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2fJJ.
WESTFi'illSC~
WISSENSCHAFTEN
Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften
Westdeutscher Verlag
354. Sitzung am 19. Februar 1992 in Düsseldorf
Isensee, Joaef:
Das Volk als Grund der Verfassung: Mythos und Relevanz der Lehre von der
verfassunggebenden Gewalt / Josef 15eosee. - Opladen: Westdt. Ver!., 1995
(Vorträge / Nordrhein-Westfälische Akademie der WISsenschaften: Geistes-
wissenschaften; G 334)
ISBN 978-3-322-98765-5 ISBN 978-3-322-98764-8 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-98764-8
NE: Nordrhein-Westfälische Akademie der WISsenschaften (Düsseidorf):
Vorträge / Geisteswissenschaften
ISSN 0944-8810
Inhalt
C. Widersprüche ............................................. 43
I. Handlungsunfähigkeit des unverfaßten Volkes. . . . . . . . . . . . . . .. 43
6 Inhalt
Das legitime Bedürfnis nach dem Mythos angesichts der legitimen Selbst-
verteidigung vor der Gefahr des Mythos, dieser Zusammenstoß bildet den
neuralgischen Punkt unserer Zivilisation.
Leszek Kolakowski
A. Aporie des Anfangs
"Der Weg zu den Anfängen", sagt Nietzsche, "führt überall zu der Bar-
barei"!. Barbarei erwartet denn auch den Juristen, der sich den Anfängen einer
Verfassung zuwendet. Er stößt auf rechtliche Brüche und politische Willkür,
auf historischen Zufall, auf rohe Faktizität. Die Umstände, unter denen eine
Verfassung entsteht, spotten nicht selten den Regeln, denen sie ihrerseits die
von ihr verfaßten Staatsorgane unterwirft. Demokratische Verfassungen, so
zeigt die Geschichte, kommen nicht immer demokratisch zustande. Kritiker
haben es leicht, hier demokratische Gebunsmakel aufzudecken und anzupran-
gern. Die Geschichte zeigt allerdings auch, daß einer demokratisch anfecht-
baren Genese zum Trotz eine Verfassung kräftige Wurzeln im Rechtsbewußt-
sein der Allgemeinheit treiben und eine tragfähige Rechtsbasis demokratischen
Staatslebens bilden kann.
Das barbarische Land des Verfassungsursprungs liegt jenseits der verfas-
sungsstaatlich gewährleisteten Zivilität. Es ist geschieden von der positiven
Rechtsordnung, innerhalb deren es feste Regeln für die Erzeugung und Ablei-
tung der Normen gibt. Eine jede von ihnen läßt sich auf eine höhere Norm
zurückführen, nur die höchste nicht, die Verfassung. Der Verwaltungsakt ist
rechtsgültig, wenn er der Verordnung, die Verordnung, wenn sie dem Gesetz,
das Gesetz, wenn es der Verfassung entspricht. Hier aber bricht die Kette juri-
stischer Deduktionen ab. Die Verfassung hat keine Norm mehr über sich. In
der Spitze der Normenpyramideendet die staatliche Rechtsordnung. Die Ver-
fassung gibt der Legislative die Regeln der Rechtserzeugung. Doch regelt sie
damit nicht die Erzeugung ihrer selbst. Deren Regeln, so denn hier überhaupt
Regeln existieren, kann sie nicht geben, allenfalls muß sie diese voraussetzen.
Hier zeigt sich das Dilemma der höchsten Norm. Sie erhebt den Anspruch,
rechtsverbindlich zu gelten. Doch sie vermag nicht, den Anspruch aus einer
höheren Norm herzuleiten oder aus sich heraus zu begründen. Die höchste
Instanz der Hierarchie kann sich nur auf eine Autorität in der Transzendenz
berufen. Der Ursprung der Geltung liegt jenseits des staatlichen Rechts, das in
1 FRIEDRICH NIETZSCHE, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen, in: ders., Werke
(hg. von Karl Schlechta), Bd. III, 1956, S. 349 (355).
10 j osef Isensee
der Verfassung gipfelt, aber auch mit ihr aufhört. Die Verfassung ist auf eine
systemtranszendente Basis verwiesen. Das ist vorerst eine negative Ortsbe-
stimmung, nicht mehr. Die positive Ortsbestimmung aber kann nicht mit
den Methoden juristischer Auslegung geleistet werden. Die Suche nach dem
Ursprung richtet sich auf den archimedischen Punkt des Rechtssystems. Wer
den Ursprung der Verfassung weiß, findet auch den Grund der Geltung. Die
Antwort auf das Woher der Geltung entscheidet über das Warum und letztlich
über das Ob der Geltung. Die Zukunft hängt ab von der Herkunft.
So schwer zu bestimmen nach Ort und Art die Quelle der Verfassung auch
ist, so kennt doch jeder ihren Namen: verfassunggebende Gewalt. Der Name
repräsentiert die Aporie. Aber er trägt in sich nicht schon das Konzept einer
Lösung.
Staat und Verfassung müssen unterschieden werden2 • Der Staat ist Voraus-
setzung und Gegenstand von Verfassung. Sie bildet seine rechtliche Grund-
ordnung, seine innere Struktur. Die Staatsform, wie sie seit der Antike Thema
der Staatslehre ist, kommt in ihr zur rechtlichen Geltung. Diese - inhaltlich
bestimmte - Verfassung im materiellen Sinne findet ein Regelungsinstrument
in der Verfassungsurkunde, die heute durchwegs in der Form des Gesetzes, als
Grundgesetz, ausgefertigt wird (Verfassung im formellen Sinne).
Die Verfassung hat individuellen Charakter. Sie fällt von Land zu Land ver-
schieden aus. Dagegen gibt es ein äußeres Organisationsschema des "moder-
nen Staates", das, in Korrespondenz zum völkerrechtlichen Staats begriff, welt-
weit einheitlich ausfällt: die durch das Gewaltmonopol bewehrte Friedens-
einheit, die souveräne Entscheidungs- und Machteinheit, der die drei Elemente
Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt zugrunde liegen. Wenn also ein jeder
2 Zum Folgenden näher: jOSEF ISENSEE, Staat und Verfassung, in: ders.!Paul Kirchhof (Hg.),
Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland (= HStR) Bd. I, 1987, § 13 Rn.
26 H., 121 H. (Nachw.).
Das Volk als Grund der Verfassung 11
Staat heute als Entscheidungs- und Machteinheit organisiert ist, so regelt die
Verfassung, wem die staatliche Macht zukommt, wie die Entscheidungszu-
ständigkeiten verteilt werden, welchen Zielen sie zu dienen, welche Schranken
sie zu respektieren hat.
Das vorliegende Problem der verfassunggebenden Gewalt erhebt sich bei
einem bestimmten Typus der materiellen Verfassung, die den Prinzipien der
Demokratie, der Menschenrechte und der Gewaltenteilung verpflichtet ist,
und einem Verfassungsgesetz, das, der Idee der Herrschaft des Rechts folgend,
für sich strikte rechtliche Verbindlichkeit einfordert. Es ist der Typus des
Verfassungsstaates. Ihm widmet sich die anstehende Untersuchung.
Ein Wechsel der Verfassung stellt die Existenz und die Kontinuität des
Staates nicht notwendig in Frage. Seine staatsrechtliche Identität bleibt
unberührt. Als in Deutschland 1918 die Monarchie ihr Ende fand, die republi-
kanische Staatsform eingeführt und durch die Weimarer Reichsverfassung aus-
gestaltet wurde, konstatierte Gerhard Anschütz: "Revolutionen pflegen nicht
unternommen zu werden, um einen bestehenden Staat zu zerstören, sondern
... um die Verfassung des Staates umzustürzen, vor allem, um das, was man
seine Form nennt, zu ändern ... Der Zusammenhang der Rechtsentwicklung
ist unterbrochen, nicht der des Staatslebens. Der Gemeinwille hat, indem er die
Umwälzung herbeiführte oder anerkannte, neue Träger und Organe erhalten.
Die Verfassung hat gewechselt, der Staat ist geblieben"3. Die Bundesrepublik
Deutschland sieht sich heute als Rechtssubjekt identisch mit dem Deutschen
Reich, identisch sogar mit dem Norddeutschen Bund von 1867, über Revolu-
tionen, Verfassungswechsel und Verfassungswandel hinweg. In der Zeit der
deutschen Teilung von 1949 bis 1990 beharrte die Bundesrepublik auf dem
rechtlichen Fortbestand des (nicht handlungsfähigen) gesamtdeutschen Staa-
tes, obwohl sich auf seinem Boden zwei voneinander unabhängige Staaten mit
inkompatiblen Verfassungen gebildet und die DDR zeitweilig den Versuch der
Sezession unternommen hatte 4 •
Politische Brüche im Innern und Diskontinuität der Verfassung tasten auch
die völkerrechtliche Identität des Staates nicht an, von der die Fortdauer der
Verträge, die Mitgliedschaft in internationalen Organisationen, die Zurech-
3 GERHARD ANSCHÜTZ, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 14 1933, Ein\.
S. 1. - Zur Relevanz der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt für die staatsrecht-
liche und völkerrechtliche Identität des Staates eARL SCHMITI, Verfassungslehre, 11928, S. 94.
4 Dazu BVerfGE 36, 1 (16); 77, 137 (149 H.); GEORG RESS, Grundlagen und Grenzen der inner-
deutschen Beziehungen, in: HStR Bd. I, 1987, § 11 Rn. 47 H.; DIETRICH RAUSCHNING, Die
nationalen und die internationalen Prozeduren zur Herstellung der Staatseinheit, in: HStR
Bd. VIII, 1994, § 188 Rn. 1 H., 14 f.; HANS H. KLEIN, Kontinuität des Grundgesetzes und seine
Änderung im Zuge der Wiedervereinigung, ebd., § 198 Rn. 3.
12 J osef Isensee
nung des Vermögens, die Haftung für Altschulden abhängen 5• Kein Staat wird
von seinen Verbindlichkeiten gegenüber ausländischen Gläubigern deshalb
frei, weil sie unter anderen Verfassungs bedingungen von einer anderen Regie-
rung begründet wurden. Der Versuch der Jakobinerregierung Frankreichs
1793, sich der Schulden aus der Ära der Monarchie zu entledigen, blieb ohne
Erfolg, ebenso der entsprechende Vorstoß der Sowjetunion unter Lenin auf
der Konferenz von Genua im Jahre 1922. Nach dem Zusammenbruch des
Kommunismus sind es heute die demokratisierten Staaten Osteuropas, die wie
weiland Lenin argumentieren. Als 1870 nach der Schlacht bei Sedan das
Kaisertum in Frankreich gestürzt und die Republik aufgerichtet worden war,
forderte der Dichter Victor Hugo die Deutschen auf, den Vormarsch auf Paris
abzubrechen und aus Frankreich abzuziehen, weil der Krieg nur eine Sache
Napoleons IH. und seines politischen Systems gewesen sei, nicht aber der
neuen Republik6 • Weder die Staatenpraxis noch das Völkerrecht haben bisher
solchen Gründen nachgegeben.
5 Dazu ALFRED VERDROss/BRUNO SIMMA, Universelles Völkerrecht, 31984, §§ 390, 391 (S. 230 H.);
WILFRIED FIEDLER, State Succession, in: Rudolf Bemhardt (Hg.), Encyclopedia of Public Inter-
national Law, Instalment 10, Amsterdam u.a. 1987, S. 446, 448.
6 VICfOR HUGo, Aux Allemands, Paris, 9. September 1870: "Mais cette guerre, Allemands, quel
sens a-t-elle? Elle est finie, puisque I'empire est fini. Vous avez tue votre ennemi qui etait le
notre. Que voulez-vous de plus?". Der Aufruf wurde in französischer und deutscher Sprache
publiziert. Die französische Version findet sich in: VICTOR HUGo, CEuvres completes, Politique,
Presentation de Jean-Claude Fizaine, Paris 1985, S. 725 H. Dazu HELMUT BERSCHIN, Deutsch-
land im Spiegel der französischen Literatur, 1992, S. 46.
Das Volk als Grund der Verfassung 13
Die Aporie des Anfangs stellt sich jedoch nicht ein, wenn eine bestehende
Verfassung nach ihren eigenen Vorgaben geändert wird. Hier liegt Verfas-
sungsrevision vor. Diese unterscheidet sich wesentlich von der originären Ver-
fassunggebung 7• Bei der Revision handeln Staatsorgane aufgrund einer Er-
mächtigung der geltenden Verfassung. Es gehört zum herkömmlichen Rege-
lungsrepertoire eines Verfassungs gesetzes, daß es die Möglichkeit seiner Ände-
rung vorsieht und dafür die formellen und materiellen Bedingungen festlegt,
das erforderliche Verfahren wie die inhaltlichen Grenzen. Die Revision hält
sich in den Bahnen der bestehenden Verfassung. Sie wahrt die Legalordnung.
Die Verfassunggebung dagegen kennt keine vorgegebene Legalität; denn sie ist
es ja, die erst Legalität stiftet. Die Revision bezieht sich auf Wortlaut und Inhalt
des Verfassungsgesetzes. Doch sie rührt nicht an seinen Geltungsgrund, und
sie hebt seine normative Identität und Kontinuität nicht auf. In der Praxis ist
es zuweilen schwierig, zu erkennen, ob noch Verfassungsrevision oder schon
Verfassunggebung vorliegt. Der Idee nach aber muß zwischen dem abgeleite-
ten und dem ursprunghaften Akt der Rechtserzeugung unterschieden werden.
Das gilt vor allem für eine Verfassung strengster normativer Observanz wie
das Grundgesetz. Thema im folgenden ist die Verfassunggebung, damit die
Frage nach der vorpositiven Begründung der höchsten positiven Rechtsnorm.
Mit dem Problem der Geltung erhebt sich das der Wirksamkeit der Verfas-
sung. Die Kategorien, wiewohl im Sprachgebrauch vielfach in eins gesetzt oder
vertauscht, müssen streng unterschieden werden. Nach Hans Kelsens Defini-
7 Zu den Tatbeständen Verfassunggebung und Verfassungsrevision: eARL SCHMITf (N 3), S. 26,
92 f., 101 ff.; HORST EHMKE, Grenzen der Verfassungsänderung, 1953, S. 85 H.; WILHELM
HENKE, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, 1957, S. 36 H.; HERBERT KRÜGER, Allge-
meine Staatslehre, 21966, S. 921 f.; UDO STEINER, Verfassunggebung und verfassunggebende
Gewalt, 1966, S. 173 H.; DIETRICH MURSWIEK, Die verfassunggebende Gewalt nach dem
Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 163 H., insb. S. 169 H., 221 H.; KLAUS
STERN, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. I, 21984, S. 152 f.; PAUL
KIRCHHOF, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, in: HStR Bd. I,
1987, § 19 Rn. 2, 10 H., 31 H.; PETER BADURA, Verfassungsänderung, Verfassungswandel,
Verfassungsgewohnheitsrecht, in: HStR Bd. VII, 1992, § 160 Rn. 16 f.
14 Josef Isensee
tion besteht die Wirksamkeit einer Norm darin, »daß sie im großen und
ganzen befolgt und wenn nicht befolgt, im großen und ganzen angewendet
wird, ihre Geltung aber darin, daß sie befolgt oder wenn nicht befolgt ange-
wendet werden soll"8. Die Geltung ist eine Frage des rechtlichen Sollens, die
Wirksamkeit eine Frage des empirischen Seins. Als Norm vermag die Ver-
fassung nur den Anspruch auf Geltung zu erheben. üb der Anspruch einge-
löst wird, entscheidet sich im Leben des Gemeinwesens. Der reale Geltungs-
erfolg setzt grundsätzlich den normativen Geltungsanspruch voraus. Der Gel-
tungsanspruch zielt auf reale Befolgung und Anwendung. Die Wirksamkeit
ist die erwartete Folge der Geltung9 • Zwischen Sollen und Sein bestehen Wech-
selbeziehungen. Die Frage nach dem Grund der Verfassung stößt auf die
Schwierigkeit, das Sollen zum Sein hin zu transzendieren.
Es liegt nahe, den Grund der Staatsverfassung, damit den Grund der staat-
lichen Rechtsordnung überhaupt, im überstaatlichen Recht zu suchen. In
Betracht käme das Völkerrecht, aber auch das Naturrecht. Die Aporie des
Anfangs löste sich damit aber nicht auf. Sie verlagerte sich nur auf eine andere
Rechtsebene. Immerhin würde die staatliche Ebene entlastet.
Das Völkerrecht erkennt dem einzelnen Staat zu, selber über seine inneren
Angelegenheiten, damit über seine Verfassung, zu bestimmen. Zu den »häus-
lichen" Angelegenheiten, die herkömmlich der ausschließlichen Zuständigkeit
der Staaten unterliegen (domaine reserve), gehören »the choice of a political,
economic, social and cultural system, and the formulation of a foreign
policy"lO. Den Rechtsgedanken bestätigt die Generalversammlung der
Vereinten Nationen in der »Friendly Relations Declaration", daß jeder Staat
ein »unveräußerliches Recht" hat, »sein politisches, wirtschaftliches und kul-
8 HANS KELSEN, Allgemeine Theorie der Normen, 1979, S. 112 (ohne die Hervorhebungen im
Original).
9 Vgl. KELSEN (N 8), S. 112.
10 IGH, Rep. 1986, 108; vgl. ausführlich zur domestic jurisdiction und dem Interventionsverbot:
FRlEDRlCH BERBER, Lehrbuch des Völkerrechts, Band 1,21975, S. 183 H.; IAN BROWNLIE, Prin-
ciples of Public International Law, Oxford 41990, S. 291 f.; KNUT IPSEN, Völkerrecht, 31990,
§ 57 Rn. 50-65.
Das Volk als Grund der Verfassung 15
Auch das Naturrecht, seine Geltung unterstellt, vermag nicht, die Frage
nach dem Grund der Verfassung zu beantworten. Seine formalen wie mate-
rialen Gemeinwohl- und Gerechtigkeitsprinzipien bilden Maßstäbe des rich-
tigen Rechts. Als solche vermögen sie, das positive Recht in seiner Richtigkeit
zu legitimieren oder in seiner Unrichtigkeit zu kritisieren 17 • Als überpositive
Normen vermögen sie jedoch nicht, die positivrechtliche Geltung einer Staats-
verfassung zu begründen.
Das Ergebnis ändert sich nicht, wenn man die Menschenrechte oder auch
das demokratische Prinzip als das effektive Naturrecht der Gegenwart aner-
kennt und ihnen überpositive wie universale Rechtsgeltung zuspricht 18 • Denn
Entwicklungen von: KLAUS OITO NAss, Grenzen und Gefahren humanitärer Intervention.
Wegbereiter für Frieden, Menschenrechte, Demokratie und Entwicklung, in: EA 48 (1993),
S. 279 ff.
16 Zu den Wechselbeziehungen zwischen Völkerrecht und staatlichem Recht: CHRISTIAN TOMU-
SCHAT, Die staatsrechtliche Entscheidung für die internationale Offenheit, in: HStR Bd. VII,
1992, § 172 Rn. 1 ff., 11 ff., 66 ff. (Nachw.).
17 Das Naturrecht fungiert als legitimierender Grund des positiven Rechts (Rechtfertigungs-
grund) und als sein normierendes Richtmaß (Regulativ) - so ERIK WOLF, Das Problem der
Naturrechtslehre, 31964, S. 196 H.
Das Bundesverfassungsgericht verwirft die Annahme, daß der Verfassunggeber alles nach
seinem Willen ordnen könne, als Rückfall in die Geisteshaltung eines wertungsfreien Gesetzes-
positivismus, wie sie in der juristischen Wissenschaft und Praxis seit längerem überwunden sei.
Eine Verfassungsnorm könne dann nichtig sein, wenn sie grundlegende Gerechtigkeits-
postulate in schlechthin unerträglichem Maße mißachte (BVerfGE 3, 225 [Ls. 2, 231 ff.]). Vgl.
auch BVerfGE 1, 14 (32 f.); 4, 294 (296); 23, 98 (106 f.); 84, 90 (121). Die Wahrscheinlichkeit,
daß ein freiheitlich-demokratischer Verfassunggeber diese Grenze überschreite, sei freilich so
gering, daß die theoretische Möglichkeit originärer »verfassungswidriger Verfassungsnormen"
einer praktischen Unmöglichkeit nahezu gleichkomme (BVerfGE 3, 225 [233]). Dazu OITO
BACHOF, Verfassungswidrige Verfassungnormen?, 1951, S. 42 f.
18 Dazu MARTIN KRlELE, Zur Geschichte der Grund- und Menschenrechte, in: Festschrift für
Hans Ulrich Scupin, 1973, S. 187 (188); LUDGER KÜHNHARDT, Die Universalität der Men-
schenrechte, 1987, S. 229 H., 237 H., 275 H.; WERNER VON SIMSON, Überstaatliche Menschen-
rechte: Prinzip und Wirklichkeit, in: Festschrift für Karl Josef Partsch, 1989, S. 47 (52 H.);
KLAUS STERN, Idee der Menschenrechte und Positivität der Grundrechte, in: HStR Bd. V, 1992,
§ 108 Rn. 3 H., 9 H.;JOSEF ISENsEE, Grundrechtsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen
an die Grundrechtsausübung, ebd., § 115 Rn. 34 H.
Das Volk als Grund der Verfassung 17
19 Die Funktion als Schranke der Verfassunggebung nehmen an THEODOR MAUNZ in: ders.lGünter
Dürig, Grundgesetz (Stand 1991), Präambel Rn. 12; ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ, Die
Verfassung und das Volk, 1992, S. 14 f.; HANS-PETER SCHNEIDER, Die verfassunggebende
Gewalt, in: HStR Bd. VII, 1992, § 158 Rn. 32 f. - Eine Bindung des Staates an die überpositi-
ven Menschenrechte (ohne völkerrechtliche oder staatsrechtliche Anerkennung) wird dagegen
abgelehnt von WINFRIED BRUGGER, Menschenrechte im modernen Staat, in: AöR 114 (1989),
S. 537 (542 f.).
20 Daß der Richter, der Auslegung und dem Dienste der positiven Rechtsordnung untertan, den
Geltungsanspruch des Gesetzes der wirklichen Geltung gleich achten muß und keine andere als
die juristische Geltungslehre zu kennen hat, stellt GUSTAV RADBRUCH fest (Rechtsphilosophie,
51956, S. 182).
21 IMMANUEL KANT, Zum ewigen Frieden (1795), Anhang I (A 75), in: ders., Werke (hg. von
Wilhelm Weischedel), Bd. VI, S. 191 (235).
18 Josef Isensee
Doch die Vermeidungs strategie versagt, wenn der Richter vor der Frage
steht, welche Verfassung denn gerade jetzt vorhanden und ob "höheren Orts"
tatsächlich das vorhandene Gesetz geändert worden ist, wenn also Geltungs-
ansprüche verschiedener Verfassungen kollidieren. Die "gehörige mechanische
Ordnung" des positiven Rechts gerät aus den Fugen, wenn Krisen und Revo-
lutionen ausbrechen, wenn die Kontinuität von Staat und Verfassung reißt. In
Grenzfällen wird der Richter vor die Aufgabe gestellt, zu entscheiden, ob eine
Verfassung zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt, mit der Folge, daß er das
sichere Gehäuse der positiven Rechtsordnung verlassen, sie von außen be-
trachten und ihren vorpositiven Grund untersuchen muß.
Die Scheu der Rechtspraxis, sich auf das numinose Thema des letzten Grun-
des der Verfassung einzulassen, kann sich rechtstheoretisch bestätigt sehen
durch Hans Kelsen 22 . Er entwirft ein Modell des Rechtspositivismus, in dem
das Problem zugleich ausgegrenzt und gelöst wird.
Seiner Reinen Rechtslehre fügen sich die einzelnen Rechtsnormen zum
Ganzen der Rechtsordnung. Diese bildet einen Stufenbau mit hierarchischen
Vorrang- und Nachrangbeziehungen, ein statisches System. Dynamisch ver-
standen, erweist sie sich als Prozeß der Rechtserzeugung und der Rechts-
konkretisierung, in dem die niederen Normen den Regeln der höheren ent-
sprechen müssen. Doch da der progressus in infinitum auszuschließen ist,
stößt Kelsen auf die Aporie des Anfangs, des Geltungsgrundes der höchsten
Norm, von dem her erst die Rechtsordnung als Einheit erkennbar ist. "Ist das
Recht als normative Ordnung, als ein System von Normen, begriffen, die das
Verhalten von Menschen regeln, entsteht die Frage: Was begründet die Einheit
einer Vielheit von Normen, warum gehört eine bestimmte Norm zu einer
bestimmten Ordnung? Und diese Frage steht in einem engen Zusammenhang
mit der Frage: Warum gilt eine Norm, was ist ihr Geltungsgrund?"23 Den
Geltungsgrund in Gott, in der Natur oder sonst in metaphysischen Gefilden
zu suchen, verbietet sich für den Rechtspositivisten Kelsen24 . Ausgeschlossen
ist aber auch der Rückgriff auf soziale Phänomene, etwa im Sinne einer nor-
mativen Kraft des Faktischen. Sein und Sollen sind, dem Denken des Neu-
kantianismus gemäß, streng voneinander geschieden. Das Sollen läßt sich nicht
aus dem Sein ableiten, das Sein nicht aus dem Sollen. Rechtsnormen können
nur aus Rechtsnormen begründet werden, nicht aber aus Realien25 .
Den Ausweg aus dem Dilemma findet Kelsen in einer fiktiven Grundnorm,
die er dem geltenden Recht unterlegt. Diese sagt, daß die Normadressaten sich
den Normen gemäß zu verhalten haben. Für den Verfassungsstaat lautet die
Grundnorm: "man soll sich so verhalten, wie die Verfassung vorschreibt"26.
Die Grundnorm ist ein formaler, wertindifferenter Rechtsanwendungsbe-
fehl. Sie wird vom positiven Recht vorausgesetzt und von ihm determiniert.
Sie überschreitet also nicht den Horizont des Rechtspositivismus. Sie steckt
ihn vielmehr ab und umschreibt ihn. Die Grundnorm ist Norm und über-
schreitet nicht die Grenze zwischen Sollen und Sein. Freilich ist sie keine posi-
tive Rechtsnorm, sondern nur eine hypothetische: ein "Deutungsschema"27,
anhand dessen reale, sinnlich wahrnehmbare Geschehensabläufe als Rechts-
vorgänge interpretiert, eine "transzendental-logische Bedingung"28 dafür, daß
subjektive Sollenssätze als objektiv gültige Rechtsnormen erkannt werden.
Insoweit erweist sich für Kelsen die Geltung von Recht überhaupt nur als
hypothetische Annahme.
Die Grundnorm gibt Antwort auf die Frage nach dem Ursprung und
Fundament des Rechts. Kelsen versteht sie als "obersten Geltungsgrund", der
die Einheit des Normerzeugungszusammenhangs stiftet29 . Doch es handelt
sich nicht um den unbedingten und wahren Geltungsgrund, auf den die scho-
lastische Naturrechtslehre sich berief, sondern um einen bedingten und fikti-
ven, den Grund, den der Rechtsanwender eigentlich braucht, um sein Handeln
vor den Gesetzen der Logik zu bestätigen, um es als stimmig und folgerichtig
auszuweisen. Er tut so, als ob es den letzten Grund gäbe, aber er glaubt nicht
daran. In Wahrheit ist der Platz leer. Die Grundnorm sorgt dafür, daß er sich
nicht mit unreiner, rechtsfremder Materie füllt. Sie deckelt die Rechtsordnung
und macht sie zu einem geschlossenen System, geschlossen vor allem gegen-
über den Einflüssen des sozialen und politischen Lebens. Sie verwehrt dem
Juristen, in seiner Rolle als Jurist (nicht etwa als Staatsbürger oder als Philo-
soph) nach Funktionen und Gründen zu fragen, die außerhalb des positiven
Rechts liegen. Kein Zufall, daß die verfassunggebende Gewalt für Kelsen kein
Thema darstellt30• Die Verweisung auf einen fiktiven Normursprung schneidet
25 Etwa KELSEN (N 22), S. 203.
26 KELSEN (N 22), S. 204, 205.
27 HANS KELSEN, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 269.
28 KELSEN (N 22), S. 205.
29 KELSEN (N 22), S. 228.
30 Als real-historische Kraft kann die verfassunggebende Gewalt kein Thema für KELSEN sein.
Wenn er den Terminus einmal verwendet, so steht er für eine andere Sache. »Es kann sich bei
der Lehre vom pouvoir constituant nur um einen der positivrechtlich zu begründenden Fälle
erschwerter Normänderung handeln" (N 27, S. 253).
20 Josef Isensee
das weitere Fragen ab. Sie gibt dem Juristen rechtstheoretische Resistenz gegen
intellektuelle Neugier. Die Grundnorm hält gnädig den Vorhang geschlossen,
hinter dem, wie der Normativist argwöhnt, das Gorgonenhaupt der Macht
lauert31 •
Der Politik ist dagegen solche rechtserkenntnistheoretische Scheu fremd. Sie
öffnet den Vorhang, und es zeigt sich als Ursprung der Vedassung die vedas-
sunggebende Gewalt des Volkes. Diese präsentiert sich nicht als formal und
nicht als hypothetisch, sondern als material und kategorisch. Doch die Frage
ist, ob sich hier Wahrheit zeigt oder politischer Kulissenzauber und ob das,
was sich zeigt, für die Vedassungsjurisprudenz wie für die Vedassungstheorie
relevant ist.
31 So KELSEN zu der "ewigen Frage, was hinter dem positiven Recht steckt" (Diskussionsbeitrag,
in: VVDStRL 3 [1927], S. 53 [55]).
B. Rekurs auf den Willen des Volkes
Seit der Verfassungsstaat in die Geschichte eingetreten ist, seit der amerika-
nischen und der französischen Revolution am Ende des 18. Jahrhunderts,
herrscht das demokratische Dogma, daß allein jene Verfassung ihren Namen
verdiene, die aus dem Willen des Volkes hervorgegangen sei, und daß das Volk
über die originäre und unverlierbare Potenz verfüge, die Verfassung hervorzu-
bringen, ihr Inhalt und Geltung zu verschaffen, sie zu wahren oder aufzu-
heben. Diese Potenz ist die verfassunggebende Gewalt. Das Volk, und allein
dieses, gilt als der wahre Verfassunggeber.
Das Volk besetzt hier die Stelle, die im Mittelalter Gott zuerkannt wurde,
als Urgrund der politischen Ordnung, nicht aber deren Geschöpf, als Erzeuger
des Rechts, nicht aber dessen Untertan. Die theonome Rechtfertigung ist der
demokratischen gewichen, weil der Staat sich nur noch als säkulare
Einrichtung versteht und seinen Sinn im Horizont des Diesseits finden und
ausweisen muß32. Die Säkularisierung führt freilich nicht ohne weiteres zu
Luzidität, Transparenz und Rationalität. Mit seiner Versetzung aus der Trans-
zendenz in die Immanenz erweist sich das höchste Wesen noch nicht als an-
schaulich und faßbar. Das Volk ist nicht schon von Anfang an ein handlungs-
fähiges Rechtssubjekt. Als überindividuelle Größe muß es erst zu Einheit,
Handlungsfähigkeit und Selbstbewußtsein finden. Seine Identität ist zunächst
dunkel; sie bedarf der nachträglichen Aufhellung. Sein Wille ist diffus; er ist
angewiesen auf Mittler und Deuter. Wie vormals der göttliche Ratschluß zeigt
sich nun der Wille des Volkes als geheimnisvoll und unerforschlich, keiner
Rechtfertigung bedürftig und keiner Erklärung fähig. Obwohl irdisch-ge-
schichtliche Erscheinung, bietet sich das "Volk" an zur Mystifikation. Es zieht
theologische Attribute auf sich: primum principium, immotum movens, norma
normans, genitum, non factum, creatio ex nihilo. Die Volkssouveränität prä-
32 Zu den Prämissen des mittelalterlichen und des neuzeitlichen Staatsdenkens, deren Unverein-
barkeit im Widerstand der Päpste des 19. Jahrhunderts gegen die politische Moderne sichtbar
wurde: JOSEF ISENSEE, Keine Freiheit für den Irrtum. Die Kritik der katholischen Kirche des
19. Jahrhunderts an den Menschenrechten als staatsphilosophisches Paradigma, in: Zeitschrift
der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kanonistische Abteilung LXXIII (1987), S. 296
(309 H., 322 H.).
22 Josef Isensee
sentiert sich in einer sprachlichen Abwandlung von Röm. 13: »non est enim
potestas nisi a Deo; quae autem sunt, a Deo ordinatae sunt"33.
Das Dogma von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes hat sich durch-
gesetzt mit dem Prinzip der Demokratie. Es erweist sich als Konsequenz der
Volkssouveränität: Da alle Staatsgewalt vom Volke ausgeht, gründet deren vor-
nehmste Erscheinung, die verfassunggebende Gewalt, im Volke. Die Ge-
schichte zeigt, daß in der Lehre von der verfassunggebenden Gewalt die Theo-
rie der Volkssouveränität »sich ihre bündigste programmatische Formel schuf
und hieraus die letzten nicht weiter zu überbietenden Konsequenzen zog"34.
Überhaupt ist die Kategorie der verfassunggebenden Gewalt letztlich geprägt
durch das demokratische Prinzip und auf dieses Prinzip hin angelegt. Das ist
ihr genetischer Code. Die Formel »verfassunggebende Gewalt des Volkes" ist
ein latenter Pleonasmus. Es gibt freilich Versuche, verfassunggebende Gewalt
von der Volkssouveränität zu trennen 35 . Im 19. Jahrhundert gingen Bestre-
bungen dahin, sie mit dem monarchischen Prinzip zu verknüpfen. Der mon-
archische Souverän beanspruchte sie ganz oder teilweise für sich36 . Das
Experiment einer Transposition hat sich erledigt mit dem Ende der konstitu-
tionellen Monarchie. Im 20. Jahrhundert berufen sich auch Militärdiktaturen37
und sozialistische Parteidespotien38 auf das Volk als den letzten Urheber der
33 CARL SCHMITIS zugespitzte Sentenz, daß alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre
säkularisierte theologische Begriffe seien (Politische Theologie, 21934, S. 49), findet jedenfalls
hier Bestätigung, freilich mit dem Vorbehalt, daß die anstehenden Begriffe gerade nicht präg-
nant sind. - Zur Sakralisierung des Verfassungsgedankens in der französischen Revolution:
WOLFGANG SCHMALE, Entchristianisierung, Revolution und Verfassung, 1988, S. 13 f., 57 ff.
34 EGON ZWEIG, Die Lehre vom Pouvoir constituant, 1909, S. 3. Das Werk EGON ZWEIGS ist die
klassische Darstellung der Genese der Lehre und ihrer Umsetzung durch die französische
Revolution.
35 Zu Theorien dieser Art: STEINER (N 7), S. 67 ff.
36 Zur Lehre vom monarchischen Prinzip, die die verfassunggebende Gewalt den Landesfürsten
zusprach, vgl. ERNST RUDoLF HUBER, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bd. I, 21975,
S. 318, 651 ff. Vgl. auch dens., ebd., Bd. III, 21973, S. 11 ff. - Ex-post-Sicht: CARL SCHMITI
(N 3), S. 80 f.; ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes-
Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts, 1986, S. 12 f.
37 Aufschlußreich die türkische Verfassung von 1982, die unter dem Einfluß einer Militärjunta
zustande gekommen war. Der Staatsstreich, welcher der Verfassung vorausging, wird in der
Präambel den türkischen Streitkräften zugerechnet, »die einen untrennbaren Bestandteil der
türkischen Nation bilden". Unter den Akteuren der Verfassunggebung wird auch der Natio-
nale Sicherheitsrat genannt; er habe die Verfassung, welche die aus »legitimen Repräsentanten
der Nation" bestehende Beratende Versammlung vorbereitet habe, »in ihre endgültige Form
gebracht", in der sie von der »türkischen Nation" angenommen, gebilligt und unmittelbar fest-
gelegt worden sei. Dazu und zur Verfassunggebung in Portugal durch die Militärjunta von
1976: PETER HÄBERLE, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes im Verfassungsstaat - eine
vergleichende Textstufenanalyse, in: AöR 112 (1987), S. 54 (72 f., 77 f., 83).
38 Die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik von 1949 sagt lapidar in ihrer
Präambel, daß »sich das deutsche Volk diese Verfassung gegeben" habe; die von 1974 spezi-
Das Volk als Grund der Verfassung 23
Die Lehre von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes findet sogleich
Eingang in die ersten Verfassungstexte und Menschenrechtsdeklarationen des
18. Jahrhunderts. Die Virginia Bill of Rights von 1776 versteht sich im Vor-
spruch als "A declaration of rights made by the representatives of the good
People of Virginia". Die Bundesverfassung der Vereinigten Staaten von 1787
weist sich als Schöpfung des Volkes aus und hebt an mit den Worten: "We the
people of the United States ... "
"Wir, das Volk der Vereinigten Staaten, von der Absicht geleitet, unseren
Bund zu vervollkommnen ... , verordnen und beschließen und errichten
diese Verfassung für die Vereinigten Staaten von Amerika."
Frankreich nimmt das Thema auf zu Anfang der Erklärung der Menschen-
und Bürgerrechte von 1789, die in die Verfassung von 1791 eingeht: "Les
representants du peuple fran~ais, constitues en Assemblee nationale, ... "
"Die Vertreter des französischen Volkes, als Nationalversammlung einge-
setzt, ... haben beschlossen, die natürlichen, unveräußerlichen und hei-
ligen Rechte der Menschen in einer feierlichen Erklärung darzulegen ... "
In der folgenden Jakobiner-Verfassung von 1793 figuriert als Autor der
Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte lapidar "das französische Volk".
Im gleichen Duktus verlautbart das "französische Volk" in der Präambel der
Verfassung von 1946 von neuem die Menschen- und Bürgerrechte, wie es in
der Präambel der Verfassung von 1958 "feierlich seine Verbundenheit mit den
Menschenrechten und mit den Grundsätzen der nationalen Souveränität" ver-
kündet. Die amerikanischen und die französischen Formeln werden von zahl-
fiziert, daß »sich das Volk der Deutschen Demokratischen Republik diese sozialistische
Verfassung gegeben" habe. Qualifikation der Verfassungssemantik im System des real existie-
renden Sozialismus: GEORG BRUNNER, Das Staatsrecht der Deutschen Demokratischen Repu-
blik, in: HStR Bd. I, 1987, § 10 Rn. 12 H. Sicht des kommunistischen Rumänien: JOAN
CETERCHl/JOAN MURARU, Le pouvoir constituant, in: Thomas Fleiner-Gerster (Hg.), Modern
Constitution - Constitution Moderne, FreiburgICH 1988, S. 73 H.
24 J osef Isensee
reichen Staaten in ihre Verfassungs texte aufgenommen, von Irland39 bis Ruß-
land40 , von der Türkei41 bis Japan42 •
Die Verfassung des Deutschen Reichs von 1919 schließt sich den westlichen
Leitbildern an und beginnt mit der invocatio populi:
"Das Deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen be-
seelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festi-
gen, dem inneren und dem äußeren Frieden zu dienen und den gesell-
schaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben."
Auch die Bundesrepublik Deutschland setzt die Tradition fort. Bei der
Gründung bestand allerdings die Schwierigkeit, das Subjekt der Verfassung-
gebung zu bestimmen, weil das deutsche Volk geteilt und der zu verfassende
Staat in seiner räumlichen wie personalen Reichweite nur fragmentarisch und
vorläufig war. Die Präambel des Grundgesetzes von 1949 löste das Dilemma,
39 Die Verfassung Irlands von 1937 bettet den Rekurs auf die verfassunggebende Gewalt des
Volkes ("Wir, das Volk von Irland") ein in das Bekenntnis zu Gott als dem Ursprung aller
Autorität, in die Erinnerung an den Kampf um die nationale Unabhängigkeit und in die Pro-
klamation von Staats zielen.
40 Präambel der Verfassung der Russischen Föderation von 1993:
"Wir, das multinationale Volk der Russischen Föderation,
vereint durch ein gemeinsames Schicksal auf unserem Boden,
die Rechte und Freiheiten des Menschen, den Bürgerfrieden und das Einverständnis festigend,
die historisch entstandene staatliche Einheit bewahrend,
von den allgemein anerkannten Prinzipien der Gleichberechtigung und der Selbstbestimmung
der Völker ausgehend,
das Andenken an die Vorfahren ehrend, die uns die Liebe zum Vaterland, den leuchtenden
Glauben an das Gute und die Gerechtigkeit weitergegeben haben,
die Wiedergeburt der souveränen Staatlichkeit Rußlands durchführend und ihre demokratische
Grundlage unverzichtbar machend,
nach dem Wohlstand und dem Blühen Rußlands strebend,
von der Verantwortung für die Heimat vor den gegenwärtigen und zukünftigen Generationen
ausgehend,
uns als Teil der Weltgesellschaft betrachtend,
nehmen die Verfassung der russischen Föderation an." (Übersetzung Dagmar Mironowa)
41 Präambel der Verfassung der Türkischen Republik von 1961: "Die Türkische Nation ... nimmt
diese von der Verfassunggebenden Versammlung der Türkischen Republik entworfene Verfas-
sung an, verkündet sie und vertraut sie in der Überzeugung, daß ihre Hauptgarantie im Herzen
und Willen der Bürger liegt, der wachsamen Obhut ihrer die Freiheit, die Gerechtigkeit und die
Tugend liebenden Kinder an" (Übersetzung: E. E. HIRSCH in: Peter Cornelius Mayer-Tasch,
Die Verfassungen der nicht-kommunistischen Staaten Europas, 21975, S. 728).
42 Präambel der Verfassung Japans von 1947: "Wir, das Japanische Volk, vertreten durch die ord-
nungsgemäß gewählten Abgeordneten des Reichstages ... erklären ausdrücklich, daß die Sou-
veränität allein beim Volke ruht, und geben uns unabänderlich diese Verfassung" (deutscher
Text in: GÜNTHER FRANZ, Staatsverfassungen, 21964, S. 542 f.). Weiteres Material an Formeln
aus Verfassungstexten bei HÄBERLE (N 37), S. 71 ff.
Das Volk als Grund der Verfassung 25
Das Dogma der verfassunggebenden Gewalt des Volkes behauptet sich also
in den Verfassungstexten allen realen Widrigkeiten zum Trotz. Zum Rekurs
auf das Volk greifen nicht allein die Grundgesetze von Verfassungsstaaten. Er
findet sich auch in denen autoritärer und totalitärer Herrschaftssysteme45 und
feiert hier wenigstens semantische Triumphe.
45 s. o. N 37 und 38.
46 Dazu ZWEIG (N 34), S. 6 ff., 29 ff., 63 ff.
47 Zitat: ZWEIG (N 34), S. VI. - ZWEIG zur historischen Rolle von SItrtS: .Das ,pouvoir consti-
tuant', von dessen Entdeckung sich SItrts eine wissenschaftliche Epoche versprach, hat den
Namen von MONTESQUIEU, die Form - Abgrenzung gegenüber der ordentlichen Gesetz-
gebung und repräsentative Ausgestaltung - von den Amerikanern, den Inhalt aber von
ROUSSEAU empfangen" (aaO., S. 137).
Das Volk als 'Grund der Verfassung 27
Im Zentrum steht für Sieyes die Nation, die als Grundlage aller öffentlichen
Gewalten dieselbe Bedeutung hat wie der Begriff Volk48 • Die Nation entfaltet
sich in drei Phasen49 • In der ersten vereinigen sich Individuen zur Nation.
Diese Vereinigung ist "das Werk des eigennützigen Willens der verbundenen
Glieder"50. Aus dem Spiel der Einzelwillen bildet sich der Gemeinwille. Die
Nation erhebt sich zur Willens- und Handlungseinheit und nimmt damit staat-
liche Form an. Das unvermittelte Handeln der Nation bestimmt die zweite
Phase. In der dritten schließlich herrscht nicht mehr der wirkliche Gemein-
wille, sondern nur der durch Stellvertreter repräsentierte: Regierung kraft Auf-
trags. Die Nation beauftragt die Regierung; diese repräsentiert die Nation.
Organisation und Verfahren der gesetzgebenden und der ausführenden
Organe sowie die Regeln für deren Handeln machen die Verfassung aus. "Die
Verfassung eines Volkes ist und kann nur sein die Verfassung seiner Regierung
und der Gewalt, die beauftragt ist, dem Volk und der Regierung Gesetze zu
geben"51. Die Verfassung ersteht aus der zwiefachen Notwendigkeit, der
Regierung im Innern wie nach außen feste Formen vorzuschreiben, die sie zur
Erfüllung ihrer Aufgaben befähigen, und die Gewähr dafür zu bieten, daß sie
sich nicht davon entfernt. Sie bindet die Staatsorgane. Diese können an den
Bedingungen, unter denen ihnen Gewalt übertragen wurde, nichts ändern. Die
konstituierten Glieder der Staatsgewalt disponieren nicht über die Konsti-
tution, der sie Dasein und Aufgabe verdanken. Das vermag allein die Nation.
Die Nation selber ist nicht Gegenstand der Verfassung und ihr nicht unter-
worfen. "Ist die Nation doch zuerst da, ist sie doch der Ursprung von allem.
Ihr Wille ist immer gesetzlich, denn er ist das Gesetz selbst. Vor und unter ihr
gibt es nur das Naturrecht"52. Die Nation verbleibt in dem Naturzustand, den
nach den älteren Lehren von Thomas Hobbes und John Locke die Individuen
gerade verlassen, wenn sie sich zum Staate vereinigen. Sie kann und darf sich
nicht an bestimmte Verfassungsformen und -inhalte binden, weil sie sonst auf
Dauer ihre Freiheit an eine Tyrannei verlieren könnte.
48 "Alle öffentlichen Gewalten leiten sich unterschiedlos vom Gemeinwillen ab; alle kommen
vom Volk, das heißt, von der Nation. Diese beiden Ausdrücke müssen synonym sein"
(EMMANUEL JOSEPH SIEYES, Pn!liminaire de la Constitution. Reconnaissance et exposition
raisonees des Droits de I'Hommes et des citoyens, Paris 1789, zitiert deutsche Ausgabe: SIEYES,
Politische Schriften 1788-1790, hg. von Eberhard Schmitt und Rolf Reichard, 1975, S. 239
[252]). - Zur streitigen Auslegung der Begriffe Volk und Nation: WALTER LEISNER, Volk und
Nation als Rechtsbegriffe der französischen Revolution (1964), in: ders., Staat, 1994, S.150ff.
49 EMMANUEL JOSEPH SIEYES, Qu'est-ce que le tiers etat? (Zitiert nach der deutschen Ausgabe:
Was ist der dritte Stand?, in: ders., Politische Schriften [N 48], S. 117 [164 ff.]).
50 SIEYES (N 48), S. 25t.
51 SIEYES (N 48), S. 250.
52 SIEYES (N 49), S. 167.
28 Josef Isensee
Das höchste Recht der Nation besteht darin, zu wollen. Sie ist nicht auf vor-
gegebene Formen und Verfahren der Willensbildung verwiesen. "Einerlei auf
welche Weise die Nation will, es genügt, daß sie will; alle Formen sind gut, und
ihr Wille ist immer das höchste Gesetz"53. In ihrer Allmacht ist sie nicht auf
ein bestimmtes Verfahren festgelegt, wenn sie die verfassunggebende Gewalt
ausübt. Denn der Gemeinwille verharrt im Naturzustand, und er braucht zu
seiner vollen Wirkung nur die "natürlichen" Merkmale des Willens. Sie kann
gar nicht genug Ausdrucksmöglichkeiten haben54 . Die verfassunggebende Ge-
walt darf in dieser Beziehung alles. Sie ist nicht von vornherein einer bereits
gegebenen Verfassung unterworfen. Die Nation, die damit ihre höchste und
wichtigste Gewalt ausübt, muß in dieser Funktion von jeglichem Zwang und
jeglicher Form frei sein, ausgenommen derjenigen, die sie annehmen will.
Sie braucht den pouvoir constituant nicht selber wahrzunehmen, sondern
kann sich der Stellvertreter bedienen55 . Des Rechts zu wollen kann sie sich
nicht entäußern. Aber sie kann die Ausübung des Rechts auf Stellvertreter
übertragen. Diese unterscheiden sich von regulären Staatsorganen, die sich aus
der Verfassung ableiten (pouvoirs constitues), durch ein außerordentliches
Mandat. Sie treten allein zu dem Zweck zusammen, eine Verfassung zu geben.
Die Symbiose des pouvoir constituant mit dem Prinzip der Repräsentation
macht Epoche 56 • Sieyes geht einen großen Schritt über Rousseau hinaus. Die
repräsentative Verfassunggebung zeigt sich ihm nicht als Notbehelf, sondern
als die überlegene Lösung, die sich den Vorteil der Arbeitsteilung zunutze
macht57. In der historischen Situation von 1789 gibt Sieyes der Nationalver-
sammlung die Legitimationstheorie, sich als Vertretung des Volkes auszuwei-
sen und die verfassunggebende Gewalt wahrzunehmen. In der dauerhaften
Wirkung aber öffnet er das demokratische Ideal dem praktischen Erfordernis
der Arbeitsteilung und erleichtert ihre Umsetzung in das staatliche Leben.
Festzuhalten ist, daß die Lehre der verfassunggebenden Gewalt von ihrem
Ursprung her indifferent ist zu dem Streit zwischen Anhängern der unmittel-
baren und der mittelbaren Demokratie.
Eine Verfassung ist nicht endgültig. Die Nation kann sie jederzeit ändern
oder aufheben. In Sieyes' Entwurf zur Erklärung des Menschen- und Bürger-
rechts lautet der letzte Artikel:"Ein Volk hat beständig das Recht, seine Ver-
Lehren bleibt noch mehr oder weniger deutlich die erste archetypische Gestalt
zu erkennen, die sie zu Beginn der französischen Revolution angenommen hat.
In der Lehre vom pouvoir constituant verbinden sich demokratische Ele-
mente aus der Schule Rousseaus und rechts staatliche aus der Schule Lockes
und Montesquieus. Die Lehre speist die widerstreitenden Bewegungen, welche
die Revolution hervorbringen und seither das politische Feld beherrschen:
Konstitutionalismus und Jakobinerwesen. Sie geht ein in die konträren Leit-
bilder der konstitutionellen Demokratie und der radikalen, der J akobiner-
demokratie. In der konstitutionellen Demokratie mündet der Wille des Volkes
ein in die Herrschaft des Rechts. Im radikaldemokratischen Konzept dagegen
ist das Recht nur Instrument einer Herrschaftselite, die sich auf den Willen des
Volkes beruft und die autoritativ bestimmt, was Volkes Wille sei.
62 Zur »Verfassung" des ancien regime: ZWEIG (N 34), S. 142 H. - Zur Vieldeutigkeit von Verfas-
sung s. u. C V.
Das Volk als Grund der Verfassung 31
über die künftige Grundordnung63 • Der pouvoir constituant erscheint als Vul-
kan, der jäh ausbrechen, der sich aber auch kürzere oder längere Zeit untätig
verhalten, der sogar für immer zur Ruhe finden und erlöschen kann.
Das Theorem der verfassunggebenden Gewalt ändert seine Bedeutung,
wenn es auf eine bestehende Verfassung angewendet wird, zumal eine solche,
die schon lange in Geltung und Wirksamkeit steht. Sein Gegenstand ist nun
nicht mehr die Geburt, sondern das Leben der Verfassung, nicht das
außerordentliche Ereignis, sondern die verfassungs staatliche Normalität. Die
umstürzlerisch-kreative Funktion schlägt um in eine konservative. Nun gilt es
nicht mehr, die Revolution zu machen, sondern ihr Werk zu sichern, und eine
weitere Revolution zu verhindern, die es zerstören könnte. Der revolutionäre
Kampfbegriff verwandelt sich in ein Revolutionsverbot.
Eine alte Verfassung gleicht in gewisser Weise einer alten Religion, deren
Stifter in historische oder mythische Fernen entrückt und die doch gehalten
ist, sich stets auf ihn zu berufen. Kann sie sich nicht mehr aus seinem Charisma
rechtfertigen, so bleibt ihr die Rechtfertigung aus der Tradition, die in ihr
authentisch fortlebt. So sucht denn auch das Verfassungsleben durch den
Rekurs auf den Verfassunggeber, sich seines historischen Grundes und damit
seiner fortdauernden Legitimität zu versichern.
Das Volk gerät zur politischen Ikone. Als solche fällt ihm die Funktion zu,
die Erinnerung an den Ursprung wachzu'halten und laufende Zuwendung zu
vermitteln, ohne daß es darauf ankommt, ob und wieweit das Abbild dem
Urbild ähnelt. Es trägt dazu bei, der Verfassung jene Legitimität zuzuführen,
deren sie nunmehr bedarf. Und das ist nicht die Legitimität ihres Anfangs,
sondern die ihrer fortdauernden Geltung. Aber diese knüpft an den Anfang
an. So wirkt die Entstehungsgeschichte fort als Quelle der Legitimität. Der
historische Befund, genauer: das Bild, das sich die Gegenwart von ihm macht,
zeigt, woher die Verfassung kommt, lehrt, warum sie zu Geltung gelangt ist,
und erklärt, warum sie immer noch in Geltung steht. Damit aber wirbt sie
dafür, daß die heutige Generation das Verfassungserbe einer früheren annehme
und sich zu eigen mache.
Dient der Rückgriff auf das Volk zunächst dazu, den Ursprung der Ver-
fassung zu rechtfertigen, so später, die Verfassung aus ihrem Ursprung zu
63 Vor dieser historischen Folie entwickelt eARL SCHMITT sein dezisionistisches Konzept der ver-
fassunggebenden Gewalt (N 3, S. 75 ff.).
32 J osef Isensee
64 MAX WEBERS Typen legitimer Herrschaft: der rationale, der traditionale, der charismatische.
Dazu DERS., Wirtschaft und Gesellschaft (11922), Studienausgabe (hg. von Johannes Winkel-
mann), 1. Hbb. 1956, S. 159 ff.
65 So die fundamentale Kritik FruEDRICH JULIUS STAHLS an Sieyes' Lehre (Die Philosophie des
Rechts, 2. Bd.l2. Abt., 51876, S. 532).
66 Zur Delegitimation des Grundgesetzes durch die Geburtsmakeltheorie unten V 2 b.
Das Volk als Grund der Verfassung 33
Der Rückgriff auf das Volk kann sowohl zur Verrechtlichung der staatlichen
Ordnung führen als auch zu ihrer Politisierung. Das hängt davon ab, ob der
Verfassunggeber allein im Zeitpunkt des Erlasses des Verfassungsgesetzes
wirksam ist und verschwindet, solange die Verfassung in Wirksamkeit steht,
oder aber ob er stets präsent und in Aktion bleibt. Ein theologisches Ana-
logon: die erste Annahme entspricht dem Deismus, nach dem Gott nur Schöp-
fer und Gesetzgeber der Welt ist, der große Uhrmacher, der das Uhrwerk baut
und in Gang setzt, sich sodann aber zurückzieht und es, seiner Mechanik
gemäß, laufen läßt, solange der Mechanismus hält. Die zweite Annahme ent-
spricht dem Theismus, nach dem Gott die Welt nicht nur hervorgebracht hat,
sondern sie auch in ihrer natürlichen Gesetzlichkeit stetig leitet und erhält.
Bei der ersten, der "deistischen" Lösung scheidet sich die Phase des poli-
tischen Werdens ab von der Phase des rechtlichen Seins, von der Geltung also.
Jene wird beherrscht vom pouvoir constituant, diese von den pouvoirs con-
stitues, und zwar, das ist hier entscheidend, ausschließlich von ihnen. Die Ver-
fassung löst sich ab von ihrem politischen Ursprung. Sie erhebt sich insoweit
zum geschlossenen rechtlichen System, das keine unverfaßte, ursprunghafte
Macht neben sich gelten läßt. Daher vermag sie den politischen Prozeß zu
steuern und alles Staatshandeln rechtlich zu binden. Sie erweist sich als echte
Rechtsnorm. Obwohl sie sich an die höchsten Staatsorgane wendet, folgt ihre
Auslegung nicht politischen Bedürfnissen, sondern juristischer Methode. Die
verfassunggebende Gewalt, wie überhaupt die Volkssouveränität in ihrem
noch nicht verfassungsrechtlich mediatisierten Rohzustand, erhält keinen
Einfluß auf die staatliche Amtsführung und auf die praktische Jurisprudenz.
Das Volk agiert durch die verfassungsstaatlichen Normen und Institutionen
und äußert seinen Willen nur über sie. Ein gegenläufiger Wille eines verfas-
sungstranszendenten Volkes ergibt kein zulässiges juristisches Argument. Als
unverfaßte Größe ist das Volk aus dem Geltungsbereich der Verfassung ver-
bannt. Die Grunddistinktion zwischen pouvoir constituant und pouvoirs con-
stitues dient dazu, die verfassunggebende Gewalt in die juristische Irrelevanz
34 Josef Isensee
Die deutsche Staatsrechtslehre der Gegenwart hat das Theorem der verfas-
sunggebenden Gewalt aus dem Traditionsfundus des europäischen Verfas-
sungsstaates ü;bernommen und sich zu eigen gemacht. Sie erkennt ihm
Relevanz in verschiedener Hinsicht zu, unter rechtlichen wie unter vorrecht-
lichen Aspekten.
67 Zu den Facetten dieses Topos: JOSEF ISENSEE, Verfassungsrecht als "politisches Recht", in:
HStR Bd. VII, 1992, § 162 Rn. 5 ff., 29 ff., 68 ff. (Nachw.).
Das Volk als Grund der Verfassung 35
1. Vorrechtliche Relevanz
Die vorrechtliche Relevanz liegt darin, zwischen Sein und Sollen zu vermit-
teln, Faktizität in Normativität umzusetzen (und umgekehrt). Hier gewinnt
die Kategorie der verfassunggebenden Gewalt Bedeutung für
- die genetische Frage nach dem historisch-politischen Ursprung der Ver-
fassung, ihrem Zustandekommen und den daran beteiligten Kräften 68,
- die soziologisch-empirische Frage nach der Macht, die eine Verfassung
schafft und ihr Wirksamkeit gibt69,
- die rechtstheoretische wie die rechtsphilosophische Frage nach dem norma-
tiven Geltungsgrund, aus dem der Geltungsanspruch der Verfassung hervor-
geheO,
- die verfassungstheoretische Frage nach der Instanz oder tragenden Kraft,
welche der Verfassung ihre (demokratische) Legitimität verleiht, ihren recht-
lichen Geltungsanspruch begründet und begrenze 1, aber auch die nach dem
»richtigen" (demokratischen) Verfahren des Zustandekommens 72,
- die verfassungspolitische Frage der Erzeugung, Gestaltung, der Annahme
und Ablösung der Verfassung, nach den Kriterien der Wünschbarkeit und
Machbarkeit, der Effizienz und Akzeptanz 73 , Verfassungspolitik also als poli-
tische Klugheitslehre.
Die verschiedenen Perspektiven lassen sich nicht scharf voneinander unter-
scheiden, auch nicht von der eigentlich verfassungsdogmatischen Perspektive
der Jurisprudenz. Die Grenzen der Disziplinen zeigen sich gerade in den Posi-
tionen zur verfassunggebenden Gewalt als prekär. Was der eine Autor für Ver-
fassungsdogmatik hält, mögen andere allenfalls als Verfassungstheorie qualifi-
zieren, und was als Verfassungstheorie einhergeht, mag sich in Wahrheit als
Verfassungspolitik erweisen (vice versa).
74 V gl. KIRCHHOF (N 7), § 19 Rn. 17; ROELLECKE (N 73), S. 933 f. - Zum Vorrang der Verfassung:
ULRICH ScHEUNER, Die rechtliche Tragweite der Grundrechte in der deutschen Verfassungs-
entwicklung des 19. Jahrhunderts (1973), in: ders., Staatstheorie und Staatsrecht, 1978, S. 633
(642 f., 651, 653); ders., Die überlieferung der deutschen Staats gerichtsbarkeit, in: Christian
Starck (Hg.), Bundesverfassungsgericht und Grundgesetz, Bd. 11, 1976, S. 1 (40); RAINER
WAHL, Der Vorrang der VerfaSsung, in: Der Staat 20 (1981), S. 485 ff.; ders., Die Entwicklung
des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: HStR Bd. I, 1987, § 1 Rn. 35 H.
7S V gl. etwa MARTIN KRIELE, Das demokratische Prinzip im Grundgesetz, in: VVDStRL 29
(1971), S. 46 (59).
Das Volk als Grund der Verfassung 37
zeit zugreifen83 . Die Bezugnahme auf das Volk, als den Grund der Verfassung,
bedeutet für das Verfassungsrecht "Geltungshilfe"84. Das aber ist keine juri-
dische Funktion, sondern eine vorrechtliche Erwartung.
Die verfassungs dogmatische Perspektive ändert sich, wenn die verfassung-
gebende Gewalt als rechtsbedeutsame Größe nicht nur einmalig, sondern fort-
dauernd präsent ist. Die alternative Annahme hebt das Regime des Norma-
tivismus nicht notwendig auf, aber sie stellt es unter Vorbehalt. Dem Volk, als
politischer Größe, wird die Kraft und Autorität "im Sinne einer vor-verfas-
sungsmäßigen Kompetenz" zugesprochen, die Verfassung in ihrem normati-
ven Geltungsanspruch hervorzubringen, zu tragen und aufzuheben 85 . Hier
öffnet sich, wenigstens spaltbreit, die Tür zu juridischer Bedeutung mit dem
Argument, auch der Grund des Rechts gehöre zum Recht86 . Damit rückt die
verfassunggebende Gewalt zum "Grenzbegriff des Verfassungsrechts" auf87,
Grenzbegriff zwar, aber eben doch Rechtsbegriff und, wenn auch am Rande,
Teil der Rechtsordnung.
Die verfassungsrechtliche Relevanz weitet sich dadurch, daß Prinzipien und
Regeln der geltenden Verfassung auf ihren historischen und legitimatorischen
Geltungsgrund übertragen werden, auf daß sie von dort auf die Verfassung
zurückwirken. Eine solche Verschiebung der Ebenen erleidet vor allem das
verfassungsrechtliche Erfordernis der demokratischen Legitimation. Durch-
brechungen dieses Prinzips im Regelungswerk des Grundgesetzes werden
gerechtfertigt dadurch, daß das Grundgesetz seinerseits demokratisch legiti-
miert sei durch die verfassunggebende Gewalt88 .
Die rechtliche Synchronisierung von Verfassung und Verfassunggebung
muß nicht affirmativ ausfallen; sie kann auch dazu dienen, die Geltung der
Verfassung in Frage zu stellen, weil sie nicht demokratisch in äußerer Unab-
hängigkeit und im korrekten Verfahren zustande gekommen sei, jenen Bedin-
gungen, die sie selbst für die verfaßte Staatlichkeit vorsehe, so daß der Verfas-
sunggeber unter dem Niveau seiner eigenen Normen geblieben sei. Das eben
attestiert die Geburtsmakeltheorie dem Grundgesetz unter Berufung auf Um-
stände seiner Entstehungsgeschichte89 • Der Rekurs auf die vedassunggebende
Gewalt, mit dem das Grundgesetz in der Präambel sich selber legitimieren will,
gerät einer solchen Interpretation zum Instrument der Delegitimation.
89 Vertreter etwa DIETER GRIMM, Das Risiko Demokratie. Ein Plädoyer für einen neuen Parla-
mentarischen Rat, in: Die Zeit vom 10.8.1990, Nr. 33, S. 34; ULRICH STOROST, Das Ende
der Übergangszeit, in: Der Staat 29 (1990), S. 321 (325); RAINER WAHL, Die Verfassungsfrage
nach dem Beitritt, in: Staatswissenschaften und Staatspraxis 1990, S. 468 (476); MAHRENHOLZ
(N 19), S. 28 H.; SCHNEIDER (N 19), § 158 Rn. 37; HANS HERBERT V. ARNIM, Staat ohne Diener,
41993, S. 36 H.; JOCHEN ABRAHAM FROWEIN, Die Entwicklung der Rechtslage Deutschlands
von 1945 bis zur Wiedervereinigung 1990, in: Ernst Benda/Werner MaihoferiHans-Jochen
Vogel (Hg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 21994, S. 19 (34). - Kritik: ISENSEE (N 44), § 166
Rn. 32 H. (Lit.).
90 Repräsentativ: ULRICH SCHEUNER, Art. 146 GG und das Problem der verfassunggebenden
Gewalt (1953), in: Hanns Kurz (Hg.), Volkssouveränität und Staatssouveränität, 1970, S. 288
(289 H.); MURSWIEK (N 7), S. 144, 160 f.
91 MURSWIEK (N 7), S. 144, 160 f.
92 Dazu mit Nachw.: JOSEF ISENSEE, Verfassungsrechtliche Wege zur deutschen Einheit, in: ZParl
1990, S. 309 (312 H.); ders., Staatseinheit und Verfassungskontinuität, in: WDStRL 49 (1990),
S. 39 (48 H.)
40 Josef Isensee
97 Grundlegend RUDOLF SMEND, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrecht-
liche Abhandlungen, 21968, S. 119 ff.
98 Zu der Unterscheidung oben A 11 4.
99 So zur" Verfassunggebung im weiteren Sinne": PETER HÄBERLE, Verfassungs interpretation
und Verfassunggebung, in: Zeitschrift für Schweizerisches Recht N. F. 97 (1978), S. 1 (16 und
passim). Die These (freilich relativiert durch eine Antithese) findet sich zuvor schon bei
WALTER LEISNER, Imperium in fieri (1969), in: ders., Staat, 1994, S. 247 (264 f.).
100 HÄBERLE (N 99), S. 1 ff.
101 PETER HÄBERLE, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in: JZ 1975, S. 297 ff.-
Zur Theorie der "offenen" Verfassung im Sinne Häberles: ISENsEE (N 67), § 162 Rn. 48
(Nachw.). - Zur Deutung des Bundesverfassungsgerichts als Verfassunggeber: 0TTO
DEPENHEuER, Der Wortlaut als Grenze, 1988, S. 50 f.
42 J osef Isensee
Wenn das Volk das Subjekt ist, das sich eine Verfassung gibt, so muß es als
handlungsfähige Größe vorab existieren. Doch der Beobachter eines histori-
schen Neuaufbruchs gerät in Schwierigkeiten, auszumachen, wo in der Stunde
Null das Volk denn ist, wen es dazu beruft, in seinem Namen zu handeln, und
wie die Berufung zu erkennen ist.
sich zur Nationalversammlung formierten, konnten sich nicht auf ein Mandat
des Volkes berufen, sondern nur auf das einer nach Standes zugehörigkeit defi-
nierten Wählergruppe. Und das Mandat bezog sich auf die Aufgaben einer
Ständeversammlung im Kontext des ancien regime, nicht auf die einer Volks-
vertretung, vollends nicht auf die einer Konstituante. Die besonderen Anfor-
derungen, die Sieyes an eine verfassunggebende Versammlung stellte - die
eigens durchzuführende Wahl und die Scheidung der Verfassunggebung von
regulärer Gesetzgebung 107 -, blieben von vornherein Papier.
Falls überhaupt von Legitimation durch Wähler die Rede hätte sein dürfen,
so klaffte doch eine Diskrepanz zwischen der Teilmenge, auf welche die Natio-
nalversammlung ihre Legitimation hätte stützen können, und dem Ganzen,
das zu repräsentieren sie beanspruchte. Besaß der Dritte Stand zwar das nume-
rische Übergewicht über die beiden anderen, Adel und Geistlichkeit, so bilde-
te er seinerseits nur eine Minderheit in der Gesamtbevölkerung 108 • Nach
zeitgenössischer Schätzung gehörten von den 26 Millionen Franzosen etwa
4 Millionen zur Aktivbürgerschaft. Das Wahlrecht erforderte nicht nur fran-
zösische Staatsangehörigkeit und Volljährigkeit, sondern auch männliches Ge-
schlecht, Selbständigkeit, soziale Unabhängigkeit, Bildung109 • Was nicht zum
Dritten Stand gehörte, war quantite negligeable. Letztlich ging es aber nicht
um Quantitäten, sondern um die Qualität des Anspruchs der bürgerlichen
Delegierten, für die Nation zu handeln und selbst die "vollständige Nation"
zu sein: "Der Dritte Stand umfaßt also alles, was zur Nation gehört; und alles,
was nicht der Dritte Stand ist, kann sich nicht als Bestandteil der Nation an-
sehen. Was also ist der Dritte Stand? ALLES"llO.
Doch es wäre unangemessen, das Werk der Nationalversammlung an den
demokratischen Regeln zu messen, die sie einführte. Eben darin war sie revo-
lutionär, daß sie, in Abkehr von der absoluten Monarchie, die demokratische
Verfassung neu begründete, ohne auf demokratische Strukturen zurückgreifen
zu können. Nicht anders wurde acht Jahrzehnte später, nach dem Desaster von
Sedan, das Kaisertum Napoleons III. gestürzt durch eine Minderheit im Par-
107 s. o. B III.
108 Snirts setzt in seiner Hauptschrift "Was ist der dritte Stand?" diesen mit neunzehn Zwanzig-
stel des Ganzen an, im Unterschied zu den beiden ersten Ständen, aber belastet "mit allem,
was wirklich mühsam" sei (N 49, S. 121). Das Wahlrecht aber solle beschränkt werden auf die
Bürger, die "wirklich" zum Dritten Stand gehörten, mit der Folge, daß ausgeschlossen blieben:
die Minderjährigen, die Frauen ("wohl oder übel"), Landstreicher, Bettler, Dienstboten, Aus-
länder, Diener des Adels und des Klerus (N 49, S. 134 H.).
109 MARGUERITE VANEL, Histoire de la nationalite fran~aise d'origine, Paris 1945, S. 98 H., 102 f.;
ALEXANDER N. MAKAROV, Allgemeine Lehren des Staatsangehörigkeitsrechts, 21962, S. 104
Fn.176.
110 SIEY~S (N 49), S. 124 f.
Das Volk als Grund der Verfassung 45
lament, welche die Republik ausrief, indes die kaisertreue Mehrheit keinen
nennenswerten Widerstand leistete. Hier wie dort stand am Anfang der Demo-
kratie nicht das Volk, auch nicht eine durch das Volk legitimierte Vertretung,
sondern eine Gruppe, die prätendierte, für das Volk zu handeln. Die Lehre
vom Volk als Vedassunggeber erwies sich und erweist sich noch heute als
Selbstermächtigungsformel für politische Eliten.
Am Ergebnis ändert sich nichts Entscheidendes, wenn die Initiative zu Um-
sturz und Neubegründung nicht aus der Staatsorganisation heraus kommt,
sondern von der »Straße", aus einer levee en masse. Auch Massendemonstra-
tionen für die Demokratie können nicht für sich beanspruchen, daß hier das
»Volk" als ganzes in Aktion trete. Wie viele auch an ihnen teilnehmen, so han-
delt es sich doch immer nur um politisch aktive Minderheiten. Das gilt sogar
für die Revolution der DDR, die ihren Elan wesentlich aus öffentlichen De-
monstrationen bezog, die sich gegen das SED-Regime erhoben. Aus kleinen
Anfängen wuchsen sie lawinenartig: am 2. Oktober 1989 in Leipzig zehn- bis
fünfundzwanzigtausend ll1 , am 16. Oktober, ebenfalls in Leipzig, mehr als
hundertzwanzigtausend 112, von da an bis zum Februar 1990 in den all-
wöchentlichen Montagsdemonstrationen, über das ganze Land verteilt, meh-
rere Hunderttausend 113• Doch auch die größte der Versammlungen, zu der
sich am 4. November eine Million Menschen in Ost-Berlin zusammenfan-
den114, war nur eine Minorität aus einer Bevölkerung von 17 Millionen. Wenn
die Demonstranten dem Repräsentationsanspruch des herrschenden Staats-
parteiapparates die Parole entgegenhielten »Wir sind das Volk", so lag darin
immer noch die Anmaßung, für alle zu handeln und das ganze Volk zu ver-
treten. Das ganze Volk kam erst zu Wort am 18. März 1990 in der Volks-
kammerwahl, der ersten, die unter demokratischen Bedingungen der All-
gemeinheit, Freiheit und Gleichheit zustande kam. An ihr beteiligten sich
11,5 Millionen Bürger (93,38% der Wahlberechtigten). Die treibenden poli-
tischen Kräfte des Anfangs mußten sich mit einem Ergebnis von weniger als
3% der Stimmen begnügen ll5 und erkennen, daß die Wirkungen, die sie
(mit-)ausgelöst hatten, letztlich nicht ihren ursprünglichen Absichten entspra-
chen und daß die Entwicklung über ihre Urheber hinweggegangen war.
Dennoch hatten sie in der Anfangsphase legitim als Sachwalter des Volkes
gehandelt. Die Tragikomik lag darin, daß sie nicht merkten, wann ihr histo-
risches Mandat abgelaufen war, und daß sie, nunmehr weiter nichts als publi-
zitätswirksame Kleingruppen, Zirkel vom Prenzlauer Berg, unentwegt von
sich sagten: "Wir sind das Volk." Das Volk aber, das sich in der Wahl artiku-
lierte, befand sich nicht mehr im Urzustand der Spontaneität, sondern es war
verfaßt durch das Wahlrecht. Es bewegte sich im Rahmen einer, wenn auch
nicht formell kodifizierten, so doch wirksamen neuen demokratischen
Ordnung. Die Wählerschaft entschied als pouvoir constitU(!116.
Die Situation wäre nicht anders zu beurteilen gewesen, wenn das Volk der
DDR seine Richtungsentscheidung nicht mittelbar durch die Wahl der ent-
sprechenden Parteien, sondern unmittelbar durch Abstimmung über eine neue
Verfassung bekundet hätte. Im Verfassungsreferendum äußert sich das Volk
nach Maßgabe vorgegebener Verfahrensregeln, welche die zu schaffende
demokratische Verfassung in wesentlicher Hinsicht vorwegnehmen, über
einen vorgegebenen Verfassungsentwurf, der nur die Alternative "Ja" oder
"Nein" zuläßt. Souverän ist hier nicht, wer die Frage beantwortet, sondern
wer die Frage stellt. Das Volk ist nicht der primäre Entscheidungsfaktor, son-
dern der sekundäre. Es agiert nicht als verfassende, sondern als verfaßte
Gewalt, als durch eine gegebene Organisation und ein gegebenes Verfahren ge-
formte Einheit.
Der Volksentscheid hat allerdings hohen Symbolwert für linke, zumal für
sozialistische Ideologen, die sich gewiß sind, das Volk auf ihrer Seite zu haben,
wenn nicht immer in seinem empirischen, so doch in seinem "wahren" Willen.
Die Tradition geht zurück auf die Jakobiner, die das Volk zur Verfassungs-
akklamation vergatterten (und, nachdem es seine Schuldigkeit getan hatte, die
Verfassung suspendierten, um die unverfaßte Revolutionsoligarchie aufzu-
richten)117.
116 Zu Entwicklung und Qualität der deutschen Revolution von 1989: HELMUT QUARITSCH,
Eigenarten und Rechtsfragen der DDR-Revolution, in: VerwArch 83 (1992), S. 314 H.;
WILFRIED FIEDLER, Zur rechtlichen Bewältigung von Revolutionen und Umbrüchen in der
staatlichen Entwicklung Deutschlands, in: Der Staat 31 (1992), S. 436 H.; ders., Die Deutsche
Revolution von 1989: Ursachen, Verlauf, Folgen, in: HStR Bd. VIII, 1994, § 184 Rn. 18 H.;
THOMAS WÜRTENBERGER JR., Die Verfassung der DDR zwischen Revolution und Beitritt,
ebd., § 187 Rn. 2 H.
117 ZWEIG (N 34), S. 389 H.; JULIEN LAFERRI~RE, Manuel de droit constitutionnel, Paris 21947,
S. 96 H.
In der Jakobinertradition bewegte sich die sozialistische Führung der DDR, die 1968 einen
Volksentscheid über die Verfassung ansetzte und das geplante Ergebnis von 94,49% Ja-Stim-
men erzielte. Dazu: DIETRICH MÜLLER-RöMER, Einleitender Kommentar zu: Ulbrichts
Grundgesetz. Die sozialistische Verfassung der DDR, 1968, S. 26 ff.
Das Volk als Grund der Verfassung 47
Hier zeigt sich ein Dilemma. Das Volk kann sich nur dann eine Verfassung
geben, wenn es handlungsfähig ist. Handlungsfähig ist es aber nur, wenn es
organisiert ist, vor allem, wenn es über Repräsentanten verfügt, die in seinem
Namen sprechen und handeln können. Organisation und Repräsentations-
modus aber machen das Wesentliche einer Verfassung aus. Das Volk muß also
schon vorab verfaßt sein, damit es sich eine neue Verfassung geben kann. Nur
ein verfaßtes Volk vermag, eine Verfassung zu schaffen. Den Zirkel hat bereits
Hegel beschrieben. Er erklärt die Frage, wer die Verfassung machen solle, für
sinnlos, weil sie voraussetze, "daß keine Verfassung vorhanden, somit ein
bloßer atomistischer Haufen von Individuen beisammen sei. Wie ein Haufen,
ob durch sich oder andere, durch Güte, Gedanken oder Gewalt, zu einer
Verfassung kommen würde, müßte ihm überlassen bleiben, denn mit einem
Haufen hat es der Begriff nicht zu tun. - Setzt aber jene Frage schon eine vor-
handene Verfassung voraus, so bedeutet das Machen nur eine Veränderung,
und die Voraussetzung einer Verfassung enthält es unmittelbar selbst, daß die
Veränderung nur auf verfassungsmäßigem Wege geschehen könne"118.
Wenn das Volk (bzw. seine Repräsentanten) sich in den Bahnen der gel-
tenden Verfassung bewegt, wird Verfassungskontinuität gewahrt; in ihr aber ist
für Fortbildung, Änderung, Ablösung der bestehenden Ordnung mehr oder
weniger Raum. Die Situation des Anfangs, in der sich der pouvoir constituant
im vollen Lichte zeigen kann, setzt dagegen den Bruch mit der hergebrachten
Verfassung voraus. Hier aber ist das Volk, weil es nicht mehr oder noch nicht
wieder verfaßt ist, nicht handlungsfähig. Die politisch Handelnden können
jedoch mangels Verfassung nicht vom Volke legitimiert sein. Der Irrealität des
unverfaßten Volkes als Handlungssubjekt korrespondiert die Realität einer
selbstermächtigten Elite. Diese steht am Anfang der demokratischen Ver-
fassung. Ob ihre Prätention, als das Volk und für das Volk zu agieren, zutrifft,
entscheidet sich nachträglich darin, ob das solcherart verfaßte Volk seine
Verfaßtheit annimmt und mit Leben füllt.
Das gleiche gilt, wenn die Demokratie unmittelbar auf ein autokratisches
System folgt und die Verfassung zurückgeht auf den Oktroi eines aufgeklärten
Monarchen des 19. Jahrhunderts oder auf die Anordnung eines reformgeneig-
ten kommunistischen Diktators des 20. Jahrhunderts. Nicht anders auch,
wenn auswärtige Staaten, Kolonial-, Besatzungs- und Interventionsmächte, als
118 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821), § 273
(hg. von Johannes Hoffmeister, 41975, S. 239). S. auch u. N 148. Ahnlich auch die Kritik durch
STAHL (N 65), S. 533 ff.; HERMANN HELLER, Staatslehre, lt934, S. 278.
48 J osef Isensee
Es zeigt sich, daß die Lehre vom Volk als Verfassunggeber nicht beim Wort
genommen werden darf. Sie suggeriert, daß es die eigentlich bewegende Kraft
sei. Doch das Volk erweist sich in der politischen Realität nicht als Hand-
lungssubjekt, sondern lediglich als Referenzsubjekt. Referenzsubjekt ist es für
die selbstermächtigten Akteure der Verfassungspolitik in der Phase der Norm-
erzeugung. Geschäftsführer ohne Auftrag beziehen sich auf das Volk als ihren
imaginären Geschäftsherrn. Referenzsubjekt ist es aber auch für die Verfas-
sung selbst in der Phase der Normgeltung. Die Ableitung einer geltenden
Verfassung aus dem Willen des Volkes gleicht den Gottesbeweisen der
Scholastik, die von der Wirkung auf die Ursache folgern, von der Bewegung
auf den Beweger, von der Kontingenz auf das Notwendige. Mit den Gottes-
beweisen haben Volksbeweise aber auch gemeinsam, daß sie nur den über-
zeugen, der ohnehin schon glaubt.
119 Mäeutische Dienste dieser Art leisteten die Vereinten Nationen bei der Dekolonialisierung
Namibias. Hierzu jüngst: NICO ScHRIJVERS, Introducing Second Generation Peace-Keeping:
The case of Namibia, in: African Journal of International and Comparative Law 1994, Vol. 6,
Nr. 1, S. 1 (9 ff.). Ausführlich zur Entstehung der Verfassung Namibias unter Einfluß der
Vereinten Nationen: MANFRED HINZ, Die Verfassung Namibias (1990): Entwicklung, Hinter-
grund, Kontext, in: JöR N.F. 40 (1991/92), S. 653 (669 ff.); siehe auch HENNING MELBER, Ein
Modell mit Schönheitsfehlern, Die Umsetzung des Lösungsplans für Namibia durch die
Vereinten Nationen, in: VN 38 (1990), S. 89 ff.; CHRISTIAN TOMUSCHAT, Die Verfassung
Namibias, in: VN 38 (1990), S. 95 ff.
120 Wenn SIlirts die Bindung des Volkes an vorgegebene Formen verwirft, so auch deshalb, weil
im Zustand der Unverfaßtheit die Möglichkeiten, sich zu artikulieren, prekär sind und es diese
nicht ohne Not verkürzen sollte: "Eine Nation verläßt den Naturzustand nie, und inmitten
so großer Gefahren kann sie gar nicht über genug Möglichkeiten verfügen, ihren Willen aus-
zudrücken" (N 49, S. 169).
Das Volk als Grund der Verfassung 49
121 S. o. N 117.
122 Im deutschen Schrifttum zu Verfassunggebung und Verfassungs ablösung wird vielfach die ein-
fache Mehrheit im Verfassungsreferendum gefordert, sei es aufgrund vorpositiver Lehren über
den pouvoir constituant, sei es aufgrund einer durch solche Lehren geleiteten Auslegung des
Art. 146 GG alter oder neuer Fassung. Beisp.: GRIMM (N 89), S. 34; JüRGEN HABERMAs, Der
DM-Nationalismus. Weshalb es wichtig ist, die deutsche Einheit nach Art. 146 zu vollziehen,
also einen Volksentscheid über eine neue Verfassung anzustreben, in: Die Zeit vom 30.3.1990,
Nr. 14, S. 62 f.; ERNST GOTTFRIED MAHRENHOLZ, Das Volk muß "Ja" sagen können, in: Bernd
Guggenbergerffine Stein (Hg.), Die Verfassungsdiskussion im Jahr der deutschen Einheit, 1991,
S. 220 H.; SCHNEIDER (N 19), § 158 Rn. 47; STOROST (N 89), S. 322 f.; WAHL (N 89), S. 476.
50 Josef Isensee
Die Akteure der Verfassunggebung halten sich nicht dabei auf, den gordi-
schen Knoten der Verfassungstheorie geduldig zu entwirren oder ihn auch nur
123 STAHL (N 65), S. 534.
124 S. u. F.
Das Volk als Grund der Verfassung 51
zu zerschneiden. Sie ignorieren ihn und suchen den Weg, auf dem sie unter den
gegebenen Umständen am ehesten Handlungs- und Durchsetzungsfähigkeit
erwarten können. Sie bedienen sich vielfach der vorhandenen Organisation
und der eingeübten Verfahrenstechnik. Damit greifen sie auf das alte System
zurück, das sie überwinden wollen. Der Anfang einer demokratischen Ver-
fassung liegt nicht selten im Schoße einer vordemokratischen Ordnung. Und
es sind oftmals nicht demokratische Verfahren, unter denen sich die Geburt
vollzieht.
So nutzten die Deputierten des Dritten Standes 1789 die Aktionschancen
der Ständeversammlung aus, die der König einberufen hatte, und funktionier-
ten sie für ihre Zwecke um. Die Wende der Sowjetunion und ihrer Nachfolge-
staaten von der sozialistischen Parteidespotie zu demokratischen und liberalen
Zielen wurde ausgelöst von der sowjetischen Partei- und Staatsführung, eine
obrigkeitlich verfügte, eine oktroyierte Revolution also, eine Demokratie von
oben. Der wesentliche Initiator, der Partei- und Staatschef Michail Gorbat-
schow, konnte sich auf kein demokratisches Mandat stützen, weder ein
anfängliches noch ein nachträgliches. In der DDR ging die Abkehr von der
sozialistischen Diktatur 1989 auf eine Revolution von unten zurück. Doch der
alten Staatsorganisation blieb es überlassen, die Revolutionsziele umzusetzen.
Die staatlichen Strukturen paßten sich den neuen Gegebenheiten nur zögernd
und partiell an. Auch als die Staatsführung nach der Volkskammerwahl ausge-
wechselt und erstmals demokratisch legitimiert worden war, bediente diese
sich immer noch des Organisationsschemas der alten Verfassung aus totalitär-
sozialistischer Ära, deren Geltungsgrund und Sinn längst hinfällig geworden
waren. Das überkommene Verfassungsgesetz wurde zwar in vielen Punkten
geändert, doch nicht als ganzes ersetzt 125 • Der neue Wein wurde in den alten
Schlauch gefüllt; dieser brauchte allerdings seine Haltbarkeit in der kurzen und
hektischen Übergangsphase zur deutschen Einheit nicht unter Beweis zu
stellen. Ähnlich vollzog sich seit 1990 die Entwicklung Südafrikas, die Abkehr
vom Apartheidsystem und der Übergang zur Demokratie, die aus der allge-
meinen und gleichen Wahl im Jahre 1994 hervorgehen sollte, weitgehend in
den Bahnen der abdankenden alten Ordnung.
So unterschiedlich die erwähnten Vorgänge nach Anfang, Verlauf und Er-
gebnis auch sind, es läßt sich ein gemeinsames Muster erkennen: die Genese
der neuen Verfassungsordnung mit Hilfe der alten. Das ancien regime widmet
125 Dazu QUARITSCH (N 116), S. 319 ff.; WÜRTENBERGER (N 116), § 187 Rn. 13 ff. - Zu dem
untauglichen Versuch einer Arbeitsgruppe des Berliner »Runden Tisches", einen Verfas-
sungsentwurf in die öffentliche Diskussion und die parlamentarische Beratung einzubringen:
UWE THAYSEN, Der Runde Tisch. Oder: Wo blieb das Volk?, 1990, S. 143 H.
52 ]osef Isensee
126 Die Umfunktionierung eines geltenden Verfassunggesetzes dazu, das auf es gegründete System
zu stürzen, kann nicht nur eingesetzt werden zur Einführung der Demokratie, sondern auch
zu ihrer Beseitigung, wie das Exempel der "legalen Revolution" HITlERS zeigt. Deren "Lega-
lität" hält zwar der juristischen Prüfung nicht stand (dazu HANS SCHNEIDER, Das Ermäch-
tigungsgesetz vom 24. März 1933, in: Gotthard ]asper [Hg.], Von Weimar zu Hitler 1930-1933,
1968, S. 405 [421 ff.]; ROlF GRAWERT, Die nationalsozialistische Herrschaft, in: HStR Bd. I,
1987, § 4 Rn. 5). Dennoch konnte HITLER den Nimbus der Legalität bei den Zeitgenossen
erlangen und von ihm politisch profitieren.
127 SIl~YES (N 49), S. 168 f.
Das Volk als Grund der Verfassung 53
tationssystems, indem ihre Ausübung geschieden wird von den pouvoirs con-
stitues. Die wichtigste Determination liegt im Leitbild des Verfassungs gesetzes
selbst. Die verfassunggebende Gewalt, die doch "von jeglicher Form" frei sein
soll, bezieht sich nämlich auf eine bestimmte Form des Gesetzes und auf ein
Gesetz bestimmter Thematik, eben jenen Typus der Verfassungsurkunde, wie
sie sich im 18. Jahrhundert entwickelt.
Sie verhält sich auch nicht indifferent zu deren Inhalt. Vielmehr ist das Ver-
fassungsgesetz von vornherein ausgerichtet auf den Verfassungsstaat, wie ihn
die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 vorwegnimmt, daß
eine Gesellschaft, in der die Garantie dieser Menschen- und Bürgerrechte nicht
gesichert und die Gewaltenteilung nicht festgelegt sei, keine Verfassung habe
(Art. 16). Der pouvoir constituant hat also sein inneres Telos. Damit aber redu-
zieren sich die Gestaltungsmöglichkeiten auf jenen Spielraum, den der Typus
des Verfassungs staates offenhält. Diese aber sind dergestalt begrenzt, daß sich
die Frage erhebt, ob der theoretische Aufwand Sieyes nicht überzogen und der
exzessive Voluntarismus mehr ist als revolutionäre Kraftmeierei.
auf seinen Inhalt Einfluß genommen hätten 128 • Auch der 1990 vollzogene Bei-
tritt der DDR zur Bundesrepublik, mit dem sich der Geltungsbereich des
Grundgesetzes auf die neuen Bundesländer ausweitete - Verfassunggebung
also durch Übernahme und Aneignung einer andernorts bereits bestehenden
Verfassung -, zieht eine ähnliche Denunziation auf sich. Die Deutschen der
DDR seien in der Entscheidungslage unfrei gewesen, nach dem Zusammen-
bruch des sozialistischen Regimes wehrlos und orientierungslos, unter politi-
scher Pression, dem Westen wirtschaftlich unterlegen, von ihm bedrängt und
verführt durch das Angebot von Geld und Konsum. Von freier Entscheidung
könne hier nicht die Rede sein 129 •
128 So etwa HANS MEYER, Diskussionsbeitrag, in: VVDStRL 49 (1990), S. 161 (163 f.). - Histori-
sche Genesis des Grundgesetzes: REINHARD MUßGNUG, Zustandekommen des Grundgesetzes
und Entstehen der Bundesrepublik Deutschland, in: HStR Bd. I, 1987, § 6. - Zur Geburts-
makeltheorie s. auch oben B 11 b.
Die Geburtsmakeltheorie knüpft zwar an Normen des Grundgesetzes an, die Präambel und
die Schlußbestimmung, jeweils in alter wie in neuer Fassung. Sie bringt jedoch ihr Vorver-
ständnis vom pouvoir constituant in die Auslegung der positivrechtlichen Normen ein.
129 Auf dieser Linie MEYER (N 128), S. 162; HABERMAS (N 122), S. 62 f.
Das Volk als Grund der Verfassung 55
sunggebung bedarf der virtil und der fortuna 130 • Ob verfassunggebende Ge-
walt sich tatsächlich aktualisiert und ob, in welchem Sinnverständnis auch
immer, das» Volk" tätig wird, kann immer nur ex post beurteilt werden, wenn
feststeht, daß die Verfassung Wirksamkeit erlangt hat. Denn die verfassung-
gebende Gewalt wird aus der Perspektive der jeweils geltenden Verfassung
gesehen. Mißlingt der Versuch, die bestehende Verfassung zu stürzen und eine
von Grund auf neue zu errichten, so bleibt die Sicht der geltenden Verfassung
maßgeblich und der Versuch wird als verfassungsfeindliches Unternehmen
qualifiziert, als Störung der öffentlichen Sicherheit, als Hochverrat.
Das bedeutet jedoch nicht, daß ein gescheitertes Verfassungsvorhaben
schlechthin folgenlos bleiben müßte. Die Verfassung der Frankfurter Pauls-
kirche von 1849, die niemals in Kraft trat, beeinflußte unterschwellig die deut-
sche Rechtsentwicklung. Gehalte und Formeln gingen in spätere Gesetze und
Verfassungen ein 131 • Sie setzte ein Maß, an dem seither jede deutsche Verfas-
sung gemessen wird.
Aus der Not des Gemeinwesens kann die Notwendigkeit einer Verfassung
erwachsen. Die necessita, die den Spielraum der verfassungspolitischen Gestal-
tung einengt, wird zur Wirkursache des Verfassungserfolges, wenn sich in
einer politischen Grenzsituation das allgemeine Bedürfnis nach einer Ver-
fassung ergibt. Eine solche Notwendigkeit kann sich bei der Gründung eines
Staates erheben, weil die sich formierende Gemeinschaft sich ihrer Identität
vergewissern, die rechtlichen Grundlagen ihrer Gemeinsamkeit absichern und
die Form der staatlichen Ordnung festschreiben möchte. Die historischen
Prototypen sind die amerikanische Verfassung von 1787 und die belgische von
1831. Äußere und innere Bedrängnisse des Gemeinwesens können dazu ver-
helfen, daß alle seine Bürger zusammenfinden, sich ihrer gemeinsamen Belange
erinnern und auf Grundregeln des staatlichen Zusammenlebens einigen. Die
Not der Umstände kann die Diskussion über Fundamentalfragen erübrigen,
wenn sie nur eine einzige, die rettende Option freigibt wie im Jahre 1949 den
Deutschen der Bundesrepublik die Option für den Verfassungsstaat des
Westens. Einsicht in die Notwendigkeit - das ist keine Schranke der Freiheit,
Der Umstand, daß das Grundgesetz die in der deutschen Geschichte noch nie zuvor dage-
130
wesene Fortune hat und Zustimmung findet, wird von den Anhängern der Geburtsmakel-
theorie nicht bestritten, doch ist das für sie kein Grund, die Maßstäbe ihrer verfassungstheo-
retischen Kritik zu überprüfen. Vielmehr wollen sie lieber die erfolgreiche Verfassung opfern
als ihre Bedenken. So MAHRENHOLZ (N 19), S. 19 H. und passim; STOROST (N 89); WAHL
(N 89), S. 475 H.
m Für die Fortwirkung der Paulskirchen-Verfassung vgl. JÖRG-DETLEF KÜHNE, Die Reichs-
verfassung der Paulskirche. Vorbild und Verwirklichung im späteren deutschen Rechtsleben,
1985, bes. S. 147 H.; siehe auch WAHL, Entwicklung (N 74), § 1 Rn. 17 H.
56 J osef Isensee
132 Die Diagnose für Frankreich seit 1789 stellte im Jahre 1814 der Rechtsanwalt CH.-P. DUCANCEL
(La constitution non ecrite du royaume de France, 1814, zitiert nach SCHMALE [N 33], S. 12).
133 Dagegen sieht DIETER GRIMM den Diskurs als Selbstzweck, de~ sich auch über den Bestand
einer bewährten und allgemein akzeptierten Verfassung hinwegsetzen soll: »Angesichts einer
geglückten Verfassung ist eine Verfassungsdiskussion immer ein Verfassungsrisiko. Dieses
Risiko muß indessen hingenommen werden, denn es ist das Risiko der Demokratie und unter-
drückte Diskussionen pflegen sich zu rächen" (N 89, S. 34).
134 PETER HÄBERLE weist die nicht realisierte Schweizer Totalrevision als Verfassunggebung im
weiteren Sinne aus (N 37, S. 77 H.; N 99, S. 34 H.). Darin liegt jedoch keine Gleichstellung mit
der echten Verfassunggebung im (engeren) Sinne des Textes, weil in HÄBERLES BegriHsent-
grenzung alles Verfassunggebung sein kann (s. o. B V, 11 2 c).
135 Vorschläge der schweizerischen Expertenkommission zur Totalrevision der Bundesverfas-
sung, Verfassungsentwurf von 1977 (Text bei PETER HÄBERLE, Neuere Verfassungen und
Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, in: JöR N.F. 34
[1985], S. 303 H., 536-550). Hierzu emphatisch: HÄBERLE (N 37), S. 77 H.; kritisch: ERNST-
WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Zur Diskussion um die Totalrevision der Schweizer Bundesver-
fassung, in: AöR 106 (1981), S. 580 H.; vgl. auch STERN (N 7), S. 156 f. (Nachw.). Zur neueren
Diskussion infolge des (bislang nicht umgesetzten) Beschlusses der schweizerischen Bundes-
versammlung vom 3.6.1987 über die Totalrevision der Bundesverfassung siehe: BERNHARD
EHRENZELLER, Die Totalrevision der schweizerischen Bundesverfassung, in: ZaöRV 47 (1987),
S. 699 H.; LUZIUS WILDHABER, Rechtsfragen der Verfassungsrevision: Materielle Schranken,
materielle Totalrevision, Abstimmungsverfahren bei Totalrevision, in: Festschrift für Otto K.
Kaufmann, 1989, S. 43 H.; ALFRED KÖTZIjÖRG PAUL MÜLLER, Entwurf der schweizerischen
Bundesverfassung vom 16. Mai 1987,21990. Vgl. zum gegenwärtigen Stand auch die Über-
sicht bei: ULRICH HÄFELINIWALTER HALLER, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, Zürich
Das Volk als Grund der Vedassung 57
Die Lehre von der vedassunggebenden Gewalt gibt Antwort auf die Frage
nach dem Geltungsgrund des Vedassungsgesetzes. Zur Logik des positiven
Rechts gehört es, daß jede Norm einen Anfang hat, jenseits dessen es keine
positivrechtlichen Fragen geben kann. Doch deshalb braucht die Vedassung
nicht auch von ihrem Inhalt her einen Anfang zu setzen, als voraussetzungs-
lose Edindung einer neuen Ordnung, als creatio ex nihilo, als Urknall des poli-
tischen Kosmos 136• Dem hochfliegenden Selbstbewußtsein von Revolutionä-
ren mag es zuweilen so erscheinen, als ob die Vedassung einen absoluten Neu-
beginn setzen und daß der Vedassunggeber alles neu machen könne 137 • Doch
die Verfassung ist notwendig das Produkt ihrer historischen Situation und
abhängig von den Gegebenheiten, die sie vodindet. Sie greift bestimmte
Themen der Zeit auf und reagiert auf bestimmte Bedüdnisse der Änderung
von mißbilligten und der Bewahrung von gefährdeten Zuständen. Doch sie
wird immer mehr hinnehmen, als sie verändern, immer mehr voraussetzen
müssen, als sie regeln kann. Vedassunggebung steht unter der Notwendigkeit,
die für alles menschliche Handeln gilt: sie muß an das Gegebene anknüpfen.
In der Sprache des Philosophen: »Nur indem das geschichtlich Vorhandene
,immer schon' ohne Zutun als Vorgabe da ist, hat das eigene Zutun eine
Chance; kein Mensch kann absolut von vorn anfangen, jeder muß ... an das
anknüpfen, was schon da ist: Zukunft braucht Herkunft. ... Menschliche
Praxis macht stets nur das Wenige, was noch zu machen ist: damit sie möglich
sei, muß in einem sehr beträchtlichen Umfang schon ,nichts mehr zu machen'
sein" 138.
So sind alle Vedassungen denn allenfalls partiell originäre und originelle
Schöpfungen, und sie können in ihren Regelungen auch nicht mehr als ein
fragmentarisches Ordnungsbild geben; das Ganze läßt sich nur rekonstruieren
über die ungeschriebenen Voraussetzungen 139 • Die Vedassungsgesetze des
Verfassungs staates des 20. Jahrhunderts sind mehr oder weniger Maßkon-
fektion nach den amerikanischen und französischen Mustern des 18. Jahr-
hunderts. Aber auch diese sind ihrem Inhalt nach nicht, noch nicht einmal in
ihrer Form, voraussetzungslose Neuschöpfungen, weil sie Traditionsgut, das
seit der Antike in Europa gewachsen ist, aufnehmen oder voraussetzen. Die
französische Revolution von 1789, der tiefste Epochenschnitt der letzten Jahr-
hunderte, macht keine Ausnahme. Sie übernahm die Grundstrukturen des
modernen Staates als zentralisierter Entscheidungs- und Machteinheit, die seit
dem 16. Jahrhundert von den Königen Frankreichs entwickelt worden war,
sie besetzte nur die Herrschaftspositionen um und definierte bestimmte Herr-
schaftsbefugnisse neu. Die Kontinuität war um vieles mächtiger als die Um-
wälzungen 14o • Die amerikanische Revolution erbaute ein neues Staatswesen
auf einem neuen Kontinent, und dennoch übernahm sie europäisches Erbe der
Staatsstrukturen, der Rechtsformen, des politischen Ethos.
Die Lehre vom pouvoir constituant geht aus vom formellen Verfassungs-
begriff141 • Die rechtlichen und die emphatischen Erwartungen, die sich in der
Zeit von 1789 bis 1794 auf die »Verfassung" richteten, verkörperten sich in
einer Urkunde, dem Verfassungsgesetz 142 • Dieses unterscheidet sich von ein-
fachen Gesetzen durch besondere Regelungsgegenstände (Staatsform, Staats-
organe, Grundrechte) und durch besondere Formqualitäten (erschwerte
Abänderbarkeit, Vorrang).
Ein solches Gesetz läßt sich auf einen bestimmten Zeitpunkt seines Erlasses
und auf eine bestimmte Art des Zustandekommens zurückführen. Wie die
Staatsorgane, die an Gesetzgebungsverfahren mitwirken, zum »Gesetzgeber"
hypostasiert werden können, so die Mitwirkenden an der Schaffung des Ver-
fassungsgesetzes zum »Verfassunggeber". Ein Gesetz kann man »machen",
auch ein Verfassungsgesetz. Obwohl es keine apriorischen Kompetenz- und
Verfahrensregeln für die Rechtserzeugung auf Verfassungsebene gibt, so liegt
die Analogie zur Rechtsetzung der Legislative jedenfalls nahe.
140 Eindrucksvolle Darstellung: ALEXIS DE TOCQUEVILLE, L'ancien regime et la Revolution, Paris
1865.
141 Zur Entwicklung des Verfassungsbegriffs ZWEIG (N 34), S. 142 ff. Allgemein HASSO HOF-
MANN, Zur Idee des Staatsgrundgesetzes (1986), in: ders., Recht-Politik-Verfassung, 1986,
S. 261 ff.
142 Dazu SCHMALE (N 33), S. 31 ff., 57 ff. (Nachw.).
Das Volk als Grund der Verfassung 59
Vollends ändert sich das Bild, wenn "Verfassung" nicht normativ verstanden
wird, sondern, in den Bahnen der antiken Staatsformenlehre, deskriptiv, nicht
als die Verfassung, die das Gemeinwesen "hat", sondern als die Verfassung,
in der sie ..ist": als die bestehende Staatsform, als die realen Machtstrukturen,
als das Establishment 147• Die Realvedassung ist das Produkt unendlich vieler
wirkender Kräfte in Geschichte und Gegenwart. Als komplexes Ganzes ist
sie nicht geplant und nicht gemacht; sie ist gewachsen. Sie läßt sich auch nicht
durch einen bestimmten politischen Willensakt aufheben oder ändern. Hegel
trifft das Problem: ..Die Frage, wem, welcher und wie organisierten Autorität
die Gewalt zukomme, eine Verfassung zu machen, ist dieselbe mit der, wer den
Geist eines Volkes zu machen habe .... eine Vedassung hat sich aus dem Geiste
nur entwickelt identisch mit dessen eigner Entwicklung und zugleich mit ihm
die durch den Begriff notwendigen Bildungsstufen und Veränderungen durch-
laufen. Es ist der innenwohnende Geist und die Geschichte, - und zwar ist
die Geschichte nur seine Geschichte - von welchen die Vedassungen gemacht
worden sind und gemacht werden"148.
147 Der realitätsbezogene Begriff von Verfassung als Staatsform (Politeia) fmdet sich bei ARIsro-
TELES (Politik, 1278 b-1281 a). - Moderne Varianten der Realverfassung: FERDINAND LASALLE,
Über Verfassungswesen, in: ders., Gesammelte Reden und Schriften, 2. Bd., 1919, S. 41 (55 f.);
HELLER (N 118), S. 249 f.
148 GEORG WILHELM FRIEDRICH HEGEL, Enzyklopädie der philosophischen WISsenschaften im
Grundriß, 1830, S 540 (in: ders., Gesammelte Werke, hg. von der Rheinisch-Westfälischen
Akademie der Wissenschaften, Bd. 20, 1992, S. 513 f.):
149 SCHMITf (N 3), S. 20 ff.
150 SCHMITf (N 3), S. 21.
Das Volk als Grund der Verfassung 61
earl Schmitt führt typische (wenn auch nicht zwingend vorgegebene) Wege
der Verfassunggebung auf, die beschließende und verabschiedende National-
versammlung, den entwerfenden Konvent, das Plebiszit. Doch geht es hier
immer nur um die Schaffung des Verfassungsgesetzes 159 • Die Gesamt-Ent-
scheidung über die verfassungspolitische Richtung fällt hier nicht. Es fragt
sich, ob die eigentliche Weichenstellung überhaupt das Ergebnis einer (be-
wußten) Entscheidung ist.
Im November 1918 vollzog sich der Wechsel von der Monarchie zur Repu-
blik, als Reichskanzler Max von Baden eigenmächtig erklärte, der Kaiser habe
abgedankt, und als der kaiserliche Staatssekretär Philipp Scheidemann bei einer
Ansprache vom Balkon des Reichstagsgebäudes in spontaner Rhetorik die
Republik hochleben ließ und damit, vielleicht ohne es zu wollen, die Initial-
zündung zur Gründung der Republik gab 160 • Was war hier Entscheidung? Wer
hat entschieden? Wo war das Volk? Wer war das Volk? Etwa die mehr oder
weniger zufällig vor dem Parlamentsgebäude versammelte Menge, die Scheide-
manns Hochruf auf die Republik aufnahm 161 ? Jedenfalls war die politische
Weichenstellung unumkehrbar. Sie stand nicht mehr ernsthaft zur Disposition
für die nach Weimar einberufene Nationalversammlung. Deren Einberufung,
die Friedrich Ebert im Rat der Volksbeauftragten durchsetzte 162, war ihrerseits
eine verfassungspolitische Richtungsentscheidung. Der Würfel fiel wider die
sozialistische Rätediktatur für die parlamentarische Demokratie und für den
bürgerlichen Rechtsstaat. Der Wahlmodus, der die verfassunggebende Ver-
163 Formel: HANS PETER IpSEN, Über das Grundgesetz (1949), in: ders. (N 135), S. 1 (20).
64 J osef Isensee
Das Theorem der positiven Verfassung kann sich dogmatisch bewähren vor
dem bundesstaatlichen Problem der gliedstaatlichen Verfassungen, in der Bun-
desrepublik Deutschland also dem der Landesverfassungen. Die Länder sind
einerseits in ihrer Existenz wie in ihrer Kompetenz eingebettet in den Gesamt-
staat nach Maßgabe der Bundesverfassung. Andererseits besitzen sie eigene
Staatsqualität, der ihre Verfassungshoheit korrespondiert, die nicht vom Bund
entziehbare und nicht auf ihn übertragbare Befugnis, sich eine Verfassung
zu geben 166. Kein Wunder, daß auch die Länder auf die Doktrin der ver-
fassunggebenden Gewalt zurückgreifen 167, sich auf das souveräne Volk als den
unverfaßten Ursprung berufen, sei es symbolhaft, um den Ausweis der Eigen-
staadichkeit mit einem Bildungserbe zu schmücken, sei es in der politischen
Absicht, Souveränität für Regelungen zu beanspruchen, die mit Bundesrecht,
sogar mit der Bundesverfassung kollidieren 168 •
Die Verfassunggebung vollzieht sich in den Gliedstaaten jedoch unter ande-
ren Bedingungen als im Gesamtstaat. Die Länder stehen nicht vor der Aporie
des Anfangs, weil sie auf einem vorgegebenen Rechtsfundament aufbauen
können, auf der Bundesverfassung. Dieser verdanken sie ihre Staadichkeit,
denn sie sind Staaten nach Maßgabe der Bundesverfassung, nicht - wie der
Gesamtstaat - Staaten nach Maßgabe des Völkerrechts 169 • Der Bundesverfas-
sung verdanken sie ihre Verfassungshoheit wie überhaupt ihre Kompetenz-
ausstattung. Die politische Gesamt-Entscheidung wird vorweggenommen
durch die Homogenitätsklausel des Grundgesetzes, die vorschreibt, daß die
verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern den Grundsätzen des republika-
nischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates entsprechen muß, und
zwar den »im Sinne" des Grundgesetzes zu verstehenden Grundsätzen, deren
letztverbindliche Auslegung sich der Gesamtstaat über das Bundesverfas-
167 Die Landesverfassungen berufen sich ihrerseits auf die verfassunggebende Gewalt des Volkes,
so die Verfassung des Freistaates Bayern vom 2.12.1946, Präambel ("gibt sich das Bayerische
Volk ... nachstehende demokratische Verfassung"); Verfassung für Rheinland-Pfalz vom 18.5.
1947, Vorspruch ("hat sich das Volk von Rheinland-Pfalz diese Verfassung gegeben"); Verfas-
sung für das Land Nordrhein-Wesdalen vom 28.6.1950, Präambel ("haben sich die Männer
und Frauen des Landes Nordrhein-Wesdalen diese Verfassung gegeben"); Verfassung des Lan-
des Baden-Württemberg vom 11.11.1953, Vorspruch ("hat sich das Volk von Baden-Württem-
berg ... diese Verfassung gegeben"); Verfassung des Freistaates Sachsen vom 27.5.1992, Prä-
ambel ("hat sich das Volk ... diese Verfassung gegeben"); Verfassung des Landes Brandenburg
vom 20.8.1992 ("wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg, haben uns ... die
Verfassung gegeben.").
Das Bundesverfassungsgericht überträgt die klassische Doktrin des pouvoir constituant,
"wie es der demokratischen Entstehung eines Staates entspricht", auf einen Gliedstaat und
seine verfassunggebende Versammlung und macht nur einzelne Vorbehalte aus der Bundes-
verfassung (BVerfGE 1 [61]). Auf dieser Linie BOEHL (N 166), S. 582 ff.
168 Reibungen und Widersprüche ergaben sich vor allem aus verfassungspolitischen Initiativen im
Lande Brandenburg (1990-1992). Dazu DIETRICH FRANKE/R. KNEIFEL-HAVERKAMP, Die
brandenburgische Landesverfassung. Verfassunggebung in einem neuen Bundesland als Teil der
gesamtdeutschen Verfassungsdiskussion, in: jöR N.F. 42 (1994), S. 111 (138 H.); siehe auch:
jOHANNES DIETLEIN, Die Grundrechte in den Verfassungen der neuen Bundesländer, 1993,
S. 59 ff.; HANS PETER BULL, Die Verfassungen der neuen Länder - zwischen östlicher Selbst-
bestimmung und westlichen Vorgaben, in: Festschrift für Werner Thieme, 1993, S. 305 (323 f.);
UTE SACKSOFSKY, Landesverfassungen und Grundgesetz - am Beispiel der Verfassungen der
neuen Länder, in: NVwZ 1993, S. 235 H.; THOMAS R. WOLF, Landesverfassungen in den neuen
Ländern unter dem Grundgesetz, in: VR 1994, S. 117 H.
169 Dazu jOSEF ISENsEE, Idee und Gestalt des Föderalismus im Grundgesetz, in: HStR Bd. IV,
1990, § 98 Rn. 64.
66 J osef Isensee
Die Lehre vom Volk als Verfassunggeber entwickelt eine gewisse Leucht-
kraft, wenn sie, aus der Ferne gesehen, im Undeutlichen bleibt. Sobald man
sich ihr nähert, erlischt das Licht. Will man sie erkennen, so zerfließt sie.
Möchte man sie fassen, so zerfällt sie in ihre Widersprüche. Sie birgt keine
historische Wahrheit, und sie zeitigt keine rechtliche Verbindlichkeit. Ver-
gebens wird man nach Plausibilität suchen, deren auch eine Hypothese bedarf.
Es fehlt bereits an der logischen Eindeutigkeit und Konsistenz.
Der pouvoir constituant ist ein Mythos, ein demokratischer Mythos. Die
politische Aufklärung macht hier einen Salto mortale ihrer Dialektik. Ange-
treten dazu, den Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu
befreien, bekämpft sie traditionelle Staatsmythen, sakrale wie profane, welche
Vernunft und Freiheit in ihrer Entfaltung hemmen können, und bahnt sich so
den Weg zum Verfassungsstaat, in dem die vernunftgeleitete Freiheit zur
Wirklichkeit finden soll. Sie setzt aufgeklärte Bürger voraus. Doch sie trifft
Vorsorge für den Fall, daß die Prämisse von der Realität nicht vollständig ein-
gelöst wird und aufklärungsresistente, aufklärungsmüde Bürger sich mit der
rationalen Ordnung des Staates in den Grenzen der Rationalität nicht abfin-
den. Daher setzt sie auch irrationale Mittel für ihre Zwecke ein. Sie zeugt ihren
eigenen Mythos, um den Verfassungsstaat zu begründen und abzusichern.
Platon ist das Vorbild, der, vom "kindlichen" und "lügenhaften" Wesen des
Mythos ausgehend, zunächst die radikale Reinigung vom Mythos betreibt und
alle Märchen aus dem Idealstaat verbannen will, am Ende fordert, einen neuen
Mythos als "Lüge zum Nutzen des Staates" aufzubauen 174 • Der griechische
Philosoph vermag freilich seinen neuen staatsnützlichen Mythos leichter zu
rechtfertigen als die Denker der modernen Demokratie den ihren. Denn die
autoritäre Ständehierarchie Platons gründete auf der Ungleichheit der Fähig-
keiten, auch der moralischen und der intellektuellen Qualifikationen, indes der
Verfassungsstaat auf der Gleichheit und Freiheit aller Bürger gründet und auf
dem Urvertrauen in ihre individuelle Vernunft.
175 FRIEDRICH NIETZSCHE, Die Geburt der Tragödie (1872), in: ders., Werke (N 1), Bd. I, S. 7 (124f.).
Eine differenzierende Kulturphilosophie des Mythos im Verhältnis zum rationalen Denken
gibt LESZEK KOLAKOWSKI, Die Gegenwärtigkeit des Mythos (1972), deutsche Übersetzung
aus dem Polnischen von Peter Lachmann, 1973.
70 Josef Isensee
brochene Ordnung, an das Kinderglück der Freiheit. Die Lehre vom pouvoir
constituant befriedigt ähnliche Erwartungen wie in der Antike die politischen
Gründungssagen, die Stiftung Athens durch Pallas Athene, die Herkunft der
Römer von Venus, Äneas und Romulus, die Abkunft der geltenden Gesetze
von Lykurg, Solon oder den Dezemvirn.
Die oberste Norm der Rechtsordnung erhält Hilfe vom Mythos, um das
Ärgernis ihrer Kontingenz 176 zu bewältigen und sich als Produkt höherer
Notwendigkeit auszuweisen. Die Kontingenz ist gerade für das Verfassungs-
gesetz peinlich, weil die Höhe des normativen Anspruchs der Trivialität der
historischen Entstehungsumstände kontrastiert177• Das Dilemma, daß die Spitze
der Normenhierarchie bloß menschlich gemachtes Recht darstellt, mit nicht
anderem Wasser gekocht als die Normen, deren Richtmaß sie bildet, wird
dadurch behoben, daß sie auf einen quasi-transzendenten Urheber zurückge-
führt wird, den großen Demiurgen, der jenseits seiner Schöpfung steht. Von
ihrem Schöpfer her, aus dem fascinosum et tremendum ihres Ursprungs,
bezieht die Verfassung Würde und Autorität. Insofern trägt der Mythos des
pouvoir constituant dazu bei, die geltende Verfassung zu legitimieren und ihre
normative Wirksamkeit zu stärken178 •
In Deutschland berufen sich Verfassungsinterpreten von jeher gern auf die
"Väter" des Grundgesetzes. Sie stützen sich zumeist nicht auf entstehungs-
geschichtliche Fakten, etwa auf maßgebliche Stellungnahmen im Parlamen-
tarischen Rat, sondern auf das eigene Bild von der wahren und ursprünglichen
Verfassung, wie sie sich, befreit von späteren Verdunklungen und Übermalun-
gen, eigentlich darstellen müßte. Ihre "Väter" fungieren als Projektionswand
rückwirkender Auslegungspositionen. Die "Väter" haben wenig Ähnlichkeit
mit den Abgeordneten des Parlamentarischen Rates oder mit den 1948/49
einflußrnächtigen Ministerpräsidenten, Ministerialräten, Verbandsfunktionären
und Besatzungsoffizieren, eher schon mit dem Gott-Vater der Genesis oder
mit dem Über-Vater der Psychologie. Wenn jüngst ein Paradigmen-Wechsel
stattfindet und man nunmehr von den "Vätern und Müttern" des Grund-
gesetzes redet, so nicht etwa deshalb, weil neuerliche Forschung eine bisher
ungeahnte politische Bedeutung der (wenigen) Frauen im Parlamentarischen
176 Dazu 0Tr0 DEPENHEUER, Zufall als Rechtsprinzip?, in:JZ 1993, S. 171 f.
177 Die Kontingenz wird sarkastisch von FIuEDRlCH JULrus VON STAHL in einer Parlamentsrede
bloßgestellt: "Aber, meine Herren, ich frage, wer hat sie (sc. die Verfassung) denn gemacht?
Es bleibt nichts weiter übrig, als der Zufall hat sie gemacht, denn wohl haben wir alle Einzelne
daran gearbeitet, daß aber heute ich und morgen mein Gegner gesiegt hat, also das Resultat
im Ganzen, das kommt entschieden blos vom Zufall her" (Parlamentarische Reden, o.J. [1856],
S.120).
178 Zu den Funktionen o. B IV 2, 4.
Das Volk als Grund der Verfassung 71
Rat entdeckt hätte, sondern weil inzwischen die political correctness solche
Redeweise gebietet. Die Vedassungsmythologie wird zum Pendant feministi-
scher Theologie.
Wenn das Volk als Verfassunggeber Züge des Schöpfergottes annimmt, so
bildet es eine stumme Gottheit, deren Wille durch berufene Deuter gelesen
werden muß. Die Interpreten können sich gefahrlos auf den Verfassunggeber
stützen, weil dieser nicht in Person Einspruch erheben kann. Der Rückgriff
auf das Volk als Wille und Vorstellung kann ihnen dazu dienen, überliefertes
Verfassungsverstandnis, also ein Stück materielle Verfassung, zu bewahren
oder aber dieses durch Rückkehr zur Quelle zu reformieren.
Der Bezug auf den mythischen Verfassunggeber beansprucht jene methodi-
sche Zuverlässigkeit, die eine subjektiv-historische Auslegung anstrebt. Aber
sie vermeidet deren Dilemma, von disparaten und fragmentarisch überlieferten
Äußerungen einzelner Beteiligter des Gesetzgebungsvedahrens auf den Sinn
des Gesetzes zu folgern. Es zeigt sich ein Paradoxon: je weiter sich das Bild des
Verfassunggebers von den historischen Tatsachen entfernt, desto mehr ge-
winnt das gegenwärtige Vedassungsrecht an normativem Elan, an Anpas-
sungs- und Entwicklungsfähigkeit. Unter dem Mantel der subjektiv-histori-
schen Auslegung vollzieht sich objektive Auslegung, für die das Gesetz klüger
ist als der Gesetzgeber 179 • Freilich tut sich nun die Schwierigkeit der objekti-
ven Methode auf, wie das Vedassungsgesetz zuverlässig interpretiert werden
kann, ohne der Willkür der Interpreten anheimzufallen.
Ist die Lehre vom pouvoir constituant also ein nützlicher Mythos für den
Verfassungs staat ?
Wer den Nutzen bejaht, blickt nur auf seine legitimierenden und normsta-
bilisierenden Funktionen. Das aber ist nur eine Seite. Der Mythos kann auch
delegitimieren und destabilisieren 180 und herhalten zum Revolutionstitel.
Politische Avantgarden nutzen ihn als Selbstermächtigungsideologie, um sich
als das Volk auszugeben oder für das Volk zu handeln, dessen unvedaßbare
Souveränität zu usurpieren und sich über lästige verfassungsrechtliche
Bindungen hinwegzusetzen, etwa über die Regeln der politischen Willens-
bildung im Repräsentativsystem oder aber die rechtsstaatlichen Schranken der
181 HANS KELSEN vergleicht die Lehre der Volkssouveränität mit der totemistischen Maske vom
Urvater des Clans, welche die Clangenossen bei gewissen orgiastischen Festen aufsetzen, um
für kurze Zeit, selbst den Vater spielend, alle Bande sozialer Ordnung abzustreifen (Vom
Wesen und Wert der Demokratie, 21929, S. 86. Nahezu wortgleich ders., Demokratie [1927],
in: Hans KlecatskylRene MarciclHerbert Schambeck [Hg.], Die Wiener rechtstheoretische
Schule, Bd. 2, 1968, S. 1743 [1762]).
182 Im Ergebnis ebenso HENKE: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes möge als Begriff der
Staatslehre sowie als Rechtsbegriff verabschiedet und, wegen der Gefahr seines ideolo.sischen
Gebrauchs, am besten auch als politischer Begriff gemieden werden (N 82, S. 280). Ahnlich
ROELLECKE (N 73), S. 929 ff.
183 Vgl. den Titel von HANS KELSENS Meisterwerk »Vom Wesen und Wert der Demokratie"
(N 181).
184 So KIRCHHOF (N 7), § 19 Rn. 15 ff. Kritik, daß das »Sprachbild" die wahre Bedeutung unter-
schätze: SCHNEIDER (N 19), § 158 Rn. 1.
Das Volk als Grund der Verfassung 73
Mit der Entmythologisierung erledigt sich nicht die Frage, auf die der
Mythos antworten sollte: die Frage nach der Legitimation der Verfassung. Sie
richtet sich auf den letzten Grund ihrer Verbindlichkeit, damit auf die Recht-
fertigung der staatlichen Herrschaftsordnung, die auf der Verfassung aufbaut,
und der staatlichen Rechtsordnung, die in der Verfassung gipfelt. Dabei wird
freilich nur die affirmative Funktion der Bezugnahme auf das Volk sichtbar.
Die revolutionäre der Delegitimation bleibt ausgeblendet.
Das Problem der Rechtfertigung berührt das Sollen wie das Sein185 . Auf den
rechtlichen Geltungsanspruch der Verfassung bezogen, ist es ein normatives
Problem, ob und warum eine Verfassung Zustimmung verdient. Es geht um
ihre sittliche Anerkennungswürdigkeit, ihre politische Philosophie. Auf
Wirksamkeit bezogen, fragt Legitimation nach der Ursache, weshalb die Ver-
fassung tatsächlich von denen angenommen wird, an die sie sich normativ rich-
tet 186 • Hier geht es - normempirisch - um den Grund ihres Geltungserfolges,
dort - axiologisch - um die Begründbarkeit des Geltungsanspruchs 187•
Beide Momente wirken zusammen. Die normative Rechtfertigung will die
faktische Zustimmung vermitteln. Die faktische Zustimmung kommt auf
Dauer nicht aus ohne einleuchtende Legitimationsgründe. Legitimationstheo-
rien werden sich durchwegs rückkoppeln an die Wirklichkeit durch die Erwar-
tung von Resonanz. Legitimation vermittelt zwischen Sein und Sollen. Die
Sphären, die sonst durch einen Graben getrennt sein mögen, hier werden sie
nur durch einen unsichtbaren Äquator unterschieden, der sich in der einen wie
in der anderen Richtung überqueren läßt.
Wenn Legitimation auf den Grund der Verfassung zielt, so zeigt sich das
Wort »Grund" in mehrfacher Bedeutung: als das Motiv für Akzeptanz, als das
Argument, das Akzeptanz und Rechtfertigung herbeiführt, aber auch als die
Grundlage, als der Baugrund, auf dem die Verfassung errichtet wird. »Grund"
185 Zu Legitimität als Faktum und als normatives Kriterium HAsso HOFMANN, Legitimität und
Rechtsgeltung, 1977, S. 11 H. (Nachw.)
186 Das ist die Perspektive der Legitimitäts-Typologie MAX WEBERS (N 64), S. 159 H.
187 Unterscheidung von Geltung und Wirksamkeit einer Norm o. A 11 4.
Das Volk als Grund der Verfassung 75
kann genetisch verstanden werden, als das Woher, der Ursprung der
Verfassung, aber auch teleologisch als das Wozu, der Sinn. Alles legitimatori-
sche Fragen nach dem Grund der Verfassung mündet ein in die Frage nach
ihrem letzten Grund, über den hinaus nicht mehr gefragt werden kann, nach
dem primum principium 188.
Legitimation wird in der Literatur vielfach synonym gesetzt mit Legitimi-
tät 189, obwohl der allgemeine Sprachgebrauch Bedeutungsunterschiede erken-
nen läßt. Auf diese aber kommt es hier an. Legitimation vollzieht sich als Pro-
zeß. Legitimität ist das Resultat einer (erfolgreichen) Legitimation, der Zu-
stand, der eintritt, nachdem der Prozeß vollendet worden ist. Legitimation
fließt der Verfassung zu, Legitimität aber hat sie.
In der Frage nach der Legitimation ist zu unterscheiden zwischen dem Legi-
timationsobjekt und dem Legitimationsgrund. Der Grund muß außerhalb des
Objekts liegen. So legitimiert sich Herrschaft "aus anderen Werten und Ord-
nungen, von denen sie sich ableitet, oder ... integrierenden Faktoren, die eine
Gemeinschaft, innerhalb deren geherrscht werden kann, schon begründet haben
und dauernd weiter begründen"190. Was seinen Grund in sich selber trägt, was
selbstzweckhaft und unbefragt existiert, ist nicht rechtfertigungsbedürftig
oder nicht rechtfertigungsfähig. Das ist in der Teleologie des Verfassungs-
staates die Person des Menschen, in ihrem Sinn, ihrer Würde und Freiheit. Sie
kennt keinen Grund, der außerhalb ihrer selbst läge (wenn man die religiöse
Begründung vernachlässigt, die jenseits des säkularen Horizonts des Verfas-
sungsstaates liegt).
Die Verfassung legitimiert sich nicht selbst und enthält auch nicht den
Grund ihrer Legitimität. Gleichwohl kann man sie darauf befragen, ob sie auf
einen bestimmten Grund verweist oder ob sie einen solchen erkennen läßt.
gegenständliche Reichweite, die normative Intensität. Das alles ist Stoff für
verfassungsrechtliche Normen, deren Auslegung Sache der Jurisprudenz und
deren systematische Erschließung Sache der Dogmatik ist.
Dagegen kann die Verfassung ihren Geltungserfolg nicht von sich aus
gewährleisten. Der Grund ihrer Geltung unterliegt nicht ihrer Disposition.
Gleichwohl kann sie dartun, wie sie sich begründet sieht und welche Legi-
timität sie beansprucht. Das eben ist der Sinn der häufig in Präambeln und
Schlußbestimmungen begegnenden Deklaration, daß die vorliegende Ver-
fassung aus dem Willen des Volkes hervorgehe und von ihm kraft seiner ver-
fassunggebenden Gewalt beschlossen worden sei l91 • Die höchste Norm nennt
den Grund, auf den sie ihren Geltungsanspruch stützen will. Sie erwartet, daß
dieser von ihren Adressaten angenommen wird. Doch kann (und will) sie
niemanden zwingen, ihre selbstreferentielle Ableitung zu glauben. Es liegt
nicht in ihrer Macht, die intendierte Legitimation einzulösen. Auf der anderen
Seite erhebt sich ein Artikel des Verfassungsgesetzes nicht deshalb über die
anderen, weil er von der verfassunggebenden Gewalt des Volkes redet. Das
Thema macht nicht sakrosankt. Eine Vorschrift dieser Art kann wie jede
andere durch reguläre Verfassungsänderung aufgehoben werden l92 •
Die Berufung auf das Volk als Verfassunggeber, wie sie sich in der Präambel
des Grundgesetzes findet, erzählt nicht die Entstehungsgeschichte, auch wenn
sie geschichtliche Umstände nennt, an die das Selbstverständnis anknüpft. Die
Selbstreferenz wird nicht durch historische Beweise bestätigt oder widerlegt.
Die Legitimitäts-Intention gehört in das Reich des Sollens. Das Kriterium von
Wahr oder Unwahr greift hier nicht. Wenn das Grundgesetz sich in seinem
Vorspruch aus der Entscheidung des deutschen Volkes herleitet, so wird der
Legitimitätsanspruch nicht zu Fall gebracht durch den Einwand, das deutsche
Volk komme als Ursprung nicht in Betracht, weil es bei der Entstehung des
Grundgesetzes handlungsunfähig und unfrei gewesen sei 193 •
gesetz durch den Verfassunggeber erhalten habe 194. Die demokratische Legiti-
mation, die. das Grundgesetz bezieht, darf nicht verwechselt werden mit der
Legitimation, die es seinerseits für die Ausübung der von ihr verfaßten Staats~
gewalt einfordert.
Gemäß dem verfassungsrechtlichen Prinzip, daß alle Staatsgewalt vom
Volke ausgeht (Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG), muß sich jedwede Ausübung von
Staatsfunktionen auf den Willen des Volkes als den alleinigen Legitimations-
grund der Demokratie zurückführen lassen. Das Volk erteilt seine Legitima-
tion unmittelbar durch Wahl und Abstimmung oder aber mediatisiert über das
gewaltenteilige Repräsentativsystem. Die Exekutive und die Judikative müssen
sich auf personale Legitimation stützen, wie sie durch Akte der Wahl oder der
Ernennung, und auf sachliche Legitimation, wie sie idealtypisch durch das
Gesetz vermittelt wird 195 . Gleichwohl läßt das Grundgesetz zu, daß die per-
sonelle und sachliche Legitimation der Exekutive in einzelnen Funktionsbe-
reichen, zumal der auswärtigen Gewalt und der autonomen Rechtsetzung der
Verwaltung, das reguläre Niveau nicht erreicht. Eigentlich brauchte man nicht
viel Aufhebens von diesen Anomalien zu machen, weil die Verfassung, die eine
Regel aufstellt, auch Ausnahmen vorsehen kann; das Prinzip der Gewalten-
teilung mit seinen Modifikationen und Durchbrechungen im Grundgesetz gibt
davon Zeugnis. Doch ein Teil der Lehre, mit ihm das Bundesverfassungsge-
richt, will sich nicht mit dem vermeintlichen Legitimationsdefizit abfinden. Sie
versuchen, es auszugleichen durch eine demokratische Legitimation zweiter
Ordnung, die vom Verfassunggeber selber herrühre; dieser führe sie dem
Grundgesetz zu und leite sie an die von ihm verfaßten Organe der Exekutive
weiter, wo sie in die Institutionen einfließe, die Gegenstand verfassungsrecht-
licher Regelung seien (institutionelle Legitimation), und in die Funktionen, die
sie ausübten (funktionelle Legitimation)196.
Die Legitimation, die durch die Verfassung vermittelt wird, greift zurück auf
das Volk als Verfassunggeber, indes die Legitimation, die durch die Verfassung
eingefordert wird, sich ableitet aus dem verfaßten Volk, der Wahlkörperschaft.
Das Referenzsubjekt (oder jedenfalls sein verfassungsrechtlicher Aggregat-
zustand) ist also nicht identisch. Verschieden ist vor allem die rechtliche Qua-
197 Die demokratische Legitimation (oder Legitimität) der Verfassung ist gängiger Topos der
Staatsrechtslehre. Vgl. etwa BÖCKENFÖRDE (N 36), S. 9.
198 Exakte Unterscheidung der Bedeutungsebenen und dogmatische Kritik an der Verdoppelung
des Legitimationsgebots: JESTAEDT (N 82), S. 156 ff., 276 ff.
199 Dazu oben B V 2 b.
Das Volk als Grund der Verfassung 79
200 In Wahrheit ist die Ablösungsklausel seit der Wiedervereinigung praktisch obsolet. Dazu
ISENSEE (N 44), § 166 Rn. 48 ff. (Nachw.).
201 Dazu oben C V 4 c.
202 Das Grundgesetz hat Doppelfunktion, indem es einmal die Verfassung des Bundes als Zentral-
staat bildet, andererseits die gesamtstaatliche Verfassung, die für Bund und Länder gleicher-
maßen verbindlich ist, zumal in der Kompetenzhoheit darüber, die beiderseitigen Kompe-
tenzen zu bestimmen. Dazu näher ISENSEE (N 169), § 98 Rn. 84, 227. Das verfassungstheore-
tische Raster entwickelt KELSEN (N 27), S. 208.
203 Allenfalls mag man hier in analogem Sinne von pouvoir constituant institue reden. Zu dem
Begriff mit Nachw.: STERN (N 7), S. 152.
204 So aber MURSWIEK (N 7), S. 236 ff.; ders., Maastricht und der Pouvoir Constituant, in: Der
Staat 32 (1993), S. 161 (171 f., 174 H., 189).
205 Zum Begriff der Kompetenz HANS J. WOLFFIOTTO BACHOF, Verwaltungsrecht, Bd. 11,41976,
S. 9 f., 12 f.; MARKUS HEINTZEN, Die Kategorie der Kompetenz im Bundesstaat, Habilitations-
schrift, Bonn 1994, Typoskript, S. 119 ff. (Nachw.).
80 Josef Isensee
rechts 206, sondern ein Begriff, der jenseits der Grenze des Verfassungsrechts
zu verorten ist. Das Fazit: Der Grund der Verfassung gehört nicht zum
Verfassungsrecht207 •
Die Legitimation der Verfassung ist nicht Thema für die Verfassungsinter-
pretation, die sich innerhalb des verfassungsrechtlichen Systems bewegt, son-
dern für die Verfassungstheorie, die es von außen betrachtet. Der externe
Beobachter, der sich nicht auf das System einläßt, sondern Distanz hält, sieht
den besonderen Legitimitätsbedarf der Verfassung, der sich aus ihrem eigen-
artigen Normcharakter ergibt. Als höchste Norm kann sie sich nicht auf eine
andere Norm stützen. Ausgerichtet auf die obersten Staatsorgane, findet sie
keinen übergeordneten Garanten und ist angewiesen auf deren freiwilligen
Gehorsam. Dem Rang nach die höchste, ist sie dem Inhalt nach die ärmste
Norm im Stufensystem des Rechts. Darauf angelegt, das ganze staatliche
Leben zu durchdringen und die staatliche Rechtsordnung zu leiten, bedarf sie
in ihrer Abstraktheit und Offenheit der rechtlichen Ausfüllung und Aus-
führung. Sie enthält die Regeln der Rechtserzeugung, doch ihre eigene
Erzeugung vollzieht sich jenseits aller Regeln.
Die Verfassungstheorie blickt vor allem auf die Wirksamkeit der Verfassung;
der rechtliche Geltungsanspruch rückt in den Hintergrund. Damit werden die
außerrechtlichen Faktoren relevant, von denen der Geltungserfolg der Ver-
fassung abhängt. Relevant werden auch die Folgen, die sich aus der Verfas-
sungspraxis ergeben: die Entwicklung der materiellen Verfassung, Kontinuität
und Wandel.
Das Legitimationsproblem stellt sich konkret für eine bestimmte Verfas-
sung, aber es stellt sich auch allgemein für die Ordnung des Verfassungsstaates
als Typus.
IV. Richtpunkte der Legitimation
206 So aber im Titel von BÖCKENFÖRDES Schrift »Ein Grenzbegriff des Verfassungsrechts" (N 36),
S. 8 f.
207 Gegenansicht: BÖCKENFÖRDE (N 36), S. 8. S. auch o. N 86.
208 Zutreffend HERMANN HUBA, Das Grundgesetz als dauerhafte gesamtdeutsche Verfassung -
Erinnerung an seine Legitimität, in: Der Staat 30 (1991), S. 367 ff.
Das Volk als Grund der Verfassung 81
gibt keine rechtliche und keine faktische Gewähr für den Erfolg. Im U nter-
schied zu einfachen Gesetzen findet die Verfassung keinen Rückhalt in einem
vorgegebenen Verfahrensregime. Die konventionelle Legitimation durch
Verfahren209 scheidet aus. Ob eine Verfassung glückt, hängt ab von der tatsäch-
lichen Annahme durch ihre Adressaten. Das aber sind die Bürger, in ihren ver-
schiedenen Rollen und Bezügen, als Individuen und als Mitglieder des Volkes,
als Private und als Träger staatlicher wie gesellschaftlicher Organisationen.
Eine Verfassung, die den Bürgern private wie politische Freiheit gewährleistet,
kann nur frei angenommen werden. Staatlicher Zwang vermag, aufs Ganze
gesehen, die freie Zuwendung nicht zu ersetzen.
Das konvergiert in etwa der Antwort, welche die Anerkennungstheorie auf
die Frage nach dem allgemeinen Geltungsgrund des Rechts gibt, im Unter-
schied zu der Antwort der Machttheorie 210 • In der Tat wird die Lehre von der
verfassunggebenden Gewalt abgelöst durch eine Anerkennungstheorie, die
sich den Besonderheiten der Verfassung anpaßt.
Eine Verfassung setzt sich nicht uno actu durch. Ihr Erfolg ist niemals end-
gültig und ungefährdet. Er muß sich stetig erneuern, im tagtäglichen Plebiszit
des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens, damit die Wirksamkeit der Ver-
fassung nicht austrocknet und schwindet.
Während der rechtliche Geltungsanspruch der Verfassung sich identisch
und unverrückbar im Gang der Zeit behaupten kann, unterliegt die Wirk-
samkeit der geschichtlichen Evolution. Sie kann sich regen, und sie kann
stagnieren, sie kann wachsen und schrumpfen, sich verfestigen oder auflösen.
3. Ex-post-Perspektive
Die Wirksamkeit der Verfassung entscheidet sich hier und heute. Das ple-
biscite de tüus les jours über die Akzeptanz weist in einzelnen Zügen Ähn-
lichkeit auf mit dem pouvoir constituant, wie der Abbe Sieyes ihn schildert:
souverän, unberechenbar, an keine Regeln gebunden, auch nicht an die selbst-
211 Vgl. die Studie zum Selbstverständnis der Deutschen: HANS JOACHIM ARNDT, Die Besiegten
von 1945, 1978, S. 13 ff. Mit anderen Vorzeichen wird weiterhin über die politische Lage der
DDR-Deutschen bei der Übernahme des Grundgesetzes 1990 gestritten.
212 Vgl. BVerfGE 89, 155 (182 H., 188 H.); PAUL KIRCHHOF, Der deutsche Staat im Prozeß der
europäischen Integration, in: HStR Bd. VII, 1992, § 183 Rn. 39 H. - Zur Verfassung der Euro-
päischen Union und ihren Rechtsquellen: MARKUS HEINTZEN, Hierarchisierungsprozesse
innerhalb des Primärrechts der Europäischen Gemeinschaft, in: Europarecht 1994, S. 35
(39 ff.).
Das Volk als Grund der Verfassung 83
213 Bemerkenswert auch das französische Beispiel der Verfassungsschöpfung der IV. Republik im
Jahre 1946, der "demokratischsten Ausübung des pouvoir constituant der europäischen Ver-
fassungsgeschichte": KLAUS VON BEYME, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes.
Demokratische Doktrin und politische Wirklichkeit, 1968, S. 39 f. (Zitat S. 39).
214 So etwa WAHL (N 89), S. 478 H.; MAHRENHOLZ (N 19), S. 39 H.; SCHNEIDER (N 19), § 158
Rn. 27 H.
215 Nach VON BEYME sind fast alle Verfassungen der Geschichte oligarchisch entstanden (N 213,
S.8).
216 S. o. C IV 2.
84 J osef Isensee
nicht kanalisieren. Der Geist, auch der des Volkes, weht, wo er will. - Vollends
vermögen allgemeine Regeln und Ratschläge nicht, das Werden der materiellen
und der realen Verfassung zu fassen sowie die Genese jener politischen Grund-
entscheidungen, die dem Verfassungsgesetz vorausgehen217 • Wenn es hier
überhaupt eine Theorie gibt, die allen politischen Ausgangslagen gerecht wird,
dann die des Abbe Sieyes, daß "alle Formen gut" sind218 •
Da es auf den Ursprung nicht ankommt, ist es für eine dem Inhalt nach
demokratische Verfassung unschädlich, wenn sie von einer selbstermächtigten
Elite verhängt, von einem Monarchen oktroyiert oder von einer Kolonial-
oder Besatzungsmacht implantiert worden ist. Die demokratischen Regeln, die
kraft der Verfassung gelten, haben keine Vorwirkung auf ihre Entstehung. Sie
sind kein Kriterium der Legitimität, Ob eine Verfassung im demokratischen
Sinne legitim ist, darüber entscheidet nicht ihr historischer Urheber, nicht das
Verfahren des Erlasses, sondern der spätere reale Erfolg: die freie Zustimmung
der Bürger. Eine Verfassung, die auf einen Monarchen, auf Usurpatoren, auf
auswärtige Mächte zurückgeht, kann die Zustimmung der Bürgerschaft nach-
träglich und damit immer noch rechtzeitig erlangen.
So ist dem Grundgesetz, wie man die Umstände seiner Entstehung auch
beurteilen mag219, der Konsens im Laufe seiner Entwicklung zugewachsen,
und zwar in einem Ausmaße wie keiner Verfassung zuvor in der deutschen
Geschichte. Die praktische Annahme vollzieht sich in der breiten Beteiligung
an den Wahlen und in der durchgängigen Option für die verfassungstragenden
Parteien, mehr noch in der Wahrnehmung der grundrechtlichen Freiheit und
in der Verinnerlichung der verfassungsrechtlichen Prinzipien. Die pluralisti-
sche Gesellschaft findet in der Verfassung zum Konsens. Schließlich bedeutet
der Beitritt der DDR zur Bundesrepublik auch die Übernahme des Grund-
gesetzes. Heute, da das Grundgesetz dergestalt fundiert ist, könnte ein nach-
trägliches förmliches Referendum zu dem Zweck, etwaige "Gebunsmakel"
zu sanieren, die Akzeptanz eher gefährden als stärken, weil es nicht mehr lei-
stete als die Momentaufnahme einer politischen Stimmung22o• Der in Jahr-
zehnten gewachsene Verfassungskonsens würde dem launischen Zufall ausge-
setzt. Selbst wenn am Tage des Referendums Verfassungseuphorie herrschte,
gewährleistete diese nicht Verläßlichkeit und Dauer.
Es bleibt also bei dem Ergebnis, daß die Legitimität der Verfassung sich
nicht aus dem vergangenen Akt ihres Erlasses ergibt, sondern aus ihrer gegen-
wärtigen Akzeptanz. Die Erkenntnis zeichnet sich schon ab bei Thomas
Hobbes: "Denn der wahre Gesetzgeber ist nicht jener, kraft dessen Autorität
die Gesetze ursprünglich erlassen wurden, sondern jener, durch dessen Auto-
rität sie jetzt als Gesetze wirksam bleiben"221.
Wenn die Wirksamkeit der Verfassung - über ·die normative Kraft des Fak-
tischen222 - auf praktischer Zustimmung beruht, so können die entscheidenden
Motive nicht im Ursprung und in der Art des Zustandekommens liegen.
Vielmehr ergeben sie sich aus dem Inhalt der Verfassung, in der die Ideen der
Menschenrechte, der liberalen Demokratie, des sozialen Rechtsstaates, des
Föderalismus normative Gestalt annehmen. In der Rechtstheorie wird die all-
gemeine These vertreten, aus der Legitimität des Erzeugungsaktes dürfe nicht
der Schluß auf die Legitimität des Sollensanspruchs der Norm, auf die Ver-
bindlichkeit ihres Sollens, gezogen werden; diese lasse sich abstrahiert vom
Inhalt der Norm nicht begründen223 . Gegen die These erheben sich Zweifel224,
soweit sie sich auf das einfache Recht bezieht, das in der Ordnung der Rechts-
erzeugung eine jedenfalls formale Basis ihres Geltungsanspruchs findet. Die
Verfassung aber stützt sich nicht auf eine solche Basis. Ihr bleibt nichts ande-
res übrig, als sich nur durch ihren Inhalt auszuweisen: durch die Ideen und
Institutionen, die sie sich zu eigen macht. Der Inhalt rechtfertigt, daß sie Zu-
stimmung verdient; er wirbt dafür, daß sie tatsächlich Zustimmung findet.
221 "For the Legislator is he, not by whose authority the Lawes were first made, but by whose
authority they now continue to be Lawes"(THOMAS HOBBES, Leviathan, London 1651,
Part 2, Chap. 26, n. 5 [139], Reprint Oxford 1952, S. 206).
222 Kategorie GEORG JELLINEK, Allgemeine Staatslehre, 31914, S. 337 H.
223 So in Auseinandersetzung mit HANS KELSEN: HENKEL (N 210), S. 77.
224 Vgl. HOFMANN (N 185), S. 31,47 H., 53 H.
F. Legitimationsideal Einstimmigkeit
- Legitimationspraxis Konsens
Von der Wirksamkeit der Verfassung, die aus existentieller Zustimmung er-
wächst, ist zu unterscheiden ihre verfassungstheoretische Rechtfertigung. Die
Verfassungstheorie steht vor der Aufgabe, die freiheitliche Verfassung aus
einem bestimmten obersten Prinzip abzuleiten. Der Gedankengang muß den
Kriterien der Folgerichtigkeit und der Plausibilität standhalten. Dagegen wird
die Legitimationspraxis, das Verfassungsplebiszit, am realen Ergebnis gemes-
sen. Die Rechtfertigung, die eine Verfassungstheorie leistet, vollzieht sich im
Modell. Das Modell abstrahiert von der Kontingenz der sozialen Wirklichkeit.
Doch abstrahiert es nicht von den theoretischen Dilemmata, in welche die
Lehre der verfassunggebenden Gewalt verstrickt ist, auch nicht vom Dilemma
des Mehrheitsprinzips 225.
Das Mehrheitsprinzip, die typische Entscheidungsregel der Demokratie,
taugt nicht zum primum principium der Rechtfertigung. Denn das Mehrheits-
prinzip bedarf seinerseits der Rechtfertigung, die nicht ein Mehrheitsentscheid
leisten kann. Dieser bedürfte wiederum einer Begründung. Das eigentliche
Legitimationsproblem besteht überhaupt nicht darin, daß die Mehrheit ihren
Willen durchsetzt, sondern darin, daß die Minderheit sich diesem Willen beu-
gen und ihn als allgemeinen Willen anerkennen soll. An diesem Problem schei-
tert alles Mühen der Staatsrechtslehre, die Geltung der Verfassung aus einem
Mehrheitsbeschluß des Volkes oder einer vom Volke gewählten Versammlung
abzuleiten und das Mehrheitsprinzip als apriorische Regel der Verfassung-
gebung auszuweisen.
Wenn denn die Verfassung sich aus einem Willensakt ableiten müßte226, so
müßte es nicht der Wille der meisten, sondern der Wille aller Mitglieder des
Gemeinwesens sein. Allein die Einstimmigkeit eignet sich als Geltungsgrund,
weil in ihr die Freiheit des einzelnen unverkürzt zur Geltung gelangt. Die
Individualfreiheit aber bildet das letzte Glied der Legitimationskette, weil sie
225 S. o. C 11 2.
226 In diesem Zusamenhang kommt nur eine voluntaristische, keine intellektualistische Legitima-
tion in Betracht. S. o. A 111.
Das Volk als Grund der Verfassung 87
2. Legitimationsfigur Gesellschaftsvertrag
Der Abbe Sieyes knüpft nicht ohne Grund an die Lehren vom Gesell-
schaftsvertrag an, wie die Staatsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts sie
entworfen hat, um den Bestand und die Form der staatlichen Herrschaft aus
dem Willen des Individuums abzuleiten und vor seiner Freiheit zu rechtferti-
gen. Das Denkmodell vom Gesellschaftsvertrag erreicht seine wohl differen-
zierteste Gestalt bei Samuel von Pufendorf, der drei Stufen unterscheidet229 :
- auf der ersten Stufe das pactum unionis, in dem sich die künftigen Bürger
untereinander, als einzelne mit den einzelnen <»singuli cum singulis") zu
dauerhafter Vereinigung verpflichten und zum Staatsvolk zusammenfinden;
- auf der zweiten Stufe die einstimmige Festlegung der Regierungsform, das
Die Geschichte zeigt, daß Verfassungen hervorgehen aus der Einigung der
politischen Mächte, die über das Geschick des Gemeinwesens bestimmen, die
über Zusammenhalt oder Trennung, über Frieden oder Bürgerkrieg entschei-
den können. Sie müssen sich untereinander verständigen und zum allseitigen
Ausgleich finden. Dieser Vorgang wird sinnfällig, wenn die Verfassungs-
urkunde die Form des Vertrages erhält, wie sie in älteren Epochen üblich war,
etwa als Vertrag zwischen Landesherren und Ständen, für den die Magna
Charta und der Tübinger Vertrag repräsentativ sind232 • Vereinbarte Verfassun-
gen können auch zwischen den äußeren und inneren Mächten des Gemein-
wesens vereinbart werden, so auf deutschem Boden der Westfälische Friede
und der Reichsdeputationshauptschluß.
Das vertragliche Moment wird verdunkelt, seit die Verfassungsurkunde
üblicherweise als Gesetz ausgefertigt wird, "Grundgesetz", wie es seit dem
18.Jahrhundert üblich ist. Der Form des Gesetzes aber entsprechen der Mehr-
heitsentscheid und der Anspruch auf einseitig-hoheitliche Verbindlichkeit.
Doch die Form täuscht nicht darüber hinweg, daß der Inhalt in der Regel das
Werk von Verständigungsprozessen und Kompromissen ist zwischen allen
Kräften, die fähig sind, die politische Einheit herzustellen, zu gewährleisten
oder aufzukündigen. So gingen im Jahre 1871 der Gründung des Deutschen
Reiches und dem Erlaß seiner Verfassung, die der erste Reichstag beschloß, die
Novemberverträge voraus zwischen dem von Preußen geführten Norddeut-
schen Bund und den süddeutschen Staaten: hier kann von einer vereinbarten
Verfassung gesprochen werden233 • Die deutsche Wiedervereinigung durch ein-
seitige Beitrittserklärung der DDR - mit der Rechtsfolge der Übernahme des
Grundgesetzes - wurde vorbereitet und fundiert durch mehrere Verträge zwi-
schen den beiden deutschen Staaten. Der Vertrag über die Währungs-, Wirt-
schafts- und Sozialunion hatte für die DDR in den letzten Monaten ihrer staat-
lichen Existenz die Bedeutung einer Verfassu~gsurkunde. Die innere Wende
der DDR war in Gang gesetzt worden durch Absprachen zwischen Vertretern
der Revolution und der Regierung am Runden Tisch. Der Runde Tisch gilt
seither als Symbol einer Verfassunggebung durch Verständigung.
Die Abkehr Südafrikas vom Apartheidsystem und der Aufbau der Demo-
kratie für die ganze Bevölkerung vollzog sich von 1990 bis 1994 in der Abfolge
von Verständigungen und Vereinbarungen zwischen den zuvor nach rassischen
Merkmalen geschiedenen und politisch verfeindeten Bevölkerungsgruppen.
Ziel war es, daß diese Gruppen zueinanderfinden und so die politische Einheit
der südafrikanischen Nation begründen sollten, als Fundament demokrati-
scher Freiheit und Gleichheit für alle Bürger, jenseits rassischer und ethnischer
Unterschiede. Dazu war es unerläßlich, die bisherigen Feinde zu versöhnen,
ihre Gegensätze auszugleichen, die Furcht voreinander durch rechtliche
232 Zum Vertrag als Form der Verfassung: ZWEIG (N 34), S. 29 H. (Verfassung als Friedensvertrag);
SCHMITf (N 3), S. 61 H.; GERHARD OESTREICH, Vom Herrschaftsvertrag zur Verfassungs-
urkunde, in: Rudolf Vierhaus (Hg.), Herrschaftsverträge, Wahlkapitulationen, Fundamental-
gesetze, 1977, S. 45 H.; HOFMANN (N 141), S. 271 H.
233 Dazu ERNST RUDOLF HUBER, Das Kaiserreich als Epoche verfassungsstaatlicher Entwicklung,
in: HStR Bd. I, 1987, § 2 Rn. 7, 9 H., 11 H.
90 J osef Isensee
234 Die Verfassungsgrundsätze vom 2. Juli 1993, auf die sich Delegierte von 26 Parteien und Orga-
nisationen in einem Verhandlungsforum einigten, bestimmen nicht nur die Übergangsverfas-
sung, sondern auch die endgültige Verfassung, die in der ersten Legislaturperiode zustande
kommen soll. Das Verfassungsgericht wird sie gegenüber den gegenwärtigen und künftigen
Verfassungsnormen durchsetzen.
Das Volk als Grund der Verfassung 91
riellen Sinne verfügt. Seine Handlungsfähigkeit, also sein Leben als Staat, läßt
sich nicht zeitweise anhalten und suspendieren, bis die prekären Einigungs-
prozesse abgeschlossen sind.
Wenn Einstimmigkeit unter den Bedingungen der Individualfreiheit und des
Pluralismus auch nicht erreichbar ist, so muß sie doch so weit wie möglich
angestrebt werden. Das Ideal der Einstimmigkeit wird pragmatisch reduziert
auf das weniger anspruchsvolle und weniger genaue Prinzip des Konsenses 235 •
Die Verfassung ist nur lebensfähig, wenn sie Konsens findet, das heißt: wenn
und solange die politisch relevanten Kräfte des Gemeinwesens sie tragen.
Keine an Zahl und Gewicht wesentliche Gruppe darf außen vor bleiben, darf
ausgegrenzt und geschwächt werden, wenn die Verfassung ein solides Funda-
ment erhalten soll. Sie baut darauf, daß Bürger und Parteien sich auf das Spiel
der Demokratie einlassen und die rechtlichen Spielregeln akzeptieren, die
Regeln des Machtwettbewerbs, der Machtausübung, der Machtbegrenztheit
und des Machtwechsels. Die demokratische Grundloyalität ist die Kehrseite
des politischen Antagonismus, den die Demokratie freisetzt. Entsprechendes
gilt für die Grundrechte. Ihnen korrespondiert die Erwartung, daß die Pri-
vaten die rechtlich gewährleistete Freiheit mit Bürgersinn wahrnehmen, in
Achtung vor der Freiheit des anderen bereit, von sich aus den Erfordernissen
des staatlichen Zusammenlebens Rechnung zu tragen236 .
235 Nach ULRICH SCHEUNER setzt die demokratische Verfassung "eine vorbestehende Ordnung,
eine vorausgehende und fortbestehende Einigung voraus, in der sich die einzelnen Glieder der
Gemeinschaft auf gemeinsame Grundlagen geeinigt und in diesem Rahmen der Entscheidung
der Mehrheit unterworfen haben" (Das Mehrheitsprinzip in der Demokratie, in: Rheinisch-
Westfälische Akademie der Wissenschaften [Hg.], Vorträge G 191, 1973, S. 54). Zu der Voraus-
setzungsbedingtheit der Demokratie auch BÖCKENFÖRDE (N 85), § 22 Rn. 63 H. Zum Kon-
sensbedarf ULRICH SCHEUNER, Konsens und Pluralismus als verfassungsrechtliches Problem,
in: Günther Jakobs (Hg.), Rechtsgeltung und Konsens, 1976, S. 33 H.; JOSEF ISENsEE, Verfas-
sungsgarantie ethischer Grundwerte und gesellschaftlicher Konsens, in: NJW 1977, S. 545 H.;
HOFMANN (N 185), S. 87 H.
236 Zu den Voraussetzungen und Erwartungen der Verfassung ISENSEE (N 18), § 115 Rn. 1 H.,
163 H. (Nachw.).
92 Josef Isensee
237 Zur Relevanz der Nation und ihres Ethos für die Verfassung: DONATA KLUXEN-PY'n-IA,
Nation und Ethos, 1991, S. 119 ff.; DTTO DEPENHEUER, Solidarität im Verfassungsstaat,
Habilitationsschrift, Bonn 1992, Typoskript, S. 366 ff.; ISENSEE (N 18), § 115 Rn. 105 ff.
238 "Wenn eine Verfassung einen Staat verfassen soll, dann muß sie die Staatlichkeit der von ihr zu
verfassenden Gruppe voraussetzen.... Dies bedeutet, daß der Entschluß zur Staatlichkeit vor
der Verfassung liegt und seinen Sitz außerhalb derselben hat" (HERBERT KRÜGER, Ver-
fassungsvoraussetzungen und Verfassungserwartungen, in: Festschrift für Ulrich Scheuner,
1973, S. 285 [293]). Ähnlich: ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Entstehung und Wandel des
Rechtsstaatsbegriffs, in: Festschrift für Adolf Arndt, 1969, S. 53 (76). - Deutung des Rechts der
Demokratie als "Räume der Staatseinung": WALTER LEISNER, Staatseinung, 1991, S. 160 ff.
Das Volk als Grund der Verfassung 93
Die Verfassung der Freiheit, die sich von Staats wegen nicht erzwingen und
auch nicht ersetzen läßt, lebt aus der Zustimmung der Bürger. Das ist der
eigentliche Nährquell des Verfassungsstaates. Der Bedarf wird nicht ein für
allemal gestillt. Es kommt darauf an, daß ihr hier und heute hinreichend das
tägliche Brot bereitsteht, nicht aber darauf, ob sie in ihrer Frühzeit üppig leben
konnte oder darben mußte.
Der lebensnotwendige Zufluß an Konsens bedeutet nicht revolutionäres
Verfassungsfieber, demokratischen Gesinnungseifer, menschheitliche Ekstase.
Die Verfassungsurkunde ist ein staatliches Gesetz und keine weltliche Bibel239•
Sie dient der rechtlichen Ordnung des staatlichen Lebens und nicht der
Erbauung und Erhebung. Sie ist kein Gegenstand der Andacht, des Kultes, der
Katechese, der Erweckungspredigt. Es gibt keine allgemeine Bürgerpflicht, in
Fortsetzung altprotestantischer Bibelarbeit, sich permanent in die Verfassung
zu versenken und unablässig über sie zu reden.
Der Verfassungskonsens ist eine nüchterne Sache der Praxis. Er ergibt sich
daraus, daß die Bürger und die gesellschaftlichen Mächte, zu denen sie sich for-
mieren, ihre Chancen der Freiheit nutzen und die Bedingungen der Freiheit
239 Just diese Meinung geistert aber in der deutschen Staatsrechtslehre und Politikkunde. Sie kann
sich auf LUDWIG UHLAND stützen: »Die Verfassungsurkunde ist eine politische Bibel" (Kurze
politische Aussprüche, in: ders., Gesammelte Werke, hg. von Walter Reinöhl, o.J., 8. Bd.,
S. 57). Die Sakralisierung der Verfassung vollzieht sich allerdings bereits in der französischen
Revolution (dazu SCHMALE, N 33, S. 66 ff.). - Zu der besonderen Befindlichkeit der Deutschen
und ihrem»Verfassungspatriotismus": JOSEF ISENsEE, Die Verfassung als Vaterland, in: Armin
Mohler (Hg.), Wirklichkeit als Tabu, 1986, S. 1 ff.
94 Josef Isensee
aller respektieren. Der Konsens ergibt sich in der Regel aus konkludentem
Handeln, ohne daß es der großen oder der kleinen Worte bedürfte. Auch wenn
der Verfassungsstaat, treu seiner Herkunft aus der Aufklärung, sich als legiti-
mes und notwendiges Thema des Diskurses versteht und die Kritik nicht
scheut, weder die pragmatische noch die prinzipielle, hat er es nicht nötig,
Dauerthema des Diskurses zu sein. Man kann den Konsens auch zerreden.
Eine vitale Verfassung ist selbstverständlicher Bestandteil der Lebenswelt. Das
Ausbleiben einer Verfassungsdebatte kann Anzeichen dafür sein, daß der Staat
in guter Verfassung ist, wie Schiller es für den besten Staat feststellt:
",Woran erkenn' ich den besten Staat?' Woran du die beste
Frau kennst! daran, mein Freund, daß man von Beyden nicht spricht"240.
240 FRIEDRICH ScHILLER, Der beste Staat, in: ders., Sämtliche Werke (Cotta), 2. Bd., 1823, S. 230.
G. Juridische Bedeutung der Legitimation
Die Legitimation einer Verfassung aus dem vorrechtlichen Konsens ist bis-
her auf der Ebene der Verfassungstheorie erörtert worden. Die Frage bleibt, ob
sich daraus operationable Folgerungen für das Verfassungsrecht ergeben. Die
Antworten der Staatsrechtslehre fallen kontrovers aus; sie ergeben ein verwir-
rendes Bild. Aus der Fülle der disparaten Meinungen schälen sich aber zwei
idealtypische Positionen heraus.
- Zum einen: die Frage nach dem Grund der Verfassung ist juridisch irrele-
vant. Das Verfassungsrecht bildet ein in sich geschlossenes System (Legali-
tätsmodell).
- Zum anderen: die Verfassung entwickelt sich mit der Gesellschaft, die sie
hervorbringt. Der vorrechtliche Grund der Verfassung ist auch rechtserheb-
lich. Das Verfassungsrecht stellt ein offenes System dar (Legitimitäts-
modell)241.
Im geschlossenen System der Legalität hat der vorrechtliche Grund der Ver-
fassung keinen Einfluß auf ihren rechtlichen Inhalt und auf ihren rechtlichen
Geltungsanspruch. Die Verfassung soll den politischen Prozeß rechtlich kana-
lisieren. Also darf sie sich ihrerseits nicht in diesen Prozeß hineinziehen lassen.
Sie verkörpert das Beharrende im Wechsel der parlamentarischen Mehrheits-
verhältnisse, der gesellschaftlichen Strömungen, der politischen Reizzustände.
Öffentliche Meinung und Zeitgeist, ohnehin diffuse Größen, sind nicht Richt-
maß der Verfassungsinterpretation. Das Volk artikuliert sich als verfaßte Größe
in Wahlen und Abstimmungen und führt so der parlamentarischen, gewalten-
wenn andere Abhilfe nicht möglich ist (Art. 20 Abs. 4 GG)245. Im Grenzfall,
in dem die überwältigende Mehrheit der Bürger der Demokratie überdrüssig
würde, könnte das verbliebene Fähnlein der Verfassungstreuen die wahre Ord-
nung verteidigen und im Namen der Demokratie ein Minderheitsregime eta-
blieren.
Spätestens an diesem Punkte zeigt sich, daß das Verfassungsrecht sich nicht
reinlich von der Realität ablösen läßt, auf die es sich bezieht. Eine Verfassung
der Demokratie, die nicht mehr Demokraten in hinlänglicher Zahl und Kraft
findet, verliert ihre Wirksamkeit und läuft leer in ihrem Geltungsanspruch.
Hier setzt das Legitimitätsmodell ein. In ihm vollzieht sich ein Paradigmen-
wechsel vom normativen Geltungsanspruch zur realen Wirksamkeit der Ver-
fassung, zugleich von der Verfassungsnorm als solcher zu ihrer Apperzeption
durch Auslegung, Vollzug, Konkretisierung.
Auch der streng normativistische Interpret kann sich die gängige Aus-
legungsmaxime zu eigen machen, daß er bei mehreren mit Wortlaut, Dogmen-
und Entstehungsgeschichte vereinbaren Auslegungen derjenigen den Vorzug
zu geben habe, welche »die juristische Wirkungskraft der Norm am stärksten
entfaltet"246. Die Maxime zielt darauf ab, dem rechtlichen Geltungsanspruch
zu tatsächlichem Erfolg zu verhelfen. Sie kann jedoch auch Willkür des Inter-
preten entbinden, wenn er sie nicht auf das Ganze der Verfassung bezieht, son-
dern auf einzelne Normen, und wenn er diesen auf Kosten der übrigen die
größere Effektivität verschaffen will. Hier wird der Verfassungsgehorsam zu
einer Sache der Selektion.
Ähnliche Ambivalenz eignet dem Argument, die Verfassung solle die Bürger
zum Staat integrieren. In der Tat hat sie auch die Aufgabe, die stets prekäre
245 Zur Auslegung: HANS SCHNEIDER, Widerstandsrecht im Rechtsstaat, 1969, S. 8 ff.; JOSEF
ISENSEE, Das legalisierte Widerstandsrecht, 1969, S. 13 ff.; RUDOLF DOLZER, Der Widerstands-
fall, in: HStR Bd. VII, 1992, § 171 Rn. 11 ff.
246 So mit Bezug auf Grundrechtsnormen RICHARD THOMA, Die juristische Bedeutung der
grundrechtlichen Sätze, in: Hans earl Nipperdey (Hg.), Die Grundrechte und Grundpflich-
ten der Reichsverfassung, 1929, 1. Bd., S. 1 (9). Zustimmend: BVerfGE 6, 55 (72). Allgemein
auch KONRAD HESSE, Die normative Kraft der Verfassung, 1959, S. 6 ff.; HANS HUGO KLEIN,
Bundesverfassungsgericht und Staatsraison, 1968, S. 25, 32. Kritisch: WALTER LEISNER, Effi-
zienz als Rechtsprinzip (1971), in: ders., Staat, 1994, S. 53 (59 f. und passim).
98 Josef Isensee
Einheit des Gemeinwesens herzustellen, zu fördern und zu festigen 247 • Das ist
zunächst nur eine Erkenntnis der Verfassungs theorie. Der Überstieg in die
Verfassungspraxis erfolgt aber, wenn daraus die Interpretationsregel abgeleitet
wird, daß die Auslegung der Verfassung den Zustand politischer Ordnung und
Einheit nicht in Frage stellen und vollends den Staat der Auflösung nicht
näherbringen dürfe 248 • Das ist die Adaption des Satzes "fiat iustitia, pereat
mundus", eine negative Grenze des Interpretationsspielraums. Dagegen wird
ein positiver Spielraum eröffnet, wenn der Exeget die Verfassung nur als Mittel
behandelt zu dem Zweck, die "Lebenstotalität" des Staates zu stiften und zu
wahren, im Umgang mit der Verfassung die "Auswirkung aller Lebenskräfte
des Volksganzen", von welcher der Integrationserfolg abhängt, in Rechnung
zu stellen und im Konfliktfall die rechtliche Bindung an die Verfassung gerin-
ger zu achten als den primär aufgegebenen Integrationserfolg. "Dieser aufge-
gebene Erfolg mag dabei vom politischen Lebensstrom vielfach in nicht genau
verfassungsmäßigen Bahnen erreicht werden: dann wird die durch die Wert-
gesetzlichkeit des Geistes wie durch die Artikel der Verfassung aufgegebene
Integrationsaufgabe trotz dieser einzelnen Abweichungen dem Sinn auch der
Verfassung eher entsprechen als ein paragraphengetreueres, aber im Ergebnis
mangelhafteres Verfassungsleben "249.
Über das Integrationsargument dringen die jeweils herrschenden politischen
Strömungen und Stimmungen in das Verfassungsrecht ein. Das Verfassungs-
gesetz öffnet sich ihnen vor allem in den abstrakten Normen, den Schleusen-
begriffen250, den dilatorischen Formelkompromissen251 , den unaufgelösten
Antinomien. Vollends bleibt das Verfassungsrecht beweglich und anpassungs-
fähig über die Abwägungen, die bei seiner Anwendung erfolgen. Da die Ver-
fassung wenig darüber sagt, welches Gewicht die in die Abwägung einzubrin-
genden Werte haben, kommt es auf die mehr oder weniger subjektiven, zeit-
bezogenen Maßstäbe der Personen an, die jeweils die Waage bedienen. Unbe-
grenzte Abwägungen führen zur Auflösung des Verfassungsrechts überhaupt.
Die Verfassung entwickelt sich in ihrer Auslegung, ohne daß ihr Wortlaut
sich ändern müßte und daß die institutionellen Sicherungen ihrer Identität, wie
Art. 79 GG sie enthält, ein Hindernis bildeten252• Sie bleibt der gesellschaft-
lichen Entwicklung nahe und muß nicht fürchten, den Kontakt zur Wirklich-
keit zu verlieren und der Gesellschaft fremd zu werden. Dafür aber erhebt sich
die Gefahr, daß sie dem Zeitgeist vorbehaltlos synchronisiert wird, daß sie zum
bloßen Abbild der politischen Machtverhältnisse wird, nicht mehr fähig, sie zu
leiten und zu kritisieren, und daß es ihr ergeht wie Mephisto in der Walpurgis-
nacht: "Du glaubst zu schieben, und du wirst geschoben."
Die Funktion des gesellschaftlichen Konsenses wird hier ausgewechselt. Er
dient nicht mehr als Legitimationsgrundlage der Verfassung, sondern als deren
Direktive. Sie sucht ihn nicht mehr, sondern sie paßt sich ihm an. Ihre nor-
mative Identität wird nicht mehr von ihm unterfangen, sondern ihm anheim-
gegeben.
Damit wird der Weg frei, daß jedermann nach politischem Belieben die
Legalität der Verfassung gegen deren Legitimität ausspielen und geltende Ver-
fassungsnormen unter Berufung auf den Geltungsgrund in Frage stellen kann.
Es ist ein leichtes, an ein extrakonstitutionelles "Volk" zu appellieren gegen die
verfaßte Volksherrschaft und ihre demokratisch ausgewiesenen Herrschafts-
akte. Denn das Referenzsubjekt ist stumm. Wer will, kann seinen ("wahren")
Willen der Demoskopie entnehmen, ihn aus Großdemonstrationen heraus-
hören, in Massenorganisationen oder in einer Fonschrittsavantgarde verkörpert
finden. In einer freien Gesellschaft wird keine Gruppe daran gehindert, sich zu
berühmen: "Wir sind das Volk". Der Kampfruf demokratischen Aufbegehrens
gegen eine Parteidiktatur, versetzt in den Verfassungsstaat, gerät zur Ent-
legitimationsparole des Jakobinertums gegen die parlamentarische Demokratie.
Die virtuell allseitige Selbstermächtigung wird verfassungstheoretisch über-
höht, wenn alle Erscheinungen des Gemeinwesens als Verfassung, jedermann
als Verfassungsinterpret und jeder Verfassungsinterpret als Verfassunggeber
qualifiziert wird253 • Die Distinktionen zwischen Legitimität und Legalität,
zwischen Verfassunggebung und Verfaßtheit, zwischen Politik und Recht,
zwischen Sein und Sollen gehen auf in Integrationstotalität.
252 PETER HÄBERLE hält auf der Grundlage seines »offenen" Verfassungsverständnisses Verfas-
sungsdurchbrechungen in bestimmtem Umfang - unter Umgehung des Art. 79 Abs. 2 GG -
als »Auflockerungen" der Verfassung für zulässig (Zeit und Verfassung, N 106, S. 132 f.).
253 Vgl. HÄBERLE (N 99), S. 9 ff. S. auch o. B V 2 c.
100 Josef Isensee
254 ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Zur Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation
(1967), in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 92 (112).
Das Volk als Grund der Verfassung 101
255 Vgl. die Hinweise des Bundesverfassungsgerichts zum Verfassungsschutz des ungeborenen
Lebens mit nichtobrigkeitlichen Mitteln des Staates: BVerfGE 88, 203 (bes. 261). - Allgemein
ISENSEE (N 18), § 115 Rn. 262 H.
H. Legitimationssubjekt: Volk - Gesellschaft - Bürger
256 Zum VolksbegriH der Demokratie: BVerfGE 83, 37 (50 H.); 83, 60 (71 H.); BÖCKENFÖRDE
(N 85), § 22 Rn. 26 H.; JOSEF ISENSEE, Abschied der Demokratie vorn Demos, in: Festschrift
für Paul Mikat, 1989, S. 705 H. (Nachw.).
Das Volk als Grund der Verfassung 103
257 Kritik an einer Reduplikation des Volkes als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt: STEINER
(N 7), S. 214 H., 220 H.
258 Zur Unterscheidung von Staat und Gesellschaft: ERNST-WOLFGANG BÖCKENFÖRDE, Die
Unterscheidung von Staat und Gesellschaft als Bedingung individueller Freiheit, in: Vorträge
der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften Q 183, 1973; ders. (Hg.), Staat und
Gesellschaft, 1976; HANS HEINRICH Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in:
HStR Bd. I, 1987, § 28. -Die Gesellschaft wird von PETER HÄBERLE im Zuge einer "Plurali-
sierung" in die Verfassunggebung einbezogen (N 99), S. 2 H., 15 H.
259 Ausnahmen sind die im Inland lebenden Ausländer, die zur Gesellschaft, nicht aber zum Volk,
und die im Ausland lebenden Staatsangehörigen, die zum Volk, nicht aber zur Gesellschaft
gehören.
104 Josef Isensee
260 Zur Terminologie: »Staatsbürger" und »Staatsangehörige" sind synonym. Einen engeren Kreis
bilden die wahlberechtigten Aktivbürger. Das Wort »Bürger" aber wird heute durchwegs in
einem untechnischen, weiteren Sinne verstanden als die staatszugewandte Seite des Menschen.
Der Unterscheidung von Staatsbürger und Grundrechtsträger korrespondiert das hergebrachte
Begriffspaar citoyen und bourgeois, freilich wird der erstere in einem positiven, der zweite in
einem negativen Sinne bewertet.
261 Zu den verfassungsintemen Legitimationsquellen und dem korrespondierenden Freiheitsver-
ständnis: JOSEF ISENSEE, Grundrechte und Demokratie - Die polare Legitimation im grund-
gesetzlichen Gemeinwesen, in: Der Staat 20 (1981), S. 161 H.
262 GÖRG HAVERKATE hält allein die Individuen für maßgeblich sub specie der verfassunggeben-
den Gewalt, nicht das Volk (Verfassungslehre, 1992, S. 332). Damit bleibt er sogar hinter den
individualistischen Gesellschaftsvertragskonstrukten des 17. und 18. Jahrhunderts zuriick.
I. Konservierung des demokratischen Mythos?
Das Volk als Grund der Verfassung? Die Frage ist zu bejahen, doch nur
unter dem Vorbehalt, daß "Volk" nicht im rechtlichen Sinne verstanden wird,
sondern in einer weiten Bedeutung, in der die staatsrechtlichen Unterschei-
dungen zwischen Volk, Gesellschaft und einzelnen Bürgern aufgehoben
werden. Eine solche Vereinfachung kann als Brücke zum Mythos vom Volk als
Verfassunggeber dienen und Divergenzen wie Konvergenzen verdeutlichen.
So mag denn das Volk auch als "Verfassunggeber" figurieren. Doch ist es
deshalb nicht jener Übergesetzgeber, der die Verfassung erläßt und in Geltung
setzt, sondern das Legitimationssubjekt, das ihr Wirksamkeit gibt. Es steht
denn auch nicht an ihrem historischen Anfang. Vielmehr ist es mit ihr gegen-
wärtig und fortdauernd tätig als die Quelle ihres Geltungserfolges. Als Subjekt
ursprunghafter, schöpferischer Freiheit führt es die Verfassung zum Geltung-
erfolg dadurch, daß es sich an sie bindet. Es verwirklicht seine Freiheit, indem
es die Verfassung annimmt; aber es büßt seine Freiheit dabei nicht ein. Es geht
nicht auf in seiner Verfaßtheit. Damit aber bleibt vom Mythos des pouvoir
constituant nicht zuletzt das Menetekel für den Verfassungsstaat, daß er sich
des Grundes, auf dem er baut, nie endgültig sicher sein kann.
Doch der Mythos hat ausgedient. Was an verfassungstheoretischer Substanz
in ihm steckt, läßt sich überleiten in eine Lehre von der Rechtfertigung, der
Geltung und der Wirksamkeit der Verfassung, eine Lehre, die auf politische
Ikonen, auf pseudoreligiöse Überhöhung und pseudotheologische Deduktion
schadlos verzichtet.
Der Mythos bleibt jedoch gegenwärtig in den Verfassungs texten, die mit der
invocatio populi anheben und sich auf das "Volk" als ihren Urheber berufen.
Er zeitigt deshalb nicht juridische, wohl aber symbolische Relevanz. Er sym-
bolisiert die verfassungsstaatliche Tradition und damit den Zusammenhang mit
den Idealen von 1789. Die Verfassung will den weiland revolutionären Kampf-
begriff besetzen, um ihn in ihren Dienst zu nehmen, als Ausweis ihrer Legiti-
mität, und um so zu verhindern, daß er in die Hände ihrer Widersacher fällt
und gegen sie gewendet wird263 • Sie riskiert jedoch, daß diese die Mythen-
263 Ähnlich ist die Inanspruchnahme des Begriffs der Revolution für ein etabliertes Regime, das
106 Josef Isensee
aus einer Revolution hervorgegangen ist und nun verhindern will, seinerseits Ziel einer Revo-
lution zu werden. Wenn es den Begriff der Revolution für sich auf Dauer monopolisien,
brandmarkt es seine Feinde als Gegenrevolutionäre.
Veröffentlichungen
der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaften
VOTtTigeG GEISTESWISSENSCHAFTEN
HeftNr.