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3/11/2020 Chile: Der lange Weg raus aus der Pinochet-Diktatur | ZEIT ONLINE

Chile

Der lange Weg raus aus der Pinochet-


Diktatur
Ein großer Teil der Chilenen fordert eine neue Verfassung, weil die
bisherige die Reichen reicher und die Armen ärmer mache. Doch dagegen
gibt es Widerstand von rechts.

Von Sophia Boddenberg, Santiago de Chile


10. März 2020, 20:28 Uhr / 83 Kommentare

Demonstranten in Chiles Hauptstadt Santiago bereiten eine


Steinschleuder vor. © Pablo Sanhueza/Reuters

"Apruebo" – ich stimme dafür – liest man im Zentrum von Chiles Hauptstadt
Santiago an den Wänden, auf gebastelten Plakaten und auf der Haut der
Menschen, die hier seit Oktober gegen die soziale Ungleichheit, gegen die
Regierung und für eine neue Verfassung demonstrieren. Am 26. April dürfen
die Chilenen und Chileninnen in einer Volksabstimmung
[https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-11/suedamerika-chile-proteste-
neue-verfassung-regierung] darüber entscheiden, ob sie eine neue Verfassung
wollen oder die alte beibehalten. Die aktuell in Chile gültige Konstitution
stammt noch aus der Pinochet-Diktatur und bildet die Grundlage des
neoliberalen Wirtschaftssystems, das einige wenige bereichert und viele
verarmt hat.

"Piñera ist ein Mörder, genau wie Pinochet", singen Zehntausende Menschen
jeden Freitag am Plaza Italia, den viele mittlerweile Plaza Dignidad – Platz der
Würde – nennen. Sebastián Piñera ist der aktuelle Präsident Chiles, ein
Konservativer, Milliardär und Unternehmer. Viele Chilenen beschuldigen ihn,

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3/11/2020 Chile: Der lange Weg raus aus der Pinochet-Diktatur | ZEIT ONLINE

der politischen Lage im Land lange tatenlos zugesehen zu haben: Mehr als 30
Menschen sind seit dem Beginn der Proteste gegen die Regierung ums Leben
gekommen, Tausende wurden verletzt. Wer hier demonstriert, trägt Helm,
Schutzbrille und Gasmaske, zumindest aber ein Halstuch vor Nase und Mund,
um sich gegen das Tränengas und mögliche Schüsse der Polizei zu schützen.  

Der Platz ist nicht nur Treffpunkt der Protestierenden, sondern auch die
Trennlinie zwischen Arm und Reich in Santiago. Man wohnt entweder
oberhalb oder unterhalb davon. "Unten", das heißt im Südwesten in Vierteln
wie Pudahuel, Maipú oder San Bernardo, leben die meisten Menschen vom
Mindestlohn, es gibt kaum Parks, dafür viel Gewalt und Drogenhandel. Wenn
man nach "oben" fährt, das heißt Richtung Nordosten nach Providencia, Las
Condes und Vitacura, dann wird die Luft sauberer, die Parks werden grüner, die
Häuser schicker und die Löhne steigen. Hier lebt das eine Prozent der
Bevölkerung, das ein Drittel des Reichtums besitzt.

Auch hier wird immer wieder protestiert, nur ganz anders als am Plaza Italia.
Jeden Samstagmorgen treffen sich ein paar hundert Menschen im Stadtviertel
Las Condes an der Metrostation El Golf gleich neben dem Ritz-Carlton-Hotel
oder eine Station weiter vor der Militärakademie, um dafür zu protestieren,
dass alles so bleibt, wie es ist. Sie tragen professionell bedruckte T-Shirts und
Kappen, wehen die chilenische Nationalflagge und halten auf Hochglanzpapier
gedruckte Plakate hoch. "Rechazo" – ich lehne ab – steht darauf. Sie wollen
keine neue Verfassung. "Aquí falta Pinochet", hier fehlt Pinochet, steht auf
einem Schild. Sie singen die Hymne der Carabineros, der Polizei. Gasmasken
trägt niemand, Tränengas setzt die Polizei hier nicht ein.
Menschenrechtsverletzungen habe es in Chile nie gegeben, meint man hier.

Politiker verbreiten Angst vor einer kommunistischen


Verschwörung
Die meisten, die in den reichen Vierteln auf die Straße gehen, haben helle Haut,
Haare und Augen. Viele haben europäische Vorfahren, so wie Gloria Welder, um
die 70. "Ich habe deutsches Blut", sagt sie. Sie protestiert gegen die Rückkehr
des Kommunismus. "Wir haben das schon einmal durchgemacht und es darf
nicht noch einmal passieren." Damit meint sie die Regierung des demokratisch
gewählten sozialistischen Präsidenten Salvador Allende. Die wurde 1973 mit
einem Militärputsch von Augusto Pinochet gewaltsam gestürzt. Welder glaubt,
was aktuell in Chile passiert, werde aus Kuba und Venezuela kontrolliert und
vom Drogenhandel finanziert. "Oberhalb vom Plaza Italia haben wir noch
unsere Ruhe, aber nicht mehr lange. Deshalb müssen wir den Krebs des
Kommunismus ausmerzen", sagt sie.

"Der Anti-Kommunismus ist in der chilenischen Rechten erstaunlicherweise


immer noch stark verbreitet. Und das, obwohl es keine Sowjetunion und keine

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starke
internationale
Linke in
Lateinamerika
ANONYMER BRIEFKASTEN
mehr gibt", sagt

Hier können Sie uns anonym Informationen und Dokumente


zukommen lassen, wenn Sie finden, dass die Öffentlichkeit
davon erfahren sollte. Die Wahrung Ihrer Anonymität als Quelle
hat für uns dabei höchste Priorität.

ZUM BRIEFKASTEN
[HTTPS://MEINE.ZEIT.DE/BRIEFKASTEN/]

Politikwissenschaftler Octavio Avendaño. In sozialen Netzwerken, in


Tageszeitungen und Fernsehsendungen verbreiten Politiker regelmäßig Angst
vor einer kommunistischen Verschwörung, die hinter den Protesten und der
Forderung nach einer neuen Verfassung stecke. "Eine rote Pest hat Chile erfasst
", schrieb Cristián Valenzuela, Mitglied der rechtsextremen Republikanischen
Partei in der Tageszeitung La Tercera
[https://www.latercera.com/opinion/noticia/la-peste-
roja/UQ5RLSRYMVEWVIKJBMBNGX5P7I/], "Tausende Chilenen leiden unter
dem kommunistischen/sozialistischen/marxistischen Parasiten, der sich in
unserer Gesellschaft niedergelassen hat". Andrés Allamand, Abgeordneter der
Partei Renovación Nacional (RN), zu der auch Präsident Piñera gehört, warnte
in der Zeitung El Mercurio
[https://www.elmostrador.cl/noticias/pais/2020/03/05/allamand-sigue-con-la-
campana-del-miedo-si-gana-el-apruebo-la-izquierda-se-ve-a-sentir-autorizada-
a-terminar-con-el-derecho-de-propiedad-y-la-libertad-de-ensenanza/] vor
linken Ideen in einer möglichen neuen Verfassung.

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