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Markus Schwenkreis (Hg.

), Compendium
Improvisation – Fantasieren nach historischen
Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts
(= Scripta, Bd. 5), Basel: Schwabe 2018
Schlagworte/Keywords: Choral; chorale; Fantasie; fantasy; figured bass; Fuge; fugue; Generalbass;
Improvisation; partimento; procedural knowledge; prozedurales Wissen

Improvisation im Musikstudium – das scheint Schola Cantorum Basiliensis (SCB) bzw. zur
auf den ersten Blick kein neues Thema zu sein. dort angesiedelten FBI: Florian Bassani, Jörg-
In der Kirchenmusik, im Jazz und beim klavier- Andreas Bötticher, Markus Jans, Johannes
praktischen Spiel wird improvisiert. Nicht zu Menke, Nicoleta Paraschivescu, Annette Un-
vergessen das Spielen von Kadenzen und das ternährer-Gfeller und Jean Claude Zehnder.
mehr oder weniger geliebte Generalbassspiel in Die Organisten Rudolf Lutz und Gaël Liardon
der Musiktheorie. Wer nun glaubt, das vorlie- setzten erste Impulse für einen Austausch von
gende Compendium Improvisation würde in Unterrichterfahrungen, wobei ersterer sowie
einer dieser Traditionen stehen, der irrt. Der Schwenkreis mit jeweils sechs Beiträgen die
Herausgeber Markus Schwenkreis und seine Hauptautoren des großformatigen Compen-
Autor*innen verfolgen ein ganz und gar ande- diums sind.
res Ziel. Nicht die Ergänzung der oben genann- Das Inhaltsverzeichnis des 408 Seiten um-
ten Studien durch ein wenig Improvisation ist fassenden Werkes zeigt die Bündelung der
beabsichtigt. Vielmehr soll durch die Vermitt- 25 Beiträge zu fünf Kapiteln: 1. Generalbass,
lung einer besonderen improvisatorischen 2. Figuration und Variation, 3. Partimento, 4. Choral
Sichtweise ein grundsätzlich anderer Zugang und 5. Präludium und Fuge – Die Kunst des Fan-
zur historischen Musikpraxis ermöglicht wer- tasierens.
den. Dem Vorwort des Herausgebers wird ein
Wie im Untertitel angedeutet, basiert das programmatisches Zitat vorangestellt, das Kon-
Buch auf historischen Quellen des 17. und fuzius zugeschrieben wird: »Erkläre mir und
18. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt steht aber ich vergesse. Zeige mir und ich erinnere. Lass
nicht primär das Zusammentragen von histori- es mich tun und ich verstehe.«
schen Informationen, sondern die Aneignung Sehr zutreffend wird auf einen gewissen
praktischer Fähigkeiten. Mit der höchst lesens- Anachronismus des derzeitigen Musiklebens
werten Publikation wird ein tiefer Einblick in hingewiesen: Auf der einen Seite bemühe man
eine Musizierpraxis gegeben, welche denen sich um eine historisch informierte Auffüh-
eher fremd ist, die ihre »historischen Informa- rungspraxis, auf der anderen Seite stünde im-
tionen« ausschließlich den musikwissenschaft- mer noch die Interpretation der großen Meis-
lichen Quellen entnehmen. terwerke in einer Art und Weise im Zentrum
Schwenkreis betont im Vorwort, dass ohne der Ausbildung, die für die Zeit vor 1800 bei
den regelmäßigen Austausch über methodische weitem nicht angemessen sei. Wichtiger sei die
Fragen innerhalb der Forschungsgruppe Basel Wiederbelebung der schriftlosen Musik, denn
für Improvisation (FBI) die Entstehung des Com- die schriftlich überlieferten Werke aus dieser
pendiums nicht denkbar gewesen wäre. Und so Zeit müssten mit der »Brille des Improvisators«
treten neben Schwenkreis mit Nicola Crumer, betrachtet werden (1).
Emmanuel Le Divellec und Sven Schwannberger Ebenfalls sehr zutreffend wird eingeräumt,
drei weitere Mitglieder dieses FBI-Kollektivs als einfachste Zusammenhänge ließen sich gege-
Autor*innen in Erscheinung. Aber auch die benenfalls besser am Instrument als in einem
anderen neun Beitragenden stehen durch Stu- schriftlich überlieferten Text demonstrieren. In
dium oder Lehre in enger Verbindung zu der der Tat verweigert sich die ›oral tradition‹, der

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diese Improvisationspraxis entstammt, dem Insgesamt wird das Konzept verfolgt, zu-
Medium Buch. 1 nächst eine strenge Orientierung an konventio-
Den grundlegenden Ansatz wird man gut nellen Generalbass-Methoden zu geben und
nachvollziehen können. Spielarten der Impro- dann im Verlaufe des Buches diese »Leitplan-
visation prägten bis zum Ende des 19. Jahr- ken« mehr und mehr zurückzunehmen um
hunderts die gesamte Praxis sogenannter klassi- schließlich zur »Königsdisziplin« der Fugenim-
scher Musik. Insofern könne – so die Feststel- provisation zu gelangen (15). Dabei sei das
lung von Nicola Cumer – der historisch infor- analytische Hören von großer Bedeutung, denn
mierte Zugang zu älterer Musik auf die Erfor- das Studium entsprechender Werke müsse
schung improvisatorischer Verfahren nicht keinesfalls immer nur über die Analyse des
verzichten. 2 Diese Kunst werde »vor allem Notentextes erfolgen (17). Improvisation dürfe
durch den direkten Kontakt zwischen Lehrer aber durchaus nicht als ein rationaler Vorgang
und Schüler am Instrument vermittelt« (4). missverstanden werden, sondern könne durch-
Trotz dieser berechtigten Bedenken gegen das aus auch in einem rauschähnlichen Bewusst-
Medium Buch haben sich die Autor*innen seinszustand ausgeführt werden und führe im
erfreulicherweise zum Verfassen ihrer Texte Idealfall zu einem Stadium der Selbstverges-
durchgerungen. senheit, zu einem Flow (19).
Die meisten Quellen zur Improvisation,
welche in diesem Buch eine breite Darstellung KAPITEL 1: GENERALBASS
erfahren, liegen selbstverständlich ›unterhalb
des höchsten Gipfels der Musik‹. Im Mittel- Schwenkreis beginnt den Hauptteil seines Kapi-
punkt steht zunächst eine grundlegende Ent- tels mit einem starken Votum für die Bedeutung
wicklung von handwerklichen Fähigkeiten. des Generalbasses. Ob dies allerdings bezogen
Dazu bietet das Lehrbuch unzählige und viel- auf Bachs vielfältiges Musikdenken ganz so
fältig angelegte praktische Übungen. Das zutrifft, wie vom hier zitierten zweitältesten
Compendium verfolgt aber darüber hinaus Bachsohn behauptet (22), ist von namhaften
auch das Ziel, künstlerische Absicht und Af- Bachforschern bezweifelt worden. 3
fektausdruck ebenfalls zu berücksichtigen (5). Die nachfolgende Systematik des ersten Ka-
In einem einführenden Kapitel führt Schwenk- pitels zu den Schlüssen, Gängen und Sätzen
reis Quellen zu den sogenannten »Organisten- entnimmt Schwenkreis der Anleitung zu der
proben« auf. Für einen Organisten galt es als musikalischen Gelahrtheit von Jakob Adlung
eine »erbärmliche Sache«, wenn man nicht in (29). Eine ähnliche Methodik weist der Autor
der Lage war, Musik zu improvisieren (9). In für die neapolitanische Partimentotradition
diesem Zusammenhang galt die Unterweisung nach (31). Bekanntlich zeigten sich zwischen
im Literaturspiel in der ersten Hälfte des Komposition und Improvisation bis zur Mitte
18. Jahrhunderts niemals als Selbstzweck, son- des 18. Jahrhunderts vielfältige Wechselwir-
dern diente vor allem dazu, sich bei seinem kungen. Aus einer Grafik (32) geht hervor, dass
eigenen kreativen Schaffen durch andere Mo- aus den Kompositionen durch Vereinfachung
delle und Einfälle anregen oder korrigieren zu und Entfigurierung abstrakte Satzmodelle ex-
lassen (12, 14). Diese auch von Jakob Adlung trahiert werden können, die dann auf dem
(1758) bezeugte Methodik spielt für das vorlie- Wege der Improvisation durch Transformation
gende Compendium eine grundlegende Rolle. und Figuration wieder zu Musik werden. Der
Kreislauf kann geschlossen werden, indem
wiederum durch Verschriftlichung und Nach-
1 Schwenkreis bestätigt an anderer Stelle, es sei korrektur Kompositionen entstehen. Im Mittel-
unmöglich, den »in lebendigem Dialog erfol- punkt der musiktheoretischen Auseinanderset-
genden Wissenstransfer einer oralen Tradition« zung steht die praktische Erprobung und das
– wie er in der Partimentotradition stattgefun-
den habe – zu verschriftlichen (2012, 309). Der
vermeintliche Umweg über die Praxis sei der 3 Schulze 1988, 469; Schulze spricht sogar von
beste Weg, diese alte Kunst »aus ihrem Inners- dem »Problem der gelegentlichen Unauf-
ten heraus zu verstehen« (ebd., 310). richtigkeit des zweitältesten Bachsohnes«
2 Vgl. Haselböck 1966. (ebd., 470), vgl. Felbick 2012, 161–164.

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Ausprobieren dieser Satzmodelle am Instru- tischen vierten Stufe (110). Eine solche beson-
ment, wobei die eigene »Hörvorstellung und dere Kategorie ist sinnvoll, denn diese Strebe-
die grifftechnische Realisation Hand in Hand akkorde haben die Gemeinsamkeit, nicht
gehen« (33). Die Übersicht zu den wichtigsten sprungweise verlassen werden zu können. Die
Satzmodellen des Generalbasszeitalters regt zu bei Schwenkreis vielfach erscheinende neue
praxisorientierten Übungen an (34f.). Im Ab- Begrifflichkeit deutet auf ein neues musikali-
schnitt zu den Schlüssen wird vielfach auf sches Denken, welches sich von bisherigen
Georg Muffats Schrift Regulae Concentuum theoretischen Erwägungen und Beschreibungen
Partiturae (1699) Bezug genommen, denn Muf- unterscheidet. Funktionstheoretische Begriffe,
fat äußert sich dort umfassend und systematisch die von Puristen im Zusammenhang mit der
zur Kadenzthematik (42–55). Der 13-taktige Barockmusik gerne als anachronistisch ge-
sogenannte »Dandrieu-Parcours« (42, 44), eine brandmarkt werden, werden hier zielführend
Kadenzfolge mit Zwischenstationen auf den angewandt, z. B. wenn von zwischendomi-
wichtigsten Haupt- und Nebenstufen in Dur, nantischen Wendungen die Rede ist. Offen-
dient als Übungsgrundlage für mannigfaltige sichtlich ist den Autor*innen das praktische
Variationsübungen. Ergebnis des Musikdenkens wichtiger als eine
Insgesamt bietet das Buch schier unzählige terminologisch-historisch »exakte« Ausdrucks-
Beispiele für satztechnische Konstellationen weise (116). Die Autor*innen ermutigen aber
aus der Originalliteratur und zeigt vielfältige auch die Leserschaft, eigene ganz persönliche
Wege auf, die große Zahl der zum Teil kom- Namen zu suchen (70).
plexen Tonbeziehungen zu kategorisieren, so Sehr überzeugend ist die in diesem Zusam-
beispielsweise die hervorragende Matrix zu menhang angewandte Methodik, nach einer
den möglichen Klangfolgen, die aus einer kurzen Übersicht den entsprechenden Begriff
Bassdiminution der ›cadenza doppia‹ resultie- zu diversen Sequenzen zu erläutern und mit
ren können (62). Auf viele Möglichkeiten für Literaturbeispielen anschaulich zu machen und
den kreativen weiteren Umgang mit Satzmo- dann die »Regula« in Form eines Notenbei-
dellen wird hingewiesen (65). spiels mit einem passenden Partimento aufzu-
Im Abschnitt zu den Gängen und Sequen- führen (71). Ausführungen zur Oktavregel, zum
zen heißt es, diese stünden den meisten Spie- Orgelpunkt und den Eröffnungsmodellen dür-
lern zwar wie ein passiver Wortschatz einer fen in einer solchen Darstellung nicht fehlen
Fremdsprache zur Verfügung. Wer aber eine (103–131).
barocke Musiksprache wirklich fließend be-
herrschen wolle, müsse sich die Grundmodelle KAPITEL 2: FIGURATION UND VARIATION
als einen aktiven Wortschatz aneignen. Die
entsprechenden Modelle müssten »begriffen« Nach einem kurzen Beitrag, der sich zu Beginn
und in ihren zahlreichen Varianten in mög- des relativ knappen 2. Kapitels vornehmlich
lichst vielen Tonarten erarbeitet werden (67). der Analyse von Klauseldiminutionen widmet
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Au- (134–139) folgen zwei Workshops zu ostinaten
tor*innen den zum Teil sehr kreativen Wort- Bässen. Zunächst steht der ›Lamentobass‹ bzw.
schöpfungen und Benennungen von bislang die ›Passacaglia‹ im Mittelpunkt. Die Übungen
nicht bewusst erfahrenen Phänomenen. Bei- zu den zehn kurzen Abschnitten sind auch von
spielsweise leuchtet der Ausdruck »Gabelgriff- Anfängern gut umzusetzen. Besonders beein-
Kanon« (94) denjenigen sofort ein, die diese druckend ist der Bezug zu einem Werk von
zweistimmigen Modelle gespielt haben. Das Henry Purcell aus den Ten Sonatas in four parts
immer wieder erkennbare Bemühen um die (150). Der Komponist lässt in diesem fünftakti-
Schaffung neuer Kategorien zeugt von einer gen Ostinato die Kadenz an einigen Stellen
intensiven Beschäftigung mit der Thematik. wandern. Dies führt zu Kadenzabschlüssen an
»Strebeakkorde der Oktavregel« sind demzu- unterschiedlichen Stellen des Ostinatos und
folge nicht nur die auflösungsbedürftigen do- damit zu interessanten Asymmetrien. Durch die
minantischen Akkorde, sondern dazu zählt dargestellte Reduzierung dieses kompositori-
auch der Akkord mit der Dissonanz zwischen schen Prinzips auf einen einfachen Gerüstsatz
der Quinte und der Sexte auf der subdominan- ist dieser kompositorische »Trick« sehr gut

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nachvollziehbar. Es ist durchaus positiv zu anfangen als mit der ›korrekten‹ Beschreibung
werten, dass Schwenkreis hier auf die Detail- sämtlicher tonaler Verhältnisse.
analyse verzichtet, denn so kann das für diese
Thematik Wesentliche herausgestellt werden. KAPITEL 3: PARTIMENTO
Außerdem gibt Schwenkreis in seinem Text
Ausführungen zum dreifachen Kontrapunkt Nach den Erläuterungen zur Geschichte und
(152f.). 4 Lehrmethode der neapolitanischen ›Partimen-
Auf der Basis einer Idee von Rudolf Lutz topraxis‹ im nachfolgenden dritten Kapitel folgt
folgt nun sein zweiter Workshop, dieses Mal ein praxisorientierter Lehrgang von Rudolf Lutz.
zum ›Folia‹-Bass. Durch die Einführung von Selbstverständlich sei eine Erfahrung im Gene-
verschiedenen gut nachvollziehbaren Begriffen ralbassspiel unabdingbare Voraussetzung für
wie beispielsweise »5-8-Schwebestimme« ge- einen solchen Unterricht. Die Fähigkeit, beim
lingt es dem Autor, den Improvisationsschü- bloßen Anblick einer unbezifferten Basslinie
ler*innen konkrete Spielanweisungen an die die möglichen Oberstimmen innerlich zu hö-
Hand zu geben (155). Die Lernenden müssen ren, gelte als didaktisches Ziel. Diese Fähigkei-
das Grundmodell auswendig beherrschen und ten wurden in den Konservatorien in Neapel im
mit der von ihren Lehrer*innen verwendeten Laufe eines etwa zehnjährigen Studiums er-
Spezialterminologie vertraut sein. So lässt sich worben (166, 167). Weiterhin sei eine stilge-
erahnen, wie ein solches Gespräch im konkre- mäße Ausführung der ›Partimenti‹ ohne eine
ten Improvisationsunterricht stattfinden könnte. entsprechende Kenntnis der italienischen Tas-
Dazu wäre ein ins Internet eingestelltes exem- tenliteratur kaum vorstellbar (172). Die Bewäl-
plarisches Video eines solchen Unterrichtsdia- tigung dieses recht umfangreichen Lernpen-
logs als multimediale Ergänzung des Buches sums führe zu einer hervorragenden Schulung
hilfreich gewesen. des kontrapunktischen Denkens und dem
Der Autor gibt die Empfehlung, sich beim gründlichen Verständnis musikalischer Zu-
Üben mit geschlossenen Augen voll und ganz sammenhänge. Lutz hat sich zweifellos intensiv
auf das Hören zu konzentrieren (155). Dieser mit diesem Nukleus der barocken Musik be-
primär auditive Ansatz entspricht der Denkwei- schäftigt. Deshalb ist ihm auf der Basis dieser
se der oralen Kultur, die immer wieder als improvisatorischen Kompetenz ein tiefer Ein-
Richtschnur eines derartigen Unterrichtes be- blick in diese Epoche möglich. Diese an der
tont wird. Bestimmte Bewegungsabläufe beim Improvisation orientierte »Ausbildung, die ei-
Improvisationsvorgang werden als automatisiert nen weiten Erfahrungshorizont für Lernende
bezeichnet, verbunden mit dem kreativ formu- und Ausführende erschließt«, empfiehlt er allen
lierten Hinweis, man sollte in solchen Momen- Musiker*innen (178). Das bedeutet im Klartext
ten auf »Autopilot« umschalten (158). Die An- eine Verschiebung der in erster Linie auf tech-
regung, eine ›Folia‹ beispielsweise auch im nische Höchstleistung angelegten heutigen
Duo mit einem/r weiteren Spieler*in eines Me- Standardausbildung im Curriculum eines Mu-
lodieinstrumentes zu improvisieren, eröffnet sikstudiums dahingehend, dass das Fach Im-
die Möglichkeit, den Improvisationsunterricht provisation ganzheitlich und intensiv, nach der
nicht nur auf Tasteninstrumente zu beschrän- im Compendium beschriebenen Weise gelehrt
ken (160), wie dies den Inhalt des Buches größ- und gelernt wird.
tenteils bestimmt. Bei der Anleitung zur Improvisation einer
Die musiktheoretischen Formulierungen des Suite kommt den Menuetten nicht die zentrale
Compendiums sind meist auf Einfachheit und Rolle zu, wie sie beispielsweise durch Joseph
konkrete Umsetzbarkeit hin angelegt. Das ent- Riepel bezeugt ist. Der mit vielen Musikbei-
spricht durchaus dem Musikdenken improvisie- spielen erläuterte Text bezieht sich im Wesent-
render Musiker*innen, denn diese können lichen auf die Lehrmethode, die Friedrich Er-
möglicherweise mit einer praxisbetonten For- hardt Niedt im zweiten Teil seiner Musicali-
mulierung wie »Vorhaltsbildungen in den schen Handleitung darlegt. Aus ein und dem-
Gymelstimmen« (160, 161, Bsp. 8-B) mehr selben Partimento entstünden durch kleine
Anpassungen verschiedene Suitensätze (183).
Die Autorin Annette Unternährer-Gfeller über-
4 Vgl. Schwenkreis 2008, 104; Froebe 2010, 221.

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nimmt diese Methode zwar grundsätzlich von sierend am Instrument geschehen, wobei bei
Niedt, verfasste aber ein eigens für diesen Arti- bestimmten Aufgabenstellungen eine Ausfüh-
kel komponiertes Partimento. Die zudem bei- rung nur an der Orgel möglich ist. Die beim
gefügten Gerüstsätze sind beim Studium am Spiel erarbeiteten wenigen Takte sollten nach-
Instrument sehr hilfreich. Selbstverständlich folgend aus dem Gedächtnis aufgeschrieben
steht vor der konkreten Improvisation die inten- werden, um das Ergebnis in aller Ruhe kontrol-
sive Beschäftigung mit der Struktur des vorge- lieren zu können. Dass diese Arbeit sehr viele
gebenen Basses und den satztechnischen Ge- Stunden beansprucht und nicht beiläufig neben
gebenheiten. Dieser Harmonieablauf soll zuvor dem vermeintlich wichtigeren Literaturspiel
in allen möglichen Konstellationen ›durchde- erledigt werden kann, ist offenkundig. Der
kliniert‹ werden (186). Als Erweiterung der Autor mahnt zu großer Disziplin und räumt
Methode wird ein Rhythmus-Partimento vor- gerne ein, das konsequente Durcharbeiten der
gestellt, bei dem über dem Bass der Rhythmus vorgegebenen Muster sei durchaus eine große
einer möglichen Oberstimme notiert ist. Die Herausforderung, quasi eine »ermüdende Kno-
Methode der Orientierung an einem vorgege- chenarbeit« (217). Man müsse sie als notwen-
benen Rhythmus hätte beispielsweise bei der dige »Deklinationsübungen« verstehen. Dieser
Menuettimprovisation durchaus noch weiter der Grammatik entlehnte Begriff scheint für
ausgeführt werden können. Dabei wäre auch diese Aufgabenstellungen sehr zutreffend, denn
die Arbeit mit einstimmigen Menuettentwürfen aus einer Grundform entstehen hier und dort
sinnvoll gewesen, zumal diese in den musik- verschiedene weitere Gestalten, die jeweils
theoretischen Quellen viel häufiger zu finden einer gewissen Gesetzmäßigkeit folgen.
sind als ein sofortiger Einstieg in die Zweistim- Mit den Zeilenzwischenspielen in einer
migkeit. Choralbegleitung befasst sich ein relativ umfas-
Ein musikwissenschaftlich angelegter Bei- sender Beitrag von Jörg-Andreas Bötticher.
trag von Florian Bassani zu den Partimentofu- Diese Improvisationspraxis lässt sich durch
gen in deutschen Quellen bildet den Abschluss einige Quellen nachweisen, ist aber vielfach
des dritten Kapitels (199–209). auch umstritten. Kritische Stimmen äußerten im
18. Jahrhundert beispielsweise, »dass Organis-
KAPITEL 4: CHORAL ten in diesem Bereich mitunter offenbar ein
Tummelfeld für ihre kreativen improvisatori-
Beim vierten Kapitel werden vor allem die schen ›Ergüsse‹ sahen.« Dies könne in der sin-
verschiedenen Aspekte des protestantischen genden Gemeinde zur Verwirrung führen
Chorals behandelt, zu dem Rudolf Lutz zu- (229). Diese Thematik wird nur spezielle Inter-
nächst eine kurze Einführung gibt. Die Kunst essenten ansprechen. Man mag den folgenden
der Choralharmonisation könne »zum Brenn- Text von Rudolf Lutz, der ebenfalls unter-
punkt der barocken Kompositionslehre, zu schiedliche Möglichkeiten anhand von zwei
einer Art Wörterbuch der Affektdarstellung Choralzeilen demonstriert, als Fortsetzung der
werden.« Zweifellos können die tonalen Ver- ›Deklinationsübungen‹ betrachten. Auch diese
hältnisse in den Chorälen in der Renaissance Arbeit basiert auf dem Umgang mit verschie-
und Barockzeit »zum Urbild musikalischer denen Choralbausteinen. Diese werden in ei-
Prozesse« werden (213f.). ner tabellarischen Übersicht (247) und in einer
Die folgenden fünf Beiträge zeigen unter- Ergänzung von Markus Jans (250) sehr inhalts-
schiedliche Aspekte dieser Choralarbeit. Em- reich dargestellt. Sie seien auswendig zu spie-
manuel le Divellec schreibt, man müsse beim len und in die gebräuchlichsten Tonarten zu
improvisatorischen Prozess alle Möglichkeiten transponieren.
der Stimmführung nicht nur kennen, sondern Im folgenden Beitrag von Schwenkreis zu
man müsse sie auch können, das heißt spiel- den Variationstechniken der mitteldeutschen
praktisch beherrschen (217). Anhand der ersten Aria variata und Choralpartita demonstriert der
beiden Choralzeilen von »Herr Christ, der einig Autor seine hervorragende Unterrichtsmethode
Gotts Sohn« zeigt er 27 verschiedene homo- und Didaktik. Er setzt sich mit dem Vorwurf
phone und polyphone satztechnische Konstel-
lationen auf. Primär soll diese Arbeit improvi-

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Willi Apels 5 auseinander, die Variationen des rhythmische Vielfalt noch größer als die Schei-
späten 17. Jahrhunderts seien von einer gewis- demanns (271).
sen Formelhaftigkeit. Gerade diese einfachen Die komprimiert dargestellte Thematik wird
Variationsmuster hätten als handwerklich ge- übersichtlich gegliedert und die Ausführungen
diegene Vorbilder aber zu den »Pflichtübungen sind durch zahlreiche knappe Zitate aus der
des täglichen Improvisationsunterrichtes‹ ge- Originalliteratur leicht nachvollziehbar. Beson-
hört (251). Deshalb sei der Mangel an kompo- ders beeindruckend ist die Unterscheidung
sitorischer Fantasie für die pädagogische Ziel- zwischen den »kopfgesteuerten« Figuren und
setzung völlig ohne Belang. den eher intuitiv gefundenen Figuren. Erstere
Bei der Aria variata wird nicht nur der Bass, wirkten nicht nur stilfremd, sondern auch künst-
sondern auch die Oberstimme mehr oder we- lich. Durch intensives und konsequentes Üben
niger vorgegeben (251). So bildet sich ein kämen diese passenden Figuren dann aber
»zweistimmiges harmonisches Gerüst, welches automatisch »in die Finger«. Diese hier mitge-
in den einzelnen Veränderungen figuriert und teilte improvisatorische Erfahrung kann der
umspielt wird«. Schwenkreis führt dazu 32 Rezensent bestätigten.
Beispiele an und empfiehlt deren Studium. Zusätzlich zur eigentlichen Kolorierungs-
Ausgangspunkt der nachfolgenden Übungen ist thematik werden Hinweise zu fugierten Stimm-
ein schriftlich vorliegender dreistimmiger Ge- einsätzen gegeben, die am Anfang einer derar-
rüstsatz zu einem Choral in einer ›[1-2]- tigen Choralbearbeitung oder als Zwischen-
Disposition‹ (Melodie rechts, Bass und Mittel- spiele erscheinen können (273).
stimme links). Diese systematisch verwendete
Ausdrucksweise für die Verteilung der zu spie- KAPITEL 5: PRÄLUDIUM UND FUGE –
lenden Töne auf die Hände (bzw. das Pedal) ist
DIE KUNST DES FANTASIERENS
für die Praxis der Improvisation recht hilfreich
(vgl. diesbezügliche Ausführungen auf S. 2). Das letzte Kapitel behandelt Präludium und
Ebenso hilfreich sind die Kategorisierungen von Fuge als den höchsten Grad der Improvisati-
in der Regel viertönigen Sechzehntelmotiven onskunst. Der Autor Lutz berichtet, Präludien
inklusive einer zum Teil unkonventionellen, seien als ein Sammlerkabinett der verschie-
aber unmittelbar einleuchtenden Begrifflichkeit, densten Bautechniken zu verstehen, die in
zumal das »Frère-Jacques-Motiv« auch als Um- ihren Potenzialen erkundet werden sollten.
kehrung, Krebs oder Krebsumkehrung gedacht Diese unterschiedlichsten Ideen könnten für
werden kann und in dieser Stilistik häufig auf- eigene musikalische Schaffensprozesse nutzbar
tritt. Der Autor empfiehlt konkrete Übungen zu gemacht werden. Mit diesem Ansatz demons-
seinen systematischen Motivkategorien wie triert der Autor seine »historische Informiert-
z. B. eine »Tetrachord-Deklination« zu einem heit«, denn dem zeitgenössischen Opus-Begriff
vorher gegebenen Gerüstsatz (259). war die Plagiat-Idee noch äußerst fremd. Lutz
Der auf zwei Manualen und Pedal auszu- räumt ein, in der Praxis des Extemporierens
führende kolorierte Orgelchoral gehört zu den werde in der Regel mit relativ überschaubaren
Standardaufgaben einer traditionellen Organis- Modellen gearbeitet. Mit derartigen um 1700
tenausbildung. Die diesbezüglichen Ausfüh- bei Johann Christoph Bach (1673–1727) nach-
rungen von Le Divellec basieren auf Choralvor- weisbaren Kompositionen, einer Sammlung
spielen von Heinrich Scheidemann (1596– einfacher Präludien, beschäftigt sich nachfol-
1663) und Dietrich Buxtehude (1637–1707). gend Jean-Claude Zehnder. Sehr stiltypisch ist
Die Werke dieser Komponisten seien ideale in den vielfach anonym überlieferten Werken
Vorlagen, die sich gegenseitig ergänzten, die die Satztechnik durezze e ligature, in der es
allerdings auch eine stilistische Schnittmenge durch Überbindungen von Akkorden zur nach-
aufwiesen. Bei Buxtehudes Verzierungskunst folgenden schweren Zählzeit und gleichzeitig
werden wesentliche Manieren zum Ausdruck sich ändernder Bassstimme zu einer Vielzahl
eines Affektes verwendet. Somit ist dessen von mehrstimmigen Vorhaltsdissonanzen kommt
(297).
Zwar liefern Markus Jans und Rudolf Lutz
zum Thema Modulation zahlreiche Analysen,
5 Apel 1967, 629.

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allerdings steht die konkrete Anwendung im- les‹ zu sinnvollen musikalischen Einheiten
mer im Mittelpunkt. Der damit verbundene gefügt (335ff.). 6
auditive Vorgang wird in interessanten Details Der zweite Teil widmet sich den Grundla-
lebhaft auf erfrischende und fantasievolle Wei- gen der imitatorischen Improvisation, wobei zu
se erläutert, denn man spüre »im Korridor viel- der kontrapunktischen Gattung der ›Versetten‹
leicht etwas Zugluft vermischt mit Düften aus jeweils kleine Bausteine hinzugefügt werden
der Küche, betritt den neuen Raum, setzt sich und so komplexere Formen der ›Canzona‹
an den Esstisch…« (305). Die gelegentlich an- entstehen (341). Man möge aber zu Beginn
zutreffende terminologische Verwirrung zwi- nicht die Canzonen Frescobaldis als Muster
schen den Begriffen Ausweichung und Modula- betrachten, denn diese seien zwar als der Gip-
tion vermeidet Jans durch seine Definition der felpunkt der Gattung anzusehen, aber zunächst
Modulation als das auditiv wahrgenommene zu komplex (342).
»Ablösen eines vorhandenen durch ein neues Dieser Abschnitt stellt eine gute Vorübung
tonales Zentrum« (305). Nach den notwendi- für den nachfolgenden Beitrag »Übungsfelder
gen theoretischen Erörterungen folgt ein prakti- zur Fugenexposition« von Rudolf Lutz dar
scher Teil zur Modulation von Lutz (309). Hier (347). Die elf Unterabschnitte ähneln zwar oft
finden sich neben Analysen wichtige Hinweise einem Lehrbuch zu dieser »Königsdisziplin«,
zum musiktheoretischen Denken von improvi- aber der Autor gibt immer wieder auch wichti-
sierenden Musiker*innen. ge Hinweise, die man in derartigen Unterrichts-
Der folgende Abschnitt von Nicola Cumer werken nur vereinzelt findet. Er verweist bei-
wird mit dem Thema »Sonar di fantasia im spielsweise auf die Bedeutung der Hörerfah-
17. Jahrhundert« wieder sehr konkret, zumal rungen, welche auch intuitiv durch einen spie-
die reiche Tradition des contrappunto alla men- lerisch-improvisierenden Umgang mit dem
te weiterhin die Basis der hier präsentierten Thema gewonnen werden könnten. So kristalli-
Musikpädagogik bleibt. Die in Girolamo Diru- sierten sich »beim Fantasieren die harmonisch-
tas Il Transilvano ausführlich beschriebene kontrapunktischen und rhythmisch-metrischen
Technik des ›Intavolierens‹ stellt eine wichtige Problemfelder des Themas heraus« (350). Ne-
Voraussetzung für die Variationskunst dar und ben der Bedeutung des Memorierens wird bei-
bildet hier den Ausgangspunkt des ersten Teils spielsweise bei der Improvisation einer drei-
der Darstellung (319). Diese Technik wird im stimmigen Fuge auf den vorher festzulegenden
16. und 17. Jahrhundert als Grundvorausset- Plan verwiesen, wobei von den sechs mögli-
zung betrachtet, um im polyphonen Stil der chen Einsatzdispositiven einige besonders häu-
Zeit extemporieren zu können (320). Nach der fig benutzt würden. Neben Analysen seien
ausführlich vorgestellten Praxis der intavolatura – unter Verweis auf eine Empfehlung Matthe-
diminuita folgen entsprechende Übungen. Die sons – auch schriftlich ausgearbeitete Fugen ein
Auffassung, man könne so die italienische Un- Mittel, die musikalische Denkweise der Fugen-
terrichtspraxis zu den Clavier-Variationen des improvisation zu vervollkommnen (354).
frühen 17. Jahrhunderts rekonstruieren, wird Die Fugen von Johann Pachelbel wählte
nachvollziehbar am Beispiel erläutert, wobei Gaël Liardon in seinem Beitrag als Improvisati-
zunächst von Modellen ausgegangen wird, die onsmodelle. Zweifellos eine gute Wahl, denn
nur aus wenigen Akkorden bestehen (326). diese oftmals kleinen Werke eignen sich bes-
Folgerichtig führt der Unterricht zur Improvisa- tens für pädagogische Zwecke, viel besser als
tion polyphoner Diminutionen und den pas- dies die traditionelle Unterrichtstradition der
saggi (329ff.). Sowohl diese Anweisungen als fugue dʼécole vermittelt. Diese an Bachʼschen
auch manch andere Aufgabenstellungen des Fugen angelehnten Modelle seien oft zu kom-
Buches erinnern ein wenig an ähnliche Aufga- plex und für durchschnittlich begabte Improvi-
benstellungen des Jazz. Dieser Eindruck ver- sationsschüler*innen auch nach langem Stu-
stärkt sich beim Abschnitt Sonator da Balli, dium immer noch unerreichbar (355).
denn gleichbleibende ›Changes‹ werden hier
und dort in verschiedenen Taktarten und ›Sty-

6 Sikora 2003, vgl. die Klangbeispiele auf den


Sikoras Buch beiliegenden CDs.

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Obwohl Pachelbel auch geringstimmigere Intermezzos von Lutz behandelt. Die fünf Teile,
Fugen komponierte, stehen hier die über hun- die nach Quintilian in der Rhetoriklehre be-
dert vierstimmigen Kompositionen im Fokus. handelt werden, gliedern diesen letzten Bei-
Der Autor wählt eine Terminologie, die sehr trag. Die Inventio beinhaltet das für die Rede
ungewöhnlich – aber hinsichtlich der Aufga- benötigte Material. Schwenkreis folgt den »Er-
benstellung durchaus pragmatisch erscheint. findungs-Qvellen«, die Mattheson unter Beru-
Mit wenigen Zeichen kann so ein Fugen- fung auf Christoph Weißenborn aufführt. 9 Ad-
Schema nach Pachelbel grob skizziert werden, lung rät, ein Büchlein mit guten ›Themata‹
sodass die hier vorgestellte spezielle analyti- anzulegen 10 und Scheibe und Kittel geben wei-
sche Kurzschrift in Kombination mit der ein- tere Anregungen hierzu (366). Die klassischen
prägsamen Darstellung der üblichen Einsatz- Teile einer Rede werden in der Dispositio be-
dispositive hervorragend als Vorlage für Fugen- handelt, hier ergänzt durch Anregungen aus
improvisationen dienen kann (359). Hier könn- historischen Quellen. Neben allen technischen
te man fragen, ob nicht noch der Hinweis auf Voraussetzungen sei aber auch der Affektaus-
noch einfachere Fugenthemen für den Beginn druck (Elocutio) wichtig, der in den musikali-
hilfreich wäre, wie die an anderer Stelle vorge- schen und rhetorischen Figuren zum Ausdruck
stellten Tonfolgen des »Frère-Jacques-Motivs« kommt und zu dem zahlreiche Quellentexte
(255). Dieses Motiv kann in vier isometrischen aufgeführt werden.
Werten sowohl in Dur als auch in Moll als Der vierte Teil der Rhetorik betrifft die Im-
Umkehrung, Krebs oder Krebsumkehrung als provisation in besonderem Maße, denn eine
ein einfaches Thema verwendet werden. Die geschulte Memoria beinhalte u. a. die Fähig-
Rezeption eines solchen sehr schlichten Fugen- keit, mit dem »in den Fingern« gespeicherten
themas – in diesem Falle nach dem im Wissen in Echtzeit »denken« zu können. Es
Fuxʼschen Lehrbuch enthaltenen Muster – wird müsse zwar auch auf ein memoriertes Material
noch in den Aufzeichnungen Beethovens im zurückgegriffen werden, welches dem deklarier-
Zusammenhang mit seinem Fugenstudium ten Wissen zugeordnet ist, in viel höherem
bezeugt. 7 Bereits Georg Andreas Sorge hatte Maße basiere die Memoria hier aber auf intuiti-
1745 im Zusammenhang mit seinen Ausfüh- vem Wissen (prozeduralem Wissen) und werde
rungen zum »compositor extemporaneus« da- – vergleichbar dem Beherrschen einer Sprache
rauf hingewiesen, dass der heute oft missver- – durch sehr lange praktische Erfahrung im
standene Fux im zeitgenössischen Improvisati- Umgang mit den Grundmustern erlernt. Zu
onsunterricht benutzt wurde, denn man lerne dieser Thematik bietet der Beitrag wertvolle
»aus Herrn Matthesons Kern melodischer Wis- Hinweise, die auch Aspekte der Kognitionspsy-
senschafften und Fuxens Gradibus ad Parnas- chologie und Erfahrungsberichte aus dem Jazz
sum eine gute Fuge machen, und ein gewisses beinhalten (380f.). Der letzte Teil der Rhetorik-
Thema oder Subjectum extempore auszufüh- lehre behandelt die Pronuntiatio oder Actio, die
ren.« 8 konkrete Bühnenpräsentation des Künstlers.
Übergeordnete Aspekte »Rhetorik – Fanta- In der ausführlichen Bibliographie werden
sieren als musikalischer Redekunst« werden die wichtigsten Quellen und die Forschungsli-
abschließend von Schwenkreis inklusive eines teratur vorgestellt und das angefügte Glossar
dient als Hilfe für die terminologische Orientie-
7 Beethoven hat das einfache Thema d-f-e-d bei rung.
seinen Fugenstudien bzw. für seine Unterrichts- Mit dem Compendium Improvisation wurde
tätigkeit aus dem Fuxʼschen Gradus ad Parnas- zweifellos ein wichtiges Standardwerk zur Mu-
sum rezipiert, wobei der Komponist nachweis- sik des 17. und 18. Jahrhunderts vorgelegt.
lich die deutsche Gradus-Übersetzung Mizlers Nach der Lektüre und der Ausführung der
besaß; vgl. Autograph Beethovens im Beetho- Übungen wird nachvollziehbar, warum ein
ven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB tiefes Verständnis dieser Musik und der dama-
Mh 45.
ligen Musizierpraxis vor allem durch aktiven
8 Sorge 1745, Teil III, 425. Sorge gibt diese Emp-
fehlung im 30. Kapitel, welches Hinweise
enthält, wie man ein guter »Compositor ex- 9 Mattheson 1739, 123, § 21.
temporaneus« werden könne. 10 Adlung 1758, 751.

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REZENSION: MARKUS SCHWENKREIS (HG.), COMPENDIUM IMPROVISATION

Nachvollzug mit den Mitteln der Improvisation Improvisation zum Zeitbewusstsein (»Time-
erreicht werden kann. Demzufolge deutet eine Consciousness«) erörtert. Dieses Handbook sei
derartig starke Schwerpunktsetzung im Curricu- als Ergänzung zum Compendium empfohlen,
lum nicht auf eine Neuordnung eines Neben- denn bei der Darstellung des Phänomens der
fachs, sondern verweist auf eine grundlegende Improvisation sind die unterschiedlichsten
Reform des gesamten Studienplans, welcher in Ansätze möglich. 13
vieler Hinsicht an ein Jazzstudium erinnert. Mit
dem Compendium Improvisation wurde zwei-
fellos eine Pionierarbeit geleistet, die tiefer Lutz Felbick
gehende Annäherungen an ältere Musik ermög-
licht als sie bislang üblich waren. 11
Selbst ein derart umfangreiches Compen-
dium kann es nicht leisten, alle Aspekte der
Improvisationskunst anzudeuten. 12 Auch Georg
E. Lewis und Benjamin Piekut gaben 2016 ein
zweibändiges, 1163 Seiten umfassendes
Handbook zur Improvisation heraus. Hier wur-
de beispielsweise das ästhetische Verhältnis der

11 Zwar hat Doll (1989) in großer Fülle Quellen


aus achtzig Improvisationsschulen für Tastenin-
strumente aus der Zeit von 1600 bis 1900 zu-
sammengestellt und Konrad (1991) legte ein
Lehrwerk mit ähnlichem Titel vor, aber ersteres
ist in pädagogischer Hinsicht unbefriedigend
und letzteres erfüllt in gewisser Hinsicht diesen
Maßstab, überzeugt aber in musikwissenschaft-
licher Hinsicht nicht und umkreist – anderes
als das empfehlenswerte Buch Sikora (2003) –
zu viele Themen, wobei der Jazz dabei eigen-
artigerweise völlig ausgespart wird.
12 Beispielsweise machte die grobe Verunglimp-
fung der Improvisationskunst als eine »Missge-
burt« in Leipzig in unmittelbarem Umfeld
Bachs die Runde. Sie erfolgte durch keinen Ge-
ringeren als Johann Christoph Gottsched (1733,
244) und später dann durch dessen Schüler
Mizler (1740, 97). Diese Quellen gelten als ers-
te wichtige Zeugnisse für die allmählich auf-
kommende Gegnerschaft der Freien Fantasie.
Diese von der Philosophie Wolffs geprägten
Kritiker legten – ähnlich wie heute die GEMA –
Wert auf die visuelle »Nachvollziehbarkeit«
eines akustischen Werkes. Ein nicht schriftlich 13 In der angloamerikanischen Literatur wird die
verfasstes, aus dem Stegreif entstandenes Mu- historische Improvisation 1500 bis 1750 wei-
sikstück könne – so die nicht nachvollziehbare terhin in der von Massimiliano (2017) heraus-
Logik – »nicht viel werth« sein (vgl. Felbick gegebenen Schrift erörtert (vgl. Rabinovitch
2012, 87f.). 2017).

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LUTZ FELBICK

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REZENSION: MARKUS SCHWENKREIS (HG.), COMPENDIUM IMPROVISATION

Felbick, Lutz (2019): Markus Schwenkreis (Hg.), Compendium Improvisation – Fantasieren nach historischen
Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts (= Scripta, Bd. 5), Basel. Schwabe 2018. ZGMTH 16/1, 125–135.
https://doi.org/10.31751/999
© 2019 Lutz Felbick (Lutz@Felbick.de)
Dieser Text erscheint im Open Access und ist lizenziert unter einer
Creative Commons Namensnennung 4.0 International Lizenz.
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Creative Commons Attribution 4.0 International License.
eingereicht / submitted: 31/01/2019
angenommen / accepted: 23/02/2019
veröffentlicht / first published: 30/06/2019
zuletzt geändert / last updated: 30/06/2019

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