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KRITIK
Eine Weltkarte der Ungleichheit die indische, die chinesische und die russi-
sche Geschichte Berücksichtigung finden.
Thomas Pikettys neues Buch
Der dritte Teil schließt diese Erzählung
»Kapital und Ideologie«
mit der Darstellung der dramatischen
Von Oliver Schlaudt Selbstzerstörung der europäischen Eigen-
tümergesellschaften in den beiden Welt-
kriegen, der sozialdemokratischen Nach-
»Die soziale Ungleichheit ist weder ein kriegsprojekte, der kommunistischen und
technologisches noch ein ökonomisches postkommunistischen Erfahrungen und
Phänomen, sondern ein politisches und schließlich des gegenwärtigen Hyperka-
ideologisches.« So lautet in einem Satz die pitalismus. Im vierten Teil ändert sich der
Hauptthese von Thomas Pikettys neuem Ton deutlich, die Geschichtsschreibung
Buch Kapital und Ideologie.1 Stolze 1300 weicht einer politischen und soziologi-
Seiten Text umfasst der Band, in dem der schen Gegenwartsanalyse.
französische Starökonom sich anschickt,
eine ökonomische, soziale und politische
Die identitäre Falle
Geschichte inegalitärer Systeme von den
Feudal- und Sklavenhaltergesellschaften Als entscheidende politische Herausforde-
bis zu den postkolonialen und »hyperka- rung unserer Zeit wird die »identitäre Fal-
pitalistischen« Gesellschaften der Gegen- le« identifiziert. Die Sozialdemokratie sei
wart zu schreiben. Ein besonderes Augen- im Grunde Opfer ihres eigenen bildungs-
merk gilt dabei der Ideologie, denn, wie politischen Erfolgs geworden, indem sie
es bei Piketty immer wieder heißt, »jede sich schleichend von einer Arbeiterpar-
Gesellschaft muss ihren Ungleichheiten tei in eine Akademikerpartei v erwandelt
einen Sinn geben«, damit diese gerecht- habe. Die ehemalige Klientel empfinde
fertigt und folgerichtig akzeptiert werden sich heute als Globalisierungsverlierer
können. und drohe, zwischen einer »Kulturlinken«
Der erste Teil des Buchs bietet einen (gauche brahmane) und einer »Business-
ökonometrisch fundierten Aufriss der eu- rechten« (droite marchande) politisch hei-
ropäischen Geschichte der Ungleichheit matlos geworden, sich auf die nationale
vom Mittelalter bis zu den modernen Ge- Identität zurückzuziehen.
sellschaften. Im zweiten Teil geht Piketty In der Regierung Macrons, de facto aber
auf Kolonial- und Sklavenhaltergesell- auch bei den britischen remainers, sieht
schaften ein, wobei insbesondere auch Piketty eine Koalition dieser zwei Lager
von Globalisierungsgewinnern, die sich
1 Thomas Piketty, Kapital und Ideologie. Aus
dem Französischen v. André Hansen, Enrico
selbst als progressiv betrachten und einen
Heinemann, Stefan Lorenzer, Ursel Schäfer verächtlichen Blick auf die Abgehängten
u. Nastasja Dresler. München: Beck 2020. werfen. Die Rechte verstehe, an die aufkei-
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lungen, und zwar gerade weil er sich zwi- nen ebenso wie Luxusgütern, womit un-
schen alle Stühle setzte: Ein gestandener klar wurde, welche Rolle das Kapital in
Schulökonom (mit den prestigeträchti- der Produktion spielt.2 Piketty saß also
gen Stationen LSE, MIT, Paris School of zwischen den Stühlen, aber zugleich kam
Economics) wies mit empirischen Daten keiner um ihn herum, womit der Erfolg
akribisch nach, dass der Kapitalismus des Buchs perfekt war.
an seinem moralischen Versprechen, die
Schranken der Ständegesellschaften zu
Kapital und Ideologie
überwinden und zu einer gerechteren Ge-
sellschaft zu führen, gescheitert ist – und Mit Kapital und Ideologie folgt nun die
sogar scheitern musste. Fortsetzung. Hauptunterschied ist laut
Denn den Kapitalismus hinderten Piketty der in zweifacher Weise erweiter-
ja nicht widrige Umstände daran, sei- te Fokus: Zum einen finden nun auch au-
ne wohltuende Wirkung zu entfalten. Er ßereuropäische Länder Berücksichtigung
bringt die wachsende Ungleichheit viel- (deren Daten Pikettys Forschungsgruppe
mehr nach seinen eigensten Gesetzen her- auch dank des Erfolgs des ersten Buchs
vor. Piketty stellte sich damit offen gegen erst zugänglich wurden), zum anderen
den Mainstream seines Fachs, das tradi- wagt sich Piketty nun daran, die Black-
tionell mit der Verklärung des Kapitalis- box der »Ideologie« zu öffnen. Ideologie
mus befasst ist. Die Empörung unter den sei tatsächlich so etwas wie der Schlüssel
liberalen Kollegen war groß. Manche be- zum Verständnis der globalen Geschichte
gingen den Fehler, Piketty just dort anzu- der Ungleichheit. Die Geschichte, so sucht
greifen, wo er am stärksten ist: an seiner sich Piketty von Marx abzusetzen, sei kei-
empirischen Grundlage. »Piketty’s fin- ne Geschichte von Klassenkämpfen, son-
dings undercut by errors«, meldete die dern von Ideologien.
Financial Times in ihrer Ausgabe vom Der deutsche Leser sei an dieser Stelle
23. Mai 2014 – ein Angriff, den Piketty mit übrigens gewarnt, dass die Übersetzung
Leichtigkeit parierte. von Pikettys Begriff der »idéologie« mit
Aber auch auf der anderen Seite des »Ideologie« zwar wohl unvermeidlich,
Spektrums war die Verwirrung beträcht- aber durchaus problematisch ist. Zum
lich. Der reiche Datenregen war den tra- einen ist das französische »idéologie« wei-
ditionell kapitalismuskritischen hetero- ter gefasst und wird nicht nur pejorativ ge-
doxen Ökonomen hochwillkommen, aber braucht. Ideologie bezeichnet hier einfach
die orthodoxen ökonomischen Model- die normative Grundlage einer jeden Ge-
le und Begriffe hinter den Zahlen waren sellschaft. Dazu kommt, dass Piketty das
bei näherer Betrachtung nicht zu überse- Wort auf eigentümliche Weise verwendet.
hen. Überhaupt bemerkte man bei Piketty »Idéologie« umfasst bei ihm zum einen so
eine gefährliche Nonchalance im Umgang etwas wie das geteilte intellektuelle und
mit theoretischen Begriffen wie »Kapi-
tal« oder »Kapitalismus«. Insbesondere 2 Vgl. beispielsweise die Kritik von Mary
den Kapitalbegriff fasste Piketty als blo- O’Sullivan in der American Historical
ße Summe jeglichen Besitzes, von Maschi- Review vom April 2015.
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erscheint hier nicht als Erringung von De- machen, die der Entschädigung der Skla-
mokratie und Menschenrechten, sondern venhalter analog sind. Man denke etwa
als Triumph von Eigentum und Geldstabi- an den Investorenschutz, dem eine Art
lität in Europa. Es folgt das 19. Jahrhun- Recht auf Profit eingeschrieben ist. Joseph
dert als eine Epoche der »Sakralisierung« E. Stiglitz illustriert dies an einem dras-
des Eigentums und der Ungleichheit. Das tischen Beispiel: »Heute müssen Asbest-
Eigentum wird zum Naturrecht mit ver- hersteller die Leute entschädigen, deren
fassungsrechtlicher Absicherung. Als Leben sie zerstört haben. Der Logik des
schockierendes Sinnbild dieser Epoche Investitionsschutzes in TTIP nach sollen
wählt Piketty ein ökonomisches Kapitel wir nun Asbesthersteller dafür entschädi-
aus der Geschichte der Abschaffung der gen, dass sie niemanden mehr töten. Wir
Sklaverei: Es waren damals die Sklaven- sollen ihnen zu Profiten verhelfen, die sie
halter, die für das verlorene Eigentum ent- erzielt hätten, wäre es weiter erlaubt ge-
schädigt wurden, nicht aber die Sklaven wesen, Menschen umzubringen.«3
für das erlittene Leid und die unentgelt- Wenn Piketty diese neue Verabsolutie-
lich geleistete Arbeit. rung des Eigentums in unserer Zeit als
Die Ungleichheit steigert sich bis zu einen »Archaismus« bezeichnet, enthält
dem großen Crash in den beiden Welt- dies eine subtile Spitze. Als »archaisch« –
kriegen, die schon im Buch von 2013 nämlich provinziell, rückständig, natio-
eine Hauptrolle spielten. Sie eröffnen nalistisch, ressentimentgeladen – nehmen,
den dritten Akt, in dem sozialdemokra- wie Piketty später erläutert, die heutigen
tische Gesellschaftsentwürfe das Eigen- Eliten die Globalisierungsverlierer wahr.
tum einzuhegen helfen. Das betriebliche Piketty wirft den verächtlichen Blick der
Mitbestimmungsrecht in Deutschland be- Eliten auf diese selbst zurück: Sie sind die
trachtet Piketty auch für seine Zukunfts- wahren Rückständigen. Der fünfte Akt
visionen als maßgeblich, wie er sich über- schließlich ist der Zukunft vorbehalten.
haupt durchweg positiv auf die »soziale In der Finanzkrise von 2008 sieht Piketty
Marktwirtschaft« bezieht. Mit der »kon- eine Bewusstwerdung, einen Wendepunkt
servativen Revolution« der 1980er Jahre zu einem Klima, in dem vielleicht auch
und dem Zusammenbruch des Ostblocks seine Pläne eines partizipativen Sozialis-
wird der vierte Akt der »neoproprietaris- mus gedeihen können.
tischen« Gegenwartsepoche eingeläutet,
die wieder von hohen Eigentumskonzen-
Wetterkarte der Ungleichheit
trationen, einer erneuten Sakralisierung
des Eigentums und einer quasifeudalen Wie die Enzyklopädisten des 18. Jahrhun-
Elitenstruktur gekennzeichnet ist. derts begibt sich Piketty in die Vogelper-
Sinnbildlich ist für Piketty hier vor al- spektive, um, wie es d’Alembert damals
lem das neoliberale Europa, das seine ausdrückte, »une espèce de mappemon-
politische Einheit allein auf freien Kapi- de«, eine Art Weltkarte der Ungleichheit
talfluss zu gründen trachtet. Die Verab-
solutierung des Eigentums lässt sich in 3 Joseph E. Stiglitz im Interview mit Der Frei-
der Gegenwart durchaus an Fällen fest- tag vom 22. September 2015.
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zu liefern. William James benutzte in sei- will, sondern diese großteils als »endo-
ner Pragmatismus-Vorlesung 1907 eine gen«, nämlich als Resultat der Ungleich-
ähnliche Metapher: die Wetterkarte. Für heit, betrachtet werden können.4 In sei-
die Bewohner von Boston stellt sich das nem neuen Buch bestätigt er diese Lesart:
Wetter schlicht als kapriziös dar, aber das »Offensichtlich war der Erste Weltkrieg
meteorologische Büro in Washington ver- kein von außen kommendes Ereignis, das
arbeitet die scheinbare Unordnung, indem der Planet Mars auf die Welt geschleudert
es die einzelnen Ereignisse in kontinuier- hatte.«
liche, großräumige Prozesse einordnet. Überraschenderweise führt diese »En-
Dies lässt sich auf Kapital und Ideologie dogenisierung« der politischen Schocks
übertragen. Wer die Zeitung liest, verhält nun aber nicht zu einer rein ökonomi-
sich wie der Bostoner, der einen prüfen- schen Geschichtskonstruktion, die die
den Blick in den Himmel wirft. Pikettys Politik nur mehr als abhängige Variable
Buch hingegen gleicht der Wetterkarte, zulässt. Das Gegenteil ist der Fall, es tritt
auf der zufällige und chaotische Wechsel im neuen Buch ein geradezu umgestülp-
vor dem Fenster in das atemberaubende tes Geschichtsmodell zutage. Zwar unter-
Panorama über die Kontinente und Hemi- scheidet Piketty wieder zwischen langfris-
sphären ziehender Wetterphänomene ein- tig wirkenden »tieferliegenden Ursachen«
geordnet wird. einerseits und einer kurzfristigen »Ereig-
Genau wie bei der Wetterkarte bleibt nislogik« andererseits. Als Erstere nennt
allerdings eine Frage noch unbeantwor- er aber nun in genauer Umkehrung »län-
tet: Welche Kräfte treiben das globale at- gerfristige politisch-ideologische Ent-
mosphärische Geschehen an? Taucht man wicklungen«. Erreichen diese einen kriti-
tiefer in die Geschichte ein, die Piketty zu schen Punkt der Instabilität, entscheiden
erzählen hat, begreift man allmählich, die lokalen Verhältnisse – zirkulierende
dass Kapital und Ideologie mitnichten Ideen, das Mobilisierungspotential poli
einfach eine Fortsetzung von Das Kapi- tischer Gruppen, aber eben auch öko-
tal im 21. Jahrhundert mit erweitertem nomische Schocks (wie zum Beispiel die
Fokus darstellt, sondern ihm eine funda- Inflation der Immobilienpreise in den
mental veränderte Geschichtskonstruk- 1970er Jahren, die laut Piketty zu Ronald
tion zugrunde liegt. In seinem Buch von Reagans Erfolg beitrug) –, welcher Ab-
2013 ging er davon aus, dass im Grun- zweigung die Geschichte folgt (»Abzwei-
de ökonomische Gesetzmäßigkeiten die gung« oder »Weichenstellung«, wie es in
Langzeittendenzen regeln. Diese können der deutschen Übersetzung uneinheitlich
durch externe, politische Schocks gestört heißt – richtiger wäre »Bifurkation« –, ist
werden, woraufhin das System allmählich ein Schlüsselbegriff, den Piketty der Welt-
wieder in die ökonomisch definierten Bah- systemtheorie Wallersteins entlehnt hat).
nen zurückkehrt.
Bereits 2015 hatte Piketty freilich an-
gemerkt, dass er die politischen Schocks 4 Thomas Piketty, About »Capital in
eigentlich nicht als »exogene«, also wirt- the Twenty-First Century«. In: American
schaftsfremde Größen verstanden wissen Economic Review, Nr. 5, Mai 2015.
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ter bei der Durchsetzung der Menschen- iketty raffiniert, indem er ihn dem Ver-
P
rechte entschädigen lassen, so kann der dacht einer politischen Unaufrichtigkeit
Kapitalist einen Teil des kargen Lohns aussetzt: Er vergleiche nicht Unvergleich-
sogleich als Miete der Wohnung, die er bares, sondern gerade Gesellschaften,
ebenfalls besitzt, zurückfordern, so kön- die »lieber nicht miteinander verglichen
nen Deutschland und Frankreich noch mit würden«. Die Intransparenz macht laut
den Zinsen der Notkredite, die sie Grie- Piketty einen charakteristischen Zug des
chenland gewährten, Geld verdienen, so heutigen Eigentumsregimes aus, und in
können die Superreichen dank staatlicher dem »Gefühl, etwas Besonderes zu sein«,
Steuernachlässe auch gleich noch das ver- welches den Vergleich verbietet, geht die-
äußerte Eigentum der geschwächten Staa- se Intransparenz eine ungute Koalition
ten aufkaufen. All dies funktioniert dank mit neoliberaler Identitätspolitik und na-
der Ideologie des absoluten Eigentums tionalem Ressentiment ein.
auch ohne Heuchelei. Genau dagegen wendet sich Piketty,
wenn er unterstreicht, dass die Ungleich-
heit immer nur als historisches Produkt
Auf Messers Schneide
der jeweiligen Kräfteverhältnisse verstan-
Man mag sich nun allerdings fragen, wo- den werden dürfe, nicht aber als Ausdruck
rin dieses Projekt überhaupt noch ein des »Wesens« einer Kultur oder Zivilisa
ökonomisches ist. Wo Piketty vormals als tion. Auch das Argument, wir könnten
Ökonom beeindrucken konnte, indem er traditionelle Ungleichheiten in fremden
in der politischen Geschichte das Wirken Kulturen nicht kritisieren, ohne sie gleich-
eines verborgenen ökonomischen Mecha- sam ein zweites Mal, und nun auf mora-
nismus aufdeckte, scheint er nun auf der lischer Ebene, zu kolonisieren, pariert Pi-
Oberfläche dieser Geschichte zu bleiben. ketty geschickt, indem er die Erfahrungen
Hat Piketty die Ökonomie, die er histo- zum Beispiel Indiens mit Programmen
risch und sozialwissenschaftlich einhe- positiver Diskriminierung diskutiert, sich
gen wollte, versehentlich an den Nagel also vielmehr durch Indien belehren lässt,
gehängt? Dem ist nicht so, die Ökono- als dieses zu belehren.
mie steckt in der Methode des Vergleichs. Ungeachtet dieser geschickten Verteidi-
Die Vergleichbarkeit stellt Piketty gerade gung steht Pikettys Projekt zu jedem Zeit-
durch die ökonometrischen Beschreibun- punkt auf Messers Schneide. Der tiefere
gen her, die das gesamte Buch prägen. Dies Grund dafür ist, dass die Ökonomie nicht
ist wissenschaftlich wie politisch durch- über allgemeine, überhistorische Katego-
aus ein universalistisches Projekt, inso- rien verfügt, sondern in ihren Begriffen an
fern es eben von universellen Maßstäben die je spezifische, im vorliegenden Fall ka-
des Vergleichs ausgeht. Auch darin steht pitalistische Wirtschaftsform rückgebun-
Piketty in der Tradition der Aufklärung. den bleibt. Konkret bedeutet dies, dass
Den zu erwartenden Einwand, dass Piketty in der Messung der Ungleichheit
sich die historischen und kulturellen mit Größen arbeitet, die in Geldmengen,
Fälle aufgrund ihrer jeweiligen Einzigar- mithin der Sprache des Marktes ausge-
tigkeit nicht vergleichen ließen, pariert drückt werden. Dieser Ansatz steht na-
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