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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT

Author(s): Josef L. Kunz


Source: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Vol. 39, No. 2 (1951), pp. 226-256
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: http://www.jstor.org/stable/23677030
Accessed: 17-08-2016 19:55 UTC

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE

IM ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERT

von Josef L. Kunz, Berkeley, California

I. Einleitung 1

Die Juristen Latein-Amerikas, Erben der großen spanischen Kultur


und des Kunstwerkes, das das Römische Recht darstellt, waren von
jeher an den theoretischen und philosophischen Fragen des Rechts inter
essiert. Aber bis vor kurzer Zeit fehlte es der latein-amerikanischen Phi
losophie und Rechtsphilosophie an Originalität. Die Geschichte der
latein-amerikanischen Philosophie war, mit den Worten des argentini
schen Gelehrten RISIERO FRONDIZI, nicht mehr als die Geschichte
des Einflusses europäischen philosophischen Denkens und zwar konti
nental-europäischen Denkens in Latein-Amerika.

1 Die Association of American Law Sdiools kreierte 1939 das Committee on Twentieth Century
Legal Philosophy Series, dem ich seit seiner Errrichtung angehörte. Die Aufgabe dieses Komi
tees ist es, eine Reihe von Bänden vorzubereiten und herauszugeben, welche die führenden
Rechtsphilosophen Kontinental-Europas in diesem Jahrhundert in englischer Ubersetzung brin
gen. Vier Bände sind erschienen, der erste ist KELSEN General Theory of Law and State
(Harvard University Press 1945), der zweite ist der lnteressenjurisprudenz gewidmet, der vierte
gibt die Rechtsphilosophie GUSTAV RADBRUCHs und JEAN DABINs. Vier weitere Bände
werden die Rechtsphilosophien MAX WEBERs, der französischen Ecole des Institutions, PET
RAZYCKIs und die Sowjet-Rechtsphilosophie geben.
Im Herbst 1942 beschloß das Komitee, einen Band der Rechtsphilosophie Latein-Amerikas zu
widmen und meine Kollegen beauftragten mich, diesen Band vorzubereiten, herauszugeben und
die Einleitung zu schreiben. Um diese Aufgabe zu erfüllen, habe ich von 1942 bis 1947 die
notwendigen Studien unternommen, dem Komitee Berichte und Vorschläge über Autoren und
Werke erstattet. Meine Vorschläge wurden von dem Komitee angenommen. Dieser von mir vor
bereitete Band ist als 3. Band der Serie erschienen: Latin American Legal Philosophy (Harvard
University Press. 1948).
Schon bei Beginn meiner Studien mußte ich konstatieren, daß über diesen Gegenstand in den
Vereinigten Staaten und in Europa so gut wie nichts bekannt war und daß selbst in Latein
Amerika keine adäquate Studie existierte. Mein Studium mußte daher einen Pioniercharakter
annehmen. Die Einleitung zu dem von mir herausgegebenen Band beschränkte sich auf die in
ihm übersetzten Autoren und Werke. Das Ergebnis meiner Forschungen legte ich daher in einer
längeren Arbeit nieder, die zuerst in Abhandlungen in drei aufeinanderfolgenden Nummern
der New York University Law Quaterly Review 1949 erschien und nun als Buch veröffentlicht
ist. JOSEF L. KUNZ Latin-American Philosophy of Law in the Twentieth Century (New York
1950). Mein Buch wird demnächst in der spanischen Ubersetzung von LUIS RECASÉNS SICHES
auch in Buenos Aires erscheinen.
Die vorliegende Abhandlung habe ich auf Einladung des Archivs für Rechts- und Sozialphilo
sophie deutsch als eine kurze Zusammenfassung meines Buches geschrieben, auf das ich für eine
eingehende Darlegung und Bibliographik verweisen muß. Das Thema sollte in Deutschland
besonderes Interesse finden, nicht nur wegen der Bedeutung und bisherigen Unbekanntheit des
Gegenstandes, sondern auch weil die gegenwärtige latein-amerikanisdie Philosophie und Rechts
philosophie nahezu ausschließlich auf deutschen und österreichischen Gedankenleistungen auf
gebaut ist.

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In der kolonialen Periode (1554—1800) kam der dom


Einfluß natürlich von Spanien; die scholastische Philosophie
philosophie war herrschend. Unter den scholastischen Philos
kolonialen Latein-Amerikas gab es Anhänger des hl. AUG
des hl. THOMAS von Aquinas und des DUNSCOTUS. D
Denker der spanischen Renaissance des katholischen Naturre
allem VICTORIA und SUÁREZ, fanden natürlich zahlreiche A
Aber vom Ende des 18. Jahrhunderts an wich der Einfluß
dem Frankreichs. Das „droit de la raison", die Philosoph
SEAUs dominierte.

II. Die Periode der Vorherrschaft von Auguste Comte

Um die Mitte des 19. Jahrhunderts machte sich auch in Latein-Amerika,


das dem Rythmus des Denkens auf dem europäischen Kontinent folgte,
eine mächtige Reaktion gegen die lange Vorherrschaft und die extrava
ganten Ansprüche, besonders des „klassischen" Naturrechts geltend. Diese
Reaktion trat auch in Latein-Amerika in der Form des philosophischen
Positivismus auf. Wieder hatte Frankreich die führende Rolle inne. Bis
in die Zeit des ersten Weltkrieges war AUGUSTE COMTE der eigent
liche Herrscher Latein-Amerikas auf dem Gebiete der Philosophie und
Rechtsphilosophie. Sein strikter Bann gegen alles metaphysische Denken,
seine Philosophie des „ordre et progrès" beherrschte alle latein-amerika
nischen Länder, war besonders stark in Cuba, Chile und Argentinien2,
aber nirgends stärker als in Mexiko und Brasilien. COMTEs Philosophie
inspirierte in Mexiko3 die ganze Politik von der Zeit der französischen
Invasion bis zum Ausbruch der Mexikanischen Revolution im Jahre 1911;
sie inspirierte die Reform von Benito Juárez und das lange Regime des
Präsidenten General Porfirio Diaz.
Am stärksten war COMTEs Einfluß in Brasilien4, wo er auch am
längsten dauerte. Selbst ein Positivistisches Apostolat wurde in Brasilien
gegründet, in der Absicht, den Katholizismus, der sich damals in Deka
denz befand, durch Comtes „positive Religion" zu ersetzen. Comtes

8 Der bedeutendste Vertreter ist JOSE INGENIEROS (1877—1925). Vgl. seine Bücher: Socio
logia argentina (1910). El hombre mediocre (1913). Hacia una moral sin dogma (1918). Estudios
de historia de la filosofía (1918).
8 Vgl. jetzt die eingehenden Untersuchungen von LEOPOLDO ZEA: El positivismo en Mexico.
(Mexico, 1943.) Apogeo y decadencia del positivismo en Mexico, (ib. 1944.)
4 Vgl. CRUZ COSTA, El positivismo en el Brasil und besonders: JOAO CAMILO DE OLI
VEIRA TORRES, O positivismo no Brasil (Rio de Janeiro, 1943).

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Positivismus war die Ideologie der R


und der determinierende Faktor, der d
Unter dem Einfluß Comtes war die
Amerikas etwa seit 1875 eine soziologi
nierenden Einfluß von Comtes Posit
sophie Herbert SPENCERs, der Einf
von großer Bedeutung. Stark war au
scuola positiva und ihres größten J
teren Bedeutung in Latein-Amerika
durch, daß dessen Hauptwerk von dem
BAUTISTA DE LAVALLE5 ins Spanis
setzung erlebte drei Auflagen und wu
Professoren und Studenten aufs wärm
Aber auch deutscher Einfluß fehlte nicht. Hier ist vor allem WUNDT
und SIMMEL, die deutsche ethnographische Jurisprudenz von HER
MANN POST, GUMPLOWICZ und besonders die teleologische Juris
prudenz JHERINGs zu nennen. Die bedeutendste Erscheinung unter
den zahlreichen Vertretern dieser soziologisch-biologischen Rechtsphilo
sophie in Spanisch-Amerika war der Argentinier CARLOS OCTAVIO
BUNGE (1875—1918), eine vielseitige Persönlichkeit, ein ausgezeich
neter Schriftsteller und Lehrer, dessen rechtsphilosophisches Hauptwerk*,
das besonders stark den Spuren GUMPLOWICZs folgte, durch viele
Jahre von allen argentinischen juristischen Studenten gelesen wurde und
die rechtsphilosophische Haltung der juristischen Fakultät der Univer
sität Buenos Aires bestimmte.
Aber es war in Brasilien, wo diese soziologische Rechtsphilosophie, die
ihr Zentrum im Norden des Landes, in Pernambuco, hatte, am stärksten
vertreten war und am längsten dauerte. Von den letzten Jahrzehnten des
19. Jahrhunderts bis heute, von BARRETO bis PONTES DE MIRAN
DA, gehören nahezu alle brasilianischen Rechtsphilosophen dieser Schule
an. TOBIAS BARRETO DE MENDEZES7 (1839—1889), vielleicht der
bedeutendste der älteren Generation, Journalist, Kritiker, Poet und Philo
soph, mit einer sein ganzes Leben andauernden Vorliebe für die deut
sche Sprache und die deutsche Wissenschaft, eine Vorliebe, die sich in
Brasilien bis heute erhielt, folgte weniger COMTE als SPENCER. Er

5 Filosofía del Derecho. Versión castellana, (Lima, 1909; 3. A. 1923).


8 El Derecho: ensayo de una teoría jurídica integral. (1909; neueste Auflagen 1920, 1927);
italienische Übersetzung, Turin, 1919; die französische Ubersetzung hat den vielsagenden Titel:
Le droit c'est la force.
7 Sein reditsphilosophisdies Hauptwerk ist: Questioês vigentes de philosophia e de direito
(Pernambuco, 1888).

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*

war ein großer Bewunderer JHERINGs, dessen Buch: Der Kampf ums
Recht schon in seinem Titel ganz den Ideen BARRETOs entsprach, für den
das Recht als historisches Phänomen das Ergebnis eines Kampfes, ein
ständiges „fieri" ist. Er war auch stark von HERMANN POST beein
flußt. Doch entwickelte sich sein Denken unter dem Einfluß Kants8 über
den orthodoxen Positivismus hinaus.
CLOVIS BEVILACQUA (1859—1944)9, einer der größten Juristen
Brasiliens, Schöpfer des brasilianischen Bürgerlichen Gesetzbuches, war
rechtsphilosophisch soziologischer Positivist, beeinflußt von SPENCER,
der italienischen scuola positiva, der ethnologischen Jurisprudenz POSTs
und SUMNER MAINEs, vor allem aber JHERINGs. Im späteren Ver
lauf seines langen Lebens zeigte er Sympathie für STAMMLERs
„Naturrecht mit wechselndem Inhalt" und wurde so in gewissem Sinn
ein Eklektiker.
Das einflußreichste, rechtsphilosophische Buch in Brasilien am Beginn
des zwanzigsten Jahrhunderts stammt von SYLVIO ROMERO10, dessen
Originalität in dem Versuch einer Kombination von SPENCERs Evo
lutionstheorie und der kritischen Philosophie von KANT besteht, der
für ROMERO der größte Philosoph aller Zeiten ist. Er entwickelte so
einen „kritischen Realismus". Spencers Evolutionstheorie ist für Romero
in ihren essentiellen und dauernden Zügen eine Form des Neo-Kan
tianismus.
Dagegen war PEDRO LESSA, dessen Buch11 vielleicht brasilianische
Universitätskreise in der Zeit von 1910 bis 1925 am stärksten beein
flußte, ein Gegner Jherings und versuchte auch, Kant zu widerlegen.
Seine Realität ist in orthodoxer Weise die Evolutionstheorie SPEN
CERs, seine Methode die des Positivismus COMTEs.

Die gegenwärtige Epoche


III. Soziologische Rechtsphilosophie

Zur Zeit der Beendigung des ersten Weltkrieges machte sich in Latein
Amerika eine starke Reaktion gegen den langen, prädominierenden Ein
fluß von Auguste Comte geltend. Diese Reaktion, kontinental-euro

8 Der Einfluß Kants und Sdiopenhauers ist in Barretos Buch: „Estudos allemaes" (Recife, 1893)
zu sehen.
• Sein wichtigstes Buch auf diesem Gebiete ist: Juristas Philosophos (Bahia, 1897). Es ist eine
Sammlung von Essays über u. a. BARRETO, den er sehr bewunderte; SYLVIO ROMERO,
POST und JHERING.
18 Ensayo de philosophia do direito, (Rio de Janeiro, 2. A. 1908).
11 Estudos de philosophia do direito, (Sao Paulo, *2. A. 1916).

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230 JOSEF L. KUNZ

päischem Denken folgend, nahm die


mus an. Aber der neue Einfluß ko
Comtes beseitigen. Selbst in Spanisch
Werke der alten Richtung veröffentl
Aber in Spanisch-Amerika bedeut
sophie nicht mehr als ein Überblei
entlegenen Ländern und ist in kein
amerikanische Rechtsphilosophie char
silien, wo die soziologische Schule
wärtig ist hier IVAN LINS13 als der
Tradition zu nennen. Auch die beiden
im Brasilien der Gegenwart, EU
FRANCISCO PONTES DE MIRAN
Der letztere ist unzweifelhaft der be
Brasiliens innerhalb dieser Schule. Di
schen Hauptwerkes ist durch die unzä
gegebenen Zitate aus allen Gebieten d
Anwendung von geometrischen Figur
sehr komplizierten Formeln der höh
bei ihm können wir die seit Barreto
für die deutsche Sprache16 und Wisse
schreibt er, „ist das große Zentrum
deutschen und österreichischen Denk
weder Naturwissenschaftler oder soz
Für ihn muß die Rechtswissenschaft
Naturwissenschaft sein, wie Physik
Realität studiert werden, als ein F
tigkeit des Rechts ist eine metaphysi
punkt aus eine sinnlose Frage. Die gro
rein wissenschaftlich studiert werden
dieselbe Haltung entwickeln, die den
rakterisiert. In Opposition zu einer an
daß es in der anorganischen Welt un

18 Vgl. den Bolivianer IGNACIO PRUDENC


dica (Sucre, 1923) und den Paraguayer CECILIO
18 Introducao a estudo da philosophia. A concep
positiva. (Rio de Janeiro, 1930.)
14 Principios de sociología jurídica (Rio de Jane
4. A. 1943).
16 Sein Hauptwerk auf diesem Gebiete ist: Systema de ciencia positiva do direito. (In zwei
mächtigen Bänden, Rio de Janeiro, 1922).
16 Er schrieb auch ein Buch in deutscher Sprache: Rechtsgefühl und Begriff des Rechts. (Berlin,
1922.)

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zesse gibt, die den juristisch-sozialen entsprechen. Das Recht hat sei
Wurzel in biologischen Notwendigkeiten; politische Probleme sind n
zu stets mathematische und biologische Probleme. Ein wirklich wiss
schaftliches Studium des Rechts muß metaphysikfrei sein, muß sein
Ausgang von der Evolutionstheorie nehmen und muß Tatsachen dur
die Methoden der Beobachtung, der Induktion und des Experime
studieren. Denn das Objekt der Rechtswissenschaft sind nicht Norm
sondern Realitäten, Tatsachen.

IV. Neo-Thomistische Rechtsphilosophie

Es ist nur selbstverständlich, daß es in Latein-Amerika, einem nah


ausschließlich katholischen Kontinent, stets eine Philosophie des Nat
rechts gegeben hat und auch heute gibt. Die lange Vorherrschaft Com
verdrängte den Einfluß Spaniens, das, etwas isoliert, der scholastisch
Tradition länger, als irgendein anderes Land Europas, treu geblie
war. Aber der mächtige Einfluß KRAUSEs in dem Spanien der zweit
Hälfte des 19. Jahrhunderts, der Bewegung des Krausismo españ
machte sich auch in Latein-Amerika durch Krauses Schüler, AHRENS
geltend.
Nach langer Dekadenz erlebte die scholastische Philosophie auf Grund
der Enzyklika Aeterni Patris LEO XIII. vom 4. August 1879 eine
mächtige Renaissance, streng auf der Grundlage der Philosophie des Hl.
THOMAS. Europäische Vertreter dieser neo-scholastischen, neo-thomi
stischen Philosophie,17 und besonders spanische Neo-Thomisten,18 aber
auch die Philosophie JACQUES MARlTAINs, die Rechtsphilosophie
der französischen Ecole des Institutions und des Belgiers JEAN DABIN
sind in Latein-Amerika von großer Bedeutung.
Doch ist diese Renaissance des Naturrechts keineswegs auf den Neo
Thomismus und auf Schulen, die mit ihm in naher Beziehung stehen,
beschränkt, sondern ein allgemeines Phänomen, nicht nur in Europa und
Latein-Amerika, sondern auch in den Vereinigten Staaten. Diese Re
naissance des Naturrechts stellt eine Reaktion gegen die soziologische
Jurisprudenz und gegen das Prä valieren der Logik in der Marburger
neo-kantischen Schule dar. Sie ist eine Konsequenz der gegenwärtigen

17 Besonders ist hier HEINRICH ROMMEN, Die ewige Wiederkehr des Naturrechts (Leipzig,
1936) zu nennen.
18 J. B. LUNO PEÑA, SANCHO IZQUIERDO, MENDIZABEL, Vater und Sohn (Tratado
de Derecho Natural. Madrid, 7. A. 1928.)

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totalen Krise unserer westlichen


zweiflung unserer Epoche. Die Re
auch in Denkern, die dem Neo-Thom
ja sogar in Autoren, die das Natu
LÉON DUGUIT und GEORGE SCELLE. Sie findet sich unter An
hängern des Marburger Neo-Kantianismus, wie STAMMLER und DEL
VECCHIO, unter den Mitgliedern der Wiener Schule, wie VERDROSS
und jüngst auch LAUTERPACHT.
Es bestehen starke Bindungen zwischen dem Naturrecht und allen
„intuitiven" Philosophien. MARITAIN ist ein Schüler BERGSONs.
HUSSERLs Phänomenologie führt über BRENTANO zur Scholastik.
MAX SCHELER predigte in einer Phase der Entwicklung seines Den
kens die „freiwillige Unterwerfung der Philosophie unter die katho
lische Theologie". Andererseits heißen neo-thomistische Autoren diese
neuen Philosophien willkommen.19 Wir sehen Bestrebungen zum Aufbau
einer „Katholischen Phänomenologie", zur Gründung eines „Katho
lischen Existenzialismus".20
Alle diese kontinental-europäischen Gedankengänge spielen eine be
deutende Rolle in der gegenwärtigen neo-thomistischen Rechtsphilo
sophie Latein-Amerikas, die in allen Ländern stark vertreten ist.21 Auch
in Mexiko22 finden wir eine neo-thomistische Rechtsphilosophie trotz
der scharfen Spannung zwischen Staat und Kirche in einer gewissen
Phase der Mexikanischen Revolution.
Selbst in Brasilien finden wir ein Wiedererwachen der neo-thomi
stischen Rechtsphilosophie. Der Wendepunkt kam mit FARIAS BRITO
(1862—1917), der ursprünglich ein Anhänger der soziologisch-evolutioni
stischen Philosophie, später, unter der Einwirkung der Todesfurcht, ein
Vertreter religiösen Glaubens und der Mystik wurde. Der heute füh
rende Denker ist sein Schüler, JACKSON DE FIGUEREIDA.

12 Vgl. ERICH PZYWARA, S. J. Die Problematik der Neuscholastik (Kant-Studien 33, Ber
lin 1928, S. 73—98).
2# Vgl. den spanischen katholischen Existenzialisten TEJADO SPINOLA: Introducción al
estudio de la ontologia jurídica. 1942. MARITAIN schrieb, daß der hl. Thomas der ,,exi
stenzialistischste" aller Philosophen sei.
11 Um ein paar prominente Namen hier zu nennen: MIQUEL MARQUEZ und MARIANO
ARAMBURO y MACHADO in Cuba, RAFAEL FERNANDEZ CONCHA, FRANCISCO
VIVES und EDUARDO HAMILTON in Chile, MANUEL VICENTE VILLARAN in Peru,
besonders ALFREDO FRAGUE1RO in Argentinien, Autor zahlreicher ausgezeichneter Arbeiten.
12 Der Führer der neo-thomistisdien Rechtsphilosophie, der Erneuerer der philosophia perennis
des hl. THOMAS in Mexico ist OSWALDO ROBLES, der vor Kurzem auch eine Darstellung
der neo-scholastischen Bewegung in Mexiko gegeben hat. (In der Zeitschrift: Filosofía y Letras
Mexico, Nr. 23, 1946, S. 103—129). Besonders zu nennen sind DANIEL KURI BRENA und der
Neo-Agostianer JOSÉ FUENTES MARES.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 233

In jüngster Zeit erschien in Brasilien ein neuer Rec


MIGUEL REALE,23 Nachfolger LESSAs an der Lehrkan
philosophie der juristischen Fakultät der Universität
REALE vertritt einen Typus des Naturrechts, den er sel
len Realismus" nennt. Er tadelt die Einseitigkeit der a
risten, die nur das Formale, die Norm, sehen, und die Ei
soziologischen Juristen, die bloß die Tatsachen sehen. Fü
Recht ein soziologisches Substratum, in dem die Werte ein
kretisiert sind, und hat Normen, die der notwendigen S
Aktualisierung entsprechen. Das Juristische bedeutet fü
grierung sozialer Elemente in einer normativen Ordnung
Er gibt zu, daß für den Juristen das Recht aus Normen b
Norm kann nicht verstanden werden, wenn man sie ohn
Zusammenhang und ohne die in ihr konkretisierten Wer
In der gesamten neo-thomistischen Rechtsphilosophie i
Amerika der Gegenwart wird überall die reale Existen
des katholischen Naturrechts, seine Verbindlichkeit,
aber auch großer Nachdruck darauf gelegt, daß das „Nat
verschiedene Doktrinen umfaßt. Das Naturrecht des hl. T
voll verteidigt, aber das „klassische" Naturrecht als irrtü
haltbar abgelehnt. Denn das letztere hat nur eine me
dierung; es schafft einen Parallelismus von natürlichem
Recht; es wünscht einen Kodex, ein vollständiges Sys
rechts zu geben, das, von der Vernunft allein geschaffen
menschlichen Verhaltens regelt, und über dem positiven
und zu allen Zeiten gilt. Es vernachlässigt so ganz unzulä
sozialen und historischen Umstände, die mit Notwendigk
sind. Aber das katholische Naturrecht, so wird ausgeführ
in diesen Irrtum. Es stellt bloß eine Fundierung des posi
einen Komplex oberster Prinzipien dar, der das posit
wendigerweise verlangt. Es besitzt, wie schon der hl
noch mehr SUÁREZ betonte, eine große Flexibilität in de
dieser obersten Prinzipien in dem positiven Recht ein
Volkes in bestimmter Zeit. Diese Gedanken kommen klar bei dem
argentinischen Neo-Thomisten MANUEL RIO,24 vor allem aber in zwei
latein-amerikanischen Werken, nämlich dem des Colombianers CAYE

îs Vgl. seine beiden umfangreichen Werke: Fundamentos do direito. (Sao Paulo, 1940.) Teoría
do direito e do estado. (Ib., 1940.)
î4 Perspectivas actuales del derecho natural. (Buenos Aires, 1939.)

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TAÑO BETANCOUR25 und dem


RAFAEL PRECIADO HERNÁNDEZ26 zum Ausdrude.
Diese Werke stehen streng auf dem Standpunkt der philosophia peren
nis des hl. Thomas, und sind doch moderne Bücher. Modern dadurch,
daß sie alle modernen Rechtsphilosophien wenigstens kritisch berück
sichtigen; modern durch den Einfluß heutiger neo-thomistischer Denker,
besonders MARITAINs, LE FURs, GÉNYs, RENARDs, DELOS', DA
BI Ns, modern in ihrer Sympathie für die Axiologie MAX SCHELERs,
modern in ihrer Verwerfung des „klassischen" Naturrechts, in ihrer
Opposition gegen einen Dualismus von und einer Rivalität zwischen
Naturrecht und positivem Recht; modern in ihrem Nachdruck auf die
absolute Unentbehrlichkeit des positiven Rechts, in ihrer Erkenntnis,
daß das sogenannte „Naturrecht" seinem Wesen nach Ethik ist, in ihrer
Sehnsucht nach einer „integralen" Rechtsphilosophie. Die Werke zeigen
auch, wie nahe oft heute die neo-thomistische Rechtsphilosophie anderen,
nicht neo-thomistischen Rechtsphilosophien steht.

V. Die allgemeine Philosophie


Spanisch-Amerikas in der Gegenwart

Was die gegenwärtige latein-amerikanische Rechtsphilosophie charak


terisiert, ist weder das gelegentliche Fortdauern des Einflusses Comtes,
noch der Neo-Thomismus, sondern der Einfluß neuer philosophischer,
kontinental-europäischer Tendenzen. Selbst in Brasilien, wo der Einfluß
Comtes am stärksten war und vielfach bis heute andauert, sehen wir nicht
nur ein Wiederaufleben neo-thomistischer Rechtsphilosophie, sondern
auch besonders seit 1930, ein Eindringen dieser neuen philosophischen
Tendenzen. Brasiliens bedeutendster Philosoph dieser modernen Richtung
ist derzeit EUYALO CANNABRAVA, an dem der Einfluß SCHE
LERs, HARTMANNs und HEIDEGGERs sichtbar ist. Auch der Ein
fluß KELSENs ist in beständigem Steigen, so daß KARL LOEWEN
STEIN27 bereits 1942 schreiben konnte, daß „in Brasilien der öster
reichische Gelehrte (KELSEN) den Thron einnimmt, von dem aus
COMTE durch zwei Generationen das soziale Leben beherrschte". In
Spanisch-Amerika ist die Krise des positivistisch-pragmatistischen Den

25 Ensayo de una filosofía del derecho (Medellin, 1937).


28 Lecciones de filosofía del derecfjo (Mexiko, 1947).
27 Brasil under Vargas (New York, 1942). S. 106.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 235

kens endgültig überwunden. Das ist der Grund, weswegen d


Abgrund zwischen spanisch-amerikanischer und brasilianisch
philosophie besteht und die letztere in keiner Weise für die
Rechtsphilosophie Latein-Amerikas charakteristisch ist.
Rechtsphilosophie ist ein Teil der Philosophie. Die geg
spanisdh-amerikanische Rechtsphilosophie steht in engstem K
der allgemeinen Philosophie Spanisch-Amerikas. Die letztere
Rythmus kontinental-europäischen Denkens in den zwei
Marburger Neo-Kantianismus und der als Reaktion dagegen
den phänomenologischen Bewegung. Es ist grundlegend, daß
Einfluß Frankreichs durch die völlige Vorherrschaft deutsche
reichischer Philosophie abgelöst wurde. In dieser Wandlung
Mutterland Spanien eine bedeutende Rolle. Ferner könne
statieren, daß Spanisch-Amerika nicht länger damit zufriede
kontinental-europäisches Denken zu wiederholen. Die Philoso
täglich mehr Raum im Leben und Denken ein. Gelehrte such
zeitigen Stand der Philosophie in den einzelnen Ländern
Latein-Amerika darzustellen. Oberall besteht der Wunsch nach einer
„philosophischen Emanzipation" Latein-Amerikas von Europa, nach einer
wahren „latein-amerikanischen" Philosophie, d. h. nach einer Philo
sophie, die gleichzeitig originell und typisch latein-amerikanisch ist.
Wie es ein spanisch-amerikanischer Denker ausdrückt: „Laßt uns völlig
vertraut werden mit der Philosophie Europas, aber dann als Latein
Amerikaner philosophieren." Man möchte an der Entwicklung der Phi
losophie mit wirklich originalen Schöpfungen teilnehmen; aber man
erkennt die noch bestehenden Limitierungen; man denkt derzeit noch
nicht an die Aufstellung neuer philosophischer Systeme, aber an originale
Mitarbeit.
Ich erwähnte schon die absolute Vorherrschaft deutscher und öster
reichischer Philosophie. An dieser Entwicklung hat der spanische Philo
soph JOSÉ ORTEGA Y GASSET großen Anteil, der es sich, nach seinen
eigenen Worten, zu einer Hauptaufgabe machte, „den Geist Spaniens
durch den Strom deutscher intellektueller Schätze zu bereichern." OR
TEGA führte deutsche Philosophie in Spanien ein, gründete 1922 in
Madrid die Revista de Occidente und machte deutsche Philosophien durch
spanische Ubersetzungen Latein-Amerika zugänglich. Die Gründung der
Revista de Occidente, schreibt der Mexikaner LEOPOLDO ZEA, brachte
den französischen Einfluß in der Philosophie in Latein-Amerika zu Ende.
Derselbe ZEA schreibt, daß „der mächtigste und am meisten sichtbare

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236 JOSEF L. KUNZ

Einfluß durch die gegenwärtige d


Argentinier RISIERO FRONDIZ
derzeit Philosophie mit deutsche
Der große Philosoph, der die Kr
einleitete, der Patriarch der mo
tiniens, ist ALEJANDRO KORN
Abstammung, Professor der Ana
Philosophie KANTs im Lande se
bedeutendste jetzt lebende Phi
MERO, ist ein Repräsentant der
zen der phänomenologischen B
Humanismus."
ALEJANDRO O. DEUSTÜA nimmt in Peru eine ähnliche Stellung
ein, wie KORN in Argentinien und CASO in Mexiko. In Mexiko spielt
der Neo-Kantianismus, sowohl der Badener Schule, als der Marburger
Schule eine ganz besondere Rolle. Unter den bedeutenden Philosophen
Mexikos sind vor allem ALFONSO REYES und JOSÉ VASCONCE
LOS zu nennen. Der letztere ist vielleicht der originellste, am meisten
„latein-amerikanische", am wenigsten „europäisierende" Philosoph, ob
wohl ein etwas bizarrer Denker, großer „Americanista", Vorkämpfer
der intellektuellen Emanzipation Latein-Amerikas von Europa und den
Vereinigten Staaten. Er ist der größte Antagonist von Comtes Positivis
mus, und gelangte über Kant zu seinem, dem Marburger Neo-Kantianis
mus entgegensetzten, anti-intellektualistischen, anti-pragmatistischen
System, das er den aesthetiscben Monismus nennt; seine Philosophie
— und darin steht er BERGSON nahe — ist auf emotionaler Intuition
aufgebaut.
Doch der führende moderne Philosoph Mexikos ist unzweifelhaft
ANTONIO CASO, in dessen philosophischer Entwicklung wir in einem
Leben die ganze Entwicklung der modernen Philosophie widergespiegelt
finden. Erzogen in der positivistischen Philosophie, führte er seinen
ersten Kampf gegen den Positivismus, was im damaligen Mexiko zugleich
den Kampf gegen das Regime des Präsidenten Porfirio Diaz bedeutete.
CASO war es, der die Herrschaft von Comtes Philosophie in Mexiko
endgültig stürzte. Er tat dies mit den Argumenten des neo-kantischen
Kritizismus, die PEDRO HENRIQUEZ UREÑA eben von Europa ge
bracht hatte. Aber, dem Rythmus kontinental-europäischen Denkens

î8 Obras (3 Bände, La Plata 1938—1940). Siehe besonders sein Werk: La libertad creadora.
(1922.)

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 237

folgend, nahm er bald eine Haltung gegen die Marburger


Er geht zu einer anti-intellektualistischen Richtung über, w
hänger des Intuitionismus, zuerst in der Form der emotional
BERGSONs, später in der Form der intellektuellen Intu
SERLs. Über die moderne Axiologie und den Existenziali
er bei seiner Philosophie eines „neuen Humanismus" an. I
Sinne anti-positivistisch, mit einem Geist der Unabhängigkei
allen Dogmen, anti-klerikal und kein Freund der Massen, be
sein Volk,29 ein tiefer Gegner totalitärer Praxis und Ideolog
letzten Endes, ein Romantiker, philosophisch ein Eklektiker
den Worten seines Schülers, SAMUEL RAMOS, kein große
im Sinne Piatos oder Kants, kein schöpferischer Philosoph n
und Systeme, aber er ist ein großer Philosoph im Sinne eine
Interpreten, der originale Philosophien durch die Macht sein
lichkeit verschmolz.
Unter den jüngeren Philosophen Mexikos sind SAMUE
MANUEL CABRERA, der HUSSERL nahesteht, JOSÉ
MUÑÓZ, der SCHELERs und HARTMANNs Axiologie
bensphilosophie von ORTEGA Y GASSET zu fundieren ver
LEOPOLDO ZEA zu nennen. Die mexikanische Philosophie
auch durch spanische Philosophen: JOAQUIN XIRAU
EUGENIO IMAZ, den Übersetzer DILTEYs, den bedeuten
JOSÉ GAOS, und, vielleicht den bedeutendsten von ihn
DAVID GARCIA BACCA, beeinflußt, die infolge des span
gerkrieges sich in Mexiko ansässig machten.

VI. Die gegenwärtige spanisch-amerikanische Rechtsphilos

Die erste Wendung: Marburger Neo-Kantianismus


(Stammler, Del Vecchio, Kelsen.)

Schon im Jahre 1913 konnten latein-amerikanische Schriftst


daß das Prestige der positivistischen Philosophie Comte
Amerika im Abnehmen begriffen sei, daß der Positivismus si
vor dem Eindringen des neo-kantischen Kritizismus zurückz
ginne. Damit beginnt zugleich die Ersetzung französischen d
schen philosophischen Einfluß. Die Kant-Renaissance in de

2* Wie FICHTE die Reden an die Deutsche Nation, so schrieb CASO sein Dis
Nación Mexicana (1922).

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238 JOSEF L. KUNZ

Marburger Schule COHENs, NATO


Deutschland um 1870 einsetzte, erreic
Ende des ersten Weltkrieges.
Die moderne spanisch-amerikanische R
ersten Phase durch den Marburger Neo-
auch bedeutende Leistungen auf dem Ge
vorbrachte.
Es ist vor allem STAMMLER, der in d
fluß auf die spanisch-amerikanische R
auch die neo-thomistischen, Rechtsphilo
den Erneuerer der Rechtsphilosophie; si
dung von Rechtsbegriff und Rechtsidee,
eine doppelte Aufgabe setzte: das Studiu
griffe und das erneute Studium der j
Gerechtigkeit. Der Einfluß Stammlers,
ist, findet sich in allen spanisch-amerika
von Stammlers Werken wurden in La
Stammlers Philosophie in zahlreichen M
tinische Rechtsphilosoph ENRIQUE M
besonders nahe.31
Auch die auf dem Marburger Neokan
NACIO PETRONE begründete italienis
ihren Einfluß in Latein-Amerika, bes
VECCHIO aus. Del Vecchio ist Spanier
die Poesie, durch die Eleganz seines St
ersten Schriften über den Rechtsbegrif
Voraussetzungen des Rechtsbegriffs, se
„auf menschliches Verhalten in inter-su
wurden in weitem Maß von der mode
Rechtsphilosophie akzeptiert. Del Vecchi
der Marburger Schule nicht so eng w
neo-kantianisch, aber substantiell folgt e
gewisser Beziehung, der philosophia p
das ist der Grund, weswegen DEL VE
Grade der späteren Kritik, die gegen
wurde, entgangen ist.

38 Vgl. MANUEL GARCIA MORENTE, FRANCISCO RIVERO PASTOR, WENCESLAO


ROCES, der spanische Übersetzer Stammlers.
31 Vgl. ENRIQUE MARTINEZ Paz: La filosofía del derecho de Rudolfo Stammler. (Buenos
Aires 1927) und Rudolf Stammler 1856—1938 (Córdoba, 1939).

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 239

Der weitaus größte Einfluß auf die ganze moderne spanisch-am


kanische Rechtstheorie wird derzeit durdi den Gründer der Wiener
Schule, den Schöpfer der Reinen Rechtslehre, HANS KELSEN, ausge
übt. Seine Werke werden ständig in Spanien und in Spanisdi-Amerika
ins Spanische,52 auch in Portugal und Brasilien ins Portugiesische über
setzt. Eine große Anzahl von Monographien über die Reine Rechtslehre,
von Studien über einzelne Probleme derselben, erschien in Latein
Amerika. KELSEN muß als der die moderne spanisch-amerikanische
Rechtstheorie beherrschende Gelehrte angesehen werden; viele Spanisch -
Amerikaner betrachten ihn als den Juristen der gegenwärtigen Epoche.33
Auf meinen Reisen in Latein-Amerika, anläßlich meiner spanischen Vor
lesungen über die Reine Rechtslehre3* an der juristischen Fakultät der
Nationalen Universität von Mexiko konnte ich selbst die eingehende
Vertrautheit spanisch-amerikanischer Rechtsphilosophen mit der Reinen
Rechtslehre, das gewaltige Interesse für sie und für jedes ihrer Probleme,
konstatieren. Die rechtstheoretisch dominierende Stellung Kelsens bringt es
mit sich, daß die gegenwärtigen spanisch-amerikanischen Rechtsphiloso
phen in die drei Gruppen der orthodoxen, der kritischen Anhänger Kel
sens und der Gegner Kelsens unterschieden werden können.
Typisch für den Einfluß KELSENs ist das Buch des kubanischen
Rechtsphilosophen ANTONIO S. DE BUSTAMANTE Y MON
TORO,35 das im wesentlichen eine sehr klare Darstellung der Haupt
theorien Kelsens in spanischer Sprache gibt. Aber im Vorwort schreibt
der Autor: Können wir Menschen der heutigen Generation Kelsens
dictum, daß das Recht jeden beliebigen Inhalt haben kann, annehmen?
Kelsens Rechtstheorie, meint er, ist und bleibt richtig, aber sie muß
ergänzt werden durch eine Rechtsphilosophie; und in letzterer erscheint
dem Verfasser eine Rückkehr zum Naturrecht unvermeidlich. In diesen
kurzen Sätzen des Vorworts wird das Hauptproblem formuliert, mit
dem sich die neueste spanisch-amerikanische Rechtsphilosophie in ver
schiedenen Formen und Schattierungen befaßt: Kelsens Rechtstheorie
anzunehmen, aber philosophisch seinen Relativismus zu überwinden.

" KELSENs neueste Darstellung der Reinen Rechtslehre (General Theory of Law and State,
Havard University Press. 1945) erschien vor Kurzem in der spanischen Übersetzung von
EDUARDO GARCIA MAYNEZ (HANS KELSEN: Teoría General del Derecho y del Estado,
Mexiko 1950).
M Vgl. CARLOS COSSIO: Hans Kelsen, el jurista de la época contemporánea (Anales de la
Faculdad de Ciencias Jurídicas y Sociales de La Plata 1941).
u JOSEF L. KUNZ: La Teoría Pura del Derecho. Mexiko, 1948.
55 Teoría General del Derecho. 2. A. Havana 1940. (Vgl. meine Besprechung in Harvard Law
Review. Band 50 11942.1. S. 1240—1242.)

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240 JOSEF L. KUNZ

Dieses Programm wurde von dem


„Über Kelsen hinausgehen, ohne ih
Daß diese Problemstellung vorh
Wendung in der Philosophie Deuts

VII. Die gegenwärtige spanisch-am

Die zweite Wendung: Die phänom


(Husserl, Scheler, Hartmann, Dilth

Der schwindende Einfluß Stamm


besondere Problem im Hinblick auf Kelsens Reine Rechtslehre erklärt
sich daraus, daß die spanisch-amerikanische Philosophie und Rechtsphilo
sophie der zweiten Wendung, der phänomenologischen Bewegung, gefolgt
ist, die selbst als eine Folge der großen Krise unserer Kultur verstanden
werden kann. Die neue Philosophie versucht, den Notwendigkeiten
dieser historischen Situation zu entsprechen. Der Angriff gegen die
Vorherrschaft des Formalen und der Logik im Marburger Neo-Kantia
nismus führte zu einer Rückkehr zur Metaphysik, welche die gegen
wärtige Lage der philosophischen Spekulation charakterisiert. Diese
Rückkehr zur Metaphysik wird auch von vielen anderen Quellen ge
speist; daher, wie schon früher bemerkt, die wechselseitige Beeinflußung
zwischen den Philosophien der phänomenologischen Bewegung und des
Neo-Thomismus.
Diese Wendung begann auf dem Kontinent um 1900 mit HUSSERL.
Im Gegensatz zum Marburger Neo-Kantianismus erreichte die phäno
menologische Bewegung Latein-Amerika rasch. Die Gründe dafür sind
mannigfaltige: der Einfluß Spaniens durch ORTEGA Y GASSET, der,
ähnlich wie CASO in Mexiko, eine philosophische Entwicklung durch
machte, die ihn, ursprünglich ein Schüler Cohens und Natorps und
Anhänger der Marburger Schule, über die Theorie der Werte zu seiner
eigenen Philosophie des Lebens führte. Der Einfluß Spaniens wurde
dadurch erhöht, daß zahlreiche spanische Philosophen, die der phäno
menologischen Bewegung nahestehen, sich infolge des spanischen Bürger
krieges in Latein-Amerika ansässig machten. Andrerseits studierten zahl
reiche Latein-Amerikaner in Europa direkt unter SCHELER, HART
MANN, HEIDEGGER. In der neuen Wendung dominiert wieder der
philosophische Einfluß deutscher und österreichischer Philosophien. Für
viele Latein-Amerikaner sind HUSSERLs Logische Untersuchungen,

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 241

SCHELERs Materiale Wertethik und HEIDEGGERS Sein und Zeit


nicht nur die drei Meisterwerke der deutschen, sondern der Philosophie
der Gegenwart.
Die Entwicklung der deutschen und österreichischen Rechtsphilosophie,
etwa von JELLINEK über STAMMLER und KELSEN bis HEI
DEGGER, wurde in Spanisch-Amerika von zahlreichen Autoren, unter
denen LUIS RECASÉNS SICHES, die Kubaner AZCÄRATE Y RO
SELL und FERNANDEZ CAMUS, der Brasilianer MIGUEL REALE
besonders zu nennen sind, mit großer Sorgfalt und sehr eingehend
studiert.
Die phänomenologische Bewegung begann mit der Phänomenologie
Husserls, der auch der Bewegung den Namen gab. HUSSERLs Logische
Untersuchungen und seine Méditations Cartésiennes wurden ins Spa
nische übersetzt; zahlreiche Monographien über HUSSERL wurden in La
tein-Amerika geschrieben. Doch hat die Phänomenologie, im Gegensatz
zum Marburger Neo-Kantianismus, keine wirklich bedeutende phäno
menologische Rechtsphilosophie hervorgebracht. Der an sich große Ein
fluß Husserls in der modernen spanisch-amerikanischen Rechtsphilosophie
wurde aber bedeutend durch die Tatsache erhöht, daß Schelers Wert
lehre und Heideggers Existentialismus phänomenologisch entwickelt wur
den, obwohl diese Denker zu Ideen gelangten, die von denen Husserls
wesentlich verschieden sind.
Für die ganze neueste Phase in der Entwicklung der Philosophie ist
die außerordentliche Bedeutung, welche die Wertlehre einnimmt, charak
teristisch. „Die Geschichte der modernen Axiologie", schreibt der Ameri
kaner WILBUR M. URBAN, „ist in gewissem Sinne die Geschichte
einer Kultur — der europäischen —, die um ihre Existenz kämpft". Be
deutend ist in Spanisch-Amerika der Einfluß NIETZSCHES, der Badener
Neo-Kantischen Schule (WINDELBAND, RICKERT) und der ihr
nahestehenden Rechtsphilosophie (LASK, MUENCH, MAX ERNST
MAYER); auch der Einfluß GUSTAV RADBRUCHs, dessen Haupt
werk ins Spanische und Portugiesische übersetzt wurde, ist bedeutend,
obwohl sein Wertrelativismus abgelehnt wird.
Die Wertlehre dominiert überall, auch in Anglo-Amerika, und ist
auf den verschiedensten Philosophien, vom Neo-Thomismus bis zum
Pragmatismus aufgebaut. Aber es ist vor allem die objektive Wertlehre
MAX SCHELERs, seine materiale Wertethik, und die Philosophie NI
COLAI HARTMANNs, welche die moderne spanisch-amerikanische
Rechtsphilosophie beherrscht. Übersetzungen, Monographien über Scheler

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242 JOSEF L. KUNZ

und Hartmann sind zahlreich in Spanisd


amerikanischen Rechtsphilosophen, eins
gibt es sehr viele Bewunderer Sdielers
sophen der Gegenwart sehen, den Ph
originellsten Anregungen gegeben, de
erweitert hat.
Endlich muß der starke Einfluß des Ex
Von den zahlreichen Formen, in dene
vor allem BERGSON zu nennen, doch
Spanisch-Amerika derzeit von HEIDEG
ausgeübt. Ebenso ist DILTHEY zu nenn
Spanische übersetzt wurden und desse
spanisch-amerikanischen Rechtsphilosop
nier ZUBIRI, der Argentinier ASTRA
DE REYNA studierten in Europa u
dessen Ideen durch ihre Schriften in ihre
Groß ist natürlich der Einfluß Ortegas
der der deutschen Philosophie, nach sein
verdankt und sie in Spanien, und damit
war ursprünglich ein Schüler Cohens
Neo-Kantianismus, von dessen Einfluß e
zipierte. Sein erstes Problem war ein erk
mus gegen Relativismus. Wenn die Wah
dann, schreibt er, haben wir das Leben
aber die Wahrheit mit jedem relativ ist
dem Leben geopfert. Um dieses Dilemm
und Geschichte zu vereinen, muß die rei
nunft — la razón vital— überwunden w
durch seine Philosophie des Gesichtspu
erreichen. Er benützt das Beispiel einer a
verschiedene Personen von verschiedenen Punkten betrachten. Wenn
jeder sagt, was er sieht, ist es wahr, aber nur von seinem Gesichtspunkt
aus. Ortega sieht in Einsteins Relativitätstheorie eine machtvolle Stär
kung seiner Lehre. Diese, ursprünglich im Hinblick auf das Problem
der Erkenntnis geschaffene Doktrin, wurde dann von ihm auch auf dem
Gebiete der Ethik, der Werte, angewendet. In zahlreichen späteren

36 Obras completas (6 Bände, Madrid 1946—1947). Vgl. besonders: Meditaciones del Quijote.
1914. España invertebrada. 1921. El tema de de nuestro tiempo. 1923. Tríptico: Mirabeau, Kant,.
Goethe desde dentro. 1927. La rebelión de las maras. 1929. Ideas y creencias. 1940.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 243

Schriften hat Ortega, früher als Heidegger und unabhängig von ih


seine Lebensphilosophie aufgebaut, obwohl er bisher noch kein Sys
gegeben hat. Er weist darauf hin, daß das menschliche Leben nie e
entscheidende Rolle in der Philosophie gespielt hat: der Buddhismu
eine Philosophie des gelebten Selbstmordes, das Christentum eine P
sophie der Askese. Andererseits führt er die Lebensphilosophie auf
THE zurück, auf Goethes Wort zu Eckermann: „Je mehr ich da
nachdenke, umso mehr erscheint es mir, daß der wahre Sinn des L
darin besteht, gelebt zu werden." Das Leben muß zum Mittelpunkt
Philosophie gemacht werden. Nicht vom Ich, sondern von dem Zus
mensein der Welt mit mir, und meinem Zusammensein mit der W
muß der Ausgangspunkt genommen werden. Descartes' „Cogito
sum" ist falsch; im Gegenteil: ich bin, daher denke ich; ich denke,
ich bin. Denken ist bloß ein Teil der Funktion des Lebens. Der Mens
ist nicht mit sich beschäftigt, sondern mit der Welt. Das Leben is
Aufgabe, ein Drama. Die Kultur ist nicht etwas, das über uns
sondern ein Teil des Lebens. Keine Kultur ohne Leben. Das Leben s
kulturell, aber die Kultur muß vital sein. Leben ohne Kultur is
barei; aber nicht-vitale Kultur ist Byzantinismus. Das Leben is
höchste Wert, Träger aller anderen Werte. Auch hier zeigt sic
Zusammenhang dieser Philosophie mit der gegenwärtigen historisc
Situation der großen Krise. In einer Epoche eines stets mehr techn
gischen, monotonen Lebens, in einer Epoche, in der es immer sch
wird, ein wahrhaft eigenes Leben zu führen, erhebt der individualis
Spanier seinen leidenschaftlichen Ruf nach „meinem wahren Ich",
„meinem authentischen Leben".
Die Philosophien der phänomenologischen Bewegung sind der Ausd
der totalen Krise unserer westlichen Kultur. In Zeiten solcher
ordentlichen Krisen führt die metaphysische Angst zu einem Sehn
nach Erlösung, wie in Kierkegaard und Scheler. Diese Philosop
sind daher, in Diltheys Worten, das Ergebnis einer besonderen his
schen Situation. Als Menschen der Gegenwart und unserer griechi
christlichen Kultur übernehmen die gegenwärtigen spanisch-amer
schen Rechtsphilosophen diese Gedankengänge. Sie versuchen, auf
Gebiet der Rechtsphilosophie einen Weg zu finden, der aus der
herausführt, sie versuchen, bessere und der gegenwärtigen histor
Situation des Menschen adäquatere- Lösungen zu finden, inso
das Recht in Betracht kommt. In diesem Sinne arbeiten sie auf der B
der Philosophien der phänomenologischen Bewegung. Und sie habe

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244 JOSEF L. KUNZ

gezeichnete Bücher geschrieben, den


zende und originale Beiträge zur Lö
Probleme unserer Zeit beigesteuert

VIII. Die gegenwärtige spanisch-a


im Allgemeinen

In den vorhergehenden Abschnitte


der modernen spanisch-amerikanisc
erübrigt noch, eine kurze Ubersicht
nisch-Amerika zu geben.
In Ecuador ist JORGE VILLAG
CENTE TERÁN38 und besonders
zu nennen. Der letztere gibt sowoh
Soziologie des Rechts und was er die
ist ein Anhänger Kelsens, dessen Re
logischen Teil seiner Arbeit folgt un
Einstellung auf dem Gebiet der Axi
Bedeutendes Interesse wurde der R
in Guatemala zuteil. Neben LUIS
BENNET40, der in seiner Rechtsp
menologie, der Wertlehre und der L
ENRIGUE MUÑOZ MEANY zu nen
rechtsphilosophische Studien auf de
wegung in Guatemala inspiriert zu
zeigt er den Einfluß von Kant, Sche
In Cuha hat die Rechtsphilosophie,
dern-phänomenologisdier Richtung
deutenden Aufschwung erlebt. Unt
die auf rechtsphilosophischem Ge
nannt werden. AZCÁRATE Y ROS
die Rechtsphilosophie der verschied
Neo-Thomismus und Neo-Kantian

57 Introducción a la filosofía del derecho (Q


38 Temas para una Introducción a la Ciencia d
M Bases para una teoría integral del derecho
w El problema de la seguridad en la Estimativ
41 Libertad metafísica y libertad jurídica. (19
42 De Bergson al neo-tomismo (1903). Estudios

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I-ATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 245

macht. Er selbst tritt für eine besondere Schattierung des Rel


ein, einen Relativismus der Tendenzen, der manches mit d
Gustav Radbruchs gemein hat.
Das Hauptwerk von PABLO DESVERNINES Y GALDÓS43
großer Bedeutung für die Verbreitung neo-kantianischen D
Spanisch-Amerika. Aber der eigentliche Erneuerer der Rechtsph
in Cuba ist EMILIO FERNÁNDEZ CAMUS, der Schriften S
übersetzt und eine ausgezeichnete Einleitung über Stammle
philosophie geschrieben hat. Sein Buch über die Rechtsphilosop
Gegenwart,44 zu dem Kelsen das Vorwort schrieb, ist grundle
den Ideen Kelsens inspiriert. In zwei späteren kleinen Bänden
aktuellen Tendenzen der Rchtsphilosophie45 erörtert er im ers
besonders Kant, Del Vecchio, Stammler und Kelsen, während d
Band der Wertlehre, besonders der deutschen Kulturphilosophie
Lehre Schelers, gewidmet ist.
In Colombia ist neben dem Neo-Thomisten CAYETANO BETAN
COUR, der auch ein großer Bewunderer Schelers ist, vor allem EDU
ARDO NIETO ARTETA zu nennen. Seine Rechtsphilosophie, bisher
nur in einer Reihe von Abhandlungen skizziert, ist hauptsächlich von
Kelsen und Husserl inspiriert; aber auch der Einfluß des argentinischen
Rechtsphilosophen CARLOS COSSIO tritt zutage. NIETO ARTETO
versucht, — ein Versuch, der schon innerhalb der Wiener Schule von
FELIX KAUFMANN und FRITZ SCHREIER gemacht wurde — eine
Vereinigung von Kelsens Reiner Rechtslehre und Husserls Phänomeno
logie herbeizuführen. Er ist ein kritischer Anhänger Kelsens, Husserls
und Cossios.
Der führende Rechtsphilosoph Uruguays und einer der originellsten
Köpfe in der gegenwärtigen Rechtsphilosophie Spanisch-Amerikas ist
JUAN LLAMBIAS DE AZEVEDO, Professor der Rechtsphilosophie
an der Universität von Montevid&o. Sein Interesse liegt nicht in der
Rechtstheorie, sondern in den ontologischen und axiologischen Pro
blemen des Rechts. Er gehört der phänomenologischen Schule an, die er
mit der Wertlehre Schelers verbindet. In seiner bisher wichtigsten
Schrift46 nimmt der Autor mit Husserl die Existenz der Wesenheiten an,

45 Estudios fundamentales de Derecho. (1928.)


44 Filosofía juristica contemporánea. (Havana, 1943.)
45 Lecciones de Filoso fia del Derecho. (2 Bände, Havana, 1943.)
44 Eidética y Aporética del Derecho. (Buenos Aires, 1941); englisdie Übersetzung in dem von
mir herausgegebenen Werk: Latin American Legal Philosophy. Harvard University Press. 1948.
S. 401—458.)

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246 JOSEF L. KUNZ

die durch die phänomenologische M


können. Die Wissenschaft, die sich
ist die Eidética. Das Wesen des Rechts beschreibt der Autor auf Grund
der intuitiven Methode in folgenden Worten: Die positive Rechts
ordnung ist ein bilaterales und retributives System von Anordnungen,
von Menschen für die Regelung des sozialen Verhaltens einer Gruppe
von Menschen geschaffen, als ein Mittel der Realisierung der Gemein
schaftswerte. Das Recht regelt menschliches Verhalten; da dieses Ver
halten ohne Werte unmöglich ist, ist das Recht letzten Endes ein In
strument im Dienste der Werte. Recht ist ein Phänomen der Vermittlung
zwischen Werten und menschlichem Verhalten. Der Autor schreitet dann
zum Problem weiter, wo der Platz des Rechts in der allgemeinen Sphäre
der Objekte sei: das phänomenologische Problem der regionalen Onto
logien. Recht ist nach dem Autor ein zeitliches, unkörperliches, geistiges
Objekt. Die Werte sind für den Verfasser, in Nachfolge Schelers, ob
jektive Wesenheiten, die eine innere, axiologische Ordnung, eine hierar
chische Struktur haben. Das Recht dient nicht der Verwirklichung aller
Werte, sondern nur der Gemeinschaftswerte, die zwar höher stehen als
die biologischen, ökonomischen und technischen, aber tiefer als die logi
schen, ethischen und ästhetischen Werte.
LLAMBIAS DE AZEVEDO steht Husserl nahe; aber er übernimmt
keineswegs alle Ideen Husserls, sondern nur dessen Begriff der Wesen
heiten, der eidetischen Intuition und der regionalen Ontologien. Seine
Untersuchung ist, wie er selbst zugibt, keine wahrhaft phänomenolo
gische im Sinne Husserls, keine Untersuchung der intentionalen Akte, in
denen das Recht gegeben ist, sondern des Rechtes selbst. Auch besteht
eine bedeutende Verschiedenheit zwischen LLAMBIAS DE AZEVEDO
und NIETO ARTETA, was ihr Verhältnis zu Husserl anbelangt. Der
letztere, der vor allem an den logischen Problemen des Rechts interessiert
ist, versucht Husserl mit Kelsen zu vereinen. LL AMBI AS DE AZEVEDO,
dessen Hauptinteresse auf dem Gebiet der Axiologie des Rechtes liegt,
versucht Husserl mit Scheler und Hartmann zu vereinen.
Die moderne Rechtsphilosophie auf der Basis Kelsens und der Philo
sophien der phänomenologischen Bewegung hat, wie gezeigt, bedeutende
Vertreter in nahezu allen spanisch-amerikanischen Ländern. Aber die
auf dem Gebiete der modernen Rechtsphilosophie heute in Spanisch
Amerika zweifellos führenden Länder sind Mexiko und Argentinien.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 247

IX. Mexiko

Derzeit herrscht gewaltiges Interesse in Mexiko für Philosophie und


Rechtsphilosophie. Rechtsphilosophie wird an den juristischen Fakul
täten regelmäßig gelehrt; es gibt ausgezeichnete Zeitschriften, die
ganz oder teilweise rechtsphilosophischen Problemen gewidmet sind.*7
Groß ist die Anzahl der Juristen Mexikos, die an rechtsphilosophischen
Problemen interessiert sind, oder ihnen ihr Leben widmen. Die gegen
wärtige rechtsphilosophische Lage in Mexiko ist durch drei Faktoren
gekennzeichnet: den gewaltigen Einfluß Kelsens, die Prominenz des Neo
Kantianismus und die ungewöhnlich scharfe Trennung zwischen den
Rechtsphilosophen, die Anhänger der Marburger Schule sind, und denen,
die den Philosophien der phänomenologischen Bewegung folgen.
Der Neo-Kantianismus der Badener Schule wurde in Mexiko durch
FRANCISCO LARROYO eingeführt, der auch ihr bedeutendster Ver
treter in Mexiko ist. Er hatte in Deutschland studiert, steht unter dem
Einfluß von Richert und Windelband, dessen Geschiebe der Philosophie
er ins Spanische übersetzte. Seine Verdammung der phänomenologischen
Philosophien ist in seinen Polemiken mit JOSÉ GAOS, JOSÉ ME
DINA ECHEVARRIA, FRANCISCO ROMERO und JOAQUIN
XIRAU zu sehen.
Der Neo-Kantianismus Marburger Richtung ist in Mexiko von großer
Bedeutung. Es gibt einen Circulo de Amigos de la Filosofía Critica,
der auch eine Zeitschrift herausgibt. Der Führer dieser Richtung, dessen
Werk fast ausschließlich auf dem Gebiet der Rechtsphilosophie liegt, ist
GUILLERMO HÉCTOR RODRIQUEZ. Er ist ein orthodoxer und
fanatischer Anhänger der Marburger Schule, ein unversöhnlicher Geg
ner sowohl des Neo-Thomismus, als der Philosophien der phänomenolo
gischen Bewegung, besonders des Existenzialismus, den er mit den Argu
menten Richerts bekämpft; für ihn ist die Lebensphilosophie „bloßer
Journalismus". Daher kam es zu scharfen Polemiken über die Mar
burger Schule zwischen ihm und ANTONIO CASO; daher seine
scharfen Angriffe gegen RECASÉNS SI CHES. In seinem neuesten Buch48
legt er seine Ideen systematisch dar. Er ist ein orthodoxer Anhänger
Kelsens, ein orthodoxer Nachfolger Cohens und Natorps, deren Haupt

47 Ich möchte besonders auf die Revista de la Escuela Nacional de Jurisprudencia und die
Zeitschrift Filoso fia y Letras hinweisen.
48 Etica y Jurisprudencia (Mexiko, 1947).

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248 JOSEF L. KUNZ

werke er ins Spanische übersetzte


zusammengefaßt werden: „Die Ethik
Die Zahl der modernen Rechtsph
nenne hier nur MANUEL TERÁN M
theoretisch Stammler und besonder
ansässigen Spanier JOSÉ MEDIN
kaner JUAN JOSÉ BREMER50, de
Stammler schrieb und in seinem Ha
gische Rechtstheorie in dem echt m
durch eine „integrale" Rechtstheo
Bedeutung ist die rechtsphilosophis
VILLEGAS,51 er ist besonders vo
einflußt, aber ein unabhängiger Den
EDUARDO GARCIA MÂYNEZ,
tischem Horizont, der in Mexiko
Nicolai Hartmann und in Wien un
hat als Gründer und Leiter von Filo
von Monographien über Philosoph
spanischer Übersetzer Hervorragende
eigenen Arbeiten auf dem Gebiete
philosophie53 Einfluß in ganz Latein
Rechtstheoretisch kommt er von K
spanisch-amerikanische Rechtsphilo
Kelsen hinauszugehen, ohne ihn zu v
druck der Unterscheidung zwischen
Rechtstheoretisch sagt er, kann die
Stufenbau des Rechts, verankert in
Aber rechtsphilosophisch kann das
nur dadurch erreicht werden, daß d
anerkannt wird, wenn sie der Ausd
GARCIA MÁYNEZ glaubt, daß die
Wertethik Schelers gelöst wurde. Er
Grundes der Geltung des Rechts kei

49 Vgl. sein früheres Werk: La situación pres


59 Vorwort zu Stammler: Doctrinas modernas
lógica, teoría axiologica y teoría integral del de
51 Introducción y teoría fundamental del dere
Teoría Jurídica de la Conducta. (Mexiko, 194
11 Etica. (Mexiko, 1944.)
58 Introducción al Estudio del Derecho. (2 Bän
sind in englischer Übersetzung in dem von mi
547) erschienen.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 249

sisches ist, nämlich das Problem der Rechtfertigung des posit


Er gibt zu, daß die Existenz a priori objektiver Werte nicht
die theoretische Erkenntnis gelöst werden kann, legt aber gr
druck darauf, daß die Überzeugung, es gebe objektive W
bloßer Glaube, sondern eine inhärente Notwendigkeit des me
Geistes ist. Trotz der Trennung dieser Probleme ist er i
früheren Schriften manchmal in Gefahr, in die überwunden
Naturrechts, als einer höheren rechtlichen, und nicht einer
Ordnung zu verfallen, besonders dann, wenn er zu lehren sc
positives Recht, das dem absoluten Wert der Gerechtigkeit wi
nicht nur ein schlechtes Recht, sondern überhaupt kein Rech
seinem neuesten Buch über die Definition des Rechts54 geht
MAYNEZ von dem Worte Kants aus, daß die Juristen noch im
einer Definition ihres Begriffes des Rechts suchen. Er hält d
dies eine Folge des Umstandes ist, daß die Definition sich
dasselbe Objekt, sondern auf drei verschiedene Objekte be
juristischen, philosophischen und soziologischen Gesichtspunkte
glaubt, damit eine Anwendung von ORTEGA Y GASSETs
tivismus auf das Recht zu geben. Doch erscheint mir das kau
In Ortegas Beispiel betrachten mehrere Personen von vers
Standpunkt dieselbe Landschaft, während bei Garcia Máyn
sonen zugegebenermaßen, auf drei verschiedene Landschaften
Das ist nicht Ortegas Perspektivismus, sondern eher die „Log
sprunges" der Marburger Schule, wonach die Erkenntnis
thode das Objekt erzeugt. GARCIA MÁYNEZ gelangt in di
im Einklang mit der modernen Naturrechtslehre,55 mehr od
zu dem Resultat, daß das sogenannte Naturrecht zwar eine
normative Ordnung, aber keine Rechtsordnung, sondern Eth
rend Garcia Máynez, trotz mancher Kritik an der Reinen Rec
rechtstheoretisch stark von Kelsen beeinflußt ist, ist er auf
schem Gebiet ein voller Anhänger Schelers. Seine eigene phil
Haltung folgt, wie er selbst feststellt, den Lehren von Hartm
Verdross.
LUIS RECASÉNS SICHES ist der bedeutendste gegenwärti
philosoph, nicht nur innerhalb Latein-Amerikas, sondern auch
des Gebietes der spanischen Sprache. In Guatemala von sp
tern geboren, kam er in früher Kindheit nach Spanien. E

54 La definición del derecho. Ensayo de perspectivismo jurídico (Mexiko).


55 J. B. LUIS LEGAZ Y LACAMBRA, JEAN DABIN, COING und viele ander

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250 JOSEF L. KUNZ

unter Ortega y Gasset, später unte


ler in Deutschland und unter Kelsen in Wien. Vor dem Ausbruch des
spanischen Bürgerkrieges war er Professor an der Universidad Central
in Madrid; nachher Professor der Rechtsphilosophie an der Nationalen
Universität von Mexiko; derzeit ist er im Sekretariat der Vereinten
Nationen.
RECASÉNS SICHES ist ein Spanier von universeller Bildung und
großem Wissen, ein unermüdlicher Arbeiter trotz bitterer persönlicher
Erfahrungen und großer Schwierigkeiten, ein Denker mit eigenen Ideen.
Als Ubersetzer, als Kritiker, als Lehrer und als Schriftsteller hat er eine
enorme Tätigkeit entwickelt. Er hat die Philosophie des Suárez unter
sucht, hat tiefschürfende Darstellungen der neuesten deutschen und
österreichischen Rechtsphilosophie veröffentlicht.56 Sein bisheriges Haupt
werk57 ist das bedeutendste rechtsphilosophische Werk der Gegenwart
in spanischer Sprache, das einzige, das ein volles System der Rechts
philosophie gibt, in dem eine kritische Stellungnahme zu den modernen
Philosophien und Rechtsphilosophien mit seinen eigenen, im Laufe eines
Vierteljahrhunderts entwickelten Ideen vereint ist.
Er ist sich vollkommen dessen bewußt, daß ein Rechtsphilosoph zu
gleich Philosoph und Jurist, aber vor allem Philosoph sein muß, daß es
nicht genügt, dieses oder jenes philosophische System dogmatisch als
Voraussetzung der eigenen Rechtsphilosophie zu übernehmen. Sein
Hauptwerk besteht aus drei Teilen. Der erste Teil behandelt den Platz
des Rechts im Universum. Das Recht ist für den Autor eine objektivierte
Form des menschlichen Lebens und zwar des kollektiven Lebens. Mit
dem individuellen, dem „authentischen" Leben hat es nidit das Recht,
sondern die Ethik zu tun. Das Recht ist ein System von Normen eines
speziellen Typus, das von den Normen anderer normativer Ordnungen
unterschieden werden muß. Was die Haltung gegenüber Kelsens Reiner
Recbtslehre betrifft, unterscheidet RECASÉNS SICHES schärfer als
GARCIA MÁYNEZ zwischen Rechtstheorie und Rechtsphilosophie. In
dem der Rechtstheorie gewidmeten zweiten Teil seines Werkes erweist
sich Recaséns Siebes als ein kritischer Anhänger Kelsens. Er unterscheidet
klar zwischen Recht und Gerechtigkeit, zwischen Recht und Ethik.
Rechtstheoretisch gesehen, ist die Gerechtigkeit kein Teil des Rechts
begriffes. Das Recht kann gerecht oder ungerecht sein, ohne aufzuhören,

M Direcciones contemporáneas del pensamiento jurídico. La filoso fia del derecho en el siglo XX.
(Barcelona, 1928.)
57 Vida Humana, Sociedad y Derecho. (Mexiko, 1. A. 1940, 2. A. 1946.) Englische Übersetzung
in dem von mir herausgegebenen Werk (op. cit., 1948), S. 1—341.

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 251

Redit zu sein. Das Recht ist eine Form; seine Rec&tiqualität liegt nicht
in seinem Inhalt, sondern in der inexorablen Durchsetzung seiner Nor
men, die den verschiedensten Inhalt haben können.
Aber diese rechtstheoretische Erkenntnis, fährt RECASÉNS SICHES
fort, bedeutet nicht einen philosophischen Relativismus, bedeutet keine
Indifferenz gegenüber den Zielen des Rechts. Doch der Ort für die
Dntersuchung dieser Probleme ist nicht die Rechtstheorie, sondern die
„Estimativa Jurídica", die juristisdie Wertlehre, der der dritte Teil
des Werkes gewidmet ist. Eine wissenschaftliche juristische Wertlehre
hat die Axiologie Schelers und Hartmanns mit der Lebensphilosophie
Ortega y Gassets zu vereinen. Der Versuch, Schelers Wertlehre in der
Lebensphilosophie zu verankern, stellt den originalen Beitrag von
Recaséns Siches auf philosophischem Gebiet dar. Das menschliche Leben
ist die radikale Realität. Der wirkliche Mensch von Fleisch und Blut ist
der Vermittler zwischen der realen Welt der Phänomene und der idealen
Welt der Werte. Die idealistische Philosophie von Descartes bis Kant
muß überwunden werden. Der Ausgangspunkt kann nicht das Ich, son
dern muß die Koexistenz der Welt mit mir sein. Das menschliche Leben
ist, in den Worten Ortegas ein Drama, macht in jedem Moment Ent
scheidungen, die getroffen werden müssen, notwendig. Jeder Akt des
Lebens stellt ein Problem dar, bedarf einer Rechtfertigung, Entscheidung
setzt Wählen, Wählen setzt Vorziehen, Vorziehen setzt Werte voraus.
Das Leben ist ein Komplex von Wertungen.
Die Rechtsphilosophie von RECASÉNS SICHES ist eine Philosophie
der juristischen Werte, das Problem der Rechtfertigung des positiven
Rechts, natürlich nicht vor einem Gerichtshof, sondern in foro conscien
tiae. Dieses Problem ist unvermeidlich, aber es transzendiert die Rechts
theorie. Gerechtigkeit ist kein Teil des rechtstheoretischen Rechtsbegriffes;
aber alles Recht ist notwendigerweise auf Werte bezogen. Wohl akzep
tiert der Autor Schelers und Hartmanns Wertlehre; aber er betont
auch die Notwendigkeit einer Revision dieser Lehre: Die Werte sind
objektiv, aber nicht jenseits des menschlichen Lebens, sondern intra-vital.
Das Recht kann nur die Gemeinschaftswerte verwirklichen, die hier
archisch tiefer stehen als die individuellen Werte der Ethik und Religion.
Die juristischen Werte haben nicht den höchsten Rang. Der Begriff der
Rechtsperson bedeutet die Teilnahme an einer tieferen Schicht von Wer
ten, in der alle Individuen gleich, generalisiert, schematisiert, zu Typen
geformt sind. Aber die Rechtssicherheit ist die unentbehrliche Voraus
setzung für das wirkliche, das einzigartige, das authentische Individuum,

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252 JOSEF L. KUNZ

das an einer Schicht von einzigartig


die hierarchisch über dem Recht
RECASÉNS SICHES in seiner Rech
echt spanischen Individualismus, d
charakteristisch ist, von den frühe
Philosophie bis zu dem tiefen We
des urspanischen Philosophen M

X. Argentinien

Auch in Argentinien finden wir eine große Beschäftigung mit Rechts


philosophie: Kurse an den Universitäten, zahlreiche, der Rechtsphilo
sophie ganz oder teilweise gewidmete Zeitschriften, die Gründung des
Argentinischen Instituts für Rechts- und Sozialphilosophie, und zahl
reiche Gelehrte, die sich auf diesem Gebiete betätigen oder ihm sogar
ihr Leben widmen.
Wie schon früher erwähnt, ist die neo-thomistische Rechtsphilosophie
in Argentinien stark vertreten. Die neo-kantianischen Schulen übten
bedeutenden Einfluß in Argentinien aus. Besonders Stammler fand zahl
reiche Anhänger. Ich nenne SEGUNDO LINARES QINTANA, der
über Stammler schrieb; ALBERTO J. RODRIGUEZ spielte bei der
Einführung der Marburger Schule eine führende Rolle und hat zahl
reiche Schriften über Stammler und die gegenwärtige Lage der Rechts
philosophie veröffentlicht. ENRIGUE R. AFTALIÓN hat in seinem
vielgelesenen Hauptwerk58 auch eine Kritik des Positivismus Comtes
gegeben, der lange in Argentinien eine so bedeutende Rolle spielte; Af
talión hat sowohl die Vorherrschaft Kants und des Neo-Kantianismus
als auch die Tendenz einer neuen Rückkehr zum Naturrecht unter
strichen, wie sie in Stammler, Del Vecchio und Recaséns Siebes zu
tage tritt.
Aber der Gelehrte, dem vor allem das Verdienst der Einführung
Stammlers in Argentinien gebührt und dessen eigenes Lebenswerk sidt
eng an Stammler anschließt, der für ihn „eine der höchsten Figuren in
der gesamten Geschichte der Rechtsphilosophie" ist, ist ENRIGUE
MARTINEZ PAZ, Professor an der Universität von Córdoba. Auch

» Introducción al Derecho (mit FERNANDO GARCIA OLANO. (Buenos Aires. 1. A. 1928.


4. A. 1939.)

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 253

sein Hauptwerk59, obwohl keineswegs der eigenen Ideen erma


folgt im wesentlichen Stammler.
Trotz der großen Anzahl bedeutender Persönlichkeiten auf de
der Rechtsphilosophie im heutigen Argentinien, ist CARL
als der originellste Denker anzusehen. Cossio, Professor an de
sität Buenos Aires und La Plata, Präsident des Argentinischen
für Rechts- und Sozialphilosophie, führte Kelsen in Argen
und ist der Führer der argentinischen Kelsen-Schule. Seine Int
und Weiterbildung der Reinen Rechtslehre machte ihn zum H
neuen Bewegung, zum Führer einer Cossio-Schule, die bereits
hänger in Argentinien gefunden hat, nicht nur unter seinen
sondern auch unter älteren, anerkannten Juristen. Durch seine
Schriften übt er Einfluß in ganz Latein-Amerika aus; zahlreiche
über seine egologische Rechtslehre sind in Latein-Amerika er
auch in Spanien wird seine Arbeit mit großem Interesse v
neben gibt es auch eine starke Opposition gegen Cossios Ideen,
und außerhalb Argentiniens.
COSSIO begann seine theoretische Arbeit unter dem Ein
argentinischen Revolution von 1930 mit einer Untersuchung
Begriffs der Revolution und der Funktion von Kelsens Gr
Schon in diesem Buch60, das noch stark unter dem Einfluß S
steht, zeigt sich der vorwiegende Einfluß Kelsens; aber a
hier finden wir die Rede vom „gelebten Recht als einer Form
lichen Verhaltens." Hier, wie in späteren Schriften, waren es
argentinische Ereignisse, die ihn zur theoretischen Arbeit füh
Teil seiner Doktrin, daß die Rechtsphilosophie der juristisc
nahestehen soll. Einer Reihe monographischer Untersuchunge
mit Einzelproblemen, z. B. dem Problem der sogenannten „Lü
Recht beschäftigen, folgte sein Buch von 194461, das zum erst
systematische Darstellung seiner Rechtsphilosophie, die e
logische Rechtslehre" nennt, gibt.
Schon seine früheren Untersuchungen sind auf Kelsen aufg
für ihn der Jurist unserer Zeit ist; Kelsens Reine Rechtslehre,
ist nicht einfach eine neue Rechtstheorie; sie bedeutet eine k

M Sistema de Filosofía del Derecho. (Buenos Aires. 3. A. 1940.)


'• El consepto puro de la revolución. (Buenos Aires. 1936.)
11 La teoría egológica del deredw. (Buenos Aires, 1944; Tgl. meine Besprechung
Review. Band 17 [1945]. S. 226 ff.) Die Einleitung Rieses Buches über die „Phäno
gerichtlichen Entscheidung" wurde in englischer Übersetzung in dem von mir her
Werk (op. cit., 1946, S. 343—400) veröffentlicht.

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254 JOSEF L. KUNZ

nisdie Wendung der Rechtswissensc


lichen Wert. Cossios Rechtstheorie i
zugehen, ohne ihn zu verlassen", auc
tinische Rechtsphilosophie zu schaff
Ideals der Argentinidad. Seine Lehre
auf Husserls Phänomenologie und
aufgebaut. Von Husserl nimmt er
etwas „gerichtet" ist. Die Rechtsnor
dieses Urteil intendiert, ist für Cos
phänomenologische Methode und d
von Husserl. Von Heidegger nimmt
die Unterscheidung zwischen chrono
theys Begriff der „Struktur", Dilthe
erklären, die Kulturwissenschaften v
pfeiler der egologischen Rechtstheor
Wir sehen daher in Cossios Denken
in dem Denken anderer führender s
sophen der Gegenwart; aber das Res
zollt Kelsens Normativismus die grö
daß Cossio in diesem Punkt Kelsen n
und Theoretiker, kein Metaphysiker
amerikanischen Rechtsphilosophen i
wenigsten Metaphysiker, daher sein
ist er im Gegensatz zu den Meisten,
rend er für den Logiker Husserl beg
Scheidung zwischen den „positiven"
den „wahren" Werten, die er der
gesprochen polemische Methode im
mit Kelsen. Interessant ist es, daß in
Bedeutung der gerichtlichen Entsche
in den Ländern des Römischen Rech
COSSIO beginnt seine Untersuchun
des Wesens des Rechts und seiner Ste
ebenso wie LLAMBIAS DE AZEVEDO und RECASÉNS SICHES.
Das Recht ist für Cossio ein kulturelles Objekt und daher, im Gegensatz
zu den realen und idealen Objekten, den Werten gegenüber nicht neutral.
Die richtige Methode der Erkenntnis kultureller Objekte ist die In
tuition, Diltheys „Verstehen". Aber im Gegensatz zu Recaséns Siebes,
ist ihm das Recht nicht „objektiviertes menschliches Leben", wie eine

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LATEIN-AMERIKANISCHE RECHTSPHILOSOPHIE 255

Statue, sondern „lebendes menschliches Leben". Das Recht ist ein „eg
logisches" Objekt — daher der Name seiner Theorie. Recht ist mensc
liches Verhalten — el derecho es conducta —: das ist der Grundpfeile
von Cossios Lehre. Daher ist die Rechtswissenschaft eine empirische
senschaft, eine Wissenschaft von Realität; aber diese Realität ist nich
die Erfahrung der Natur, sondern der Freiheit; menschliches Verhal
ist „phänomenalisierte metaphysische Freiheit".
Jede Wissenschaft ist Erkenntnis durch Begriffe, operiert nicht m
der intuitiven, sondern der analytischen Methode. Das Objekt
Rechtswissenschaft ist menschliches Verhalten; die rechtlichen Begrif
sind Objekt der juristischen Logik. Da nur eine neue Logik des Sollen
dem egologischen Objekt des Rechts adäquat ist, sieht Cossio in d
Entdeckung und Ausarbeitung der juristischen Logik Kelsens unsterb
liches Verdienst.
COSSIO nimmt im allgemeinen Kelsens Reine Rechtslehre an. Ab
— und das ist das Neue an ihm — er gibt ihr eine neue Interpretatio
Die Reine Rechtslehre ist für Cossio zwar für die Rechtswissenschaft
unentbehrlich, aber nicht selbst Rechtswissenschaft, sondern juristische
Logik. Alle Themen Kelsens schreibt er, sind logische Themen und in
dieser Beziehung hat Kelsen Definitives geleistet. Aber sie ist nicht
Rechtswissenschaft, da deren Objekt menschliches Verhalten ist, während
die Normen nur intellektuelle Vorstellungen sind, mit deren Hilfe wir
das wirkliche Objekt der Rechtswissenschaft, menschliches Verhalten,
denken. Im Gegensatz zu GARCIA MÁYNEZ und RECASÉNS SI
CHES, zieht er die Scheidungslinie nicht zwischen Rechtstheorie und
R.editsphilosophie, sondern zwischen Rechtswissenschaft und juristischer
Logik; neben beiden steht eine metaphysische Theorie der wahren juri
stischen Werte.
Da menschliches Verhalten Werten gegenüber nicht neutral sein kann,
muß die Rechtsnorm sich mit juristischen Werten befassen. Cossio sieht,
im Gegensatz zu anderen spanisch-amerikanischen Denkern, im Recht
nicht eine Vermittlung zwischen menschlichem Verhalten und den Wer
ten; die Werte sind vielmehr dem Recht immanent. Das Recht hat nicht
nur logisch-formale und materiell-kontingente Elemente, sondern auch
ein drittes Element, juristische Wertungen, das sowohl notwendig als
materiell ist. Cossio akzeptiert voll Kelsens Forderung, daß die Rechts
wissenschaft als Wissenshaft sih ihrem Objekt in unparteiliher und
neutraler Haltung nähern muß. Aber für den Juristen sind die positiven,
einer bestimmten positiven Rechtsordnung immanenten Werte, als Daten

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256 JOSEF L. KUNZ

gegeben. Ob diese positiven Werte den


ist kein juristisches, sondern ein emine
den Bereich der Axiologie gehört.
COSSIO ist ein Anhänger Kelsens, abe
von der Kelsens fundamental in zwei P
Reinen Rechtlehre als bloßer juristis
die Kelsen scharf ablehnt, und vor all
ist menschliches Verhalten. Cossios Leh
begriffen und es ist daher derzeit nich
zu fällen. Cossio ist zweifellos eine inte
Erscheinung, ein unermüdlicher Arb
origineller Denker und der Rechtsphil
seiner Thesen, so die Unterscheidung
sten als Daten gegebenen Werten einer
Werten, erscheinen mir richtig und b
mentalthese: Recht ist menschliches Ve
Das Recht ist nicht menschliches Verh
lichen Verhaltens. Für den Juristen ist

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