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de der „modernen“ oder der „postmodernen“


Fraktion anzuschließen. Wird danach
gefragt, wie der französische Philosoph
Deleuze lesen Gilles Deleuze (1925-1995) ge-genwärtig
rezipiert wird, so steht die Antwort im
Deleuze lesen Schatten dieser mehr oder weniger
Hinweise von Marc Rölli vergangenen Probleme. Auch Deleuze
wurde der so genannten „neueren
französischen Philosophie“ zugerechnet
und mitsamt einer Handvoll
Zur Rezeption „Neostrukturalisten“ als Vertreter der
„Gegenaufklärung“ kritisiert bzw.
Wenn der Schein nicht trügt, so befinden vielmehr beschimpft.
wir uns heute in einer Zeit der
allgemeinen Her-meneutik: „Alles ist Seinen eigentlichen Austragungsort hatte
verständlich“, so lautet das Motto. der „Aufklärungsstreit“ allerdings wohl
Kämpferisch geführte Diskussionen sind doch nur im Feuilleton. In der Chronologie
selten geworden, die großen Frontlinien der Rezeption philosophischer Arbeiten
existieren kaum mehr, niemand möchte von Deleuze markiert er eine
der „Ideologie“ bezichtigt werden. Das Übergangsphase. Bis weit in die 90er
hat unter anderem zur Folge, dass Jahre hinein dominierten außeraka-
analytische PhilosophInnen heute Deleuze demische Lektüren vor allem des
lesen können und sich berühmt-berüchtigten Anti-Ödipus (1972)
DifferenzphilosophInnen mit mo-derner die Rezeption, ein von Deleuze
Sprachphilosophie und ihren Wurzeln bei gemeinsam mit dem Psychoanalytiker
Wittgenstein und Austin beschäftigen: in Félix Guattari geschriebenes Buch. Neben
beiden Richtungen haben sich die die revolutionär gestimmten politischen
Scheuklappen gelockert, hier und da sind und anti-psychiatrischen (später in
sie ganz verschwunden. Selbst die (lange Subkulturen abgesunkenen)
Jahre kaum beachteten) Anknüpfungsversuche, verlegte sich die
philosophiehistorischen Arbeiten von Rezeption dann auf den Bereich der
Deleuze werden aktuell breit rezipiert, Ästhetik. Die vielfältigen Arbeiten von
und dies zunehmend in allen hier Deleuze zur Literatur und zum Film
relevanten akademisch geprägten initiierten Projekte im kunst- und
Forschungsfeldern, nicht nur im Kontext kulturwissenschaftlichen Betrieb.
Nietzsche.
Im Unterschied zur deutschsprachigen
Damit wird behauptet, dass es einmal Philo-sophie, die sich erst am Leitfaden
anders war. Der „Aufklärungsstreit“ der Ästhe-tik zu den eigentlich
zwischen Frankfurt und Paris wurde als philosophischen Texten von Deleuze
solcher eigentlich nur in Frankfurt hangelte und jahrzehntelang das
inszeniert und ausge-fochten. Er führte Damoklesschwert des „rauschhaften“
dazu, überpointiert gesagt, dass sich viele Anti-Ödipus im Nacken spürte, verlief die
Studierende an deutschen Universitäten französische und anglo-amerikanische
vor die Wahl gestellt sahen, sich entweder Rezeption weniger sprunghaft, weniger
einseitig und weniger getrieben von einem gönnerhaft bescheinigt, den Anschluss an
generellen, auf „Irrationalismus“ die internationale Deleuze-Forschung
lautenden Verdachtsmoment. Das hat hergestellt zu haben. Dem „strengen
dazu geführt, dass in den letzten zehn bis Kritiker“ sei es gedankt!
zwanzig Jahren zahlreiche
englischsprachige, aber auch französische Differenzphilosophie
Arbeiten über Deleuzes Philosophie
erschienen sind. Vor allem in den USA Von Anfang an hat sich die Philosophie von
existiert ein regelrechter „Boom“ in Deleuze um den Gedanken der Differenz
Sachen Deleuze – auf diversen Ebenen: herum konstituiert, und hier liegen ihre
Kongresse, Internetseiten, international wesentlichen, aufgrund ihrer Radikalität
agierende Netzwerke, Sammelbände etc. häufig provozierenden Einsichten. Will
man daher ihre Relevanz in den
Inzwischen macht sich in der gegenwärtig geführten philosophischen
Gegenwartsphilosophie auch hierzulande Diskussionen herausstellen, so wird man
das Gewicht von Deleuze deutlich sich erstens auf die von Deleuze
bemerkbar. Dabei zeigt sich, dass entwickelte Differenztheorie beziehen.
anderswo ebenfalls diverse Rezep- Ihre systematische Ausführung findet sich
tionshindernisse existieren. Im anglo- in dem Buch Differenz und Wiederholung.
amerikanischen Raum beschäftigen sich Sie zeichnet sich dadurch aus, dass sie im
zumeist nicht die philosophischen, Unterschied zu Derrida, Lyotard oder
sondern eher die literatur- und Levinas einen positiven Begriff der
kulturwissenschaftlichen Fakultäten mit Differenz entwickelt. Das hat
„kontinentaler“, d. h. „nicht- Konsequenzen im Feld der politischen
analytischer“ Philosophie. Das bedeutet Philosophie, im Kontext der Debatten um
für die Auseinandersetzung mit der sexuelle oder kulturanthropologische
Philosophie von Deleuze, dass in vielen Differenzen (Postcolonial-Studies,
Arbeiten ein der Sache äußerlich Feminismus) sowie in der
bleibendes Einführungsniveau nicht Metaphysikkritik. Mit Blick auf die
überschritten wird, da die systematischen Nietzschelektüren kann
entsprechenden Kenntnisse der man hier etwa von einer Ontologie ohne
philosophischen Klassiker, auf die sich Me-taphysik, von Immanenz ohne
Deleuze permanent bezieht, nicht sehr Transzendenz sprechen. Dabei zeigt sich,
verwurzelt sind. In Frankreich leidet die dass Deleuze an einem starken Begriff der
Rezeption an der Präsenz der direkten Philosophie festhält, den er gegen
Schüler und Anhänger, die nur zu oft dem Übergriffe aus den Sozial- und
Meister huldigen oder aber über recht Naturwissenschaften profiliert. Es gelingt
engstirnige Kritiken nicht hinaus kommen. ihm, mittels einer neuartigen Theorie
(Hier wie dort bestätigen Ausnahmen die philosophischer Begriffe zwischen
Regel.) dialektischen und empiristischen
Vorstellungen eine Brücke zu bauen. Der
Selbst in einer mehr als fragwürdigen in diesem (begriffstheoretischen)
Sammelrezension zu Deleuze in der Zusammenhang in der Philosophie
Philosophi-schen Rundschau (3/2005) herrschende „Schlaf der Vernunft“ wird
wurde der neueren Rezeption hierzulande nachhaltig gestört. Das hat Auswirkungen
auf methodologische Fragen der Spielarten des Postkantianismus und
Begriffsgeschichte und, allgemeiner, der Neoleibnizianismus. So zeigt sich, dass die
Philosophiegeschichte überhaupt. mit Reid, Kant und Hegel einsetzende
Disqualifizierung des Empirismus als eine
Empirismus Denkrichtung, die sich selbst (im Sinne
eines „ruinösen“ Skeptizismus) aufhebt,
Die von Deleuze entwickelte äußerst produktive Entwicklungen in der
Differenzphilosophie ist im Kern ein Philoso-phie, v. a. im Laufe des 19.
radikaler Empirismus. Anfang des Jahrhunderts, verdunkelt und ignoriert
Philosophierens ist eine nicht begrifflich hat.
vermittelte Erfahrung, der flux of
experience als Prozess des Werdens. Mikropolitik
Dieses „Außen“ wird philosophisch als
Differenz auf den Begriff gebracht, ohne Ein weiteres aktuell lebendiges
es doch im selben Atemzug zu tilgen oder Forschungs-feld konstituiert sich um die
aufzuheben im Sinne eines Ansätze zu einer politischen Philosophie,
„identifizierenden Denkens“ (in der die sich vor allem in den mit Félix
Tradition der idealistischen Guattari publizierten Arbeiten der 70er
Aufklärungskritik). Hiermit schafft Jahre finden lassen. In negativer Hinsicht
Deleuze eine Verbindungslinie zwischen steht die Abgrenzung von psycho-
einer „alten“ Theorietradition, die häufig analytischen und marxistischen Positionen
nur noch als Wissenschaftstheorie und im Mittelpunkt des Interesses, in positiver
logischer Empirismus firmiert, und einem Hinsicht die Idee von einem immanent
„neuen“, auf strukturalistischen und kon-struierten „Begehren“ oder „Leben“,
phänomenologischen Verfahren das sich in sog. „kollektiven Gefügen“
aufbauenden Immanenzdenken. Die (assemblage, agencement) oder
Aktualität von Deleuze zeigt sich hier zum „Maschinen“ gesellschaft-lich und
einen darin, bislang unentdecktes historisch konkretisiert und differenziert.
Potential überlieferter Positionen (z. B. Einschlägig ist hier u. a. der Begriff des
des Humeschen Empirismus) „Rhizom“, der auf komplexe
aufzuschlüsseln, zum anderen darin, Verflechtungen und Strukturen verweist,
Phänomenologie und Strukturalismus mit die hierarchischen Ordnungsmodellen in
einem empiristisches Ansatz her- sozialen Kontexten etc. zugrunde liegen.
auszufordern und weiterzuentwickeln. In Das Konzept des kollektiven Gefüges ist in
diesem Zusammenhang bewegen sich viele unterschiedlichsten Bereichen
der neueren Forschungen zu Deleuze. Die anschlussfähig: die in ihm liegenden
Ausarbeitung einer Zeitphilosophie steht begrifflichen Möglichkeiten, komplexe
dabei im Mittelpunkt. Zwischen Hume und Sachverhalte und Vermittlungen zu
Deleuze erscheinen eine ganze Reihe von denken, haben z. B. in der
philosophischen Vermittlungsgestalten, Wissenschaftsgeschichte Bruno Latours
die sich auf produktive Weise an die oder in der „politischen Phänomenologie“
skeptische Methode des klassischen Donna Haraways ih-re Spuren
Empirismus anschließen: einerseits der hinterlassen. „Mikropolitik“ macht es
klassische Pragmatismus, andererseits möglich, Prozesse und Bewegungen un-
Bergson und Nietzsche, aber auch diverse terhalb der Oberfläche der großen
Institutionen positiv zu fassen: sie bietet werden können. Schwerpunkte seiner
sich daher an, die von Foucault Auseinandersetzung mit Kunst liegen im
entwickelte Analytik der Macht so zu Kino, dann aber auch in der modernen
ergänzen, dass nicht nur die Phänomene Malerei – es gibt eine Monographie zu
der „Machtwirkungen“ (Disziplinierung, Francis Bacon – und in der modernen
Kontrolle, Normalisierung etc.) sondern Literatur: Carroll, Proust, Kafka, Beckett
auch die Phänomene der u. v. m.
„Widerstandslinien“ in den Blick kommen.
Diese sind dann allerdings nicht mehr nur Die wichtigsten Texte
als das Andere oder Negative der Macht,
sondern positiv in ihren eigentümlichen Will man die Philosophie von Deleuze von
Prozessstrukturen zu begreifen. ihren Grundlagen her rekonstruieren, so
kommt man nicht darum herum, sein
Ästhetik einerseits systematischstes und
andererseits schwierigstes Buch zu
Für die philosophische Auseinandersetzung studieren: Différence et Répétition
mit der Kunst liefert Deleuze neue erscheint 1968 in Paris, Differenz und
Impulse mit seiner metaphysikkritischen Wiederholung erscheint 1991 in München:
Position, die die „ästhetische Erfahrung“ die gelungene Übersetzung ins Deutsche
aus dem Geraune eines Mystisch- von Joseph Vogl. In diesem Buch führt
Eigentlichen heraushält. Mit seinem Deleuze die Ergebnisse seiner
Bekenntnis zu den extremen „Perzepten“ philosophischen Arbeiten der 60er Jahre
und „Affekten“, die nicht mehr länger zusammen, indem er konstruktiv und
unter der Form des Gemeinsinns eigenständig seine Idee der Philosophie –
funktionieren, hält er einerseits das unter der Bezeichnung: „Transzendentaler
Pathos der großen, echten Kunst aufrecht, Empirismus“ – zur Ausführung bringt. Das
verpflichtet aber andererseits die in ihr Buch hat sieben Teile: fünf Kapitel, eine
wirksamen Erfahrungsformen auf einen Einleitung, die das Programm von
durch und durch profanen, unmittelbar Differenz und Wiederholung umreißt,
gesellschaftlichen Kontext. Keineswegs sowie einen Schluss, der eine
bezieht er das Wesen der Kunst auf eine komprimierte Darstellung des Ganzen
„Idee“ des Absoluten, die eine enthält. Das erste Kapitel situiert den
religionsgeschichtliche Kontinuität zum Begriff der Differenz in der Geschichte der
Ausdruck bringt. Ebenso wenig wird die Philosophie (v. a. der Ontologie) von
Kunst philosophisch instrumentalisiert, Platon bis Heidegger, mit den
indem sie zum Statthalter einer begrifflich Schwerpunkten Aristoteles, Spinoza und
unerreichbaren Wahrheit (z. B. Hegel. Das zweite Kapitel behandelt die
authentische Gefühle, Stimmungen, Philosophie der Wiederholung in
Artikulationen des beschädigten Lebens, Anlehnung an Kierkegaard, Nietzsche,
des Seinsgeschicks etc.) gemacht wird. Bergson, Phänomenologie (Husserl und
Vielmehr werden die Bereiche der Kunst Heidegger) und Psychoanalyse (Freud und
und der Philosophie „systematisch“ Lacan). Während das erste Kapitel noch
getrennt, so dass ihre im Prinzip jeweils stärker historisch-kritisch ausgerichtet ist,
eigentümliche Tätigkeit, aber auch ihre wird im zweiten – im Kontext einer
faktischen Interferenzen herausgestellt dreistufigen Entfaltung der Zeittheorie –
die eigene Position deutlicher und dem dort entfalteten Zeit- und
herausgestellt. Das dritte Kapitel gönnt Wiederholungsbegriff. Im Zuge einer
der Leserin und dem Leser eine philo-sophischen Auseinandersetzung mit
Atempause: in ihm wird im Rückgriff auf der Energetik und Thermodynamik wird an
Nietzsche eine generelle Kritik am zentraler Stelle der Begriff der Intensität
„moralischen Bild des Denkens“ geübt, die eingeführt, der einen implikativen
sich strategisch auf die bereits 1963 von Seinsmodus konkretisiert, der stets hinter
Deleuze vorgelegten Kant- den extensiv qualifizierten Resultaten der
Interpretationen stützen kann. Hier wird Aktualisierungsvorgänge zurückbleibt. Die
gezeigt, wie sich der Begriff des Referenzautoren dieses Kapitels sind vor
Transzendentalen verändern muss, wenn allem Leibniz, Kant, Bergson und
er mit der ungeschminkten, rohen oder Nietzsche.
auch erhabenen (d. h. nicht a priori auf
eine „harmonische“ und „wohlgeformte“, Neben die Texte, die sich explizit mit der
in der Einheit des Selbst-bewusstseins theoretischen Ausarbeitung einer neuen
verankerte) Erfahrung vereinbar bleiben Dif-ferenzphilosophie beschäftigen (auch
will. Dieses Kapitel eignet sich besonders die Logik des Sinns (1969) und Was ist
gut zum Einstieg in die Lektüre. Das vierte Philosophie? (1991) wären hier zu nennen)
Kapitel verfährt schematischer und treten die philosophiehistorischen
begriffslastiger, indem es einen Arbeiten. Diese sind allesamt auf
neuartigen (genetischen, nicht eigenwillige Weise der (unzeitgemäßen)
formalistisch starren) Strukturalismus in Aktualität ihres Gegenstands verpflichtet,
die Wege leitet. Hier präsentiert sich halten die Begriffe von Philosophie und
Deleuze als abstrakter Denker, der sich Geschichte in Bewegung und etablieren
nicht scheut, mit vielen neu konzipierten, einen durchaus neuartigen Stil der
z. T. manieriert klingenden Begriffen zu historischen Auseinandersetzung. Zum
hantieren, um ein differenztheoretisch einen bilden diese Arbeiten daher einen
begründetes Strukturdenken zu entwerfen integralen Teil des Deleuzeschen
– in steter Diskussion mit den Heroen der Philosophierens, zum anderen wird durch
„strukturalistischen Bewegung“: Saussure, die vom Gängigen abweichende
Lévi-Strauss, Barthes, Lacan, Althusser u. Perspektive bei den behandelten Autoren
a. Hier lassen sich Parallelen zu Derrida Neues sichtbar und so die
beobachten, allerdings distanziert sich Forschungslandschaft stimuliert. Dieses
Deleuze entschiedener von der „innovative Potential“ hat man bei den
Metaphysiktradition, der er nicht länger Mono-graphien über Nietzsche (1962),
(und sei es ex negativo) anhängen will. Bergson (1966) und Foucault (1986)
Wiederum im Rekurs auf Kant, dieses Mal bereits vielfach anerkannt. Anders liegen
mit Bezug auf die transzendentale die Dinge noch bei den als „Einführungen“
Dialektik, interpretiert er die geltenden Büchern über Hume (1953) und
transzendentale Idee als problematische Kant (1963), wie auch bei den eher
oder „virtuelle“ Struktur. Ihre raum- schwierigen, aber mit großer Kunst und
zeitlichen Aktualisierungsformen und - auf hohem Niveau geschrie-benen Studien
dynamiken werden dann im fünften über Spinoza (1968) und Leibniz (1988).
Kapitel verhandelt. Hier schlägt Deleuze Zum Studium der beiden zuletzt
einen Bogen zurück zum zweiten Kapitel genannten Texte sind entsprechende
philosophiehistorische Kenntnisse und ein „kulturwissenschaftlichen“, politischen,
Wissen um das Selbstverständnis des aber auch viele der auf Kunst bezogenen
Deleu-zeschen Denkens kaum entbehrlich. Herangehensweisen der Deleuze-
Rezeption kaprizieren sich auf diese
Den „soliden“ Monographien hat Deleuze Texte.
auch populärere Bücher zu Nietzsche
(1965) und Spinoza (1980) an die Seite Zuletzt sind die Bücher zu nennen, die
gestellt. Sein durchgängig politisch sich hauptsächlich auf die Künste
motivierter, popu-larphilosophischer Zug beziehen. Be-reits 1964 erscheint eine
bricht sich dann vor allem in den Studie zu Marcel Proust, die die
Kooperationen mit Guattari in den 70er zeitphilosophischen, auf eine
Jahren Bahn. Bezogen aufs „gesell- differentielle Theorie der Vermögen
schaftliche Milieu“ zeigt sich die ausgerichteten Überlegungen weiter
Differenz-philosophie im Anti-Ödipus vertieft. Die Arbeit über Sacher-Masoch
(1972) als eine Philosophie des (1967) und auch die Logik des Sinns (1969)
immanenten Begehrens, der sog. beschäftigen sich intensiv mit dem
„Wunschmaschinen“. In revolutionärer Verhältnis der Philosophie zu Literatur
Laune und provokativer Stimmung setzen und Psychoanalyse. Exemplarisch
sich die Autoren vom „Freudo-Marxismus“ entwickelt Deleuze in der Logik des Sinns
der Entfremdungs- und Unterdrückungsdis- anhand der Texte Lewis Carrolls eine
kurse ab. Das Buch wird ein Verkaufsschla- strukturalistische Literaturtheorie. In den
ger. Als erste Übersetzung ins Deutsche 70er Jahren ist die Auseinandersetzung
(1974) definiert der Anti-Ödipus einen mit moderner Literatur allgegenwärtig,
(„anarchistischen“) Jargon, der in der hervor-zuheben ist vielleicht das mit
Folgezeit an allen später übersetzten Guattari verfasste Buch zu Kafka (1975).
Texten von Deleuze haftet. Auch das hat Die Verschiebung hin zu einer deutlicher
den Zugang zu den akademischen politischen Ästhetik lässt sich hier mit
Seminaren erschwert. Das zweite große Händen greifen.
Buch von Guattari und Deleuze erscheint
1980 unter dem Titel Mille Plateaux Die erste größere Arbeit, die Deleuze nach
(Tausend Plateaus). In ihm findet sich zehn Jahren gemeinsamer
eine weitere Ausarbeitung der schriftstellerischer Tätigkeit mit Guattari
Mikropolitik, Konzeption und 1981 publiziert, widmet sich Francis
Durchführung eines „transdisziplinären“ Bacon und der (neueren) Geschichte der
Verfahrens, die Darlegung einer im Malerei. Verbindungen zur französischen
Zeichen des Pragmatismus stehenden Phänomenologie der Kunst (Dufrenne,
Kritik des Strukturalismus u. a. Im Merleau-Ponty) werden hergestellt. Das
Rückblick erscheinen Deleuze nunmehr große, zweibändige Werk zum Kino, das
sei-ne Arbeiten in den 60er Jahren allzu Bewegungs-Bild (1983) und das Zeit-Bild
theoretisch und praxisfern: die Rede von (1985), ist das Resultat einer lebenslangen
den „Dif-ferenzen“ entflieht vollends dem Leidenschaft für den Film: in ihm
ontologischen Bezugsrahmen und entwickelt Deleuze seine Philosophie der
konkretisiert sich in einem Kunst auf den höchsten Stand. Dabei
gleichursprünglich gesellschaftlichen adaptiert er semiotische Theoreme
Unbewussten. Die (Peirce) und verbindet die Interpretation
des Einzelwerks mit einer Geschichte des Anders gelagert ist die sich differenzierter
Mediums. auf Deleuze beziehende Kontroverse
zwischen Paul Patton und Philippe
Aktuelle Diskussionen Mengue, die sich um die Frage dreht, ob
und wie die Philosophie von Deleuze (und
Nachdem die Diskussionen um die Guattari) als politische produktiv gemacht
Rationali-tät des modernen werden kann. Während Patton das
Differenzdenkens, aber auch die Konzept des Minoritär-Werdens als
Auseinandersetzungen um Strukturalismus politisches Konzept begreift, stellt
und Psychoanalyse abgeklungen sind, und Mengue den „radikalen“ Deleuze heraus,
die erste Überraschung, die die der nicht innerhalb eines liberalen
Kinostudien in kunst- und Demokratieverständnisses verortet
medienwissenschaftlichen Bereichen werden kann.
evoziert haben, auch vorbei ist,
konzentrieren sich die Debatten Generell kann man aber sagen, dass sich
gegenwärtig primär auf die politische die Deleuze-Rezeption in ihren aktuellen
Philosophie bzw. die Theorie des For-schungen und Diskussionen in einer
Kapitalismus von Deleuze und Guattari. „Orientierungsphase“ befindet: in den
Einigen Staub haben Michael Hardt und letzten Jahren sind zahlreiche Arbeiten
Toni Negri mit ihrem Buch Empire entstanden, die Deleuze
aufgewirbelt, das für Postmarxisten philosophiehistorisch zu situieren suchen.
Neuartige ihrer Konstruktionen entleihen Seine Bezüge zu Kant und Hegel, zur Kritik
sie vielfach den Arbeiten von Deleuze und und zur Dialektik, zu Phänomenologie und
Guattari. Aus Tausend Plateaus Strukturalismus, zu Lacan und Foucault,
übernehmen und vereinfachen sie z. B. zu Nietzsche und Heidegger, zu
die Entgegensetzung von Staatsapparat Empirismus, Pragmatismus und
(als imperialer Herrschaftsform) und Transzendentalphilosophie, zur Tradition
Kriegsmaschine (multitude). Gegen die der philosophischen Ästhetik: in allen
Einschränkung von Deleuze auf Deleuze- möglichen und unmöglichen Bereichen
Guattari spricht sich dagegen neuerdings wird derzeit geprüft, welche
Slavoj Žižek in seinem Buch Körperlose Konsequenzen sich aus der von Deleuze
Organe aus. Dabei bedient er sich des praktizierten Umwandlung des
bekannten Verfahrens, aus einem Philosophierens ziehen lassen.
Verfasser zwei zu machen, d. i. einen
„früheren“ und einen „späteren“ Deleuze. LITERATURHINWEISE
Der spätere wendet sich eindeutiger von
Lacan ab, was für Žižek natürlich Textausgaben
Schwierigkeiten aufwirft. Dabei kann er
sich auf die viel diskutierten Sämtliche Texte von Deleuze liegen inzwi-
Interpretationen von Alain Badiou schen in zumeist überzeugenden
berufen, der in der Ontologie von Deleuze Über¬setzungen vor. Die kleinen, z. T.
ein generelles Problem festgestellt haben verstreut publizierten Aufsätze, wurden
will: einen Verlust von Differenzen von David Lapoujade in zwei Bänden
angesichts der Hypostasierung der Einen gesammelt und für die deutschsprachige
Differenz (als „univokes“ Seinsprinzip).
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Was ist Philosophie? Übersetzt von B. Badiou, Alain: Deleuze. 'Das Geschrei des
Schwibs u. J. Vogl. 272 S., kt., €10.—, 2. Seins', übers. v. Gernot Kamecke. Zürich,
Auflage 2001, stw 1483, Suhrkamp, Berlin 2003
Frankfurt. Bogue, Ronald: Deleuze and Guattari.
London 1989
Parr, Adria: The Deleuze Dictionary.
Deleuze im Internet Edinburgh 2005
Rajchman, John: The Deleuze
Im Netz findet man zahlreiche von Connections. Cambridge 2000
Deleuze in Paris (Vincennes, St. Denis) Stivale, Charles J.: Gilles Deleuze: Key
gehaltene Vorle-sungen, eine Con-cepts. Chesham 2005
umfangreiche Bibliographie (vgl. Williams, James: Gilles Deleuze’s
www.webdeleuze.com), Texte von und Difference and Repetition: A Critical
über De-leuze und Guattari (vgl. Introduction and Gui-de. Edinburgh 2004
www.uta.edu/english/
apt/d&g/d&gweb.html;www.langlab.way Beaubatie, Yannick (Hg.): Tombeau de
ne.edu/CStivale/D-G/index.html), sowie Gilles Deleuze. Paris 2000 (enthält eine
Auszüge aus dem Video „L’Abécedaire de ausführliche Bibliographie)
Gilles Deleuze“ Forschungsliteratur
(www.agitkom.net/index.php3?page=dele
uze.php). Boundas, Constantin V.: Deleuze and
Murphy, Timothy S.: Deleuze – Philo-sophy. Edinburgh 2006
Bibliographie. www.webdeleuze.com Patton, Paul: Deleuze and the Political.
London, New York 2000
Einführungen Pearson, Keith Ansell (Hg.): Deleuze and
Philo-sophy. The Difference Engineer.
Von den zahlreichen Einführungen London, New York 1997
empfehle ich zwei auf Deutsch Schaub, Mirjam: Gilles Deleuze im Kino.
geschriebene: zum einen die schon etwas München 2003
ältere und bewährte Arbeit Smith, Daniel W.: Gilles Deleuze and the
Phi-losophy of Difference. Chicago 1997
UNSER AUTOR

Marc Rölli ist Assistent am Seminar für


Phi-losophie an der Universität Darmstadt.
Von ihm ist zum Thema erschienenen:

Gilles Deleuze. Philosophie des


transzenden-talen Empirismus. 441 S., kt.,
€ 26.—, 2003, Turia & Kant, Wien.

(Hg.): Ereignis auf Französisch. Von Berg-


son bis Deleuze. 464 S., kt., € 66.—, 2004,
Wilhelm Fink Verlag, München.

Krause, Ralf und Rölli, Marc: „Politik auf


Abwegen. Eine Einführung in die
Mikropoli-tik von Gilles Deleuze, in:
Andreas Hetzel et al. (Hg.): Die Rückkehr
des Politischen. Wissenschaftliche
Buchgesellschaft, 2004 Darmstadt 2004, S.
257-292

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