann seufzt Patrick und
meint zu Thorsten: „Kann es sein, dass du irgendwie schneller
gespielt hast als sonst? Es kommt mir wahnsinnig schnell vor.“
Thorsten, der mit seinen Fingern den Rhythmus der Songs auf
seinen Knien mittrommelt, sagt: „Tja, das Adrenalin.“

„Death Metal, das ist vor allem die Musik.


Die Texte interessieren uns nicht.“
David und Patrick, E-Gitarren

Als ich am nächsten Morgen verschlafen in die Küche tapere,


staune ich nicht schlecht. Die ganze Küche sieht so sauber aus,
als wäre sie von uns am Vortag nicht benutzt worden, Thors-
ten schrubbt gerade die Herdplatten und es riecht nach fri-
schem Kaffee. Auf meinen ungläubigen Blick hin erklärt mir
Thorsten streng: „Ich hasse Dreck und Unordnung. Ich kann
so nicht arbeiten!“ Ich flüchte in den Regie-Raum, wo Patrick
dabei ist, sich einzuspielen und David gerade neue Saiten auf
seine Gitarre aufzieht. Patrick und Jörg hören sich Patricks zuletzt eingespieltes Set an.

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Das ist echte Männermusik. Den ganzen Stress, den man so tra für die Studioaufnahmen ausgeliehene Jackson-Gitarre an
erlebt, zum Beispiel auf der Arbeit, den kann man richtig gut einen Verstärker. Zwischengeschaltet sind Verzerrer namens
mit der Musik abbauen.“ „Außerdem gefällt mir, dass man Metal Master Distortion, ein Kompressor drückt den Sound
im Death Metal noch etwas erreichen kann“, ergänzt David. der Gitarren weiter in die Tiefe. Zusätzlich entfernt ein Noise-
„Schau zum Beispiel uns an. Wir sind noch eine relativ junge Gate Störgeräusche, beispielsweise Rückkopplungseffekte.
Band und trotzdem durften wir schon als Vorband von Suf-
focation spielen.“ Und nach einigem Nachdenken fügt David Es kann losgehen. Patrick und David merkt man nun deut-
noch an: „Für mich ist die Band momentan eigentlich mehr lich ihre Anspannung an. Für beide ist es die erste richtige
als ein Hobby, sie hält mich am Leben.“ Aus einer anderen Studioproduktion, entsprechend groß ist die Aufregung. Pa-
Unterhaltung mit David weiß ich, dass er zur Zeit arbeitslos trick wird heute mit den Aufnahmen beginnen, David spielt
ist. Eine Zeit lang schweigen wir alle, nur Patricks vereinzeltes die Songs mit seiner Gitarre mit, um Patrick die Orientie-
Zupfen an den Gitarrensaiten unterbricht die Stille. rung zu erleichtern. Jörg lässt die gestern aufgenommenen
Schlagzeugspuren laufen. Nach wenigen Minuten ist die erste
Dann betritt Jörg den Regie-Raum. Patrick unterbricht sein Gitarrenspur im Kasten, wenn auch mit einigen Fehlern. Pa-
Gitarrenspiel, legt eine CD der Death-Metal-Band Inveracity trick stöhnt: „Wie ich es gestern Abend schon gesagt habe,
(Griechenland) in den CD-Player ein und verkündet: „Genau Thorsten hat viel schneller gespielt als sonst.“ Jörg winkt ab:
so sollen unsere Gitarren klingen!“ Jörg lässt sich auf seinen „Das war doch schon ganz gut. Und die fehlerhaften Stellen
Drehstuhl vor dem Mischpult plumpsen. „Ja, oder so“, meint
David und tauscht die CDs. Drückende Gitarrenwände ertö-
nen. „Suffocation!“, erklärt mir David mit verzückten Augen.
Langsam dämmert mir, dass der Name Suffocate Bastard eine
Reminiszenz an die US-amerikanische Death-Metal-Band
Suffocation ist, die den Soundvorstellungen von Suffocate
Bastard am nächsten kommt. Jörg nickt die Soundbeispiele
ab. „Typische Wanne eben“, murmelt er. „Viele Höhen, viele
Tiefen, kaum Mitten.“ Patrick und David stimmen ihre Solid-
Body-Gitarren, das sind Gitarren mit festem Korpus. Um den
Gitarrensound besonders tief und drückend erscheinen zu
lassen, ist es im Death Metal üblich, die Gitarren und den Bass
mindestens einen Ganzton tiefer zu stimmen – beide Gitarren
bei Suffocate Bastard sind auf d statt auf e gestimmt.
Die Tonabnehmer von E-Gitarren, auch Pickups genannt,
funktionieren wie elektrische Spulen: Sie wandeln die Schwin-
gungen der Saiten, die beim Anschlagen entstehen, in elek-
tronische Schwingungen um. Generell kann zwischen zwei
verschiedenen Pickup-Modellen unterschieden werden: Es
gibt einfache Spulen, so genannte Single-Coils, und doppelte
Spulen, so genannte Humbucker. Da doppelte Spulen einen
tieferen Sound erzeugen, werden sie im Metal bevorzugt ver-
wendet – so auch bei Suffocate Bastard. Patrick klemmt seine
Gitarre der Marke Marathon an das Topteil an, David eine ex- Äußerste Konzentration – David beim Einspielen seiner Gitarrenspuren

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machen wir einfach gleich noch mal.“ Einige Stunden und Songs nieder: Die sonst übliche Aufteilung in eine Lead- und eine
später gerät Patrick an den Rand der Verzweiflung. Unerbitt- Rhythmusgitarre gibt es nicht, längere Gitarrensoli, die einen
lich diktiert das Schlagzeug das Tempo, das Timing stimmt Gitarristen über den anderen erheben, fehlen ebenfalls. Statt-
nicht, schwierige Stellen wollen auch beim zehnten Anlauf dessen spielen Patrick und David die meisten Riffs unisono,
einfach nicht klappen, der Kopf blockiert, die Finger wollen um den Sound „fetter“ zu machen und viel Druck zu erzeu-
nicht mehr und Patrick setzt sich selbst immer mehr unter gen. Die Gitarrenriffs von Suffocate Bastard bestehen entwe-
Druck. Jörg ordnet eine Pause an. der aus Power-Akkorden oder aus einigen wenigen Einzeltö-
Patrick flüchtet sich raus an die frische Luft, wenig spä- nen, so genannten „single-notes“, die entweder zweistimmig
ter folgt ihm David und spricht ihm Mut zu. Im Gegensatz gespielt werden oder sich gegenseitig imitieren und ergänzen.
zu vielen anderen Metal-Bands gibt es zwischen den beiden Die kleinen, häufig chromatischen Melodien dauern oft nur
Suffocate-Bastard-Gitarristen keine Hierarchien und kein wenige Sekunden, weshalb es für Patrick und David teilweise
Konkurrenzverhältnis, auch wenn beide versuchen, sich ge- schwierig ist, bei hohem Tempo ihren Einsatz exakt zu treffen.
genseitig zu Höchstleistungen anzutreiben. „Wir wollen kei- Zudem dürfen Töne und Akkorde im Death Metal oft nicht
ne Positionen vergeben“, macht mir David eindringlich klar. ausklingen, sondern müssen bei einem Break sauber mit der
Dieser Anspruch auf Gleichberechtigung schlägt sich auch Handkante abgestoppt werden. Thorsten bemerkt: „Death
in der musikalischen Struktur der Suffocat-Bastard-Songs Metal lebt von dieser Mischung aus Aktion und Pause“, also

Klingt doch schon mächtig nach Death Metal – Thorsten, Patrick, David, Karsten und Jörg lauschen andächtig.

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Am nächsten Vormittag müht sich David redlich. Wie


Patrick hat er mit dem hohen Tempo, das Thorsten vorgelegt
hat, Probleme, lässt sich davon aber nicht aus der Ruhe brin-
gen und probiert schwierige Stellen immer wieder. Am Abend
des dritten Studiotages ist die Aufzeichnung der Gitarren ab-
geschlossen. „Mehr Zeit haben wir aber auch nicht“, bemerkt
Karsten, der am nächsten Tag die Bassspuren einspielen soll.
„Unser Label kommt zwar immerhin für fünf Tage im Studio
auf, alles darüber Hinausgehende müssen wir aber selbst be-
rappen, und das sind immerhin gut 200 Euro am Tag. Nicht,
dass das viel ist für so ein Studio, im Gegenteil, aber haben
muss man das Geld ja trotzdem.“ Jörg kennt das Problem:
„Ideal für eine Band sind eigentlich um die 30 Tage im Studio,
da hat man auch einmal Zeit etwas auszuprobieren. Das kön-
nen sich allerdings oft nur die etablierteren Bands leisten, wo
das Plattenlabel den Großteil der Kosten trägt. Kleinere Bands
wie Suffocate Bastard haben fast immer einen immensen
Zeitdruck, weil sie maximal eine Woche bezahlt kriegen. Das
reicht in der Regel gerade einmal für die Aufnahmen. Aber die
Spuren abmischen und das Gesamtpaket mastern muss ich ja
auch noch.“

„Bei Suffocate Bastard mischt sich jugendlicher


Eifer mit der Erfahrung der alten Säcke.“
Karsten, E-Bass
Immer schön locker bleiben! Karsten mit B.C.Rich Warlock Supreme-Bass

von ohrenbetäubender Lautstärke und absoluter Stille. Die Am Morgen des vierten Studiotages sitzt Karsten mit seinem
in der Pop- und Rockmusik übliche Aufteilung eines Stückes riesigen E-Bass der Marke B.C. Rich Warlock Supreme hoch-
in Strophe, Bridge und Refrain ist im Death Metal eher sel- motiviert im Regieraum und erzählt, dass es sich bei seinem
ten. Die Songs von Suffocate Bastard bestehen meist aus zehn Musikinstrument um eine echte Rarität handelt: „Dieser Bass
bis 20 verschiedenen Parts, von denen nur zwei oder drei im kommt aus den USA und ist aus einem Stück gefertigt – ein
Laufe eines Stückes wiederholt werden. Wie in einer Collage Unikat aus einer Kleinstserie! Er ist aus hochwertigem Holz
werden hier tonale Versatzstücke verschiedenster Art anei- und dadurch auch ziemlich schwer – hier, halt mal.“ Er drückt
nandergereiht, die Struktur eines Stückes offenbart sich erst mir den Bass in die Hand und lacht, als er mein überraschtes
nach vielfachem Zuhören. Gesicht sieht: „Tja, so sechs, sieben Kilo wiegt er schon.“ Ich
Am Ende des Tages hat Patrick es tatsächlich geschafft, alle verstehe jetzt, warum Karsten sein Set möglichst im Sitzen ein-
seine Gitarrenspuren sauber einzuspielen. Und während er es spielen will. „Der Basshals hat mit 24 Bünden Standardlänge“,
sich vor dem Fernseher mit einem Glas Wodka-O gemütlich informiert mich Karsten weiter. „Die meisten E-Bässe verfügen
macht, beginnt bei David das große Zittern vor den morgigen über 20 bis 24 Bünde.“ Ich gebe Karsten den Bass zurück, da-
Aufnahmen. mit er die vier Saiten stimmen kann – wie die E-Gitarren wird

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auch der Bass einen Ganzton auf d herab gestimmt. Unter den „Klar, sonst kann man das nicht lange durchhalten, ohne dass
Basssaiten befinden sich, ebenfalls wie bei den E-Gitarren, die die Stimmbänder dauerhaften Schaden nehmen. Besonders
Tonabnehmer, die die Saitenschwingungen durch elektroma- wichtig ist das bewusste und kontrollierte Atmen, denn die
gnetische Induktion in elektrische Signale umwandeln. Wie Growls entstehen durch eine Art Luftdruck tief im Bauch, und
David und Patrick verwendet auch Karsten Humbucker, also werden dann oben im Hals noch zusätzlich verzerrt. Im Death
doppelte Spulen. Um einen breiigen Basssound zu vermeiden, Metal sind tiefe Growls besonders beliebt und manche Sänger
verzichtet Karsten auf Verzerrer und Effektgeräte. verwenden Effektgeräte, die ihre Stimme tiefer pitchen. Aber
Jörg hat inzwischen auf seinem Chefsessel vor dem Misch- generell ist das ziemlich verpönt, weil das einfach gemogelt ist.
pult Platz genommen und gibt Karsten ein Zeichen, dass die Ich persönlich verwende jedenfalls keine Effektgeräte.“ Stefan
Aufnahmen beginnen können. Im Gegensatz zu den Gitarris- blättert in seinem Ordner und zeigt mir einige seiner Songtex-
ten spielt Karsten ohne Plektrum und schlägt die Saiten mit te. Alle sind auf Englisch. Ich erkundige mich, ob sich seine
dem Zeige- und dem Mittelfinger, manchmal auch mit dem Songlyrics auch um die üblichen Splatter- und Horror-The-
Ringfinger an. Akkorde kommen eher selten vor, Karsten men drehen, die im Death Metal weit verbreitet sind. Stefan
spielt überwiegend kurze, abgehackte Parts, die aus einzelnen schüttelt heftig den Kopf: „Im Gegenteil! Ich versuche, eher
single-notes bestehen. Die Hauptfunktion seines Bassspiels ist politische, sozialkritische oder philosophische Texte zu schrei-
es, eine Brücke zwischen den Gitarren und dem Schlagzeug ben, die manchmal auch Wortspiele enthalten und insgesamt
zu schlagen. In Karstens Worten: „Der Bass muss von unten ziemlich sarkastisch sind. Es geht mir um eine Deutung der
drücken, ohne dabei den Gitarren etwas weg zu nehmen.“ Welt, wie ich sie jeden Tag sehe und erlebe. Besonders inte-
Während der Bass sich rhythmisch am Schlagzeug orientiert, ressiert mich dabei die Beeinflussung eines Subjektes durch
lehnt er sich harmonisch-melodisch an die Gitarren an, greift seine Umwelt, durch die Gesellschaft und wie es sich immer
deren Grundtöne auf, imitiert bestimmte Riffs in Oktav- oder wieder an diese anpasst. Dabei geht es mir nicht darum, die
Quintabständen. Das hohe Tempo, das das Schlagzeug vorgibt, Welt irgendwie verbessern zu wollen, sondern nur um die
macht auch Karsten zu schaffen. Doch er ist erfahren genug, Darstellung, um die Abbildung von subjektiver Wirklichkeit.“
um die Nerven zu behalten. Angefangen hatte bei ihm alles Ich hake ein: „Meiner bisherigen Erfahrung nach sind die Tex-
mit Konzertgitarrenunterricht an einer Musikschule, zwölf te für viele Death-Metal-Musiker und -Fans eher Beiwerk und
Jahre lang blieb er dabei. Als Teenie brachte er sich selbst das nicht so wichtig. Bei dir scheint das aber ganz anders zu sein?“
Bass-Spielen bei. Bevor er 2004 zu Suffocate Bastard stieß, war „Stimmt“, sagt Stefan. „Nur weil etwas oft so oder so ist, heißt
er in diversen Metal-Bands als Bassist aktiv. das ja nicht, dass das bei Suffocate Bastard auch so sein muss.
Obwohl, eigentlich ist bei uns auch nur Karsten, der meine
Texte oft liest und redigiert, und so richtig an ihnen interessiert
„Death Metal – das ist frei sein auf Zeit.“ ist.“ „Stimmt das?“, rufe ich in die Küche hinüber. David guckt
Stefan, Gesang und Lyrisches um die Ecke. „Also, für mich steht das Musikmachen ganz klar
im Vordergrund. Was Stefan da singt ist mir, ehrlich gesagt,
Während im Regieraum Jörg und Karsten hochkonzentriert relativ egal, weil die Musik an sich ja schon alles Wesentliche
ihrer Arbeit nachgehen, studiert Sänger Stefan im Wohn- ausdrückt.“ Thorsten pflichtet David bei. Stefan zuckt mit den
zimmer seine Songtexte, die er mit Klarsichtfolie säuberlich Achseln. „Und wie kommst du so auf die Ideen für deine Tex-
in einen dicken Ordner abgeheftet hat. In der Küche brüten te?“, frage ich. Nach kurzem Überlegen meint Stefan: „Wenn
Thorsten und David über den Dankes- und Grußlisten für das man es genau nimmt, erhalte ich Inspirationen vor allem aus
CD-Inlay. Ich setze mich zu Stefan, um Näheres über ihn zu meinem alltäglichen Handeln und Erfahren. Das, was ich an
erfahren. „Wie machst du das eigentlich mit dem Growlen?“, Negativem im Alltag erlebe, kann ich in Death-Metal-Texten
frage ich. „Gibt es da eine bestimmte Technik?“ Stefan lacht. und später im Gesang kanalisieren, komprimiert wiedergeben

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und dorthin umlenken.“ „Eine Art Katharsis also?“, überlege die ausgestrahlte positive Energie, um sich selbst von negati-
ich. Stefan nickt. „Genau. Ein kathartischer Effekt. Wenn ich ven Alltagserlebnissen zu befreien.“ „Weißt du, was ich ziem-
growle, dann kann ich durch meine Stimme das Tier, den Wolf lich paradox finde?“, frage ich Stefan. „Diese positive Energie,
in mir ausdrücken. Und der ist schließlich in uns allen. Aber die ihr durch eure Band und durch Death Metal erlangt, ist
das Vorhandensein von irgendwelchen Urinstinkten wird ja doch eigentlich nur dafür da, um in Alltagsprozessen wieder
in unserer Kultur geleugnet und tabuisiert. Vielleicht mögen verbraucht zu werden. Damit ist Death Metal keineswegs de-
viele Leute Death Metal einfach deshalb nicht, weil sie durch struktiv, sondern sogar konstruktiv. Denn im Grunde unter-
diese Musik mit etwas konfrontiert werden, mit dem sie sich stützt ihr durch eure kostenlose Musiktherapie mit Hilfe von
nicht beschäftigen wollen.“ Nach einigen Sekunden setzt Ste- Death Metal das Funktionieren gesamtgesellschaftlicher Pro-
fan nach: „Weißt Du, manchmal erschrecke ich mich beim zesse.“ Stefan grinst breit. „Das stimmt schon. Aber ich habe
Growlen direkt über mich selbst und was da so alles in mir ja auch nie gesagt, dass ich das Leben, so wie es ist, nicht liebe.
drin ist. Aber ich denke, durch Death Metal kann jeder von Die Verarbeitung von negativen Erfahrungen schließt ja nicht
uns in der Band negative Energie umwandeln in gemeinsam aus, dass man trotzdem im Allgemeinen gerne lebt.“ Karsten
erlebte, positive Energie. Bands haben da so eine Art Kataly- platzt in die Küche und beendet damit unser philosophisches
satorfunktion, und auch die Zuschauer auf Konzerten nutzen Duett. „Geschafft“, stöhnt er erleichtert. „Alle Spuren sind im
Kasten. Fehlt nur noch der Gesang.“ Ich gehe rüber ins Haupt-
haus, um meine Sachen zu packen, denn mein Aufenthalt im
Tonstudio endet noch an diesem Abend.

Einige Tage später, kurz vor Weihnachten, telefoniere ich mit


Jörg, um zu erfahren, ob die restlichen Aufnahmen noch gut
geklappt haben. „Alles bestens gelaufen“, erzählt mir Jörg.
„Mit Stefan haben wir einen Tag im Kabinenraum aufgenom-
men und danach habe ich die einzelnen Spuren abgemischt.
Zum Beispiel haben wir auf den Gesang ein wenig Hall ge-
legt. Jetzt muss das Gesamtpaket noch gemastert werden. Das
war es dann eigentlich. Wie ich gehört habe, soll die Platte im
Frühjahr rauskommen.“

Schlussakkord

Fünf Monate später. Es ist zwölf Uhr mittags, die Sonne kitzelt
meine Nase und ich sitze vergnügt mit einer Dose Bier in der
Hand irgendwo in Brandenburg auf dem Dach unseres alten
Autos, von wo aus ich wunderbar das Campinggelände des all-
jährlich stattfindenden Death-Metal-Festivals Fuck the Com-
merce überblicken kann. Unter mir dröhnen die Auto-Bo-
xen. Zwei Jungs mit langen Haaren, Cargo-Hosen, schweren
Bundeswehr-Stiefeln und schwarzen T-Shirts bleiben stehen.
„Time to say Goodbye“ - Abschlussphoto mit Stefan, Thorsten und David „Hey, was hörst du denn da?“ „Das ist die neue Scheibe von

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David, Thorsten, Jörg und Karsten hören die neuen Aufnahmen durch. Frontgrunzer Stefan im Kabinenraum

Suffocate Bastard“, antworte ich. „Gerade rausgekommen.“ Nachwort: Suffocate Bastards erstes Full-Length-Album „Acts
„Nicht übel“, meint einer der beiden. „Wollt ihr ein Bier?“, of Contemporary Violence“ wurde am 20. April 2007 offiziell
lade ich die beiden ein. Und während ich ihnen von meinem über die Plattenfirma Revenge Productions veröffentlicht. Zur
Aufenthalt im Soundlodge erzähle, unterhält die Scheibe von gleichen Zeit trennten sich Stefan und Suffocate Bastard. Auf
Suffocate Bastard lautstark die Nachbarschaft. der Homepage von Suffocate Bastard heißt es: „We amicably
split ways with singer Stefan. It simply didn’t work out any-
more. There is no bad blood whatsoever and we have to show
our respect to Stefan for his past efforts for the band. We wish
nothing but the best for his future personally and musicwise.“
In diesem Sinne, Jungs: Alles Gute!

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Show No Mercy
oder: All We Are – All We Are We Are – We Are All – All We Need

TEXT: DIETMAR ELFLEIN


FOTOS: HENRI KRAMER

„Ich sitze in meiner Stammkneipe, zische mein letztes Bier für erst noch vermittelt werden muss. Klingt wie ein normaler
den Abend und will grade gehen. Da fasst mir jemand von Generationenkonflikt, möchte man fast meinen. Aber der-
hinten auf die Schulter. Ich dreh mich um, seh ’n Satyricon- artige interne Konflikte werden schnell zur Bedrohung. Die
Shirt, und denke: cool, jemand aus der Szene. Aber denkste! vermeintlich so eindeutige Szene entpuppt sich nämlich als
Der schaut mich nur an und fragt: ‚Bist du homo oder warum fragiles Konstrukt eigentlich auseinander strebender Inter-
hörst du Helloween?’ [...] So was hab ich noch nicht erlebt. Ist essen, die am besten von einem äußeren Feind – z. B. dem
der Black-Metaller-Nachwuchs so intolerant wie HipHopper? Hip-Hopper – zusammengehalten werden müssen. Oder man
[...] Kann es sein, dass die schwarzen Kiddies sich nicht mit versucht die verbindenden Elemente über ein Fest zu stärken,
den Anfängen unserer Mucke auskennen? Ich hab nichts ge- in der Hoffnung, dass die Menge der Gemeinsamkeiten dann
gen ’ne vernünftige Diskussion, und den Nachwuchs fördere wieder, weiterhin oder auch erstmals tragfähig bleibt.
ich eigentlich gern, aber ich will auch ’n bisschen Respekt.“1

Wofür verlangt der Erzähler dieser Geschichte Respekt? Und Metal Daze
welche Szene enttäuscht ihn wegen dessen Verweigerung?
Respekt erwartet er – es ist ein Mann – offensichtlich Open-Air-Festivals im Allgemeinen, das Wacken-Open-Air im
schon dafür, Teil der Metal-Szene zu sein und dies offen zu zei- Besonderen, sind schon lange DER Ort, an dem diese mythische
gen. Eine zusätzliche Betonung liegt auf der zeitlichen Ebene, Einheit der Metal-Szene zelebriert wird. Eine Einheit, die
darauf, immer noch Teil der Szene zu sein, nicht eingeknickt grundlegend für das Selbstverständnis als Metaller ist. Das gilt
zu sein wegen Karriere oder Familie, den Lebensstil Metal nicht erst, seit der Rockpalast berichtet und der Dokumen-
nicht verraten zu haben – allen hypothetischen Widrigkeiten tarfilm „Full Metal Village“ das Kinopublikum erheitert hat.
zum Trotz. Diese Leistung ist es, die gewürdigt werden muss Auch der US-amerikanische Anthropologe Sam Dunn fährt
von der Gemeinschaft der Heavy-Metal-Fans. Einer Gemein- im Rahmen der Filmaufnahmen für seine DVD „Metal – A
schaft, deren Einheit und Eindeutigkeit – man gehört entwe- Headbanger’s Journey“ nach Wacken, um über die Heavy-Me-
der dazu oder nicht; man gehört nicht mit dieser und jener tal-Kultur zu berichten. Zwar ist das Wacken-Open-Air das
Einschränkung dazu – dem Erzähler sehr wichtig ist und die, größte Festival, aber allein im deutschsprachigen Raum fin-
seiner geschilderten Erfahrung nach, der Jugend offensichtlich den jeweils zwischen Juni und August jedes Jahr mindestens

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Party.San 2007

35 Metal-Festivals unterschiedlichsten stilistischen Zuschnitts nende Variante der Geschichte, in der die Einheit der Metal
statt, die sich fast alle über jährlich wachsende Zuschauer- Szene immer nur gewünscht oder imaginiert wurde und die
zahlen freuen. Veranstaltungen im nahen Ausland wie in Existenz der Einheit deshalb an einen ungeschichtlichen,
Slowenien, den Niederlande, Belgien und Dänemark sind da- zeitlich unbestimmbaren Ort irgendwo in der Vergangenheit
bei noch nicht mal mitgerechnet. verschoben wurde. Zur Vergegenwärtigung dieser mythischen
Vergangenheit dienen Feste oder Festivals. Die behauptete
Die für den obigen Leserbriefschreiber wichtige Einheit der Einheit der Szene braucht eine gemeinsame Geschichte, um
Metal-Szene soll real über die Ausdifferenzierung des Genres wenigstens temporär real werden zu können.
seit Ende der 1980er-Jahre, also vermeintlich seit dem Auf- Die Forschung zu Gedächtnis und Erinnerung betrach-
tauchen extremerer Spielarten des Heavy Metal und den da- tet das Erinnern als eine sich in der Gegenwart vollziehende
mit zusammenhängenden internen Abgrenzungskämpfen, Operation des Zusammenstellens verfügbarer Daten. Indivi-
verloren gegangen sein – also z. B. durch Typen mit Satyri- duelle und kollektive Erinnerungen sind grundsätzlich ein
con-Shirts. Es spricht aber vieles für die den Mythos beto- aussagekräftiges Indiz für die Bedürfnisse und Belange der

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Erinnernden in der Gegenwart und nie Spiegel einer authen- Reunion der Thrash-Band Sacred Reich und der „Death Metal
tischen Vergangenheit. Das Gedächtnis ist eine soziale und Namenspatronen“ Possessed, sowie die Destruction und Sodom
individuelle Konstruktion zur Selbstvergewisserung der eige- Shows, bei denen zum 25-jährigen Bandjubiläum möglichst
nen Geschichte, des eigenen Standpunkts: Wer bin ich/wir, wo viele Ex-Bandmitglieder (aus den 1980er-Jahren) mit auf die
stehe ich/wir.2 Bühne gebeten wurden.
Deshalb sind Ankündigungen wie Band xyz spielt aus- Jenseits dieser speziellen „Geschichtsstunden“, die im Er-
schließlich Songs ihres Debütalbums aus den 1980ern3, spielt gebnis übrigens nicht zwangsläufig positiv rezipiert werden,
nur Songs der ersten vier Alben aus den 1980ern4, spielt alle scheinen zumindest die berichtenden Journalisten von Festi-
Songs ihres Albums „zyx“ aus den 1980ern5, spielt eine Best- valauftritten aller Bands zu erwarten, dass das Programm sich
of-Show der 1980er6 oder spielt einmalig in der Originalbe- zu einem hohen Prozentsatz aus der jeweiligen Bandgeschich-
setzung aus den 1980ern7 für die jeweilige Festivalsaison eher te speist. Eher unbekannte ältere Songs werden dabei meist
die Regel als die Ausnahme. Für Wacken 2007 gilt dies für die als freudige Überraschung betrachtet, unbekannte neue Songs
sollten nur in homöopathischen Dosen vorhanden sein und
das Fehlen bestimmter Hits im Programm wird immer als ne-
gativ bewertet. Ein kulturelles Gedächtnis formiert sich.
Dazu passt die Beobachtung, dass das Wohlwollen, das
solchen Aktivitäten von der Szene und ihren Institutionen
während der Festivalsaison im Vorfeld entgegengebracht wird,
bei ähnlichen Aktivitäten jenseits der Festivalsaison eher einer
kritischen Distanz weicht. Dies gilt sowohl für Neueinspielun-
gen bereits veröffentlichter Alben aus den 1980ern8 als auch
für Fortsetzungen von Erfolgsalben aus den 1980ern9. Aus-
wählende Institutionen als quasi objektive Regelungsinstanz
der gewünschten Historisierung und Orte der gemeinsamen
Vergegenwärtigung der zu erschaffenden Geschichte sind
Grundlagen eines jeden kollektiven Gedächtnisses. Vor der
heimischen Stereoanlage funktioniert ein derartiger Prozess
nicht. Konzertante Wiederaufführungen von für das Selbstver-
ständnis von Heavy Metal als wichtig erachteten Werken haben
dementsprechend Konjunktur. Iron Maiden spielten 2006 eine
Tour mit einem Programm aus Stücken ihrer ersten vier zwi-
schen 1980 und 1983 erschienenen Alben und setzen dies 2008
mit einer sich aus den Alben fünf bis acht speisenden Tournee
fort. Slayer führten zum 20. Jahrestag ihres Albums „Reign In
Blood“ dieses in Gänze live auf und verewigten das Ereignis
auf einer DVD. Manowar realisieren 2008 die komplette kon-
zertante Wiederaufführung ihrer ersten sechs Tonträger im
Rahmen eines Open-Air-Festivals und Dream Theater spielen
in ihren Konzerten auch gerne einmal eine ganze LP von Kol-
legen nach, so geschehen z.B. mit Metallicas „Master Of Pup-
Mille von Kreator
Kreator, Thrash Legende aus Deutschland pets“.10 Metal schafft sich seine gemeinsame Geschichte.

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Eddie’s Archive die Vielfalt unterschiedlicher Geschmäcker. Um im Prozess


der Historisierung des Heavy Metal wirkungsmächtig zu wer-
Diese gemeinsame Geschichte braucht natürlich auch Tonträ- den, muss eine Band also einerseits mindestens seit 20 Jahren
ger, die als gemeinsames Erbe betrachtet werden. Bestimmte aktiv sein und andererseits ein Tonträger mindestens vor 15
Werke bestimmter Bands und Künstler werden ausgewählt, bis 20 Jahren veröffentlicht worden sein. Der Extreme Metal,
um Metal jenseits aller internen Differenzierungen letztlich der sich Ende der 1980er-Jahre aus dem absoluten Untergrund
für die Restgesellschaft, die Nicht-Metaller zu repräsentieren. des Tape-trading herausbewegte13 ist damit einerseits noch zu
Da dieser Prozess im Fluss ist, also als Diskurs funktioniert, jung, um konsensfähig zu sein. Andererseits ist er auch künst-
genügt der Blick auf ein Ereignis wie Wacken 2007 nicht, um lerisch zu – wie der Name schon sagt – extrem, um eine Mehr-
ihm näher zu kommen. Eine Möglichkeit besteht im Vergleich heit der Metal-Fans hinter sich zu scharen. Slayer markieren
von Auswahllisten aus dem Traditionsstrom des Heavy Metal hier momentan das extreme Ende der Fahnenstange.
– also von Listen mit Titeln wie „die 500 besten Heavy Metal Außerdem stammen wichtige Bands entweder aus den USA
Songs aller Zeiten“. Werden hier immer wieder die selben mu- oder aus Großbritannien. Zwar verzeichnen die ausgewerteten
sikalischen Werke genannt oder ergibt sich doch eine große Listen über 800 verschiedene Bands aus 27 Staaten, aber Einig-
Vielfalt unterschiedlicher Geschmäcker?11 keit herrscht vor allem über angelsächsische Bands. Ausnah-
Der Vergleich einer Stichprobe aus 68 Listen aus 23 un- men wie Sepultura aus Brasilien, Celtic Frost aus der Schweiz,
terschiedlichen Quellen12 zeigt eindeutige Präferenzen. Große Accept aus der BRD oder In Flames aus Schweden bestätigen ei-
Einigkeit herrscht über die herausgehobene Bedeutung der nerseits diese Regel, deuten aber andererseits schon daraufhin,
ersten drei LPs von Metallica („Kill’em All“ 1983, „Ride The das Metal seit seiner Initialzündung in den 1980er-Jahren, dem
Lightning“ 1984, „Master Of Puppets“ 1986), der ersten vier die Geschichte des Heavy Metal definierenden Jahrzehnt, ein
LPs von Iron Maiden („Iron Maiden“ 1980, „Killers“ 1981, weltweites Phänomen geworden ist. Bands unterschiedlichster
„The Number Of The Beast“ 1982, „Piece Of Mind“ 1983), die Herkunft werden bereits wahrgenommen, gelten aber noch
ersten beiden LPs von Black Sabbath („Black Sabbath“ 1970, nicht als völlig konsensfähig. Ein Vergleich mit ausgewählten,
„Paranoid“ 1971) und einem auf den Anfang der 1980er-Jahre anderen Stilen der Rockmusik gewidmeten Listen14 bestätigt,
konzentrierten Querschnitt durch das Werk von Judas Priest dass die Wahrnehmung von Bands nicht-angelsächsischer Her-
mit Rob Halford („British Steel“ 1980, „Screaming For Ven- kunft im Heavy Metal hoch bzw. überdurchschnittlich ist.
geance“ 1982). Ebenfalls einig ist man sich über die Wichtig-
keit von „Back in Black“ (1980) von AC/DC, „Appetite For
Destruction“ (1987) von Guns N’ Roses, „Reign In Blood“ Brothers of Metal
(1986) von Slayer und „Operation: Mindcrime“ (1988) von
Queensryche. Mit Ausnahme der beiden Black-Sabbath-LPs Manowar, die wie keine andere Band davon leben, ihre Versi-
stammen alle genannten Tonträger aus den 1980ern. Gerät on des wahren Metal zu verkaufen, veranstalteten im Juli 2007
man näher an die Gegenwart, so schwinden die Gemeinsam- ein Open Air in Bad Arolsen, das weniger der eigenen Histo-
keiten. Zwar wird über die Hälfte der in den Listen genannten risierung – die erfolgt wie oben beschrieben erst 2008 – als
über 1500 verschiedenen Tonträger nach 1990 veröffentlicht, vielmehr als Beschwörung der Einheit von Fans und Musikern
aber nur bis zur Mitte der 1990er-Jahre kann man sich – in gedacht war. Das Konzert wurde als Geschenk an die Fans be-
geringerem Maße, aber immerhin – u. a. noch auf Tonträger worben und kostete nur zehn Euro Eintritt.
von Rage Against The Machine (das Debüt von 1991), Mega- „Dieser niedrige Preis ist MANOWARs Dankeschön an
deth („Rust In Peace“ von 1990), Pantera („Vulgar Display Of unsere Fans für ihre ungebrochene Loyalität während der letz-
Power“ von 1992) und Emperor („In The Nightside Eclipse“ ten zwei Jahre mit ihren unglücklichen Tourverschiebungen
von 1994) einigen. Seit Mitte der 1990er-Jahre regiert dann und Verzögerungen bei der Albumveröffentlichung.“15

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Celtic Frost, Metal Legende

Die Behauptung der Einheit der Metal-Szene konkretisiert einzelne imaginiert sich für sich auf die Bühne, während die
sich als imaginierte Einheit von Musikern und Fans und wird neben stehenden Publikumsteile im Normalfall komplett ig-
zur zentralen Erzählung des Heavy Metal. Beispielsweise mit- noriert werden. Luftgitarre spielt man nicht miteinander, bzw.
tels des verbreiteten Luftgitarrenspiels bei Konzerten, auf Par- erst dann, wenn – wie auf Festivals mittlerweile üblich – eine
tys oder vor dem heimischen Wohnzimmerspiegel, imaginiert reale Bühne existiert, auf der die individuelle Imagination zur
sich der Fan entweder als auch auf der Bühne stehend oder kollektiven Show mutiert. Gleichzeitig ist die Luftgitarrenbüh-
nivelliert zumindest den Unterschied zwischen denen auf der ne damit ein zusätzliches Bindemittel für die Einheit von Fans
Bühne und denen im Publikum. Natürlich ist diese imaginäre und Musikern, ein Zwischenglied, das die Bühnenerfahrung
Teilhabe auch Teil der Erzählung von populärer Musik im All- ohne musikalisches Handwerk ermöglicht. Wir sind wie ihr.
gemeinen – man denke an die verbreiteten Mitsingspielchen Auf der realen Konzertbühne dient das Teilen der Büh-
auf allen möglichen Konzerten von Rock bis HipHop – aber ne mit den Fans diesem Zweck. Es findet seinen Höhe-
im Metal geht es um die individuelle physische Teilhabe. Jeder punkt, wenn wiederum beispielsweise Manowar „auch Fans

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ein(laden), auf der Bühne mit ihnen zu singen und sogar Abstand zwischen Bühne und Publikum jedoch zu groß für
Gitarre zu spielen.“16 Das verbreitete Als-Publikum-von-der- derartige Aktivitäten – wie bei einem Festival – oder fehlt aus
Bühne-ins-Publikum-springen, also das Stagediving, unter- anderen Gründen die Lust des Musikers auf das so genannte
streicht ebenfalls die Verbindung von Bühne und Publikum Crowdsurfing, so ist neben mannigfachen verbalen Beteue-
als Teil eines größeren Ganzen. rungen der Einheit von Fans und Musikern das Abklatschen
Es ist möglich zwischen diesen Welten zu wandeln, an der sich massenhaft in Richtung Bühne reckenden Fanhän-
ihnen teilzuhaben, außer das jeweilige Sicherheitsperso- de für den Musiker Pflicht. Ähnlich verhält es sich mit der
nal ist anderer Meinung. Da zum praktizierten Stagediving Notwendigkeit, kleine Geschenke in Form von Drumsticks,
auch das Vertrauen gehört, aufgefangen zu werden und nicht Gitarrenplektren oder auch Getränken ins Publikum zu wer-
unsanft auf dem Hallenboden zu landen, verstärkt es das fen, während das Publikum ein derartiges Bedürfnis nicht
Gemeinschaftsgefühl des Publikums. Hier löst sich die ima- verspürt. Bei Metal-Konzerten wird nichts auf die Bühne
ginierte Einheit in Begeisterung auf, wenn ein Musiker das geworfen, sie wird, wenn möglich, physisch erobert – ganz
„Risiko“ eingeht, sich von den Fans real auf Händen tragen im Gegensatz beispielsweise zum Tokio-Hotel-Publikum, das
zu lassen. Dieser Vertrauensbeweis zählt erheblich mehr als Geschenke auf die Bühne wirft, um die reale Person hinter
das reale Bild, das den entrückten Status des Musikers eigent- dem überlebensgroßen Star zu berühren. Die reale Person
lich unterstreicht. Aber ohne die Fans ist er nichts, verkauft des Metal-Musikers ist dagegen sowieso schon einer von uns.
er keine Platten, und der Verrat dieser Erzählung wird mit Idealerweise mischt er sich nach dem Konzert unter das Pu-
einer harten Landung auf dem Boden der (physischen und/ blikum – sozusagen als Teil der Kür – oder steht beim nächs-
oder ökonomischen) Realität bestraft. Ist der physikalische ten Konzert selbst als Fan im Publikum.

Disfear beim Crowd Surfen

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„Ich muss sagen, zwei Jahre warn wir hier auf diesem Fes-
tival bei euch im Publikum, wir ham nicht gespielt wir warn
bei euch im Publikum, ham uns jedes Mal n Sonnenbrand
hier geholt, ham von dieser leckeren Fischbrötchenbude jedes
Mal die Scheißerei bekommen [...] und heute ham wer uns ge-
dacht, heut holn wir uns keinen Sonnenbrand [...] wir spielen
einfach mal hier, da wern wer besser verköstigt.“17

Caught in a Mosh

Die mythische Einheit der Produzenten und Rezipienten


von Heavy Metal bedingt auf der musikalischen Ebene eine
starke Erwartungshaltung der Fans, wie etwas zu klingen hat.
Größere Veränderung eines einmal für gut befundenen Stils
sind eigentlich nicht gewollt, denn die damit verbundene
Arbeit des sich Einlassens auf unerwartete Hörerlebnisse ge-
fährdet die Vorstellung der beschriebenen Einheit. Das sind
nicht mehr wir. Aus der imaginierten Einheit entsteht so der
Enslaved, Viking Metal aus Norwegen
Enslaved
Wunsch nach Eindeutigkeit, einem weiteren zentralen Mo-
ment der Metal-Kultur. Innovationen von Seiten der Musiker wiederum als Ausgangspunkt für weitere Differenzierungen
müssen deshalb langfristig vorbereitet werden bzw. sie fallen dienen. So entsteht unter dem Oberbegriff Metal eine endlos
entsprechend klein aus. Und so wird es schon zum Abenteuer, wachsende Reihe von Unterbegriffen, die nur zum Teil öko-
wenn die deutsche Death-Metal-Band Fleshcrawl im Inter- nomischen Vermarktungsinteressen geschuldet sind, zum Teil
view zugibt: „Natürlich experimentieren wir ab und zu mal jedoch auch eine Metal inhärente Dynamik aufgreifen. Eine
mit Riffs, die eher zum Thrash Metal tendieren“18 denn, wie Auswahl der momentan gebräuchlichen Begriffe liest sich
es ein paar Sätze weiter heißt: „Ich mag es, wenn man als Fan wie folgt: Classic Metal, True Metal, Powermetal, Epic Metal,
Platten praktisch blind kaufen kann, weil man weiß, was man Speedmetal, Thrashmetal, Neo-Thrash, Deathmetal, Melodic
bekommt [...] Weil du weißt, was dich musikalisch erwartet.“19 Deathmetal, Deathgrind, Blackmetal, Epic Blackmetal, Gothic
Man könnte hinzufügen – eindeutig. Metal, Darkmetal, Industrialmetal, Elektro Metal, Nu-Metal,
Über die knapp 40-jährige Geschichte des Heavy Metal Modern Metal, Alternative Metal, Crossover, Metalcore, Hard
ergibt sich so eine sich selbst beschleunigende Entwicklung, Rock, Melodic Rock/AOR, Prog, Vikingmetal, Paganmetal,
die den stilistischen Spielraum einzelner Bands und Künstler Doom, Grunge, Folkmetal, Funkmetal, Glammetal, Sleaze,
immer mehr einengt. Eine Band wie Led Zeppelin, die unter Rotzrock ...
ihrem Namen mit riesigem Erfolg unterschiedlichste Musik- Eine Band wird so letztlich zum Markenzeichen für einen
stile versammelt hat, von denen nur eine geringe Teilmenge als ganz bestimmten Ausdruck, der künstlerisch betrachtet nur im
Heavy Metal bezeichnet werden kann, ist mittlerweile im Me- Ausnahmefall Eigenständigkeit beinhaltet. Häufiger kann die-
tal kaum mehr denkbar. Gleiches gilt auch für die stilistische ser mit „im Stile von“ umschrieben werden, und damit lauert
Divergenz der alten Black Sabbath. Abstrakt formuliert entste- die Gefahr der Verwechselbarkeit und Langeweile. Aktuell lässt
hen über Prozesse der Auswahl aus einer Menge vorhandenen sich diese in Überdruss endende Entwicklung in der Fachpres-
Materials verschiedene, deutlich homogenere Teilmengen, die se am Substil des Metalcore nachvollziehen. Die eindeutige

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Erwartungshaltung beinhaltet immer auch einen, ebenfalls Die einfache Gestaltung der Schrift in metallenen Buchstaben o.
im Wort Eindeutigkeit enthaltenen, Wunsch nach Eigenstän- ä. wird so noch zur einfachsten Übung, die jedoch wie im Falle
digkeit. Musikalisch betrachtet bedingt Eindeutigkeit Unver- von W.A.S.P. auch schief gehen kann. Die Punkte zwischen den
wechselbarkeit. Aus einer stark eingegrenzten Zahl bekannter Buchstaben waren eigentlich einfach als metallene Nieten ohne
Zutaten soll im Idealfall etwas vermeintlich noch nie da Ge- Einfluss auf die Interpunktion gemeint. Gemeinsam ist allen
wesenes entstehen. Zwei Auswege bieten sich einer Band an: diesen Bemühungen die Verwendung von starken Zeichen, die
Erstens kann man in einer Fortschreibung der Differenzierung oft als visuelle Repräsentationen von Kraft und Macht gelesen
aus dem anfänglichen „im Stile von“ ausbrechen, in dem man werden, auf jeden Fall aber eindeutig und (über)deutlich sind.
eine Teilmenge des Spielens „im Stile von“ als normativ und Mehrdeutigkeit und Understatement sind nicht Metal.
formativ ausruft und hofft, dass das Publikum dies als neue Eine Änderung des Logos ist dementsprechend mit Be-
Markenbildung akzeptiert. Zweitens kann man von Beginn an deutung aufgeladen. Die Veröffentlichungen von Metallica,
seine Fühler in andere stilistische Teilmengen ausstrecken und die zu obigem abwertenden Statement führten, ziert beispiels-
so versuchen, eine neue akzeptierte Teilmenge zu bilden. weise auch ein geändertes Logo, das die ursprüngliche Typo-
Was jedoch passiert, wenn man die stilistische Erwar- graphie abgeschwächt zitiert. Geht man davon aus, dass das
tungshaltung der Fans zu stark strapaziert und anschließend ursprüngliche Metallica-Logo Metal verkörpert, so soll das
dafür noch nicht einmal Abbitte leistet, lässt sich am Beispiel „Load/ReLoad“-Logo als das einer Band gelesen werden, die
Metallica zeigen, deren erste drei Platten, wie gezeigt, sehr die Grenzen des Metal verlassen hat, sich aber ihrer Wurzeln
wichtig für Heavy Metal sind. Ihre stilistische Umorientierung bewusst bleibt.
mit dem schwarzen Album 1991 und besonders im Anschluss Die Schaffung einer über das Bandlogo hinausgehenden,
an dessen multi-millionenfachen Verkauf wird jedoch nicht wiedererkennbaren visuellen Repräsentation gelingt dagegen
nur aus musikalischen Gründen kritisch betrachtet. nur wenigen Bands, so zum Beispiel Iron Maiden mit ihrem
Maskottchen Eddie, das auf jedem Albumcover der Band zu
„Diese Band hat den Metal verraten, ja. Die Wichser stellen sehen ist. Gleiches gilt im Prinzip für Motörheads Snaggletooth.
sich hin und sagen, wir haben keinen Bock mehr auf die Fans, Megadeth haben nicht zufällig ihre visuelle Repräsentation Vic
wir machen wat wir wollen. Sollen ses machen, aber es ist kein Rattlehead auf den letzten Studioalben wiederbelebt, um eine
Metal mehr.“20 Rückbesinnung auf ihre Metal-Wurzeln zu signalisieren.

Reinventing the Steel

Die Wichtigkeit der Identifikation mit den Musikern als po-


tentiell Gleiche führt bei der künstlerischen Gestaltung von
Tonträgern zur Vermeidung der Verwendung von Bandfotos
als Covergestaltung. Dementsprechend wichtiger wird die
Typographie und Ikonographie des Bandlogos, das so einer
DER Imageträger der Band wird. Als Folge integrieren viele
Bands über die reine Typographie hinausgehende Elemente in
ihr Logo, die eine eindeutige Ausrichtung ihrer Musik schon
am Logo erkennen lassen sollen. So beinhalten die Schriftzüge
vieler Black-Metal-Bands umgedrehte „satanistische“ Kreuze.
Pentagramme erfreuen sich ebenfalls großer Beliebtheit. Mayhem, Black Metal Legende aus Norwegen

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The Dark Church of Whatever gearteten Krisenzeiten gerne annimmt. Man denke an die ab-
surden Prozesse, in denen Metal-Bands/-Künstler wie Judas
Alle drei genannten visuellen Repräsentationen spielen mit Priest oder Ozzy Osbourne für die Taten von Fans verant-
dem Bild des Totenschädels, der wiederum als positive Iden- wortlich gemacht werden sollten.23 Oder an die West Mem-
tifikationsfigur dient. Eddie und Vic Rattlehead sind darüber phis Three, deren Geschichte der zweiteilige Dokumentarfilm
hinaus eindeutig Zombies. Allerdings ist das Bild des Zom- „Paradise Lost“ erzählt.24 Deena Weinstein25 sieht in diesem
bies in der Populärkultur von den Filmen George Romeros21 Zusammenhang auch Parallelen zur Biker-/Rockerkultur, aus
geprägt, und in diesen treten Zombies immer in Gruppen deren Codes Metal große Teile seines Bekleidungsstils – z. B.
auf. Die notwendige Zombiegruppe entsteht im Metal nicht die Kutte mit dem Bandaufnäher statt des Logos des Motor-
als „reale“ Gemeinschaft, sondern über die Identifikation der radclubs – entlehnt hat.26 Sie zitiert mit Marlon Brando aus
Fans mit den Bandmaskottchen Eddie oder Vic, die wiederum „The Wild One“ eine Ikone der Rebellion, der auf die Frage,
für die Band stehen. Der Zombie wird so zu einer Metapher warum er rebelliere, antwortet „Whatddaya got?“ – was man
für die mythische Einheit von Fans und Musikern als „Metal- sinngemäß mit „Was hast du im Angebot?“ übersetzen kann.
heads“. Diese Einheit ist immer auch eine der Ausgeschlosse- Metal erscheint ihr als leere Rebellion. Hier lässt sich noch eine
nen, da Zombies oft als eine Metapher für die Wiederkehr des Analogie zur Figur des Zombie ziehen, der als personifizierte
Verdrängten, das als Untotes in der Sphäre zwischen symbo- Projektionsfläche ebenfalls immer um ein leeres Zentrum or-
lischem und realem Tod gefangen ist, interpretiert werden.22 ganisiert ist. Der zweite Grund für die Attraktivität des Bildes
Die Beliebtheit des Zombiebildes in der Heavy-Metal-Ikono- des Untoten für Metal liegt damit neben der gemeinschaftsbil-
grafie lässt sich zumindest zum Teil über diese Funktion als denden Möglichkeit in der inhaltlich unbestimmten Gegner-
Repräsentation der Ausgeschlossenen aus der Gesellschaft er- schaft zu einer inhaltlich ebenso unbestimmten Herrschaft.
klären. Nur über die Behauptung der Ausgeschlossenheit aus
der Mehrheitsgesellschaft können interne Konflikte der Metal-
Szene zumindest versuchsweise be- und eingegrenzt werden. Life after Death
Konkret betrachtet sich Metal als eindeutig um (Metal-)Musik
zentrierter Lebensstil, der wiederum Werte transportiert und Im Black Metal schminken sich viele Musiker mittels weiss-
abbildet, die eben nicht mit der Mehrheitsgesellschaft kom- schwarzer Corpsepaint und Theaterblut als vermeintliche Lei-
patibel sind. Diese Werte sind so allgemein wie eine Wert- chen bzw. Untote und treiben die beschriebene Analogie einen
schätzung handwerklichen Könnens, ein Wir-Gefühl, also Schritt weiter. Derartig stilisierte Musiker sind wiederum die
eine Ablehnung von Vereinzelung und Anonymität, und Lo- einzigen, deren Bilder häufiger auch auf der Vorderseite des Al-
yalität. Dabei ist die Wir-Gruppe meist eine männlich domi- bumcovers zu finden sind. Natürlich lässt sich die Verwendung
nierte. Ein interessanter Nebeneffekt ist die damit verbundene von weiss-schwarzer Schminke in der populären Musik im
– über die Betonung der Wichtigkeit der Musik vermittelte Allgemeinen – die bis in die 1960er-Jahre zu The Crazy World
– Unwichtigkeit körperlicher Attraktivität, so dass Metal als Of Arthur Brown zurückreicht – und im Metal im Besonderen
Identifikationsobjekt für Männer dienen kann, die nicht dem nicht auf diese Analogie reduzieren. Vielmehr ist Schminke
gesellschaftlich normierten Schönheitsideal entsprechen. ein Hilfsmittel, um die Musiker als irreal und überlebensgroß
Diese mit Metal verbundenen Werte sind eigentlich erscheinen zu lassen, im Falle von Kiss als eine Art Comic-Su-
nicht der Art, das sie ein Gefühl der Ausgeschlossenheit aus perhelden. Diese theatralische Art des Auftretens transpor-
der Mehrheitsgesellschaft rechtfertigen würden. Übrig bleibt tiert ganz allgemein die Ikonographie der Plattencover und
die optische Manifestation des Andersseins, eine willig oder Band-T-Shirts auf die Bühne. Ganz im Sinne der gewünsch-
zombiehaft dargebotene Projektionsfläche für die Ängste der ten Eindeutigkeit, der Vernachlässigung von Zwischentönen
Mehrheitsgesellschaft, die diese besonders in wie auch immer macht man eben entweder richtig Show oder gar nicht. Bei der

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Primordial Pagan, Metal aus Irland

Musiker musizieren für die Gemeinschaft aller Anwesenden


und nicht für sich selbst. Mindestens an den Sänger als Me-
diator zwischen Bühne und Publikum werden eindeutige An-
sprüche gestellt. Eine ähnliche Funktion der Suggestion von
Hingabe an die Musik hat die Betonung großer Lautstärke, die
neben ihren realen physischen Wirkungen immer auch die Ge-
meinschaft von der Außenwelt abschottet. Manowars 1994 mit
heiligem Ernst durchgeführter Lautstärkeweltrekord in einer
leeren Halle verliert so seinen eigentlich absurden Charakter
und wird zu einem eindeutigen Symbol für ihre unendlichen
Möglichkeiten und ihren unbändigen Willen, die gewünschte
Parallelwelt zu schaffen – die mythische Einheit der Brothers
Of True Metal, die, unabhängig von realen Gebrechen, an der
Theke stehen und der Jugend gerne Orientierungshilfen im
Universum des wahren Metal geben würden.

„Ich muss mal klarstellen, dass es unter Jugendlichen (ich bin


Mayhem, Black Metal aus Norwegen
selber erst 16) durchaus noch Fans der alten Schule gibt. Auch
Beurteilung von Konzerten wird jedoch zwischen Show und die älteren Herrschaften, die jetzt vielleicht schon 40 oder 45
Bühnenpräsenz unterschieden. Erstere darf fehlen, letztere sind und möglicherweise noch Bon Scott live gesehen haben,
nicht. Bühnenpräsenz zeigt sich vor allem im extrovertierten müssen zugeben, dass sie auch mal in dem Alter waren, in dem
eindeutigen Aufgehen in der Musik sowie in der beschriebe- ich jetzt bin. [...] Natürlich ist auch bei mir zu erwähnen, dass
nen Interaktion mit den Fans. Beides verlangt einen großen mein Vater mich mit Platten der sogenannten New Wave Of
Bewegungsradius. Ein introvertiertes Auf-der-Stelle-Stehen British Heavy Metal praktisch großgezogen hat. [...] Dennoch
und -Musizieren mag zwar ein individuelles Aufgehen in der respektiere ich auch neuere Bands wie Trivium, die einfach
Musik anzeigen, ist aber im Normalfall nicht Metal. Metal- musikalisch guten Metal spielen. Aber auch ich muss merken,

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dass die Zeiten, in denen Lemmy noch unter 40 war, Iron Mai- thematisch unterschiedliche Listen (die besten Death-Metal-
den noch mit Paul Di’Anno tourten und man Mutti und Vati Alben, die besten Alben der 1990er-Jahre etc.) vorkommen
mit der „Welcome To Hell“ –Platte von Venom schockieren 13
vgl. Kahn-Harris, Keith (2007). Extreme Metal – Music and
konnte, vorbei sind und auch nie wiederkommen werden.“27 Culture on the Edge. Berg: Oxford New York und Mudrian,
Albert (2004). Choosing Death – The Improbable History
of Death Metal and Grindcore. Los Angeles: Feral House
Fußnoten 14
Visions 150 (09/2005) „150 Records For Enternity“, Spex 100
(03/1989) „Die 100 (+17) besten Alben aller Zeiten“, Rolling Stone
1
Leserbrief in Rock Hard 244 09/07, S.62 (dt. Ausgabe 11/2004) „Die 500 besten Alben aller Zeiten“
2 15
vgl. Erll, Astrid (2005). Kollektives Gedächtnis und www.magiccirclefestival.com/indexgerman.
Erinnerungskulturen. Stuttgart Weimer: Metzler. S.1-13 html Zugriff am 10.10.2007
3 16
z. B. Angel Witch auf dem Wacken Open Air 2000 www.manowar-info.de/ Abschnitt „History“;
4
z. B. Iron Maiden u.a. auf dem With Full Force 2005 Unterabschnitt „Band“ Zugriff am 10.10.2007
5 17
z. B. Slayer u.a. auf den With Full Force 2005 Bernhard Weiss von Axxis auf der DVD „Bang Your
6
z. B. Accept u.a. auf dem Wacken Open Air 2005 Head Festival!!! Best Of “ (2006) Ems115931
7 18
z. B. Warlock auf dem Wacken Open Air 2004 Metal Hammer 10/2007 S.112
8 19
z. B. Twisted Sister „Stay Hungry“ 1984 und 2005, ebd.
20
Destruction „Thrash Anthems“ 2007 Zitiert aus der DVD „Rock Hard Rock Guerilla.tv 4“, Kapitel
9
z. B. Queensryche „Operation:MIndcrime (II)“ 1988 und 12 Stammposter-Treffen, Beilage zu Rock Hard 234 (11/2006)
21
2006, Gamma Ray „Land Of The Free (II)“ 1995 und 2007 „Night Of The Living Dead“/„Die Nacht der lebenden
10
Mit der 2007 erfolgten Wiederaufführung von Sonic Youths Toten“ 1968, „Dawn Of The Dead“/„Zombie“
1982er LP „Daydream Nation“ hat dieser Wunsch nach His- 1978, „Day Of The Dead“/„Zombie 2“ 1985
22
torisierung den Bereich des Heavy Metal verlassen und (erst- Vgl. Zizek, Slavoj (2001). Die Tücke des Subjekts.
malig) den Alternative-/Independent-Bereich erreicht. Frankfurt/Main: Suhrkamp. S. 211-221
11 23
Als Quellen zu Rate gezogen wurden zu diesem Zweck Vgl.Walser, Robert (1993). Running With The Devil
Hörempfehlungen aus wissenschaftlicher und populärwissen- – Power, Gender and Madness in Heavy Metal Music.
schaftlicher Literatur über Heavy Metal, Listen aus fünf deutschen, Hanover London: Wesleyan University Press. S.137-150
24
englischen und US-amerikanischen Fachzeitschriften und Vgl. Christie, Ian (2003). Sound of the Beast
Listen von zwölf dem Heavy Metal gewidmeten Webseiten. Die – the Complete Headbanging History of Heavy
Entstehung der Listen verdankt sich solch unterschiedlichen Metal. New York: Harper Collins. S.290-303
25
Momenten wie der Wiedergabe der Meinung von Spezialisten, vgl. Weinstein, Deena (1991). Heavy Metal – A
Umfragen unter der Leserschaft einer Zeitschrift oder Cultural Sociology. New York: Lexington. S. 27-31
26
eines Web-Zines, Umfragen unter der Redaktion einer Die verbreitete Nutzung und Fetischisierung von Le-
Zeitschrift oder bleibt schlicht nicht nachvollziehbar. derkleidung uns Accessoires oszilliert dabei je-
12
Stichtag war der 30.05.2006. Das Verhältnis von 68 Listen doch zwischen Rocker- und S&M Anleihen.
27
in 23 Quellen ergibt sich, weil pro Quelle häufig mehrere Leserbrief in Rock Hard 245 10/07, S.71-72

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


Elke Nolteernsting:
HEAVY METAL
Die Suche nach der Bestie
128 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-940213-13-6

Bestialische Musik, bestialische Künstler, Sex, Drugs und Rock‘n‘Roll –


Was ist Realität und was ist Kult? Dieses Buch über die deutsche und
internationale Metal-Szene vermittelt auf der Grundlage von Interviews mit
Metal-MusikerInnen ein vielfältiges Bild über ihre Vorgeschichte, ihre Musik,
ihre Fans, ihre Frauen (und Männer) und ihr Leben. Ein spannender Blick
hinter die Kulissen derjenigen, vor denen oft gewarnt wird. Am Ende bleibt
die Frage: Wer ist die Bestie?

Klaus Farin / Hendrik Neubauer (Hrsg.):


ARTIFICIAL TRIBES
Jugendliche Stammeskulturen in Deutschland
240 Seiten, 15 Euro
ISBN 978-3-940213-07-5

Mehrere Jahre folgten vier Fotografen und acht AutorInnen Jugendlichen


auf ihren Streifzügen durch den subkulturellen Dschungel deutscher
Großstädte. Was sie dabei erlebten, kam ihnen nicht selten fremder und
exotischer vor als alles, was sie früher bei ihren Reisen in entfernteste
Regionen der Erde gesehen, gehört und gefühlt haben ...
„Fotografen und Autoren haben sich in die Tiefen der Stammeskulturen
begeben, in die der Rockabillies & Psychobillies, der Skinheads, der Punks,
der Gothics, der Heavy-Metal-Fans, der HipHopper und der Techno-Raver.“
Lothar Mikos in Medien praktisch. Zeitschrift für Medienpädagogik
„Mit Artificial Tribes ist Klaus Farin und Hendrik Neubauer ein kleines
Meisterwerk gelungen, das Einblick & Orientierung in die Szene gibt.“
COCKTAIL 3/02

In jeder guten Buchhandlung oder unter www.jugendkulturen.de


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Besessene Zeilenschinder

TEXT: THOR WANZEK


FOTOS: ???

Fanzine-Macher im Metal-Underground

„Was würdest Du machen, wenn Du eine Woche lang mit ei- Nachdem ich im Sommer 2007 per E-Mail eine Anfrage an
ner frigiden Gießkanne schlafen müsstest?“ – Eine solche In- Fanzine-Herausgeber und –Schreiber im deutschsprachigen
terviewfrage findet man selten an Musiker gerichtet, vor allem Raum gerichtet und kurz darauf zahlreiche enthusiastische
wenn man eine zumindest um den Anschein von Seriosität Gesprächspartner gefunden hatte, machte ich mich gemein-
bemühte Publikation liest. Daher stutzte ich bei der neugieri- sam mit ihnen auf die Suche nach Antworten auf die obigen
gen Lektüre des Kult, einem der ersten Fanzines, welches ich Fragen. Aus den Gesprächen lassen sich nicht nur Experten-
vor rund fünfzehn Jahren in den Händen hielt und das auf Perspektiven auf eine vielschichtige Musikszene zwischen
Thrash und Death Metal, zwei härtere Spielarten des Heavy kommerzieller Professionalisierung und idealistischem En-
Metal, spezialisiert war. Bis dato kannte ich den Metal Ham- gagement ableiten, sondern wir erhalten die Chance, in den
mer und das Rock Hard, die auch heute noch die Metal-Szene Fanzines vergleichsweise wenig verzerrte Spiegelbilder von
als auflagenstärkste Magazine monatlich mit Informationen spezifischen Teilgebieten der, selbst für Insider, unüberschau-
versorgen und dem Musikhörer die Identifizierung mit Metal bar gewordenen Metal-Sub-Szenen zu erkennen. Wenn wir
als Fan nicht nur ermöglichen, sondern geradezu nahelegen. ein Metal-Fanzine lesen, werden wir in der Regel von einem
Dennoch handelt es sich nicht um Fanzines, wie das Kult eines langjährigen Fan an die Hand genommen, der seine Meinung
war und von denen es bis heute zahlreiche gibt, in Inhalt und frei von der Leber schreibt.
Publikationsform so verschieden wie individuell. Doch was ist „Das macht für mich ein Fanzine aus“, erklärt Florian
das eigentlich genau – ein Fanzine? Was zeichnet ein Fanzine Dammasch, ehemaliger Herausgeber des Print-Fanzines Ma-
aus, gerade angesichts des mittlerweile großen Angebots an gacinum Ab Ovo, heute Chefredakteur des Online-Fanzines
Online-Magazinen? Handelt es sich bei diesen etwa auch um Metal.de:
Fanzines? Und was treibt Menschen eigentlich dazu, neben et-
lichen Verpflichtungen einen enormen Teil ihrer Freizeit und „Bei einem Fanzine schreiben Fans über die Musik, die sie selbst
ihres Geldes in ein eigenes Magazin zu investieren, obwohl es geil finden, für andere Fans.“
doch gerade im Metal-Sektor bereits so viele gibt?

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Diese Definition eines Fanzines werden wir im Folgenden te wie das Sin Is There, ein in Handarbeit kopiertes Din-A5-
um einige Aspekte vertiefen, allerdings nicht ohne auf Wider- Heftchen, auf dessen Umschlag Bandlogos und archetypische
sprüche zu stoßen. Denn wenngleich der Heavy Metal seinen Metal-Kreaturen noch handgemalt sind und welches auch
Ruf als Trutzburg zahlreicher konservativer Klischees eben- inhaltlich quasi den Urtypus eines Metal-Fanzines verkör-
so muskelprotzend wie lautstark verteidigt, erheben sich im pert; am anderen Ende des Spektrums lädt uns das Team der
Untergrund immer wieder Bataillone, die sich um wie auch aufwändig programmierten und postmodern designten Onli-
immer etablierte Stilgrenzen, Stereotype und den selten hin- ne-Plattform avantgarde-metal.com zur Lektüre ein – voraus-
terfragten common sense professioneller Metal-Magazine gesetzt wir zählen uns zu den „weirdos and freaks, scientists
wenig kümmern oder die daraus resultierenden Ordnungen and philosophers, libertines and mavericks of metal music“,
mit so unterschiedlichen Waffen wie bitterbösem Ernst oder die ausdrücklich angesprochen und als Leser gesucht werden.
alles entwaffnendem Humor anfechten. Zudem stoßen wir bei Tauchen wir also ein in die Welt jener vom Metal besessener
den heutigen Metal-Fanzines auf so unterschiedliche Forma- Schreiberlinge und ihrer mitunter verrückten Kreationen!

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Am Anfang steht … die Musikbegeisterung „Ursprünglich war’s ja gar nicht als Metal-Fanzine geplant, aber
der olle Headbanger drückte halt schon bei Ausgabe 3 durch.
Wir beginnen unsere Reise durch diese abenteuerliche Welt Für mich als Metal-Fan bedeutet unser Fanzine wohl eher, we-
beim schon erwähnten Sin Is There, einem Fanzine, von dem niger Kohle für Metal-Platten zu haben, andererseits aber auch
bislang 27 Ausgaben erschienen sind. Hergestellt, das heißt die Möglichkeit, Position zu beziehen, was derzeitige Trends und
geschrieben, illustriert und in Handarbeit zusammengebas- meine persönliche Auffassung von Metal betrifft. Für mich ist
telt wird es von Maik Godau und „Tsunami“, zwei Fans, die Metal eine Lebenseinstellung, so bescheuert das für Normalos
sich der Metal-Musik mit Leib und Seele verschrieben haben auch klingen mag …“
– daran lassen sie in ihrem Heft keinen Zweifel. Doch es geht Seit zwölf Jahren bastelt auf vergleichbare Weise Ralf Hauber
nicht nur um Metal als Musik, sondern um mehr. So erläutert das Mystical Music zusammen, zunächst gemeinsam mit ei-
Maik Godau: nem Freund, später dann auf sich allein gestellt. Die derzeit
aktuelle elfte Ausgabe erschien (kopiert, im Din-A4-Format)
im Verbund mit dem Carnage. Beide Fanzines eint eine lei-
denschaftliche Hingabe an den Death Metal, vor allem in der
eher traditionellen Ausrichtung. Daran lässt bereits das Cover
des Mystical Music keine Zweifel aufkommen: Ein mit einer
Sense bewehrtes Skelett grinst dem Leser vor einer Pforte (zur
Hölle?) entgegen, auf welcher die Worte „Death Shall Rise“
prangen; älteren Fans mag das gleichnamige Album der Band
Cancer in den Sinn kommen. Die Illustration wurde von Chris
Moyen angefertigt, einem in der ursprünglich orientierten
Death-Metal-Szene weltweit verehrten Künstler.

„Als wir 1995 angefangen haben, hatten wir ein tieferes Interes-
se, in der Szene Kontakte zu knüpfen und aktiv zu werden. Wir
wollten Musiker unterstützen und uns mehr engagieren als der
normale Konsument. Bei der ersten Ausgabe haben wir allein
unzählige Stunden damit zugebracht, sie zusammen zu tackern.
Da waren wir aber gerade auch erst so 15, 16 Jahre alt und hat-
ten noch mehr Zeit.“, erzählt Ralf Hauber.

An der Motivation hat sich seitdem wenig geändert:

„Bei mir ist es ein Hobby, das ich schon lange, aber immer noch
mit Herzblut betreibe. Mich fasziniert es immer wieder, neue
Bands, die mir ans Herz wachsen, mit meinem Heft, soweit es
mir möglich ist, zu unterstützen.“

Wie sich die Motive im Laufe der Zeit aber auch ändern kön-
nen, beschreibt der Herausgeber des Print-Fanzines Nebel-
mond, Tom Hellers:

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„Den Wunsch [ein Fanzine zu machen] hegte ich schon, seit ich „Ein gutes Fanzine hat einen eigenen Stil, vertritt eine klare ei-
zum ersten Mal ein solches Zine in den Händen hielt. Ausschlag- gene Aussage und weicht auch im Layout von den Standard-
gebend war damals ganz klar, ein aktiver Teil des Metal-Under- Publikationen ab. Die Fragestellungen gehen tiefer und betreffen
grounds zu werden. Da ich selbst absolut unmusikalisch bin, war nicht nur das aktuelle Album.“ (Ralf Hauber)
dies die perfekte Möglichkeit, kreativ zu werden. Das Ziel war,
musikverrückte Menschen zu erreichen und diese Leidenschaft „Die Berechtigung von Fanzines sehe ich vor allem darin, dass Ei-
mit ihnen zu teilen. Mittlerweile […] versuche ich eher, ausge- genheiten von Kioskmagazinen wie etwa dümmliche und nichts
wählte ‚Schätze‘ einer interessierten Minderheit vorzustellen, sagende Bandfotos oder Interviewfragen nach Besetzungswech-
sowie immer mehr den engen Rahmen der Metal-Szene, ja der seln und dergleichen (…) umgangen werden können. Es können
Musik im Allgemeinen, hinter mir zu lassen und eine begrenzte, auch inhaltlich ganz andere Genre-Mischungen gewagt werden,
aber ehrlich interessierte Leserschaft für mich zu gewinnen.“ wie man sie ebenfalls nicht in großen Musik-Magazinen findet.“
(Jan Leichsenring, Rauhnacht-Fanzine)

Näher am Menschen hinter der Musik

In der langen Reihe der kopierten oder gedruckten Metal-


Fanzines stehen das Sin Is There und das Mystical Music exem-
plarisch für eine Kategorie von Fanzines, die sich durch ein im
Grunde nahezu sturköpfig antiquiertes Erscheinungsbild und
durch ein Format auszeichnen, welches für manche unabding-
bar mit dem Begriff „Fanzine“ verbunden ist.

„Ich würde sagen, dass ein Fanzine auf jeden Fall aus Papier be-
steht, so dass man es überall hin mitnehmen kann.“, so Volkmar
Weber, einst Herausgeber des Fanzines Cothurnus, mittlerwei-
le redaktioneller Mitarbeiter beim Rock Hard.
Diese Ansicht wird von tendenziell immer weniger Fan-
zine-Schreibern und Fans vertreten und markiert quasi den
Standpunkt eines „alten Haudegen“, der mit seinem eigenen
Fanzine Cothurnus in vielerlei Hinsicht für Aufregung im
Underground gesorgt, aber auch Maßstäbe gesetzt hat. Dem
zweiten Teil seiner Definition würden sicher erheblich mehr
Fanzine-Leser zustimmen:

„Ein Fanzine enthält nach Möglichkeit wenig bis keine Werbung


und Berichte, die es in dieser Form in großen Magazinen nicht
gibt, weil es sich auf den Underground und nicht auf den Main-
stream bezieht.“

Was aber macht ein gutes Fanzine aus? Die meisten Herausge-
ber sind sich einig:

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„[Ein gutes Fanzine bedeutet für mich] Ehrlichkeit, Leidenschaft, „Fanzines können im besten Fall die ästhetischen und inhaltli-
Ernsthaftigkeit, abwechslungsreiche und auch mal abgedrehte chen Ideengeber für die so genannte ‚Mainstream-Presse‘ sein.
Fragen, intensivste Beschäftigung mit dem Werk des Künstlers, Die geringen finanziellen Mittel sollten dabei eher Ansporn als
Berichte, die auch mal über den musikalischen Tellerrand hi- Hindernis sein. Wer sich vom kommerziellen Druck frei macht,
nausblicken. Gut bedeutet für mich persönlich nahezu immer, kann für Rezensionen, Reportagen, Kommentare und Inter-
sich vom traditionellen Bild der Metal-Szene mit seinen Sex, views eine freie und ungezwungene, eine unkonventionelle und
Drugs & Rock’n’Roll-Idealen zu distanzieren.“ (Tom Hellers) spannende Perspektive wählen.“

In der strikten Abgrenzung von zu oberflächlicher Schreibe Unkonventionelle Zugangsweisen zur Musik und zu den Ak-
erkennen andere Fanzine-Macher jedoch auch eine konkrete teuren dahinter gelten unter etlichen Fanzine-Machern somit
Gefahr: als kreative Mittel, den „großen“ Magazinen eine lange Nase
zu machen und eine Band oder ihre Musik näher, authenti-
„Das Lesen und Erstellen von Print-Fanzines ist seit circa fünf, scher und persönlicher zu präsentieren. Wem das besonders
sechs Jahren zu einer Nischen-Leidenschaft für wenige Enthu- gut gelingt, der findet sich einige Jahre später vielleicht unter
siasten und Nostalgiker geworden – somit könnte die Zukunft den Mitarbeitern eines professionellen Magazins wie zum Bei-
rosig aussehen, da nur ein kräftiger Nukleus an Interessierten spiel dem Rock Hard wieder. Volkmar Weber hat diese Lauf-
übrig blieb, andererseits düster, da man ganz unter sich bleibt bahn hinter sich, greift aber auch heute noch auf alte Fanzine-
und sich damit dem Problem der Verjüngung bzw. Auffrischung Tugenden zurück, wie er erklärt:
stellen müssen wird.“ (Loke, The Pagan Herald)
„Ich versuche, vieles beizubehalten, zum Beispiel mache ich es
Wiederum andere sehen in der gezielten Nischen-Orientie- bei Fragenkatalogen immer noch so, dass ich sie häufig eine Wo-
rung eine Möglichkeit, sich von eher „herkömmlichen“ Fan- che liegen lasse, bis ich dann noch mal drüber gucke und die
zines abzuheben: vermeintlich uninteressanten Fragen weglasse, weil mir die klas-
sischen Standard-Interviews immer noch nicht gefallen, auch
„Die meisten Fanzines unterscheiden sich nicht großartig von- wenn sie manchmal unvermeidbar sind. Mich hat immer schon
einander. Sie enthalten Interviews, Reviews, Konzertberichte eher das Persönliche am Menschen interessiert und nicht das
und so weiter, doch es ragen eher die heraus, die sich auf eine Alltägliche einer Band.“
bestimmte Art von Musik, also quasi eine Nische, spezialisieren.
Ob ein Fanzine gut ist, hängt sehr stark von den Schreibern ab:
wie gut ihr Draht zu den Bands ist, wie weit und tief sie sich mit Die Unabhängigkeit der Fanzines:
der Musik auseinander setzen und eben nicht nur Standardfra- nur eine Illusion?
gen stellen.“ (Christof Niederwieser, avantgarde-metal.com)
Fragt man Fanzine-Macher nach entscheidenden Vorteilen
In der finanziell vergleichsweise armseligen Ausgangspositi- gegenüber professionellen Magazinen, erhält man in der Regel
on der Fanzines gegenüber professionellen Metal-Magazinen einen Hinweis auf deren scheinbar weitreichende finanzielle,
möchte Marcel Tilger nicht zwangsweise einen Nachteil erken- zeitliche und persönliche Unabhängigkeit:
nen. Er selbst hat zwei Ausgaben des Print-Fanzines The Sunset
veröffentlicht, zählt zur Redaktion des Kiosk-Magazins Legacy, „Ich denke, Fanzines sind deshalb für die Szene wichtig, weil
engagiert sich aber darüber hinaus seit Jahren bei verschiede- ihre Herausgeber eine ehrliche Meinung vertreten und die Plat-
nen Fanzines und hat einen dementsprechend breit gefächer- tenfirmen als Werbepartner in der Regel nicht so tief in den
ten Ein- und Durchblick in die metallische Medienlandschaft: Fanzines drinstecken wie in den Kiosk-Magazinen. Ich würde

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behaupten, dass Fanzine-Herausgeber da unabhängiger sind.“


(Ralf Hauber)

„Fanzine-Macher müssen mit niemandem absprechen, was sie


veröffentlichen. Sie haben keinen Druck einer Deadline und kön-
nen sich, so lange sie wollen, mit etwas beschäftigen, während
man bei einem großen Magazin manchmal aus Zeitmangel be-
stimmte Dinge gar nicht recherchieren kann.“ (Volkmar Weber)

Doch ganz so unabhängig scheinen auch Fanzines nicht oder


nicht mehr zu sein – zumindest wenn man sich mit den heuti-
gen Methoden einiger „Zulieferer“ näher beschäftigt:

„Gerade in der letzten Zeit haben sich scheinbar viele Platten-


firmen und Promotion-Agenturen entschlossen, Fanzines ge-
genüber eine aggressivere Strategie zu fahren, bei der jedes nicht
termingerecht erscheinende Interview, jede nicht besprochene
Promo-CD und jede nicht verbreitete Neuigkeit mit Liebesentzug
bestraft wird. Auch Musiker sind – selbst wenn sie in Interviews
gern Gegenteiliges behaupten – tendenziell eher dazu bereit, mit
etablierten Magazinen zu sprechen.“ (Marcel Tilger)

Avantgardistisch, heidnisch, verrückt


oder einfach nur „old school as fuck“!

An kultigen Namen für Fanzines hat es nie gemangelt: Zwar


sind Print-Fanzines wie Troubadix, Pater Noster oder Legi-
on der Verdammten von der Bildfläche verschwunden, dafür jene Bands zu Wort, die abseits ausgetretener Pfade ihr Glück
kracht es heute online in der Rumpelkammer, es kommt im In- suchten, und im Polarlicht präsentierte Herausgeberin Clau-
ternet zur Lärmbelästigung
Lärmbelästigung, und das Chaos reflektiert selbiges dia Striewe eigenwillige Black-Metal-Bands neben Künstlern
im Death-Metal-Underground bereits zum vierzehnten Mal aus den verschiedensten Genres. Wer sich entsprechend viel
in aufwändig gedruckter und liebevoll gestalteter Form. Häu- Zeit nimmt, kann bei einer breiten Auswahl von Fanzines aus
fig lässt sich die inhaltliche Orientierung und der persönliche dem erweiterten Metal-Umfeld problemlos Themensprün-
Charakter eines Fanzines bereits vom Namen ableiten: Im Un- ge vollziehen, die so manches Weltbild auf den Kopf stellen
derground Empire, ehemals print, heute online, wird in einem dürften, denn häufig geht es um mehr als nur um Metal und
schweren Anflug von Größenwahn und Entdeckerfreude ein Musik. Schlagen wir zum Beispiel die letzte Ausgabe des Po-
mehr als nur metallischer Underground unter die Lupe genom- larlicht mit dem Untertitel „Versammlung am Kaminfeuer“
men, im legendären Voices From The Darkside, ebenfalls ehe- auf, so stoßen wir zunächst auf einen ausführlichen Reisebe-
mals print, heute online, liegt der Schwerpunkt auf Death Me- richt, der uns auf die Hebriden führt und uns die Einzigartig-
tal, Black Metal und Artverwandtem, im Nonkonform kamen keit der dortigen Landschaften näher zu bringen sucht. Artikel

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und geschriebene Geschichten eingebaut wurden – ein Kon-


zept, welches sich offenbar in den eher an Aktualität orientier-
ten Medienangeboten der Gegenwart, seien sie nun professi-
onell oder von Fans betrieben, kaum mehr anbietet. Auffällig
ist hingegen insbesondere im Death-Metal-Underground ein
stolz vollzogener Kurs wider „moderne“ Klänge: „Old school
as fuck“ ist ein Bekenntnis zu rohen Klangmustern, die sich
seit rund zwei Jahrzehnten nicht zu weit von den viel be-
schworenen Wurzeln entfernt haben.

Politik in Fanzines: keine erhobenen Zeigefinger

Im Sommer 1999 führt der ostpreußische Plastikvogel Wjat-


cheslav Müller mit einem schwedischen Gartenbuch, einem
japanischen Kampfwurm und einigen weiteren seltsamen
Gestalten ein Streitgespräch über arischen Black Metal. Ein-
zur abendländischen Magie, zu Hieronymus Bosch und Jack geladen hat „Sindri“ (alias Volkmar Weber), Herausgeber und
London spiegeln ein Interessenspektrum, welches nicht nur hauptverantwortlicher Schreiber beim Cothurnus, dem sei-
Anknüpfungspunkte an Metal, sondern generell an „dunkle“ nerzeit berüchtigtsten deutschen Fanzine für extremen Metal.
und intensive Musik aufweist. Eine Unterredung mit Paysage Die groteske Diskussion, abgedruckt in der „Love Peace Har-
d’Hiver bildet den offensichtlichen Metal-Schwerpunkt dieser mony“-Ausgabe des Cothurnus, ist eine persönliche Reaktion
Ausgabe, doch steht außer Frage, dass Metal in diesem Zu- des Fanzine-Machers auf die Verbindung von Black Metal und
sammenhang nicht als Musik, quasi „nur zur Unterhaltung“, extrem rechter Ideologie, doch sie ist mehr als nur persönlich:
verstanden wird, sondern eher ästhetischer oder gar spiritu- Sie trieft vor hinterhältig bösem Humor und spiegelt die offen-
ell aufgeladener Bestandteil einer eigenen Weltwahrnehmung sichtliche Absurdität der Verbindung von Metal-Musik und
und eines Lebensstils ist. Auch in der zweiten Ausgabe des extrem rechter Ideologie.
Pagan Herald finden wir Artikel, die ähnliche inhaltliche An-
knüpfungspunkte an Themenfelder bieten, welche im heuer „Es war eigentlich nie so humorvoll gemeint, sondern es ging
populären und sich vielschichtig verzweigenden Pagan Metal uns eigentlich darum, dass die Leute mal nachdenken. Ich denke
zum Einmaleins zu gehören scheinen – nur dass sie äußerst halt, dass es nicht immer der erhobene Zeigefinger sein muss.“,
selten so ausführlich und auch kritisch behandelt werden so Volkmar Weber.
wie eben hier. Doch nicht nur (Neu-)Heidentum ist ein sehr
präsentes Thema in Metal-Fanzines. Im Sin Is There gehören Damit spricht der heute für das Rock Hard schreibende Musik-
kirchenkritische bis radikal antichristliche Artikel zum festen journalist offenbar den meisten Fanzine-Machern aus der See-
Inventar, und in der Erstausgabe des gedruckten Hammer- le: Nirgendwo sonst wurde die Kombination von Black Metal
heart nimmt sich der Herausgeber auffallend viel Zeit, um mit und extrem rechten Ideen so früh erkannt, kritisiert und kon-
einigen Musikern die geschichtlich-kulturellen Hintergründe terkariert wie in zahlreichen Fanzines, deren Herausgeber und
ihrer Werke zu diskutieren. Phantasievoll versponnen und Schreiber sich häufig einen Teufel um Zurückhaltung scheren,
älteren Lesern in bester Erinnerung ist das kopierte Fanzine wenn es ihrem heiß und innig geliebten Metal an den Kragen
Emerald, in welchem einige Interviews in kreativ illustrierte geht. In der Ausführung hoch individuell, steht das Cothurnus

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dennoch prototypisch für eine – wenn auch aus ärgerlichen


Gründen zwangsweise – politisch interessierte Einstellung. Da
Fanzine-Macher gezwungen sind, sich zu überlegen, welchen
Mailorder-Firmen sie ihr Heft zum Verkauf anbieten, wessen
Anzeigen sie abdrucken und wessen Musik sie besprechen, ge-
lingt es dem Gros der Schreiber offenbar nicht, extrem rechte
Inhalte zu ignorieren und sich nur auf die Musik zu konzen-
trieren. Zumindest für einige stellt sich die Frage der Verant-
wortung, die anders empfunden wird als in der Rolle des eher
passiven Konsumenten und Hörers.
Zwar gibt es auch eine Reihe von Fanzines, die gezielt ge-
nau jenen extrem rechten Black Metal zu fördern versuchen,
doch scheint es, als ob – von wenigen Ausnahmen abgesehen
– kaum eines mehr als eine Handvoll Ausgaben veröffentlicht.

Fanzines im digitalen Zeitalter:


Schnelligkeit ist nicht alles. „Ich glaube, dass sich heute vieles auf einer anderen Ebene ab-
spielt als damals bei den [Print-] Fanzines. Die jungen Kids, die
Nicht entgangen ist uns die häufige Bemerkung „ehemals sich heute total für Musik begeistern, die erstellen eher einen
print, heute online“, die einen allgemeinen Trend unter den Weblog oder basteln ein Online-Magazin, weil das eher dem
Metal-Fanzines markiert, gleichwohl es immer noch eine gan- Zeitgeist entspricht. Wenn heute ein Dreißigjähriger ein Fanzine
ze Reihe von jungen Print-Fanzines gibt, die auch noch dieser macht, dann aus Nostalgie, weil er es noch von früher so kennt.
Tage mit einer Erstausgabe starten, obwohl sich die Bedingun- Doch wer klappert heute noch Plattenfirmen mit der Bitte nach
gen enorm verschlechtert haben. Anzeigen ab, um einen Teil der Druckkosten abzudecken, wenn
man doch gleich online loslegen und z. B. bei Myspace Newslet-
„Es hat sich in den letzten Jahren herausgestellt, dass es immer ter an ganz viele Leute verschicken kann? Das gute, alte Fanzine
schwieriger wird, Hefte zu verkaufen, denn die neue Generation wird nicht völlig wegsterben, aber es hat einfach nicht mehr die
von Metal-Fans informiert sich eher im Internet. In Deutsch- Macht wie früher.“ (Volkmar Weber)
land nimmt die Zahl der Fans und Freaks, die noch Fanzines
lesen, immer mehr ab. Frustrierend ist es auf Konzerten, wenn Dass ein Online-Fanzine in seiner Erstellung und Organisati-
die Leute lieber noch ein Bier kaufen als ein Heft. Heute kom- on allerdings auch aufwändiger betrieben werden kann als in
men noch hohe Portokosten hinzu, die es erschweren, das Heft simplem Weblog-Stil, erklärt Christof Niederwieser, der mit
zu vertreiben.“ (Ralf Hauber) einigen Gleichgesinnten das Portal avantgarde-metal.com ins
Leben rief – und erst dann erkannte, wie viel Arbeit er sich
„Ich denke, es gibt im digitalen Zeitalter auch bei den Fanzi- aufgehalst hatte:
nes eine ganz natürliche Entwicklung in Richtung des Internets,
welches immer günstiger und praktischer geworden ist. Heu- „Die reine Vorbereitung und Organisation des Magazins hat ein
te starten die meisten Fanzines gleich online, und ich kenne halbes Jahr in Anspruch genommen. Wir haben ein Konzept ent-
nur wenige Fälle, wo neue Print-Fanzines gegründet wurden.“ wickelt und diskutiert, welche Bands wir überhaupt präsentieren
(Florian Dammasch) wollen. Uns ist klar, dass es viele interessante Bands gibt, aber

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damit unser Angebot nicht ausufert, haben wir festgelegt, dass durch ihre Mitarbeit bei metal.de davon erfahren haben, dass es
wir uns auf experimentelle Bands mit Metal-Anteilen beschrän- einen Job gibt und anders herum Firmen auf bestimmte Leute
ken. Auch das Logo und das Layout haben viel Zeit gekostet, aufmerksam geworden sind, weil sie bei einem Fanzine schrei-
vor allem aber die Programmierung des Content Management ben. Als Fanzine-Schreiber hat man etwas vorzuweisen: Man
Systems, mit dem jeder Redakteur seine Beiträge selbst online kann wahrscheinlich ganz gut mit Leuten umgehen und auch
stellen kann. So muss nicht jeder erst mit der Redaktion Rück- ganz locker mit Bands reden, wo andere nervös würden. Für
sprache halten und mir seine Artikel schicken, sondern kann Promotion oder andere Label-Tätigkeiten bist du wahrschein-
diese selbst gestalten und veröffentlichen.“ lich besser vorbereitet, als wenn du ohne solche Erfahrungen nur
mit Studium oder Ausbildung einen solchen Job beginnen wür-
dest.“ (Florian Dammasch)
Vom Hobby zum Beruf:
erst wider, dann für das Establishment? „Wenn man zur richtigen Zeit am richtigen Ort ist und dann
auch noch Kontakt zu den richtigen Leuten hat, kann man wohl
Diese Art der Organisation und Präsentation wirkt nicht nur schon im Business landen. Allerdings glaube ich, dass man,
im Gegensatz zu kopierten, kleinformatigen Fanzines hyper- wenn man einmal richtig drin ist, das Feeling verliert, wie man
modern und professionell, sondern spiegelt eine Einsatzbe- es noch als Fanzine-Schreiber hat.“ (Ralf Hauber)
reitschaft und Kreativität, die an anderer Stelle immer wieder
gebraucht wird. Fanzine-Schreiber, seien es Jungspunde oder
alte Hasen, zeichnen sich durch ein gutes Gespür für inte- Kraftvolle Worte von Idealisten für Freigeister?
ressante Newcomer und authentische Bands aus, die durch
ihre Integrität – das ist im Metal wichtig – vielleicht mal zu Dass Metal-Fanzines für gewöhnlich alles andere sind als see-
den „Kult-Bands“ aufsteigen könnten. Wie schätzen ehema- lenlose Werbeblättchen am verlängerten Arm der Musikin-
lige und aktive Fanzine-Macher die Chancen ein, durch das dustrie, sollte an dieser Stelle klar geworden sein. Dass ihre
Engagement mit dem Fanzine einen Job im Musikgeschäft Erstellung, ihre Organisation und ihr Vertrieb nicht zwischen
zu ergattern? Tür und Angel abgewickelt werden können, sondern häufig
enorme zeitliche, zuweilen auch, zumindest in Anbetracht
„Ziemlich gut. Wer ein Fanzine macht und nicht nur Schaum- der Lebensverhältnisse der Macher, relativ große finanzielle
schläger ist, der sollte zumindest den ihn interessierenden Teil Ressourcen in Anspruch nehmen, steht ebenso außer Fra-
des Marktes weitgehend erforscht haben und sich da auch rela- ge. Somit lässt sich konstatieren, dass Fanzine-Macher und
tiv sicher in Stilrichtungen und Bands bewegen können. Wenn -Schreiber häufig auf einem ebenso Kräfte zehrenden wie frei
man jahrelang für ein Fanzine geschrieben hat und ein Demo setzenden Ego-Trip sind, mit dem sie sich selbst und ihren
auf den Tisch bekommt, kann man schon gut einordnen, ob das Lesern individuelle Perspektiven eröffnen. Oder wie erleben
nun mittelmäßig, schlecht oder sensationell ist. Ich glaube, dass Fanzine-Macher ihre Kollegen?
sich also gerade der A&R-Bereich und die Marktanalyse für ei-
nen Quereinstieg anbieten. Und wer ins Musikgeschäft einstei- „Für die Metal-Szene gesprochen, sind das extreme Musik-
gen will, dem kann eine solche Vorarbeit sicher nicht schaden.“ Freaks; einfach die Fans, die mehr wissen wollen und richtig
(Volkmar Weber) in den Underground reingehen. Die Beweggründe hinter den
Fanzines sind bei vielen ähnlich, und generell gibt es eine sehr
„Ich denke, die Chancen sind eigentlich ganz gut. Es hängt nicht positive Zusammenarbeit unter den Fanzine-Machern. Das gilt
unbedingt davon ab, wie viele Leute du kennst, sondern eher, auch für die Unterstützung von Online-Magazinen, die häufig
was du drauf hast. Ich kenne jedoch Beispiele, wo Menschen nur von Leuten gemacht werden, die früher selbst Print-Fanzines

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hatten. Wer ein Fanzine macht, muss ein Idealist sein, um es obwohl letztere eigentlich einen repräsentativeren Querschnitt
durchzuziehen.“ (Ralf Hauber) der Bevölkerung darstellen sollten. Außerdem möchte ich das
alte Klischee vom saufenden, halbdebilen Knallkopp, der sich
„Die Leute, die Fanzines machen, haben meistens eine total mit grässlichem Lärm die Ohren zudröhnt, und nicht mal seinen
kraftvolle Art zu schreiben, hinter der man sich einen vier mal Namen richtig buchstabieren kann, vehement bekämpfen.“
acht Meter großen Menschen vorstellt. Wenn man diese Leute
dann trifft, wirken sie häufig – ich will jetzt nicht unscheinbar Somit bliebe noch die Frage offen, wer sich eigentlich die
sagen – aber wesentlich kleiner als das geschriebene Wort von Mühe macht, Metal-Fanzines zu bestellen und zu lesen? Zwei
ihnen. Ich schließe mich da selbst gerne ein, denn ich habe es von Antworten dazu von Fanzine-Machern:
ganz vielen Leuten selbst gehört. Es sind eher ruhige Leute, mit
denen man sich ganz normal unterhalten kann und die nicht „Vorwiegend Menschen, die bereits vor dem Internet-Zeital-
gleich mit 80 Bier auf dem Rücken durch die Gegend rennen ter Metal hörten. Oft Vinylhörer, Traditionalisten, Menschen,
– eher halt im positiven Sinne verkopft.“ (Volkmar Weber) die eher Bücher lesen als TV schauen, Idealisten, Träumer ...“
(Tom, Nebelmond)
Am Ende unserer kleinen Reise durch die Welt der Metal-
Fanzines treffen wir noch mal auf Maik Godau, den „Macher“ „Menschen, die mit offenem Herzen und beflügeltem Geist
vom Sin Is There, denn er verkörpert exemplarisch einige durch Welt und Leben schreiten und ein aufrichtiges Interesse
grundlegende Eigenschaften des besessenen Zeilenschinders: an Musik und den Menschen dahinter haben.“ (Loke)
In zahlreichen Artikeln mit einem vielschichtig kritischen bis
wütenden Tenor wider Vergnügungsgesellschaft, Kirche oder
Kommerz in der eigenen Szene nimmt er kein Blatt vor den Deutsche Print-Fanzines im Überblick:
Mund, und nicht trotz, sondern gerade aufgrund seiner per-
sönlichen Auseinandersetzung mit etlichen Themen inner- Wer nun genau wissen möchte, wie es um gedruckte Metal-
und außerhalb des Metal ist er in der Lage, über den sprich- Fanzines in Deutschland steht, der sollte sich flugs die zweite
wörtlichen Tellerrand zu schauen: Ausgabe des Hammerheart besorgen. Herausgeber Christian
Metzner hat über 30 Fanzine-Macher interviewt und präsen-
„Ich habe meine eigene Meinung zu bestimmten Vorgängen, tiert deren Hefte in einem bis dato beispiellosen Überblick,
und diese möchte ich kundtun, egal, ob sie jemandem passt, der mit seiner Vielzahl von O-Tönen vor allem eines deutlich
oder ob ich vielleicht ‚politically incorrect‘ bin. Außerdem, naja, macht: Metal-Fanzines und die Menschen dahinter lassen
ich denke, heutzutage ist die Mainstream-Kultur recht armse- sich kaum in eine Schublade zwängen – wohl ein wesentli-
lig geworden, armseliger noch als zu meinen Jugendzeiten. Ich cher Grund, warum es selbst für manch langjährigen Leser
will jetzt nicht behaupten, dass Metaller intelligenter sind als spannender ist, immer wieder neue obskure Lektüren aufzu-
Normalos, Popper oder Spießer, da gibt es auch einen ganzen stöbern, als sich mit dem von der Musikindustrie verseuchten
Haufen Dumpfbacken in dieser unserer Szene. Aber die Konfor- Lesefutter der Kioskmagazine abspeisen zu lassen.
mitätsverweigerung, die sich im Tragen von Chains and Leather,
Kutte, Bulletbelt und Nieten zeigt, ist oftmals schon ein guter Print-Fanzines (eine Auswahl):
Ansatz, aus allen bürgerlichen Normen auszubrechen. Zu die-
sen Normen zähle ich auch die Dummheit der breiten Masse, Abditus Vultus, www.abditus-vultus.com
die ihre Bildung aus BILD und TV zusammenbastelt. Ich habe Carnage, www.carnage-zine.de.vu
auch gemerkt, dass man mit Metal-Fans oftmals tiefer gehen- Chaos, www.chaosmagazine.de
de Gespräche führen kann als z. B. mit meinen Arbeitskollegen, German Underground Crossection, www.guc-area.de

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


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Hammerheart, www.myspace.com/hammerheartzine Internet-Fanzines & -Portale (eine Auswahl):


Mystical Music, www.mystical-music.de
Nebelmond, nebel-mond@gmx.net www.avantgarde-metal.com
Rauhnacht, www.myspace.com/rauhnacht www.metal.de
Sin Is There, GrotGlory@aol.com www.metalmessage.de
The Pagan Herald, www.myspace.com/paganherald www.underground-empire.de
Twilight, www.twilight-magazin.de www.voicesfromthedarkside.de

Wenske / Hyde:
SCHEISS DRAUF!
Eine Rock‘n‘Roll-Bio in Bildern, ein Leben gegen den Strich!
2003, 276 Seiten, 400 Abbildungen, 22 Euro
ISBN 978-3-940213-18-1

19 Jahre lang lebte Helmut Wenske zwei Stockwerke über einem drittklassigen
Puff im Hanauer Rotlichtbezirk. 9 Jahre stand er unter Mordverdacht. Helmut
Wenske hat Einiges zu erzählen. Nun hat er mit „Scheiss drauf“ eine lebhafte Au-
tobiografie geschrieben, die uns an die Stationen seines bewegten Lebens vom
stadtbekannten Rock‘n‘Roller und Halbstarken zum Kulissenmaler für Striptease-
Shows, vom Pornobuchillustrator zum Coverdesigner von Schallplatten und
Deutschlands bekanntestem Undergroundmaler in den psychedelischen 70ern
führt. In den 90ern rockte er als „Special Guest“ am Mikro mit den Barracudas,
G.U.L.P., Party Busters, Rollsplitt und Tequila Flight über die Bühne. Auch diese
legendären Auftritte sind in der reich bebilderten Rock‘n‘Roll-Bio dokumentiert.

Chris Hyde:
ROCK’N’ROLL TRIPPER
2003, 168 Seiten inklusive 24 Fotoseiten, 18 Euro
ISBN 978-3-940213-17-4

„Keith Richards würde mit ihm auf Tournee gehen. Er hat mit Worten
das gemacht, was Keith auf der Gitarre anstellt: Literatur als Riffs.
Es gibt nichts Authentischeres und nichts besser Geschriebenes.
Dabei auch noch witzig wie Bukowski auf Äppelwoi, der gerade
mit den Hell‘s Angels ein Drehbuch für Klaus Kinski schreibt.“
Martin Compart
„Das Authentischste, was ich bisher über diese Zeit gelesen habe.“
Ulcus Molle Info

In jeder guten Buchhandlung oder unter www.jugendkulturen.de


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Im Copyshop mit ... Andi und Christian

TEXT: ANDI KUTTNER & CHRISTIAN SCHMIDT


FOTOS: CHRISTIAN KARSCHNIK

Transparenz – ein Begriff, der heutzutage in aller Munde ist.


Von Management-Ratgebern, über Talkshows bis hin zu den
Kummerkasten-Rubriken der Illustrierten. Der offenbarende
Blick des Publikums hinter die Kulissen scheint heute notwen-
dig, um die Komplexität der Welt überhaupt noch fassen zu
können. Diesem Trend wollen wir im Archiv der Jugendkul-
turen natürlich nicht im Weg stehen. Statt wieder einmal ein
Projekt aus der schönen weiten Fanzine-Welt vorzustellen, das
außerhalb unserer Mauern beheimatet ist, dachten wir dies-
mal: Warum der geneigten Leserschaft eigentlich nicht mal
unsere Arbeit nahe bringen. Und so bieten wir diesmal – ganz
im Sinne der Transparenz – einen ungeschönten und authen-
tischen Blick hinter die Kulissen der Fanzine-Archivar-Arbeit.
Im Copyshop stehen deshalb in dieser Ausgabe des Journals
wir selbst, das heißt Andi und Christian. In bester „Sendung
mit der Maus“-Tradition werden wir euch heute erklären, wel-
chen langen Weg jene Fanzines zurück legen, die tatsächlich in
unseren Beständen landen ... der mit seiner 80er-Jahre-Fanzine-Sammlung nicht zum x-
ten Mal umziehen möchte. Oder die Promo-Agentur, die für
uns brav die Belegexemplare internationaler Musik-Zines
1. Das Telefonat gesammelt hat. Oder einfach jemanden, der seine Science-
Fiction-Fanzines los werden möchte. Sie alle finden bei Klaus
Alles beginnt meist mit einem Anruf bei Klaus Farin. Die Per- Farin ein offenes Ohr, der auf ihre Frage, ob denn das Archiv
sonen am anderen Ende der Leitung sind so unterschiedlich möglicherweise Interesse an ihren Druckerzeugnissen haben
wie die Szenen, die die kleinen Underground-Heftchen her- könnte, grundsätzlich mit „Nur her damit! Wir sammeln al-
vorbringen. Da gibt es den in die Jahre gekommenen Punk, les! Wegschmeißen können wir’s ja immer noch!“ antwortet.

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


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2. Die Anlieferung

Es folgt schließlich die Anlieferung der Hefte. Ob als Postpa-


ket, mit der Spedition oder per Selbst-Abholung durch Chris-
tian Karschnik, unserem „Mädchen für alles“. Hin und wieder
werden Zines sogar per Mitfahrgelegenheit nach Berlin ver-
frachtet. Uns ist quasi jedes Mittel recht! Während Klaus Farin
in seinem Büro bereits der nächsten potenziellen Anlieferung
grünes Licht erteilt, schuften sich Christian und Andi damit
ab, die Kisten mit Bergen an Papier in den Vorsortierraum
im hintersten Winkel des Lagers zu schleppen. So mancher
Hexenschuss fand hier schon seine Ursache. Nach über fünf
Jahren hat dieser Knochenjob bei den beiden Fanzine-Archi-
varen Spuren hinterlassen. Praktikanten, denen diese Arbeit
zugewiesen wurde, schmissen meist nach wenigen Tagen das
Handtuch oder zeigten Christian und Andi dreist den Vogel.

3. Die Sichtung

Nachdem die Kisten in den Vorsortierraum gewuchtet wur-


den, ruhen sie meist einige Wochen oder gar Monate in den
entsprechenden Regalen. Christian und Andi sind oft so sehr
mit anderen Dingen beschäftigt, dass sie keine Zeit finden, sich
dem angelieferten Haufen Papier in dem fensterlosen Raum,
der im Archiv-Jargon auch als „Gruft“ bezeichnet wird, sofort
zu widmen. Und so wächst die Anzahl der Kartons immer
wieder bedrohlich an. So bedrohlich, dass die Fanzine-Archi-
vare bisweilen am Rande des Nervenzusammenbruchs stehen
und blanke Verzweiflung in ihr Gesicht geschrieben steht. Da-
bei ist die Sichtung der Kartons einer der spannendsten Mo-
mente in der ganzen Fanzine-Archiv-Arbeit. Das hat immer
was von Geschenkpapier aufreißen. Wenn man die Kartons
aufschneidet, weiß man nie, was einen erwartet. Mal findet
man ein rares Punk-Zine aus den 1970er-Jahren, mal ein ver-
gilbtes und kaum noch lesbares Science-Fiction-Journal aus Sex-Hefte, Telefonrechnungen, Liebesbriefe, Müll, Einkaufs-
den 1950er-Jahren, ein aufwändig aufgemachtes Ego-Zine mit zettel, vergammelte Butterbrote, Schuhe ... All das findet man
Stofftasche, Linoleumdruck und dazu gepacktem Gimmick, dort auch hin und wieder. Letzt genanntes wandert entweder
ein Dark-Wave-Magazin aus Indonesien, Neuseeland oder aus mit in die entsprechenden Bestände oder wird unverhohlen in
Rumänien oder sogar das eigene Fanzine, das man vor über den Altpapier-Container – die sogenannte „Lagerung: Blau“
zehn Jahren mal gemacht hat. Aber das ist noch nicht genug. – bzw. die Restmüll-Tonne verfrachtet.

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4. Die Vorsortierung Diskussionen unter uns Fanzine-Archivaren und hin und wie-
der sogar nur mit der zur Schlichtung herbeizitierten Biblio-
Nachdem der Müll ausgesiebt wurde, beginnt die Vorsortie- thekarin Antje Pfeffer gelöst werden können. Was sich der Ka-
rung der Hefte. Hier wird man sich der Heterogenität und tegorisierung komplett widersetzt, kommt schließlich in den
Vielfalt der Fanzine-Landschaft voll und ganz bewusst – im Schuber mit „Sonstiges“, der meist besonders schnell anwächst
positiven, wie im negativen Sinne. Im Idealfall sollen die Zines oder, im schlimmsten Falle, in den Ordner mit „?“, über dessen
nämlich in Schuber abgelegt werden, die der Aufteilung unse- Inhalt sich zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Gedan-
rer Bestände entsprechen. Also diejenigen Punk-Fanzines, die ken gemacht wird.
in der BRD erschienen sind, sollen in einen anderen Ordner
wandern als diejenigen, die aus Irland, der Schweiz oder Ös-
terreich stammen. Die kommerziellen Musikmagazine sollen 5. Die Prüfung
komplett aus dem Fanzine-Bereich wandern und in das Zeit-
schriften-Regal in der Bibliothek kommen etc. Doch in der Nehmen wir aber mal an, ein Fanzine konnte eindeutig einem
Realität sieht das oft ganz anders aus. Wo soll nur dieses Heft Genre zugeordnet werden. Der nächste Schritt wäre dann, zu
hin, dass die HipHop-Combo Anarchist Academy featured, prüfen, ob sich dieses Fanzine bereits in unseren Beständen
ein Interview mit der HC-Band Sick Of It All abgedruckt hat, befindet.
Artikel zur faktischen Abschaffung des Asylrechts enthält Im ersten Halbjahr 2003 finanzierte die Kulturstiftung des
und dessen Rest aus Comics ohne klaren thematischen Bezug Bundes ein Projekt zur Erfassung von Fanzines im Archiv.
besteht? Und wo zur Hölle soll das Split-Fanzine einsortiert In jenem Zeitraum wurden von mehreren MitarbeiterInnen
werden, das von einem Punk aus der Schweiz und einem an- unserer Einrichtung Hefte verschiedener Genres in unsere
deren aus der BRD gemacht wurde? Welcher Szene lässt sich extra erstellte Datenbank eingegeben. In der Zeit danach be-
jenes Magazin zuordnen, dass komplett auf kyrillisch verfasst schränkte sich die (meist ehrenamtliche) Arbeit vor allem auf
wurde? Und gehört die De:Bug jetzt noch zu den Techno- die Eingabe von Punk-Fanzines.
Fanzines oder nicht? Schon beim Vorsortieren treten also Das bedeutet, dass sich vorwiegend ebene jene Publika-
die ersten Probleme auf, die nur durch zähe und langatmige tionen in unserer Datenbank befinden. So kann die Prüfung,

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


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ob wir das betreffende, vorsortierte Fanzine bereits in unseren Seitenzahlen … Häufig nichts zu machen und nicht mit Si-
Beständen haben, für den Punk-Bereich über den Computer cherheit heraus zu kriegen. Das ist aber bei weitem nicht alles.
geschehen. Da gibt es seitenlange Artikel ohne Überschriften. Fanzines
Bei den meisten anderen Genres heißt es allerdings: Je- aus den 1980er- und frühen 1990er-Jahren enthalten zum Teil
des Mal zum Regal rennen und nachsehen, ob das Heft bereits noch handgeschriebene Artikel in geschwungenen Schriften,
existiert oder nicht. die natürlich nur schwer zu entziffern sind. Häufig sind auch
die Artikel in einem völlig verwirrenden Layout angeordnet.
Sie sehen: Wir haben es nicht leicht …
6. Die Eingabe Sobald eine Fanzine erschlossen ist, wird der Datensatz
ausgedruckt, und freundliche KollegInnen sind dann so nett,
Wenn festgestellt wurde, dass sich das Fanzine noch nicht im den Ausdruck auf Fehler durchzusehen. Erst wenn dieser
Bestand des Archivs befindet, muss es in die Datenbank ein- Check geschehen ist, wandert das Fanzine in den Bestand.
gegeben werden. Da sich Andi und Christian darauf geeinigt
haben, zunächst den Bereich der Punk-Hefte komplett zu er-
schließen, gilt das allerdings im Moment (zumindest auf ab- 7. Die Einsortierung
sehbare Zeit…) nur für diese Zines. Die Hefte anderer Genres
werden im Moment einfach in den Bestand eingeordnet. Die Einsortierung ist ein eher kurzer und unspektakulärer
Aber allein die Eingabe der Punk-Fanzines nach inhaltli- Vorgang. Das Fanzine wird idealerweise in eine Plastikfolie
chen und formalen Charakteristika gibt immer wieder genug gepackt und dann an passender Stelle in die vorhandenen
Anlass zu Nervenzusammenbrüchen. Diese kleinen Heft- Schuber eines Bestandes („Punk“, „Dark Wave“, „Skins“ etc.)
chen bieten uns Archivaren selbstredend nur in den seltens- eingeordnet. Diese Ordnung verläuft alphabetisch, dann nu-
ten Fällen gewisse Service-Standards. Was eigentlich auch merisch von links nach rechts. In Streitfragen ist Bibliotheka-
verständlich ist, schließlich werden Fanzines in erster Linie rin Antje eine zuverlässige Ansprechpartnerin. Eine beliebte
nicht gemacht, um irgendwann archiviert zu werden. Ein Frage ist zum Beispiel, an welcher Stelle ein Fanzine eingeord-
Inhaltsverzeichnis, Angaben, wann das Heft erschienen ist, net werden muss, das Abkürzungen enthält. Nimmt man das

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


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Beispiel: „A.D.S.W.“
„A.D.S.W.“, gehört das vor oder nach ein mit „Ados?“ Und die MitarbeiterInnen – so nett, aber so im Stress – da
betiteltes Heft? Aber derlei Probleme lassen sich glücklicher- stellt man die herausgenommenen Hefte doch am liebsten
weise recht schnell klären. gleich selbst wieder zurück.
So kommt es teils aus Schlamperei, teils aus der Verken-
nung unseres Einordnungsprinzips (alphabetisch von links
8. Die Nutzung nach rechts, nicht andersherum!) zu einer Unordnung in unse-
rem Bestand, die uns immer wieder aufs Neue zu überraschen
Im Grunde könnte alles ganz einfach sein. Wenn, ja, wenn da und zu beeindrucken weiß und weitere Anlässe für Nerven-
nicht die NutzerInnen wären. Sie sind die natürlichen Feinde zusammenbrüche bietet. Wie zur Hölle kommt das Trust nur
jedes Archivars. Der Nutzer an sich gehört nämlich zu jener zum Zap oder ein US-amerikanisches Zine zu den österreichi-
Gattung Mensch, die sich außerordentlich darüber freut, dass schen? Die häufig angedachten öffentlichen Auspeitschungen
unser Archiv Tausende von Fanzines bereit hält und diese von NutzerInnen sind bisher allerdings unterblieben.
auch der Öffentlichkeit zur Verfügung stellt (so viele Fanzi-
nes, wie keine andere uns bekannte Institution in Deutsch- So viel zu unserer kleinen Fanzine-Archivar-Nabelschau.
land übrigens – soviel Stolz am Rande). Ein Menschenschlag, Wir hoffen, wir konnten der geneigten Leserschaft unseren
der auch begeistert zur Kenntnis nimmt, dass unser Fanzi- Arbeitsalltag etwas transparenter und damit verständlicher
ne-Bestand teils völlig offen und unbewacht zugänglich ist. machen. Beim nächsten Mal warten wir mit einem weiteren
Und so schön sortiert, nach Alphabet, da greift man doch am Blick hinter die Archiv-Kulissen auf. Dann wird es darum ge-
besten gleich selbst zu. hen, wie man für die Datenbankerfassung die Schriftzüge von
Bands in Black Metal-Fanzines entziffert. Ein äußerst komple-
xes Thema. Sie dürfen gespannt sein!

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | Dezember 2008


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Bei dem hier beschriebenen Weg, den die Fanzines bis zur Eingliederung in unsere Bestände zurück legen, han-
delt es sich natürlich um den Idealfall, der nur bedingt den tatsächlichen Alltag im Archiv der Jugendkulturen
widerspiegelt. Verdeutlicht wird einem das immer wieder, wenn man in unseren Räumen auf ein biologisch
anmutendes Phänomen stößt, dass ForscherInnen auch als „Acervus Ferorum Manubriorum“ (Wilde Hefte-
haufen) oder gar als „Fungus Ferorum Manubriorum“ (Wilder Heftepilz) bezeichnen. Es handelt sich dabei um
kleine Ansammlungen von Fanzines und Magazinen, die aus meist unerklärlichen Gründen in dunklen Ecken
und Nischen des Archivs entstehen, wo sie zunächst von den Archivaren übersehen werden. Doch innerhalb
von Wochen, ja manchmal sogar schon innerhalb weniger Tage wuchern diese kleinen Stapel zu regelrechten
Haufen an, die von Christian und Andi mit Schrecken zur Kenntnis genommen werden. In ähnlicher Weise wie
Krebsgeschwüre streut dieses Myzel unkontrolliert Metastasen in den Räumen unserer Einrichtung. Wo tags
zuvor noch nichts zu sehen war, befindet sich plötzlich eine weitere Ansammlung mit noch mehr
Heften. Im Normalfall weiß zunächst niemand von uns, um was es sich bei diesen Fanzines han-
delt. Sie scheinen wie Pilze aus dem Boden geschossen zu sein. In kurzer Zeit können diese
wilden Heftehaufen die komplette Infrastruktur des Archivs lahm legen. Die Arbeit
von Andi und Christian ist damit auch immer eine Arbeit gegen das Chaos und
die Unordnung. Sie sind quasi die Müllabfuhr, die den
„Abfall“, der sich zwischen den Bestandsregalen
gebildet hat, entsorgt. Kaum auszumalen, was
geschehen würde, wenn die Fanzine-Ar-
chivare für zwei Monate in den Urlaub
fahren würden. Der Rückfall in die
Barbarei wäre sicher.

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Rezensionen

 LITERATUR

Oliver Maria Schmitt: Anarchoschnitzel schrieen sie Keith Kahn-Harris: Extreme Metal
Nadine Heyman ............................................................................... 88 Sarah Chaker ..................................................................................... 98
Patricia Schröder: Zwischen Hölle und Himmel Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Und jetzt?
Antje Pfeffer....................................................................................... 89 Bernd Hüttner .................................................................................100
Uwe Szymborski: Radikal Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg?
Klaus Farin .......................................................................................... 89 Kurt Schilde .....................................................................................101
Thorsten Dietze: Teenage Kicks Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.): 1968
Klaus Farin .......................................................................................... 89 Bernd Hüttner .................................................................................102
Eva Bude: Verpisst euch! sex and drugs and hardcore-punk Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.):
Klaus Farin .......................................................................................... 90 Wo „1968“ liegt.
Sascha Lange: DJ Westradio Bernd Hüttner .................................................................................103
Antje Pfeffer....................................................................................... 90 Detlef Siegfried: Time Is on My Side
Ric Graf: iCool Antje Pfeffer.....................................................................................104
Klaus Farin .......................................................................................... 91 Gisela Notz: Warum flog die Tomate
Lorenz Schröter: Das Buch der Liebe Bernd Hüttner .................................................................................105
Klaus Farin .......................................................................................... 92 Moritz Ege: Schwarz werden
Nana Adusei-Poku.........................................................................106
 SACHBUCH Mark Terkessidis: Die Banalität des Rassismus
Nadine Heymann ..........................................................................107
Rechtsrock. Eine Sammelbesprechung Natalia Wächter: Wunderbare Jahre?
Klaus Farin .......................................................................................... 93 Roman Schweidlenka ..................................................................108
Reinhard Barth: Jugend in Bewegung Tom Strohschneider: Erziehung in der Produktion
Klaus Farin .......................................................................................... 95 Bernd Hüttner .................................................................................108
Jakob Kandlbinder: Halbstark und cool Birgit und Heiko Klasen: Elf Freundinnen
Klaus Farin .......................................................................................... 96 Nadine Heymann ..........................................................................109
Frank Apunkt Schneider: Als die Welt noch unterging Betsy Udink: Allah & Eva
Andreas Kuttner ............................................................................... 96 Edith Hartmann .............................................................................109
Ian Christe: Höllen-Lärm Ayşegül Ecevit / Birand Bingül (Hrsg.): Was lebst du?
Jana Kimmritz ................................................................................... 97 Ela E. Gezen .....................................................................................111
Stefan Riermaier: Heavy Metal aus Osteuropa Hilal Sezgin: Typisch Türkin?
Jana Kimmritz ................................................................................... 98 Ela E. Gezen .....................................................................................111

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


86 REZENSIONEN Inhaltsverzeichnis

Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße Hartmut Brenneisen/Michael Wilksen/
Nadine Heymann ..........................................................................112 Michael Martins (Hrsg.): Techno
Michael Heatley: John Peel. Ein Leben für die Musik Ralf Mahlich .....................................................................................126
John Peel/Sheila Ravenscroft: Memoiren des Karin R. Fries/Peter H. Göbel/Elmar Lange: Teure Jugend
einflussreichsten DJs der Welt Martin Pickelmann ........................................................................127
Sarah Chaker ...................................................................................113 Tory Czartowski: Die 500 bekanntesten Marken der Welt
Uwe Nielsen: 40 Jahre BEAT-CLUB Anne Hagemann ...........................................................................128
Thorsten Schmidt (Hrsg.): BEAT-CLUB9 Peter Schmerenbeck (Hrsg.): „Break on through to
the other side“.
Uschi Nerke: 40 Jahre mein BEAT-CLUB9
Bernd Hüttner .................................................................................129
The Best of BEAT-CLUB ’65-’73 (10-DVD-Box)
Michael H. Kater: Hitlerjugend
Antje Pfeffer.....................................................................................115
Kurt Schilde .....................................................................................130
Sebastian Haunss: Identität in Bewegung
Peter Longerich: Die Geschichte der SA
Nadine Heymann ..........................................................................116
Michael Klarmann .........................................................................131
Martina Claus-Bachmann: Die musikkulturelle
Andreas Huettl/Peter-Robert König: Satan – Jünger,
Erfahrungswelt Jugendlicher
Jäger und Justiz
Dies.: Musik kulturell vermitteln Arvid Dittmann ..............................................................................132
Antje Pfeffer.....................................................................................117
Bernd Hüttner (Hrsg.): Verzeichnis der Alternativ-
Lentos Kunstmuseum Linz (Hrsg.):Just do it medien 2006/2007
Christian Schmidt ..........................................................................117 Sarah Chaker ...................................................................................133
Marc Calmbach: More Than Music
Christian Schmidt ..........................................................................118
 FANZINES
Thomas Groetz: Kunst – Musik
Christian Schmidt ..........................................................................121 Mørkeskye Nr. 10+11
Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hrsg.): Sarah Chaker ...................................................................................136
Wir wollen immer artig sein …
Andreas Kuttner .............................................................................122
 POSTEINGANG
Michael Boehlke/Henryk Gericke (Hrsg.):
(Besprechungen von Andreas Kuttner)
Too much future
Andreas Kuttner .............................................................................123
A Ticket To Write. No. 84 und Nr. 86 ..............................................138
Frank Willmann (Hrsg.): Stadionpartisanen Andromeda Nachrichten. 212 ........................................................138
Martin Pickelmann ........................................................................123 AntiEverything. # 6666 ......................................................................138
Stefan Thomas: Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof Zoo Antifaschistisches Info Blatt. Nr. 75 ..............................................139
Corinna Steffen ..............................................................................124 Bad Rascal. Nr. 2 ....................................................................................139
die ärzte SONGBOOK Der gestreckte Mittelfinger. Ausgabe # 4 ..................................139
Andreas Kuttner .............................................................................125 Influenza. Nr. II.......................................................................................139
JPN Journal. I/07 und IV/07..............................................................139
Dorothee Hackenberg: Kreuzberg Karl May & Co. Nr. 110 (4/2007) ......................................................139
Andreas Kuttner .............................................................................125 Der kranke Bote. Nr. 3/2007 und 1/2008....................................140
Hans Nieswandt: Disko Ramallah und andere Lockenkopf. Ausgabe 3 .....................................................................140
merkwürdige Orte zum Plattenauflegen Moloko Plus. No. 32 .............................................................................140
Ralf Mahlich .....................................................................................125 Non Plus Ultra. Nr. 2 ............................................................................141

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Inhaltsverzeichnis REZENSIONEN 87

OX. Nr. 72 und 73 ..................................................................................141  NEUE WISSENSCHAFTLICHE ARBEITEN


OX. Nr. 76 .................................................................................................141
Pankerknacker. NO. 11 .......................................................................141 Christian Koch: Rechtsextremismus in der Heavy
Pankerknacker. # 17 ............................................................................141 Metal-Szene
Perry Rhodan. Nr. 2426 ......................................................................142 Jana Kimmritz .................................................................................153
Plastic Bomb. Nummer 59 ................................................................142 Christian Koch: Wir sind die Stimme der arischen Jugend
Plastic Bomb. Nummer 61 ................................................................142 Jana Kimmritz .................................................................................154
Punkrock! Nr. 4 ......................................................................................142
Raumschiff Wucherpreis. Nr. 21 .....................................................143 Birol Mertol: Männlichkeitsbilder von Jungen mit türki-
Schlagzeilen. Nr. 92 und 95..............................................................143 schem Migrationshintergrund sowie die Möglichkei-
Der Siebenstein. Ausgabe 4 ............................................................143 ten und Grenzen für die interkulturelle Jungenarbeit
Things. Nr. 141-143 .............................................................................143 Antje Pfeffer.....................................................................................154
Trust. Nr. 127/06 ...................................................................................143 Peter Wolter: Die Gothic Szene und ihre Musik
Übersteiger. Nr. 83 und 85 ...............................................................144 Antje Pfeffer.....................................................................................155
Wahrschauer. Nr. 53 ............................................................................144 Nadine Heymann: „Nazipop“
Der Zwergpirat. # 9 und 10 ..............................................................144 Martin Pickelmann ........................................................................155
Alena Karaschinski: Weiche T Töne harter Ideologen
 QUERGELESEN Antje Pfeffer .......................................................................................156
(Besprechung von Klaus Farin) .........................................................145 Maurice Wojach: Selbstbestimmungen der Punkbe-
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung wegung in der DDR (1981-1989)
Bernd Hüttner .................................................................................146 Antje Pfeffer.....................................................................................156
Nana Adusei-Poku: Schwarze Körper – weiße Bilder
Martin Pickelmann ........................................................................156
 FILME Silke Eckert: Auswirkungen subkultureller Identifikatio-
(Besprechungen von Emil Gruber) nen auf die Identitätsentwicklung im Erwachsenen-
alter am Beispiel männlicher Punks
„Heavy Metal in Baghdad“ ...............................................................147 Martin Pickelmann ........................................................................156
„Tirador“ ...................................................................................................148
Christian Schmidt: Punk-Fanzines in der BRD 1977-80
„South of Pico“ ......................................................................................149
Martin Pickelmann ........................................................................157
„London to Brighton“.........................................................................150
„Three Comrades“ ................................................................................150 Eva Stein/Julia Rochel: Design to Death
„Armin“ .....................................................................................................151 Martin Pickelmann ........................................................................157
„Heile Welt“.............................................................................................151 Backjumps – The Live Issue # 3
„Slumming“ ............................................................................................151 Antje Pfeffer.....................................................................................157

 MEDIENPROJEKT WUPPERTAL  NEUE VERÖFFENTLICHUNGEN UNSERER MITGLIEDER

„Blinde Katze“ Edward Larkey: Rotes Rockradio


„Worauf warte ich hier?“ Antje Pfeffer.....................................................................................159
Nadine Heymann ..........................................................................152

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


88 REZENSIONEN Literatur

Literatur

Oliver Maria Schmitt: Anarchoschnitzel schrieen Inhaltlich geht es um die Punkband Gruppe Senf aus dem
sie. Ein Punkroman für die besseren Kreise. süddeutschen Hellingen, die sich fast zwei Jahrzehnte nach ih-
Rowohlt, Berlin 2006, 352 Seiten, 19,90 Euro rer Auflösung wiedervereinen will. Die Vereinigung ist wich-
tig, denn es geht um Leben und Tod, um Geld und um Liebe.
Man kennt das ja: Es gibt einige Autoren, deren Texte man Von Hellingen aus fährt der Erzähler Peter „Zombie“ Hein
kennt und schätzt, weil sie unterhaltsam, interessant, witzig, (namensgleich mit dem Fehlfarben-Sänger) mit seinem tab-
intelligent oder inhaltlich überzeugend sind. Dann stößt man lettensüchtigen Pseudo-Arzt Dr. Hollenbach, dem Drummer
auf ein neues Buch dieses Verfassers, und sowohl Titel als der Band, in den wilden Osten, um die noch lebenden Band-
auch Layout erregen sofort Interesse. Wenn man dann noch mitglieder einzusammeln. Offizieller Anlass ist der Auftritt
den Klappentext liest, in dem von einem „Pointengewitter“ die in einer Fernsehsendung. In Wirklichkeit dient die Reise den
Rede ist, hat man das Buch wahrscheinlich schon fast gekauft. Protagonisten aber auch dazu, aus dem langweilig geworde-
Tja, und wenn man nun zu lesen beginnt, will man es ei- nen bürgerlichen Leben auszubrechen, und im Falle von Peter
gentlich gar nicht wahrhaben: Es liest sich wahnsinnig zäh. Hein vor allem, um seiner Jugendliebe Itty Lunatic, ehemals
Aber man liest weiter, die Story könnte sich ja noch entwickeln Sängerin der Band, wieder näher zu kommen: „Mit ihr wollte
und der Humor ganz hinten versteckt sein. Man kämpft sich ich von frühester Jugend an alt werden, hatte mir ausgemalt,
durch die Kapitel, doch vergebens. Vom Anfang bis zum Ende wie wir zusammen mit Kumpels und Schäferhunden in der
kann die Geschichte nicht überzeugen. Man ist enttäuscht Fußgängerzone sitzen, Kohle schnorren, Rotwein aus Zweili-
und ein fades Gefühl bleibt zurück. „Ein Punkroman für die terbomben trinken.“
besseren Kreise“ lautet der Untertitel des Buches, um das es Die Reise führt sie in „Ilkas Reich“, wo sie schwule Nazi-
hier geht, wobei sich die „besseren Kreise“ wohl eher auf die Skins treffen und Peter Hein in einer rituellen Mutprobe Un-
schöne Gestaltung als auf den Inhalt beziehen lassen. Und um mengen Thüringer Würste verschlingen muss, und auch zu
dem Anspruch an einen Punkroman gerecht zu werden, wird einer Gründungsversammlung einer Ost-Protest-Partei in
in fast jedem zweiten Satz eine (deutsche) Punkband nament- Chemnitz, die in Kotze versinkt. Der Bassist der Band wird auf
lich erwähnt oder zitiert. seiner Hanffarm bei Magdeburg aufgegabelt und die Frontfrau
Itty aus einer Braunkohlegrube gefischt, in der sie unter Tage
Oliver Maria Schmitt, 1966 in Heilbronn am Neckar gebo- lebt, um das Dorf Horno vor dem Untergang zu bewahren.
ren, studierte Rhetorik und Kunstgeschichte in Tübingen und
Leeds. Von 1995 bis 2000 war er Autor, Herausgeber, Künstler Im Osten wundert man sich natürlich über die Altpunks,
und Ehrenvorsitzende der PARTEI, Chefredakteur des Satire- denn „schließlich sah man eine solche Gurkentruppe nicht
magazins Titanic und ist zusammen mit Thomas Gsella und alle Tage. Ein Schießbuden-Cowboy Arm in Arm mit einem
Martin Sonneborn Mitglied der „Titanic Boy Group“. Von Nadelstreifenpunk, gefolgt von einem speckigen Altrocker,
1981 bis 1987 war er Sänger und Gitarrist der Heilbronner einem vollbärtigen Latzhosenhippie und einem Pärchen, das
Punkband Tiefschlag. Im vergangenen Jahr hat er nun sein Ro- aus einem bulligen Jogginganzugträger in Begleitung einer se-
mandebüt „Anarchoschnitzel…“ vorgelegt. mipornographischen Minirocktussi bestand.“

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Literatur REZENSIONEN 89

Der Osten ist wild und gefährlich, und die Wiederverei- Florian, um die 20, arbeitslos, hat sich einer rechtsextremen
nigung der Band steht unter einem schlechten Stern. So bleibt Clique angeschlossen, nachdem deren Führer ihn vor einer
es auch bis zum letzten Kapitel fraglich, ob der Erzähler Ittys erpresserischen Migrantenkindergang rettete. Die Clique
Herz noch erobern kann und auch, ob Punk nicht vielleicht verwüstet erst einen jüdischen Friedhof, ein paar Tage später
doch schon tot ist. schmeißen sie Brandbomben in ein von Flüchtlingen bewohn-
Nadine Heyman tes Haus und ermorden dabei ein Kind. Florian ist bei der Tat
nicht dabei, denn er hat sich in der Nacht davor besoffen und
Patricia Schröder: Zwischen Hölle und Himmel. verpennt. Als er endlich beim Haus eintrifft, brennt es bereits.
Ein Mädchen befreit sich aus der Gewalt (generation). Er rennt aus Neugier hinein, stolpert über einen Jungen und
Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt a. M. 2004, rettet diesen. Dabei wird er selbst schwer verletzt. Im Kran-
184 Seiten, 7,90 Euro kenhaus freundet er sich mit dem Zivi Danny an – der ist
schwul, wie er selbst auch. Soweit grob zusammengefasst der
Sie trägt den schönen Namen Kamala, nach der Kurtisane aus Plot dieses Romans. So holzschnittartig, wie das hier klingt,
„Siddhartha“, einer Erzählung von Hermann Hesse, und sie liest sich leider auch der komplette Roman. Die erste Hälfte
trägt ein Baby im Bauch. Kamala ist 17. Der Vater des Kin- strotzt nur von rechtsextremen Tiraden –
des ist Ronny, von dem sie sich sexuell missbrauchen lässt, der „Wusstet ihr“, fragt Heydrich, „dass in Gärten, die wo ein
sie mit Drogen voll pumpt, der sie schlägt und an die Hei- Krematorium in der Nähe ist, also, dass da alles viel besser
zung kettet. Ein Elternhaus hat Kamala nicht; ihre Mutter will wächst als woanders?“
nichts von ihr wissen, einen Vater kennt sie nicht. So treibt „Klar“, grinst Tom. „Deswegen gab es doch in Auschwitz das
die junge Frau durch ein Leben, das völlig hoffnungslos er- beste Gemüse. Und total bio.“ (S. 39)
scheint. In dieses Leben hinein soll sie nun ein Kind gebären? –, in der zweiten Hälfte möchte der Autor darstellen, wie
Sie wehrt sich mit aller Gewalt dagegen, doch das Kleine bleibt Florian „ins Schwimmen kommt“ und beginnt, „über sein Le-
hartnäckig in ihrem Bauch… ben nachzudenken“. Aber wirklich glaubwürdig wird dieser
Kamalas Leben nimmt eine jähe Wendung, als sie den Prozess nicht präsentiert, wie überhaupt in diesem blutleeren,
kleinen Jungen Janis vor einem LKW rettet. Hedy, seine Mut- ideologisch überfrachteten Roman weder Florian noch die
ter, nimmt Kamala bei sich auf. Alles scheint sich zum Guten anderen Figuren irgendwie geartete Charaktere besitzen. Und
zu wenden, als sich Kamala auch noch in Hedys Bruder Abel, ein literarisches Werk, das dies nicht leistet, bei dem man als
einen Künstler, verliebt. Wird die Hoffnung auf eine Familie, LeserIn nicht mit leiden, -hassen, -fühlen kann, ist leider nicht
Kamala, Abel und Baby Paul, in Erfüllung gehen? nur langweilig, sondern auch wirkungslos.
Klaus Farin
So leicht macht es die Autorin Patricia Schröder den jungen
Leserinnen und Lesern allerdings nicht. Ein eindeutiges Happy Thorsten Dietze: Teenage Kicks.
End ist nicht zu erwarten. Dieses Buch aus der Reihe „genera- Sunny Bastards Production, Essen 2007,
tion“ des Fischer Taschenbuch Verlages (www.fischergenerati- 266 Seiten, 11,90 Euro
on.de) ist eines, das der jugendlichen Zielgruppe alles andere
als eine heile Welt vorführt. Gnadenlos empfehlenswert. Der 15-jährige Tony will nicht wie der Rest der Welt Rapper
Antje Pfeffer werden, sondern Skinhead. Der Roman beschreibt seinen
Einstieg in die Szene: erste Konzerte, die langsame ästheti-
Uwe Szymborski: Radikal. sche Wandlung (zunächst gegen den harschen Widerstand
MännerschwarmSkript Verlag, Hamburg 2007, des Vaters und die ängstlichen Befürchtungen der Mutter,
141 Seiten, 16 Euro die früher selbst der Szene angehörte), erste Erfahrungen mit

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90 REZENSIONEN Literatur

Gewalt, Alkohol, Sex und Liebe und Liebeskummer. Unter- oder new-wavig aufgebrezelt, dann wurde einem gnadenlos
stützt wird Tony dabei von Rocco, einem älteren Szene-Ak- mit einem „Verpisst euch!“ oder „Der Dschungel is’ da hinten“
tivisten, der früher einmal der beste Freund seiner Mutter der Weg zurück auf die Straße gewiesen.
war. „Teenage Kicks“ ist nach „No llores me querida – Weine Inzwischen ist Eva Bude Mitte 40, Modedesignerin, ver-
nicht, mein Schatz“ von André Pilz erst der zweite von einem heiratet und Autobiographin ihrer eigenen Geschichte. Na-
deutsch(sprachig)en Skinhead veröffentlichte Roman. Wäh- turgemäß ist ihr rund 360 Seiten dickes Werk auch reichlich
rend André Pilz‘ Roman sehr spektakulär daherkommt (in- selbstverliebt, doch es bleibt nicht bei der Nabelschau stehen.
klusive Hooligan-Schlägereien, anderer extremer Gewalt und Man erfährt in der Tat sehr viel über die Westberliner Punk-
existentieller Auseinandersetzungen; nicht zufällig wird er in und Hausbesetzerszenen der frühen 1980er-Jahre, zumal Eva
Reviews oft mit Irvine Welsh – „Trainspotting“ – verglichen), Bude gar nicht erst versucht, das Ganze literarisch aufzumot-
erzählt Thorsten Dietze eher vom Alltag der Skinheadsubkul- zen, sondern Dialoge im authentisch-korrekten Szene-Slang
tur. Ohne die literarische Brillianz von Pilz zu erreichen, aber wiedergibt. Sie erzählt mit sehr viel Liebe zum Detail vom
dennoch spannend, mitunter amüsant, strikt „fiktiv“, wie er Hausbesetzer-Fünf-Sterne-Menü (Hundefutter mit Reis)
im Vorwort betont, aber doch immer sehr nah an der realen über Demo-Dramaturgien bis zum Ambiente von ehema-
Szene und vor allem für Old-School-Skins schon aufgrund der ligen Kultstätten wie der „Ruine“ oder dem „Risiko“. „Ver-
präsentierten Playlists und anderer Details der von Tony be- pisst euch!“ ist sicher nicht die ultimative Szene-Biographie
suchten Ska-Allnighters und Konzerte ein Genuss. – schon deshalb nicht, weil die Szene so vielseitig und wider-
Klaus Farin sprüchlich war, dass ein Dutzend AktivistInnen jener Jahre
wahrscheinlich ein Dutzend vollkommen verschiedener Ver-
Eva Bude: Verpisst euch! sionen schreiben und sich in den jeweils anderen nicht wie-
sex and drugs and hardcore-punk. dererkennen würden. Doch diese kommt der Realität schon
Europa Verlag, Leipzig 2005, 362 Seiten, 16,90 Euro sehr nahe – und ist auf jeden Fall eine der unterhaltsamsten.
Und das ist auch schon viel wert.
Die Punks kommen in die Jahre und basteln fleißig an ih- Klaus Farin
ren Biographien. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht ein
Szene-Aktivist seine Memoiren anbietet. Das meiste ist nicht Sascha Lange: DJ Westradio.
anders gestrickt als die Biographien von (Ex-)Zuhältern, Meine glückliche DDR-Jugend.
(Ex-)Prostituierten, (Ex-)Bundeskanzlern auch: narzisstische Aufbau-Verlag, Berlin 2007, 202 Seiten, 16,90 Euro
Selbstbeweihräucherung und der Versuch, noch etwas Kasse
zu machen. Über die Zeitgeschichte, in der sich diese Perso- Sascha Lange heißt eigentlich Alexander („… nennt mich
nen bewegten, erfährt man selten Neues. Eva Budes Roman- niemand“) und wurde 1971 als Sohn von Bernd-Lutz Lange
Autobiographie ist besser. in Leipzig geboren. Sein Vater ist ein bekannter Kabarettist
Sie gehörte zu den im wahren Leben sehr wenigen Punks, („academixer“) und Autor, der sich 1989 bei den Protesten
die man oft tagsüber beim Einkaufen in Berlin-Schöneberg in der „Heldenstadt“ Leipzig stark für eine friedliche Umwäl-
statt mit den obligatorischen zwei bis drei Hundemischlingen zung engagiert hatte.
pro Punk mit einer Ratte auf der Schulter antreffen konnte. Sascha wuchs in privilegierten Verhältnissen auf. Das
Und abends sah man sie in den frühen Achtzigern wieder, bedeutete zu DDR-Zeiten vor allem eins: West-Kontakte, die
wenn man zu einem Konzert ins K.O.B. wollte, einem be- verbunden waren mit regelmäßiger Zufuhr von begehrten
setzten Haus in der Potsdamer Straße mit Konzertkneipe im West-Waren. So dreht sich in Sascha Langes Erinnerungsbuch
Erdgeschoss. Normalerweise wurde man dort von ihr recht an seine „glückliche DDR-Jugend“ auch das meiste um West-
freundlich begrüßt, es sei denn, man hatte sich zu hippiesk Spielzeug, West-Comics und vor allem um West-Mode und

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Literatur REZENSIONEN 91

so wichtig, West-Klamotten zu haben, Hauptsache, alles war


irgendwie schwarz. Und da konnte man improvisieren: Der
Inhalt des Kleiderschranks wurde einfach in die Färberei ge-
bracht, Vaters Lederjacke umgeschneidert, robuste Arbeits-
schuhe wurden gekauft…
Die Abschnitte im Buch, die Saschas jugendkulturelle Vor-
lieben, gelebt in der DDR, schildern, vor allem seine Reise nach
Ost-Berlin zum Depeche-Mode-Konzert, gehören zum Leben-
digsten und Originellsten seiner Betrachtungen. Hier kann ich,
die ich zwar eher andere musikalische und kleidungstechnische
Vorlieben pflegte, aus eigener Erfahrung nachvollziehen, wie
ungeheuer wichtig es für in der DDR Heranwachsende war, die
favorisierte Band auch mal live sehen zu können. Das waren
Erfahrungen, von denen man ein Leben lang zehrt!
Leider gehört der Rest der DDR-Erinnerungen des Leipzigers
eher in den Bereich des Belanglosen. Seine Heimatstadt war
als internationale Messestadt mit besonderen Bedingungen
(West-Besucher, West-Kontakte) gesegnet. Und Leipzig hat
mit seinen friedlichen Massenprotesten, an denen der Autor
selbstverständlich auch teilgenommen hat, wesentlich dazu
beigetragen, die DDR ad acta zu legen. Dort zu leben, diese
Zeit mitgemacht zu haben, ist natürlich spannend. Doch eine
DDR-Kindheit und -Jugend vorwiegend unter dem Aspekt
der bunten Warenwelt aus dem Westen, an der man als Sohn
eines privilegierten Vaters teilhaben konnte, zu beschreiben,
erscheint mir elitär und überflüssig.
Antje Pfeffer

Ric Graf: iCool. Wir sind so jung,


so falsch, so umgetrieben.
Rowohlt Taschenbuch, Reinbek 2006, 207 Seiten, 7,90 Euro

Der Autor dieses Werkes ist „1985 in Berlin geboren, hat vor
zwei Jahren sein Abitur gemacht“, arbeitete „nach zahlreichen
Praktika in Presse, Rundfunk und Fernsehen als Associate
West-Musik, publik gemacht durch die beliebteste aller Tee- Editor für das Magazin Quest und als persönlicher Assistent
nie-Postillen, die BRAVO. von Christoph Schlingensief “, lebt in Berlin und „denkt sicher
Mit etwa 14 Jahren interessiert sich Sascha zunehmend für gerade darüber nach, auf welche Party er heute Abend gehen
New Wave und Depeche Mode. Wie er in der DDR-Mangelge- soll“. Aber eigentlich spürt man es von der ersten Zeile an: Hier
sellschaft an das von der BRAVO vorgegebene Waver-Outfit schreibt ein Fünfzigjähriger im Körper eines Zwanzigjährigen.
gelangt, ist aufschlussreich. Hier war es für Sascha mal nicht Es wimmelt von „Erinnerungen“ und „Vergangenheit“; alles,

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92 REZENSIONEN Literatur

an das der Autor sich erinnert, ist „Jahre her“, geschah, „als ich Werbeslogans wie „Was es heißt, heute jung zu sein“ verstärkt.
noch jung war“. Da lässt einer seine ferne Jugend noch einmal Ab in die Tonne.
aufleben, in der allerdings, stellt man nach ermüdenden 207 Klaus Farin
Seiten fest, nicht allzu viel geschah. Oder zumindest nichts,
was man nicht allwöchentlich in der BRAVO ebenso lesen Lorenz Schröter: Das Buch der Liebe.
kann: unglückliche Liebe, das „erste Mal“, schlechte Parties, Antje Kunstmann, München 2007, 188 Seiten, 16,90 Euro
Pickel und andere Probleme der Identitätsfindung. „Soll ich
aufstehen oder liegen bleiben? Ich entscheide mich für das Ein Familienvater trifft am Flughafen auf eine japanische
Liegenbleiben“, schildert uns der junge Philosoph zum letzten Punkmusikerin und reist mit ihr und ihrer Band (später auch
Mal seine existenziellen Nöte, um uns dann mit einem Bett- ihrer Mutter) durch Süddeutschland auf der Spurensuche nach
hupferl zu verabschieden und sein literarisches Erstlingswerk Elvis, bzw. zu einem Konvent der Church of Elvis Presley,
doch noch zu einem überraschenden Ende zu bringen: „Es immer wieder von obskuren Elvis-Hassern verfolgt, entführt
kommt mir ein Gedanke: Vielleicht bedeutet Jugend, lang- und verprügelt. Denn: Elvis ist Jesus und lebt! Ein abgedreh-
sam aufzuwachen, aus einem Schlaf, in dem man eben noch tes Roadmovie mit manch netten Szenen und Einfällen (und
süß geträumt hat. Es erwartet dich ein bitterkalter Morgen, einem sehr schönen Cover), aber nicht wirklich spannend,
schmerzlichst vermisst man das schöne Gefühl. Irgendwann nicht wirklich Interesse weckend, da die Personen allesamt
werden wir uns vielleicht zurück erinnern und denken: So wenig Tiefgang haben, der gesamte Plot immer unentschie-
schlimm war das doch gar nicht!“ den zwischen Slapstick, Persiflage auf Verschwörungstheorien
So schlimm war’s wirklich nicht, nur eben langweilig und und Reiseroman schwankt und uns dazu mit einem seltsamen,
überflüssig. Schlimm war eigentlich nur, dass dieser auch irgendwie nicht überzeugenden Ende entlässt. Nix für mich,
schon sprachlich eher fünfzigjährige Autor („Ich verstand und auch wenn der Autor sympathischerweise mal Punk war und
begab mich zu ihr.“), der die Liebe in „Teen-Splatter-Filmen“ ein Fanzine mit dem schönen Titel Die Einsamkeit des Amok-
sucht, aber „der Literatur mehr vertraut“, penetrant im großen läufers herausgegeben hat. Aber: Christian Kracht liebt ihn, so
„Wir“ bramarbasiert, als könne er für seine ganze Generation verkündet das Backcover. Das hätte mich vorwarnen sollen.
reden, ein Eindruck, den die Verlags-PR logischerweise durch Klaus Farin

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Sachbuch REZENSIONEN 93

Sachbuch

Rechtsrock. Eine Sammelbesprechung.

Seit Mitte der 1990er-Jahre entstehen Jahr für Jahr fünf bis
zehn Diplom- und andere wissenschaftliche Arbeiten zum
Thema rechtsextreme Musik. Leider geschieht das fast aus-
schließlich in den Fachbereichen (Sozial-)Pädagogik, Politik
und Sozialwissenschaften, sehr selten bei GermanistInnen
oder im Fachbereich Musik. So wird in der Regel nur das
gesellschaftliche Umfeld analysiert, die Musik und die Texte
selbst dagegen werden allenfalls deskriptiv präsentiert. Man-
che der studentischen AutorInnen publizieren ihre Arbeiten
sogar, zumeist in Verlagen, die dafür zwischen zwei- und vier-
tausend Euro an „Druckkostenzuschuss“ kassieren.
Auch Constanze Krüger, seit 2006 Diplomsozialpädago-
gin, konnte der Versuchung nicht widerstehen und ließ ihre
an der Hochschule Magdeburg-Stendal eingereichte Diplom-
arbeit „Rechte Bands. Geschichte, Gegenstrategien, Wirkung“
vom VDM Verlag Dr. Müller drucken. Die 93 Seiten umfas-
sende Arbeit (zzgl. 53 Seiten Anhang) gliedert sich in drei
Teile: Nach einem Abriss zur Geschichte der Skinheadkultur
befasst sich der zweite Teil kritisch mit staatlichen Maßnah-
men gegen die rechtsextreme Musikszene, ein elf Seiten um-
fassender dritter Teil beschäftigt sich mit der Wirkung und
den Rezipienten rechtsextremer Musik.
Inhaltlich bieten allerdings alle drei Teile nichts Neues.
Der historische Teil (S. 12-46) beruht im Wesentlichen auf der
Veröffentlichung „Skinheads“ von Farin/Seidel-Pielen aus dem
Jahr 1993 (35 Zitate auf 34 Buchseiten), was dem Rezensenten
zwar schmeichelt, den potentiellen Käufer aber wenig erfreu-
en dürfte, ist das Original doch weiterhin zu einem Viertel des
Preises dieser „Neu“veröffentlichung in jeder Buchhandlung
zu erwerben. „Not amused“ dürften auch die New Yorker Alt-
punker Television sein, deren Foto, aufgenommen bei einem

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94 REZENSIONEN Sachbuch

Konzert Ende der 1970er-Jahre, ohne Zusammenhang zum langes Songzitat. Die im Untertitel gestellte Frage verneint
Inhalt des Buches dessen Cover ziert. Kural abschließend: Der „Rechtsrock“ sei weniger eine „Ein-
Die inhaltliche Hauptmotivation der Autorin zur Veröf- stiegsdroge“ in rechtsextremes Gedankengut als ein Spiegel
fentlichung ihrer Diplomarbeit scheint ihre Empörung über des „Extremismus der Mitte“: „Der Hauptunterschied zu nati-
die repressiven Maßnahmen des Staates gegen rechtsextreme onalistischen und rassistischen Tendenzen in Politik, Medien
Bands zu sein. Constanze Krüger sieht diese als kontrapro- und Gesellschaft liegt in der drastischen Art der Formulie-
duktiv an, weil sie nicht die Ursachen des Rechtsextremismus rung und zum Teil im offenen Aufruf zu Gewalttaten.“ (S. 62)
bekämpfen und zudem oft im Konflikt mit den demokrati- Eine wirkliche Untersuchung über die Rezeptionswirkung des
schen Grundrechten stehen, etwa wenn Rechtsrockkonzerte Rechtsrock „ist bisher von der Forschung nicht erbracht wor-
mit der Berufung auf baupolizeiliche Gesetze verhindert wer- den“ (S. 63). Das gilt natürlich auch trotz vielversprechender
den oder Polizeibeamte Saalvermieter oder Arbeitgeber von Ankündigung im Vorwort für diese 76-seitige Broschüre, die
rechtsextremen Musikern aufsuchen, um diese über deren letztlich keinerlei noch nicht veröffentlichtes Wissen enthält.
politische Gesinnung „aufzuklären“ – eine Position, die dem An diesem Thema Interessierte sollten sich also für den
Rezensenten sehr sympathisch ist, da er sie teilt und selbst halben Preis besser gleich die beiden bis heute aktuellen
immer wieder für die Auflösung solch nutzloser und demo- „Klassiker“ zu diesem Thema besorgen, den im Archiv der Ju-
kratieschädigender Einrichtungen wie Verfassungsschutz und gendkulturen 2001 erschienenen Titel „Reaktionäre Rebellen.
Bundesprüfstelle für jugendgefährdende Medien plädiert. Rechtsextreme Musik in Deutschland“ (von dem allerdings
Neue Argumente oder gar Fakten dazu enthält Constanze nur noch 80 Exemplare lieferbar sind – danach ist der Titel
Krügers knapp 30-seitiges Plädoyer allerdings ebenso wenig definitiv vergriffen; eine Neuauflage ist nicht geplant!) sowie
wie der letzte kurze Beitrag zur „Wirkung“ von (rechtsextre- „Rechtsrock. Bestandsaufnahme und Gegenstrategien“ (Un-
mer) Musik, der eigentlich nur unterschiedliche Statements rast 2002) von Christian Dornbusch und Jan Raabe.
zum Thema aneinander reiht. Der Anhang schließlich do- Die beiden letztgenannten nordrhein-westfälischen Auto-
kumentiert ausschließlich Songtexte der Bands Böhse Onkelz ren recherchieren seit vielen Jahren zu rechtsextremen Subkul-
und Landser. Warum gerade diese ausgewählt wurden, nicht turen, sind als Vortragsreisende unterwegs und haben jüngst
aber beispielsweise auch solche der Bands Endstufe und Skrew- auch zwei regionale Fallstudien veröffentlicht: „RechtsRock
driver, denen im Hauptteil immerhin eigene Kapitel gewidmet – Made in Thüringen“ und „RechtsRock – Made in Sachsen-
wurden, wird nicht weiter begründet. Anhalt“. In diesen beiden Broschüren werden akribisch jeweils
Fazit: Als Gutachter hätte der Rezensent diese durchaus rund zwei Dutzend Bands und ihr rechtsextremes Netzwerk
engagierte und eigenständige Arbeit der Studentin Constanze vorgestellt, neben solchen des „klassischen“ Rechtsrock-Spek-
Krüger sehr positiv bewertet, als Buchveröffentlichung ist die- trums auch Liedermacher und Hard- bzw. Hatecore-Bands,
ses Werk leider unergiebig und überflüssig – zumal bei einem sowie die Schnittmengen zwischen der rechtsextremen Sub-
unverschämten Preis von 49 Euro. kultur und anderen Szenen (Punk, Dark Wave/Gothic, Neo-
Das gilt leider überwiegend auch für die zweite aktuelle folk, Black Metal). Die beiden Arbeiten sind weitgehend nicht
Veröffentlichung zum Thema „Rechtsrock“ im selben Verlag textidentisch, sodass sich auch der Bezug beider Broschüren
mit dem Untertitel „Einstiegsdroge in rechtsextremes Gedan- (ohnehin nur gegen eine kleine Gebühr) lohnt.
kengut?“. Der Diplompolitologe Mahmut Kural analysiert in
seiner Abschlussarbeit im Kern einige Dutzend Songtexte Bibliographie:
hinsichtlich ihrer nationalistischen, revisionistischen, neona- Krüger, Constanze: Rechte Bands. Geschichte, Gegenstrate-
zistischen und rassistischen Inhalte, wobei die Analyse eher gien, Wirkung. VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007.
oberflächlich-deskriptiv ausfällt: Auf zumeist zwei- bis sechs- 147 Seiten, 49 Euro.
zeilige interpretatorische Hinweise folgt ein mehr oder weniger Kural, Mahmut: Rechtsrock. Einstiegsdroge in rechtsextremes

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Sachbuch REZENSIONEN 95

Gedankengut? VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007. atmosphärisch verdichtet; die verschiedenen Jugendbewegun-
76 Seiten, 42 Euro. gen werden chronologisch abgehandelt, dabei durchaus inte-
Archiv der Jugendkulturen (Hrsg.): Reaktionäre Rebellen. ressante Details vermittelt, aber bis auf wenige Sätze zu Par-
Rechtsextreme Musik in Deutschland. Tilsner, Bad Tölz allelen zwischen den 68ern und den Wandervögeln (S. 144)
2001. 252 Seiten, 15 Euro. niemals in Verbindung gesetzt, das Gemeinsame, Trennende
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan (Hrsg.): RechtsRock. analysiert. Wie weit verstanden und verstehen sich Jugend-
Bestandsaufnahme und Gegenstrategien. Unrast, Münster bewegungen wirklich als „politisch“? Woll(t)en sie wirklich
2002. 541 Seiten, 24 Euro. gesellschaftsverändernd wirken oder nur ihren eigenen, per-
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan/Begrich, David: Rechts- sönlichen Lebensspielraum erweitern? Was bleibt vom Aufbe-
Rock Made in Sachsen-Anhalt. Landeszentrale für politi- gehren „der Jugend“? Haben sie wirklich die Kraft, die Gesell-
sche Bildung Sachsen-Anhalt, Magdeburg 2007. 70 Seiten, schaft zu verändern, oder war und ist ihr Aufbegehren nur ein
Bezug nur über die LpB (www.lpb.sachsen-anhalt.de). notwendiger (post-)pubertärer Prozess, um sie anschließend
Dornbusch, Christian/Raabe, Jan: RechtsRock Made in umso besser in die gesellschaftlichen Normen und Rituale hi-
Thüringen. Landeszentrale für politische Bildung Thürin- neinzusozialisieren? – Fragen, die in diesem Zusammenhang
gen, Erfurt 2006. 70 Seiten, Bezug nur über die LpB interessante Diskussionsstränge bilden könnten. Doch sie
(www.lzt.thueringen.de). werden nicht einmal gestellt.
Klaus Farin So spiegelt sich dann auch das eigentliche Thema des Bu-
ches – die Revolte der Jungen gegen die Alten – nur in we-
Reinhard Barth: Jugend in Bewegung. nigen Kapiteln wider. Konnte man bei den ersten (von ins-
Die Revolte von Jung gegen Alt in Deutschland im 20. gesamt zwölf) Kapiteln über „Sturm und Drang“ sowie die
Jahrhundert. Mit e. Nachw. von Klaus-Jürgen Scherer. „Burschenschaften“ des 18. und 19. Jahrhunderts noch sagen,
Vorwärts Buch, Berlin 2006, 175 Seiten, 19,80 Euro okay, als historischer Background mag das notwendig zum
Verständnis der folgenden Kapitel sein, auch wenn‘s nicht
Eine spannende Idee: Nicht weniger als „einen umfassenden wirklich zum Thema gehört, so wundert man sich dann doch
Überblick über ein ganzes Jahrhundert ‚bewegter Jugend‘“ über ein drittes, „Langemarck“ betiteltes Kapitel, das das sinn-
will der Historiker Barth mit seinem Büchlein liefern: von den lose Opfern von jugendlichen Soldaten im November 1914
Wandervögeln zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die als erste beschreibt, insofern schon einmal im 20. Jahrhundert ange-
echte Jugendbewegung mit dem Anspruch auf die eigene Ge- kommen ist, aber mit „Revolte von Jung gegen Alt“ nun wirk-
staltung ihrer Lebens- oder zumindest Freizeitwelten gelten, lich gar nichts zu tun hat. Die Arbeit Reinhard Barths endet
über oppositionelle und regimetreue Jugendgruppen im Drit- kurz „Nach 1968“, so auch der Titel seines letzten Kapitels, in
ten Reich bis zu den jungen Globalisierungskritikern der heu- dem er mit wenigen Strichen noch einmal die 1970er-Jahre
tigen Zeit. Auch die FDJ im Osten Deutschlands wird nicht bis zur beginnenden Hausbesetzer- und Friedensbewegung
ausgespart. Jedes Kapitel besteht aus einem kurzen Essay, dem der frühen 1980er-Jahre skizziert. Es folgt zum Abschluss ein
ein oder mehrere Auszüge aus Originalquellen folgen, deren als Nachwort deklarierter Essay von Klaus-Jürgen Scherer, in
Fundstellen allerdings in vielen Fällen nicht benannt werden, dem dieser auf 19 Seiten „das letzte Vierteljahrhundert“ abar-
sodass der interessierte Leser sie nicht ohne Weiteres im Ori- beitet: Neue Soziale Bewegungen, Spontis, Techno, Globalisie-
ginal nachlesen kann. rungsgegner und andere.
Überhaupt wirkt das Buch in seiner Gesamtheit leider
immer noch so, als sei es nur ein längeres Exposé oder ein Da taucht eine zündende Idee auf, ein Vertrag wird geschlos-
Zwischenbericht zum eigentlichen, noch in Arbeit befindli- sen, der Autor begibt sich an seine Arbeit. Irgendwann, auf
chen Werk. Es werden Fakten und Daten referiert, aber selten halber Strecke, vergeht ihm die Lust oder er hat zu viele andere

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96 REZENSIONEN Sachbuch

Dinge zu erledigen oder er ist plötzlich selbst nicht mehr von bereich Sozialwesen eines inzwischen als Streetworker arbei-
der Idee überzeugt – wie auch immer: Irgendwie liefert er tenden Mittzwanzigers – und das verdient einen Extrabonus
dann doch ein Manuskript ab. Leider fehlt das letzte Viertel Respekt.
des Jahrhunderts. Also wird ein zweiter Autor beauftragt, den Klaus Farin
Job des eigentlichen Autors zu erledigen. Er tut es, und das gar
nicht einmal schlecht, doch das Buch wirkt dadurch insgesamt Frank Apunkt Schneider:
noch ein wenig mehr zusammengestückelt. Doch da die Auto- Als die Welt noch unterging. Von Punk zu NDW.
renhonorare ja bereits gezahlt wurden und das Erscheinen des Ventil Verlag, Mainz 2007, 385 Seiten, 17,90 Euro
Buches ja auch bereits angekündigt war (gut eineinhalb Jahre
zuvor), veröffentlicht der Verlag es eben, auch wenn es für alle Ist die Geschichte des DDR-Punk mittlerweile sehr gut schrift-
Seiten unbefriedigend bleibt: für den Lektor, weil der seine ei- lich aufgearbeitet, fehlten bisher ähnliche Werke über Punk in
gentliche Arbeit nicht tun und das unvollendete Buch zurück- der alten BRD. Natürlich gibt es das allgemein bekannte „Ver-
weisen durfte, für den Verlag, weil der offenbar schon nicht schwende deine Jugend“ von Jürgen Teipel; dieses gibt aber
mehr so sehr an dem Thema interessiert ist (das legt zumin- bestenfalls ausschnittartige Einblicke in einige der relevanten
dest die lieblos-billige Produktion nahe), für den Leser, weil frühen Szenen, zudem mit einer zurecht kritisierten Schieflage
für ihn trotz manch interessanter Kapitel letztlich das gestellte zugunsten der „Kunst“-Szene.
Thema nur gestreift wird und viele Fragen unbeantwortet blei- Verglichen damit hat Frank Apunkt Schneider, Redakteur
ben, und damit auch für den Autor, weil der enttäuschte Leser unter anderem bei Intro und Testcard, eine in sich geschlos-
möglicherweise sein nächstes Buch, das wieder ertragreicher sene Analyse vorgelegt, die eben nicht nur nachträglich ein-
sein könnte, nicht mehr erwirbt. Schade eigentlich. gesammelte O-Töne unkommentiert aneinander reiht, son-
Klaus Farin dern seine Eindrücke der Geschichte von Punk und NDW in
Deutschland wiedergibt: eher schlicht, aber stilvoll illustriert
Jakob Kandlbinder: Halbstark und cool. durch Abbildungen einiger Magazin-, Fanzine- und Tape-Co-
Ausgewählte Jugendkulturen seit den 1950er Jahren. vers sowie durch zeitgenössische Fotos.
Telos Verlag, Münster 2005, 122 Seiten, 12 Euro Schneider definiert die Zeit der „Neuen Deutschen Welle“
(NDW) für die Jahre 1976 bis 1985 und zählt dazu die Ent-
Nach knappen, aber – da sie sich in fast jeder wissenschaftli- wicklung von Punk, New Wave, Minimalismus, aber auch
chen Arbeit wiederfinden – dennoch überflüssigen „Begriffs- die Kommerz-Variante ab Mitte 1982, die im Mainstream als
bestimmungen“ zu Jugend/Kultur/Szene/Clique/Jugend- und NDW gilt. Er betont die in den späten 1970er-/frühen 1980er-
(Jugend-)Subkulturen zeichnet der Autor die entwicklungs- Jahren herrschende Untergangsstimmung als Hintergrund
und stilgeschichtlichen Motive der Jugendkulturen der für das „No Future“ von Punk und New Wave. Nur diese Zeit
1950er-Jahre (Halbstarke, Teenager, Existentialisten) und erscheint ihm, der sich offen als Anhänger der „Art-School-
1960er-Jahre (Beat, Studentenproteste, Hippies) sowie von Tradition von Punk zu Post-Punk“ positioniert, als die Zeit
Techno, Skinheads und HipHop nach. Ein abschließendes Ka- des „wahren“ Punks. Eine „Ruinenlandschaft“, die noch nicht
pitel erörtert den Wandel von Jugend(kulturen) unter den ge- erwachsen geworden war und noch keine eigenen Werte ge-
sellschaftlichen Rahmenbedingungen der letzten Jahrzehnte. schaffen hatte. Alles danach Folgende aus dem Bereich Punk
Die Zusammenstellung ist nicht wirklich neu und auf- sieht er nur noch als „Stagnation“. So verliert er den eigentli-
regend, aber sachlich ordentlich zusammengetragen und chen Punk-Bereich selbst bereits recht früh (um 1980) wieder
als Überblick geeignet. Und immerhin handelt es sich hier aus den Augen, zeichnet die verschiedenen Aspekte (u. a. Ge-
nicht um eine Veröffentlichung eines professoralen Autors gensatz Großstadt vs. Provinz) der Entwicklung des Punk und
oder Jugendforschers, sondern um die Diplomarbeit im Fach- seiner Vorläufer bis dahin allerdings sehr gut nach.

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Sachbuch REZENSIONEN 97

Höhepunkte der weiteren Betrachtung sind sicher die Ian Christe: Höllen-Lärm.
Schilderung der Kassettenszene mit spürbarer Sympathie, Die komplette, schonungslose, einzigartige
sowie die Geschichte von Sounds und Magazinen, die sich Geschichte des Heavy Metal.
nach diesem Vorbild gegründet haben (Scritti, Lautt). Eine Verlagsgruppe Koch GmbH/Hannibal, Höfen 2004,
schaurige Zeit, diese Phase der „Deutschrock“- bzw. „Schla- 424 Seiten, 25,90 Euro
ger“-NDW, in der Bands und „Interpreten“ wie Hubert Kah,
Nena oder Peter Schilling in Dieter Thomas Hecks „Hitpara- Sex, Drugs, Rock’n’Roll – kein Klischee wird ausgelassen. Zum
de“ auftraten. (Ob man diese nicht am liebsten völlig verges- Glück beschäftigt sich das Buch vor allem mit auf Fakten be-
sen möchte?) gründeten Klischees.
Im Anhang findet sich eine Diskographie und Kassetto- Geschichte, Stilistik, Fakten – eine Reise durch die Musik-
graphie; bei ersterer stört etwas die betont subjektive Sichtwei- geschichte ist immer auch eine Reise durch die Gesellschaft.
se (der insbesondere einige Punk-Klassiker zum Opfer fallen), Man kann Musik und ihre Entstehung sowie Entwicklung
die (unkommentierte) Kassettographie ist jedoch uneinge- nicht ohne die gesellschaftlichen und politischen Umstände
schränkt verdienstvoll. betrachten.
„Als die Welt noch unterging“ ist oft nicht leicht verdau- Hier wurde nicht einfach aus anderen Büchern abge-
lich. Gerade wenn es um pop-theoretische Analysen geht, schrieben, wie das leider in vielen Arbeiten der Fall ist, die die
muss man sich doch zum Teil durch die Sätze kämpfen und Geschichte von jedweder Art von Musik erzählen oder gar er-
hat ohne Vorkenntnisse zunächst größere Probleme, alle klären wollen, sondern Ian Christe ist der buchstäbliche Opa,
Hinweise und Anspielungen verstehen zu können. Auch stellt den man fragt, wie es denn damals so war. Das Buch strotzt vor
sich die Frage, ob man die Aussagen von Punk und NDW so Innenperspektiven. Nun wissen wir noch einmal ganz genau
ernst nehmen und ihnen diese verschiedenen Bedeutungen Bescheid, wie das damals so war, als der Metal noch nicht ganz
unterschieben muss. Dabei wird vergessen, dass die Akteu- so hart war, wie er heute manchmal ist. Das ist gut, vor allem
re damals meist Jugendliche gewesen sind, die häufig völlig für Metaller, die bereits ein paar Gedächtnisverknüpfungen
spontan und ohne besondere Hintergedanken einfach losge- dem heiligen Bier und den Mosh Pits der Konzerthallen und
legt haben. Ist das nicht das, was auch er selbst kritisiert: ein Festivals geopfert haben.
Analysieren, um nun auch diese Phase in die bürgerliche oder Es ist wahrlich nicht leicht, eine Szene mit unzähligen Sub-
gar pop-nationale Geschichte einzupassen? Möchte man böse stilen zu beschreiben, in der jede zweite Band selbsternannter
sein, könnte man behaupten, das Buch habe immer dann sei- Erschaffer einer neuen Strömung sein möchte, bei aller Wah-
ne lesbarsten Momente, wenn der Autor das macht, was er ei- rung der „truen“ Wurzeln. Doch die Namen sind in aller Hülle
gentlich nicht machen will („positivistisches Einklauben von und Fülle doch wohl dosiert, so dass selbst diejenigen, denen
Daten“). Wobei das dem Buch nicht gerecht werden würde. mindestens die Hälfte davon noch nicht bekannt ist, nicht das
Auch wenn manche Zuspitzung zu weit geht (u. a. die Be- Gefühl bekommen, ein Lexikon zu lesen, sondern eher anek-
zeichnung von „Das Leben ist eine Baustelle“ als „neolibera- dotenhaft wie lehrreich unterhalten werden. „Höllen-Lärm“
ler Propaganda-Film“, oder der Vorwurf an die Band Artless, illustriert enorm geistreich und sehr detailgenau den Werde-
„reaktionär“ zu sein), machen es gerade die klugen Verbin- gang der großen Dame Heavy Metal. Zudem kommen wir in
dungen zu heute besonders interessant und lesenswert. Insge- den Genuss ganz furchtbar interessanter Informationen: Denn
samt ein empfehlenswerter Debatten-Beitrag zur Geschichte wer hat schon mal die offiziellen Mitglieder von Black Sabbath
von Punk und New Wave in Deutschland, an dem man nicht gezählt (29) oder die Plattenfirmen, bei denen Motörhead un-
nur deswegen nicht vorbei kommt, weil es sonst noch nicht ter Vertrag standen (16)?
viel zu dem Thema gibt. Nicht zuletzt sind die s/w-Bilder mitunter schmunzelns-
Andreas Kuttner wert. So illustriert ein High-School-Jahrgangsbild von James

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98 REZENSIONEN Sachbuch

Hetfield das Kapitel zur amerikanischen Einöde, auch ein Ur- Heavy-Metal-Bands aus Osteuropa und Österreich, und somit
alt-Foto von Anthrax lädt den Leser des Kapitels über fiebrige als Nachschlagewerk durchaus dienlich. Die Perspektive des
Fans zum Grinsen ein und mit einem bauchfrei und toupierte Fans, aus der dieses Buch geschrieben wurde, hat zwei Seiten.
Haare tragenden Quorthon beginnt die Bebilderung des Kapi- Es ist natürlich eine sehr einseitige Sicht auf die osteuropäi-
tels über die frühen Black-Metal-Bands. Leckere Black-Metal- sche Metal-Szene. Es gibt nicht erst seit gestern viele weitere
Tournee-Requisiten garnieren das Kapitel über den norwegi- Spielarten im Metal jenseits des Heavy Rock und Heavy Me-
schen Black Metal. tal: Gerade im Black Metal und Death Metal bewegte sich in
Noch bevor wir die 1990er-Jahre erreichen, ist die Hälfte den letzten Jahren in Osteuropa enorm viel, beide werden aber
des Buches geschrieben und wird von einer nicht repräsen- hier nicht besprochen. Dies zum einen. Auf der anderen Seite
tativen, bunten Glanzbilderstrecke unterbrochen – und das ist es jedoch als löblich anzuerkennen, dass hier nur darüber
mitten in Metallica. Aber danach geht es munter weiter in der geschrieben wird, wozu Interesse und inhaltliche Kompetenz
schonungslosen Geschichte, und uns wird auch nichts vorent- befähigen. So ist dieses Buch eine artige Sammlung von Re-
halten über die dunklen Kapitel des Heavy Metal: Denn selbst zensionen, die für Interessenten und Sammler auf diesem
Metalcore, Alternative Metal und Funk Metal haben sich ein Gebiet durchaus interessant sein sollte. Aus demselben Grund
paar Zeilen verdient. Und der Leser erfährt zudem, was es mit ist es jedoch für alle anderen Leser eine womöglich recht tro-
Techno Metal auf sich hat. ckene Angelegenheit, die Bewältigung dieses Buches gleicht
Auch wenn Christe eindeutig Fan des klassischen Metal- dem Durchforsten von Nachschlagewerken. Was den Infor-
Altertums ist, ist er ein treuer Metal-Kreuzritter und gewis- mationswert durchaus erhöhen würde, wäre ein Glossar. Aber
senhafter Geschichten-Schreiber. Im Abgang des Buches gibt das wird von den Autoren a priori im Inhaltsverzeichnis weg-
es eine Liste der 25 besten Metal-Alben aller Zeiten, völlig sub- diskutiert, das Buch solle kein Lexikon sein, weswegen man
jektiv selbstverständlich, mit der Christe nicht nur Geschmack auf Biographien weitestgehend verzichtet habe, damit es sich
demonstriert, sondern ebenso den Beweis antritt, dass Ozzy nicht so trocken lese. Das verleitet fast zum Schmunzeln.
nicht der einzige Held ist. Ganz klar, das Buch kann nicht jeden Informationsan-
Schließlich wird noch der Halbgötter an der Axt gedacht, wie spruch erfüllen, schon gar nicht in irgendeiner Form erschöp-
Chriss Oliva oder Chuck Schuldiner, denn keine Geschichte fende und vollständige Hintergründe und Zusammenhänge
ohne zu früh Gestorbene. liefern. Doch es liefert durchaus einen Beitrag für den inte-
Den einzigen, denen dieses Buch nicht gefallen dürfte, sind ressierten Heavy-Metal-Fan und Journalisten. Nach der Be-
die Manowar-Fans: Christe sieht ihre Götter beim Pokal um trachtung der westeuropäischen und südeuropäischen Heavy-
die tollste Faust schwingende, einzig wahre Metal-Hymne nur Metal-Szene liegt hiermit nun der dritte Band vor. Falls die
auf Rang zwei… Autoren sich dazu entschließen, Asien und Südamerika mit
Jana Kimmritz auf den Menüplan zu nehmen, könnten sie damit sicher nicht
nur bei Journalisten einen Wimpel gewinnen.
Stefan Riermaier: Heavy Metal aus Osteuropa. Jana Kimmritz
2., überarb. u. erg. Aufl., I.P. Verlag Jeske/Mader GbR, Berlin
2003, 247 Seiten, 19,25 Euro Keith Kahn-Harris: Extreme Metal.
Music and culture on the edge.
Druckfrisch ist das vorliegende Werk nicht, deswegen zwar Berg, Oxford/New York 2007, 194 Seiten, 29,31 Euro
nicht im Mindesten veraltet, aber zugegebenermaßen etwas
staubig geschrieben. Die englischsprachige Buchveröffentlichung „Extreme Metal.
Es handelt sich dabei um eine Sammlung von Plattenkri- Music and culture on the edge“ des englischen Soziologen Keith
tiken, ein sehr ambitionierter und kompakter Überblick über Kahn-Harris geht auf dessen Doktorarbeit „Transgression

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Sachbuch REZENSIONEN 99

and Mundanity. The Global Extreme Metal Music Scene“ zu- Erkenntnisse auf Feldforschungsdaten, die er hauptsächlich
rück, die zwischen 1997 und 2001 am Department of Sociolo- in Israel, Schweden und Großbritannien erhoben hat. Er
gy des Goldsmiths College of London entstanden ist. sieht sich dabei in der Rolle eines Ethnographen (S. 23), der
Im Gegensatz zu vielen anderen Ländern hat sich in ein ihm weitgehend unbekanntes Feld wissenschaftlich er-
Deutschland der Begriff „Extreme Metal“ bisher noch nicht schließt. Während seiner Forschungsaktivitäten im Feld habe
etablieren können. Kahn-Harris definiert die „Extreme-Me- seine Rolle zwischen „kritischem Insider und sympathisieren-
tal-Szene“ sehr allgemein als „globale Musikszene, die in sich dem Outsider“ (S. 5) hin und her geschwankt. Ausschnitte aus
lokale Szenen enthält. Sie umschließt außerdem Szenen, die halbstrukturierten Interviews mit Fans, Musikern, Pressever-
auf der Produktion und dem Konsum spezieller Formen von tretern und Label-Inhabern setzt Kahn-Harris in seinem Buch
Extreme-Metal-Genres wie Black Metal und Death Metal ba- gezielt ein, um komplexere soziologische Ideen und Theorien
sieren. Dennoch erlaubt uns die erhebliche musikalische und an praktischen Beispielen aus der Extreme-Metal-Szene zu
institutionelle Überschneidung all dieser Szenen von einer Ex- erläutern. Seit 1997 arbeitete Kahn-Harris außerdem als Re-
treme-Metal-Szene als Gesamtheit zu sprechen.“ (S. 22) Wäh- dakteur für das britische, szeneintern äußerst renommier-
rend sich laut Kahn-Harris Black Metal, Death Metal, Grind- te Terrorizer-Magazin, was ihm nach eigenen Angaben den
core und Doom Metal recht eindeutig dem Extreme Metal Zugang zur Szene und zu interessanten Interviewpartnern
zurechnen lassen, bleibt offen, ob Musikstile wie Speed Metal der Szeneelite aus aller Welt erleichterte. So war es ihm nicht
oder Thrash Metal, die er als Wegbereiter und Vorläufer des nur möglich, sich szenespezifisches Sonderwissen (bei Kahn-
Extreme Metal ansieht, diesem zuzuordnen sind oder nicht. Harris: „subcultural capital“) anzueignen, sondern er gelangte
Jedenfalls sei den unterschiedlichen Genres des Extreme Me- darüber hinaus zu einer Innenansicht der Extreme-Metal-Sze-
tal gemein, dass sie alle einen musikalischen Radikalismus ne, wie sie nur für wenige Menschen möglich ist.
teilen, „der sie von anderen Formen des Heavy Metal klar un- Das Buch gliedert sich in acht Abschnitte. Die einzelnen
terscheidet. Alle Formen des Extreme Metal teilen sich Fans, Kapitel sind sehr übersichtlich gestaltet und münden jeweils
Musiker und Institutionen. Im Gegensatz zur sonst üblichen in einer kurzen Zusammenfassung, was hilfreich ist, da sie lo-
kommerziellen Reichweite des Heavy Metal wird Extreme gisch aufeinander aufbauen. Vereinzelt illustrieren sorgfältig
Metal durch kleinere ‚Underground’-Institutionen verbreitet, ausgewählte Schwarz-Weiß-Bilder die inhaltlichen Zusam-
die in der ganzen Welt zu finden sind. Die Unterschiede zwi- menhänge.
schen Extreme Metal und den meisten anderen Formen popu- In den ersten Kapiteln reflektiert Kahn-Harris den Stand
lärer Musik liegen vor allem darin, dass Menschen, die keine der Forschung, entwickelt die Leitfragen der Arbeit, definiert
Fans sind, die beträchtlichen Unterschiede innerhalb der Sze- den Begriff „Szene“ und führt den Terminus „transgression“
ne oft nicht wahrnehmen können“. (S. 5) Kahn-Harris wurde (engl.: Überschreitung, Übertretung, Vergehen) in seine the-
bereits 1987 durch die „John-Peel-Show“ auf BBC Radio1 auf oretischen Überlegungen zum Extreme Metal ein. Das Aus-
Grindcore und später auch auf Death Metal aufmerksam. Im reizen jeglicher Grenzen, sowohl im inhaltlichen als auch
Zuge seiner Doktorarbeit tauchte er von 1997 bis 2001 tiefer in im musikalischen Bereich, begreift Kahn-Harris als typisch
Extreme-Metal-Szenen verschiedener Länder ein. Er bezeich- und charakteristisch für die Extreme-Metal-Szene. Sonst
net sich selbst als „einen ambivalenten Fan von Extreme Me- Unaussprechliches wird hier in Bildern und Texten lustvoll
tal“ (S. 5), da ihn zwar die Musik fasziniere, er aber teilweise aufgegriffen, wobei immer wieder gesellschaftlich normierte
Probleme mit den von Extreme-Metal-Musikern vermittelten Grenzen überschritten werden. Interessanterweise unterliegt
Inhalten habe: „Im politischen Bereich konnte ich bestimm- die Extreme-Metal-Szene aber gleichzeitig szeneinternen Kon-
te Elemente der Szene nur sehr schwer akzeptieren, wie etwa ventionen: „Die Szene setzt sich selbst enge Grenzen, obwohl
beiläufig geäußerten Sexismus, Homophobie und Rassismus.“ sie andere Grenzen übertritt.“ (S. 7) Kahn-Harris interessiert
(S. 25) Methodisch basieren Kahn-Harris’ wissenschaftliche nun die Frage, wie Szenegänger mit dieser widersprüchlichen

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100 REZENSIONEN Sachbuch

„transgression“-Erfahrung umgehen und wie diese sowohl das (S. 156) möglich macht, ohne dass szeneintern irgendwelche
persönliche, individuelle Empfinden, als auch das szenische Konsequenzen gefürchtet werden müssen.
Gemeinschafts(er)leben beeinflusst. In den nachfolgenden Abschließend bleibt festzuhalten, dass Kahn-Harris hier
Kapiteln beleuchtet Kahn-Harris unter Zuhilfenahme ver- zum ersten Mal eine ausführliche, wissenschaftlich fundierte,
schiedener Schriften Pierre Bourdieus Habitus und Status der durchdachte, kluge und rundherum überzeugende „first-hand-
Extreme-Metal-Fans und beschreibt Hierarchien und Mach- research“-Studie zum Extreme Metal vorlegt, die allen Interes-
verhältnisse in der Szene. Er setzt sich ferner mit der „Infra- sierten zur Lektüre ausdrücklich empfohlen werden kann.
struktur“ der Extreme-Metal-Szene auseinander, insbesondere Sarah Chaker
mit ihren Verbreitungsnetzwerken wie Zeitschriften, Fanzines,
Labels oder Konzertveranstaltern, um näher bestimmen zu Heinrich Geiselberger (Hrsg.): Und jetzt?
können, „auf welche Art und Weise Szenemitglieder interagie- Politik, Protest und Propaganda.
ren und auf welche Art und Weise sich das Kapital bewegt und Suhrkamp Verlag, Frankfurt Main 2007,
angehäuft wird“ (S. 78). Dabei vergleicht er verschiedene Extre- 364 Seiten, 12 Euro, www.politikundprotest.de
me-Metal-Szenen in den USA, in Schweden, Großbritannien,
Israel, Europa, Südamerika und Südostasien miteinander, um Pop ist es, so geht das Bonmot, wenn man enttäuscht wird,
zu verdeutlichen, inwieweit die verschiedenen „locations“ die sich dabei aber wenigstens gut unterhalten hat. Dieses Buch
Entwicklung der regionalen Szenen und das alltägliche Szene- aus der Hochburg der bundesdeutschen Intelligenzkultur ist
leben prägen. Anschließend beschäftigt sich Kahn-Harris mit insofern Pop. Es enttäuscht, aber auf hohem Niveau. Es hat
dem „subcultural capital“ der Extreme-Metal-Szene, wobei er drei andere P-Wörter im Titel: Das schmissige „Protest“, das
zwischen einem auf Individualität ausgerichteten „transgressi- unvermeidliche „Politik“ und das schon fast vergessene und
ve subcultural capital“ und einem eher allgemein orientierten an dieser Stelle etwas unpassende „Propaganda“.
„mundane subcultural capital“ unterscheidet (S. 121 ff.). In Zuerst geht es um die drei eher klassischen Akteure Partei-
der Regel seien die Szenegänger aber bestrebt, sich beide Ar- en, Gewerkschaften und Nichtregierungsorganisationen, ih-
ten dieses „subcultural capital“ anzueignen und nach außen ren Zustand und ihre Zukunftsaussichten. Dem werden dann
zu tragen, um so von anderen Szenegängern als vollwertiges drei Typen politischen Handelns außerhalb der klassischen
Mitglied der Szene anerkannt zu werden (S. 130). In den bei- Arena gegenübergestellt: Protest, politischer Konsum und
den letzten Kapiteln geht Kahn-Harris auf den selbstreflexiven Medienaktivismus. Klaus Dörre zeigt auf, wie die Gewerk-
Umgang der Szeneanhänger mit der Musik und den Inhalten schaften ihren Ohnmachtszirkel verlassen können und wie sie
des Extreme Metal ein. Dabei attestiert er den Szenegängern sich – Tschüss Flächentarifvertrag – dem Milieu der „Arbeit-
eine „reflexive anti-reflexivity practice“ (S. 144). Mit diesem nehmer zweiter Klasse“ und dem der neuen Selbstständigen,
etwas aufgeblasenen Begriff beschreibt Kahn-Harris die für das mittlerweile ein Drittel aller Beschäftigten stelle, widmen
die Extreme-Metal-Szene typische Verweigerungshaltung, sich können bzw. müssen.
mit den „transgressiven“ Inhalten des Extreme Metal näher zu Die Gewerkschaften könnten dabei von den Instrumen-
befassen und Stellung zu diesen zu beziehen. Die häufige Mar- ten, die die neuen sozialen Bewegungen anwenden, lernen:
ginalisierung der Bedeutungen von Texten und Bildern sowie Sie müssten Konflikte wagen, Kampagnen entwickeln, offensiv
die scheinbar mangelnde individuelle Reflexion inhaltlicher Mitglieder werben und Bündnisse eingehen.
Thematiken deutet Kahn-Harris als eine Art Verteidigungs- Wie das real geht, zeigt Geiselberger in einem Beitrag zum
strategie, die zum einen das Überleben der Extreme-Metal- Social Movement Unionism in den USA, während Iris Nowak
Szene sichern soll und zum anderen eine freie Meinungsäu- über den EuroMayday in Italien und Hamburg berichtet. Über
ßerung zu den „meisten derzeitigen transgressiven Diskursen den Beitrag zum Stichwort „Protest“ von Dieter Rucht, dem
innerhalb der westlichen Kultur – einschließlich Rassismus“ Papst der Bewegungsforschung, soll hier besser der Mantel

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Sachbuch REZENSIONEN 101

des Schweigens gebreitet werden – während die Beiträge zu mit seinem Gefolge einen politisch gewollten Abstecher nach
den konkreten Beispielen des Internet-Aktivismus empfoh- West-Berlin. Studentische Proteste waren vorprogrammiert,
len werden können. Unterbrochen wird das ganze mit etwas ebenso Gegenproteste. Am Rathaus Schöneberg, wo der Schah
„Name-Dropping“ durch Interviews mit Michael Hardt, dem empfangen wurde, schlugen „Jubelperser“ genannte Schläger
Mitautor des Großwerkes „Empire“, mit der Postmarxistin auf die Anti-Schah-Demonstration ein. Statt die Geprügelten
Chantal Mouffe und mit Ulrich Beck. zu schützen, beteiligten sich viele Polizisten – Schutzpolizei in
Den meisten Beiträgen merkt man an, dass sie von jun- Uniform und politische Polizei in Zivil – daran.
gen Journalisten geschrieben wurden, sie sind gut lesbar. Die Es ist unklar, ob Benno Ohnesorg bei diesen katastropha-
Veröffentlichung zeigt, dass die krisenhaften Großorgani- len Ereignissen dabei war. Sicher ist, dass er einen Kopfkis-
sationen wie Parteien und Gewerkschaften ruhig etwas von senbezug mit der Aufschrift „Autonomie für die Teheraner
den vielfältigen Protestformen lernen können. Diese neueren Universität“ bei sich trug, als er am Abend des 2. Juni auf ei-
Formen sind allesamt von Vernetzung, Offenheit, Vielfalt nem Parkplatz in der Krummen Straße 66/67 in der Nähe der
und horizontaler Kooperation geprägt und eben deswegen Deutschen Oper von Kurras erschossen wurde.
erfolgreich geworden. Dieses Ereignis wird genau beschrieben und mit zahlrei-
Wie gesagt, es gibt schlechtere Bücher und wem die Din- chen Abbildungen sowie mit Zeugenaussagen von Polizisten,
ge, die dort erwähnt werden, bislang unbekannt sind, der hat DemonstrantInnen, Schaulustigen und zufällig in das Ge-
mit dem Buch einen preiswerten Überblick über das, was schehen geratenen Personen belegt. Soukup gibt einen guten
Linke, die nach 1966 geboren sind, heute grundlegend und Überblick über die eskalierende Gewalt prügelnder Polizisten,
wichtig finden. vereinzelt gab es auch um Deeskalation bemühte Personen
Bernd Hüttner – auch Polizeibeamte, die versuchten, ihre prügelnden Kolle-
gen aufzuhalten.
Uwe Soukup: Wie starb Benno Ohnesorg? „Der Schuss, der alles veränderte“ war das Resultat der Es-
Der 2. Juni 1967. kalation anhaltender polizeilicher Aktionen. Danach bemüh-
Verlag 1900 Berlin, Berlin 2007, 272 Seiten, 19,90 Euro ten sich viele der Beteiligten offensichtlich darum, den Tather-
gang zu verschleiern. Bei dem angeblichen Meisterschützen
Die Ermordung des Studenten Benno Ohnesorg durch den der West-Berliner Polizei Kurras hat sich einfach so – „die ist
Beamten der politischen Polizei Karl-Heinz Kurras am Abend mir losgegangen“, soll er nach dem Schuss gestammelt haben
des 2. Juni 1967 hat die Welt verändert. Sie beeinflusste die Ge- – ein Schuss aus seiner Pistole gelöst? Er hat sich – von meh-
neration von „1968“, gab der „Bewegung 2. Juni“ ihren Namen reren Polizisten umgeben – in einer Notwehrsituation befun-
und diente ihr und der „Roten Armee Fraktion“ als Legitima- den? Er gefährdete sogar die auf Ohnesorg einprügelnden Po-
tion für individuellen Terror. lizisten! Um noch mehr Verwirrung zu stiften, erfand er sogar
Zum 40. Jahrestag dieses Ereignisses hat Uwe Soukup ver- noch einen zweiten Schuss. Die polizeilichen Ermittlungen
sucht, Licht in das teilweise geheime und geheimnisvolle Dun- haben ihren Kollegen nicht bloßgestellt.
kel des damaligen Geschehens zu bringen. Dies konnte ihm Nach dem Tod von Benno Ohnesorg befand sich West-
nur begrenzt gelingen, da einige Beteiligte nicht reden woll- Berlin im „Ausnahmezustand“. Der Regierende Bürgermeister
ten, andere nicht die Wahrheit sagten sowie unterschiedliche Albertz – früher selbst als Innensenator für die Polizei zustän-
geheime Dienste und gegnerische politische Interessenten ihr dig – stellte sich fatalerweise hinter „seine“ Polizei und bil-
Unwesen trieben. ligte die von ihr inszenierte Straßenschlacht. Für studentische
Zunächst beschreibt Soukup als „Protokoll einer Eskalation“ Proteste hatte der frühere Pfarrer keinerlei Verständnis. Al-
die dem Schuss vorhergehenden Ereignisse: Der Schah von bertz und andere begingen Fehler um Fehler. Sein Pressespre-
Persien besuchte 1967 Deutschland und machte am 2. Juni cher Hanns-Peter Herz gab eine skandalöse Presseerklärung

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102 REZENSIONEN Sachbuch

heraus. Der in der SPD umstrittene Albertz unterschätzte sei- von Benno Ohnesorg informiert ist. Diese polizeiliche und
nen parteiinternen Gegner Gerd Löffler, der als Vorsitzender politische Katastrophe gehört zur Vorgeschichte der terroris-
des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses zur Ver- tischen Katastrophe des „Deutschen Herbstes“. Daran zu erin-
schleierung der Ereignisse beitrug. Der Skandal nahm seinen nern ist das Verdienst des Buches von Uwe Soukup.
Lauf: Der Ausschuss billigte das brutale Vorgehen der Polizei. Kurt Schilde
An der Entmachtung von Albertz wirkten „Linke“ wie
Harry Ristock und „Rechte“ wie Kurt Neubauer und Konsor- Martin Klimke/Joachim Scharloth (Hrsg.):
ten in einer befristeten Koalition zusammen. Sie fürchteten 1968. Handbuch zur Kultur- und
um ihre tradierten Futterkrippen im öffentlichen Dienst. Auf Mediengeschichte der Studentenbewegung.
all dies wird in den weiteren Kapiteln über die Auseinander- Verlag J. B. Metzler, Stuttgart/Weimar 2007,
setzungen in der Berliner SPD und die Demontage von Al- 323 Seiten, 49,95 Euro
bertz – der am 26. September 1967 zurücktrat – ausführlich
eingegangen, bevor abschließend die Folgen der „Provokati- Seit einigen Jahren werden in der Soziologie und der Ge-
on“ beschrieben werden. Als Resultat ist festzuhalten: „Wirk- schichts- und Politikwissenschaft die „langen“ oder auch „dy-
lich aufgeklärt wurden die Hintergründe nie.“ namischen 1960er-Jahre“ in den Ländern des globalen Nordens
Das mit 129 Abbildungen illustrierte Buch ist ein positives als Zeit einer Liberalisierung, Stabilisierung und Demokrati-
Beispiel für Recherche-Journalismus und es ist gut lesbar. Wer sierung angesehen. Wichtigste Indizien dafür seien der Wandel
sich allerdings genauer informieren und/oder etwas nach- des (jugendlichen) Konsums und des individuellen Habitus, al-
prüfen will, bekommt nur spärliche Hinweise auf die Quel- les sei – kurz gesagt – irgendwie bunter und lässiger geworden,
len und keine exakten Nachweise für die zahlreichen Zitate. oder soziologisch gesprochen, es seien „neue Symbolsysteme
Das ist einerseits der Preis für die ausgezeichnete Lesbarkeit, mit langfristiger Breitenwirkung“ entstanden. Wurden die
aber andererseits misslich. Ein Nachteil ist auch, dass über den Debatten um „1968“ als Mythos und Chiffre bis vor einigen
ermordeten Benno Ohnesorg selbst wenig zu erfahren ist. Es Jahren vor allem von ZeitzeugInnen geprägt, so wird die Ar-
wäre ferner wünschenswert gewesen, wenn Soukup ausführli- beit nun immer mehr von jüngeren ForscherInnen getragen,
cher auf die Arbeit des Parlamentarischen Untersuchungsaus- ein Umstand, der auch zu einer Historisierung beiträgt. Es geht
schusses und die Gerichtsverfahren gegen den Todesschützen aber weiter. So hat die erst 2004 gegründete Zeitschrift Zeithis-
eingegangen wäre. Insbesondere dessen nicht erfolgte Verur- torische Forschungen jetzt ein Heft mit dem Schwerpunkt „Die
teilung dürfte für die spätere Radikalisierung und Militanz der 1970er-Jahre – Inventur einer Umbruchzeit“ vorgelegt.
„Bewegung 2. Juni“, der „Roten Armee Fraktion“ und anderen Die Debatten um den Stellenwert und die Deutung von
Gruppen nicht unwichtig gewesen sein. „1968“ hat sich von einer Ereignisgeschichte dahin entwickelt,
Zusammengefasst setzt sich Soukup intensiv mit der Mi- wie die Begebenheiten repräsentiert, medial aufbereitet und
schung aus Wahrheit, Halbwahrheiten und Unwahrheiten rückgespiegelt wurden. Denn spätestens seit „1968“ gilt die
auseinander. Sein Buch ist einerseits empfehlenswert für alle, Regel, „was nicht in den Medien ist, hat nicht stattgefunden“.
die die damaligen Ereignisse miterlebt haben und nun viele Diese Entwicklung in der Forschung kann einerseits als Zu-
Hintergrundinformationen erhalten, es ist aber ebenso wichtig rückweichen vor harten ökonomischen Themen (oder auch
zum Verständnis der bis heute nicht aufgearbeiteten Geschich- der „Gewaltfrage“) interpretiert werden und ist dies teilweise
te des deutschen Nachkriegsterrorismus. Den „Deutschen auch. Gleichzeitig ist nicht zu übersehen, dass der kulturelle
Herbst“ und die – aktuellen – Diskussionen über Begnadi- Sektor seit „1968“ immens an Bedeutung gewonnen hat und
gungen ehemaliger TerroristInnen kann besser verstehen, damit auch ein ökonomischer Faktor geworden ist. Zum an-
wer über die vorausgegangene Katastrophe des brutalen Poli- deren ist es sehr Erkenntnis fördernd, darüber nachzuden-
zeieinsatzes am 2. Juni 1967 und die ungesühnte Ermordung ken, ob sich ein Phänomen wie „Terrorismus“ mithilfe seiner

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Sachbuch REZENSIONEN 103

Spektrum reicht im Einzelnen von Literatur, Kunst und Film


über die Wege der transnationalen Kommunikation der Stu-
dierenden und die Vorstellung von Gegenöffentlichkeit bis hin
zu Wohnen, Mode und dem Wortschatz und der Diskussions-
wut der Revolte. Die Beiträge sind relativ kurz gehalten und
jeweils – wie das kurze, aber dafür pointierte Vorwort – mit
einem kommentierten und deshalb sehr hilfreichen Literatur-
verzeichnis versehen.
Bernd Hüttner

Christina von Hodenberg/Detlef Siegfried (Hrsg.):


Wo „1968“ liegt. Reform und Revolte in
der Geschichte der Bundesrepublik.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2006,
205 Seiten, 19,90 Euro

Wie die Debatte um die Begnadigung von Christian Klar zu


Beginn des Jahres gezeigt hat, sind die 1970er-Jahre und die
davor liegenden Ereignisse, die gemeinhin mit der Chiffre
„1968“ bezeichnet werden, samt der mit ihnen verbundenen
Konflikte, noch lange nicht vorbei. Im Gegenteil, sie sind in
der zeitgenössischen politischen Kultur präsent und tief in sie
eingeschrieben.
Die Veröffentlichungswelle zur vierzigsten Wiederkehr
von 1967/68 ist angelaufen. Der an der Universität Kopenha-
gen lehrende Detlef Siegfried ist unter den AutorInnen, die sich
zu „1968“ äußern, einer der eher sympathischen. In der kriti-
schen und linksliberalen Zeitgeschichtsschreibung zu „1968“
macht sich zunehmend die Tendenz breit, „1968“ zu nivellieren
massenmedialen Wahrnehmung und Bearbeitung besser er- und die Sozialrevolte von 1967/68 in einen gesellschaftlichen
klären und verstehen lässt oder, als weiteres Beispiel, ob sich Mega-Trend hin zu mehr Liberalität und Demokratie einzu-
durch „1968“ Sexualität verändert hat oder nicht vielmehr die ordnen. So auch der Band „Wo ‚1968‘ liegt“. Er deutet „1968“
Art und Weise wie über Sexualität geredet wurde und wird. als Chiffre für Umbrüche der modernen Gesellschaft in der
Der Band mit dem etwas anmaßenden Namen „Hand- zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Diese betrafen fast jeden
buch“ enthält ein Vorwort und 25 kurze Beiträge zu sehr Bereich der Gesellschaft: Arbeit, Mobilität, Konsum, Freizeit,
verschiedenen Aspekten von Medien und Öffentlichkeit, zu Sexualität und Erziehung – um nur die wichtigsten zu nennen.
neuen kulturellen und künstlerischen Praktiken und zur öf- Die negativen Nebenfolgen des Liberalisierungsschubs hin zu
fentlichen diskursiven Thematisierung von „Gewalt“. Geogra- einer postindustriellen Gesellschaft, die Herausgeber nennen
phisch werden nur die westlichen Länder behandelt. Dort gab hier Umweltverschmutzung, Drogenkonsum (!!!) und politi-
es „Öffentlichkeit“, in Osteuropa gab es nur die eingeschränk- schen Radikalismus, seien gegenüber den positiven eindeutig
te Form einer so genannten „zweiten Öffentlichkeit“. Das geringer zu gewichten.

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104 REZENSIONEN Sachbuch

Hodenberg und Siegfried versuchen in der Einleitung,


den Platz von „1968“ in der Geschichte der Bundesrepublik
genauer zu bestimmen. Sie setzen dazu die mit der Studen-
tenbewegung verbundenen Ereignisse ins Verhältnis zu den
längerfristigen gesellschaftlichen Entwicklungen. Die Frage
der Periodisierung lösen sie damit, dass sie das Verhältnis von
„1968“ zu den „langen 60er-Jahren“, die ungefähr den Zeit-
raum zwischen 1958 und 1973 umfassen, untersuchen.
Wichtig in dem Band ist neben dem Vorwort der weitere
Beitrag von Siegfried zur Gegenkultur in der Konsumgesell-
schaft: Durch den enormen wirtschaftlichen Aufschwung und
die Bildungsexpansion bildete sich die Jugend als eigenstän-
dige, mit eigenem Geld ausgestattete Generation heraus, die
zunehmende Freizeit wird nun als Zeit für Konsum verstan-
den. Kulturelle Außenseiter werden zu InnovatorInnen, da die
meisten der gegenkulturell codierten Produkte und Praktiken,
wie etwa Bücher, Musik, Kleidung, für die kapitalistische Ver-
marktung besonders geeignet waren. Die Jugendlichen waren
die Avantgarde des Konsums und der politischen Partizipati-
on. (Vgl. dazu auch die Rezension zu Siegfried: „Time Is on
My Side“ in dieser Ausgabe, d. Red.)
Fünf weitere Fallstudien zur Erinnerungspolitik gegen-
über dem Nationalsozialismus, zur Sexualkultur, zu den
Massenmedien, zur Schülerbewegung und zum Zivildienst
integrieren die Debatte über „1968“ in den kulturellen Wand-
lungsprozess der sechziger Jahre. Dabei erfasst der Blick eine
ganze „Gesellschaft im Aufbruch“. Westdeutschland erscheint
in dieser Perspektive als Teil eines weltweiten kulturellen und
politischen Umbruchs, der keineswegs nur von der jungen
Generation ausging.
Bernd Hüttner

Detlef Siegfried: Time Is on My Side. Hamburg angenommene Habilitationsschrift vorgelegt. Her-


Konsum und Politik in der westdeutschen ausgekommen ist ein Standardwerk, das für die (sozial-, kul-
Jugendkultur der 60er Jahre (Hamburger turwissenschaftliche und historische) Forschung nicht mehr
Beiträge zur Sozial- und Zeitgeschichte 41). wegzudenken sein wird. Thema sind die bundesdeutschen
Wallstein Verlag, Göttingen 2006, 840 Seiten, 49 Euro Jugend(sub)kulturen im Spannungsfeld von Konsum und
Politik. Der zeitliche Rahmen der Studie umfasst die Jahre
Mit diesem monumentalen Werk hat Detlef Siegfried, As- 1959 bis 1973.
sociate Professor für Neuere Deutsche Geschichte und Kul- Die 1960er-Jahre gelten als eine Zeit des bis heute nach-
turgeschichte an der Universität Kopenhagen, seine 2005 in wirkenden gesellschaftlichen Wandels, in der besonders die

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Sachbuch REZENSIONEN 105

jungen, besser gebildeten Menschen die Entwicklung voran- Gisela Notz: Warum flog die Tomate. Die autonomen
getrieben haben. Diese waren in einen umfassenden sozio- Frauenbewegungen der Siebzigerjahre.
kulturellen Umbruch eingebunden. Neu gewonnene Freizeit Verlag AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2006, 70 Seiten, 7 Euro
bot vielfältige Möglichkeiten des Konsumierens, welche wie-
derum individuelle Entfaltungsansprüche beförderten. Es Die Historikerin Gisela Notz erzählt in ihrem Buch die Ge-
war die Epoche, in der traditionelle Ordnungen nachhaltig schichte der zweiten oder auch neuen Frauenbewegung in
in Frage gestellt und neue Erfahrungs- und Lebenskonzepte der Bundesrepublik der 1970er- und 1980er-Jahre. Diese
ausgelotet wurden. Das wurde von den Ordnungshütern der wird „neue“ oder „zweite Frauenbewegung“ genannt, um
Macht nicht widerstandslos hingenommen. Hatten Ende der kenntlich zu machen, dass es von der Wende vom 19. zum 20.
1950er-Jahre bereits die Halbstarken die Nachkriegs-Bürger- Jahrhundert bis zum Nationalsozialismus schon einmal eine
lichkeit erschüttert, wetterten nun Bürger und Staat gegen die Frauenbewegung gegeben hat. Notz deutet die Entstehung der
sich verbreitende Beatmusik, gegen die Gammler, gegen lange Frauenbewegung als Reaktion auf und als Kritik an dem Po-
Haare bei Jungen und kurze Röcke bei Mädchen… Mit der litikmodell und den Inhalten, die in der reformistischen und
Emanzipation vom Althergebrachten und der Durchsetzung revolutionären Linken als Folge der Jugendrevolte und Stu-
alternativer Lebensstile setzte im Verlauf der 1960er-Jahre eine dentenbewegung von 1967/68 entstanden waren. Dort, so die
Politisierung ein. Mitgetragen wurde diese von Zeitschriften Kritik, spielten die Probleme, die sich aus der geschlechtsspe-
wie Twen, Pardon oder Konkret, in denen die veränderten zifischen Arbeits- und Rollenverteilung ergeben, keine Rolle.
Wertvorstellungen ihren Widerhall fanden. Nicht nur in den Notz unterteilt ihren Untersuchungszeitraum in vier Etap-
Medien, vor allem in der populären Musik und in den Tanzsti- pen: die Entstehungsphase (1969 bis 1974/75), die der Inner-
len – besonders im Twist –, sondern auch in der Mode erober- lichkeit (bis ungefähr 1977) und dann die der Frauenprojekte,
ten Stil- und Ausdrucksmittel der Energie, des Aufbruchs, der die zunehmend und fließend ab Ende der 1980er-Jahre in den
Vergemeinschaftung, aber auch der Individualität die (vor- im Grunde bis heute andauernden Prozess der Institutionali-
erst) jungen Massen. Privates wurde politisch, Lifestyle wurde sierung und Professionalisierung übergeht.
mit gesellschaftlicher Bedeutung aufgeladen, Räume wurden Bis Ende der 1980er-Jahre habe es drei Strömungen ge-
erobert. Es entstand eine Gegenkultur, die in ihrer kulturel- geben: erstens gemäßigte Feministinnen, die vor allem auf
len und politischen Zuspitzung heute mit dem Etikett „1968“ Gleichstellung mit Männern drängten, zweitens sozialistische
belegt ist. (Vgl. dazu auch die Rezension zu von Hodenberg/ Feministinnen, die für eine solche Gleichstellung eine Trans-
Siegfried: „Wo ‚1968‘ liegt“ in dieser Ausgabe, d. Red.) Um formation der gesellschaftlichen Verhältnisse für notwendig
1973 stabilisierte sich der Werte- und Lebensstilwandel. Die hielten und schließlich die autonome Frauenbewegung, die
„langen 1960er-Jahre“ hatten die Weichen für soziokulturelle, das Patriarchat als grundlegende gesellschaftliche Struktur
politische und ökonomische Ausdifferenzierungen gestellt. ansah und deshalb abschaffen wollte. Trotz dieser unter-
Detlef Siegfried gebührt höchste Achtung, diese für sich schiedlichen politischen Grundierungen sind die behandelten
schon umfassenden Themen Konsum, Pop, Politik und Pro- Themen ähnlich. Da ist das Verfügungsrecht über den eigenen
test in der BRD der 1960er-Jahre so detailliert und kenntnis- Körper einschließlich des Schutzes vor männlicher Gewalt,
reich zu verknüpfen. Dabei stützt er sich auf ein beeindru- die ungleiche Situation in der Arbeitswelt und nicht zuletzt
ckend umfangreiches Quellen- und Literaturstudium. Allein Aspekte von Wohnen, Kultur und Kindererziehung.
die bibliographischen Nachweise, die 69 Seiten umfassen und Der kurze Text von Notz behandelt eine Zeit, in der die
anhand derer einleitend ein aktueller Forschungsüberblick ge- politischen Verhältnisse auch in der Frauenbewegung noch
geben wird, machen dieses Buch zu einem unentbehrlichen relativ übersichtlich waren. Die Fortschritte und auch die
Nachschlagewerk. Schwierigkeiten, die sich aus der Auseinandersetzung mit post-
Antje Pfeffer modernen Theorien ab den 1990er-Jahren ergeben, werden nur

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106 REZENSIONEN Sachbuch

angedeutet. Ebenso wie die wichtige Debatte, ob es angesichts Magisterarbeit eine Vielzahl an Quellen, die von Printmedien,
von rassistischen und klassenmäßigen Spaltungen überhaupt Zeitschriften(-covern), autobiographischen Texten, Plattenre-
ein gemeinsames „Wir“ zwischen Frauen geben kann. zensionen, Flugblättern, Plakaten, grauer Literatur und archi-
Das Buch ist ein gelungener Versuch, kurz und einfüh- varischen Quellen über Filme bis hin zu Interviews reichen.
rend ein Stück Geschichte zu schreiben – die Debatten um die So präsentiert er den Lesern ein sehr fein gewebtes Netz an
aktuelle Situation und die Perspektiven der Frauenbewegung historiographischen Phänomenen.
finden selbstredend woanders statt. Es macht ungewollt auch Die von ihm untersuchten Ausformulierungen dieser
deutlich, dass noch lange nicht alle Ansprüche von feministi- „wertschätzenden Aneignung“ gliedern sich in vier Kapitel: Im
schen Theorien und Praktiken eingelöst sind. ersten Kapitel befasst er sich mit der visuellen Repräsentation
Bernd Hüttner Schwarzer Menschen durch Charles Wilps „Afri-Cola“-Kam-
pagne und zeigt anhand dieser eine Umwertung der Wahr-
Moritz Ege: Schwarz werden. „Afroamerikanophilie“ nehmung imaginierter Bilder Schwarzer Menschen, obgleich
in den 1960er und 1970er Jahren (Cultural Studies 24). sich die Kampagne derselben assoziativen und funktional ein-
Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 178 Seiten, 18,80 Euro gesetzten Mittel des Warenkolonialismus bedient.
Diese Erkenntnisse fließen in das zweite Kapitel, welches
„Afroamerikanophilie“?, fragen sich die Leser sicherlich be- sich mit dem Phänomen „Soul“ auseinandersetzt, ein. Ege
reits bei dem Titel dieses Buches, denn oft wird – sei es nun erörtert, wie Soulmusik in der BRD von weißen Rezipienten
in der Fachliteratur oder in der Presse – in Deutschland über wahrgenommen und mimetisch vereinnahmt wurde, um sich
dieses Thema nicht berichtet. Daher werde ich diesen Be- als Mitglied einer als exklusiv wahrgenommenen „Communi-
griff gleich in den Worten des Autors erklären: „Der sperrige tas“ verstehen zu dürfen. Im folgenden Kapitel verbindet er die
Terminus ‚Afroamerikanophilie‘ meint – in leicht satirischer mimetische Einnahme „Schwarzer Identität“ mit der imagi-
Anlehnung an die ‚Negrophilie‘ der 1920er-Jahre (und ohne nierten Auflösung rassistischer Diskurse durch die Postulation
intendierte Pathologiezuschreibungen!) – ein auf den ersten des sexuellen Kontaktes Schwarz-Weißer Geschlechtspartner
Blick amorphes, aber deswegen nicht weniger reales ‚kulturel- als „antirassistischen Akt“ und gibt dem Leser einen Einblick
les Thema‘, nämlich die wertschätzende Aneignung und Wahr- in die enge Verknüpfung rassistischer Diskurse mit Sexualität.
nehmung von kulturellen Formen, die ‚schwarz‘ codiert sind, Zum Abschluss ermöglicht Ege den Lesern, weiße Gegenkul-
und zugleich – in durchaus unterschiedlichem Maße – das turen aus einer in der BRD oftmals unerwähnten Perspektive
analoge Verhältnis zu schwarzen Menschen oder zumindest wahrnehmen zu können, indem er den Einfluss afroamerika-
ihren Repräsentationen.“ (S. 11f.) Weiter führt der Autor aus, nischer Bürgerrechtsbewegungen (vornehmlich die BPP) auf
dass in der BRD zwischen 1960 und 1970 „schwarz“ haupt- weiße Gegenkulturen (SDS, RAF oder „Berliner Blues“) nach-
sächlich als „US-amerikanisches schwarz“ verstanden wurde, zeichnet. Ferner zeigt sich in diesen Solidaritätsströmungen
und so ergibt sich nach Ege, dass „‚Schwarz werden‘, vorläufig der sechziger Jahre eine starke Mimikry weißer Menschen,
zu definieren ist als die Praxis der Aneignung afroamerikani- das verdeutlicht das Beispiel der White Panther Party. Jedes
scher Kultur, in deren Prozess eine wie auch immer geartete dieser Kapitel darf als ein Diskursstrang aufgefasst werden,
imaginäre oder symbolische ‚Identifikation‘ mit Schwarzen der eng mit den jeweiligen Elementen verflochten ist.
stattfindet (...), (und) ist dabei nicht nur als rhetorische Zu- Die Themen-, Quellen- und besonders die Theoriefülle er-
spitzung zu verstehen, sondern als heuristischer Analysebe- schweren es den Lesern oftmals, dem Autor zu folgen, einige
griff und phantasmatischer Fluchtpunkt afroamerikanophiler Kapitel sind stark von theoretischen Diskussionen überladen,
Diskurse und Praktiken“.(S. 12) so dass man nur mit dezidierten Vorkenntnissen folgen kann.
Auf dieser – hier äußerst reduziert dargestellten – theo- Moritz Ege versucht sich – ganz in der Tradition der Cul-
retischen Basis analysiert Moritz Ege in seiner überarbeiteten tural Studies – in der Einleitung als weißer Mann politisch

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Sachbuch REZENSIONEN 107

zu verorten, um Transparenz in sein Schreiben zu bringen. das Thema von Bedeutung sind und jedes Bewusstsein berei-
Dies gelingt ihm jedoch leider nicht durchgängig, was dazu chern können.
führt, dass ich als afrodeutsche Leserin oftmals an die Grenze Nana Adusei-Poku
meiner Toleranz gestoßen bin, wenn das N-Wort unkommen-
tiert zitiert wird und die nicht klare Definition der Begriffe Mark Terkessidis: Die Banalität des
„Schwarz“ als auch „Weiß“ in ihrer politischen und kulturellen Rassismus. Migranten zweiter Generation
Dimension und den damit verbundenen Machtstrukturen er- entwickeln eine neue Perspektive.
örtert werden. Das macht den Text oftmals sehr schwammig. Transcript Verlag, Bielefeld 2004, 226 Seiten, 23,80 Euro
So wie die von Ege beschriebenen „afroamerikanophilen“
Protagonisten nach Türen in „Schwarze Kultur“ suchen, so „Der Begriff Rassismus ist in Deutschland ein rotes Tuch. Er
verschwimmen auch im Text die Grenzen von Einnahme und ist strikt reserviert für Gewalttaten gegen Migranten, Juden
„netter“ Nachahmung und bieten durchlässige Stellen, die po- und andere Minderheiten, oder für Extremismus im Sinne der
sitiven Rassismus zulassen und schlicht eine weiße, deutsche, politischen Ideologie.“ (S. 7)
hegemoniale Perspektive reproduzieren und relativieren. So Aber was ist eigentlich Rassismus und welchen Wirk-
heißt es z. B. bei Ege: „Sich als weißer Deutscher ‚schwarz‘ zu mechanismen unterliegt er? Diese Frage versucht Mark Ter-
‚fühlen‘, war also zunächst einmal eine Form metaphorischer kessidis in seinem Buch „Die Banalität des Rassismus“ zu
Praxis, eine gegen- und populärkulturelle‚ Perspektive aus beantworten. Er geht dabei von Michel Foucaults Idee der
Unstimmigkeit heraus‘.“ (S. 158) „unterdrückten Wissensarten“ aus. Danach werden bestimm-
Es ist fraglich, welche Position der Autor bezieht. Er ver- te gesellschaftliche Kategorien, z. B. der psychisch Kranke, erst
steckt sich hinter einer dicken Theorie-Mauer und bemächtigt durch eine bestimmte Praxis geschaffen. Wenn diese Katego-
sich sogar zum Ende eines Zitates der schwarzen US-Sänge- rie etabliert ist, kann über das „Objekt“ schließlich ein Wissen
rin Donna Summer, in welchem sie die BRD auf Grund der produziert werden. Terkessidis nimmt nun an, dass dieselben
„Afroamerikanophrophilie“ als einen – paraphrasiert ausge- Mechanismen auch im Fall des Rassismus greifen. Davon
drückt – „place to be for black Americans“ darstellt (S.164). ausgehend kann man noch weiter differenzieren: Gegenüber
Das geht wirklich an der Realität vorbei, wenn man/Frau als einem verbreiteten gesellschaftlichen Wissensbestand, dem
Schwarzer Mensch im heutigen Deutschland lebt und sich ein „rassistischen Wissen“, steht ein lokales Wissen, das „Wissen
wenig mit Schwarzer Deutscher Geschichte auseinander ge- der Leute“ oder aber auch das „Wissen über Rassismus“. Die-
setzt hat. Rassismus bleibt Rassismus, ob positiv oder negativ, ses Wissen stellt der Autor ins Zentrum seiner Untersuchung.
und beides trägt das Moment der Gleichzeitigkeit im Kern mit Um etwas über das „Wissen der Leute“ zu erfahren, liegt es
sich. Die Frage der Identitätskonstruktion des Weißseins, wel- nahe, eine qualitative Sozialforschung durchzuführen. Dem
che in den Begriff der „Afroamerikanophilie“ eingeschrieben empirischen zweiten Teil des Buches hat der Autor im ersten
ist, wird zwar als Analysebegriff erwähnt, bleibt jedoch in der Teil eine Kritik der Begriffe vorangestellt. Hier geht es vor al-
konkreten thematischen Reflexion außen vor. Daher findet lem um die wissenschaftliche Rezeption der Begriffe „Auslän-
nur eine Beschreibung der „Afroamerikanophilie“ und weni- derfeindlichkeit“, „Fremdenfeindlichkeit“ und schließlich um
ger eine Reflexion über die Ausformulierungen weißer Iden- „Rassismus“. Diese unterzieht er einer grundlegenden Kritik
tität in der BRD der 1960er- und 1970er-Jahre statt. Leider, und entwickelt dann eine eigene Definition von Rassismus.
denn dieser Ausgangspunkt hätte auch zu einer deutlicheren Terkessidis beschreibt Rassismus als eine Form sozialer
Positionierung des Autors beigetragen. Praxis bei gleichzeitiger Wissensbildung. Eine Rassismusfor-
schung sieht sich so mit dem Problem konfrontiert, dass sie
Trotz all dieser Schwachpunkte möchte ich das Buch empfeh- Erkenntnisse über einen Gegenstand formulieren soll, der sei-
len, denn es enthält viele Quellen und Informationen, die für nerseits einen Prozess der Erkenntnisbildung enthält. Der hier

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108 REZENSIONEN Sachbuch

vorgestellte Rassismusbegriff des Autors umfasst drei Kompo- Trend, da war es nur eine Frage der Zeit, bis ein Buch über die
nenten: erstens die Rassifizierung, zweitens die Ausgrenzung- Jugendbewegungen erscheint, die Wien im Lauf der Jahrzehn-
spraxis und drittens die differenzierende Macht. Die Arbeits- te unsicher gemacht haben.
weise des „Apparats“ des Rassismus beschreibt er am Beispiel Das Buch ist chronologisch aufbereitet. Los geht es mit
der institutionellen Produktion von „Ausländern“. dem Beginn des 20. Jahrhunderts: die österreichische Jugend-
Im zweiten Teil des Buches kommen zehn Männer und bewegung, die jüdische Jugendbewegung, Pfadfinderbund, der
Frauen der so genannten zweiten Generation zu Wort. Als Verband jugendlicher Arbeiter, die Katholische Jugend. Das
Grundlage für die Analyse und Interpretation der mit ihnen sind interessante Informationen, die bis jetzt nur InsiderIn-
geführten Interviews dient die Aufgliederung in verschiedene nen bekannt waren. Brisant geht es weiter mit jener Phase von
„Inventare“. Im „Inventar der Praxis“ werden die Erfahrungen 1919 bis 1938, als verschiedene linke und rechte Jugendbewe-
mit bestimmten institutionellen Strukturen wie Schule, Fami- gungen in den Bann verschärfter Politisierung, Militarisie-
lie oder Staatsbürgerschaft reflektiert und deren rassistische rung und auch in den Bereich widerständlerischer Aktivitäten
Wirkmechanismen offen gelegt. Im „Inventar der rassistischen gerieten. In den Zeiten provokanter Machtdemonstrationen
Situationen“ geht es vor allem um die strukturellen Aspekte rechter Jugendlicher ist besonders das Kapitel über die Jugend
des Rassismus und um Subjektivierungsprozesse der Betrof- im Nationalsozialismus zu empfehlen. Die Hitlerjugend und
fenen. Hier wird besonders deutlich, dass die herrschende der Bund deutscher Mädel erinnern daran, dass jene Zeiten
Wahrnehmung von Rassismus als Gewalt und Extremismus nicht heroisch, sondern unselig und voller Repressionen wa-
und die Disqualifikation der Erlebnisse Betroffener dazu füh- ren. Das brauchen wir nicht wieder.
ren, dass sie krasse Fälle von Diskriminierung nicht als solche Die Schlurfs als typische Wiener Erscheinung kommen als
benennen können. Ein Befragter äußerte auf die Frage nach Widerstand leistende Jugendliche zu geschichtlichen Ehren.
den kleinen ausgrenzenden Begebenheiten: „Das ist schon so Und auch die rebellischen 1968er und ihre NachfolgerInnen
oft passiert. (...) Das ist so banal, das merk ich mir gar nicht.“ sowie die Wiener HausbesetzerInnenszene werden anschau-
Und genau an diesem Punkt hat Terkessidis angesetzt: Ihm lich aufbereitet.
geht es darum, diese kleinen Erlebnisse der Banalisierung zu Das Buch endet mit den neuesten Entwicklungen, den
entreißen. Denn dass sie immer noch als banal gelten zeigt, verschiedenen Jugendszenen. Der/die LeserIn merkt: Wien
dass wir in Deutschland noch weit von einer ernsthaften Dis- hat’s faustdick hinter den Ohren. Und die Wiener Jugendli-
kussion über Rassismus entfernt sind. chen auch.
Nadine Heymann Roman Schweidlenka

Natalia Wächter: Wunderbare Jahre? Tom Strohschneider: Erziehung in der


Jugendkultur in Wien. Produktion. Jugendbrigaden in der DDR und der
Verlag Bibliothek der Provinz, Weitra 2006, 174 Seiten, 22 Euro Konflikt um die betriebliche Jugendarbeit.
VDM Verlag Dr. Müller, Saarbrücken 2007,
Bei der Betrachtung des Bildteils im Buch wurde der Rezen- 120 Seiten, 49 Euro
sent ein wenig melancholisch, fast schon wehmütig: Da wur-
den die Wiener 1970er-Jahre wieder lebendig, die Besetzung Meldungen über Jugendbrigaden konnte man in der DDR-
der Arena, heute noch ein Musikkulturzentrum, die Friedens- Presse häufig lesen: Da wurden Planerfüllungen gefeiert oder
märsche, die eigene Jugend... Doch auch jenseits persönlicher auch bummelnde Kollegen kritisiert. Die Jugendbrigaden
Emotionen ist das Buch zu empfehlen – und das weit über den fehlten auch bei den „machtvollen Manifestationen der Arbei-
Wiener LeserInnenkreis hinaus. Für in der offenen Jugend- terklasse“ nicht. Sie waren in gewisser Weise „überall“. Erfolge
arbeit Tätige ist es fast ein Muss. Jugendkulturen liegen im konnte die SED mit den Jugendbrigaden aber nur kurzfristig

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Sachbuch REZENSIONEN 109

verbuchen. Zwar halfen die Kollektive als „Planfeuerwehren“ aus einem Haufen unerfahrener Frauen eine durchsetzungsfä-
Wettbewerbsziele zu erreichen. Auch spielten sie im Alltag der hige Mannschaft zu formen, die nur wenige Monate später ein
Beschäftigten eine große Rolle. Zur „Bildung von sozialisti- Freundschaftsspiel gegen Empor Tangermünde gewann.
schen Persönlichkeiten“ – wie von der SED erhofft – trugen Nachdem das Training anfangs auf einem Acker am Horst-
die Jugendbrigaden dagegen wenig bei. Stattdessen wurden sie weg stattfand, zog man zu Beginn der 1970er-Jahre auf einen
zum Spielball unterschiedlicher Interessen zwischen dem Ge- guten Platz in der Potsdamer Waldstadt um und trainierte nun
werkschaftsverband FDGB und der Jugendorganisation FDJ. schon dreimal pro Woche. 1981 wurde die Mannschaft von
Tom Strohschneider zeichnet die Geschichte der Jugend- Turbine Potsdam zum ersten Mal beste Frauenfußballmann-
brigaden von der unmittelbaren Nachkriegszeit bis zum Zu- schaft der DDR und viele weitere Titel sollten noch folgen.
sammenbruch des Realsozialismus nach. Im Mittelpunkt Auch im Ausland hatte sich die Ausnahmestellung der BSG
stehen dabei vor allem die Vorgaben und Erwartungen, die Turbine bald herumgesprochen, und so wurde man zu ersten
SED, FDGB und FDJ an die Arbeitsgruppen adressierten: internationalen Turnieren eingeladen, an denen man teilweise
wirtschaftliche Mobilisierung und ideologische Erziehung. nur mit gefälschten Papieren teilnehmen konnte. Auch heute
Mit der Arbeit liegt erstmals eine Gesamtdarstellung zur Ge- noch ist der 1. FFC Turbine Potsdam mit zwei Meistertiteln
schichte der DDR-Jugendbrigaden vor. und dem dreimaligen Gewinn des DFB-Pokals neben dem 1.
Bernd Hüttner FFC Frankfurt die erfolgreichste Frauenfußballmannschaft
der Bundesrepublik.
Birgit und Heiko Klasen: Elf Freundinnen. Die historischen Linien, die diese Erfolgsgeschichte zu-
Die Turbinen aus Potsdam. rückverfolgen, werden im Buch gut nachvollzogen, wobei
Das Neue Berlin, Berlin 2005, 174 Seiten, 16,90 Euro auch einige alte Anekdoten ausgegraben wurden. Die heutige
Situation des Vereins und der Spielerinnen hingegen wird nur
Noch 1989, als Frauenfußball wenig populär war und die am Rande gestreift. So erhält man wenige Hintergrundinfor-
Deutsche Nationalmannschaft den ersten von drei Europa- mationen über Training, Turnierteilnahmen, Spielalltag oder
meistertiteln errungen hatte, erhielt jede Nationalspielerin als die Spielerinnen selbst. Die wichtige und interessante Rah-
Siegprämie ein Kaffeeservice. Fußball spielende Frauen wur- mung in den großen Kontext des Frauenfußballs findet erst
den oft belächelt und meist auch unterschätzt. ganz am Ende des Buches in einer sehr kurzen „Geschichte
Inzwischen ist Frauenfußball auch in Deutschland eine des Frauenfußballs“ statt. Die schönen Fotos von Jan Kuppert
der am schnellsten wachsenden Sportarten. Nicht zuletzt illustrieren das Gesagte und könnten teilweise auch ganz für
dank der Erfolge der Nationalmannschaft und der Vereins- sich selbst stehen.
mannschaften hat sich der deutsche Frauenfußball von einer Nadine Heymann
belächelten Randsportart zu einem gesellschaftlich akzeptier-
ten Sport gemausert. Betsy Udink: Allah & Eva. Der Islam und die Frauen.
Zu den erfolgreichsten Vereinen der Frauenfußball-Bun- Verlag C. H. Beck, München 2007, 233 Seiten, 18,90 Euro
desliga gehört der 1. FFC Turbine Potsdam. In ihrem kurz-
weiligen Buch erzählen die Journalisten Birgit Klasen und Pakistan bedeutet in der Landessprache Urdu das „Land der
Heiko Klasen die Geschichte der erfolgsverwöhnten Pots- Reinen“. Als eigener Staat für Moslems 1947 im Rahmen der
damer Fußballspielerinnen um ihren langjährigen Trainer indischen Unabhängigkeit gegründet, wurde Pakistan im
Bernd Schröder. Jahr 1956 zur „islamischen Republik“ ernannt. Im Jahr 1977
Aus einer Silvesterlaune heraus wird der Verein 1971 als putschte sich General Zia ul-Haq an die Macht. Er führte die
Betriebssportgruppe des VEB Energieversorgung Potsdam ge- Scharia als Rechtsgrundlage ein, änderte das Strafrecht und
gründet. Auf eindrucksvolle Weise gelang es Bernd Schröder, trug damit entscheidend zur Islamisierung des Landes bei.

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110 REZENSIONEN Sachbuch

Hier lebte die Autorin Betsy Udink drei Jahre lang mit ihrer rung hat Pakistan ein Defizit von mindestens acht Millionen
Familie als Ehefrau eines niederländischen Diplomaten. Frauen. Es ist für Frauen das tödlichste Land der Welt.
Sie zeichnet in ihrem Buch das düstere Bild eines Lan- Es sind jedoch nicht nur Frauen, die in Pakistan diskrimi-
des, dessen Gesetze auf dem Koran basieren und 1400 Jahre niert werden. Die weltweite Organisation „Save the Children“
alt sind, die so genannten Hudud-Verordnungen. Nach die- prangert an, dass es eine weit verbreitete Praxis von Groß-
sen Dekreten werden Frauen, die „Zina“, also Ehebruch oder grundbesitzern ist, sich kleine Jungen als Mätressen zu halten.
unzüchtige Handlungen begehen, hart bestraft. So beschreibt Pädophilie, Knabenprostitution und -konkubinat sowie Ho-
Betsy Udink ihren Besuch in einem Frauengefängnis, in dem mosexualität sind laut Islam streng verboten und werden doch
90 Prozent der Frauen aufgrund von Zina-Delikten einsitzen. in großem Rahmen praktiziert. Wegen der strikten Trennung
Den meisten von ihnen wurde nie der Prozess gemacht, sie der Geschlechter ist Sex mit Jungen der einzige Sex, an den
wurden einfach von Männern eines Zina-Vergehens beschul- man problemlos herankommt und bei dem man kein Risiko
digt, ohne dass diese Anklagen je überprüft wurden. Das Kli- eingeht. Selbst in Schulen ist es üblich, dass kleine Jungen von
ma gegenüber Frauen in Pakistan ist so diskriminierend und Lehrern oder älteren Schülern vergewaltigt und missbraucht
hasserfüllt, dass es für Ehemänner und Väter ein Leichtes ist, werden. Auch Minderheiten wie Christen und islamische Sek-
sich ihrer unliebsamen Frauen und Töchter zu entledigen. ten wie die Ahmadis sind ständiger Diskriminierung und Ver-
Niemand scheint sich daran zu stören, weil das pakistanische folgung ausgesetzt.
Rechtssystem, wie alle anderen gesellschaftlichen Systeme des Islamistische Fundamentalisten behaupten, der Islam habe
Landes, schon längst zusammengebrochen ist. als einzige Religion der Welt den Frauen Rechte gegeben. Doch
Karo-kari ist die Bezeichnung für Ehrenmord. Er ist selbst ist die bedingungslose Unterwerfung der Frau ein wesentlicher
in wohlhabenden Familien mit akademischem Hintergrund Bestandteil des Islam. In der Realität gibt es für die Frau mehr
immer noch verbreitet. Die Familie ist zugleich Kläger, Rich- Verbote als Rechte. So muss z. B. eine „gute islamische Frau“
ter und Henker. Frauen leben in ständiger Angst, die Ehre der ihre Haare verdecken, weil Haare nach islamischer Vorstellung
Familie zu beschmutzen, sie sind erst das Eigentum ihrer Vä- einen Mann so erregen, dass er dafür alles im Stich lässt. Die
ter und dann ihrer Ehemänner. Fühlen diese sich in ihrer Ehre ganze Ambivalenz hinsichtlich der Frau wird auf Werbeplaka-
verletzt, erlauben ihnen zwei Bestimmungen aus dem Koran, ten deutlich, die junge Frauen am Steuer eines Cabrios mit offe-
die im pakistanischen Gesetz verankert sind, ihre Frauen zu nem Verdeck zeigen. Ungeachtet der Tatsache, dass nur wenige
töten. Die männlichen Blutsverwandten lassen es sich nicht Frauen einen Führerschein besitzen, würde kein Mann seiner
nehmen, die Strafe selbst zu vollziehen. Ein Zeitungsreporter Frau oder Tochter erlauben, so durch die Stadt zu fahren. Seit
bezeichnet Ehemänner und Brüder als tickende Zeitbomben, dem Wahlsieg der Fundamentalisten in den nördlichen Pro-
die uneingeschränkte Macht über das Schicksal ihrer Frauen vinzen ist dort Werbung mit Frauen verboten.
besitzen. Frauen, die vergewaltigt wurden, werden aus der Betsy Udink spricht von einer „Apartheid der Geschlech-
Familie bzw. Dorfgemeinschaft ausgestoßen. Wenn sie nicht ter“. Die Zustände in Pakistan, die sie in ihrem Buch beschreibt,
umgebracht werden, bleibt ihnen nur das Leben auf der Straße sind ohne Zweifel schockierend und erschütternd. Am Ende
als Bettlerin oder Prostituierte. Jede große Stadt hat ein Rot- des Buches angelangt, bin ich froh und dankbar, dass ich das
lichtviertel. Der Beruf der Prostituierten wird von der Mutter unverschämte Glück habe, als Frau in Europa zu leben. Ich
an die Tochter vererbt. habe allerdings nicht den Eindruck, dass die Autorin immer
Barbarische Sitten und Gebräuche in Pakistan sind größ- die Distanz der Beobachterin einhält. Bei einem Skiausflug
tenteils auf Feudalismus, Stammeswesen und Macht der Groß- im Hindukusch verschlägt ihr die Aussicht auf einem Berg
grundbesitzer zurückzuführen. Mädchen werden als Schadens- den Atem und sie behauptet: „Dafür haben sie [die Pakistanis,
ersatz zur Verfügung gestellt, z. B. wenn eine Geldschuld nicht E. H.] kein Auge“. Sie fragt sich, ob die Menschen in diesem
zurückgezahlt werden kann. Als Folge der Frauendiskriminie- Land nicht die Gefühle von Vitalität, Aufregung, Erwartung

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Sachbuch REZENSIONEN 111

neuer Abenteuer verspüren, die das Panorama in ihr weckt. unterhaltsame Tour durch die verschiedensten Erfahrungs-
Ist es nicht eher anmaßend zu erwarten, dass alle Menschen landschaften der in Deutschland geborenen, lebenden oder
in bestimmten Situationen das Gleiche empfinden? In einem auch in die Türkei zurückgekehrten Türken. Von Django Asül,
Kapitel wird erzählt, dass pakistanische Jungen als Kameljo- dem Kabarettisten aus Niederbayern, über Fikriye Selen Oka-
ckeys in die Vereinigten Arabischen Emirate eingeschmuggelt tan, der international bekannten Boxerin, bis Cem Özdemir,
werden. Dort leben sie mit den erwachsenen Knechten in den dem ehemaligen Bundestagsabgeordneten, bietet diese An-
Ställen, „und man darf sich gar nicht ausdenken, was dort mit thologie eine breite Palette an Hintergründen, Meinungen und
ihnen geschieht“. Gibt es nicht auch Kindesmissbrauch und Ansichten. Der Leser erhält Einblicke in Momente im Leben
-vernachlässigung in der „zivilisierten“ westlichen Welt? derer, die die Herausgeber als „Brückengeneration“ bezeichnen:
Mich nervt es jedenfalls, nur Negatives zu lesen, als würde „in der Türkei meist schon etwas fremd – und in Deutschland
die ganze arabische Welt der Barbarei frönen. Angesichts der nicht immer selbstverständlich“. Was Türken in Deutschland
Spannungen, die eh schon zwischen Orient und Okzident über immer wiederkehrende Themen wie Integration, Zuge-
herrschen, trägt dieses Buch sicher nicht zu einem besseren hörigkeit, Migration, Heimat und Herkunft denken, wird hier
Verständnis der arabisch/islamischen Welt bei. Islamophobie offen angesprochen. Die erste Liebe, Erfahrungen mit alltägli-
gibt es schon zur Genüge, und das Wort „Islamofaschisten“ in chem Rassismus und Vorurteilen sowohl in Deutschland als
diesem Buch ist auch nicht glücklich gewählt. Die beschriebe- auch in der Türkei, berufliche Einstiege, Überlebenskämpfe,
nen Zustände in Pakistan haben mich sehr an Darstellungen Sitten und Bräuche, Religionen – hier wird nichts ausgelassen.
Europas zu Zeiten der Inquisition erinnert. Macht der Islam Die Autoren zeigen, dass man sich weder für das eine noch das
vielleicht die gleiche Entwicklung durch wie das Christentum, andere entscheiden muss, dass Bikulturalität kein Nachteil ist,
nur 600 Jahre später, weil der Islam auch erst 600 Jahre nach sondern eine Bereicherung. Dieses Buch ist besonders empfeh-
dem Christentum entstanden ist? Mein Fazit: Pakistan und lenswert für all diejenigen, die mehr aus erster Hand erfahren
der ganze Orient sind nicht mit unseren Maßstäben zu mes- möchten, sei es über Old-School-Vertreter und Erfolgsrapper
sen. Die Gesellschaft in Europa hat Jahrhunderte gebraucht, Erci E oder den Verfasser von „Im Juli“, Selim Özdoğan. Ein
den heutigen Status der Frau einigermaßen zu akzeptieren. gelungenes und überzeugendes Werk!
Genauso muss sich die Gesellschaft in Pakistan selbst entwi- Ela E. Gezen
ckeln, bis sie erkennt, dass Frauen, wo immer sie auf der Erde
leben, eine Bereicherung sind. Die westliche Welt sollte dabei Hilal Sezgin: Typisch Türkin?
Vorbild sein und nicht nur anprangern und Richter spielen. Porträt einer Generation.
Auch hier gibt es noch genügend für eine Verwirklichung ei- Herder Verlag, Freiburg i. Br. 2006, 192 Seiten, 12,90 Euro
ner gerechten Gesellschaft zu tun.
Edith Hartmann In „Typisch Türkin?“ räumt Hilal Sezgin mit den gängigen
Vorurteilen über türkische Mädchen und Frauen auf. Im Ge-
Ayşegül Ecevit / Birand Bingül (Hrsg.): Was lebst du? spräch mit neunzehn Frauen türkischer Herkunft in Deutsch-
Jung, deutsch, türkisch. Geschichten aus Almanya. land gibt sie verschiedenste Lebensläufe wieder. Kiraz, Anfang
Knaur Taschenbuch Verlag, München 2005, dreißig, teilt mit uns ihre ersten Erfahrungen allein zu Haus,
255 Seiten, 8,95 Euro denn ansonsten wird für die Karrierefrau im „Hotel Mama“,
wie sie es liebevoll zu nennen pflegt, der Haushalt von ihrer
Mit „Was lebst du?“ haben die Herausgeber Ayşegül Ecevit Mutter geschmissen. Eine weitere Interviewte, Elif, ermöglicht
und Birand Bingül nicht zu viel versprochen, denn wie der dem Leser Einblicke in die Jahrhunderte alte Tradition der
Untertitel bereits andeutet, handelt es sich um „Geschichten „Sufismus“ genannten islamischen Mystik. Denn Glaube und
aus Almanya“. Sie bieten dem Leser eine aufschlussreiche und Spiritualität spiegeln sich nicht nur im Tragen des Kopftuches

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wider, wie es viele hierzulande annehmen. Auch Neslihan, die Bestsellerlisten. Titel wie „Ich klage an“ oder „Erstickt an eu-
erfolgreiche Anwältin, die in ihrem Beruf ein Kopftuch trägt ren Lügen“ erzählen von Unterdrückung und Zwangsheirat.
und bereits nach Mekka gepilgert ist, demonstriert, dass ihre Genau in dieser Zeit erschien auch das Debüt von Hatice
Religiosität in keinerlei Hinsicht aufgezwungen und unterdrü- Akyün. Die Journalistin wurde in Zentralanatolien geboren
ckend ist. Pembe wiederum, thematisch abseits von jeglicher und kam 1972 als Kind mit ihrer Familie nach Deutschland,
Religiosität, teilt ihre Erfahrungen darüber mit, als sechzehn- wo sie seither lebt. Als freie Autorin schreibt sie für den Spie-
jähriges Mädchen auf Wunsch ihrer Mutter in eine betreute gel, Emma und den Tagesspiegel und führt bei Westropolis ein
WG gezogen zu sein. Heute sagt sie: „Mit meiner Mutter kann Weblog über Kultur.
ich über alles Mögliche sprechen […] Sie ist inzwischen wie In ihrem semibiographischen Roman „Einmal Hans mit
eine gute Freundin für mich.“ In allen Beiträgen lässt sich scharfer Soße“ beschreibt sie höchst vergnüglich die Existenz
erkennen, dass die hier porträtierten Frauen, in kein ihnen zwischen zwei Welten, erklärt kulturelle und gastronomische
auferlegtes Muster hineingezwängt werden möchten. Die ty- Unterschiede, um deutlich zu machen, wie verschieden beide
pische (deutsche) Türkin, wie vom Buchtitel in Frage gestellt, Kulturen sind, und wie bereichernd es ist, wenn man aus bei-
gibt es also nicht. den Welten die positiven Seiten lebt. Akyün erzählt von dem
Während der Lektüre fällt es anfangs schwer, die jeweilige Leben als junge Türkin in Deutschland, eine junge Türkin, die
Stimme den entsprechenden Lebensläufen zuzuordnen, da die zwar kein Kopftuch trägt, aber dennoch nicht die Reize Anato-
Autorin „Lebengeschichten auseinander gerissen und unter- liens missen möchte. Sie fühlt sich zu deutsch, um eine Türkin
schiedliche Personen ineinander gebastelt“ hat. Oft kommen- zu sein, und zu türkisch, um sich eine Deutsche zu nennen.
tiert Hilal Sezgin die Aussagen ihrer Gesprächspartner, wo- Pointiert rückt sie den Eigenarten von Türken und Deutschen
bei die Übergänge zwischen Interviewerin und Befragten oft zu Leibe und erklärt, warum die Deutschen für Türken nur
fließend erscheinen oder manchmal ganz verwischen. Jedoch, Hans und Helga heißen.
je mehr der Leser im weiteren Verlauf des Buches über die Die LeserInnen erfahren von dem Leben einer Duisburger
Gesprächspartner erfährt und mit den Namen und jeweiligen Gastarbeiterfamilie – eine fremde Welt, mitten in Deutsch-
Erlebnissen vertrauter wird, desto besser gelingt es ihm, den land. Sogar im kältesten Winter werden hier Berge von Fleisch
einzelnen Laufbahnen zu folgen. Die Beiträge sind informativ, auf den Grill geworfen, Gäste werden mit zehngängigen Me-
aufrichtig und abwechslungsreich. Ein gelungenes „Porträt ei- nüs bewirtet, und es wird nach dem besten Ehemann für die
ner neuen Generation“! Tochter gesucht. Akyün hat ihren Mann fürs Leben – den Titel
Ela E. Gezen gebenden „Hans mit scharfer Soße“ – noch nicht gefunden.
Einen türkischen Macho lehnt sie entschieden ab, lieber wäre
Hatice Akyün: Einmal Hans mit scharfer Soße. ihr ein blonder Deutscher, der eine gleichberechtigte Frau an
Leben in zwei Welten. seiner Seite will. Na ja, fast zumindest: Denn weil der deutsche
Goldmann, München 2005, 190 Seiten, 18 Euro Mann an sich für sie etwas fad erscheint, bräuchte der Traum-
mann eben auch noch einen Spritzer scharfer Soße.
Im Frühjahr 2005 wurde Hatün Aynur Sürücü in Berlin von Die Autorin verschweigt nicht die Schwierigkeiten, die
ihren drei Brüdern ermordet, weil sie ihnen zu westlich lebte. sie hatte, mit ihrem „untürkischen“ Lebensstil Akzeptanz bei
Dies hat die Diskussion um die Integration von MigrantInnen ihren Eltern und ihren fünf Geschwistern zu finden. So be-
neu entfacht. Von „Parallelkulturen“ war die Rede, von Kin- richtet sie von den wiederkehrenden Heiratsgesprächen mit
dern, die bei ihrer Einschulung kaum ein Wort Deutsch spre- ihrem Vater: Erst musste es ein Türke sein, dann zumindest
chen, und von Jugendlichen, die in der neuen Heimat ihrer ein Muslim, nach ein paar Jahren hätte der Vater auch einen
Eltern und Großeltern nicht Fuß fassen können. Erfahrungs- Deutschen als Schwiegersohn akzeptiert. Heute muss er damit
berichte muslimischer Frauen standen ganz oben auf den leben, dass die Tochter fünfunddreißig ist und noch immer

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nicht verheiratet – nach türkischen Maßstäben eine uralte meiner Macht steht, um das zu verbreiten, was ich zu hören
Jungfer, die bald wieder bei ihren Eltern einziehen kann. bekomme und gut finde. Dass Sie diese Musik zu hören be-
Nadine Heymann kommen und sich daran freuen können, haben Sie den Musi-
kern zu verdanken, die sie machen – nicht J. Peel.“ (Ebd.).
Michael Heatley: John Peel. Ein Leben für die Musik. Peel wurde 1939 in Heswall (GB) als John Robert Parker
Iron Pages Verlag, Berlin 2006, 192 Seiten, 14,90 Euro Ravenscroft geboren. Er begann seine Radiokarriere 1962 in
den USA als Aushilfskraft beim Radiosender WRR in Dallas.
John Peel/Sheila Ravenscroft: Nach kürzeren Stationen bei den Sendern KOMA in Oklaho-
Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt. ma City und KMEN in San Bernardino kehrte er 1967 nach
Rogner und Bernhard bei Zweitausendeins, Berlin 2006, England zurück. Von März 1967 an bis zum Verbot aller Pira-
557 Seiten, 24,90 Euro tensender in England im August des selben Jahres moderierte
Peel für den Piratensender Big L/Radio London die zweistün-
Gleich zwei Bücher über das Leben des bekannten britischen dige Mitternachtssendung „The Perfumed Garden“. Nach der
Radiomoderators und -DJs John Peel sind 2006 in deutscher Auflösung von Big L wechselte Peel direkt zum kommerziellen
Sprache erschienen – zum einen Michael Heatleys chronolo- Radiosender BBC und gestaltete fortan auf dem neu gegrün-
gisch erzählte Biographie „John Peel. Ein Leben für die Mu- deten Sender BBC Radio 1 die Sendung „Top Gear“, die später
sik“ (englischer Originaltitel: „John Peel – A Life In Music“) in „John Peel“ umbenannt wurde. Bis zu seinem Tod 2004 ist
und zum anderen John Peels Autobiographie, die den Unter- Peel BBC Radio treu geblieben, produzierte und moderierte
titel „Memoiren des einflussreichsten DJs der Welt“ (im eng- aber diverse weitere Sendungen, wie „Home Truths“ auf Ra-
lischen Original: „Margrave of the Marshes“) trägt und die er dio 4. Im norddeutschen Raum konnte man 30 Jahre lang
aufgrund seines plötzlichen Todes 2004 in Peru nicht mehr die Sendung „John Peel’s Music on BFBS“ auf dem britischen
selbst vollenden konnte. Die zweite Hälfte des Buches stammt Soldatensender BFBS Radio 1 empfangen, seine BBC-Ra-
daher aus der Feder seiner Ehefrau Sheila Ravenscroft. dio-1-Sendungen waren weltweit über das Internet zu hören.
Peel gehörte zu der heute nahezu ausgestorbenen Spezies Weltbekannt geworden sind die „Peel Sessions“, in welchen
von Radiomachern, die sich als Vermittler zwischen Künstlern Bands ihre Musikstücke live bei ihm im Studio einspielten.
und Publikum begreifen und nicht müde werden, in unend- Dies verhalf nicht nur so mancher Band aus dem musikali-
lichen Fluten von Demo-Tapes und -CDs nach neuen, origi- schen Underground zu größerer Popularität, sondern machte
nellen Sounds zeitgenössischer Popmusik zu suchen, getreu Peel zudem zum Geburtshelfer verschiedener Musikstile wie
dem Motto: „Darunter könnte ein zweiter Elvis stecken“ (Peel/ HipHop, Punk, Hard- und Grindcore oder Techno.
Ravenscroft, S. 19). Peels Quotenungehorsam machte seine Zu den beiden deutschsprachigen Veröffentlichungen
Sendungen einzigartig und berühmt. Bei der Musikauswahl über Peels Leben ist als erstes anzumerken, dass Peels Autobi-
für seine Radiosendungen verließ sich Peel auf seine eigenen ographie Heatleys Lebensbeschreibung klar vorzuziehen ist.
Ohren, das Erfolgsrezept seiner trocken moderierten Radio- Heatleys Peel-Biographie besteht im Wesentlichen aus ei-
sendungen lautete: „A balance between things that you know ner ziemlich inspirationslosen Aneinanderreihung von chro-
people will like and things that you think people will like.“ nologisch geordneten Anekdoten und O-Tönen von John Peel
Trotz seiner Prominenz blieb Peel Zeit seines Lebens boden- selbst und von „denen, die ihn am besten kannten“ (Rückum-
ständig und bescheiden. Sein Dasein als DJ pflegte er als „pa- schlag). Eigenartigerweise kommt seine Familie im Buch so
rasitär“ zu bezeichnen, da Discjockeys „– mit beklagenswert gut wie nie zu Wort, die meisten Aussagen stammen von Ar-
wenigen Ausnahmen – weder kreativ noch produktiv“ seien beitskollegen, Freunden und Künstlern. Die zitierten Passagen
(ebd., S. 22). Peel begriff seinen Beruf als Berufung. Sein Ziel belegt Heatley nicht, so dass dem Leser unklar bleibt, woher
als Radio-DJ und -Moderator war es, „alles [zu tun], was in diese eigentlich stammen. Einige von Peels Originalaussagen

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finden sich jedoch fast wortgleich in seiner Autobiographie. wenig erfreut gewesen. Viel Löbliches lässt sich über Peels
Heatleys Buch leidet stark unter der deutschen Übersetzung und Ravenscrofts Autobiographie sagen. Schon rein äußerlich
von Alan Tepper und Isabel Parzich. Die oftmals holprigen ist das Buch ansprechend gestaltet. Das Hardcover-Exemplar
Satzkonstruktionen mindern das Lesevergnügen beträchtlich. liegt gut in der Hand, es wurde feines, champagnerfarbenes
Zusätzliche Verwirrung stiftet die häufig völlig willkürliche Papier verwendet, und die Textzeilen sind in einem angenehm
Komma-Setzung, die bezweifeln lässt, dass die deutschspra- lesbaren 1,5-Zeilen-Abstand gedruckt. Jedes Kapitel ziert zu
chige Übersetzung jemals ein Lektorat passiert hat. Im An- Anfang eine kleine Karikatur von John Peel mit oder ohne
hang findet sich eine Sammlung mit zahlreichen Statements Familienanhang, die Sheila Ravenscroft bereits zu seinen Leb-
von prominenten Persönlichkeiten wie Paul McCartney, zeiten zu zeichnen pflegte und die Peel wohl sehr geschätzt hat
Robert Plant, Courtney Love, Moby oder Thom Yorke, die (Peel/Ravenscroft, S. 18). Liebevoll ausgewählt sind auch die
Peels Lebensleistung in wenigen Worten zu würdigen versu- privaten Fotografien in schwarz-weiß, die vereinzelt Peels und
chen. Wesentlich interessanter lesen sich da Peels „feierliche Ravenscrofts Chronik illustrieren. Nach einem einleitenden
Fünfzig“ aus den Jahren 1976 bis 2003. Dabei handelt es sich Vorwort zur deutschen Ausgabe von Wolfgang Doebeling, der
nicht um die Aufstellung von John Peels persönlichen Lieb- auf Radio4U und Radio 1 zeitweise Peels Kollege war, kom-
lingssongs, sondern um die alljährliche Auflistung der bevor- men in einem kurzen Prolog Peels vier Kinder zu Wort, die
zugten Tracks der Radio-1-Hörerschaft. Auch wenn Peel die nach seinem plötzlichen Tod ihrer Mutter geholfen haben,
durch Abstimmung ermittelten „Chart“-Ergebnisse häufig seine Lebensgeschichte zu Ende zu erzählen. In der Hoffnung,
„konservativ und nostalgisch“ (Heatley, S. 158) vorkamen, so „genügend Originaltöne von ihm [zu recyceln], damit seine
hielt er diese dennoch akribisch in einem Tabellenbuch fest. Stimme durch das ganze Buch hallt“ (ebd., S. 20), haben sie
Die „feierlichen Fünfzig“ stellen heute ein beeindruckendes Peels Tagebücher gelesen, viele seiner zahlreichen Zeitungsar-
Zeugnis aus 28 Jahren Popmusikgeschichte dar, ihre Aufnah- tikel und Rezensionen studiert, Familienfotos zusammenge-
me in den Anhang von Heatleys Peel-Biographie entschädigt tragen und Erlebnisse mit ihrem Vater aus dem Gedächtnis
für den etwas langweiligen Erzählstil des Autors und die mi- zitiert. Der erste große Teil des Buches, der gut 200 Seiten um-
serable deutsche Übersetzung des Buches. fasst, stammt von John Peel selbst. In zehn Kapiteln erzählt
Die zehn Euro, die John Peels und Sheila Ravenscrofts er chronologisch und in Ich-Form sehr lebendig und oftmals
Veröffentlichung teurer ist als Heatleys Biographie, kann man selbstironisch Erlebnisse aus seiner Kindheit, der Schulzeit
getrost investieren. Dabei sollte man sich auch nicht von dem und aus seiner Zeit beim Militär. Dabei schweift Peel bei sei-
dummen und irreführenden deutschen Buchuntertitel „Me- nen Schilderungen zwar immer wieder ab und greift da, wo es
moiren des einflussreichsten DJs der Welt“ abschrecken las- ihm nötig erscheint, zeitlich voraus, allerdings verliert er dabei
sen. Wie Martin Büsser in der Jungen Welt richtig bemerkt, nie den roten Faden, so dass der Leser ihm leicht zu folgen
hatte Peel nämlich gar keinen Einfluss auf die Radiolandschaft: vermag. Peels eigene Aufzeichnungen enden mit Anekdoten
„Oder kennen Sie Rundfunk-DJs, die seine Begeisterung für aus seiner Zeit in Houston/Texas, wo Peel sich seit Anfang der
Field Recordings aus allen Teilen der Welt, für rare Schellacks, 1960er-Jahre mit Gelegenheitsjobs über Wasser hielt.
für The Fall, für Grindcore und zuletzt für den Antifolk von
Herman Düne geteilt und öffentlich ausgelebt haben?“ (Junge Im zweiten Teil des Buches, der knapp 300 Seiten umfasst,
Welt vom 6.12.2006) Peel blieb Zeit seines Lebens (leider) ein erzählt Peels Ehefrau Sheila Ravenscroft auf kluge und amü-
„Unikat ohne Nachahmer“ (ebd.), seine Einzigartigkeit speist sante Art und Weise Erlebnisse aus ihrer 36 Jahre währen-
sich allein aus dem Konformismus und der Quotengeilheit sei- den gemeinsamen Zeit. Ihre Beschreibungen, die ebenfalls in
ner Kollegen. Der stets bescheidene Peel, der „allergisch […] Ich-Form gehalten sind, setzen Ende des Jahres 1968 ein, also
auf Hybris und Hype reagierte“ (Doebeling in Peel/Ravens- zu der Zeit, in der sie Peel kennen lernte, und enden mit der
croft, S. 14), wäre über den deutschen Untertitel mit Sicherheit knappen Schilderung seiner letzten Radiosendung für Radio 1

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im Oktober 2004. Ausschnitte aus Peels Tagebüchern und aus Jahren 83 Sendungen über den Bildschirm flimmern und den
Briefwechseln zwischen ihm und seinen Fans finden in Ra- Streit der Generationen anheizen, wenn es um den Platz vor
venscrofts Ausführungen ebenso Platz wie Erzählungen ihrer dem Fernseher ging. Der Regisseur und Redakteur Michael
Kinder. In einem kurzen Epilog geht Sheila Ravenscroft dank- „Mike“ Leckebusch hat mit dem BEAT-CLUB Fernsehge-
bar auf die große öffentliche Anteilnahme ein, die ihre Familie schichte geschrieben. Er und seine Mitstreiter, zu denen Gerd
nach Peels Tod erfahren hat. Im Anhang findet sich eine Brief- Augustin, erster deutscher Discjockey und später Manager
korrespondenz von Peel mit seiner Literaturagentin Cat Ledger von Ike and Tina Turner, und der Sexualwissenschaftler und
aus den frühen 1990er-Jahren, als er zum ersten Mal ernsthaft Jazzfan Ernest Bornemann gehörten, lehnten ihr Sendeformat
über die Veröffentlichung seiner Autobiographie nachgedacht an das englische Original „Top of the Pops“ an und holten erst-
hat. Nicht zuletzt ist auf die gelungene Übersetzung von Chris- mals britische und US-amerikanische Bands und Interpreten
toph Hahn hinzuweisen. Insgesamt ein charmantes, feinsinni- nach Bremen. Hier traten Graham Bonney, Eric Burdon mit
ges Buch mit erfrischenden Anekdoten, dessen Lektüre wirk- seinen Animals, Led Zeppelin, T’Rex, Rory Gallagher, die Bee
lich Spaß macht. Peel wäre sicher zufrieden gewesen. Gees, Donovan, die Spencer Davis Group, Cream, Deep Purple,
Sarah Chaker Canned Heat, Joe Cocker, die Grateful Dead und viele andere
auf und gelangten so in Deutschland zu großer Popularität.
Uwe Nielsen: 40 Jahre BEAT-CLUB. Leckebusch wurde durch seine experimentelle Präsentation
Parthas Verlag, Berlin 2005, 185 Seiten, 19,80 Euro der Sendung zum Vorreiter einer sich erst in den 1980er-Jah-
ren ausbreitenden Videoclip-Ästhetik. Die Sendung war und
Thorsten Schmidt (Hrsg.): BEAT-CLUB. ist – heute auf DVDs erhältlich – Kult.
Alle Sendungen, alle Stars, alle Songs. Die Jahre 1965 bis 1972 waren nicht nur musikalisch eine
Kultur Buch Bremen 2005, 111 Seiten, 25 Euro aufregende Zeit. Während – ausgehend von den britischen
Inseln – der Beat die Welt eroberte, begannen die Studente-
Uschi Nerke: 40 Jahre mein BEAT-CLUB. nunruhen nachhaltige gesellschaftliche Veränderungen her-
Persönliche Erlebnisse und Erinnerungen. beizuführen. Uwe Nielsen, der Autor des Buches „40 Jahre
Kuhle Buchverlag/tema verlag, Benitz 2005, BEAT-CLUB“, stellt die Chronik der Sendung in den Kon-
99 Seiten, 8,80 Euro text zeitgeschichtlicher und kultureller Ereignisse, die da-
mals bahnbrechend und revolutionär erschienen. Jedes Jahr
The Best of BEAT-CLUB ’65-’73 (10-DVD-Box). BEAT-CLUB, jede Sendung wird mit kurzem Kommentar und
ARD Video 2002, Spieldauer: 511 Min, 113,89 Euro Playlist, mit Fotos, zeitgenössischen Daten und Fakten präsen-
tiert. So ist ein buntes Kaleidoskop entstanden, das zu einer
„Guten Tag, liebe Beat-Freunde, nun ist es endlich soweit, informativen und überaus unterhaltsamen Zeitreise durch die
in wenigen Sekunden beginnt die erste Show im Deutschen Sechziger und frühen Siebziger einlädt.
Fernsehen, die nur für Euch gemacht ist. Sie aber, meine Da- Ebenfalls zum 40-jährigen Jubiläum im Jahr 2005 doku-
men und Herren, die Sie Beat-Musik nicht mögen, bitten wir mentiert Thorsten Schmidt in „BEAT-CLUB“ chronologisch
um Ihr Verständnis: Es ist eine Live-Sendung mit jungen Leu- alle Sendungen, alle Stars und alle Songs aus dem Archiv des
ten für junge Leute. Und nun geht’s los!“ (Programmansage Senders Radio Bremen. Was dieses Buch so kurzweilig macht,
von Wilhelm „Pit“ Wieben vor der ersten Sendung des BEAT- ist nicht nur die ansprechende Schwarz-Weiß-Gestaltung mit
CLUB) Und schon schmetterten die Yankees aus Bremen ihren großartigen Fotos, sondern es sind vor allem die Anekdoten
Titel „Halbstark“ … Das war vor zweiundvierzig Jahren. Man aus Interviews mit Protagonisten wie Uschi Nerke, Dave Dee,
schrieb den 25. September 1965, als Radio Bremen die erste Gerd Augustin, Pete York oder Alice Cooper. Weitere Hinter-
Sendung des BEAT-CLUB ausstrahlte. Fortan sollten in sieben grundinformationen bieten Zeitungsberichte und Briefe von

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116 REZENSIONEN Sachbuch

Eltern und Lehrern, die den mitunter spießigen Zeitgeist der Prozessen kollektiver Identität in sozialen Bewegungen aus-
sechziger Jahre widerspiegeln. Ein unverzichtbarer Almanach einander gesetzt.
für alle BEAT-CLUB-Fans. Die Arbeit stellt vor allem die Frage, ob kollektives Handeln
Last but not least kommt Uschi Nerke zu Wort. Keine Sen- kollektive Identität voraussetzt. Um hierauf eine Antwort zu
dung des BEAT-CLUB ohne die schicke Moderatorin, die von finden, wird nach den Konstruktionsmechanismen kollek-
Anfang an dabei war und später auch die Nachfolgesendung tiver Identitäten gefragt. Ausgangspunkt der Untersuchung
„Musikladen“ präsentierte. Uschi Nerke war damals 21 Jahre sind die Prozesse, in denen kollektiv Handelnde sich und
jung und machte ein Architektur- und Hochbau-Ingenieur- ihrem Tun eine gewisse Permanenz, Kontur, einen Sinn und
Studium. Sie war Leckebusch von Rudi Carrell, bei dem sie ein Ziel verleihen. Haunss geht von der Hypothese aus, dass
für seine Show vorgesungen hatte, mit den Worten empfohlen diese kollektiven Identitäten einen wesentlichen Einfluss auf
worden: „Bei mir kann sie nicht singen, aber vielleicht kann das Mobilisierungspotenzial sozialer Bewegungen haben. Es
sie bei Dir reden.“ Das tat sie dann auch, oft etwas holprig, soll untersucht werden, welche Auswirkungen kollektive Iden-
aber das gehörte zu ihr wie ein Markenzeichen. Ebenso wie die titätskonstruktionen auf die Art und Dauer des Engagements
damals revolutionären Mini-Röcke, überhaupt das sexy Out- der AktivistInnen haben.
fit, mit dem Uschi Nerke zur Stil-Ikone der Sechziger werden Als Grundlage der Untersuchung hat der Autor die, wie
sollte. Das 40-jährige Jubiläum des BEAT-CLUB im Jahr 2005 er es nennt, autonome Bewegung und die zweite Schwulen-
war auch für Nerke Anlass, ein Erinnerungsbüchlein vorzu- bewegung in Deutschland gewählt. Die Vermutung, dass
legen. Sehr viel Wissenswertes erfährt der interessierte Leser Prozesse kollektiver Identitäten in beiden Bewegungen auf
allerdings nicht. Es sind vorwiegend Oberflächlichkeiten, die unterschiedlichen Ebenen eine Rolle spielen, bildet den
vermittelt werden. So schreibt sie, dass sie sich ihre Garderobe Ausgangspunkt für einen Vergleich der Bewegungen. Als
häufig selbst geschneidert hat, sich künstliche Wimpern an- Grundlage der empirischen Untersuchung dienen die „Bewe-
kleben ließ und mit „umwerfender“ neuer Frisur auftrat. Kein gungszeitungen“ Rosa Flieder für die Schwulenbewegung und
Wunder, dass alle Mitstreiter, Musiker und andere Zeitzeugen, Interim für die Autonomen.
die in Uschis Erinnerungsbuch zu Wort kommen, sie ganz toll Um sich dem Thema zu nähern, werden zunächst Ansät-
finden. Zu den eindrucksvollsten Texten dieses Buches zählt ze und Theorien der Bewegungsforschung vorgestellt. Das
noch Uschi Nerkes persönliche Würdigung von Mike Lecke- Konzept der „kollektiven Identität“ und die bisherige wis-
busch, der 2000 verstorben ist. senschaftliche Behandlung des Themas stehen dabei im Mit-
Nicht unerwähnt bleiben muss ein Hinweis an das Lekto- telpunkt, wobei auch verschiedene Konstrukte von Subkul-
rat: Fehler wie Mike Leckenbusch (S. 57, 69, 70), Bill Hayley, tur, Milieu bis hin zur Szene gestreift werden. Dann werden
statt Haley (S. 60) oder die Kings statt Kinks (S. 68) sind mehr jeweils die Autonomen und die zweite Schwulenbewegung
als ärgerlich. aus historischer, thematischer und diskursiver Perspektive
Antje Pfeffer betrachtet und im Anschluss daran die Prozesse kollektiver
Identität herausgearbeitet.
Sebastian Haunss: Identität in Bewegung. Im Ergebnis wird die Vermutung bestätigt, dass diese Pro-
Prozesse kollektiver Identität bei den zesse für die Entwicklung der untersuchten Bewegungen und
Autonomen und in der Schwulenbewegung. das Selbstverständnis der AktivistInnen eine sehr wichtige
VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2004, Rolle spielen.
291 Seiten, 29,90 Euro Nadine Heymann

Sebastian Haunss ist wissenschaftlicher Mitarbeiter an der


Universität Hamburg und hat sich in seiner Dissertation mit

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Sachbuch REZENSIONEN 117

Martina Claus-Bachmann: einen sehr dichten Theorieteil und die Ergebnisse ihrer em-
Die musikkulturelle Erfahrungswelt Jugendlicher. pirischen Untersuchungen. Unterrichtspraktisch stellt sie dar-
Ein kulturwissenschaftlicher Deutungsansatz über hinaus ein Multimedia-Arbeitsatelier mit Laptops und
und seine musikpädagogische Relevanz. CD-ROM-Erfahrungsstationen vor, um neben der kulturel-
2., überarb. Aufl., Ulme-Mini-Verlag, Gießen 2005., len Kompetenz unbedingt auch die mediale zu fördern. Eine
301 Seiten, 33,00 Euro dem Buch beiliegende CD-ROM visualisiert einerseits einige
theoretische Aspekte und enthält andererseits Module, beste-
Dies.: Musik kulturell vermitteln. hend aus interaktiven Shows, zu „Gothic, Metal, Rap und Rave
Musikpädagogik und kulturelle Kompetenz. – Musikerfahrungen in subkulturellen Systemen“.
Ulme-Mini-Verlag, Gießen 2006, 101 Seiten, 25,00 Euro Auf Vorträgen und ihrer Habilitationsschrift basieren die
zehn Beiträge in dem Band „Musik kulturell vermitteln“. Sie
Der kleine Ulme-Mini-Verlag in Gießen steht für die Publi- stellen eine Diskussionsbasis für diejenigen dar, die sich ei-
kation und den Vertrieb unkonventioneller didaktischer Me- nem unkonventionellen Zugang zu Musik und deren Vermitt-
dien, besonders im Bereich der Musikpädagogik. Zwei Titel lung öffnen wollen, seien es Studierende der Musikpädagogik
von Martina Claus-Bachmann liegen hier vor. Zum einen ihre oder Musikwissenschaften oder Musiklehrende. Themen wie
Habilitationsschrift „Die musikkulturelle Erfahrungswelt Ju- „Marginalität als Auslöser (musik)kultureller Formationspro-
gendlicher. Ein kulturwissenschaftlicher Deutungsansatz und zesse am Beispiel von Juden, Frauen und Punks“, „Weibliche
seine musikpädagogische Relevanz“ und zum anderen eine Rollenklischees in Musikkulturen – Wege der Konstruktion,
Sammlung von Beiträgen zu Musikpädagogik und kultureller Re- und Dekonstruktion“ oder „Medienkompetenz als Kultur-
Kompetenz. kompetenz“ verbinden auch hier wieder kulturwissenschaftli-
Martina Claus-Bachmann zeichnet sich als Expertin aus, che Ansätze mit Musikpädagogik. Die dem Band beigefügte
als Grenzgängerin zwischen Musikpädagogik, Musikethnolo- CD-ROM mit audiovisuellem und grafischem Material ist
gie und Kulturwissenschaften. Sie war Musik- und Deutschleh- unverzichtbarer Bestandteil der einzelnen Artikel. Somit kann
rerin an einer Realschule, bevor sie zu religiöser Musik in und sollte dieser Band Ausgangspunkt für einen lebendigen
Indonesien als Stabilisationsfaktor kultureller Identität bei chi- und (jugend)kulturell offenen Umgang mit Musik als einer
nesischen Migranten promovierte. Unterschiedliche Feldfor- prägenden, Identifikation stiftenden Komponente sein.
schungsprojekte führten sie nach Westafrika, Indonesien und Antje Pfeffer
Sri Lanka. Seit 2002 lehrt sie an der Universität Gießen.
In ihren Publikationen zur Musikpädagogik vertritt sie Lentos Kunstmuseum Linz (Hrsg.):
einen Ansatz, der sich von der üblichen eurozentristischen Just do it!. Die Subversion der Zeichen von
Betrachtungsweise und der Festlegung auf starre Metho- Marcel Duchamp bis Prada Meinhof.
dik distanziert. Ihre Habilitationsschrift untersucht Kultur Edition Selene, Wien 2005, 246 Seiten, 22 Euro
als dynamisches System, das im Austausch mit dem Kultur-
träger existiert. Qualitative und quantitative Erhebungen in Schick kommt er daher, dieser „Katalog“ zur gleichnamigen
Jugendgruppen und Schulklassen untermauern ihre Grund- Ausstellung im Lentos Kunstmuseum in Linz. Nicht im ge-
these, dass Jugendliche sich als Reaktion auf eine multikultu- wöhnlich quadratischen oder rechteckigen Format, sondern
rell ausgeprägte Gesellschaft eigenständige Wege kultureller in Form eines silbern-glänzenden Totenkopfes. Und auch
Ausdrucksmöglichkeiten suchen. In ihrer Forschung findet nicht mit den üblichen Ausführungen und Essays zu einzel-
die Autorin einen neuen Ansatz in der Musikpädagogik, der nen Ausstellungsexponaten und KünstlerInnen, sondern mit
für flexible ethnomusikologische bzw. kulturwissenschaftli- einer Art CutUp-Text im Sinne William S. Burroughs, der
che Methodenkompetenz plädiert. Sie untermauert ihn durch sich aus Fragmenten vieler verschiedener Veröffentlichungen

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118 REZENSIONEN Sachbuch

zusammensetzt, die sich ab dem 19. Jahrhundert im weites- Das alles wirkt sehr amüsant und liest sich schließlich auch
ten Sinne mit der Subversion von Zeichen beschäftigen. Ohne sehr spannend, aber der machtkritische Anspruch, den die Aus-
direkten Verweis auf die Original-AutorInnen wurde hier stellung offenbar präsentieren wollte, geht in der Verkürzung
fröhlich in den Publikationen zahlreicher TheoretikerInnen von Herrschaftsverhältnissen auf das „Spiel der Signifikanten“
der künstlerischen Avantgarde, Popkultur und Postmoderne und damit auf Sprache eher unter. Auch wenn es, mit Foucault
„gewildert“. So wurde aus den Ideen-„Splittern“ von Jean Bau- gesprochen, keine Erfahrungswelt außerhalb des Diskurses gibt
drillard, Dario Azzellini, Roland Barthes, Michel de Certeau, und man deshalb nicht um ihn herum kommt, will man gegen
Noam Chomsky, Michel Foucault, Umberto Eco, Bret Easton Machtrelationen protestieren und Widerstand leisten, so gilt es
Ellis, Elfriede Jelinek, Marshall McLuhan, Naomi Klein, An- doch auch die materielle Grundlage von Sprache zu reflektieren
tonio Negri, Marcel Duchamp, Ferdinand de Saussure, Guy und gegebenenfalls zu kritisieren. Genau ein solcher materialis-
Debord und vielen anderen eine einzigartige Komposition. tisch informierter Ansatz der Semiologie hätte dem Anspruch
Eine Collage ganz im Sinne des „Détournement“-Prinzips der des Ausstellungsprojektes mehr Gewicht verliehen.
Situationisten, die einzelne Bestandteile aus ihrem originären Christian Schmidt
Kontext reißt, sie in einen neuen Zusammenhang einfügt, so
ihre Bedeutung verändert und letztlich die Frage nach der Au- Marc Calmbach: More Than Music.
torInnenschaft einer Publikation unterläuft. Darüber hinaus Einblicke in die Jugendkultur Hardcore.
zeigt sie demonstrativ auf, dass die Bedeutungen von Zeichen Transcript Verlag, Bielefeld 2007, 274 Seiten, 27,80 Euro
niemals starr und definitiv, sondern stets flüssig sind und sich
in stetiger Veränderung befinden. Da Herrschaft auch auf Im Gegensatz zu Punk, über den wissenschaftliche Studien
Kommunikation gründet, kann durch die Subversion von Zei- mittlerweile ganze Regalwände füllen, schenkte der akade-
chen, die zur Kommunikation benötigt werden, symbolischer mische Betrieb der seit den 1980er-Jahren bestehenden Post-
Widerstand gegen die Macht geleistet werden. Dies meinte punk-Szene „Hardcore“ (HC) kaum Beachtung. Dass dies,
Umberto Eco, als er Ende der 1960er-Jahre von der so genann- wie Marc Calmbach, der Autor der vorliegenden Dissertation
ten „semiologischen Guerilla“ sprach. Und dies griff auch über Hardcore, konstatiert, an der – verglichen mit Punk – sti-
Dick Hebdige ein Jahrzehnt später in seinen Ausführungen listischen Unauffälligkeit dieser Szene liegt, mag sicherlich ein
über Jugendkulturen wie Punk auf, die sich Zeichen aus der Grund dafür sein. Ein weiterer lässt sich aber m. E. auch im
Alltagskultur (Sicherheitsnadeln, Ketten, Arbeiterstiefel etc.) elitären und exklusiven Selbstverständnis dieser Subkultur fin-
aneigneten und zu stilistisch subversiven Zwecken nutzten. den. Vor allem die von Calmbach in seiner Promotionsarbeit
Tatsächlich „Neues“ hat dieser Katalog also in gewissem fokussierte Do-it-Yourself-(DIY)-Hardcore-Szene grenzt sich
Sinne nicht zu bieten. All dies konnte man bereits in anderen nach außen stark ab und macht es für Eindringlinge wie For-
Büchern sehr viel detaillierter lesen. Interessant sind an ihm scherInnen extrem schwer, einen von den Szenemitgliedern
aber dennoch zwei Punkte. Erstens, wie die Idee der Ausstel- legitimierten, verstehenden Zugang dazu zu finden. Authen-
lung, nämlich die Subversion der Zeichen, bis in ihr gedruck- tizität spielt in der HC-Subkultur eine große Rolle. Diese wird
tes Begleitmedium vorgedrungen ist und damit die Grenzen vor allem durch den unkommerziell ausgerichteten Support
des „white cubes“, also des Ausstellungsraums, übertreten hat. der Community, also durch DIY-Praxis in Form von Arbeit an
Und zweitens, wie die Beispiele für subversive Zeichenspiele Fanzines, Labels, Konzerten, Vertrieben usw. hergestellt. Den
mit den theoretischen Ausführungen arrangiert sind. Wie in meisten WissenschaftlerInnen fehlt diese Einbindung in die
einer Collage, lässt sich an jeder Stelle dieses CutUp-Textes internen und praktisch orientierten Szenestrukturen, weshalb
einsteigen. Ob auf Seite 1 oder erst auf Seite 75, die Anord- sie gerade bei Hardcore immer wieder scheitern.
nung der Fragmente widersetzt sich einem linearen Lesen und Marc Calmbach hingegen war selbst lange Zeit Teil der
ist damit im besten Sinne ein postmoderner Text. Subkultur. Er veranstaltete Konzerte und spielte mit seiner

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Band Dawnbreed in den 1990er-Jahren in zahllosen Szene- und beschäftigt sich ausgiebig mit dem Erwerb und der Ver-
locations. Auch seine heutige Musikgruppe Monochrome be- mittlung von DIY-Kompetenzen. Diesem methodisch qualita-
wegt sich im Dunstkreis von Hardcore. Dadurch hat er genug tiv ausgerichteten Teil folgt im vierten Kapitel die Auswertung
biografische Anknüpfungspunkte, die ihm den Zugang zur seiner quantitativen Befragung von über 400 Hardcore-Sze-
Szene sehr erleichtern. negängerInnen aus der BRD und dem europäischen Ausland.
Doch was einerseits ein Vorteil beim Feldzugang ist, kann Ihr räumt Calmbach den größten Teil seiner Dissertation ein.
methodisch und erkenntnistheoretisch auch zum Problem Im letzten Kapitel seiner Arbeit fasst er die zentralen Ergeb-
werden. Die eigene Involviertheit in das zu untersuchende nisse seiner Studie noch einmal zusammen.
Feld kann die für eine kulturhermeneutische Studie nötige Be- Im Kapitel zu seinem theoretischen Bezugsrahmen geht
fremdung auch verhindern und blinde Flecken in der Analyse der Autor zunächst auf jene Ansätze ein, die v. a. in den 1970er-
erzeugen. Der Autor ist sich dieser Problematik bewusst und Jahren am Centre for Contemporary Cultural Studies (CCCS)
widmet ihr in seiner Dissertation ein eigenes, kleines Kapitel. in Birmingham entwickelt und verfolgt wurden. Das CCCS
In Anlehnung an den „going-native“-Begriff von EthnologIn- vertrat die Ansicht, dass Jugendsubkulturen klassenspezifische
nen, mit dem die Gefahr des Distanzverlustes auf Grund einer Phänomene seien, die mit der Kreation ihres jeweils eigenen
einseitigen Überidentifikation der Forschenden gegenüber der Stils nicht nur symbolischen Widerstand gegen die Kultur der
zu untersuchenden Kultur bezeichnet wird, nennt Calmbach Erwachsenenwelt leisteten, sondern sich auch gegen die bür-
das Phänomen, mit dem er konfrontiert ist, „going academic“. gerlich-kapitalistische Gesellschaft und deren Antagonismen
Dieses Problem, das inkorporierte Insiderwissen in akademi- richteten. Anhand aktueller Jugendkulturforschungen, die
sches Wissen zu transformieren, kann nur durch einen ständi- v. a. von individualisierungstheoretischen und postmodernen
gen selbstreflexiven Prozess und eine objektive Nachvollzieh- Ansätzen inspiriert sind, kritisiert Calmbach diese Vorstel-
barkeit des methodischen Vorgehens realisiert werden. Beides lung des CCCS. Subkulturen sind diesen Ansätzen nach nicht
gelingt dem Autor überzeugend. länger als klassenspezifische und soziokulturell homogene
Im Gegensatz zu vielen anderen Jugendkultur-Studien, Phänomene beschreibbar, die sich entlang der Dichotomie
die Stilanalysen in ihren Mittelpunkt stellen und dabei meist von Authentizität und kommodifizierender bzw. ideologi-
auf der semiologischen Ebene bleiben, widmet sich Calmbach scher Vereinnahmung erklären lassen. Der Autor folgt diesen
den Do-It-Yourself-Praktiken innerhalb der Szene, also der Ansätzen, die eine weitgehende Entkoppelung von jugendkul-
Produktivität ihrer Mitglieder. Über sie werden vornehmlich turellen Lebensweisen und objektiven Lebensbedingungen
die authentische Beteiligung an der Subkultur und damit ihre konstatieren, aber nicht uneingeschränkt Die Betonung der
Ein- und Ausschlussmechanismen verhandelt. gegenwärtigen Unbeständigkeit bzw. der Flüchtigkeit von Sti-
Calmbachs Dissertation ist in fünf Hauptkapitel gegliedert. len und die Möglichkeit ihrer laufenden An- und Abwahl, wie
Er beginnt mit der Entwicklung seiner Fragestellung und der sie einige ForscherInnen hervorheben, sieht Calmbach nicht
Präsentation des Forschungsstandes zum Thema „Hardcore“ gegeben. Authentizität im Sinne von „Realness“, konstruiert
und führt anschließend in den theoretischen Bezugsrahmen durch stilistische Kreationen und kulturelle Praktiken, spiele
seiner Studie ein. Im darauf folgenden zweiten Kapitel widmet für das Selbstverständnis von Subkulturen auch heute noch
er sich seinen Forschungsmethoden und dem erkenntnistheo- eine bedeutende Rolle. Damit schafft Calmbach in diesem
retischen und forschungspraktischen Problem des „going aca- Kapitel ein solides theoretisches Fundament für seine spätere
demic“. Im dritten Abschnitt folgt seine eigentliche Kulturana- Analyse der Do-It-Yourself-Praktiken in der Hardcore-Szene.
lyse der Hardcore-Szene. Er zeichnet den Ursprung von DIY Stärken seiner Dissertation sind die Methodenvielfalt und
nach, weist auf die wesentlichen praktischen Umsetzungen Fülle des Quellenmaterials. Neben der quantitativen Befragung
dieser Idee innerhalb der Szene hin, unternimmt eine theore- führte er acht leitfadenorientierte Experteninterviews und
tische Kontextualisierung des Phänomens des Selbermachens analysierte Fanzines, Flyer und Plattencover der Hardcore-

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120 REZENSIONEN Sachbuch

Szene. Doch während er ausführlich auf die ersten beiden In seiner quantitativen Befragung von SzenegängerInnen
Ansätze eingeht und die Methodenliteratur dazu diskutiert, ermittelt der Autor methodisch sauber und objektiv nachvoll-
bleibt die Grundlage seiner Untersuchung der subkulturellen ziehbar u. a. die demografische Struktur des HC-Publikums,
Artefakte ungeklärt. Hier bewegt sich die Analyse leider nicht seine politische und religiöse Einstellung, seine soziokulturelle
über die deskriptive Ebene hinaus und bleibt eher ahistorisch. Verortung, seine Haltung zu spezifischen Ernährungsweisen
Fanzines, Flyer und Plattencover, die sich über einen Zeitraum wie Vegetarismus und Veganismus, die sozialen Bedeutungs-
von teilweise über 20 Jahre erstrecken, werden hier in gleicher aspekte von Hardcore, die Szene-relevanten Informations-
Weise herangezogen, was auf Grund der szenegeschichtlichen quellen und die Bedeutung von Kleidung und Style innerhalb
Entwicklung m. E. jedoch nicht ohne weiteres plausibel ist. Da der Subkultur. Die Studie macht darüber hinaus klar, dass HC
es sich bei diesen Quellen um die zentralen Produkte, also die nicht einfach eine Szene ist, die an- und abgewählt werden
Materialisierungen des DIY-Prinzips handelt, hätte dies aber kann, sondern dass es sich dabei um eine Einstellung und
sicherlich noch einen tieferen Einblick in die Funktionswei- Haltung handelt, die Einfluss auf das gesamte restliche Leben
sen der Do-It-Yourself-Idee und ihren Wandel gegeben. Hier ihrer Mitglieder hat.
merkt man, dass der Schwerpunkt von Calmbachs Studie Auch wenn langjährige HC-Szene-Mitglieder und -Beob-
deutlich auf der quantitativen Erhebung liegt. achterInnen viele der Ergebnisse nicht unbedingt überraschen,
In der an das Methodenkapitel anschließenden Auseinan- so kommt dieser quantitativen Erhebung doch einerseits das
dersetzung mit dem Do-It-Yourself-Prinzip der Hardcore-Sze- Verdienst zu, die bislang subjektive Wahrnehmung und Er-
ne ist m. E. vor allem die theoretische Einbettung dieser szen- fahrung methodisch stichhaltig in objektiviertes Wissen über-
eimmanenten Philosophie und Praxis besonders gelungen. In führt zu haben und andererseits klar zu machen, dass Hardco-
Anlehnung an Pierre Bourdieus Ausführungen zur Verortung re quer zu den meisten gegenwärtigen Jugendkulturtheorien
der Kunst im System sozialer Felder beschreibt Calmbach liegt. Diese Szene entgleitet einer individualisierungstheore-
DIY-Hardcore als ein Feld eingeschränkter popkultureller tischen Betrachtung und widerspricht der vorherrschenden
Produktion. Analog zum Selbstverständnis der etablierten Annahme in der Jugendforschung, dass Gemeinschaften
Kunst und ihren Werken steht der finanzielle Mehrwert in der heutzutage eine geringere Bindungskraft aufweisen würden.
HC-Szene bei der Veröffentlichung von Fanzines und Platten Hardcore ist gerade durch sein Selbstverständnis, „more than
oder der Organisation von Konzerten und Festivals nicht im music“ zu sein, weitaus mehr als eine bloße Freizeitaktivität
Vordergrund. Die Anhäufung kulturellen Kapitals hat in der – sofern man als authentisches Mitglied partizipieren möch-
Hardcore-Szene eine größere Bedeutung für die Authentizität te. „Do It Yourself!“ ist damit nicht nur eine zentrale Idee der
der jeweiligen Feldmitgliedschaft eines Protagonisten als die HC-Szene, sondern auch die Praxis, die darüber entscheidet,
des ökonomischen Kapitals. ob man dabei ist oder eben nicht. Dies hat Marc Calmbach in
Anders als in der etablierten Kunst, in der das kulturelle seiner Studie sehr gut veranschaulicht.
Kapital streng bewacht wird, werden die DIY-Kompetenzen, Ob es sich bei Hardcore und seinem DIY-Prinzip aller-
mit denen sich dieses Kapital in der HC-Gemeinschaft an- dings tatsächlich um eine „widerspenstige“ Jugendkultur und
eignen lässt, kollektiv geteilt. So kursieren die unterschied- Praxis handelt, wie der Autor am Ende seiner Dissertation
lichsten „How to …“-Ratgeber innerhalb der Szene, die von resümiert, ist zumindest anzuzweifeln. Schließlich sind zen-
Anleitungen zur Plattenproduktion über Tipps und Tricks bei trale Ideen, die noch bis in die 1980er-Jahre hinein mit der
der Organisation von Bandtourneen bis hin zum Selbstdruck Do-It-Yourself-Philosophie verknüpft waren, heute zu zen-
der eigenen T-Shirts reichen. Auf diese Art von Erwerb und tralen Prinzipien einer neoliberalen und postfordistischen
Vermittlung von DIY-Kompetenzen geht Calmbach sehr aus- Wirtschaft geworden. Die mit DIY verknüpften Eigenschaften
führlich und anschaulich anhand entsprechender Fanzinear- der Autonomie und der Eigenverantwortung sowie die Aufhe-
tikel ein. bung der Trennung von Arbeit und Freizeit sind gegenwärtig

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Sachbuch REZENSIONEN 121

Anforderungen, die die herrschende Ökonomie an ihre Sub- Rheinland und Ruhrgebiet bis Anfang der 1980er-Jahre. Ge-
jekte stellt. Auf diese Problematik hätte Marc Calmbach zu- rade an ihr lassen sich für diese Zeit zahlreiche biographische
mindest hinweisen können. und auch ideologische Bezüge zum Kreis der Personen um Jo-
seph Beuys an der Düsseldorfer Kunstakademie ziehen. Beuys
Abgesehen davon ist ihm eine wissenschaftlich solide und zu- Schüler waren nicht nur in der Szene aktiv, auch sein erweiter-
gleich interessante und vielfältige Studie zur DIY-Hardcore- tes und nicht-elitistisches Kunstverständnis entsprach in wei-
Szene gelungen, die weit über bloße „Einblicke“ hinausgeht, wie ten Teilen dem Do-It-Yourself-Prinzip der Subkultur.
sie im Untertitel angekündigt werden. Seine Dissertation ist das Groetz Arbeit beginnt im ersten Kapitel mit der Formu-
Beste, was man bislang zu dieser Jugendkultur lesen konnte. lierung seiner Fragestellung, der Darlegung seines methodi-
Christian Schmidt schen Zugangs zum Thema, seines untersuchten Materials
und des Forschungsstandes. Leider breitet er dies auf lediglich
Thomas Groetz: Kunst – Musik. Deutscher Punk und vier Seiten aus. Darunter leidet die wissenschaftliche Nach-
New Wave in der Nachbarschaft von Joseph Beuys. vollziehbarkeit seiner Arbeit stark.
Martin Schmitz Verlag, Berlin 2002, 199 Seiten, 14,50 Euro Im zweiten Abschnitt führt er hingegen sehr anschaulich
in die geschichtliche Entwicklung des Verhältnisses von bil-
Mit der zunehmenden Komplexität von Gesellschaft werden dender Kunst und populärer Musik seit den 1960er-Jahren
die ehemals klaren Grenzen zwischen einzelnen sozialen Fel- ein. Am Beispiel von Bands wie The Who, The Beatles, The
dern immer durchlässiger. Kunst, Medien, Musik, Werbung Velvet Underground, Amon Düül, Can, Tangerine Dream oder
und viele weitere Systeme sind heute so stark miteinander ver- Kraftwerk weist er auf die zahlreichen Verknüpfungen mit der
kettet, dass es fast unmöglich erscheint, ein kulturelles Phä- Kunst hin.
nomen isoliert und nur innerhalb eines Feldes zu betrachten. Darauf folgt das dritte Kapitel, das die eigentliche Unter-
Mit den gesellschaftlichen Transformationen, die in der zwei- suchung der Relationen zwischen Kunst und Musik am Bei-
ten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Ausgangspunkt nahmen spiel von Punk/New Wave beinhaltet. Ausgangspunkt seiner
und mit den unterschiedlichsten Begriffen – von der Postmo- Analyse ist der Beuys-Schüler Jürgen Kramer, der zwischen
derne über den Postfordismus bis hin zur Reflexiven Moderne 1978 und 1982 das Fanzine Die 80er Jahre herausgab, in Bands
– belegt wurden, erfuhr diese Entwicklung von Kultur und wie Das 20. Jahrhundert spielte und den Begriff der „Neuen
Gesellschaft hin zu einem komplexen Beziehungsgeflecht ver- Welle“ maßgeblich mitprägte. Am Beispiel Jürgen Kramers
schiedener sozialer Felder einen enormen Schub. und seiner Arbeiten verdeutlicht Groetz den Ideentransfer
Punk und New Wave, die für einige Publizisten auch als zwischen Punk und Kunst und macht klar, dass die Grenze
erste postmoderne Jugendkulturen gelten, verdeutlichen die- zwischen diesen beiden Feldern durchlässig war und sie sich
se Komplexität sehr gut. Der Kunsthistoriker Thomas Groetz gegenseitig beeinflussten. Detailliert spürt er anschließend
zeigt dies in der vorliegenden Dissertation sehr anschaulich an- weitere Relationen auf. Anhand von Bands wie Der Plan und
hand der zahlreichen Verbindungen von Kunst und Musik zu Die Salinos, Labels wie „Ata Tak“ und „Pure Freude“, Punk-
den Anfangszeiten der beiden Szenen in der BRD. Dass er sich Künstlern wie Achim Weber und Walter Dahn und Szene-
dabei wiederum „nur“ auf die Relationen zwischen dem Feld Treffpunkten wie dem „Ratinger Hof “ oder der Galerie „Art
der Kunst und dem Feld der Musik bezieht, mag angesichts des Attack“ verweist er beeindruckend dicht auf die stilistischen,
Einflusses vieler anderer Felder auf das Phänomen „Punk/New biographischen und geistigen Schnittmengen zwischen Kunst
Wave“ von einigen kritisiert werden. Eine wissenschaftliche und Punk/New Wave.
Auseinandersetzung braucht aber einen Fokus, um nicht aus Groetz beendet sein Buch mit einer Zusammenfassung
dem Ruder zu laufen oder sich in der eigenen Komplexität zu und Schlussbetrachtung seiner Untersuchung. Hier weist er
verlieren. Groetz wählt die Punk- und New-Wave-Szene im noch einmal darauf hin, dass es gerade die Punk-Bewegung

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122 REZENSIONEN Sachbuch

an, dass er tief „gegraben“ hat. Nicht zuletzt deshalb liest sich
seine Dissertation bisweilen sehr spannend. Ein Manko bleibt
jedoch die viel zu kurze Darlegung seines methodischen Vor-
gehens, die unbefriedigende Auseinandersetzung mit dem
Quellenmaterial und das Fehlen eines theoretischen Bezugs-
rahmens. Liest man seine Arbeit jedoch nicht mit der „wissen-
schaftlichen Brille“, so beeindruckt sie voll und ganz.
Christian Schmidt

Ronald Galenza und Heinz Havemeister (Hrsg.):


Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop
und Independent-Szene in der DDR von 1980-1990.
Überarb. u. erw. Neuaufl., Schwarzkopf & Schwarzkopf Verlag,
Berlin 2005, 792 Seiten, 14,90 Euro

Bereits im Dezember 2005 erschien die vorliegende überar-


beitete Zweitauflage dieses Standardwerkes über Punk und
andere subkulturelle Szenen in der DDR von 1980 bis 1990.
Gegenüber der bereits sehr umfangreichen Erstausgabe
aus dem Jahr 1999, die die erste Zusammenfassung der unab-
hängigen Musikszene in der DDR war, sind zahlreiche weitere
Aufsätze hinzugekommen. So u. a. über die Aktivitäten der
Berliner Erlöserkirche und über DDR-Punk in westdeutschen,
schließlich auch ersten ostdeutschen Fanzines (verfasst von
meinem Archiv-Kollegen Christian Schmidt). Ebenfalls neu
ist ein Überblick über die Geschichte der Skinhead-Bewegung
in der DDR, außerdem am Beispiel der Ortschaft Lugau eine
Spurensuche, wie Punk auch in ländlichen Gebieten der DDR
Fuß fassen konnte.
Erweitert und aktualisiert wurde auch der umfangreiche
war, die beim Einreißen der Grenzen zwischen Popmusik und Anhang, u a. mit Diskografie und „Kassettografie“.
bildender Kunst als ein besonderer „Katalysator“ wirkte. Sie, „Wir wollen immer artig sein …“ – ursprünglich ein
so Groetz, „demonstrierte einen Zerfall von Wertigkeiten“ in Songtitel der Band Feeling B – ist das Buch, das allen an der
Bezug auf den kreativen Ausdruck, wodurch „die Trennlinie Geschichte subkultureller Jugendszenen in der DDR Interes-
zwischen so genannter hoher und niedriger Kunst nicht mehr sierten einen ersten, fundierten und dazu noch gut lesbaren
klar zu erkennen“ gewesen sei. Und dies hätte schließlich ei- Einstieg bietet. War das Erstwerk Impulsgeber für zahlreiche
nen wechselseitigen Ideen-Transfer zwischen Punk/New Wave weitere Forschungen zu Punk in der DDR, bündelt die Neu-
und dem künstlerischen Feld ermöglicht. auflage nun Erträge aus der zu Jahrtausendbeginn aufgeblüh-
Groetz‘ Untersuchung ist außerordentlich detailreich und ten Forschung zum Thema – und Dank der Taschenbuchform
bezieht viele Quellen, vom Interview über Plattencover, Fan- sogar preiswerter als zuvor.
zines, Fotos bis hin zu Gemälden ein. Man merkt dem Autor Andreas Kuttner

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Sachbuch REZENSIONEN 123

Michael Boehlke/Henryk Gericke (Hrsg.): Bandregister, das allerdings längst nicht vollständig ist, so dass
Too much future. Punk in der DDR. die bis heute wichtige Band Kaltfront fehlt.
Verbrecher Verlag, Berlin 2007, 224 Seiten, 16,80 Euro Im Ganzen, trotz meiner nun erfolgten Mäkelei am Ran-
de, eindrucksvolles, ganz großes Kino, das Spaß macht und
Endlich da, die überarbeitete Zweitauflage des Katalogs zur jedem nur zu empfehlen ist!
Ausstellung „Too much future – Ostpunk – Punk in der DDR“. Andreas Kuttner
War die Erstauflage bereits nach wenigen Tagen (nach mei-
ner Erinnerung gar am ersten Tag!) der Ausstellung in Berlin Frank Willmann (Hrsg.): Stadionpartisanen.
im Jahr 2005 vergriffen, kommt nun, zwei Jahre später, wohl Fußballfans und Hooligans in der DDR.
anlässlich der Ausstellung in Dresden seit Ende August, der Verlag Neues Leben, Berlin 2007, 223 Seiten, 16,90 Euro
überarbeitete Nachdruck.
Das absolute Standardwerk zu Punk in der DDR bleibt Dass Fußball nicht nur unterhaltsam, sondern auch ein Spie-
natürlich „Wir wollen immer artig sein“, herausgegeben von gel deutscher Zeitgeschichte sein kann, beweist das von Frank
Galenza und Havemeister, das einen mit Informationen schon Willmann herausgegebene und mit Beiträgen von Gabriele
geradezu überfordert, will man es ganz lesen. (Vgl. dazu Re- Damtew, Wolfgang Engler, Andreas Gläser und Anne Hahn
zension in dieser Ausgabe, d. Red.) versehene Buch über Fußballfans und Hooligans in der DDR.
Der vorliegende Band beleuchtet eher exemplarisch ein- Dem Herausgeber, seines Zeichens auch Schriftsteller,
zelne Aspekte von Punk in der DDR; wirklich hervorragend Journalist, Fußballer und Reisender, gelingt es, ein lebendi-
aufgemacht im künstlerischen Punk-Layout, mit Rücksicht ges Bild der Ostberliner Fußball- und Hooligan-Szene der
auf das internationale Publikum zweisprachig Deutsch-Eng- 1970er-Jahre bis zur Wende- und Nachwendezeit zu zeich-
lisch gehalten und geschrieben von Menschen, die spürbar nen. Es geht, wie es im Vorwort heißt, „um den Traum einer
geübt sind, sich auszudrücken – was aber auch zum Nachden- unbestimmten Freiheit, um Fußball, um rebellische Jugend,
ken anregt: Was ist wohl aus jenen DDR-Punks geworden, die um Kloppereien“.
heute nicht Künstler, Designer oder andere „wichtige“ Perso-
nen geworden sind? Diese bleiben hier außen vor. Wobei es ja Im Fokus des Buches steht die Rivalität von Fans der beiden
durchaus einige gäbe, die bis zum heutigen Tage aktiv in der Berliner Traditionsvereine FC Union und BFC Dynamo in der
Punk-Szene sind. Aber das abzubilden, darum geht es den He- so genannten DDR-Oberliga.
rausgebern nicht. (Wenn man böse wäre, könnte man sagen: Nach einer essayistischen Einstimmung auf das Thema
diese lassen sich heute lieber von der „Neuen Mitte“ in Berlin- durch den Berliner Autor und selbsterklärten BFC-Fan An-
Mitte und Prenzlauer Berg feiern ...) dreas Gläser kommen zunächst ausschließlich einzelne An-
hänger der beiden Fußballclubs in Interviews zu Wort. Schnell
Ihre Betrachtung endet mit dem Ende der DDR 1989/1990, wird deutlich, dass die Klischees vom „Stasiclub“ BFC auf der
und diese Aufgaben lösen sie mit einer bemerkenswerten einen und den DDR-kritischen Union-Fans auf der anderen
Leichtigkeit und Souveränität. Ein Highlight ist der Artikel Seite in keiner Weise zutreffend sind. Fragen, die immer wie-
von Galenza und Havemeister über die zweite Phase der Re- der angeschnitten werden, sind das Verhältnis der Ostberli-
pression gegen DDR-Punks, ein weiteres besonderes Bonbon ner Hooligans zu ihren Pendants aus dem Westen oder der
ist die Schilderung eines Punk-Konzerts in einem Provinz- Umgang der Polizei und der Staatssicherheit mit dem, wie es
Ort Mitte der 1980er-Jahre. Überraschend, dass gerade für die im offiziellen Sprachgebrauch hieß, „feindlich-negativen Fuß-
Thüringer Szene, die die Band Schleimkeim hervorgebracht ballanhang“. Darüber hinaus wird auf die Rolle und Entwick-
hat, ein künstlerisches Interesse dokumentiert ist. Dazu viele lung von rechtsradikalen Tendenzen und Haltungen unter den
gute Fotos (u. a. von Dachstock-Konzerten) und am Ende ein Fans und Hooligans beider Vereine eingegangen.

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124 REZENSIONEN Sachbuch

Daneben gibt es Interviews mit dem Fanforscher Hans- dar, sondern vielmehr als Ursache für das Herausbrechen der
Jörg Stiehler (Zentralinstitut für Jugendforschung), mit Mit- jungen Menschen aus sozialen und gesellschaftlichen Integra-
arbeitern des MfS sowie mit Spielern, Trainern und Funkti- tionsformen. Thomas’ Fallbeispiele veranschaulichen sehr ein-
onären beider Vereine. Außerdem werden die Journalisten dringlich, wie die aus der Armutslage der jungen Menschen
Harald Hauswald, Horst Friedemann, Edgar Külow, Michael resultierenden Einschränkungen und Entbehrungen sich so
Jahn und der bekannte DDR-Oberliga-Schiedsrichter Sieg- stark verdichten können, dass die tagtägliche Alltagsorgani-
fried Kirschen befragt. sation beeinträchtigt oder gar unmöglich wird. Ein selbst-
Der Soziologe Wolfgang Engler widmet sich in seinem bestimmtes Leben außerhalb von Armut und Marginalität
Beitrag dem Thema „Private Gewalt als politischer Akt“, Anne erscheint dann kaum noch möglich. Durch diese Darstellung
Hahn setzt sich mit dem Gewaltpotenzial der Fußballanhän- werden die Beweggründe der jungen Menschen für den täg-
ger aus Sicht der Volkspolizei und Staatssicherheitauseinander, lichen Aufenthalt am Bahnhof Zoo sehr leicht nachvollziehbar.
wobei sie unter anderem Diplomarbeiten von Absolventen der Die besondere Bedeutung dieses Treffpunktes liegt vor allem
Hochschule des MfS auswertet. in seiner Funktion als sozialer Ort. Für die jungen Menschen,
Zahlreiche Fotos von Harald Hauswald und Knut Hilde- deren Lebenssituation von Armut und gesellschaftlicher Aus-
brand, aber auch aus Fanarchiven, runden das – nicht nur für grenzung geprägt ist, bietet er fast die einzige Möglichkeit, ein
Fußballfans – lesenswerte Buch ab. Einzig ein Abkürzungsver- Netzwerk aufzubauen – sei dies auch oftmals brüchig –, das
zeichnis wäre wünschenswert, da vielleicht nicht jeder Leser ihnen ein Stück soziale Integration bietet.
unmittelbar etwas mit Begriffen wie KWO, SEZ, SGD oder Nicht nur angesichts des Umstandes, dass sich zwar zahl-
TRO anzufangen vermag. reiche wissenschaftliche Arbeiten finden lassen, die sich mit
Martin Pickelmann der Problematik von Straßenkindern und -jugendlichen be-
schäftigen, bisher aber nur wenige existieren, welche in diesem
Stefan Thomas: Berliner Szenetreffpunkt Bahnhof Zusammenhang der Gruppe junger Erwachsener einen eigen-
Zoo. Alltag junger Menschen auf der Straße. ständigen Stellenwert einräumen, stellt Thomas’ Studie eine
VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, interessante Lektüre dar. Zwar wäre es wünschenswert, wenn
Wiesbaden 2005, 249 Seiten, 22,90 Euro die Arbeit in einer etwas weniger theorielastigen Sprache ver-
öffentlicht worden wäre und der Autor auf eine allzu häufige
Für seine Promotionsarbeit im Bereich Klinische Psychologie Wiederholung bestimmter Sachverhalte und Erklärungsmus-
an der FU Berlin, deren Ergebnisse in diesem Buch veröffent- ter verzichtet hätte. Auch wäre ein nochmaliges Korrekturle-
licht sind, hat sich Diplom-Psychologe Stefan Thomas mit den sen empfehlenswert gewesen. Insgesamt ist aber festzuhalten,
„Kindern vom Bahnhof Zoo“ beschäftigt. Da im Hinblick auf dass es Stefan Thomas gelungen ist anhand der Darstellung
das Phänomen „Hinwendung zur Straße“ jedoch keineswegs seiner Studienergebnisse ein umfassendes, differenziertes und
Jugendliche oder gar Kinder, sondern junge Erwachsene die plastisches Bild der Bahnhof-Zoo-Szene zu zeichnen, bei dem
zahlenmäßig am stärksten vertretene Gruppe am Bahnhof der Autor jederzeit eine große Empathie für seine „Protago-
Zoo bilden, stehen diese im Mittelpunkt seiner Betrachtung. nisten“ und deren Handlungen spürbar werden lässt.
Mit Hilfe der Streetworker vom Verein Treberhilfe Berlin hat
Stefan Thomas Kontakt zu ihnen aufgenommen, Gespräche P.S.: Was allerdings den Verlag dazu bewogen hat, im Klap-
mit ihnen geführt und ein Jahr lang ihren Alltag beobachtet, pentext den Alltag der jungen Menschen am Treffpunkt Bahn-
um sich ein Bild von ihrer konkreten Lebenswelt zu machen. hof Zoo als u. a. „schillernd“ anzupreisen, erschließt sich beim
Das besondere Interesse seiner Studie gilt dabei der Armuts- Lesen des Buches nicht und mutet etwas zynisch an.
problematik. Für Thomas stellt sich Armut nicht nur als Be- Corinna Steffen
gleiterscheinung und indirekte Folge von „Straßenkarrieren“

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Sachbuch REZENSIONEN 125

die ärzte SONGBOOK. Die komplette Sammlung


aller Songs der Besten Band der Welt.
Bosworth Edition, [o. O.] 2004, 284 Seiten, 14,95 Euro

„Gesangbuch raus, jetzt wird gesungen, und zwar nach No-


ten!“ Mit diesem Satz donnerte früher unser Mathematikleh-
rer sein Notenheft auf das Pult, ehe es ans Abfragen ging. Si-
cher nicht zufällig erinnert auch das vorliegende Songbook in
Format und Einband an ein Gesangbuch. Es enthält die Texte
aller 274(!) bis zum September 2004 geschriebenen Songs der
Ärzte. Von „1/2 Lovesong“ über „Claudia Teil 95“, „Grace Kel-
ly“, „Mein kleiner Liebling“ und „Sweet sweet Gwendoline“ bis
„Zu spät“, alle in alphabetischer Reihenfolge und mit Hinweis
auf die Alben, auf denen sie erschienen sind, angeordnet. Zwi-
schen den Texten sind zusätzlich die Gitarrengriffe angegeben,
die wiederum in einer ausklappbaren Grifftabelle am Ende des
Buches nachzufassen sind. Abgerundet wird das Buch von ei- jedoch bei Zusammenfassungen eher oberflächlicher Gesprä-
ner zweiseitigen Diskografie der Band. che, und dass sich der immer noch politisch umtriebige Ex-
Manische Fans der Besten Band der Welt (und gibt es an- Bewegung-2.-Juni-Aktivist Ralf Reinders zu einer Teilnahme
dere?) haben das Buch, das bereits Ende 2004 erschien, sicher bereit erklärt hat, überrascht doch etwas.
schon längst. Seit April 2007 gibt es ergänzend das „Songbook So gelingt das Vorhaben Hackenbergs, einen „bunten“
Gitarrentabulatur“ mit Musiknoten. Berliner Stadtteil nachzuzeichnen, in dem der Künstler ne-
Andreas Kuttner ben dem Ex-Terroristen lebt und alle auf ihre Art glücklich
werden können ...
Dorothee Hackenberg: Kreuzberg. Kurzweilige Unterhaltung, aber nicht mehr.
Keine Atempause. Porträts. Andreas Kuttner
be.bra Verlag, Berlin 2007, 128 Seiten, 9,80 Euro
Hans Nieswandt: Disko Ramallah und andere
Neunzehn Porträts Kreuzberger Einwohnerinnen und Ein- merkwürdige Orte zum Plattenauflegen.
wohner sammelt Dorothee Hackenberg, Programm-Manage- Kiepenheuer & Witsch, Köln 2006, 223 Seiten, 8,95 Euro
rin beim Berliner Radiosender radioeins, in Zusammenarbeit
mit ihrem Hauptarbeitgeber in diesem Taschenbüchlein, das Wie haben wir uns das Leben eines House-DJs eigentlich
auf dem Weg in den Görlitzer Park oder ins Prinzenbad in vorzustellen? Neigen wir zur positiven Verklärung, wenn wir
jedes Hand- oder Badetäschchen passen sollte. uns ein lockeres Leben von Montag bis Freitag ausmalen? Da
Launige Unterhaltungen, u. a. mit Aziza A, Fritzi Haber- schläft der House-DJ immer lange und geht spät frühstücken,
land, Annette Humpe, Luci van Org, Walter Momper, Gerhard phantasieren wir uns. Er trifft dabei die anderen coolen DJs
Seyfried und Klaus Zapf werden geboten, über das vergange- aus den anderen coolen Clubs, und sie reden über das letzte
ne wie auch das aktuelle Kreuzberg und was es der bzw. dem coole Wochenende. Wer wieder wo was warum aufgelegt hat.
Befragten bedeutet. Schön, dass dabei auch relativ junge Er- Wie der Club ein einziger vibrierender kreischender Körper
eignisse wie die Diskussion um die Wrangelstraße zum Jah- war. Wie die Crowd den DJ nicht gehen lassen wollte. Die Na-
reswechsel 2006/2007 zur Sprache kamen. Im Ganzen bleibt es del in der Rille. Der frenetische Beifall beim letzten Track. Das

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126 REZENSIONEN Sachbuch

absolute Glück. So „guuddee Laune“ like. Und gut bezahlt, wurden erläutert, Soziogramme der Szene erstellt, unzählige
denken wir uns naiv, wird der DJ auch. Bücher, Broschüren und Flyer zum Drogenkonsum verteilt, Bi-
Oder, fragen wir uns, ein Knochenjob? Bandscheibenvor- ographien veröffentlicht und Hochglanz-Fotobände gedruckt.
fälle vom Plattenkoffer schleppen als Berufskrankheit? Leere In dem 2004 erschienenen Buch „Techno“ wird diese nun-
Clubs mit mürrischem Publikum, das sich nur zur Peaktime mehr zwanzig Jahre alte musikalische und soziale Bewegung
bewegen will und den DJ den Rest der Nacht gelangweilt an- aus neuer Sicht beleuchtet, denn in diesem Buch werden Er-
glotzt? Schlecht bezahlte Gigs zu unmöglichen Uhrzeiten für fahrungen und Kenntnisse der Ordnungsbehörden im Um-
Menschen mit Drogenproblemen und nach wenigen Jahren gang mit Events der Techno-Szene zusammengetragen.
ebenfalls mit Ohrenproblemen? Das Buch beginnt mit einer recht informativen Einführung
Der seit 15 Jahren aktive DJ, Musikproduzent und Pop- in die Entstehung der House- und Techno-Musik. Wichtige
journalist Hans Nieswandt klärt uns in seinem Buch „Disko Strömungen wie Disco, EBM, Chicago House, Detroit Tech-
Ramallah“ endlich auf. Er erzählt von frustrierenden Gigs als no, Gabba, Trance etc. werden in kurzen Kapiteln treffend be-
Hochzeits-DJ in Amsterdam, bei denen er gebeten wird, die schrieben. Im zweiten Abschnitt widmen sich die AutorInnen
Lieder doch bitte bis zum Ende laufen zu lassen. Er berichtet den Menschen in der Techno-Bewegung und ihren Gewohn-
von dem Publikum der Clubs, bei dem er „es mit einer kom- heiten. Dabei liegt das Augenmerk der OrdnungshüterInnen
plexen sozialen Gruppe zu tun hat, die im Lauf des Abends auf dem illegalisierten Drogenkonsum der Raver.
erheblich mutiert und meist aus allen Fugen gerät“ und verrät Eben dieser Drogenkonsum wird im Folgenden unter
uns den Inhalt des „elektronischen Musterkoffers“. stoffkundlichen, kriminalistischen und rechtlichen Aspekten
Viele der 13 Kurzgeschichten behandeln aber weniger untersucht, und daraus ergeben sich für die AutorInnen die
die konkreten Momente an den Turntables. Viel mehr geht es polizeitaktischen Eingriffsmöglichkeiten bei Techno-Events.
um die Wege und Umwege dorthin. So beschreibt er in „Von Mit großem Enthusiasmus widmen sie sich präzise und
Checkpoint zu Checkpoint“ eine Party- und Workshopreise scharfsinnig den rechtlichen Bedingungen für die Einrichtung
im Auftrag des Goethe-Instituts durch den Nahen Osten. Was von „Durchfahrtkontrollen“, „Verkehrskontrollen“, „Lagebild
in Form von leichten Anekdoten daher kommt, schildert auf abhängigen Kontrollen“, „Anhaltekontrollen“, „Kontrollen“
spannende Weise das hochgradig widersprüchliche Leben in und der „Einrichtung von Kontrollstellen“.
Israel und in den palästinensischen Gebieten. Es sind diese Da sich die OrdnungshüterInnen sehr besorgt um das
Momente der scharfen Beobachtung, verpackt in amüsanter Wohl der Teilnehmenden eines Techno-Events zeigen, dis-
und ehrlicher Erzählweise, die das Buch von vielen anderen, kutieren sie weitere spitzfindige Möglichkeiten zum Schutz
belanglos bleibenden Veröffentlichungen der Popliteratur un- dieser jungen Leute. So wird der Einsatz einer „verdeckten
terscheidet. Videoüberwachung“ ebenso gewünscht und erläutert, wie
Ralf Mahlich eine „Erstellung von Bewegungsbildern“. Selbstverständlich
sollten auch „Datenspeicherung und Errichtung von Datei-
Hartmut Brenneisen/Michael Wilksen/Michael en“ möglich sein.
Martins (Hrsg.): Techno. Professionelles Einsatz- Wem bei soviel Kontrolle dann doch der Spaß vergeht, sei
management von Polizei und Ordnungsbehörden auf das siebte Kapitel verwiesen. Hier geht es unter anderem
bei Veranstaltungen der Techno-Party-Szene. um den Umgang der Ordnungsmacht mit nicht „angemel-
Verlag Deutscher Polizeiliteratur, Hilden 2004, deten Szeneveranstaltungen“. Dort ist zu lesen: „Je weiter die
285 Seiten, 19,90 Euro Veranstaltung fortgeschritten ist, je mehr Teilnehmer sich ein-
gefunden haben und je weniger sich die Polizei insbesondere
Viel ist geschrieben worden über Techno. Die musikalische kräftemäßig auf die Lage einstellen konnte, um so schwieriger
Entstehung und Hintergründe von Kraftwerk bis Underworld ist es erfahrungsgemäß die Lage zu bewältigen.“

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Sachbuch REZENSIONEN 127

Soll heißen: Es bleibt für die Techno-Szene möglich, ihren


Spaß jenseits von Regulierung und Repression zu haben. Sie
muss nur ein wenig organisiert und schnell sein.
In diesem Sinne: Rave on!
Ralf Mahlich

Karin R. Fries/Peter H. Göbel/Elmar Lange:


Teure Jugend. Wie Teenager kompetent mit
Geld umgehen.
Verlag Barbara Budrich, Opladen/Farmington Hills 2007,
193 Seiten, 12,90 Euro

Welche Aspekte sind zu berücksichtigen, wenn man das Kon-


sum- und Finanzverhalten von Kindern und Jugendlichen
beschreiben und erklären will? Wie verschulden sich Jugend-
liche?
Wie und in welcher Form sparen sie? Wie steht es um die
„Einnahmen“ der Kinder und Jugendlichen? Wie sehen die
Kauf- und Konsummuster im Allgemeinen und die für Han-
dys im Besonderen aus? Welche Rolle spielt dabei die Wer-
bung? Diese und weitere Fragen stehen im Mittelpunkt des
Buches, welches ins Bewusstsein rücken möchte, wie Kinder
und Jugendliche im Alter von zehn bis 17 Jahren heutzutage
mit ihrem verfügbaren „Vermögen“ umgehen.
Grundlage für das Buch ist die wissenschaftliche Studie
„Jugend und Geld 2005“, die im Auftrag der SCHUFA Hol-
ding AG zwischen August 2005 und Februar 2006 unter Be-
teiligung der drei Autoren dieses Buches durchgeführt wurde.
Die wissenschaftliche Projektleitung lag bei Elmar Lange, Pro-
fessor für Soziologie an der Universität Bielefeld. Die Durch- Fünftel von ihnen kommen mit ihren „Einnahmen“ auch re-
führung der empirischen Erhebungen lag beim IJF Institut für gelmäßig aus. Wichtigster Einflussfaktor auf den Erwerb der
Jugendforschung (seit 01.01.2006 Synovate Kids+Teens), un- Finanzkompetenz ist die Familie, insbesondere „Erziehungs-
ter der Leitung von Karin Fries, Research Director und Head maßnahmen“ und Vorbildverhalten der Eltern. Die Untersu-
of Synovate Kids+Teens in München. Projektkoordinator war chung der Ausgabenstruktur der Kinder und Jugendlichen
Peter Göbel. Von den ca. 6,4 Mio. Kindern und Jugendlichen ergab relativ hohe und häufige Ausgaben für Speisen und
der untersuchten Altersgruppe wurde eine repräsentative Aus- Getränke. Dabei zeigte es sich, dass die Jüngeren besonders
wahl von etwa 1000 zugrunde gelegt. Die Kinder und Jugend- häufig und viel Geld für Süßigkeiten, die Älteren für Fastfood
lichen wurden interviewt. Jeweils ein Elternteil wurde parallel ausgaben. Die Fastfood-Ausgaben standen überhaupt an der
schriftlich befragt. Spitze bei den Verschuldungsanlässen.
Insgesamt wird den Kindern und Jugendlichen ein ho- Ein eigenes Kapitel ist dem „Spezialfall“ Handy gewidmet.
hes Maß an Finanzkompetenz bescheinigt. Mehr als vier Ein Viertel bis zu einem Drittel ihrer „Einnahmen“ geben die

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


128 REZENSIONEN Sachbuch

Kinder und Jugendlichen für das Handy aus. Die Autoren sind Tory Czartowski: Die 500 bekanntesten Marken der
der Meinung, dass sowohl die Eltern als auch die Kinder und Welt. Ein populäres Lexikon von Adidas bis Zippo.
Jugendlichen durchaus in der Lage sind, die Handykosten ef- Eichborn Verlag, Frankfurt a. M. 2004, 400 Seiten, 22,90 Euro
fektiv zu kontrollieren. Die dafür zur Verfügung stehenden
Kontrollinstrumente seien auch bekannt, könnten aber teil- Tory Czartowski ist Wirtschaftsjournalist und als freier Autor
weise noch umfassender ausgeschöpft werden. Mögliche Kon- tätig. In „Die 500 bekanntesten Marken der Welt“ beschreibt
trollinstrumente sind Prepaid-Karten, welche bei etwa vier er die Geschichte sowie interessante und amüsante Details von
Fünfteln aller Mobilfunktelefone zum Einsatz kommen, eine – nein, nicht 500 – sondern 315 weltweit bekannten Marken.
Begrenzung der Höhe des aufladbaren Guthabens, die Sper- Zumindest besteht das Lexikon aus 315 Artikeln, in denen je-
rung besonders teurer Rufnummern oder die Wahl eines Ver- doch oft auch Mutterkonzern und verwandte Marken erwähnt
trags ohne monatliche Grundgebühren. Eine effektive Kosten- werden, was die Markenanzahl etwas erhöht. Die meisten Ar-
kontrolle durch den Verbraucher ist also möglich und wird von tikel sind mit den Logos der Stichwort-Marke, gegebenenfalls
den Kindern und Jugendlichen grundsätzlich auch genutzt, so auch des Mutterkonzerns und der Schwestermarken, illust-
das Resümee. In diesem Zusammenhang sei auch erwähnt, riert und locker geschrieben. Die einzelnen Beschreibungen
dass die vorliegende Studie die weit verbreitete These, dass haben auch einen meist recht plakativen (Unter-)Titel, z. B.
Handys eines der Hauptprobleme bei der Verschuldung von Afri-Cola – „Die Hippie-Brause“, Pepsi – „Der ewige Zweite“
Kindern und Jugendlichen darstellen, widerlegt. Nur bei weni- oder BMW – „Aus Freude am Rasen“.
ger als einem Prozent aller Kinder und Jugendlichen überstei- Auch wenn es sich bei den Artikeln im Allgemeinen eher
gen die Ausgaben für Mobiltelefone deren Einnahmen. um Kurzabrisse handelt, ist ihr Umfang doch recht unter-
Den Autoren gelingt es, die wissenschaftlichen Forschungs- schiedlich. Da schlagen Apple und Mercedes mit circa vier-
ergebnisse allgemeinverständlich darzustellen. Zum besseren einhalb Seiten zu Buche, während viele andere Marken knapp
Verständnis stehen dem Leser zahlreiche Tabellen, Grafiken eine halbe Seite einnehmen. Ob diese Schwerpunktsetzung im
und Abbildungen zur Verfügung. Regelmäßig kommen auch Interesse des Autors oder in der Schwierigkeit der Informati-
die Jugendlichen selber „zu Wort“, indem Auszüge aus den In- onsbeschaffung begründet liegt, die sich primär auf firmen-
terviews nachgelesen werden können. Es ist hervorzuheben, eigenes Material sowie eine überschaubare Liste an externen
dass es den Autoren nicht zuletzt darum geht, pädagogische Büchern und Zeitschriften stützt, erfährt man nicht. Was man
Ansätze zu vermitteln. Den „abweichenden Konsummustern“ ebenfalls nicht erfährt, ist, warum genau diese Marken aus-
(bis hin zur Kaufsucht) von Kindern und Jugendlichen gilt es gewählt wurden – klar, Coca-Cola – „Die bekannteste Marke
präventiv oder intervenierend zu begegnen. Finanz- und Kon- der Welt – sollte schon vertreten sein, aber warum ausgerech-
sumkompetenz der Kinder und Jugendlichen werden als Teil net Bärenmarke und Schweppes? Im amüsant geschriebenen
einer umfassenderen Kompetenz zu selbständigem und koo- Vorwort bemerkt der Autor zwar, dass sein Lexikon keinen
perativem Verhalten angesehen, die es zu stärken gilt. Dieser Anspruch auf Vollständigkeit erhebe und dass „bei der Aus-
pädagogische Ansatz wird durch den Anhang konkretisiert, in wahl […] vor allem so genannte Consumer-Marken im Vor-
dem jeweils zehn Tipps für Eltern und für Kinder und Jugend- dergrund [standen], die bei den Konsumenten einen hohen
liche für einen verantwortungsbewussten Umgang mit Geld Bekanntheitsgrad haben“, aber wie diese genau ausgewählt
gegeben werden. Außerdem wird speziell für Lehrerinnen wurden, bleibt leider im Dunkeln. Das ist jedoch zu ver-
und Lehrer auf eine Reihe von Projekten verwiesen, die der schmerzen, wenn man bedenkt, dass es sich bei Czartowskis
Förderung der Wirtschafts- und Finanzkompetenz von Schü- Buch um ein populärwissenschaftliches Lexikon und nicht
lern dienen. Eine ausgewählte Linkliste verweist auf grundle- um eine Dissertation handelt.
gende und weiterführende Internetadressen. Alles in allem ist das Werk ein kurzweiliges Lesevergnü-
Martin Pickelmann gen, in dem man beispielsweise erfährt, dass es sich beim

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Sachbuch REZENSIONEN 129

AGFA-Mitgründer Paul Mendelssohn-Bartholdy tatsächlich Oldenburg) oder einzelner Einrichtungen nach, vor allem die
um einen Sohn des berühmten Komponisten handelt, dass Stätten, die einer „progressiven Diskotheken-Szene“ zuzu-
Walt Disney wohl keine der Disney-Figuren selbst erfunden ordnen wären, werden in den Blick genommen. Die Autoren
hat, dass die Tabakfirma Lucky Strike von einem Arzt gegrün- sind in der Regel Zeitzeugen, die sich auch in etlichen der von
det wurde und dass William Wrigley Jr. anfangs Seife und ihnen beschriebenen Einrichtungen aufgehalten haben. Sie
Backpulver verkaufte, wobei die Kaugummis nur Werbege- und die anderen BesucherInnen von Tanzlokalen oder auch
schenke waren. Das Buch ist eine wahre Fundgrube für Infor- Beatkonzerten waren damals AnhängerInnen einer zusehends
mationen, die man auf einer Party oder im Kreis von BWL- massenmedial bearbeiteten Minderheit. Der Beat und Rock
Studierenden sicher Gewinn bringend verwenden kann. kam vor allem über das Radio der britischen Streitkräfte in
Anne Hagemann die kulturelle Diaspora, später kam das Fernsehen hinzu. Die
Diskjockeys, die die besten Kontakte zu den in Holland oder
Peter Schmerenbeck (Hrsg.): Hamburg ansässigen Importeuren von Platten hatten, besaßen
„Break on through to the other side“. Tanzschuppen, einen Vorteil. Weitere Beiträge behandeln das Verhältnis von
Musikclubs und Diskotheken in Weser-Ems. Jazz- und Rockfans in den 1950er-Jahren in Oldenburg oder
Katalog zur Sonderausstellung im Schlossmuseum die Entwicklung in der Medien- und Lichttechnik und deren
Jever vom 1.9.2007 bis 27.4.2008 (Kataloge und Auswirkungen auf die Diskotheken.
Schriften des Schlossmuseums Jever 27).
Isensee Verlag, Oldenburg 2007, 239 Seiten, 19,80 Euro Das Buch lebt von seinem Nostalgiefaktor, der von seinen pop-
sozialisierten LeserInnen wohl sehr gerne angenommen wird.
In diesem reichhaltig und größtenteils vierfarbig illustrierten Es enthält eine Unmenge an Daten, sein analytischer Gehalt
Buch geht es um die Orte und Räume, in denen vorrangig ju- ist aber überschaubar und entspricht dem eines Ausstellungs-
gendliche AkteurInnen Rockmusik als Leitmedium ihres Ha- kataloges. Die Inhaber der Diskotheken zum Beispiel werden
bitus ausleben konnten. Rock ist Mitte der 1960er-Jahre noch zwar namentlich genannt, bleiben aber seltsam blass. Wer wa-
ein halbwegs dissidentes Mittel, und die ersten Beatschuppen ren sie? Hatten sie eine politische oder kulturelle Mission, wie
sind zweckentfremdete Tanzsäle in Landgaststätten, die tem- es bei der Beschreibung einiger, vor allem von Meta Rogall,
porär für einen Nachmittag (die Konzerte beginnen oft schon der Gründerin von „Metas Musikschuppen“ in Norddeich
um 16 und enden um 21 Uhr) oder auf Dauer umgenutzt wer- anklingt, oder waren sie vor allem toughe Geschäftsleute mit
den. Einige, wie etwa das 1977 geschlossene „Scala“, sind nur dem richtigen Riecher? Oder beides? Waren diese Orte wirk-
200 Quadratmeter groß. lich solche der kulturellen Dissidenz oder vor allem solche der
Sie heißen „Voom Voom“, „Etzhorner Krug“, „Ede Wolf “ subkulturellen Vergesellschaftung?
oder „Fizz Oblion“ und sind in ganz Nordwestdeutschland Schmerenbeck ist ein wichtiger Beitrag zur Erstellung
bekannt. Dahinter verbergen sich die ersten Diskotheken, die einer popmusikalischen Topographie Nordwestdeutschlands
sich teilweise aus den Beatschuppen heraus entwickeln, in de- gelungen, wie ja Pop- und Jugendkulturen im Herbst 2007
nen in der Regel aber noch zu Live-Musik getanzt wurde. Von im Vorklapp zu „40 Jahren 1968“ in der nordwestdeutschen
Diskotheken, dem Gegenstand dieses Begleitbandes, spricht Ausstellungslandschaft öfter vertreten waren: Im Oldenbur-
man erst ab Anfang der 1970er-Jahre, vorher waren Live-Auf- ger Landesmuseum gab es eine große Ausstellung mit Fotos
tritte von Beatbands die Regel, die nur Cover-Versionen aus des mittlerweile 66-jährigen Günter Zint samt dazugehöriger
der aktuellen Hitliste (nach)spielten, oft ohne den Text wirk- Publikation, und in Bremen-Vegesack die kleine Ausstellung:
lich zu kennen. „Wilde Zeiten – Musik, Lebensgefühl, Zeitgeschichte“.
Die einzelnen, insgesamt 14 Beiträge erzählen nun die Bernd Hüttner
Geschichte einzelner Städte und Regionen (Wilhelmshaven,

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130 REZENSIONEN Sachbuch

Michael H. Kater: Hitlerjugend. was sich als ein dauerhaftes Problem gezeigt hat. Die Hitler-
Aus dem Engl. v. Jürgen Peter Krause, Primus Verlag, Darm- Jugend habe sich als „korrupt und verdorben“ (S. 54) gezeigt
stadt 2005, 288 Seiten, 24,90 Euro und es soll „immer wieder auch HJ-Führer und -Führerinnen“
gegeben haben, „die ihre Sexualität im Dienstzimmer ausleb-
Der bis zu seiner Emeritierung an der York University in To- ten“ (S. 54). Hier und an vielen anderen Stellen entsteht der
ronto lehrende Historiker Michael H. Kater ist ein profunder Eindruck, dass Kater eine Sexualchronik der Hitler-Jugend
Kenner der Geschichte des nationalsozialistischen Deutsch- schreiben wollte: Es ist häufig von „homosexuellen Hand-
lands. Von ihm stammen „The Nazi Party“ (1983) und Un- lungen“ (S. 50), „sexuellem Verkehr“ (S. 64), „sexuell aktiven
tersuchungen wie „Studentenschaft und Rechtsradikalismus“ weiblichen Teenagern“ (S. 94), „freizügige[r] Einstellung zur
(1975), die Studie über Jazz im Nationalsozialismus „Gewagtes Sexualität“ (S. 120), „sexuellen Aktivitäten“, „Gruppensex“
Spiel“ (1995), „Das ‚Ahnenerbe‘ der SS“ (2001) und „Ärzte als sowie „weitschweifigen Orgien“ (S. 127), „schlüpfrigen Wit-
Hitlers Helfer“ (2000), um nur eine kleine monographische zen“ (S. 174) und ähnlichen, sexuell konnotierten Themen die
Auswahl zu nennen. Zu seinem Renommee haben auch seine Rede. Ein weiteres Beispiel: „Für deutsche Mädchen und Frau-
Aufsätze, z. B. zur Soziographie der NSDAP, zum NS-Studen- en besaß Hitler eine sexuelle Anziehungskraft wie heutzutage
tenbund, über die „Ernsten Bibelforscher“ oder die bürgerliche ein internationaler Rockstar.“ (S. 93)
Jugendbewegung und Hitler-Jugend, beigetragen. Die neue In dem Kapitel über Mädchen im Dienst der NS-Politik
Studie zu dem viel diskutierten Thema „Hitler-Jugend“ basiert geht Kater zunächst ausführlich auf die Entstehung und das
auf den genannten und weiteren Arbeiten. Bei ihr handelt es Wirken des Bundes Deutscher Mädel (BDM) im Frieden ein
sich um die Übersetzung der englischsprachigen Ausgabe von und widmet sich dann den besonderen Herausforderungen
„Hitler Youth“ von 2004. Sie gibt einen Überblick, der auf zeit- im Zweiten Weltkrieg. Eine große Rolle spielt die Eugenik als
genössischen Veröffentlichungen, Zeitzeugen- und Sekundär- „Rassenpflege“.
literatur sowie Materialien einschlägiger Archive beruht. Bevor Kater auf „Hitlers Jungen und Mädel an der Front“
zu sprechen kommt, wird auf die „Dissidenten und Rebellen“
Die Arbeit ist in vier Hauptkapitel untergliedert, die eingelei- eingegangen: Er untersucht unterschiedliche Formen des Dis-
tet und abschließend zusammengefasst werden: Sie beginnt sidententums von der individuellen Absage an die Hitler-Ju-
mit der Überschrift „Macht Platz, Ihr Alten!“ und thematisiert gend bis zu subkulturellen oppositionellen Jugendgruppen,
eingangs die Erinnerungen von ehemaligen Hitler-Jungen und wie Blasen, Meuten, Edelweiß-Piraten, Swing-Jugend usw. Es
BDM-Mädchen. Es wird nach den Erwartungen der „hoff- ist auffällig, dass oppositionelle Aktivitäten von sozialistischen
nungsvollen Anfänge“ 1933 gefragt und den Enttäuschungen und kommunistischen Gruppen als Marginalien behandelt
am „katastrophalen Ende“ 1945. Den Kindern und Jugendli- werden. Es kommt zwar zur Erwähnung einer „Antifaschis-
chen sind nationalsozialistische Werte vermittelt worden und tischen Jungen Garde (Antifa), der Jugendorganisation des
das Gefühl, das neue „junge Deutschland“ zu verkörpern. kommunistischen Rotfrontkämpferbundes“ (S. 12) – gemeint
Der Historiker geht dann ausführlich auf den Dienst in ist offensichtlich die „Rote Jungfront“ – mit dem Bezug auf
der Hitler-Jugend, Monopolisierungs- und Uniformitätsbe- Straßenkämpfe in der Weimarer Republik, aber eine ange-
strebungen sowie Schulungs-, Disziplin- und Führungspro- messene Darstellung des antifaschistischen Widerstandes der
bleme vor Beginn des Zweiten Weltkrieges ein. Die Darstel- deutschen Arbeiterjugend gegen das NS-Regime bleibt aus. Er
lung der Organisationsgeschichte der NS-Jugendorganisation beschreibt, wie die „Zügelung der widersetzlichen Jugend“ (S.
schließt die teilweise sehr gewalttätigen Auseinandersetzun- 128) durch den NS-Staat und die Hitler-Jugend durch hartes
gen mit gegnerischen Gruppierungen ein. Angesprochen wird Durchgreifen des Streifendienstes der Hitler-Jugend (einer
die „chronisch unzulängliche Rekrutierung von HJ-Führern“ Art jugendlicher Polizei), der Geheimen Staatspolizei und Jus-
(S. 53) und das „Fehlen fähiger Führungspersönlichkeiten“, tiz u. a. Institutionen erfolgte. Dazu gehört die Schaffung der

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Sachbuch REZENSIONEN 131

„Jugendschutzlager“ genannten Jugend-Konzentrationslager werden verallgemeinernde Aussagen mit einem einzigen Bei-
Moringen und Uckermark. spiel belegt. Dazu eine Illustration: Mit Bezug auf ein Urteil des
Im Zweiten Weltkrieg wandelt sich bei vielen Jugendli- Amtsgerichts München 1941 behauptet Kater, dass Handfeuer-
chen die Begeisterung zur Ernüchterung. Der Glaube an den waffen „damals von HJ-Führern routinemäßig an Hitlerjungen
Endsieg löst sich in Luft auf und kostet Tausenden von Hit- ausgegeben“ wurden (S. 32). Die Darstellung mutet stellenwei-
ler-Jungen das Leben, die als Flakhelfer und Angehörige von se wie eine Sexualchronik der NS-Jugendorganisationen an.
Volkssturmbrigaden, HJ-Panzerabwehrdivisionen, HJ-Batail- Kater hat einen Hang zur Personalisierung des Namensgebers.
lonen, der SS-Panzerdivision „Hitler-Jugend“ oder von Wer- So gibt fast keine Seite ohne Nennung Hitlers bis hin zu der Be-
wolf-Kommandos kämpften. hauptung, dass „Hitler vielen jungen Menschen wie ein Vater
Zu den ausführlich dargestellten Themen Katers gehört oder älterer Bruder erschien“ (S. 15). Leider hat Kater auf ein
der „Verrat an Mädchen und Frauen“, die im Zweiten Welt- gesondertes Quellenverzeichnis verzichtet. Das umfangreiche
krieg als Stabs-, Marine-, Schwestern-, Luftwaffen- und Nach- Personenregister ist nur ein ungenügender Ersatz.
richten- und Wehrmachtshelferinnen zum Kriegseinsatz Kurt Schilde
gekommen sind und dadurch zu „Komplizinnen Hitlers“ (S.
199) geworden seien. Es soll sogar ein „Todesbataillon“ jun- Peter Longerich: Die Geschichte der SA.
ger Mädchen „mit rot angemalten Lippen“ (S. 203) gegeben Verlag C.H. Beck, München 2003; 298 Seiten, 14,90 Euro
haben. Katers „Leidenschronik“ (S. 205) der Mädchen und
Frauen endet nicht mit den Massenvergewaltigungen durch Das Buch „Die Geschichte der SA“ gilt als ein Standardwerk
alliierte, überwiegend sowjetische, Soldaten. Viele Mädchen über die „braunen Sturmbataillone“, wie SA-Chef Ernst Röhm
und junge Frauen gerieten in Gefangenschaft, kamen in den im Juni 1933 seine SA-Verbände nannte. Peter Longerichs
GULAG und fanden den Tod. Werk erschien schon 1989, eine leicht ergänzte Neuauflage
Zum Abschluss seiner flüssig geschriebenen und etwas es- erschien 2003. Interessant ist das Buch heute gerade deswe-
sayistischen Darstellung kommt Kater auf die „Verantwortung gen, weil viele Neonazi-„Kameradschaften“ sich als eine Art
der Jugend“ zu sprechen. Er konstatiert, das „Schweigen über SA-Orts- bzw. -Regionalgruppe verstehen oder zwecks Ei-
die Vergangenheit“ habe einen „Betäubungszweck erfüllt“ (S. gendefinition Umschreibungen aus dem Jargon der NSDAP-
226). Erst im Alter fanden manche sich bereit, sich den Erin- „Sturmabteilung“ nutzen. Durch den fortschreitenden Schul-
nerungen zu stellen. terschluss zwischen „Kameradschaften“ – die sich teils als
Angesichts der bis in die jüngste Zeit anhaltenden For- „Räumkommando“ der NPD ansehen – und NPD – die wie-
schungen zur Hitler-Jugend, von denen Kater manche wichti- derum „Kameradschaften“ als „Ordnerdienst“ akquiriert
ge Publikation ausweislich der 54 Seiten Anmerkungen nicht – liest sich das Buch heute aktueller denn je.
berücksichtigt hat, fällt das Urteil differenziert aus: Das Buch So hatte NPD-Parteichef Udo Voigt vor zwei Jahren ge-
ist ein brauchbarer Überblick eines ausgewiesenen Zeithistori- sagt, man arbeite mit den „Kameradschaften“ zusammen, weil
kers, der aus dem Fundus eigener Veröffentlichungen schöpft. deren Mitglieder „junge, aktionistische Leute [sind], die etwas
Es ist ein anschaulicher lebens- und organisationsgeschichtli- verändern wollen und bereit sind, ein persönliches Risiko zu
cher Überblick zur Hitler-Jugend und zum Bund Deutscher tragen. Wir holen sie von der Straße runter.“ Außerdem brau-
Mädel mit dem Fokus auf der Frage der Verantwortung ent- che die NPD „Leute, die nicht umknicken, wenn der Sturm
standen. Die Studie ist ein interessantes Diskussionsangebot, wieder ansetzt“. Diese Argumentation trifft sowohl als eine
fordert zur Auseinandersetzung auf und provoziert. Art Rückblick auf die SA-Politik zu, als auch auf aktuelle „Ka-
Leider lässt sich Kater manches Mal zu allzu pauschalen meradschaften“, die im Schulterschluss mit der NPD stehen.
und manchmal fragwürdigen Verallgemeinerungen verlei- Die NSDAP sprach einst von dem „Ordner- und Aufklärungs-
ten. Einige Aussagen sind nicht quellenmäßig belegt. Häufig dienst der Bewegung“ – die NPD spricht heute von ihrem

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132 REZENSIONEN Sachbuch

„Ordnerdienst“, im Umfeld der „Kameradschaften“ sammeln einschlägiger Autoren werden derartige Straftaten einschließ-
„Anti-Antifa-Aktivisten“ Daten über ihre politischen Gegner. lich der Opferung von Menschen allein in Deutschland jähr-
Einst war die SA nicht nur „Saalschutz“ von NSDAP-Ver- lich in hoher Zahl begangen.
anstaltungen, sondern ebenso Störtrupp bei Veranstaltungen Der in Leipzig tätige Rechtsanwalt Andreas Huettl befasst
des politischen Gegners – auch derlei passiert heute immer öf- sich seit Jahren mit der Problematik der Verifizierung von Ri-
ter, wenn auch meist noch gewaltlos. Die SA unterhielt in den tualmordbehauptungen und anderen, für den Bereich des Sa-
1930er-Jahren „Sturmlokale“, in denen sowohl gefeiert wurde, tanismus typischen Anschuldigungen, die oftmals mit keinem
aber ebenso politische Bildung stattfand. Auch wenn es derlei oder nur mangelndem Beweismaterial vorgebracht werden.
heute in Deutschland noch selten gibt, versucht sich gerade Das vorliegende, in zwei Teile gegliederte Buch ist das vorläu-
die NPD daran, Gaststätten für ihre Zwecke zu nutzen oder fige Ergebnis seiner ausführlichen Recherchen. Ursprünglich
diese unter eigener Leitung zu führen, „Kameradschaften“ nur als Vorwort zu dem im zweiten Teil abgedruckten Dialog
sind dabei gern gesehene Gäste oder sogar Protagonisten. mit Peter-R. König gedacht, bemüht sich Huettl im ersten Teil
Überdies schienen sich weder die SA, noch scheinen sich erfolgreich um eine repräsentative Auswertung des ihm zur
Teile der heutigen, als militant und gewaltbereit eingestuften Verfügung stehenden Materials.
„Kameradschaften“ sonderlich um das geltende Gesetz zu Gemäß seinem beruflichen Ethos geht Huettl mit bloßen
scheren: Bei der SA war der Typ „Rabauke“ hoch angesehen, Mutmaßungen und immer wiederkehrenden Behauptungen
der „das Leben kennt und [...] auch mit der Faust zu schreiben hart ins Gericht und scheut sich im Gegensatz zu anderen
versteht,“ zitiert Longerich aus einer Berliner Parteichronik – Autoren nicht, auch bei den jeweiligen Landeskriminalämtern
Longerich meinte wohlgemerkt nicht die „Kameradschaften“ sowie dem Bundeskriminalamt und dem Bundesnachrich-
oder „Ordner“ der NPD, skizziert Teile der heutigen Mitglied- tendienst diesbezügliche Auskünfte einzuholen. Laut Huettl
schaft ebenda jedoch erstaunlich präzise. verneinte der von ihm zu der Frage eines oft angeführten Zu-
Michael Klarmann sammenhangs zwischen internationaler Organisierter Krimi-
nalität und satanistischen bzw. okkulten Gruppen konsultierte
Andreas Huettl/Peter-Robert König: BND jegliches Vorliegen entsprechender Erkenntnisse. Seitens
Satan – Jünger, Jäger und Justiz. Andreas des BKA und der Landeskriminalämter wurde Huettl die Aus-
Huettl im Gespräch mit Peter-R. König. kunft zuteil, dass nennenswerte Informationen und Hinweise
Kreuzfeuer Verlag, Großpösna 2006, 416 Seiten, 18 Euro bezüglich satanistisch motivierter Straftaten nicht vorlägen.
Im weiteren Verlauf seiner Studie befasst sich Huettl mit
Satan alias Luzifer hat Konjunktur. Der Fürst der Finsternis den einer größeren Öffentlichkeit bekannt gewordenen Fällen
und Engel des Lichts in Personalunion fasziniert auch in heu- wie dem „Satansmord von Sondershausen“ und dem „Satans-
tiger Zeit Heerscharen an Jüngern, Religionswissenschaftlern, mord von Witten“ und zitiert aus den Ausführungen der jeweils
Weltanschauungs- und Sektenbeauftragten, Journalisten und mit den umfangreichen Ermittlungen befassten Staatsanwalt-
Buchautoren. So kam es in den vergangenen fünfundzwanzig schaften wie auch den entsprechenden Gerichtsentscheiden,
Jahren zu einer Fülle an Veröffentlichungen zum Thema Sata- welche in jedem der angeführten Fälle eine Zugehörigkeit der
nismus, sowohl im angloamerikanischen als auch im deutsch- Täter zu einer organisierten satanistischen Gruppierung in Ab-
sprachigen Sprachraum, die jedoch in qualitativer Hinsicht rede stellten. Die Schwierigkeit, weit verbreiteten und immer
oft immense Unterschiede aufwiesen. Ein nicht geringer Teil wieder genährten diesbezüglichen Vorurteilen trotz sauberer
dieser Publikationen behandelte die Thematik vorrangig un- Recherche die Nahrung zu nehmen, wird von Huettl unter
ter dem Aspekt einer ausführlichen Schilderung von sexuel- Hinweis auf die viel zitierte „Arkandisziplin“ okkulter Grup-
lem Missbrauch und anderer Gewaltverbrechen innerhalb pen geschildert, nach der Mitglieder eines Kultes angehalten
„satanistischer Zirkel“, bzw. „Orden“. Nach Angaben diverser sind, zu keinem Zeitpunkt Interna gegenüber Außenstehenden

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Sachbuch REZENSIONEN 133

mitzuteilen. Nach Ansicht gewisser Autoren begünstigt eine Der O.T.O. wie auch die „Fraternitas Saturni“ und ver-
strikte Arkandisziplin, durchgesetzt angeblich auch mittels wandte Orden werden von etlichen Autoren oft wider besseres
Bedrohung und Gewaltanwendung, nicht nur das Verschlei- Wissen dem „organisierten Satanismus“ zugerechnet, und in-
ern von Straftaten, sondern verhindert ferner eine Aufklärung sofern nimmt es nicht Wunder, dass Huettl als Gesprächspart-
derselben durch die Polizeibehörden. Eine derartige Argumen- ner auf König verfiel. Obwohl der Satanismus als eigentlicher
tation öffnet den wildesten Spekulationen naturgemäß Tür und Schwerpunkt des Buches nie völlig in den Hintergrund gerät,
Tor und so verwundert es nicht, dass der Jurist Huettl dieses ist zu erkennen, dass Königs Forschungen in der Vergangen-
Argumentationsmuster eingehend analysiert. heit vorzugsweise dem O.T.O. als gesellschaftlichem Phäno-
Des Weiteren wird die Geschichte der Ritualmordbeschul- men galten. So vermisst man zum Beispiel jegliche Ausfüh-
digungen gegenüber marginalen gesellschaftlichen Gruppen rungen zur „Church of Satan“ oder dessen Ableger „Temple
seit der Antike von Huettl einer ausführlichen Betrachtung of Set“, beides Organisationen, die immer wieder unberech-
unterzogen. Huettl weist unter anderem darauf hin, dass den tigterweise in Zusammenhang mit satanistisch motivierten
frühen Christen ebenfalls vorgeworfen wurde, Kinder zu op- Straftaten gebracht wurden und werden.
fern und deren Blut während des Abendmahles zu trinken. Trotz dieser gewissen Verengung des Fokus stellt auch der
Ähnliche Anschuldigungen wurden seit Beginn des Mittel- zweite Teil des Buches für jeden an diesem Sachgebiet Interes-
alters bis heute gegenüber Juden erhoben. Die Ritualmord- sierten eine wahre Fundgrube dar. Huettl behandelt eingehend
vorwürfe an deren Adresse sind Legion und ähneln in ihrer die justiziablen Aspekte des Themas, während König erschöp-
Beweisführung oft frappierend den Verdächtigungen, denen fend Auskunft über okkulte Orden und deren Angehörige gibt
okkulte Gruppierungen ausgesetzt sind. und dabei auch nicht mit lesenswerten Anekdoten geizt. Die
Der zweite, umfangreichere Teil des Buches ist dem per E- präsentierte Fülle an Informationen ist, wie immer bei Königs
Mail geführten Dialog des Verfassers mit Peter-Robert König, Werken, äußerst bemerkenswert – ein umfangreiches Register
seines Zeichens Experte auf dem weiten Feld der okkulten Or- jedoch wäre zweifelsohne von großem Nutzen gewesen.
den und Gruppierungen, gewidmet. Der Schweizer Ethnologe Huettl und König haben mit dieser gemeinsamen Veröf-
und Psychologe König ist als Verfasser und Herausgeber von fentlichung ein Werk geschaffen, das auf dem deutschsprachi-
rund einem Dutzend Büchern über okkulte Bünde bekannt gen Buchmarkt seinesgleichen derzeit nicht findet. Die Ver-
geworden und gilt wohl zu Recht als schillernde Person. Kö- öffentlichung ist nicht frei von Mängeln, und der über weite
nig publizierte seine Detail verliebten Werke bislang vorrangig Strecken lockere Stil des Dialogs wird gewiss nicht jeden Le-
bei der von dem evangelischen Theologen Friedrich-Wilhelm ser ohne weiteres ansprechen. Die generell unkonventionelle
Haack im Jahr 1965 gegründeten Arbeitsgemeinschaft für Re- Form sollte jedoch nicht über das ernsthafte Bemühen beider
ligions- und Weltanschauungsfragen (ARW) in München, die Autoren hinweg täuschen, dem Leser ein fundiertes Hinter-
sich unter anderem um die Veröffentlichung seltener und sel- grundwissen zum Thema zu offerieren und ihn so in die Lage
tenster Primärquellen verdient gemacht hat. zu versetzen, Dichtung und Wahrheit zu unterscheiden.
Königs Spezialgebiet ist allerdings genau genommen nicht Arvid Dittmann
der Satanismus mit all seinen Spielarten, sondern der „Ordo
Templi Orientis“ (O.T.O.), ein ursprünglich deutscher Orden, Bernd Hüttner (Hrsg.):
dessen internationales Oberhaupt im Jahre 1925 der englische Verzeichnis der Alternativmedien 2006/2007.
Okkultist Aleister Crowley wurde, der noch heute bei vielen Zeitungen und Zeitschriften.
fälschlicherweise als Begründer des modernen Satanismus AG SPAK Bücher, Neu-Ulm 2006, 216 Seiten, 18,00 Euro
gilt. Crowleys hedonistischer Lebensstil und seine für Unein-
geweihte oft missverständlichen Äußerungen und Praktiken Bernd Hüttner, Politikwissenschaftler, Publizist und Gründer
festigten diesen Ruf, der ihm schon zu Lebzeiten vorausging. des Archivs der sozialen Bewegungen, legt mit dem „Verzeichnis

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


134 REZENSIONEN Sachbuch

der Alternativmedien 2006/2007. Zeitungen und Zeitschrif- eines Adresskatalogs alternativer Printmedien. Der Bedeu-
ten“ ein fundiertes Nachschlagewerk über heutige alternative tungsverlust zeige sich vor allem in dem starken Rückgang
Printmedien in Deutschland vor. Die Veröffentlichung glie- der Titel. Zahlreichen Einstellungen alternativer Printmedien
dert sich in einen gut hundertseitigen redaktionellen Teil und steht heute eine relativ geringe Anzahl an Neugründungen
in einen Adressteil mit 52 Seiten. Im Anhang findet sich eine gegenüber (S. 191). Festzustellen sei außerdem eine räum-
Materialsammlung zu alternativen Medien mit einigen Litera- liche Zentralisierung der alternativen Printmedien in den
turvorschlägen und nützlichen Verweisen auf Online-Doku- großen Medienstädten Deutschlands (S. 18 und S. 191). Auch
mente und Datenbanken. die inhaltliche Schwerpunktsetzung befinde sich im Wandel.
Die Alternativmedien, die in Westdeutschland in den Während laut Hüttner die Themen Demokratie, Ökologie und
1960er- und 1970er-Jahren entstanden, entwickelten sich aus Internationalismus in alternativen Presseorganen immer noch
einer Unzufriedenheit vieler Menschen mit den damals eta- präsent und bedeutsam sind, werden Geschlechterthemen,
blierten Medien und erhielten wichtige Impulse aus der Stu- Frieden und Antimilitarismus heute inhaltlich weitgehend
dentenbewegung und den neuen sozialen Bewegungen. In ausgespart (S. 18). Die Krise der alternativen Printmedien
selbstverwalteten, dezentralen, demokratisch organisierten wird laut Hüttner durch mehrere Faktoren begünstigt: Ers-
und ökonomisch autarken Redaktionskollektiven versuchten tens seien viele alternative Blätter durch das Medium Inter-
die dort aktiven Menschen, mit den von ihnen produzierten net abgelöst worden, dass „die angestrebte Zwei-Wege-Kom-
alternativen Medien, von Print über Radio bis hin zu TV, eine munikation […] besser [umsetzt] als es jemals alternativen
Gegenöffentlichkeit zu schaffen. Darüber hinaus gehörte es Printmedien gelungen ist“ (S. 18). Darüber hinaus seien im
zu den erklärten Zielen der alternativen Medienmacher, die Internet die Produktions-, Material- und Vertriebskosten we-
Trennung zwischen Kommunikator und Rezipient so weit sentlich günstiger als im Printbereich. Hinzu käme zweitens
wie möglich aufzuheben und stattdessen ein neues Zwei- die Krise des linken Buchhandels. Mit der Schließung vieler
Wege-Kommunikationsmodell durchzusetzen, das mediale linker Buchläden seien für viele Menschen die Möglichkeiten
Kommunikation von beiden Seiten aus ermöglicht und mit geschwunden, alternative Medienprodukte überhaupt wahr-
Interaktionsmöglichkeiten verbindet. In der „ersten Genera- zunehmen und zu kaufen (S. 19). Drittens seien heute weniger
tion“ deutscher alternativer Printmedien, die Hüttner in den Menschen bereit oder in der Lage, ehrenamtlich an einem al-
Zeitraum der 1970er- bis 1990er-Jahre verortet, existierte eine ternativen Printmedium mitzuwirken.
Vielzahl von Initiativzeitungen, Volks- und Szeneblättern, Ta- Die Angaben im Adressteil des Verzeichnisses gehen auf
geszeitungen, Stadtmagazinen, Fachzeitschriften, Meinungs-, das Archiv des Informationsdienstes zur Verbreitung unter-
Verbands- und Parteiorganen sowie von Theorie- und Wis- bliebener Nachrichten (ID-Archiv) in Amsterdam zurück,
senschaftstiteln. Ernüchternd dagegen stellt sich die heutige das in den 1990er-Jahren der Zeitschrift Contraste in Heidel-
Situation alternativer Printmedien dar. Hüttner diagnostiziert berg eine dokumentierte Liste mit den Adressen alternativer
in seinem redaktionellen Beitrag: „Die Szene der alternativen Medien überließ. Contraste wiederum stellte Anfang 2006
Stadtzeitungen, die als die klassischen alternativen Medien Hüttner diese Daten zur Verfügung, die er in der Folgezeit
gelten, ist tot. […] Es scheint jenseits von kleinen subkultu- in Kleinarbeit sortierte, nach „Karteileichen“ durchforstete
rellen Szenen, den Fachzeitschriften und Meinungsorganen und um Neugründungen ergänzte. Im Juni 2006 versandte
keine relevanten alternativen Printmedien mehr zu geben. Hüttner außerdem an 521 Adressen alternativer Printmedien
[…] Das Segment der ‚Alternativpresse’ hat seine Bedeutung einen Fragebogen, die Rücklaufquote betrug ca. 50 Prozent.
eingebüßt, alternative Medienarbeit mit Printmedien hat ge- Insgesamt stellt das sehr übersichtlich gestaltete „Verzeich-
genwärtig für das Erreichen einer auch nur marginalen Öf- nis alternativer Medien 2006/2007“ 455 Adressen alternati-
fentlichkeit geringe Bedeutung“ (S. 17 f.). Hüttner bezieht sich ver Printmedien zur Verfügung, wobei 375 Adressen „ent-
hier auf Ergebnisse seiner eigenen Recherchen zur Erstellung weder durch einen ausgefüllten Fragebogen, persönliche

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Sachbuch REZENSIONEN 135

Inaugenscheinnahme von Heften, ihre Internetpräsenz oder „kleine Gegenöffentlichkeits-Geschichtsstunde“ (S. 42). Die-
Auskünfte qualifizierter Dritter sicher oder relativ sicher ter Moldt, Mitarbeiter der Offenen Arbeit Berlin, Gründungs-
belegt“ (S. 136) sind. Allerdings sind im Verzeichnis nur in mitglied der „Kirche von unten“ und ehemaliger Herausgeber
Deutschland erscheinende Titel und ausschließlich gedruckte des mOAning star, schildert in seinem Beitrag kurzweilig die
Pressemedien, d. h. keine Online-Magazine, aufgeführt. Die Geschichte und Entwicklung dieses Untergrundblattes aus
Adressangaben enthalten den Namen des Pressemediums, Ostberlin. Lena Laps und die Ihrsinn-Redaktion ermöglichen
falls vorhanden einen Untertitel des Organs, die Anschrift, einen kurzen Einblick in ihr feministisch-lesbisches Print-
darüber hinaus Telefonnummer(n), Faxnummer, Mail-Adres- medienprojekt, dessen Produktion im Jahr 2004 eingestellt
se und Homepage soweit verfügbar, die Verbreitungsart (lokal, wurde. Insgesamt bleibt festzuhalten: Egal, ob die Autoren
regional oder überregional), den Erscheinungsrhythmus und, Entstehungsgeschichten von Fanzines (Andi Kuttner) und
sofern es sich um gesicherte Angaben handelt, den Vermerk Blättern der Neuen Frauenbewegung (Gisela Notz) schildern,
GA. Die Adressen sind nach Postleitzahlen sortiert. ein Interview mit Bernd Drücke, dem Graswurzelrevolution-
Im redaktionellen Teil des Verzeichnisses finden sich Redakteur (Lea Hagedorn) führen oder „Schlaglichter zur
neben dem einführenden Aufsatz von Bernd Hüttner neun Geschichte der Zeitschrift Agit 883“ (Knud Andresen, Markus
weitere, gut geschriebene und lesenswerte Beiträge, die mehr- Mohr, Hartmut Rübner) näher beleuchten – sie verstehen es,
heitlich „die Geschichte bestimmter Bewegungen bzw. die historische Begebenheiten rund um alternative Printmedien
einzelner relevanter Medien“ (S. 8) reflektieren. Burghard Flie- spannend und kompetent darzustellen. Für (alternative) Me-
ger erläutert an den Beispielen WOZ (Die Wochenzeitung
Wochenzeitung), taz dienmacher und solche, die es werden wollen, eine hilfreiche
Die Tageszeitung
(Die Tageszeitung) und der Jungen Welt, weshalb er „Verlags- und empfehlenswerte Lektüre.
genossenschaften als besondere Chance alternativer Printme- Sarah Chaker
dien“ (S. 23) begreift. Gottfried Oy gibt in seinem Aufsatz eine

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136 REZENSIONEN Fanzines

Fanzines

Mørkeskye Nr. 10+11 dem Interviewten ausschließen müssen – im Gegenteil: das


Thor Wanzek, In der Hälver 20, 58553 Halver, Mørkeskye ist nach wie vor ein Fanzine, es wird von Fans für
Nr. 10: 59 Seiten, Nr. 11: 76 Seiten, beide DIN A4, jeweils 5,00 Fans gemacht, und die hierin vorgestellten Musiker und vor
Euro zzgl. Porto, www.trollmusic.net / thor@trollmusic.net. allem ihre Musik liegen uns so am Herzen, dass wir es nicht
als unsere Pflicht ansehen, besonders kritisch an sie heranzu-
Laut Gründer und Herausgeber Thor Wanzek lässt sich der Ti- treten“ (Nr. 11, S. 1).
tel seines großartigen Fanzines Mørkeskye nicht wörtlich über- In den beiden letzten Ausgaben des Mørkeskye kamen in
setzen, sondern lediglich umschreiben als das „Stimmungs- zahlreichen und meist sehr ausführlichen Interviews inno-
bild einer dunklen nordischen Landschaft“(*). Auch wenn vative Musiker und Künstler wie Jóhann Jóhannsson, Trond
Thor Wanzek im schwarzmetallischen Underground verwur- Engum, Glen Johnson (Piano Magic), Steven Wilson, Sel Ba-
zelt ist – er dürfte vielen Metal-Anhängern als Redakteur des lamir (Amplifier), Obsidian (Keep of Kalessin) oder Keith Fay
kommerziellen Metal-Magazins Legacy bekannt sein – wendet (Cruachan) zu Wort. Darüber hinaus finden sich im Mørkeskye
sich sein Fanzine nicht ausschließlich an ein Black-Metal-Pu- anregende Artikel über philosophische Querdenker (z. B. über
blikum. Das Mørkeskye sprengt festgefahrene (Szene-)Gren- den polnischen Soziologen Zygmunt Bauman oder über den
zen, indem es Menschen zu erreichen versucht, die generell an „Neugierologen“ Heinz von Foerster), sowie einzelne Buch-
experimenteller, avantgardistischer Musik mit einem dunklen besprechungen (z. B. von Janne Tellers Roman „Odins Insel“
Touch, darunter auch „Metal-Musik mit geistiger Substanz“ oder Max Picards 1946 erstmals erschienener Analyse des
(Nr. 11, S. 1), interessiert sind und die diese Art von Musik nä- Nationalsozialismus „Hitler in uns selbst“) und Autorenge-
her kennen lernen möchten. Der Untertitel der elften Ausgabe spräche (z. B. mit Tor Åge Bringsværd oder Rüdiger Sünner).
des Mørkeskye lautet daher auch recht allgemein: „Magazin Als besonderes Schmankerl liegt dem Mørkeskye oft eine CD-
für abenteuerliche Musik & Menschen“. Compilation mit ausgewählten Musikstücken bei, die Thor
1995 erschien die erste Ausgabe des Mørkeskye im DIN- Wanzek zusammenstellt und die Lust machen auf mehr. Auf
A5-Format und mit einem Umfang von 24 kopierten Seiten. den Samplern der beiden letzten Mørkeskye-Ausgaben waren
Inzwischen hat sich das Blatt in punkto Layout zu einem lie- unter anderem die Bands Elane, Ainulindale, Noekk, Manes,
bevoll gestalteten Deluxe-Fanzine im DIN-A4-Format mit Negura Bunget (Nr. 10) bzw. Dornenreich, Neun Welten, Secrets
ungefähr dreimal so vielen Seiten und einer Auflage von 500 of the moon und Naervaer (Nr. 11) zu hören.
Exemplaren gemausert, ohne dabei in inhaltlichen Dingen Wanzeks Motivation und Engagement für das Mørkeskye
den typischen Fanzine-Charakter einzubüßen. So glauben die speist sich wesentlich aus seiner Erkenntnis, „dass viele laut-
Redakteure, neben Thor Wanzek sind das vor allem Marcel starke Angebote der Massenmedien kaum bereichernd sind, ja
Tilger, Björn Thorsten Jaschinski, Timo Kölling, Stefan Belda sogar die Phantasie und Gefühlstiefe von Menschen mit ihrer
und Philipp Jonas, „nicht, dass sich der Anspruch, eine aben- Eintönigkeit von Berieselung, Kommerzorientierung und Kri-
teuerliche Lektüre über dem Niveau standardisierter Werbe- tiklosigkeit sogar abtöten können“ (*). Durch das Mørkeskye
kataloge anzubieten, und die ungezügelte Begeisterung und in soll es dem Leser ermöglicht werden, neue, spannende Musi-
deren Schlepptau eine gewisse unkritische Haltung gegenüber ken jenseits des Mainstreams überhaupt wahrzunehmen und

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Fanzines REZENSIONEN 137

zu erleben. Dass Wanzeks Konzept von einem Alternativme- dann hat sich alle Mühe gelohnt!“ (*). Seit neuestem lässt sich
dium, das als Mittler zwischen Künstlern und Publikum fun- im Internet unter www.soundsurface.com der virtuelle Nach-
giert, nicht nur aufgeht, sondern ein echtes Bedürfnis seiner folger des Mørkeskye im Netz bestaunen, „der sich vom Metal
Leserschaft befriedigt, zeigt sich auch darin, dass er regelmä- wie von den finanziellen Hürden befreit hat und einfach nur
ßig „von einigen Lesern Brief- und Kartenpost [erhält], davon sublime Musik präsentieren wird, die uns selbst begeistert.
etliche mit ‚trollischen’ Motiven, manche schicken mir unauf- Vom Mørkeskye ist allerdings wohl noch nicht die letzte Aus-
gefordert Musik als Dankeschön zu, andere wiederum Bücher gabe erschienen …“ (*). Und das ist auch gut so!
oder zu Weihnachten sogar selbstgebackene Kekse – das sind (* Zitiert aus privatem Interview mit dem Herausgeber.)
Momente, in denen ich ahne, dass ich da wirklich Menschen Sarah Chaker
gerührt und ihnen wohl für sie Wertvolles vorgestellt habe;

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138 REZENSIONEN Posteingang

Posteingang

Von Andreas Kuttner

A Ticket To Write. No. 84 und Nr. 86 Andromeda Nachrichten. 212.


Beatles Club Wuppertal, Paulussenstr. 7, 42349 Wuppertal, je Science Fiction Club Deutschland e. V., Birgit Fischer, Am Schaf-
36 Seiten, DIN A5, je 4,50 Euro inkl. Porto, www.beatles-club.de buckel 6, 64853 Otzberg, 96 Seiten, DIN A4, 4.Euro zzgl. Porto,
Bifi-2000@aol.com
Erscheint vierteljährlich, in Heft 84 u. a. mit den Schwer-
punkten: 40 Jahre Sergeant Peppers Lonely Hearts Club Band, Das dienstälteste deutsche Fanzine: Gelten doch die Andro-
40 Jahre „All you need is love“, Paul McCartney: Memory Al- meda Nachrichten, zum ersten Mal 1955 erschienen, als erstes
most Full. deutsches Fanzine, und es gibt sie bis heute. Das ganze Heft
Nr. 86 u. a. mit einem Kommentar zu Klagen der Mu- besteht nahezu ausschließlich aus Reviews von Fanzines,
sikindustrie, News, „Help!“ auf DVD, Beatles in München Büchern, Spielen und Filmen aus dem Bereich Fantasy und
1966, 40 Jahre „Magical Mystery Tour“, John Lennons Ein- Science Fiction, ergänzt durch Termine und Berichte aus der
bürgerung in die USA, einer Übersicht deutscher Pressungen Wissenschaft. Interessant, dass es auch 2007 noch sehr einfach
von Beatles-EPs sowie einem Vorabdruck aus dem im eigenen aufgemacht und layoutet und die Auflage mit nur 425 Exem-
Verlag erschienenen Buch „Komm, Gib Mir Deine Hand“. plaren angegeben ist.
Hält im Gegensatz zum monatlich erscheinenden Things län-
gere Artikel bereit. AntiEverything. # 6666.
AntiEverything, Postfach 350439, 10213 Berlin, 84 Seiten, DIN
A5, 2,50 Euro zzgl. Porto, www.antieverything.de

Nach langer Pause ein neues Exemplar des Fanzines gegen al-
les und jeden aus Berlin. Wobei sich das Heft immer mehr zu
einer fast schon hochkulturellen Schrift entwickelt. So enthält
diese Ausgabe vor allem die „Erste Staffel der Roman-Serie“
Glory White Trash in 10 Teilen, und wird nur ergänzt durch
weitere längere Artikel wie einen Reisebericht über Manila/
Philippinen, sowie Features über den „Unabomber“ Theodore
Kaczynski und den Verfasser der „Turner Tagebücher“ William
Pierce. Kurzes Verweilen und Durchatmen nur bei den wenigen
Reviews und dem Comic „Argwohn und Lethargie“. Aber wer
die gute Schreibe kennt, kauft sich das Heft in jedem Fall. Und
einen schicken „AntiEverything“-Aufnäher gibt es gratis dazu.

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Posteingang REZENSIONEN 139

Antifaschistisches Info Blatt. Nr. 75. und das Heft spielt somit in derselben Liga wie das sehr gute
AIB, Gneisenaustr. 2a, 10961 Berlin, 60 Seiten, DIN A4, 3,10 Berliner AntiEverything-Fanzine. Man muss sich aber die Zeit
Euro zzgl. Porto, www.antifainfoblatt.de nehmen, sich darauf einzulassen. In diesem Sinne nicht so
leicht verdaulich wie manch andere Punk-Fanzines.
Dieses Magazin dürfte das bekannteste Antifa-Blatt sein,
es existiert bereits seit 1988 und erscheint vierteljährlich. In Influenza. Nr. II.
dieser Ausgabe mit dem Schwerpunkt DDR: Extreme Rechte, Ronja Schwikowski, Grabenstr. 77, 47057 Duisburg, 52 Seiten,
Hooligans und antifaschistische Selbstorganisierung vor dem DIN A5, 1,50 Euro zzgl. Porto, kasseddenlabel@web.de
Mauerfall. Dazu diverse gut recherchierte und flüssig lesbare
Artikel zu den Bereichen NS-Szene, Antifa, Rassismus, Gesell- Die zweite Ausgabe von Ronja und ihrer Truppe, diesmal u. a.
schaft, Braunzone, Repression und Kultur. mit Auweia!, T.O.D., Invader Ink, Punk in Mexiko, Papst-Besuch
in Bayern und einer Vorstellung der Initiative Pankahyttn in
Bad Rascal. Nr. 2. Wien, die offenbar tatsächlich davor steht, von der Stadt Wien
Julian Schulte, Am Kupferofen 34, 52066 Aachen, 44 Seiten, ein Haus zur Verfügung gestellt zu bekommen. Neben recht
DIN A5, 3 Euro incl. Porto, badrascal@gmx.de vielen und ausführlichen Fanzine-Reviews machen kritische
Kolumnen den Schwerpunkt des Heftes aus, wobei der Artikel
Die zweite Nummer von Bobso und Jules, diesmal u. a. mit über bzw. gegen „myspace“ einiges außer Acht lässt. Auch viele
Einweg Versus, Ausgang Ost, Chaoze One und Keine Ahnung.
Einweg, Punk- und HC-Bands nutzen diese Oberfläche zur Kommuni-
Dazu Force-Attack-Festival 2006, Kochrezepte, eine Kolumne kation und Vernetzung untereinander – ein positiver Aspekt
über Vorratsdatenspeicherung und Drogodil, dem unglaubli- wie dieser fehlt in der rein negativen Polemik leider, so dass die
chen Monster. Punk-Nachwuchs is not dead! Kolumne dem Phänomen nicht ganz gerecht wird. Klassisches
Punk-/HC-Fanzine alter Schule im cut-&-paste-Stil.
Der gestreckte Mittelfinger. Ausgabe # 4.
Falk Fatal, Postfach 4146, 65031 Wiesbaden, 92 Seiten, DIN A5, JPN Journal. I/07 und IV/07.
2.50 Euro zzgl. Porto, www.dergestrecktemittelfinger.de Je 32 Seiten, DIN A4, [Bezugspreis unbekannt],
www.jungepresse-online.de
Kein leicht verdauliches Fanzines, das man eben mal so auf dem
Klo liest, ist das vorliegende Heft. Allein schon das Layout wirkt Publikationsorgan der „Junge Presse Niedersachsen e. V.
ausgetüftelt und ambitioniert, das gleiche stellt sich auch beim (JPN)“, mit Meldungen aus der JPN, Beschreibung von Semi-
Lesen hinsichtlich des Inhalts heraus. Es gibt zwar auch einige naren und Rezensionen von Spielen. Bemerkenswert ein per-
Interviews (u. a. mit Bubonix, The Kids und Raped – Kenner sönlicher Kommentar zum 60. Jubiläum des Spiegel.
werden eine 77er-Punk-Orientierung daraus lesen) und viele Kurz vor Redaktionsschluss erreichte uns noch das Heft
Reviews, den Großteil des Heftes machen aber Alltagsberichte IV/07 mit den Themenschwerpunkten Film & Fernsehen,
aus, die zumeist sehr gut geschrieben sind, u. a. das „Tagebuch Frauenmagazine und einem Spezial über Brüssel.
eines Taugenichts“, der doch mal wieder die S-Bahn zur Uni
verpasst und lieber wieder nach Hause fährt. Besonders inte- Karl May & Co. Nr. 110 (4/2007).
ressant auch das Nachdenken darüber, ob man als Punk ein Nicolas Finke, Emser Str. 2, 51105 Köln, 92 Seiten DIN A4, 6,50
Spießer ist, wenn einen die zu laute Techno-Musik des Nach- Euro, www.karl-may-magazin.de
barn stört und man ihn sich am liebsten zum Teufel wünscht.
Die Autoren können schreiben, und das alles kommt in ei- Vierteljährlich erscheinendes, aufwändig bebildertes Magazin
nem ausgefeilten Layout daher. Das ist rundum gut gelungen, mit den vier Schwerpunkten „Karl May – Leben und Werk“,

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140 REZENSIONEN Posteingang

„Karl May auf der Bühne“, „Karl May im Film“ und „Karl- ballfans und Hools in Polen, den Tätowierer Mirko, Stadtbe-
May-Szene“. Ein Thema ist natürlich die soeben beendete Aus- richt Eisenhüttenstadt, Mike Crucified, Biertest, Stalinstadt
stellung des Deutschen Historischen Museums. Ensemble, das Ost-Derby Union Berlin – Dynamo Dresden,
die indonesische Band Skinlander und Reviews. Den ersten 50
Der kranke Bote. Nr. 3/2007 und 1/2008. Heften liegt eine Demo-CD von Stalinstadt Ensemble bei. Liest
Je 40 Seiten, DIN A5, www.jesusfreaks.de sich gut, ist gut gestaltet – erscheint leider nur etwa einmal
im Jahr.
Jesus-Freaks-Magazin, zweimonatlich erscheinend, erinnert
eigentlich mehr an eine kleine „Vereinszeitschrift“ als an ein Moloko Plus. No. 32.
Fanzine. Inhalt in Nr. 3/2007 u. a. das JF-Konzil 2007 in Rei- Moloko Plus, Feldstr. 10, 46286 Dorsten, 76 Seiten, Format 17 x
chenbach, Konzertberichte und die Geschichte des Freak- 17, 2,50 Euro (Abo über vier Ausgaben für 10 Euro incl. Porto),
stock-Festivals. www.moloko-plus.de
Schon mit der Nr. 6/2007 hatte sich das Erscheinungsbild
deutlich verbessert, es ist ansprechender, da abwechslungs- Dieses Heft hat sich in den letzten Jahren straight zu einem der
reicher geworden. Da macht auch die Nr. 1/2008 weiter; the- lesenswertesten Fanzines im Bereich Punk und Oi! gemausert,
matisch geht’s u. a. um „Wessen Wille soll geschehen?“, das wobei immer klar ist, dass politisch rechtsoffene Bands für das
Thema Suizid, Jesus Freaks in Japan und die christliche Punk- Heft nicht in Frage kommen. Für mich persönlich hat dieses
rockband Fallobstfresser. Heft die späte Nachfolge des in den frühen 90ern „marktfüh-
renden“ Scumfuck-Fanzines eingenommen, mit einem bun-
Lockenkopf. Ausgabe 3. ten, aber niemals beliebigen Mix aus lockeren Kolumnen,
Lockenkopf, Postfach 16, 15881 Eisenhüttenstadt, 60 Seiten, Blind Dates, Stories über Fußball und andere Nebensächlich-
DIN A5, 2 Oiro zzgl. Porto, Lockenkopf-fanzine@web.de keiten sowie Interviews (diesmal u. a. mit den Herausgebern
des Punkwax-Buches, Broilers, vom Ritchie, Merry Widows
Gut aussehendes, noch recht junges Oi!-Punk-Fanzine aus …) und Reviews. Klasse Unterhaltung und obendrein super-
der „Stalinstadt“ Eisenhüttenstadt. Inhaltlich geht’s um Fuß- schick gestaltet.

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Posteingang REZENSIONEN 141

Non Plus Ultra. Nr. 2. Pankerknacker. NO. 11.


Dominik Schell, Jeßnitzer Weg 9, 67240 Bobenheim-Roxheim, Pankerknacker, Postfach 2022, 78010 Villingen,
56 Seiten, DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, Honda04@gmx.de 80 Seiten, DIN A4,5 (Zwischengröße), 3 Euro zzgl. Porto,
www.pankerknacker.com (Erhältlich auch in vielen
Streetpunk- und Ska-Fanzine, u. a. mit Bandhistories von Plattenläden.)
Infa-Riot, Menace, Slaughter & the Dogs und Desmond Dekker.
Dazu ein Porträt über den englischen Fußball-Club West Ham Das Pankerknacker-Fanzine gehört zweifelsohne schon zu
United, eine Vorstellung des Genres Slasherfilme und viele Re- den größeren Heften, auch wenn ich ehrlich gesagt nie so
views. Wobei nicht nur aktuelle Platten besprochen werden, recht den Erscheinungsrhythmus verstanden habe. Vor rund
sondern auch die ein oder andere bereits länger existierende ein bis zwei Jahren ließ der Herausgeber verlauten, er würde
Lieblings-Platte Erwähnung findet. Durchaus sympathisch! das Heft nun einstellen. In der Zeit danach folgten aber recht
schnell mehrere neue Ausgaben. Gestartet als A5-Schnipsel-
OX. Nr. 72 und 73. Heft, weitete es sich irgendwann auf A4-Größe aus, und wurde
Je 138 Seiten, DIN A4 mit CD-Beilage, 4,50 Euro zzgl. Porto, auch layouttechnisch und inhaltlich versierter. Die vorliegen-
www.ox-fanzine.de (Erhältlich auch in Plattenläden und de Nummer kommt besonders stylish daher, in Anbetracht
Bahnhofskiosken.) des handlichen, besonders wirkenden Zwischenformats und
des guten Layouts. „Style-Punks“, die sich an Tätowierungen,
Erscheint wie das Trust alle zwei Monate, allerdings incl. Gra- blondierten Gel-Haaren, Sonnenbrillen und neben dem stän-
tis-CD und mit deutlich mehr Inhalt. Wobei Masse natürlich digen Punkrock auch mal an Rock’n’Roll erfreuen können,
nicht immer Klasse ist, und zu viel manchmal einfach zu viel dürfte das Heft auch am meisten ansprechen. Da darf natür-
ist, um es bewältigen zu können. Dafür ist aber sichergestellt, lich ein Interview mit Frontkick nicht fehlen. Weiterhin gibt
dass immer irgendwas Interessantes dabei ist, und was den es Interviews u. a. mit Lurkers und Psychopunch, einen Sar-
„Service“ (Konzertdaten, Reviews neuer Platten, News) an- dinien-Bericht, viele Kolumnen und längere Erlebnisberichte
geht, ist das Ox sicher die Nummer 1 im deutschsprachigen sowie zahlreiche Reviews. Mit Meia, Klaus N. Frick, Abel Geb-
Punk-HC-Bereich. In den vorliegenden Heften u. a. mit Neu- hard, Antje Thoms und Falk Fatal ist dem Herausgeber auch
rosis, Balzac, Fehlfarben, Gang Green, Muff Potter und Turbo- gelungen, gestandene KolumnistInnen aus anderen Fanzines
negro (Nr. 72) sowie Against Me!, Agent Orange, Bad Religion, für sein Heft zu gewinnen.
EA 80, Subhumans, Social Distortion, Sonic Youth, Turbostaat
und Kommando Sonnenmilch (Nr. 73). Pankerknacker. # 17.
Pankerknacker, Postfach 2022, 78010 Villingen,
OX. Nr. 76. 108 Seiten, DIN A4,5 (Zwischengröße), 3 Euro zzgl. Porto,
132 Seiten, DIN A4 mit CD-Beilage, 4,50 Euro zzgl. Porto, www.pankerknacker.com (Erhältlich auch in vielen
www.ox-fanzine.de (Erhältlich auch in Plattenläden und Plattenläden.)
Bahnhofskiosken.)
Das Fanzine der Reichen und Schönen des Punkrock, und so
Jüngste Ausgabe des Ox, diesmal jedoch mit lauter alten Leu- spielen in der neuesten Ausgabe (die Zählweise versteht längst
ten im Inhalt … So u. a. Interviews und Features mit den Ra- niemand mehr) neben den neuesten Tattoos, Sonnenbrillen
zors, Core-Tex Records, Sham 69, Cock Sparrer, Flogging Molly, und Frisuren der Herausgeber Urlaube eine besondere Rolle.
Einstürzende Neubauten, der AntiEverything-Crew und den Nach Sardinien ging es, zu den Sex Pistols nach London, dazu
Skeptikern (geführt von Archiv-Kollegin Katrin Schneider). gibt es noch Berichte aus Manila und Neuseeland. Wer hat, der
Dazu wie immer massig Reviews, News und Konzertdaten. hat; aber zum Glück gibt es auch den üblichen Fanzine-Stoff

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142 REZENSIONEN Posteingang

wie Reviews, Konzertberichte und Interviews (u. a. mit den Dazu gewohnt viele News, Konzertdaten und Reviews aller
Veranstaltern der Force-Attack- und Back-to-future-Festivals, Art. Pflichtstoff. Auflagenmäßig nach Selbstauskunft mittler-
Hiroshima Mon Amour und Tight Finks), der auch den uns zu- weile auch im fünfstelligen Bereich angekommen.
hause Gebliebenen das Gefühl möglicher Teilnahme gibt.
Plastic Bomb. Nummer 61.
Perry Rhodan. Die größte Science Plastic Bomb, Postfach 100205, 47002 Duisburg, 80 Seiten,
Fiction-Serie. Nr. 2426. DIN A4, 3,50 Euro zzgl. Porto, www.plastic-bomb.de
Pabel-Moewig Verlag KG, 76437 Rastatt, 68 Seiten, DIN A5, (Erhältlich auch in Plattenläden und Bahnhofskiosken.)
1,75 Euro zzgl. Porto, www.vpm.de
Das Plastic Bomb bemüht sich, neben der musikalischen Seite
Die wöchentlich erscheinende Sci-Fi-Heftroman-Serie, zuletzt auch den politischen Anspruch von Punk und Hardcore zu fea-
erreichte uns das vorliegende Heft. Inhalt diesmal der Roman turen. Insbesondere in der vorliegenden Ausgabe bleibt es aber
„Aufbruch der Friedensfahrer“ von Uwe Anton, sowie Perry- bei der „Bemühung“ darum, die in dieser Hinsicht relevanten
Rhodan-Clubnachrichten und Leserbriefe. Artikel (Vorwort, Interview mit Stopcox, u. ä.) sind diesmal
eher dürftig und oberflächlich ausgefallen. Die üblichen Artikel
Plastic Bomb. Nummer 59. und Rubriken (u. a. „Herstory of Punk“, diesmal mit Tati von
Plastic Bomb, Postfach 100205, 47002 Duisburg, 80 Seiten, Apocalipstix) sind aber lesenswert wie immer und bringen den
DIN A4, 3,50 Euro zzgl. Porto, www.plastic-bomb.de Leser/die Leserin punkrockmäßig auf den aktuellen Stand.
(Erhältlich auch in Plattenläden und Bahnhofskiosken.)
Punkrock! Nr. 4.
Gilt als das große Punk-Heft mit der höchsten „Street credibi- Punkrock!, Postfach 10 05 23, 68005 Mannheim, 96 Seiten,
lity“. In dieser Ausgabe u. a. mit: Canal Terror (sehr ausführli- DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, www.punkrock-fanzine.de
ches Interview!), Discharge, The Ruts, ZSK,
ZSK Hammerhai, Gold-
blade, The Porters, Georg Kreisler, Piromanes Del Ritmo (aus Zweimal jährlich erscheint das Punkrock!-Fanzine und hat
Chile), Chaostage-Film, Osterbierdosensuchen in Stuttgart. sich bereits einen festen Platz in der Punk-Fanzine-Landschaft

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Posteingang REZENSIONEN 143

erobert. Die Herausgeber sind auch alle alte Hasen und seit Jeweils beiliegend der Katalog des Schlagzeilen-Versan-
Jahren im „Geschäft“. Diesmal Interviews u. a. mit Loaded, des, Mailorder für SM-Bedarf.
Lower Class Brats, Lurker Grand (Herausgeber des Buches
„Hot Love – Punk in der Schweiz 1976-80“), Frontkick und Der Siebenstein. Ausgabe 4.
Gee Strings. Sehr gelungen auch der Artikel über das Verhalten Katja Angenent, Kanonierstr. 9, 48149 Münster, 44 Seiten,
mancher „Szene-Größen“ anlässlich der Premiere des Filmes DIN A5, 3 Euro zzgl. Porto, Der_siebenstein@yahoo.de
„American Hardcore“, der tief blicken lässt. Dazu Massen an
Tonträger-, Buch-, Fanzine- und DVD-Besprechungen. Fantasy-Fanzine mit Berichten über Okkultismus und Spiritis-
Diese Mannheimer Crew hat‘s einfach immer wieder mus um 1900, Wave-Gothic-Treffen in Leipzig 2007, Marcus
drauf, ein lockeres und gleichzeitig informatives Punkrock- Rietzsch, Buddhismus – die Rolle des Dalai Lama in der heuti-
Heft herauszugeben. Auf der Homepage übrigens eine Aus- gen Welt, Halloween und John Bauer, der als „Wegbereiter der
wahl aller bisher erschienenen Artikel und Interviews. Fantasy“ bezeichnet wird. Dazu Gedichte, Kurzgeschichten
sowie Buch- und Fanzine-Besprechungen.
Raumschiff Wucherpreis. Nr. 21.
66 Seiten, DIN A4, kostenlos, www.scumfuck.de Things. Nr. 141-143.
Beatles Museum, Alter Markt 12, 06108 Halle, je 28 Seiten,
Die Scumfuck-Crew um Willi Wucher, streitbares „Ich- DIN A5, 3 Euro zzgl. Porto, www.beatlesmuseum.net
mach-mein-Ding“-Punk-Urgestein, bringt halbjährlich das
Raumschiff Wucherpreis heraus: normalerweise zur einen Dieses Heft erscheint monatlich, u. a. mit Rückblicken auf
Hälfte Fanzine, zur anderen aktueller Katalog des Scumfuck- diverse Beatles-Alben, Auftritten von Beatles-Mitgliedern in
Mailorders. In der vorliegenden Ausgabe scheint mir jedoch TV-Shows und aktuelle Projekte von Ex-Beatles-Mitgliedern.
der redaktionelle Teil etwas kurz gekommen zu sein. Neben Ein Überblick über die Titelstories der vorliegenden Ausga-
den stets unterhaltsamen „Wuchers Worten“ finden sich nur ben: „Help! auf DVDs“ in Heft 141, Ringo Starr und seine neu-
noch vier weitere längere Artikel: Punk-&-Disorderly-Festival en CDs in Heft 142 und in Heft 143 die Promoclips von Paul
2007, Melanie and the Secret Army, Cotzraiz und – festhalten! McCartney. Mit vielen Reviews und farbigen Abbildungen!
– DrehkrOi!z. Dazu noch 14 Seiten Reviews. So eigentlich im
Wesentlichen ein Plattenkatalog, als solcher aber unterhaltsa- Trust. Nr. 127/06.
mer als manch anderer. Dolf Hermannstädter, Postfach 110762, 28087 Bremen,
68 Seiten, DIN A4, 2,50 Euro zzgl. Porto, www.trust-zine.de
Schlagzeilen. SM aus der Szene (Erhältlich auch an jedem Bahnhofskiosk.)
für die Szene. Nr. 92 und 95.
Je 120 Seiten, DIN A4, 15,50 Euro, www.schlagzeilen.com Weiterhin kommt zweimonatlich das Trust an den Tisch,
diesmal u .a. mit einem R.K.L.-Special sowie Interviews mit
Der Untertitel dürfte alles sagen, das Magazin enthält Diver- Constance vom Chaos Computer Club und Turbostaat. Letz-
ses zum Thema Sado-Maso-Sex, u. a.: erotische Geschichten, teres ist sehr ausführlich geworden: Es handelt sich um ein
Adressen von SM-Gruppen im deutschsprachigen Bereich, längeres, freundschaftliches Gespräch, das vor allem den Ma-
Abbildungen von Gemälden, Porträt der „Location Catoni- jor-Deal der Band zum Thema hat. Ich kann mir nicht helfen,
um“ in Hamburg, Debatte: SM und Therapie?, Reviews aktuel- aber nach 15 Jahren Punkrock interessiert mich das Thema
ler Buchtitel und Filme, Leserbriefe und Kontaktanzeigen. In persönlich nicht mehr so wirklich ... Vielmehr jedoch die
Ausgabe Nr. 95 lautet das Titelthema „SM & Familie – Wie viel amüsant zu lesenden, unbestechlichen Reviews von Howie,
Familienleben verträgt SM, wie viel SM verträgt die Familie?“ Alva und Andreas.

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144 REZENSIONEN Posteingang

Soeben noch eingegangen: Trust Nr. 128/01, mit u .a. Core-Tex Die Goldenen Zitronen, Against Me!, Peaches, Ostkreutz, Fettes
Records, Steve Ignorant/Crass und Inferno. Letzteres natürlich Brot, Chicks on Speed, Juliette & the Licks, Dead Moon, 10 Jah-
besonders spannend, da die Geschichte des Trust sehr mit der re Force-Attack-Festival und einer nachdenklich stimmenden
von Inferno verwoben ist. Wieder eine sehr runde Sache! Vorstellung des Ramones-Museums („Ramones – bereits reif
für’s Museum?“). Aber auch andere Themen finden im Wahr-
Übersteiger. Nr. 83 und 85. schauer ihren Platz, so u.a. Rechtsextremismus in Mecklen-
Der Übersteiger, Brigittenstr. 3, 20359 Hamburg, je 36 Seiten, burg-Vorpommern und die Kommerzialisierung Lateiname-
DIN A4, 1,60 Euro zzgl. Porto, www.uebersteiger.de rikas. Runde Sache!

Der FC St. Pauli ist in die 2. Bundesliga aufgestiegen, und der Der Zwergpirat. # 9 und 10.
Übersteiger, das Zentralorgan der St.-Pauli-Fans, reibt sich Carsten Hantel, Augsburger Str. 18, 85290 Geisenfeld,
erst nur überrascht die Augen. Trotz des fröhlichen Ereignis- 80 Seiten, DIN A5, 2 Euro zzgl. Porto, C.hantel@gmx.de;
ses kommen die kritischen Berichte nicht zu kurz (Stichwort: www.myspace.com/vinkingbalg
never ending story um Präsident Conny Littmann), und mit
Berichten über Fußball in Bolivien und Diego Maradona auch Oi!-Fanzine, das vom Layout her durchaus an ein gut gestyltes
nicht der Blick über den Tellerrand. Punk-Heft erinnert. U. a. mit Soko Durst, SpringtOifel, Cheap
In der jüngsten uns vorliegenden Ausgabe Nr. 85 geht es Stuff, Njord, Wasted-Festival 2006 und Skrewdriver in der BRA-
thematisch u.a. um die neuen Investoren des Millerntor-Stadi- VO 1977. (Warum unser Buch trotz Gratis-Exemplar nicht re-
ons, ein Rückblick auf 30 Jahre Bundesliga und Marketingver- zensiert wurde, wäre aber durchaus ein paar Zeilen wert gewe-
gleich HSV – FC St. Pauli. Der Übersteiger hat sich nach seiner sen, oder nicht?) Steckt viel Mühe drin und hat durchaus was!
Krise längst wieder gefangen – gut so! Die soeben noch eingetroffene Nr. 10 macht ebenso wei-
ter wie die Vorgänger-Nummer. Diesmal u. a. mit One Way
Wahrschauer. Nr. 53. System, Kraftheim („teutonischer Vikingrock aus dem Teu-
Wahrschauer, Postfach 120363, 10593 Berlin, 130 Seiten, toburger Wald“), Rackham’s Revenge und wie immer zahlrei-
DIN A4, mit Gratis-CD, 4 Euro zzgl. Porto, www.wahrschauer.net chen Reviews und Konzertberichten. Schon verwirrend: die
Reisen des Herausgebers zu Konzerten von einerseits Bands
Auch eines der anerkannt großen Hefte im Bereich Punk/HC wie Missbrauch und Mimmi’s, andererseits konspirativen
und angrenzendes; nach eigener Auskunft in einer Auflage RAC-(„Rock against communism“)-Gigs wie von Endstufe.
von 15.000. In der vorliegenden Ausgabe u. a. mit Billy Talent, Aber interessant allemal.

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Quergelesen REZENSIONEN 145

Quergelesen. Ein Blick in die aktuelle Fachpresse

Von Klaus Farin

Eigentlich glaubt man ja, es sei zu diesem Thema schon al- Nicht fehlen darf der Hinweis, dass der Bayerische Jugendring
les gesagt, doch ein Blick in die aktuelle Fachpresse belehrt seinen Landesfürsten politisch überflügelt und einstimmig ein
einen eines Besseren: Rechtsextremismus hat immer noch Verbot der NPD fordert.
oder schon wieder – zum wievielten Male eigentlich? – Hoch-
konjunktur. Genauer: Rechtsextremismus & Jugend bzw. In der ebenfalls aus Bayern stammenden Fachzeitschrift
Jugendkulturen. Vor allem in den pädagogischen Blättern, proJugend hat Kurt Möller den Einführungsbeitrag mit eini-
denn die Jugend in Deutschland gehört sowieso der Päda- gen Definitionen, Bestandsaufnahmen und pädagogischen
gogik, und dass die jeweils aktuelle Jugend im Vergleich zur Schlussfolgerungen übernommen, Christian Dornbusch be-
bereits angegrauten, gefühlten Jugend nicht wohlgeraten ist, arbeitet das Thema Rechtsrock, Michaela Köttig widmet sich
wissen wir seit Sokrates. Ob es ein Zufall ist, dass sich fast alle erwartungsgemäß den jungen Frauen in der rechten Szene.
aktuellen Fachblätter auf die beiden Themen „Rechtsrock“ Wirklich Neues enthalten die Beiträge ebenso wenig wie der
und „Junge Frauen in der rechtsextremen Szene“ kaprizieren folgende Aufsatz von Stefan Glaser – jugendschutz.net – zu
– zwei gesamtgesellschaftlich betrachtet extrem randständige Neonazis im Internet.
Themen? Die miese Qualität des rechtsextremen Agitprop Kurt Möller führt auch mit einer Bestandsaufnahme und
und die Unattraktivität der prügelnden und saufenden Män- pädagogischen Schlussfolgerungen in den Schwerpunkt der
nerhorden selbst für gleichgesinnte Frauen sind seit Jahr und NRW-Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung Thema Ju-
Tag Garanten für die Erfolglosigkeit der Rechtsextremen bei gend ein. Es folgen ein Essay von Irma Jansen zum Thema jun-
über 90 Prozent der Jugendlichen in Deutschland. Auch wenn ge Frauen in der rechten Szene, der sich wesentlich auf Arbei-
Martina Kobriger in den Jugendnachrichten des Bayerischen ten von Möller, Köttig und Bitzan stützt, Christian Dornbusch
Jugendrings zur Begründung des gewählten Schwerpunktes arbeitet sich wieder am Thema Rechtsrock ab und praxisori-
erläutet, dass „Jugendliche immer empfänglicher für die ein- entierte Beiträge u. a. zu einem Partizipationsprojekt der Stadt
fachen Lösungsangebote rechtsextremer Parteien“ seien, so Rheine beschließen den Schwerpunkt.
ist dies schlicht Unsinn. Thomas Pfeiffer, Mitarbeiter des nor- Eine Reportage aus der Kreisstadt Bernburg in Sachsen-
drhein-westfälischen Verfassungsschutzes, der Ska schon mal Anhalt, eine Analyse des Rezensenten (bebildert mit einem
für rassistische Skinheadmusik hält und den Namen der be- britischen Sex-Pistols-Fan und deutschen Gothics bei einem
deutendsten Nazi-Band Skrewdriver immer noch nicht korrekt Konzert, Untertitel: „Rechtsorientierte Jugendliche …“) so-
zu schreiben weiß, steuert im selben Heft den Auftaktbeitrag wie kurze Beiträge zu Nazis im Internet und Schulaktivitäten
„Menschenverachtung mit Unterhaltungswert“ bei. Es folgen gegen rechts bilden den Fokus der Februar-Ausgabe des Leh-
eine „Lageskizze“ zum Rechtsextremismus in Bayern – Autor: rerInnen-Magazins Erziehung und Wissenschaft.
ein Mitarbeiter des Landesamtes für Verfassungsschutz – so- Zu verdenken ist es den AutorInnen ja eigentlich nicht,
wie mehrere, eher praxisorientierte Beiträge zur Jugendarbeit. wenn sie bei jeder neuen Anfrage nach einem (schlecht oder

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146 REZENSIONEN Quergelesen

gar nicht honorierten) Beitrag nicht jedes Mal die Welt neu er- Namens liegt in der Theorie des französischen Situationismus:
finden wollen, sondern bereits veröffentlichte Texte neu colla- Dessen AnhängerInnen nannten es „dérive“, wenn sie ziellos
gieren. Vermutlich überschneiden sich die LeserInnen dieser und experimentell durch die Stadt streiften, um ebenjene bes-
Blätter sowieso kaum, also ist es auch im Grunde nicht tra- ser kennen zu lernen. Sie entwickelten aus diesen ungewohn-
gisch, dass sich die immer gleichen AutorInnen mit den im- ten, unvorhersehbaren Perspektiven ihre Kritik der Urbanität
mer gleichen Themen immer wieder publizistisch begegnen. – und das schon in den 1950er- und 1960er-Jahren.
Und eigentlich finden sich in allen erwähnten Heften auch Herausgeber Christoph Laimer, der das Heft von Anfang
durchaus lesenswerte Beiträge, die nur der gepeinigte Rezen- an unter prekären Bedingungen produziert und maßgeblich
sent nicht mehr lesen mag und objektiv zu würdigen weiß, geprägt hat, geht es genau um jene Kritik der Urbanität. Er
nachdem ihm Woche für Woche immer mehr Schriften mit sieht dérive als Zeitschrift zur Kritik der gesellschaftlichen Zu-
dem ewig gleichen Schwerpunkt auf den Schreibtisch flatter- stände, die nun mal in der Regel in Städten früher und massiver
ten. Aber das ist ja nun sein ureigenes Problem, und deshalb auftreten und dort auch besser erkenn- und damit kritisierbar
seien den neugierigeren Leserinnen und Lesern hier noch die seien. Themen von dérive sind und waren: Überwachung des
Kontaktdaten und Bestellmöglichkeiten der erwähnten Maga- öffentlichen Raumes, Rassismus, Multi- und Einkaufserlebnis-
zine genannt: komplexe, Migration, Stadtplanung, Obdachlosigkeit, Umbau
des Sozialstaates und Kulturwirtschaft.
Das aktuelle Heft hat den Schwerpunkt „Cinematic Ci-
Erziehung und Wissenschaft. Zeitschrift der Bildungsgewerk- ties – Stadt im Film“ und berichtet über die kinematographi-
schaft GEW 2/2008 (Reifenberger Straße 21, 60489 Frank- sche Darstellung der Modernisierung und Urbanisierung in
furt am Main; www.gew.de). Deutschland vor 1914, die Selbstdarstellung von Hollywood
Jugendnachrichten. Zeitschrift des Bayerischen Jugendrings als Stadt in den dort produzierten Filmen und die Markierung
6/2007 (Herzog-Heinrich-Straße 7, 80336 München; und Inszenierung von Wien als gefährlicher Stadt im Film der
www.bjr.de). Nachkriegszeit. Mehrere Beiträge behandeln die chinesische
proJugend. Fachzeitschrift der Aktion Jugendschutz Landesar- Stadtplanung und ihren derzeitigen Wandel, und von der
beitsstelle Bayern e. V
V. 4/2007 (Fasaneriestraße 17, 80636 grundlegenden Serie „Geschichte der Urbanität“ von Manfred
München; www.bayern.jugendschutz.de). Russo wird schon der 22. Teil abgedruckt.
Thema Jugend. Zeitschrift für Jugendschutz und Erziehung Dérive ist global, mit Beiträgen zu Danzig, Hongkong oder
4/2007, hrsg. von der Katholischen Landesarbeitsgemein- Los Angeles, und vielfältig, denn es wird auch schon einmal
schaft Kinder- und Jugendschutz Nordrhein-Westfalen e. V. über Natur, Vögel und Menschen in der Stadt berichtet. Wich-
(Salzstraße 8, 48143 Münster; www.thema-jugend.de). tig und nützlich sind die Besprechungen von Ausstellungen
und Büchern, die diese sehr ansprechend gestaltete Zeitschrift
abschließen. Für eine Beschäftigung mit der Transformation
dérive – Zeitschrift für Stadtforschung. der Städte ist diese Zeitschrift ein wirklich gutes Hilfsmittel.
Liechtensteinstrasse 46a/2/5, A-1090 Wien Bernd Hüttner
http://www.derive.at

Die in Wien erscheinende Zeitschrift für Stadtforschung déri-


ve hat ihre 30. Ausgabe veröffentlicht. Das erste Heft erschien
im Juli 2000. Heute hat sich der Titel im Feld der Architektur-
und Stadtplanungszeitschriften etabliert und dürfte der kri-
tischste im deutschsprachigen Raum sein. Der Ursprung des

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Filme REZENSIONEN 147

Filme

Das ganz normale Leben – Drei Filmfestivalhighlights


Von Emil Gruber

Piff Pusan 2007 Realisierung von Ideen arbeiten, voll etabliert. Der nachfol-
Berliner Fimfestspiele 2008 gend besprochene, international sehr erfolgreiche Film „South
Diagonale Graz 2008 of Pico“, der 2005 hier seinen Anfang nahm, sei stellvertretend
für viele verwirklichte Projekte genannt.
Drei Länder, drei Festivals, drei andere Arten Unentdecktes zu Auch Pusan kümmert sich intensiv um die junge Garde.
entdecken. Die „Berlinale“ zählt ja seit Jahren zur weltweiten Gut die Hälfte der Filme stammt hier von zukünftigen Hoff-
Elite der unzähligen weltweiten Festivalangebote. Das „Piff “ nungsträgern. Größen wie Schlöndorff, Lelouch oder Greena-
im südkoreanischen Pusan hat sich in seinem nun zwölfjäh- way lieferten 2007 spannende Inputs in Workshops speziell
rigen Bestand zu einem der wichtigsten asiatischen Filmtreff- für Filmstudenten. Das Festival ist im Gegensatz zu Berlin, das
punkte entwickelt und bietet ein überzeugendes Crossover durch Mondänität immer etwas an Volksnähe verliert, noch
von fernöstlicher cineastischer Leistungsschau und mehr und ein klassisches Publikumsfestival.
mehr europäischem Autorenfilm. Die österreichische „Dia- Auch Graz zeichnet sich durch den lockeren Umgang
gonale“ hat weiterhin mit der Finanzierung zu kämpfen und zwischen Zuschauer und Profi aus. Fast ein Familienbetrieb
überzeugt trotzdem als inhomogener Jahresrückblick des ös- könnte man im Vergleich zu den beiden großen meinen.
terreichischen Filmschaffens von No-Budget- bis zu kommer-
ziellen Spielfilmproduktionen. Durch den heurigen Oscarge- Stellvertretend für die hohe Qualität vieler Filme zur Jugend-
winn des Ruzowitzky Films „Die Fälscher“ herrschte durchaus kultur seien hier nun drei Beispiele genannt, die durch die
auch hier Aufbruchstimmung. ungewöhnliche Geschichte oder den exotischen Schauplatz
Der Trend der kleinen, feinen Dokus und unter einfachs- besondere Aufmerksamkeit erzeugten.
ten Bedingungen hergestellten Digitalproduktionen, die ohne
den üblichen Major-Studio-Lack überzeugen, ist ungebro- „Heavy Metal in Baghdad“
chen. Es ist daher sehr erfreulich, dass jedes Festival diesen 2007, 84 Min.
meistens nur schwer verwertbaren Filmen, einen beachtlichen
Raum bietet und das Publikum durch volle Säle die Leistun- Firas – Bass, Tony – Leadgitarre, Faisal – Gesang, Marwan –
gen der jungen, unabhängigen Filmemacher würdigt. Schlagzeug. Die Band heisst Acrassicauda, die lateinische Be-
Berlin hat dafür ja seit langer Zeit eine eigene Sektion, deutung für „Schwarzer Skorpion“. Die Musik? Heavy Metal!
das Forum des jungen internationalen Films. Daneben hat Acrassicauda ist wahrscheinlich die einzige Musikgruppe auf
sich auch seit einigen Jahren existierenden Talente Campus, der Welt, die zu Ehren eines Diktators einen Headbanger-
in dem Nachwuchshoffnungen, unterstützt von renommier- song geschrieben hat. Um in den Zeiten von Saddam Hus-
ten Filmschaffenden, miteinander an der Umsetzung und sein öffentlich mit Musik auftreten zu können, musste man

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148 REZENSIONEN Filme

um Genehmigung beim Ministerium für Kultur ansuchen. „Tirador“


Dieses Amt erteilte seine Zustimmung nur, wenn zumin- 2007, 86 Min.
dest ein Loblied auf den irakischen Führer dabei war. Und
so komponierten die vier Jungs mit schrillen Gitarrensoli,
hämmerndem Schlagzeug und kreischender Stimme eine
Huldigung der etwas außergewöhnlichen Art. Der kanadi-
sche Film „Heavy Metal in Baghdad“ erzählt die Geschich-
te der wohl einzigen „hardcore motherfuckin“ Band des
Iraks, die unter dem totalitären System begann, die Bom-
ben und Schüsse der letzten Jahre überlebte, vor zwei Jah-
ren nach Jordanien flüchtete und heute in der Türkei lebt.
Vier Stahlbuben, die es in sieben Jahren gerade auf ebenso vie-
le Konzerte brachten. Jungs, die von langen Haaren träumen

Quiapo, ein Slum im Herzen von Manila. Tausende Menschen


leben hier in verfallenden Gebäuden und Hütten. Jugend-
gangs, Drogen, Raubüberfälle, nächtliche Razzien von schwer
bewaffneten Polizeieinheiten sind hier der Alltag. Hier jeden
Tag einfach zu überleben ist die Hauptaufgabe, für weitere
Träume und Ziele ist eigentlich kein Platz.
„Tirador“ (Slingshot) des philippinischen Regisseurs
Brillante Mendoza wirbelt in einem semidokumentarischen
Stil durch dieses Ghetto. Unbeschönigt und roh werden die
Schicksale von gut einem Dutzend Menschen miteinan-
der verknüpft. Da ist der noch halbwüchsige Vater, der sein
und nun Gefahr laufen, in der Türkei in ein Spezialdorf im Baby ins Crackhaus mitnimmt, der Schüler, der wegen eines
Nirgends abgeschoben zu werden, wo tiefgläubige Muslime Rucksackdiebstahls von der Polizei blutig geprügelt wird, die
das Sagen haben. Knapp 2,5 Millionen Iraker sind seit dem junge Frau die sich für einen Zahnersatz durchs Leben bettelt
„Kriegsende“ in die umliegenden Nachbarländer geflüchtet und stiehlt. Politiker lassen sich im Ghetto nur blicken, weil
und niemand will sie eigentlich haben. Es gibt für den, der kein Wahlkampf ist und sie sich mit Bettelbeträgen und Pseudover-
Geld hat, kein Visum und natürlich auch keine legale Arbeit. sprechungen Stimmen erkaufen wollen. Trotz vieler brutaler
“Heavy Metal in Baghdad“ zeigt uns zwar vordergründig ein Momente, verzichtet Mendoza nicht auf ironische Momente.
exotisches musikalisches Unikum, aber in der Essenz macht er Ein Räuber bringt schon einmal beleidigt seinem Opfer die
dem Betrachter sehr bewusst, dass die Situation im Irak einen eben entrissene Goldkette wieder zurück, weil diese sich als
sozialen Flächenbrand im nahen Osten ausgelöst hat. Ameri- eine Imitation herausstellt. Und als der jungen Frau der end-
ka ist im Öl und schießt, Europa steckt nüchtern seine Köpfe lich erstandene Zahnersatz beim Reinigen in die Kloake fällt,
zusammen und analysiert. Im Westen nix Neues. Und irgend- sucht die ganze Nachbarschaft solidarisch mit ihr danach, bis
wo tickt etwas immer schneller.... zum Bauch in der Scheiße watend.

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Filme REZENSIONEN 149

„With a cast blending amateurs and professionals, Mendo- Freundin gehen, bevor sie die Stadt verlässt. Das Schicksal ver-
za weaves his stories with an endlessly mobile, roaming digital kettet diese Einzelepisoden miteinander am Pico Boulevard,
camera and dynamic, energetic cutting and angles. Slingshot einer Durchzugsstrasse, die Arm und Reich im Süden von Los
may make viewers think of the multi-stranded stories in Ro- Angeles trennt. ein schrecklicher Autounfall verändert für alle
bert Altman’s films, or the best US TV dramas. This amazingly brutal ihr bisheriges Leben.
talented and inventive young Filippino director is both keep- Auch dieser Film ist mittlerweile mehrfach prämiert.
ing us on the edge of our seats and effortlessly showing us a Neben dem Thomas Pluch Drehbuch Preis bei der heurigen
richly human community, but one horribly stuck in poverty. It Diagonale räumte er drei Preise, inklusive Best Picture, beim
is a raw and real vision of a world seemingly without a future, American Black Film Festival 2007 ab und erhielt einen Award
but a world not so far from us all.“ – Simon Field for best director eines Erstlingswerkes beim Pan African Film
Der mittlerweile mehrfach bei Festivals prämierte Film Festival 2008.
begeisterte beim Pusan Filmfestival in Südkorea und gewann
in Berlin im Rahmen des Forums des internationalen jungen
Films den Caligari Preis.

„South of Pico“
2007, 84 Min.

Inspiriert von einer wahren Begebenheit, in der Augenzeu-


gen einen Autolenker, der gerade ein Kind überfahren hatte,
aus seinem Wagen zerrten und zu Tode prügelten, hat der
Österreicher Ernst Gossner das Kunststück zusammenge-
bracht, mit minimalen Mitteln einen Film in Los Angeles
zu drehen. „South of Pico“ zeigt uns vier normale Menschen
und diesen einen Moment, in dem jeder von ihnen plötzlich
zu etwas Unvorstellbarem bereit ist. Da ist ein angespannter
Mediziner, der kurz davor ist, das dringend benötigte Geld
für seine Forschung zu erhalten und daneben einen an Krebs
erkrankten, sterbenden Jungen und dessen verzweifelte El-
tern begleitet. Patrick, ein Fünfzehnjähriger, ist unterwegs,
um endlich wieder seinen ihm fehlenden Vater zu treffen,
während er von einem unerreichbaren Mädchen, das im zulä-
chelte, träumt. Carla lebt ein verschlossenes, einsames Leben
und spult desillusioniert ihren Job als Kellnerin herunter. Ein
Stammgast ihres Lokals bemüht sich intensiv hinter ihre Fas-
sade zu gelangen. Ein junger Limousinenfahrer ist gerade von
seiner Freundin verlassen worden. Ein intensives Zusammen-
treffen mit einer reichlich abgebrühten Braut, die er zu ihrer
Hochzeit bringt, lässt ihn auf die Suche nach seiner eigenen

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150 REZENSIONEN Filme

„Laufen, um zu leben“ – Beispiele exemplarischer Filme


zur Jugendkultur auf österreichischen Filmfestivals
Von Emil Gruber

Es ist schon recht erfreulich festzustellen, das gemütliche Al- Williams dazu im Interview: „The aim was to create a
penland entdeckt die Bewegung. Und ist auch fähig, dabei piece of work that bled reality, that created a world generally
über seinen eigenen Brunnenrand hinweg zu schauen. Früh- ignored in today’s society, a world full of characters that we
ling in Österreich bedeutet nicht mehr, die erste Sonne sich pass by every day.“
in das Gesicht scheinen zu lassen, sondern mehr den je ab in
den Kinosaal. Mit der „Diagonale“ in Graz und dem knapp „Three Comrades“
danach stattfindenden „Crossing Europe“ in Linz garantieren Niederlande 2006, 99 Min., Regie: Masha Novikova
zwei feine Festivals wetterunabhängige Ausflüge für die Fan-
tasie mit ungeschönten und zuckerfreien Einblicken in die „Three Comrades“ beginnt entsetzlich surreal. Eine amateur-
Welt des Jungseins. hafte Kamera zeigt uns drei muslimische Jugendliche im Auto
Während sich Graz als eine Art gefilterte Leistungsschau in einer nächtlichen Großstadt. Led Zeppelin und Deep Purple
des österreichischen Films sieht, wählt sich Linz neben einem dröhnen aus dem Autoradio. Die Jungs sind auf Mädchensu-
Oberösterreichschwerpunkt sehr stark in die europäische che. Die Stadt ist Grosny und liegt in Tschetschenien. Und der
Landschaft des Low-Budget-Films ein. Für den Wettbewerb Krieg ist noch weit weg. Die Dokumentation der russischen
werden nur erste oder zweite Werke eines Regisseurs ausge- Regisseurin Masha Novikova erzählt von der Freundschaft
sucht. Brigitte Dollhofer, die Intendantin, hat im vierten Jahr dreier heranwachsender junger Männern, Ruslan, Ramzan
des noch recht frischen Festivals mit viel Gefühl emotionales und Islam, und wie ein sinnloser Krieg Leben zerstört. Der
Kino von Ost nach West in allen Nuancen präsentiert. Film wird von vielen Bildern, die von Ramzan gemacht wor-
den sind, getragen. Die Kamera immer dabei, gibt uns dieses
„London to Brighton“ Material einen sonst kaum zu sehenden Einblick, wie sich
Großbritannien 2006, 86 Min., Regie: Paul Andrew Williams normales Leben mit Festen, Späßen und Alltagssituationen
in Horror verwandelte, als russische Truppen in der Silvester-
Ein Pappbecher spült sich Wind getrieben durch die men- nacht 1994 in Grosny einmarschierten. Am Ende überlebt nur
schenleere Uferpromenade des englischen Seebades Brigh- einer den Irrsinn. Ruslan wird ohne Grund zu einem Verhör
ton. Für einen kurzen Moment herrschen Stille und Ruhe für abgeholt, von dem er niemals mehr zurückkehrt, Ramzan
Kelly, die Prostituierte, und Joanne, die elfjährige Ausreißerin. stirbt mit der Kamera in der Hand als Berichterstatter für das
Ein traumatisches Erlebnis mit einem päderastischen Freier Grosny-TV bei einem russischen Tieffliegerangriff auf Flücht-
hat sie zu Weggefährten zusammengeschweißt. In einem 24- linge. Zurück bleiben Witwen und Halbwaisen. Islam, der als
stündigen, alptraumhaften Roadmovie durch ein düsteres einziger flüchten konnte, lebt heute verbittert und immer we-
und gewalttätiges England voller Zuhälter, Junkies und an- niger zugänglich als Arzt in den Niederlanden.
deren Verlierern ist alles reduziert auf das nackte Überleben. „Der Krieg in Tschetschenien wurde von den Russen in-
„London to Brighton“ von Paul Andrew Williams besticht itiiert und geführt, und ich bin Russin. Ich empfinde tiefste
durch beeindruckende Schauspieler, unglaubliche Rasanz und Scham über das, was da unten vor sich geht und für die Art
permanente Anspannung. Ein englisches „Außer Atem“, das und Weise, in der die Russen eine Tragödie, die sich seit über
den Existentialismus nicht zitiert sondern ihn durchlebt. zehn Jahren abspielt, ignorieren,“ so Masha Novikova

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Filme REZENSIONEN 151

„Armin“ Gerade beim heurigen Siegerfilm konnte man durchaus gro-


Kroatien/Deutschland/Bosnien 2006, 82 Min., ßen Beifall, aber auch Verwunderung, was seine Nominierung
Regie: Ognjen Sviličić durch die Jury betrifft, feststellen. Als Lokalmatador hatte
Jakob M. Erwa natürlich schon einen Startvorteil. Auch die
Armin und sein Vater Ibro verlassen ihr bosnisches Dorf und Tatsache, dass seine „Heile Welt“ im vorigen Jahr als Kurzfilm
gondeln in einem Bus nach Zagreb. Eine deutsche Filmfirma heftig akklamiert war und nun zu einem Langepos umgewan-
veranstaltet ein Casting für einen Film, und Ibro will seinem delt wurde, ist diskussionswürdig, aber auch nicht ganz unüb-
Sohn einen Start in ein besseres Leben damit bieten. Doch Ar- lich. So entlässt einen der Film zwiespältig. Erwa arbeitet zwar
min ist zu alt, zu aufgeregt und zu unerfahren – der Traum geschickt mit Tempo, Zeitebenen und allen anderen Gadgets
platzt trotz aller Anstrengungen und Tricks, die Ibro aufbietet. der modernen, wilden Filmkunst. Aber irgendwie will sich
„Armin“ ist ein Film über die Sprachlosigkeit, die Unfä- in die Geschichte, die den Ablauf eines Tages aus der Sicht
higkeit sich auszudrücken. Er setzt gekonnt Sicht gegen Sicht. mehrerer Jugendlicher aus unterschiedlichen Sozialschichten
Das deutsche Filmteam möchte den Krieg und seine Traumata schildert, keine rechte Homogenität einstellen.
darstellen, Vater und Sohn das alles endlich aus ihrem Leben Das Potpourri aus speedigen Jugendlichen, bösen Vä-
entfernt wissen. tern, trinkenden Müttern, lieben Nutten und offenherzigen
„Sagen Sie, ... ist sein Zustand die Folge von einem Kriegs- Blinden, untermalt von fetten Soundtracks, wirkt daher
Trauma?“ fragt die Produzentin den Vater. „Danke. Ich habe manchmal wie ein langer Videoclip und verhindert so, dass
kein Interesse“, antwortet er. Die einen suchen nach Pathos, die Geschichte berührt. Dennoch, als Talentprobe darf es al-
die anderen nach weniger Armut. Das Projekt Filmruhm lemal gelten, und Erwa hat noch genug Leben vor sich, seinen
scheitert zwar und doch öffnet es einen vorsichtigen Zugang eigenen Stil zu finden.
zwischen Armin und Ibro zueinander. Ein behutsamer und in
seiner Langsamkeit anrührender Film. „Slumming“
Das Crossing-Europe-Projekt ist also auf dem richtigen Österreich/Schweiz 2006, 96 Min.,
Weg. Filme zu präsentieren, die es schwer haben, außerhalb Regie: Michael Glawogger
ihrer Heimatländer einen Verleih zu finden, ist immer ein
Wagnis. Doch machen solche Festivals klar, wie viele Perlen Ganz intensiv dagegen eines der Meisterwerke des österreichi-
uns durch eine ängstliche Verleihpolitik vorenthalten werden. schen Films im Vorjahr: Michael Glawoggers „Slumming“.
Zwei Studenten aus besserem Hause sind voll damit beschäf-
„Heile Welt“ tigt, der tieferen Schicht zu zeigen, wo die wahre Intelligenz
Österreich 2007, 90 Min., Regie: Jakob M. Erwa zu Hause ist. Mit Wonne spielen Sebastian und Alex mit ihren
menschlichen Opfern. Ob sie Mädchen beim Date unterm
Die „Diagonale“ in Graz ist dagegen ja schon ein etabliertes Tisch unbemerkt zwischen den Beinen fotografieren und die
Festival. Auch wenn es zwischendurch immer wieder ums Bilder als Trophäen an die Wand hängen, ob sie in einem Lo-
Überleben kämpfen musste und der Grund dafür manche Po- kal den Schlüssel mitgehen lassen und Wirt und Gäste ein-
litiker waren, die sich aufgrund von (gesellschafts-)politischen sperren, sie bekämpfen ihre Langeweile, aber auch ihre Angst
Aussagen und Stellungnahmen der Leitung auf den Schlips vor dem Leben mit bösartigem Spott und überheblicher Ge-
getreten fühlten. hässigkeit. Ihr Spiel kumuliert, als sie den Sandler und Gele-
Natürlich lässt generell das Intendantenprinzip wegen genheitspoeten Kallmann völlig betrunken auf einer Wiener
der Auswahl der Filme oft viele Fragen offen. Andererseits Parkbank finden, ihn versteckt im Kofferraum ihres Autos in
leben ja Veranstaltungen im Kunstbereich von Diskurs und eine tschechische Grenzstadt bringen und dort den praktisch
Widerspruch. Bewusstlosen wieder aussetzen.

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


152 REZENSIONEN Filme

„Mein Name ist nicht Furcht, mein Name ist Angst, ich Freundin, bleibt zerrissen zwischen den Fronten. Nihilismus
muss die Zeit, die verbleibt, verleben, zerfallen und bröckeln, und Liebe tanzen nur solange, bis das schmelzende Eis dar-
flüssig werden, in voller Fahrt.“, zitiert Sebastian, als er den unter bricht. „Slumming“ erzählt vom Verirren, Versäumen,
schlafenden Kallmann noch schnell vor der Rückfahrt für sei- von der Kälte und vom Alleinsein. Wenn am Ende Kallmann
ne Sammlung fotografiert. nach seiner Odyssee dann wieder von einer Wiener Brücke ins
„Slumming“ ist an der Oberfläche ein gegenläufiges Road- Vertraute blickt, während Sebastian, auf der Flucht vor seiner
movie. Während Kallmann den Weg aus dem Osten zurück Angst, entlang eines Schienenstrangs durch die Slums Jakartas
sucht, zu sich, zu seiner Stadt, zu seinem Leben im Zweifel, su- in die Ungewissheit geht, kann, kein Ziel zu haben, schon wie-
chen Sebastian und Alex den Weg davon weg. Pia, Sebastians der Erlösung bedeuten.

Medienprojekt Wuppertal e. V.:

„Blinde Katze“ zungen und Anfeindungen. Verbale Attacken, wie „du scheiß
2002, 28 Min. Russe“, aber auch körperliche Auseinandersetzungen gehören
für sie zum Alltag. Letztere werden vor allem auch zwischen
„Worauf warte ich hier?“ Russlanddeutschen und Jugendlichen mit türkischem Migra-
2003, 20 Min. tionshintergrund geführt: „Mit Türken gibt es oft Konflikte,
weil man sich von denen oft angegriffen fühlt, jedes Mal ir-
Das Medienprojekt Wuppertal konzipiert und realisiert seit gendwie.“ Die drei männlichen Protagonisten erzählen von
1992 erfolgreich Modellprojekte aktiver Jugendvideoarbeit ihren Erfahrungen bei diesen Schlägereien und davon, dass
unter dem Motto „das bestmögliche Video für das größtmög- sie sich ihnen nicht entziehen können und wollen. Trotz der
liche Publikum“. Im Rahmen der Arbeit des Medienprojektes Schwierigkeiten ist für alle klar, dass sie in Deutschland blei-
werden jedes Jahr ca. 100 Videos von 1000 aktiven Teilnehmer- ben wollen, weil sich ihnen hier bessere Perspektiven bieten.
innen und Teilnehmern produziert. Auf einer DVD wurden
zwei Filme von russischen Migranten herausgegeben. Das Thema der zweiten, mit szenischen Teilen kombinierten,
Der autobiographische Dokumentarfilm „Blinde Katze“ Dokumentation „Worauf warte ich hier?“ sind die ersten Ein-
handelt von vier jungen „Russlanddeutschen“ aus Kasachstan drücke und Erlebnisse junger russischer MigrantInnen nach
und Kirgisien, die teilweise schon als Kinder mit ihren Eltern ihrer Ankunft in Deutschland. Die Jugendlichen erzählen von
nach Deutschland gekommen sind. „Mit vierzehn hat man ihren Gefühlen des Fremd- und Andersseins, die sie vor allem
sich nicht ausgesucht, hierher zukommen, das waren die El- in den ersten Wochen viel beschäftigt haben. Sie schildern ihre
tern. Du bist wie eine blinde Katze: Du wurdest reingeschmis- enge Wohnsituation in den Übergangswohnheimen und die
sen und fertig.“ So beschreibt die 24-jährige Olesja ihre An- Probleme beim Erlernen einer fremden Sprache. Man erfährt
kunft in Deutschland. Wie ihre Familie sind die meisten aus etwas über das bedrückende Gefühl, fremd zu sein; so bedrü-
wirtschaftlichen Gründen immigriert, um hier ein besseres ckend, dass man nach den ersten zwei Wochen „einfach nur
Leben zu beginnen. eine Pistole rausholen und alle Deutschen und überhaupt alle
Die Protagonisten berichten über ihre Schwierigkeiten auf der Welt abknallen möchte“.
in der Schule und mit der deutschen Sprache, über Ausgren- Nadine Heymann

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Neue wissenschaftliche Arbeiten REZENSIONEN 153

Neue wissenscha ftliche Arbeiten


im Archiv der Jugendkulturen

Christian Koch: der Stilarten fort. Besonders interessant ist die von Koch kon-
Rechtsextremismus in der Heavy Metal-Szene. statierte Tatsache, dass Black Metal kein Musikstil sei. Spätes-
Diplomarbeit, Soziale Arbeit, Evangelische Fachhochschule tens hier stellt sich die Frage nach der Forscherdistanz noch
Ludwigshafen 2006 einmal. Es scheint fast so, als wäre die Distanz des Autors zu
seinem Thema größer als anfänglich angedeutet. Entsprechen-
Wollen wir diese Arbeit einmal nicht vom fachlichen, sondern des gilt für viele weitere Darstellungen.
vom informativen Standpunkt aus betrachten. Der Autor be- Koch bezeichnet den stilistischen Ausdruck der Fans als
zeichnet sich selbst als jemand, der sich noch für Metal inte- nicht dogmatisch. Das ist schlichtweg falsch. Jeder Stil einer
ressiert, aber sich nicht mehr dazugehörig fühlt. Die notwen- Subkultur ist dogmatisch, auch wenn es noch so viele Sub-
dige Distanz zum Forschungsobjekt wird dadurch natürlich stilisierungen gibt, und auch wenn oder gerade weil die Fans
nicht erreicht, immerhin ist sich Koch dieser Schwierigkeit meistens behaupten, es wäre nicht so. Schließlich kommt
des Forscherblicks mit Vorannahmen bewusst. Koch ein paar Zeilen später auch darauf, widerspricht sich
Im ersten Teil seiner Arbeit referiert er über die Heavy- nun selbst, indem er Dresscodes impliziert. Schließlich unter-
Metal-Szene, um seinen Forschungsgegenstand zu beschrei- stellt Koch ja dann auch selbst dem äußerlichen Symbolgehalt
ben. Warum sich dabei jemand, der vorher angibt, sich in der einen Zweck, was natürlich absolut richtig ist, und betont vor
Szene auszukennen, in fast jedem Satz auf Bücher stützt, er- allem den Zweck der Abgrenzung. Der Symbolgehalt und der
scheint selbst in einer wissenschaftlichen Arbeit wenig plausi- damit immanente, nur von Eingeweihten geteilte Wissensvor-
bel. Entsprechend träge liest sich auch dieser Teil und wird für rat sind ja der Ausdruck dieser Abgrenzung und gleichzeitig
den einen oder anderen nicht wirklich erhellend sein. Dass die die Form der Aufrechterhaltung dieser Abgrenzung. Schade,
Literaturlage im Bereich Metal sehr dürftig aussieht, weiß der dass Koch gerade hier nicht speziell wird und dies auf seinen
Autor selbst und zitiert daher vornehmlich aus zwei Büchern Forschungsgegenstand anwendet.
– das ist vor allem einseitig. Ferner werden textliche Aspekte Während Koch bei Themen, die als ehemaliger Fan selbst
lediglich angerissen, das Textthema Frauenfeindlichkeit wird beschrieben werden sollten, Bücher zitiert, stellt er bei sehr
mit einem Manowar-Text und einigen aufgezählten Songtiteln viel heikleren und erklärungsbedürftigeren Themen wie NS-
belegt – das ist vor allem oberflächlich. Auch Tom-Angelrip- Black-Metal oftmals unbelegte Fakten auf die Seiten. Kochs
per-Songs stehen nicht gerade stellvertretend für die textliche Ungenauigkeit, Falschaussagen und wertende Statements
Ausrichtung von Metal-Songs im Hinblick auf Alkohol. Da setzen sich leider ebenso weiter fort wie die fehlende wissen-
reißt Koch ebenfalls Fakten aus ihrem Kontext – und das ist schaftliche Ebene. So wird der später behandelte Rechtsex-
vor allem verfälschend. Genauso ist die Gleichsetzung der tremismus in aller Kleinigkeit juristisch erläutert – in einer
textlichen Auseinandersetzung mit dem Thema Tod und dem Arbeit mit sozialem Schwerpunkt wäre der gesellschaftliche
Thema Todessehnsucht in den meisten aller Fälle sehr weit Konsens zu dem Thema sicherlich der bessere Ausgangspunkt
von der Wahrheit entfernt. Die Fans und die Fankultur wer- gewesen. Die Auseinandersetzung Kochs mit dieser Thema-
den aus einem zehn Jahre alten Buch zitiert. Leider setzt sich tik kommt ebenso holprig daher, und die Aneinanderreihung
diese halbgare thematische Betrachtung in der Beschreibung von Zitaten erhellt den Komplex dabei auch nicht gerade. Was

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154 REZENSIONEN Neue wissenschaftliche Arbeiten

meines Erachtens in der Erörterung des Themas „Rechtsex- Christian Koch: Wir sind die Stimme der arischen
tremismus in der Heavy-Metal-Szene“ viel zu kurz kommt, Jugend. Nationalsozialistische Motive in der
ist die Frage nach der Rezeption der Kontroverse innerhalb Skinhead-Szene anhand ausgewählter Liedtexte.
der Szene. Kontroversen und Diskussionen innerhalb gesell- Seminar-Hausarbeit, Soziale Arbeit, Evangelische Fachhoch-
schaftlicher Gruppen oder Untergruppen geben immer sehr schule Ludwigshafen [o. J.]
viele Ansatzpunkte zu forschender Betrachtung. Demzufolge
müsste dies in der Bearbeitung des Themas viel mehr und vor Arbeiten, die sich mit Rechtsextremismus auseinandersetzen,
allem fundiert Platz einnehmen. gibt es zuhauf. Koch beschäftigt sich in seinem Aufsatz mit den
Und schließlich, das muss mal wieder erwähnt werden, Motiven in der Szene, die anhand von Liedgut ihre Verbreitung
sollte man langsam aufhören, bei der Beschreibung der nor- finden, ein Ansatz, der gerade vor dem pädagogischen Hinter-
wegischen Black-Metal-Szene zu drei Vierteln etwas über grund durchaus wichtig erscheint. Koch thematisiert dies, um
Selbstmorde, Brände und Morde zu schreiben – klar, man Notwendigkeit und Möglichkeiten der Intervention aufzuzei-
kann oder soll es erzählen, aber man sollte diesen Ereignissen gen. Um es gleich vorweg zu nehmen: Dem hohen Anspruch
keinen Kultcharakter geben. In diesem Falle ist die reißerische wird diese Arbeit nicht wirklich gerecht. Größtenteils wird
Darstellung dieser Geschehnisse zudem noch Thema verfeh- wild aus Büchern zitiert, oder Songtexte werden strophenlang
lend. Auch bei der sehr ausführlichen, vierseitigen Behand- abgeschrieben. Umgangssprachlichkeit und Zynismus sind
lung des Themas Varg Vikernes findet keinerlei Diskussion Kochs persönliche Note – sicher nicht der beste Weg, Ohren
zur Rezeption der Person und seines Schaffens innerhalb der für harte Themen zu sensibilisieren. Eine Inhaltsanalyse findet
Szene statt. Die Halgadom- und Absurd-Diskussion ergibt zwar statt, doch der analytische Schritt führt nicht weit genug.
absolut Sinn in der Betrachtung Kochs, aber leider muss hier Auch wenn es Kochs Ziel als Pädagoge nicht ist, tiefgreifende
der unbedarfte Leser letztendlich den Eindruck gewinnen, die wissenschaftliche Erkenntnisse zu erringen, weiteres erringt
Black-Metal-Szene sei von Grund auf rechtsextremistisch und er auch nicht. Schade, denn der Ansatz, die Motive durch In-
kriminell, denn es wird nicht, wie die Überschrift andeutet, haltsanalyse systematischer aufzugreifen, um daraus interve-
über die deutsche Black-Metal-Szene geschrieben, sondern es nierende Ansätze abzuleiten, erscheint durchaus sinnvoll.
wird äußerst fleißig aus „Unheilige Allianzen“ zitiert. Die kriti- Jana Kimmritz
sche Diskussion des Themas Rechtsextremismus in der Szene
selbst findet sich lediglich in Randabschnitten wieder, was die Birol Mertol: Männlichkeitsbilder von
Zielsetzung dieser Arbeit erneut nicht erfüllt. Jungen mit türkischem Migrationshintergrund
Außerdem erfährt der Leser noch einiges zur Neuen sowie die Möglichkeiten und Grenzen für die
Deutschen Härte, und das Thema Böhse Onkelz darf natürlich interkulturelle Jungenarbeit.
auch nicht fehlen. Diplomarbeit, Erziehungswissenschaften, Universität Essen-
Schließlich gibt es noch einen sechs Seiten umfassenden Duisburg 2006
wissenschaftlich-praktischen Teil zur sozialarbeiterischen
Relevanz. Der wissenschaftliche wie praktische Wert dieser Birol Mertol arbeitete knapp drei Jahre als pädagogische Fach-
Arbeit muss leider bezweifelt werden. Aus Sicht der Informa- kraft in einem Jugendhaus in Bochum. Hier lernte er fünf
tionsrecherche über Heavy Metal und in Hinblick auf einen männliche Jugendliche mit türkischem Migrationshintergrund
wissenschaftlichen Beitrag zur Jugendkulturforschung kann im Alter von 17 bis 22 Jahren kennen, die er in seiner qualitati-
für diese Diplomarbeit keine unbedingte Empfehlung ausge- ven Studie auf ihre Männlichkeitsbilder hin untersucht.
sprochen werden. Aktuelle Forschungen heranziehend, betrachtet er im ers-
Jana Kimmritz ten Teil seiner Arbeit Sozialisationsbedingungen und Familien-
strukturen von Jugendlichen in türkischen Migrantenfamilien

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Neue wissenschaftliche Arbeiten REZENSIONEN 155

in Deutschland. Besonderes Augenmerk richtet er auf die Erzie- die Magisterarbeit von Nadine Heymann, die 2006 am Institut
hungsziele für Jungen. Weitere Aspekte seiner Betrachtung sind für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität ange-
die Rolle des Vaters in türkischen Familien, Vater-Sohn-Bezie- nommen wurde. Zentrales Anliegen der Arbeit ist es, herauszu-
hungen, Männlichkeitsbilder der türkischen Jungen und die Be- finden, warum Neonazis auf Stilelemente und Aktionsformen
deutung von Freundschaften. Anhand der Shell-Jugendstudie des politischen Gegners zurückgreifen, welche Erklärungsme-
2000 vergleicht Mertol einheimische mit türkischen Jungen. chanismen dahinter stecken und welche Bedeutung das für die
Der zweite Teil seiner Arbeit ist der empirische. Hier geht Akteure hat. Um die Praxen dieses Umgangs mit Stilmitteln he-
Mertol in fünf Interviews der Frage nach, welche Männlich- rauszuarbeiten, werden in einer dichten Beschreibung die Klei-
keitsbilder die Jungen mit türkischem Migrationshintergrund dungserscheinungen, Symbole und Aktionsformen zusammen-
für sich beanspruchen. getragen, die im Alltag junger Neonazis eine Rolle spielen. Die
Im Teil Drei werden mit Blick auf den gegenwärtigen For- zentralen Fragen und Ziele dieser Arbeit sind es also, zu zeigen,
schungsstand der interkulturellen Jungenarbeit Schlussfolge- wie und durch welches Selbstverständnis junge Neonazis moti-
rungen aus der vorhergehenden Untersuchung gezogen. viert sind, linksautonome Stil- und Aktionsformen zu zitieren.
Antje Pfeffer Grundlage des empirischen Materials ist dabei die Feld-
forschung im Umfeld einer der bekanntesten Berliner Kame-
Peter Wolter: Die Gothic Szene und ihre Musik. radschaften. Um in das Thema einzuführen, werden zunächst
Hausarbeit. Ludwig-Maximilians-Universität München 2006 Entwicklungsgeschichte, Struktur und Charakter der Freien
Kameradschaften nachgezeichnet, um so deren Positionen
In Peter Wolters Arbeit, die im Rahmen eines Seminars zu und Bedeutung in ihrem nationalen, politischen und gesell-
„Musik und Identität“ entstanden ist, stehen Musikstile der schaftlichen Kontext zumindest in Ansätzen nachvollziehbar
Gothic-Szene wie u. a. Gothic Rock, Elektro, Industrial, Folk- zu machen. Die Perspektive der Forschung wirft natürlich die
lore, Black und Death Metal im Mittelpunkt. Einführend de- Frage auf, wie in einer neonazistischen Kameradschaft, einem
finiert er die Szene über ihre Ästhetik und geht ihrer Historie gesellschaftspolitisch so hart umkämpften Feld, empirisch ge-
nach. Im umfangreichen Anhang finden sich Links zu Künst- forscht werden kann. Da die Erfolgsaussichten für ein gelin-
lern und Bands, eine Diskographie, jeweils ein Abbildungs- gendes Zustandekommen qualitativ-empirischer Forschung
und Literaturverzeichnis sowie Internetadressen. im Bereich von neonazistischen Gruppen relativ prekär und
Antje Pfeffer von zahlreichen Einflussfaktoren abhängig sind, bietet die Ar-
beit eine ausführliche Darstellung der spezifischen Probleme
Nadine Heymann: „Nazipop“. Lifestyle, Symbole einer qualitativen Forschung.
und Aktionsformen Autonomer Nationalisten. Im Hauptteil widmet sich die Autorin dem empirischen
Magisterarbeit, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt- Teil der Arbeit. Die theoretischen Befunde und methodischen
Universität zu Berlin 2006 Zugänge werden für die Analyse der Wandlung und Entwick-
lungsform der ästhetischen Praxis und des (postmodernen)
Ende des Jahres 2003 traten vermehrt junge Neonazis in Er- Lebensstils der Akteure fruchtbar gemacht. Für die Analyse
scheinung, die sich am Stil von Linksautonomen orientierten, der ästhetischen Praxis greift die Arbeit auf den Stilbegriff aus
diesen teilweise sogar für sich übernahmen. Diese Erscheinung der Jugend- und Subkulturforschung zurück, der durch einen
wurde in linken Kreisen mit Unbehagen aufgenommen. Man sozialwissenschaftlichen Lebensstilbegriff ergänzt wird.
initiierte Informationsveranstaltungen mit Titeln wie „Bunt Interessant ist vor allem der Kleidungsstil der untersuchten
statt Braun“ oder „Der Neonazis neue Kleider“, um sich darü- Kameradschaft, deren Aktionsformen, wie z. B. der Schwarze
ber zu versichern, wie man Linke und Rechte auseinanderhal- Block auf Demonstrationen, oder auch die so genannten Spu-
ten könnte. Diese Entwicklung bildet den Ausgangspunkt für ckis, die im öffentlichen Raum angebracht werden. Zu einigen

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156 REZENSIONEN Neue wissenschaftliche Arbeiten

der genannten Phänomene finden sich im Anhang eindrückli- Nana Adusei-Poku: Schwarze Körper – weiße
che Fotografien und weitere Bildnachweise. Bilder. Zur visuellen Repräsentation „Schwarzer
Martin Pickelmann Andersartigkeit“ als Ausdruck von Weißsein
Bachelorarbeit, Afrika- Asienwissenschaften, Humboldt-Uni-
Alena Karaschinski: Weiche Töne harter Ideologen. versität zu Berlin 2006
Rechtsextreme Liedermacher im vereinten Deutschland.
Diplomarbeit, Kulturwissenschaftliche Fakultät, Europa-Uni- Im Zentrum der Bachelorarbeit von Nana Adusei-Poku steht
versität Frankfurt (Oder) 2005 die Untersuchung und Analyse der v. a. bildlichen Darstellung
Afrikanischer Sportler bzw. Mannschaften in den bundesdeut-
Alena Karaschinski stellt in ihrer Diplomarbeit fest, dass es schen Printmedien während der Fußballweltmeisterschaft 2006.
bisher keine detaillierten Forschungsergebnisse über rechtsex- Ein Ziel der Autorin ist dabei die Sichtbarmachung weißer
treme Liedermacher in Deutschland gibt. So macht sie es sich Machtstrategien und weißer Identität. „Weißsein“ wird verstan-
zunächst zur Aufgabe, einen Überblick zu erstellen. den als soziale und kulturelle Identitätskonstruktion, die sich in
Dass rechtsextremen Liedermachern die Funktion einer einer bestimmten Konstruktion von „Anderen“ bildet. Die da-
integrativen Wirkung innerhalb der Bewegung zukommt, ist bei zum Tragen kommende Markierung der „Anderen“ durch
die Hypothese, die sie untermauern möchte. Dazu zieht sie Stereotypisierung und Fetischisierung wird in einem eigenen
den Collective-Identity-Ansatz aus der Bewegungsforschung Kapitel dargestellt. Relativ breiten Raum nimmt ein mit Abbil-
heran. Anhand eines von ihr entwickelten Analyserasters dungen versehener historischer Exkurs ein, der sich mit Bildern
prüft und erfasst sie das Wirken der Liedermacher in Bezug von AfrikanerInnen bzw. „Schwarzer Männlichkeit“ im Mittel-
auf Herstellung und Stärkung kollektiver Identität innerhalb alter, in der Kolonialzeit und während der NS-Zeit beschäftigt.
der rechten Szene. An vier ausgewählten Beispielen (ebenfalls mit Abbildun-
Antje Pfeffer gen) der Medienberichterstattung im Rahmen der WM 2006
werden die Stereotypisierungs- und Fetischisierungsmuster,
Maurice Wojach: Selbstbestimmungen der mit denen Schwarze Sportler bzw. „Schwarze Andersartigkeit“
Punkbewegung in der DDR (1981-1989). belegt werden, konkret analysiert.
Bachelorarbeit, Institut für Geschichtswissenschaften, Hum- Martin Pickelmann
boldt-Universität zu Berlin 2007
Silke Eckert: Auswirkungen subkultureller
Maurice Wojach geht in seiner Arbeit der Frage nach, wie Identifikationen auf die Identitätsentwicklung im
es in der DDR zu einer spezifischen Ausprägung der Punk- Erwachsenenalter am Beispiel männlicher Punks.
bewegung kommen konnte. Den zeitlichen Rahmen bildet Diplomarbeit, Psychologie, Universität Bremen 2006
zum einen das Jahr 1981, als mit dem Auftritt der Band Koks
in der Jugoslawischen Botschaft in Ost-Berlin erstmals ein Silke Eckert untersucht in ihrer Diplomarbeit, inwieweit sich
Punkkonzert stattfand, und zum anderen das Jahr 1989, das eine in der Jugend begonnene subkulturelle Entwicklung auf
mit dem Fall der Mauer auch einer DDR-Punkbewegung das die Identitätsentwicklung im Erwachsenenalter auswirkt. Sie
Ende bereitete. Die besonderen, konfrontativen Bedingungen geht der Frage nach, wie sich der Ausdruck der Zugehörigkeit
in der DDR-Gesellschaft forderten subkulturelle Selbstbestim- zu einer Subkultur und dem damit verbundenen Wertesystem
mungsprozesse der Punks heraus, die der Autor untersucht. von der Adoleszenz zum Erwachsenenalter verändert.
Ein Exkurs behandelt die Punkbewegung und deren Vernet- In einem theoretischen Teil werden klassische und mo-
zung mit verschiedenen Szenen in der Messestadt Leipzig. derne Theorien der Identitätsentwicklung mit Bezug zu sub-
Antje Pfeffer kulturellen Aspekten dargestellt.

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Neue wissenschaftliche Arbeiten REZENSIONEN 157

Im empirischen Teil der Arbeit werden diese Thesen dann Aspekt der Arbeit ist die Layoutgestaltung und die Einbettung
anhand von drei problemzentrierten Interviews geprüft. Alle des Textes in aussagekräftiges Bildmaterial.
Interviewten sind der Punk-Szene zuzuordnen. Nachdem in einem einleitenden Kapitel Definitionen von
Die Autorin kommt zu dem Ergebnis, dass sich subkultu- Autoaggression, Subkultur und Suchtverhalten gegeben wer-
relle Einflüsse insofern positiv auf die Identitätsentwicklung den, rücken die einzelnen subkulturellen Szenen bzw. Bewe-
auswirken, als sie neue Werte und Schwerpunkte in die Iden- gungen näher ins Blickfeld.
titätsarbeit einfließen lassen und klassische identitätsstiftende Namentlich sind dies die Punk-, die Sadomasochismus-
Momente, wie etwa den Beruf, überlagern. und Gothic-Szene, die Pro-Ana-Bewegung (pro Anorexie)
Martin Pickelmann sowie Body- bzw. Beauty-Modifikation.
Das Kapitel Sadomasochismus beinhaltet einen Exkurs über
Christian Schmidt: Punk-Fanzines in der BRD den Fall Meiwes und Brandes („Kannibale von Rotenburg“).
1977-80. Zur Entstehung eines Szene-Mediums Andere Aspekte, etwa bei der Betrachtung der Gothic-
und seinen kulturellen Bedeutungen. Szene, sind verschiedene Ausdrucksformen durch Mode, Stil,
Magisterarbeit, Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität Kommerz oder suizidale Tendenzen in der Szene.
zu Berlin 2006 Martin Pickelmann

Christian Schmidt legt mit seiner Magisterarbeit eine kultur- Backjumps – The Live Issue # 3. Katalog.
wissenschaftliche Analyse der Punk-Fanzines als spezifische From Here To Fame Publishing, Berlin 2007, 317 S., 29,90 Euro
Medienform in der BRD in den Jahren von 1977 bis 1980 vor.
Der Autor, der selbst auch an der Herausgabe von Fanzines „Backjumps – The Live Issue“ ist ein Ausstellungs- und Ver-
beteiligt war, betreut seit einigen Jahren den Fanzine-Bestand anstaltungsprojekt, das bereits 2003 und 2005 in Berlin erfolg-
des Archivs der Jugendkulturen. reich sämtliche Facetten von Street Art ausgeleuchtet hat. Hier
Im Mittelpunkt der Arbeit steht die Frage nach der Gene- liegt der Katalog der dritten Schau vor, die vom 23. Juni bis 19
se der Punk-Fanzines als spezifische Medienform und deren August 2007 im Kunstraum Kreuzberg/Bethanien präsentiert
kulturelle Bedeutung. Neben einer Definition von Fanzines wurde. Grundlage der „Backjumps-The-Live-Issue“-Serien
und eines Überblicks ihrer historischen Entwicklung werden bildet das seit 1982 aufgebaute Netzwerk des Editors und Aus-
die Personengruppen der HerausgeberInnen und der LeserIn- stellungskurators Adrian Nabi. Das 1994 gegründete Berliner
nen von Punk-Fanzines sowie deren Herstellungsweise und Magazin für urbane Kommunikation und Ästhetik Backjumps
Distribution dargestellt. Vor diesem Hintergrund werden die dient als Sprachrohr dieses nationalen und internationalen
einzelnen Themenfelder der Fanzines analysiert, zu anderen Netzwerks. Die Themenpalette, anfangs ausschließlich auf
Presseorganen aus dem Untersuchungszeitraum in Bezie- Graffiti ausgerichtet, hat sich auf Straßenkunst und HipHop-
hung gesetzt und die spezifische kulturelle Bedeutung dieser Kultur im weitesten Sinn, bis hin zu Mode, Fotografie und Ar-
Szenemedien herausgearbeitet. chitektur erweitert.
Martin Pickelmann Der Katalog der Live Issue # 3 präsentiert in über 500
Abbildungen und ausgewählten Texten, u. a. von Christian
Eva Stein/Julia Rochel: Design to Death. Schmidt (Ethnologe und langjähriger freier Mitarbeiter im Ar-
Seminararbeit, Fachbereich Design/Industriedesign, Burg Gie- chiv der Jugendkulturen) und Don M. Zaza (seit 1983 Writer
bichenstein Hochschule für Kunst und Design Halle 2006 und Herausgeber des ersten deutschen Buchtitels über Graffiti
auf Zügen), die 24 Künstler und Projekte der Ausstellung.
Im Mittelpunkt der Arbeit steht das Phänomen Autoaggres- Antje Pfeffer
sion im Kontext verschiedener Subkulturen. Ein wesentlicher

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158 REZENSIONEN Neue Veröffentlichungen unserer Mitglieder

Neue Veröf fentlichungen unserer Mitglieder

Edward Larkey: durch die kulturindustriell konstituierten pop- und rockmu-


Rotes Rockradio. Populäre Musik und sikalischen Einflüsse heraus. Diesen Einflüssen musste die
die Kommerzialisierung des DDR- parteistaatliche Führung immer wieder nachgeben, da sie
Rundfunks (Medien und Kultur 2). auf diese Weise die Loyalität der Bevölkerung zu untermau-
LIT Verlag, Berlin 2007, 372 Seiten, 29,90 Euro ern suchte. In Wirklichkeit jedoch führten diese im Grunde
konzeptionslosen und von politischen Manipulations- und
Welche Rolle spielte der DDR-Rundfunk, speziell die Sendun- Instrumentalisierungsinteressen diktierten Zugeständnisse
gen, die sich durch die Ausstrahlung populärer Musik an eine zu einer weiteren Aushöhlung ihres herrschaftsdiskursiven
jugendliche Hörerschaft wendeten, beim Untergang der DDR? Monopolanspruchs. Sie erweiterten den Spielraum für eigen-
Edward Larkey, Associated Professor for German Stu- sinnig produzierte Texte, Wahrnehmungsweisen, Ausdrucks-
dies and Intercultural Communication an der University formen und Themenkomplexe über den von der Partei- und
of Maryland, Baltimore County, promovierte 1986 an der Staatsführung gewünschten Rahmen hinaus.“ (S. 26)
Humboldt-Universität zu Berlin über die kulturpolitische Zur Untermauerung seiner These untersucht Larkey
Rezeption der US-Rockmusik in der DDR. In seinem jetzt strukturelle Veränderungen der Radioprogramme. So wird
vorliegenden Langzeitprojekt geht es erneut um populäre der Ausbau von „DT 64“ von einer Sendung zum Sender be-
Musik, diesmal vermittelt durch die Institution Rundfunk als handelt. Spezielle Jugendsendungen wie „Hallo – das Jugend-
ideologischem Instrument der DDR-Diktatur. Die Untersu- journal“, „Die Notenbude“, „Trend – Forum populärer Musik“
chung umfasst den Zeitraum von zirka Mitte der 1970er- bis oder „Parocktikum“ werden ausführlich auf ihre Programm-
Mitte der 1980er-Jahre. gestaltung hin analysiert. Letztgenannter Sendung, seit März
Im Fokus der Betrachtungen stehen gesellschaftliche Wi- 1986 ausgestrahlt, kam dabei eine besondere Rolle zu: Erst-
dersprüche und ökonomische Widrigkeiten, denen sich so- mals wurde nicht der Mainstream bedient, sondern es wurden
wohl die jugendlichen Rezipienten populärer Musik als auch Titel von so genannten Independent-Bands, auch aus der sich
die Redaktionen der Jugendsender permanent ausgesetzt gerade im Untergrund entwickelnden DDR-Szene, gespielt.
sahen. Das „Rote Rockradio“ hatte die Aufgabe, den herr- Einen breiten Raum nimmt die Betrachtung der Hörer-
schenden ideologischen Duktus und Machtanspruch zu un- post ein, die Larkey in den Beständen des Deutschen Rund-
termauern, sich dementsprechend vom Westen abzugrenzen funkarchivs in Potsdam-Babelsberg recherchierte. Hier wird
und dazu beizutragen, junge Menschen zu „sozialistischen deutlich, wie vehement die oben erwähnte Zielgruppe die
Persönlichkeiten“ zu formen. Um ihre Zielgruppe jedoch zu Durchsetzung ihrer popmusikalischen Interessen einforderte,
erreichen, war es nötig, auf deren Interessen einzugehen, die die Redakteure dadurch herausforderte und in welcher Form
wiederum vor allem in punkto Musik unweigerlich durch Ein- somit Einfluss auf die Struktur und Gestaltung der Rundfunk-
flüsse aus dem Westen geprägt waren. programme genommen werden konnte.
Larkey formuliert seine These wie folgt: „Spontane Prak- Von den Hörern ist beispielsweise häufig Musik zum Mit-
tiken, Verhaltensweisen, Strukturen und Werte bildeten sich schneiden gefordert worden, ohne dass auf den Titel raufgespro-
in Folge der aus dem Westen in die DDR vermittelten und chen wurde. Gab es doch nur in dieser Form die Möglichkeit,

JOURNAL DER JUGENDKULTUREN Nr. 13 | November 2008


Neue Veröffentlichungen unserer Mitglieder REZENSIONEN 159

an Musik heranzukommen, die ansonsten in der DDR nicht z. B. wiederholt die Etablierung von DT 64 oder die Bedeu-
auf Tonträgern erhältlich war. Eine wichtige Rolle spielte dabei tung der Sendung „Parocktikum“ in gleichen Zusammenhän-
die täglich ausgestrahlte Mitschneidesendung „Duett – Musik gen erwähnt werden. Generell würde eine Straffung des Textes
für den Rekorder“. Leider läßt sich aus dem Kapitel über diese dem Thema angemessener erscheinen. Das Kapitel 6 über den
Sendung nicht ermitteln, seit wann genau diese Sendung eta- Sender RIAS als Konkurrenten des DDR-Rundfunks ist zwar
bliert worden war. sehr informativ, erscheint aber zu umfassend und zu detail-
Einige kritische Anmerkungen sind unumgänglich: Die liert im Gesamtverhältnis des Textes.
fehlerhafte Schreibweise der Namen von Musikern wie Jack- Alles in allem aber leistet Larkeys Studie einen hervorra-
son Browne (hier: Brown, S. 125), Fritz Puppel (hier: Puppe, genden Beitrag einerseits zur Rolle der Rock- und Popmusik
S. 133) von der Band City, Gary Moore und Phil Lynott (hier: im Kontext der DDR-Forschung, andererseits zur deutschen
Garry bzw. Zynott, S. 155), der irisch-englischen Band Thin Rundfunkhistoriographie. Die Geschichte des DDR-Rund-
Lizzy (hier: australischen, ebd.), der Band Cockney Rebel (hier: funks diskursanalytisch aufzuarbeiten und anhand von Re-
Rebe, S. 157), Hansi Biebl (hier: Biebel, S. 168) oder Uve Schi- zeptionsforschung zu untermauern, ist ein spannendes No-
kora (hier: Schickora, S. 284, 328) sollte in einem Werk, das vum, und diese Leistung Edward Larkeys muss auf jeden Fall
Rock- und Popmusik zum Thema hat, vermieden werden. gewürdigt werden.
Weiterhin ziehen sich Redundanzen durch den Text, wenn Antje Pfeffer

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Wir sind von montags bis freitags
von 10 bis 18 Uhr für Sie da.
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Journal Nr. 1 / November 1999: Journal Nr. 7 / 2002:
 Weibliche Szene-Minder im  Wiedererwachen germanischer Werte?
Panorama der Jugendkultur  Black Metal, Satanismus, Nationalsozia-
 Junge Deutsche und die lismus  Dark Wave, Gabber und Rechts-
Wiedervereinigung extremismus  Nationalsozialistische
Symbolik in der Popkultur

Journal Nr. 2 / Juni 2000: Journal Nr. 8 / April 2003:


 Love Parade 2000 und der  Infantilität als Zivilisationsrisiko?
Berliner Technomarkt  Zensur  Boarding. Doing Gender der modernen
 Forschungsfeld „Szenen“ Mädchen  Trendsport – das ganz normale
 Poetry Slams Neue von den Geschlechtern

Journal Nr. 3 / Oktober 2000: Journal Nr. 9 / Oktober 2003:


 Jesus Freaks  reclaim the  NPD: „Kampf um die Schüler“
streets  Roter Stern Leipzig  Makkabi Berlin
 Der Rechtsextremismus und  HipHop-Kultur?
das Sommerloch

Journal Nr. 4 / April 2001: Journal Nr. 10 / September 2004:


 Rollenspieler  Identität: Skateboarder
 Punk in Lateinamerika  Lateinamerika
 HipHop in Deutschland  Eminem, die Medien und der HipHop
 Dancehall-Reggae in Deutschland  Grrrl (Fan)Zines
 Österreich-Special von jugendkultur.at

Journal Nr. 5 / Juli 2001: Journal Nr. 11 / Oktober 2006:


 Fankultur der Weimarer Republik  Black
 Der Berliner Tennis Club Borussia,  Sex, Jungfräulichkeit und Ehe
sein Image und die Fans  Modischer  Punk ist doch nicht tot
Sport oder sportliche Mode  Der Styler und seine Szene
 Rechte Jugendcliquen

Journal Nr. 6 / Mai 2002: Journal Nr. 12 / April 2007:


 Satanismus? Die WM3  Aggro Berlin
 Provokation „Jugendlichkeit“. Men-  B-Tight
tale Un-Erwachsenheit als Zivilisations-  HipHop-Kultur der DDR
risiko?  Baile Funk
 Die Goa-Szene: Eine Form posttradi-  Lernen in Szenen
tioneller Vergemeinschaftung  HipHop Mobil Berlin

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