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KARIN WILHELM WALTER GROPIUS .

INDUSTRIEARCHITEKT
SCHRIFTEN ZUR
ARCHITEKTURGESCHICHTE
UND ARCHITEKTURTHEORIE
HERAUSGEGEBEN
VOM DEUTSCHEN
ARCHITEKTURMUSEUM

DEUTSCHES ARCHITEKTURMUSEUM
KARIN WILHELM

WALTER
GROPIUS
INDUSTRIE
ARCHITEKT

Friedr. Vieweg & Sohn BraunschweiglWiesbaden


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek

Wilhe1m, Karin:
Walter Gropius, Industriearchitekt / Karin Wilhe1m. -
Braunschweig; Wiesbaden: Vieweg, 1983.
(Schriften zur Architekturgeschichte und
Architekturtheorie )
ISBN 978-3-528-08690-9 ISBN 978-3-322-93810-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-322-93810-7
NE: Gropius, Walter [111.]

Gedruckt mit Unterstützung


des Kulturdezernats der Stadt Frankfurt am Main
Die vorliegende Arbeit lag in etwas breiterer Fassung
als kunstgeschichtliche Dissertation
an der Philipps-Universität Marburg vor.
Alle Rechte vorbehalten
© Friedr. Vieweg & Sohn Verlagsgesellschaft mbH
Braunschweig/Wiesbaden 1983
Einbandgestaltung: Peter Neitzke, Köln
Lithographie: C. W. Niemeyer, Hameln
Satz: R. E. Schulz, Dreieich
Inhalt

9 Vorwort
11 Einleitung
15 Historismus, Werkbund, Funktionalismus. Die Industriebauten
von Walter Gropius und ihr kulturhistorisches Umfeld

Kunst und Technik. Genese und Lösungsversuche eines architektur-


historischen Problems
,Die künstlerische Gestaltung der Industriebauten'
Die Bauaufgabe
17 Der Industriebau 1907-1930 im Spiegel der Kritik
21 Die Krise der ,Architektur als Kunst'. Der Konflikt im Deutschen Kunstgewerbe
und die Gründung des Deutschen Werkbundes 1907
23 Architekt und Ingenieur. Die Personalisierung des Widerspruchs von Kunst und Technik
Die theoretischen Schriften von Walter Gropius 1910-1?14
26 Wahrheit der Form - Formung der Wahrheit. Das Werkbundmitglied Walter Gropius
contra Historismus
27 Vom Ende der Kunst vor der Wissenschaft. G. W. F. Hege!
29 Der Einfluß der Naturwissenschaften auf den Kunstbegriff
30 Von der Philosophie der Kunst zur Kunstgeschichte. Alois Riegl
33 Von der diachronischen zur synchronischen Kunstbetrachtung. Walter Benjamin
35 Die Industrie als Träger des Kunstwollens. Walter Gropius' Entwicklung eines
authentischen Stils
36 Der Mensch als Subjekt der Raumgestaltung. August Schmarsow und Heinrich Wölfflin
38 Walter Gropius' Raumkonzept: Subjekt der Raumgestaltung - die zweite Natur,
die Technik
39 Zusammenfassung

41 Walter Gropius' Industriebauten


Das ,Fagus-Werk Karl Benscheidt' in Alfe!d a.d. Leine 1910-1925
Baugeschichte
49 Bauanalyse
Zeitablauf - Bewegung - Asymmetrie. Der Grundriß
50 Der Einfluß von Peter Behrens und der AEG-Turbinenhalle. Der Aufriß
55 Antithetische Architektur. Analyse eines Gestaltungskonzepts
59 Glasarchitektur: Zum Verhältnis von Architektur und Gesellschaft
Der utopische Entwurf
61 Die Anfänge
62 Die curtain wall: eine demokratische Architekturform
65 Das Problem der Anschaulichkeit
66 ,Büro und Fabrik' auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung, Köln 1914
Baugeschichte
Vorgeschichte: Internationale Baufach -Ausstellung, Leipzig 1913
Die Entstehung der Deutschen Werkbund-Ausstellung, Köln 1914

5
68 Der Lageplan von Carl Rehorst
70 Das Urteil der Presse
71 Die Gropius-Bauten
79 Bauanalyse
Synthese von Kunst und Technik. Der Grundriß
81 Symmetrie - ein Repräsentationsprogramm
82 Vereinheitlichung als Gesamtkonzept. Der Aufriß
84 Die geronnene Synthese. Der Ausstellungspavillon der ,Gasmotorenfabrik Deutz'
86 Der Einfluß Frank Lloyd Wrights
Der Umbruch 1918/1919
88 Das ,Volk' als Träger des Kunstwöllens. Von der Handwerksbegeisterung zu ,Kunst und
Technik eine neue Einheit'
91 Der Einfluß des ,Stijl'
93 Die Verwissenschaftlichung der Architektur
95 Das Projekt zum Verwaltungsgebäude für Adolf Sommerfeld in Berlin 1920/1922
Baugeschichte
97 Bauanalyse: Tradition und Neubeginn
100 Das Lager- und Ausstellungsgebäude der Landmaschinenfabrik ,Gebr. Kappe & Co.'
in Alfeld a.d. Leine 1922
102 Der Wettbewerbsentwurf ftir ein Verwaltungsgebäude der ,Chicago Tribune' 1922
Der Wettbewerb: ,A 100000 Dollar Competition'
107 Das Fabrikationsgebäude für die ,Hannoversche Papierfabriken'
in Alfeld a.d. Leine 1923/1924
Baugeschichte
Das Fabrikationsgebäude ,August Müller & Co.' in Kirchbrak 1925/1926
Baugeschichte
112 Vom Wettbewerbsentwurf ftir die ,Chicago Tribune' 1922 zum Fabrikationsgebäude
,August Müller & Co.' 1925: Varianten der Einheit von Kunst und Technik
116 Monumentale Kunst und Industriebau. Vortrag von Walter Gropius aus dem Jahre 1911

121 Anmerkungen

161 Bildteil

281 Anhang

Das Bauatelier und seine Mitarbeiter


Zur Person Walter Gropius
285 Werkverzeichnis von 1934
286 Biografien der Mitarbeiter
Adolf Meyer
290 Carl Fieger
291 Fred Forbat
292 Fritz Kaldenbach
293 Ernst Neufert
294 Karl Schneider

6
295 Baubeschreibungen
Vorbemerkung
,Fagus-Werk Karl Benscheidt'
Lageplan und Grundriß. Zustand: Erste Bauphase
296 ,Büro und Fabrik' auf der Deutschen Werkbund-Ausstellung
Das Bürogebäude: Grundriß
297 Aufriß
Die Garagen
Die Maschinenhalle
298 Der Ausstellungspavillon der ,Gasmotoren-Fabrik Deutz'
299 Hermann Haller
Bernhard Hoetger
Georg Kolbe
Moissey Kogan
Gerhard Marcks
300 Lager- und Ausstellungsgebäude ,Gebr. Kappe & Co.' in Alfe1d a.d. Leine
Grundriß
Aufriß
301 ,August Müller & Co.', Kirchbrak
Lageplan und Grundriß
Aufriß

302 Anmerkungen zum Anhang

305 Quellen- und Literaturverzeichnis

314 Abbildungsverzeichnis (Nachweise)

7
Für Else und Johann

8
Erinnere Dich an den Eindruck guter Ar-
chitektur, daß sie einen Gedanken aus-
drückt. Man möchte auch ihr mit einer
Geste folgen.
Ludwig Wittgenstein

Vorwort

"Die Bauten der Arbeit (. .. ) im Werk von Walter daß Walter Gropius weit mehr Industrieanlagen
Gropius (. .. ) treten eher sporadisch auf, was eine gebaut hat, als bisher bekannt war, ja, daß diesem
Folge der Zeit und der Umstände ist." Bereich in seiner Architektur größere Kontinuität
Knapp dreißig Jahre sind ins Land gegangen, seit zuzuschreiben ist, als Giedion glauben wollte.
Siegfried Giedion mit diesen Worten das Kapitel Schließlich mußte noch ein Indiz aufmerksam wer-
Industriebau im fruvre seines Architektenfreun- den lassen. Gropius hat Zeit seines Lebens rege
des als episodisch klassifiziert hat. Und obwohl die publiziert, wobei die Aufsätze vor 1914 überhaupt
Gropiusforschung seitdem weltweit immer neue nur ein Thema haben: den Industriebau und den
und vollständigere Werkverzeichnisse vorlegte, blieb Einfluß der industriellen Produktionsweise auf die
Giedions Verdikt unangefochten, ja scheint sich künstlerische Arbeit; das Fagus-Werk war also nicht
unverrückbar zwischen den Industriebaumeister bloß ein zufälliger Erstauftrag, sondern Ausdruck
und seine Exegeten geschoben zu haben. Zu sehr jener konzeptionellen Bedeutung, die der Industrie-
hatte sich das Linsensystem der Forschung auf bau für den jungen Gropius so offensichtlich
einen Punkt verengt, auf jene lange als Erstlings- gehabt hat. Es galt demnach zweierlei auf die
werk geltende Fagus-Fabrik, die Gropius' Ruf als Spur zu kommen: zum einen den projektierten
modernen Architekten begründete. Ihr Glanz - und ausgeführten Fabrik- und Verwaltungsbauten,
sieht man einmal von der Kölner Werkbundfabrik die dem Fagus-Werk vorangegangen und gefolgt
ab - begann alles Folgende zu überstrahlen und sind, zum anderen Begründungen zu finden für je-
verurteilte andere Fabrikbauten des Architekten zu ne augenfällige Bevorzugung der Bauaufgabe In-
einem Schattendasein, schlimmer noch, gab sie dustriebau in Gropius' theoretischen Äußerungen
dem Vergessen anheim. bis 1914, bzw. nach Erklärungen zu suchen für die
Nun ist Gropius an dieser Entwicklung nicht ganz Modifizierung dieser Haltung ins Gebiet industriel-
schuldlos gewesen, denn in der Tat war dem gerade ler Fertigungstechniken nach 1920.
Dreißigjährigen mit dem Fagus-Werk ein Meister- Dieses Unternehmen konnte nur durch vielfältige
stück gelungen, das in seiner Qualität wohl erst Unterstützung gelingen. Mein Dank gilt deshalb
vom Bauhaus-Gebäude erreicht und vielleicht über- vielen Einzelpersonen und Institutionen:
troffen wurde. Als man daran ging, sein Gesamtwerk Herrn Professor Norbert Huse (München), der
auf jene Artefakte zu reduzieren, die eine relativ mich. vor Jahren für dieses Thema interessierte;
ungebrochene Entwicklung zu dem repräsentier- Herrn Professor Tilmann Buddensieg (Berlin/
ten, was später ,Bauhaus-Stil' genannt werden soll- Bonn), der meine Anstrengungen immer unter-
te, blieben Gropius' Korrekturen eher vage. Zwar stützt und sich dafür eingesetzt hat, daß diese
wehrte er sich gegen jenes Begriffsklischee, ließ je- Arbeit im Rahmen der Graduiertenförderung von
doch zu, daß sein Name mit der Institution Bau- der Freien Universität Berlin unterstützt wurde.
haus in fast synonyme Verbindung gebracht wur- Mein Dank gilt ganz besonders Herrn Professor
de. Heinrich Klotz.
Daß dabei so manches, vielleicht auch Ungeliebtes, Daß dieses Buch derart umfangreich werden konn-
unter den Tisch fiel, wissen wir aus zwei Quellen: te, verdanke ich der Förderung durch das Deutsche
einem fruvreverzeichnis, das Gropius kurz vor sei- Architekturmuseum in Frankfurt am Main - hier
ner Emigration verfaßt und Heinrich Klotz in den hat Volker Fischer erste Korrekturen vorgenom-
sechziger Jahren publiziert hat; und dem privaten men - sowie Peter Neitzke vom Verlag, der mit
Fotoarchiv von Gropius, das erst kürzlich ins Bau- verständiger Kritik beratend zur Seite stand. Das
haus-Archiv nach Berlin gelangte. Beide belegen, Material hätte aber so umfangreich nicht ausgebrei-

9
tet werden können, wäre mir nicht die Unterstüt- bei meinen Nachforschungen weiterhalfen, mir,
zung der im Text behandelten Firmen gewiß wie Roland Werner, Material zur Verfügung stellten
gewesen, die mir bereitwillig Zutritt zu ihren oder in Korrespondenzen Unstimmigkeiten aus-
Werkanlagen und Archiven gestatteten. räumen halfen.
Atmosphärische Eindrücke der Jahre um 1920 ga- Jeder, dem der Schreibtisch zum Arbeitsplatz ge-
ben mir Frau Hanna Seiler und vor allem der lang- worden ist, weiß, daß es eines besonderen Klimas
jährige Gropius-Mitarbeiter Ernst Neufert. Beide bedarf, um die literarischen und dokumentarischen
schenkten mir freundlicherweise einige Stunden Funde im eigenen Arbeitsprozeß zu einem neuen
ihrer Zeit für einen Ausflug in die Vergangenheit. Ganzen zu verbinden. Dazu braucht man Ruhe und
Den materialen Stoff ihres Erinnerungsvermögens Verständnis in der unmittelbaren Umgebung, kriti-
verschafften mir die Bauämter in Alfeld, Holz- schen Kommentar und manch andere Handreichung.
minden und Berlin-Steglitz. Vor allem den Alfel- Aber ebenso, wie über die gesellschaftlich notwen-
der Mitarbeitern sei gedankt, die den Fotografen dige Reproduktion im Haushalt als ,Nur-Haus-
vom Bildarchiv Foto Marburg und mir geduldig frauen-Arbeit' üblicherweise geschwiegen wird, gel-
Bauakte um Bauakte heranschleppten, wodurch die ten auch die kleinen und großen Hilfeleistungen
Planungsunterlagen, was das Fagus-Werk betrifft, bei der Abfassung einer derart umfangreichen
nun erstmals fast vollständig fotografisch festge- Publikation offenbar als nicht erwähnenswert. Ich
halten werden konnten. halte das für falsch; deshalb will ich auch jenen
Die eigentliche historische Aufarbeitung erfolgte danken, die mir mit Freundlichkeit und Langmut
in mehreren Archiven der Bundesrepublik und behilflich waren, also meinen Verwandten, den
Berlin (West), wobei die Hilfe des Bauhaus-Archivs Freunden Elisabeth, Gerhard und Johann, schließ-
in Berlin durch dessen Direktor Hans M. Wingler lich seien auch Freneli und Maple leaf genannt, die
sowie seine Mitarbeiter Hans Werner Klünner und alle, je auf ihre Art, diese Arbeit unterstützt haben.
Christian Wolsdorff am ertragreichsten ausfiel.
Zum Schluß möchte ich noch all jenen danken,
die mir, wie Eva Korazija in Zürich, durch Hinweise Berlin, im November 1982 Karin Wilhelm

10
Einleitung

Die Literatur zu Walter Gropius ist immens und sich Gropius' selbstverfaßtes Werkverzeichnis von
vielfältig, die Bibliographie der Schriften von Gro- 1934 mit der ,Stärkefabrik Kleffel' aus den Jahren
pius und vor allem über ihn, die W. B. O'Nea11966 1913/14, dem ,Speicher Pontkowo in Posen', eben-
und 1972 in zwei umfassenden Konvoluten heraus- falls 1913/14, den ,Hannoverschen Papierfabriken'
gegeben hat! , legt davon beredtes Zeugnis ab. Das in Alfeld a. d. Leine 1924, dem ,Gebr. Kappe Spei-
Interesse der Autoren für Walter Gropius ist aber chergebäude 1924/2 5', dem ,Müller, Kirchbraak,
vornehmlich dem Bauhausdirektor zugewandt ge- Fabrikgebäude 1926', dem ,Arbeitsamt Dessau
wesen, seiner Arbeit als Pädagoge und seinen Bau- 1927/28' und dem ,Adlerwerke Frankfurt, Fabrik-
ten in den zwanziger Jahren. Selbstverständlich umbau 1932'. Jedoch fehlen die beiden Verwal-
sind in den monographischen Darstellungen 2 die tungsbauentwürfe für Adolf Sommerfeld und die
Vorkriegsarbeiten aufgenommen, das Fagus-Werk, Chicago Tribune. Wenn man den problematischen
die Werkbundfabrik auf der Deutschen Werkbund Posten Adlerwerke, Frankfurt/M. mitberücksich-
Ausstellung in Köln 1914, oder die Möbelentwürfe tigt, hätte Walter Gropius in den gut zwanzig Jah-
für die Berliner Familie Mendel. Es fehlt auch der ren seiner Tätigkeit als selbständiger Architekt in
Chicago Tribune-Entwurf aus dem Jahre 1922 Deutschland also elf Fabrik- und Verwaltungsge-
nicht, aber allgemein herrschte Giedions Ansicht: bäude ausgeführt oder geplant, also durchschnitt-
"Die Bauten der Arbeit weisen im Werk von Walter lich in jedem zweiten Jahr eines. Schon dies recht-
Gropius nicht jene kontinuierliche Entwicklung auf fertigt eine eingehende Betrachtung. Von diesen
wie etwa die Schulen oder die Strukturänderungen Bauten sind in der Literatur verstreut sechs aufzu-
der Stadt. Sie treten eher sporadisch auf, was eine findens : das Fagus-Werk und die Werkbundfabrik
Folge der Zeit und der Umstände ist."3 natürlich, das Verwaltungsgebäude für Adolf Som-
Trotz der Werkverzeichnisse, die man bei Giedion, merfeld, der Chicago Tribune-Entwurf, das Gebäu-
Argan oder Busignani4 findet und in denen ent- de der Landmaschinenfabrik Gebr. Kappe & Co.
schieden mehr Industriebauten von Gropius ange- sowie das bekannte Arbeitsamt in Dessau. Ober das
geben sind - am ausführlichsten bei Giulio Carlo Gebäude der Stärkefabrik Kleffel in Dramburg/
Argan, Hans Maria Wingler und Heinrich KlotzS -. Pommern (Abb. 203), und den Speicher Pontkowo
ist die Auffassung, daß die Industriebauten keiner (Abb. 201, 202) in Posen ist bei Abfassung dieser
eigenständigen Darstellung bedürften, offenbar lan- Arbeit aus dem Gropius-Nachlaß des Bauhaus-Ar-
ge gültig geblieben, zumal die beiden Fabrik- und chivs nicht Genaues zu ermitteln gewesen, und
Bürohäuser der Vorkriegszeit in ihrer Qualität ein- Nachforschungen vor Ort sind im Rahmen dieser
zigartig dazustehen schienen. So fehlt in keiner mo- Untersuchung unmöglich geblieben. Allerdings le-
dernen Architekturgeschichte das Fagus-Werk, wel- gen nun die Fotografien aus der Privatkartei von
ches mit seiner richtungsweisenden Formensprache Gropius Zeugnis vom klassizistischen Gepräge die-
die Tätigkeit des Industriearchitekten weitgehend ser beiden Vorkriegsarbeiten ab und damit vom
abdeckte. 6 Aber selbst bei diesem Bau gibt es Lük- Traditionszusammenhang des Gropius-Ckuvres vor
ken zu füllen, trotz der verdienstvollen Werkmono- 1918/19. Anders verhält es sich bei den Bauten, die
graphie Helmut Webers. 7 Und die sogenannte Werk- auf dem Gebiet der Bundesrepublik Deutschland
bundfabrik erscheint beinahe wie die schöne Unbe- liegen: das Gebäude der Firma Gebr. Kappe & Co.,
kannte, von der man spricht, aber keiner genau das der Hannoversche Papierfabriken Alfeld-Gro-
weiß, wie sie wirklich aussieht. (Das hat sich seit nau vorm Gebr. Woge und das der Firma August
der übergabe - leider erst nach Fertigstellung die- Müller & Co. sind nach wie vor erhalten, wenn sie
ser Arbeit - des wohlgehüteten Gropiusschen pri- auch verändert wurden, die Papierfabrik bis zur
vaten Fotoarchivs geändert. Von den bislang völlig Unkenntlichkeit. Der Fabrikumbau der ,Adlerwer-
unbekannten Innenausmalungen kann man sich auf ke Frankfurt' ist offenbar nicht über das Planungs-
Grund dieser Abbildungen jetzt zumindest einen stadium hinausgekommen. Herr Konsul Erwin Kle-
Eindruck verschaffen.) Am vollständigsten liest yer, der Sohn des Fabrikgründers der Adlerwerke,

11
teilte mir dazu mit, "daß Gropius im Jahre 1932 licht sehen. Hinzu kommt, daß eine Bedingung
für die Adlerwerke keinen Neubau errichtete, son- ganz eigener Art dem Industriearchitekten Gropius
dern lediglich eine Neukonstruktion der Karrosse- zustatten kam. Bis auf den Sommerfeldentwurf
rie eines Adler-Personenwagens entwarf"9. Weite- und die polnischen Projekte sind alle anderen reali-
res ließ sich aus den Werkunterlagen nicht mehr sierten Industriebauten durch die Familie Ben-
entnehmen. Damit konzentriert sich diese Untersu- scheidt vermittelt gewesen, die entweder in Alfeld
chung also auf folgende Industriebauten: das ,Fa- oder in unmittelbarer Nachbarschaft entstanden, in
gus-Werk Karl Benscheidt', ,Büro und Fabrik' in einem Industriegebiet ganz besonderer Prägung, das
Köln, den Entwurf für ein ,Verwaltungsgebäude sich einem Reisenden 192 5 so präsentierte:
Adolf Sommerfeld' , den Wettbewerbsentwurf für "Wer mit der Eisenbahn von Hannover südwärts
,The Chicago Tribune', das Lager- und Ausstellungs- fährt, dem ist es, als sägte der Zug sich hinein in die
gebäude ,Gebr. Kappe & Co.', die ,Hannoversche schöne, hingebreitete Länderkarte ( ... ) und bald
Papierfabriken' und das Fabrikgebäude der Firma schwebt zwischen huschenden Hecken, tanzenden
,August Müller & Co.' in Kirchbrak, also jene Bau- Baumreihen, roten Dorfdächern, gelben Saatfeldern
ten, die zwischen 1910 und 1925 für die Privatin- Alfeld heran (. .. ). Der erste Eindruck: eine unge-
dustrie geplant wurden. Für die Festlegung des Un- ahnte Welt der Arbeit versteckt sich in diesem ein-
tersuchungszeitraums ergibt sich daraus eine erste zigartigen, lachenden und lockenden Kleinstadt-
Konsequenz. Das Jahr 1910, das gerne als Stichda- idyll.
tum für den Beginn der modernen Architektur ge- Man staunt über all diese Fabriken und gewerbli-
nannt wird 10, bestätigt sich für diesen Untersu- chen Anlagen, die zumeist auf dem linken Leine-
chungsgegenstand, weil Walter Gropius 1910 dem ufer in engster Fühlung mit dem Bahnhof im Laufe
Unternehmer Karl Benscheidt eine Offerte schick- von etwa fünfzig Jahren entstanden sind." (Abb.
teIl und damit die Baugeschichte des Fagus-Werkes 64)
einleitete, die im Jahre 1925 als abgeschlossen gel- Ein wesentlicher Teil der Arbeit muß also der
ten kann. Damit dokumentiert dieser Fabrik- und Geschichte und Rekonstruktion dieser Industrie-
Verwaltungsbaukomplex in seinen einzelnen Bau- bauten gewidmet sein. In ihnen spiegeln sich zu-
phasen die entscheidenden Entwicklungsstufen die- dem die Entwicklungsstufen des Architekten Gro-
ses Architekten und, nicht zu vergessen, seines eng- pius, sie sind ebenso deren Resultate, wie sie Auf-
sten Mitarbeiters Adolf Meyer, der in eben dem schluß geben nicht nur über sein Konzept für Indu-
Jahr das Bauatelier Walter Gropius verläßt und nun striearchitektur, sondern über ein Architekturkon-
eigene Wege geht. Das Jahr 1925 ist auch für Walter zept überhaupt.
Gropius von Bedeutung, das Bauhaus übersiedelt Und damit zum zweiten großen Problemkreis die-
von Weimar nach Dessau, das ,Neue Bauen' stellt ser Betrachtung: Vor 1914 hat sich Gropius aus-
sich hier als gefestigte Architekturbewegung vor. schließlich mit der Industriethematik beschäftigt.
Eine weitere Folge für die vorliegende Darstellung Wie sein Lehrer Peter Behrens oder die Architek-
ist die Beschränkung auf die Industriebauten der ten, Designer und Kulturpolitiker des Deutschen
Privatwirtschaft, also die Auslassung des Arbeits- Werkbundes, hat sich Gropius in den historischen
amtes in Dessau. Hans J oachim Stark hat darauf Zusammenhang der kulturellen Erneuerung ge-
hingewiesen, daß sich "die Bauten der Privatwirt- stellt. Das Thema seiner frühen Schriften ist bereits
schaft im Gegensatz zu den Behördenbauten schon wie das seiner späteren geprägt durch die Auseinan-
frühzeitig von jener Form des Historismus ab- und dersetzung mit dem drohenden Kultur- und Kunst-
der neuen Baugesinnung zuwandten" 12 • Das hat verlust durch die Industrialisierung. Gropius ver-
seine Begründung darin, daß auch die Bauherren, stand sich in seiner Funktion als Architekt zu-
von denen hier die Rede sein wird, Unternehmer- nächst und vor allem als Künstler, seine Tätigkeit
persönlichkeiten waren, die sehr eindeutig ihr als Kunstproduktion. Sein künstlerischer Bezugs-
Selbstverständnis als Unternehmer, als Wirtschafts- rahmen war zu Beginn seiner Arbeit der Klassizis-
führer besonderer Art zum Ausdruck gebracht wis- mus und dessen Rezeption durch Peter Behrens,
sen wollten. Das verbindet Karl Benscheidt mit sein kunsttheoretischer vor allem die Aussagen
Adolf Sommerfeld, und auch der Besitzer der Chi- Alois Riegls. Auf ihn hat sich Gropius, wie vor ihm
cago Tribune wollte seine Vorstellung davon, was schon Behrens, berufen, und vom Begriff des
Architektur sei, im neuen Verwaltungsbau verwirk- Kunstwollens aus entdeckte er die Zusammenhänge

12
seiner Kunst, der Architektur, mit dem Geschehen zuführen. Dies war ihm ein durchaus ernstzuneh-
seiner Zeit. Das historische Problem, dem sich Gro- mendes sozialpolitisches Anliegen. Der sozialen Un-
pius gegenübersah, war das Auseinanderfallen von ruhe durch Kunst beizukommen, bedeutete ihm
Kunst und Technik, Kunst und Industrie, Kunst wohl mehr als soziale Beschwichtigung oder Ver-
und Wissenschaft. Diesen Widerspruchszusammen- schleierung.
hang erstmals bezeichnet zu haben, ist das Ver- Diese Bewunderung für technische Potenzen geht
dienst Hegels und seiner These vom Sinnlichkeits- nach 1919 über in eine beinahe pragmatische An-
verlust, also des Kunstverlusts mit der Durchset- wendungs- und Umsetzungsforderung technisch-
zung rationalistischen Denkens. Damit ist der Pro- wissenschaftlicher Verfahrensweisen, die für die Ar-
blemkreis der modernen Kunst in ihrem Gehalt chitekturproduktion jenen Fortschritt zur Befrei-
umschrieben worden, dem sich kein Kunsttheore- ung ausmachen sollte, den die Maschine zu verspre-
tiker fortan entziehen konnte. Auch der Kunsthi- chen schien. Das wurde zum Gehalt und Problem
storiker Alois Riegl betrachtete dieses Verhältnis des Funktionalismus. Diese Ausformung bestimmte
als Angelpunkt eines zeitgemäßen Kunstbegriffs, al- lange Zeit die Funktionalismusdiskussion der Jahre
lerdings wurde ihm jener Einfluß rationalistischen nach 1968. 16 Es darf aber nicht vergessen werden,
Denkens zum Neubeginn einer neuzeitlichen oder, daß sich Gropius im Bauhaus einen gesellschaftli-
wie er es nannte, ,lebenswahren' Kunst. Das war chen Mikrokosmos schuf, der eine Einheit von
der Impetus des Künstlerarchitekten Walter Gro- Kunst und Technik geradezu ideal-typisch denkbar
pius, eine Architektur zu schaffen, die wahr sein werden ließ. Der Spielraum war hier entschieden
sollte, also wieder Kunst genannt werden konnte. größer als auf dem ,freien Markt', wo der "Archi-
Aus diesem Umfeld speiste sich seine Ablehnung tekt nurmehr selbständiger Unternehmer seiner
der historischen Kunstformen, seine Emphase für künstlerischen Fähigkeiten"17 war, und wohl nicht
Einfachheit und die Hinwendung - hier darf Peter zufällig häufen sich, nachdem Gropius 1928 das
Behrens' leitende Hand nicht ungenannt bleiben - Bauhaus verlassen hat, die nachdenklich-kritischen
zu einem durch die Industrie geprägten Lebens- Töne in seinen Aufsätzen.
raum. Dieser erste Teil, der sich mit den architekturtheo-
Man hat Gropius mehrfach den Vorwurf gemacht 14 , retischen Aussagen von Walter Gropius beschäftigt,
in dieser Nobilitierung der Industrie und der dort entstand zum einen, weil dem Anspruch Gropius'
geleisteten Arbeit dem arbeitenden Individuum ernsthaft Rechnung getragen werden sollte, eine
nicht genügend Achtung oder gar Engagement ent- ,Architektur als Kunst' schaffen zu wollen, und
gegengebracht zu haben. Sein vielzitierter Appell, entwickelte sich andererseits aus dem Bemühen,
einen Industrieadel in den neuen Gebäuden zu er- dem Kunstbegriff von Gropius auf die Spur zu
richten, weil die industrielle Arbeit als gigantisch, kommen. Aus seiner Definition, was ,Architektur
mächtig und imposant erlebt werde, wurden als als Kunst' sei, soll das Untersuchungskriterium für
Verschleierungstaktik und Beschwichtungsmanöver die Analyse seiner Industriebauten gewonnen wer-
interpretiert. Ich werde in meiner Auseinanderset- den. Die gewählte kunstgeschichtliche Methodik
zung mit dem Architekturtheoretiker Gropius - knüpft dabei an die Bestimmung, die Alois Riegl
und diese Bezeichnung mag gestattet sein, auch gab, an: Den "Zusammenhang zwischen bildender
wenn uns Gropius kein wohlgerundetes Bild einer Kunst und Weltanschauung im einzelnen nachzu-
Theorie hinterlassen hat, sondern uns zwingt, Mo- weisen, wäre nun nicht Sache des Kunsthistorikers,
saiksteinchen weitverstreuter Publikationen zusam- sondern diejenige - und zwar die eigentliche Zu-
menzusetzen - diese Passagen nicht ins Zentrum kunftsaufgabe - des vergleichenden Kulturhistori-
stellen, weil sie den Blick auf seinen Kunstbegriff kers. (. .. ) Alle (. .. ) nichtkünstlerischen Kulturge-
durch ihre propagandistische Geste trüben. Nur so- biete spielen nämlich unablässig in die Kunstge-
viel: Der berühmte Satz: "Der Arbeit müssen Paläste schichte hinein, indem sie dem Kunstwerk (das nie-
errichtet werden"15 meint ja ein Abstraktum, eben mals ohne äußeren Zweck ist) die äußere Veranlas-
keinen Unternehmer, aber auch keinen Arbeiter. sung, den Inhalt liefern. Es ist aber klar, daß der
Gropius war unzweideutig fasziniert von den tech- Kunsthistoriker erst dann das stoffliche Motiv und
nischen Möglichkeiten. Er erblickte darin stets ein seine Auffassung in einem bestimmten Kunstwerk
Positives und gedachte die Kunst in den Bereich wird richtig beurteilen können, wenn er die Ein-
der technischen Anwendung, in die Produktion ein- sicht gewonnen hat, in welcher Weise das Wollen,

13
das zu jenem Motiv den Anstoß gegeben hat, mit blemdiskussionen sind, um die Lesbarkeit des
dem Wollen, das die betreffende Figur nach Umriß Haupttextes nicht zu gefährden, in die Anmerkun-
und Farbe so und nicht anders gestaltet hat, iden- gen eingegangen.
tisch ist." 18 Ein dritter Teil beschäftigt sich mit dem Bauatelier
Die Darlegung des Stoffs ist in mehrere Teile unter- Walter Gropius und seinen wichtigsten Mitarbeitern
gliedert: einen ersten, der den kunsttheoretischen an diesen Industriebauten, die in Kurzbiografien
Rahmen des Kunst-Technik-Problems abstecken vorgestellt werden. Es folgen Baubeschreibungen
soll und aus dem die analytischen Kriterien erwach- und Hinweise auf die Bildwerke, die in den Bereich
sen, die sodann in die Analyse der einzelnen Indu- der Werkbundfabrik gehören, so daß dieser Teil wie
striebauten eingehen. Daß an dieser Stelle die ein Katalog gelesen werden kann.
künstlerischen Vorbilder behandelt werden, scheint Es sind, wie bereits angedeutet wurde, Fragen of-
mir selbstverständlich. Es handelt sich dabei vor al- fen geblieben, die bisher nicht zu klären waren.
lem um Peter Behrens und die Turbinenhalle. 19 Vor allem der Gropius-Nachlaß, der sich in den
Im zweiten Teil wird die Baugeschichte der einzel- USA befindet und den Reginald Isaacs publizieren
nen Industrieanlagen mit Hinweisen auf den Hin- will, gäbe sicherlich tiefergehende Auskünfte. Man
tergrund der betrieblichen Entwicklung dargestellt, muß also abwarten, um die verbleibenden Lücken
so wie er sich rekonstruieren ließ. Vertiefende Pro- späterhin schließen zu können.

14
Historismus, Werkbund, Funktionalismus
Die Industriebauten von Walter Gropius
und ihr kulturhistorisches Umfeld

Kunst und Technik.


Genese und Lösungsversuche
eines architekturhistorischen Problems

,Die künstlerische Gestaltung der Industriebauten'2o. Kunstgeschichte zum Stichwort ,Fabrikbau' weiter-
Die Bauaufgabe führt, die Abgrenzung zur "Manufaktur merkantili-
stischer Prägung sowie gegen die meist privilegier-
Die Bauaufgabe, die das Frühwerk von Walter Gro- ten größeren Gewerbebetriebe im Bereich der Lu-
pius prägte und die ihn berühmt machte, war als un- xusgüter- und Textilindustrie nur schwer möglich,
erledigtes Problem der Industrialisierung ins 20. da auch hier bereits im 17. und 18. Jh. in gewissem
Jahrhundert übernommen worden. Es waren die Fa- Umfang mechanisierte und arbeitsteilige Prozesse
brikbauten, die an der Jahrhundertwende zu großen üblich waren". 23
Industrieanlagen sich entwickelten, die aber dem Das "Haus des Schreckens", schreibt Karl Marx, "er-
baukünstlerischen Zugriff entweder entzogen oder hob sich (erst) (. .. ) später als riesiges ,Arbeitshaus'
vollkommen unambitioniert bzw. als historisieren- für die Manufakturarbeiter selbst. Es hieß Fabrik.
de Fassadenbauten gestaltet wurden, wenn sie über- Und diesmal", so fährt er fort, "erblaßte das Ideal
haupt in den Gesichtskreis des Baukünstlers gerie- vor der Wirklichkeit. "24 Die Definition, wie man
ten. sie im Reallexikon zur Deutschen Kunstgeschichte
Die erweiterte Anwendung der Maschinerie im 19. findet, nennt deshalb beide Bedingungen, die An-
Jahrhundert hatte erste Bautypen für industrielle wendung der Maschinen wie die Arbeitsteilung:
Arbeit ausgebildet. Diese Fabrik- und Bürohäuser "Fabrikbauten sind Anlagen für Gewerbebetriebe,
erschienen selber als Weiterentwicklunten der histo- die sich durch ihre maschinelle Ausstattung und ar-
rischen Vorläufer Manufaktur und Comptoir 21 , die beitsteilige Organisation von traditionellen Hand-
aus der Integration in den Wohnbereich, wie sie in werksbetrieben unterscheiden ( ... )."25 Die Fabri-
den Handwerksstätten und bürgerlichen Handels- ken, die in der Frühzeit der Industrialisierung in
häusern noch gegeben war, zu autonomen Arbeits- Deutschland entstanden, also zwischen 1780 und
stätten erstmals sich ausgegliedert hatten. Schon 1820, orientierten sich an bereits bestehenden Ar-
früh führte diese Entwicklung zu konkurrenzbeding- beitshäusern der Vergangenheit, etwa' an Zeughäu-
ten Differenzen zwischen Fabrikanten und Zünften, sern oder Magazinen. Oft griff man aber auch auf
die die Staatsmacht veranlaßten, die Fabrik gegen englische Vorbilder in der Art der mehrgeschossi-
den Handwerksbetrieb definitorisch abzugrenzen. gen Manchester-Fabriken zurück, so wie sie Karl
Im VI. Badischen Konstitutionsedikt von 1808 Friedrich Schinkel in seinem ,Englischen Reisetage-
hatte es geheißen: buch' 1826 überliefert hatte; ein Beispiel nur für die
"Unter Fabrik wird ein Gewerbebetrieb verstanden, vielen ihrer Art in England, die z. B. Nikolaus Pevs-
welcher so ins Große geht, daß einzelne Arbeiter ner in seiner ,History of Building Types' abgebildet
nur einzelne Teile eines Gewerbes verrichten, de- hat. 26 Die Baugestalt wurde noch nicht durch pro-
ren von den Gewerbsherren geleistete Zusammen- duktionstechnische überlegungen bestimmt, son-
stimmung dann das ganze vollendet. "22 dern zeigte einfach organisierte Bauten, zumeist
Interessanterweise wurde das Gewicht auf die ar- ohne architektonisches Gepräge.
beitsteilige Arbeitsorganisation gelegt, also auf die Wo repräsentative Bedürfnisse des Fabrikeigners
Auswirkung auf die menschliche Tätigkeit und nicht hinzutraten, übertrug man aristokratische Baufor-
auf die Maschinenanwendung selber. Darin war, men; das "Fabrikschloß", wie es Roland Günter
wie der Artikel im Reallexikon zur Deutschen nannte, war das typische Produkt der Gründerjahre,

15
das Ergebnis der wirtschaftlichen Prosperität nach arbeit fand, wurde bis heute zum Gradmesser des
1871. 27 Im Zuge der differenzierten Anwendung aufklärerischen Charakters jener Architektur, die
der Maschinerie wuchsen die Ansprüche an die bau- beispielsweise Behrens und Gropius planten. Man
liche Organisation der Arbeitsstätten, die Fabrikge- mache sich in diesem Zusammenhang nochmals
bäude mußten zunehmend "kompliziertere Maschi- klar, wie die bauliche Organisation auf den einzel-
nenausrüstungen und Massen von Arbeitern aufneh- nen arbeitenden Menschen im 19. Jahrhundert ge-
men"28. Erst innerhalb dieser Entwicklung began- wirkt hatte:
nen sich produktionsspezifische Fabriktypen auszu- "Wir deuten nur hin auf die materiellen Bedingun-
sondern, die nicht mehr, wie das beispielsweise noch gen, unter denen die Fabrikarbeit verrichtet wird.
in der AEG-Apparatefabrik in der Berliner Acker- Alle Sinnesorgane werden gleichmäßig verletzt durch
straße der Fall war, beliebig für veränderte Produk- die künstlich gesteigerte Temperatur, die mit Abfäl-
tionsanforderungen nutzbar waren. Hinzu kam, daß len des Rohmaterials geschwängerte Atmosphäre,
für die maschinelle Produktion allgemein, "insbe- den betä).lbenden Lärm usw., abgesehen von der
sondere auf eine Präzision angewiesene Massenfa- Lebensgefahr unter dicht gehäufter Maschinerie, die
brikation ( ... ) große, gut belichtete und entspre- mit der Regelmäßigkeit der Jahreszeiten ihre indu-
chend den Herstellungsvorgängen ausgerüstete striellen Schlachtbulletins produziert. Die Ökono-
Werk anlagen erforderlich" wurden. 29 misierung der gesellschaftlichen Produktionsmittel,
Hierin ist der historische Umbruch bezeichnet, an erst im Fabriksystem treibhausmäßig gereift, wird
dem sich die Bauaufgabe ,Industriebau' zu einem in der Hand des Kapitals zugleich zum systemati-
Spezifikum ausbilden kann und schließlich der schen Raub an den Lebensbedingungen des Arbei-
künstlerischen Gestaltung zugänglich wird. W. Henn ters während der Arbeit, an Raum, Luft, Licht und
schreibt dazu: an persönlichen Schutzmitteln wider lebensgefähr-
"Für jede neue Zeit im Bauen gibt es stets Vorläu- liche oder gesundheitswidrige Umstände des Pro-
fer. Ihr eigentlicher Beginn ist dort zu suchen, wo duktionsprozesses, von Vorrichtungen zur Bequem-
die alten Vorbilder verlassen und die Formen ganz lichkeit des Arbeiters gar nicht zu sprechen. "32
aus den neuen Gegebenheiten heraus entwickelt Das schrieb Karl Marx im 1867 veröffentlichten er-
werden. Am Anfang dieser Entwicklung stehen im sten Band seiner Kritik der politischen Ökonomie,
Industriebau die Fabrikbauten von Poelzig, Behrens im ,Kapital', und prognostisch hatte er in einer Fuß-
und Gropius. "30 note vermerkt: "Die Verbesserung der Maschinerie
Für die Ausprägung der neuen Bauaufgabe zur Ei- selbst erheischt auf einem gewissen Punkt eine ,ver-
genständigkeit war die Spezialisierung der Produk- besserte Konstruktion der Fabrikgebäude' , die den
tion selber bestimmend, die nun klare, übersichtli- Arbeitern zugut kommt. "33
che, gut belichtete Arbeitsräume erforderlich mach- Wenn also im 20. Jahrhundert die ,Architektur als
te, wodurch ein sozialpolitischer Aspekt in die Ar- Kunst' in die Produktionssphäre einzudringen ver-
chitekturdiskussion eingeführt wurde, der über die mochte, wenn die Forderung nach ,Licht, Luft,
Fabrikgebäude für die AEG von Peter Behrens, Sonne', die das ,Neue Bauen'34 am anschaulichsten
Hans Poelzigs Fabrik in Luban zum Fagus-Werk charakterisiert, sich im Industriebau niederschlagen
von Walter Gropius führt. Denn hier, so Roland konnte, so ist darin ein objektives Produktionsge-
Günter, kam es erstmals zu einer ,Modifikation' je- setz erfüllt, aber es ist auch mehr als der bloße Re-
ner Situation, die er folgendermaßen charakteri- flex darauf. Der Anspruch auf ,Kunst in die Pro-
sierte: duktion'35 bezeichnet durchaus einen sozialen Fort-
"Bis zum Anfang dieses Jahrhunderts gibt es im In- schritt, den Kritiker 36 gerne vor dem Faktum au-
nenbereich der Fabrik sozusagen keine Umweltge- ßer acht lassen, daß in solchen gut belüfteten und
staltung: Die Sphäre des Arbeiters ist völlig vernach- durchlichteten, mit ,Vorrichtungen zur Bequem-
lässigt. Außen orientiert am Adel, innen an der Ar- lichkeit des Arbeiters' ausgestatteten Fabrikbauten
mutsituation des einfachen Mannes, dokumentiert doch nur Lohnarbeit geleistet werde, diese Bauten
sich die Fabrik als eine übertragung des hierarchi- also zu nichts anderem als zur Verschleierung eben
schen Modells des feudalen Ständestaates in den dieses Tatbestandes dienten. Daß die Arbeitssit'da-
industriellen Bereich (. .. )."31 tionen zunächst und zuallererst subjektiv erfahren
Die Diskussion um die Arbeitsbedingungen, die Lö- wird, übersehen jene Kritiker, die den Klassenkampf
sungen, die die moderne Architektur für Industrie- gerne auf die Ebene der Ideologiekritik verlagern,

16
ebenso wie die Tatsache, daß der Vorwurf der Ver- hatte. Industrieanlagen entstanden zunehmend im
schleierung zumindest, was das Fagus-Werk angeht, städtischen Bereich, die zu Menschen- und damit
vollkommen verfehlt ist. Arbeitskräfteagglomerationen wurden. In diesem
Zusammenhang konnten sich z. B. in Berlin die Ge-
Der Industriebau 1907-1930 im Spiegel der Kritik werbehöfe ausbilden, die als Blockflächenbebauung
aus den "hohen innerstädtischen Bodenpreisen" und
Die Bauaufgaben ,Fabrik' und ,Bürohaus' entwickel- den "baurechtlichen VoraussetzuHgen"43 resultier-
ten sich in einem Zeitraum, in dem die ,Krise der ten, und deren " Fassadenausbildung" , wie Helmut
Architektur'37 manifest wurde. Sie sind ebenso aktiv Kreidt schreibt, durchaus "Sorgfalt erkennen las-
in diese Krisensituation verflochten, wie sie Zeugnis sen"44. Den Höhepunkt dieser innerstädtischen In-
darüber ablegen. Wie sich durch die Anwendung der dustrieanlagenentwicklung bilden die Planungen
Maschinerie die Arbeitsteilung zum herrschenden der AEG, die in kurzer Zeit ein großes Areal im Ber-
gesellschaftlichen Arbeitsprinzip entwickelte, in de- liner Stadtteil Wedding entweder durch Pläne ihres
ren Gefolge die Fabrik als eigenständige Bauaufga- eigenen Baubüros oder durch Aufträge an örtliche
he historisch in Erscheinung trat, so unterlag auch Bauunternehmer bebauen ließ. 45 Die Namen von
die künstlerische Produktion dieser Tendenz. Der Baumeistern wie Franz Schwechten und Peter Beh-
Ingenieur und der Architekt wurden im 19. J ahr- rens sind mit der Geschichte dieser Fabrikbauten
hundert zum Gegensatzpaar der Bauproduktion, untrennbar verbunden, und ihre Berufung doku-
die Ausbildung der beiden Berufe spaltete sich auf, mentiert wie kaum ein anderes Beispiel den Wandel
und damit vollzog sich die "Trennung von Archi- im Unternehmerbewußtsein, der die Bauaufgabe
tektur und Ingenieurkunst, konstruktivem Den- Fabrik im innerstädtischen Bereich nicht nur der
ken und 'Abbildenwollen"38 . künstlerischen Gestaltung zuführte, sondern auch
Der Ingenieur, der Brücken, Straßen u. ä. baute, die Diskussion um die Formensprache der moder-
wurde das Idealbild der kapitalistischen Gesell- nen Industriebauten, und von da her schließlich der
schaft, der Erfinderunternehmer, der seine Pro- Architektur überhaupt in Gang brachte.
dukte effizient und gewinnbringend einzusetzen Der Ansatzpunkt dieser Diskussion war die Un-
verstand, zum bewunderten Heros seiner Epoche. gleichzeitigkeit des architektonischen Ausdrucks
Der technisch ausgebildete Baufachmann empfahl im historistischen Formenvokabular, den techni-
sich deshalb für eine Aufgabe, die durch das Öko- schen Bedingungen in der Fabrikation und den kon-
nomieprinzip bestimmt ist, und deren Anforde- struktiven Veränderungen durch die Eisenarchitek-
rungen er auf Grund seiner Ausbildung und der tur. Friedrich Naumann hat die Atmosphäre dieser
geistigen Haltung entsprechen konnte. "Die Zuzie- Umbruch situation in seinem Aufsatz Die Kunst im
hung von Architekten zur Projektierung von Fa- Zeitalter der Maschine außerordentlich eindrück-
brikbauten war zu jener Zeit äußerst selten, ja sie lich beschrieben:
haben sich dieser Tätigkeit vielfach planmäßig ent- "Der Hintergrund eines ruhigen Volkes ist für die
zogen"39, schrieb Emil Beutinger 1916. Eine Be- Kunst etwas anderes als der Hintergrund eines Vol-
gründung dafür liegt u. a. darin, daß Fabrikbauten, kes, das mit Minuten rechnet. Alles Leben ist jetzt
also reine Nutzbauten, im vorigen Jahrhundert gar nach dem Muster des Eisenbahnfahrplanes einge-
nicht zur Baukunst, sondern zur Bauwissenschaft 40 richtet. Die Arbeit wird nach der Uhr gemessen. Der
gehörten, und da sie "primär nach wirtschaftlichen Geschäftsmann hat zehn Minuten Zeit, um sich über
überlegungen konzipiert werden sollten (. .. ), (war) einen Mann ein Urteil zu bilden, der mit ihm einen
die theoretische Auseinandersetzung mit diesem Abschluß machen will. Dieser Geschäftsmann ver-
Bereich der Architektur zunächst nicht sehr inten- langt vom Portrait, daß es knapp und schnell die
siv"41. Diese "gewann erst am Ende des 19., An- Hauptsachen sagt. Er will keine Arbeit, an der er
fang des 20. J ahrhunderts"42 eine Bedeutung, die tagelang studieren muß. Und er ist es, der Kunstauf-
den Industriebau dem Künstlerarchitekten auch in träge gibt. Die ganze Anschauungsweise der ruhigen
seinem Selbstverständnis schließlich zugänglich Zeit ist anders als die der Maschinenzeit. "46
machte. Und an anderer Stelle folgerte er für den künstleri-
Der Wunsch nach einer künstlerischen Bearbeitung schen Ausdruck:
von Fabrikgebäuden war gebunden an die Phänome- "Der Mensch besinnt sich auf das Wesenhafte, auf
ne, die die Industrialisierung selbst hervorgebracht den Aufbau der Dinge selber, er lernt die Arbeit

17
der Materie nachempfinden und hebt sich selbst an Scheffler 1912 in der Vossischen Zeitung berich-
einem Material, dem diese Arbeit Lust ist. ( ... ) So ten 53 , befaßte sich immer häufiger mit Industrie-
wird auf schwer zu beschreibende Weise das Eisen bauten, die in den Jahren um 1910 schon zu den
zum Erzieher seines Zeitalters und hilft mit, den Sehenswürdigkeiten einer Stadt wie Berlin zählten.
Stil der Neuzeit zu schaffen, den wir suchen. "47 Die Tendenz, daß die Industrie ihre gesellschaftli-
Und: che Macht immer häufiger selbstbewußt in den Ar-
"Die Arbeit selbst ist es, von der wir jetzt sprechen beitsgebäuden darstellte, war ebenso unübersehbar
(. .. ). In aller Maschinentechnik liegt ein Zug zur geworden, wie die Tatsache, daß sie zunehmend ei-
Präzision, zur formalen Akkuratesse. Die großen ne Formensprache bevorzugte, die der Werkwelt
Erfolge dieser Technik werden durch Dezimalstel- entlehnt und dieser angemessen sein sollte. Zur her-
len und Millimeter gewonnen. Alle Arbeit wird ausragenden Persönlichkeit in diesem Prozeß wur-
peinlicher, vielleicht kann man sagen kleinlicher, de Pet er Behrens, bei dem die Faszination vor der
mikroskopischer. "48 Wucht der maschinellen Arbeit zu großen, monu-
Es sind also die Prinzipien der maschinellen Arbeit mentalen Formen führte, die aber niemals "hinein-
selber, der sich die Kunst, d. h. die Industriearchi- getragen oder aufgezwängt" waren, sondern, wie es
tektur, in ihren Mitteln zu adaptieren hat, um auf Gustav Adolf Lux 1910 für jeden modernen Fabrik-
diese Weise einen formalen Ausdruck zu erschaffen, bau forderte, "der natürliche geistige Ausdruck des-
der ihrem Gegenstand gemäß ist. sen, was innerhalb notwendig war. Auf dieser sach-
Man meint in diesen Worten Naumanns die AEG- lichen Grundlage können auch Fabriken den Stem-
Fabriken von Behrens vorweggenommen zu finden, pel der Schönheit tragen (. .. )".54
denn es sind die Elemente benannt, die bei Behrens Damit dieses veränderte Schönheitsbewußtsein, das
wirksam wurden, ob es die Verwendung des Eisens den Nutzbau als Baukunst begriff, entstehen und
ist, die formprägende Maschinenzeit, oder die große, sich durchsetzen konnte, war ein Wandel im sozio-
knappe, schnell zu erfassende Form. Denn auch das kulturellen Bewußtsein der Unternehmer gleicher-
Zeitmoment, das die Rezeptionsformen verändern maßen notwendig gewesen wie die Auseinanderset-
würde, war durch Behrens in die Formdiskussion zung der Architekten mit den Strukturen der öko-
der neuen Architektur eingebracht worden, und nomie und mit dem Ingenieurbau. Fortan entstan-
noch Walter Gropius plädierte für die Berücksichti- den die großen modernen Industrieanlagen aus der
gung der durch Schnelligkeit veränderten Wahrneh- Zusammenarbeit der jeweiligen Spezialisten, des Be-
mungsstrukturen bei der Gestaltung von Architek- triebsingenieurs mit dem Statiker und dem Archi-
tur - wenn auch bei ihm die Horizontalbewegung tekten, die nun gemeinsam Produktions- und Ver-
des Eisenbahn- oder Automobilverkehrs auf die waltungsbauten planten, die auch typologisch un-
Vertikale des den Erdboden verlassenden Flugzeugs zweideutig ihre Funktion widerspiegelten. 55
ausgedehnt wurde. 49 Im Jahre 1913 veröffentlichte der Kunstkritiker
Weil der Industriebau eine aus seinem Wesen ent- Adolf Behne einen Artikel, der sich explizit mit
springende ökonomische material- und zeitsparen- den künstlerischen Tendenzen des modernen Indu-
de Bauorganisation verlangte, und er darin, wie striebaus beschäftigte, und der, am Vorabend des
Hans Poelzig sagte, "in allen seinen Grundbedin- Ersten Weltkrieges geschrieben, wie ein Resümee
gungen unserer Zeit entspringt" 50 , wurde er zur der Industriebauentwicklung seit der Jahrhundert-
Bauaufgabe par excellence, an der moderne Ar- wende gelesen werden kann. Behne berichtet darin
chitektur ihre formalen Voraussetzungen entdek- über die verschiedenen Erscheinungsweisen des
ken konnte. 51 Industriebaus, der durchaus noch in vielfältigen
Wegen seiner absoluten historischen Vorausset- Gewändern auftrete, sei es in den nach wie vor
zungslosigkeit wurde der Industriebau zum ,Lieb- existenten traditionellen Bezügen, sei es in Bedeu-
lingskind' der modernen Architekten. Man kann tungsgehalten, die außerhalb der Industriewelt lä-
Äußerungen dazu ebenso bei Hans Poelzig wie in gen, entweder durch Berücksichtigung lokaler
der Zeitschrift finden, die sich dieser Bauaufgabe Bautraditionen oder landschaftsschützerischer Argu-
schon im Titel verschrieben hatte. 52 mente. 56 Was Behne als künstlerisch gestaltete
Die Auswirkungen auf das Verhalten des kunstin- Industriearchitektur bezeichnet, unterteilt er in
teressierten Publikums waren entsprechend. Wer drei Kategorien und stellt deren Hauptvertreter
sich mit Architektur beschäftigte, so konnte Karl vor, die "nicht ein höherer oder niederer Grad des

18
Könnens, der Intelligenz oder der Geschicklichkeit, Behne wandte sich nicht grundsätzlich gegen eine
auch nicht (. .. ) ein höherer oder niederer Grad der Verbindung von Kunst und Industrie. Das ,Absto-
Unverfälschtheit und der Konsequenz, sondern ßende' fand er vielmehr darin, "daß es eine be-
eine verschiedene Auffassung von Wesen, Wert und stimmte Gattung der Kunst ist, nämlich die ,bürger-
- wenn der Ausdruck gestattet ist - von der Seele liche' Kunst, für die es kennzeichnend ist, anspruchs-
der Industrie"S7 trenne. Er unterscheidet die "Ro- voll und unaufrichtig zu sein"64 .
mantiker" von den "Pathetikern" , Riemerschmid, Die Industriebauten von Walter Gropius und
der die Sache "mit dem Gemüt" erfasse, von Beh- Adolf Meyer dagegen, fand Behne, wie die Bauten
rens, der vom "Strengen, Eisen-Gewaltigen völlig von Poelzig oder Max Taut schlichtweg "ehrlich"6s -
erfüllt"S8 sei. Diejenigen, die er die "Logiker" In der ,Kölner Werkbundfabrik von 1914' sah er
nennt, Poelzig und Bruno Taut, hätten dagegen die den "bündigen Beweis" dafür geliefert, "daß die
Industrie weder romantisiert noch pathetisch Heranziehung zahlreicher künstlerischer Kräfte
interpretiert, sondern "ganz einfach, ganz natür- durchaus nicht zu einer Fabrik-Karikatur (. .. )
lich, ganz selbstverständlich" gezeigt. S9. Walter werden muß"66 , und die ,Fabrik in Alfeld a.d.L.'
Gropius, den man in diesem Zusammenhang endlich lobte er hauptsächlich wegen ihres "straf-
erwarten würde, blieb von Behne unerwähnt. Selbst fen und klaren Sinnes"67 .
die "vorbildlichen amerikanischen Industriebau- Diese Äußerungen, die von der Redaktion der
ten"60, die im Jahrbuch des Deutschen Werkbun- Zeitschrift ,Das Plakat' mit dem Hinweis verse-
des von 1913 Gropius' Artikel Die Entwicklung hen waren, daß man die Ausführungen des Verfas-
moderner Industrie-Baukunst bebildert hatten, sers "ohne Kürzungen" wiedergebe, "auch da, wo
fanden bei Behne im Zusammenhang mit Behrens' er sich in das Gebiet der Parteipolitik verirrt" 68 ,
Industriebauten Erwähnung. 61 zeigen in ihrer ganzen Polemik die Stimmung, die
Die eigentliche Wertschätzung der im Fagus-Werk 1920 herrschte. Derartige Diskussionen, wie sie die
entwickelten Architekturformen setzte sich erst Jüngeren, die ehemaligen Behrens-Schüler Gropius
nach 1918/19 durch, zu einem Zeitpunkt, da das und Meyer beispielsweise führten, wurden damals
Verhältnis von Kunst und Industrie neu überdacht als politisches Eingreifen verstanden. Behne hat
wurde und man die vor 1914 entstandenen Indu- 192 3 seinen Angriff auf Behrens revidiert. In sei-
strieanlagen kritischer zu beurteilen begann. Am nem Buch Der moderne Zweckbau ist nichts mehr
prononciertesten wandte sich nun Adolf Behne ge- von dem ehemals harschen Tonfall zu spüren. 69
gen Architekturformen, die beispielsweise von Peter Und auch Gropius, der Behrens 1919 aus dem
Behrens für die AEG entwickelt worden waren, wo- Werkbundvorstand 70 verdrängte und in dessen Ab-
bei er die Alternativen jetzt u. a. in den Industrie- sicht, ein Kongreßhaus in Weimar (1919) zu bauen,
bauten von Walter Gropius entdeckte. Getragen von eine "Gefahr für das Bauhaus"71 erblickte, hat
der Kritik am Wilhelminismus, die auch Gropius in späterhin seine Angriffe unterlassen.
den Jahren um 1920 zu einer Neubestimmung der Behrens hatte sie nämlich versöhnen können,
gesellschaftlichen Funktion der Industrie führte, denn in einem Aufsatz von 1922 war er sehr selbst-
warf er Behrens vor, mit den "zyklopischen Tem- kritisch mit der durch ihn geprägten Vorkriegsar-
peln der Arbeit" nur die "große Gebärde", die chitektur umgegangen. Auch sein Fazit lautete nun:
"Schauseite" entwickelt zu haben, als ob sie "Monumentalkunst, ästhetischer Imperialismus." 72
"auch nur das Geringste an der Lohnsklaverei geän- Ganz allgemein wurde aber um 1920 der Industrie-
dert hätte" 62 . Allerdings räumte er dann ein: bau zum Prüfstein der Kultur erklärt, und vielfach
"Wohl, es lag nicht in der Hand des Baukünstlers, wurde jetzt die Forderung geäußert, daß die
dieses zu leisten. Aber es lag in seiner Hand, zu ver- Industriesphäre weder romantisch noch überhöht,
meiden, daß Stätten des Schweißes und der herden- sondern schlicht und einfach zu gestalten sei.
weisen Arbeit um das liebe Brot ein Gesicht beka- Schon an den Äußerungen Adolf Behnes wird deut-
men, als seien sie Stätten der Erhebung. Was an tie- lich, daß sich die Diskussion in diesen Jahren des
fer Erfassung der heutigen Arbeit in diesen Schau- sozialen Umbruchs der Arbeitssituation des Men-
seiten liegen sollte, sind ja nur steinerne Redensar- schen zuwandte. Beinahe unisono fand man das
ten, dem Größenwahn des Unternehmers zu schmei- Selbstdarstellungsbedürfnis der Industrie in der
cheln. Auch hier ist das scheinbar Weihevolle 10 Architektur der Vorkriegszeit überbetont. In einem
Wahrheit das Entweihende. "63 Artikel in Wasmuths Monatsheften beschäftigte

19
sich Heinrich de Fries 1920/21 mit dem Industrie- Zweckbau darauf hingewiesen, daß "die Fabrik der
bau vor dem Ersten Weltkrieg und den bisher Faguswerke ( ... ) als die erste nicht mehr gebaute,
gemachten Fehlern. De Fries kritisierte wie Behne sondern aus Eisen, Beton und Glas ,konstruierte'
die industrielle Repräsentationsarchitektur, aber Fabrik"80 gelten könne. Wenn er diese Einschät-
auch die einfachen "Eisenkonstruktions-Binder-Hal- zung auch auf die Werkbund fabrik ausdehnte, so
len", bei denen "von einer wirklich organischen trifft das nur teilweise zu, denn diese war elOe
Durchbildung und Durchgliederung (. .. ), von der singuläre Verbindung von Kunst, Technik und
Schöpfung eines lebendigen Arbeits-Organismus Industrie innerhalb einer Ausstellung.
nur in sehr wenigen Fällen"73 gesprochen werden Die Architekturprinzipien, die zur ideellen und
könne. Er schloß daraus: "Der Arbeiter aber wird schöpferischen Grundlage der funktionalistischen
in diesen Räumen immer mehr zur Nummer, zum Architektur wurden, waren zum großen Teil schon
Maschinenteil."74 Bei de Fries speiste sich die am Fagus-Werk deutlich geworden. Was sich in die-
Kritik an der "Frontwand-Anschauung"75 aus den ser Einzelleistung angekündigt hatte, galt am Ende
zeittypischen Gedanken eines expressionistischen der zwanziger Jahre allgemein als gelöst. Adolf
,Oh Mensch'-Pathos. Er meinte nämlich, daß aus Meyer, der im Gegensatz zu Walter Gropius auch
der "Vertiefung des Menschentums die Baukunst nach 192 5 noch mehrfach Gelegenheit erhielt,
wieder zur Blüte" gelange. 76 Aber in diesen eher große Industrieanlagen zu realisieren, sprach das
gefühlsmäßigen Einheits- und Echtheitsgeboten für 1928 in aller Deutlichkeit aus: "Das Problem des
eine Industriearchitektur, die phrasenlos zu zeigen Industriebaus bietet heute keine Schwierigkeit
habe, was sich im Inneren des Baues ereignet, ist mehr; wenn das Programm und die Aufgabe klar
letztlich die Durchsetzungsfähigkeit Gropiusscher gestellt wird, ist die Lösung eindeutig und sachlich
Architekturformen und seines Funktionalismusbe- möglich. "81
griffs, der Bauen als "Gestaltung von Lebensvor- Das galt für einen reinen Fabrikationsbau ebenso
gängen"77 begreift, begründet. Dem liegt die Auf- wie für ein Bürogebäude, die gleichermaßen als ak-
fassung zugrunde, daß Einfachheit und damit zeptable Architekturen galten, wenn sie als Raum-
Ehrlichkeit aus der Zweck erfüllung entsteht. De- organismen für die Arbeitsorganisation sinnvoll und
ren strikte Einhaltung führe zu jener Vielfalt der vernünftig funktionierten und das in der äußeren
äußeren Erscheinung, wie sie der Zweck selbst be- Erscheinung zum Ausdruck brachten. Die gewisse
gründet. Den gleichen Sachverhalt umschrieb Adolf Gleichförmigkeit im Erscheinungsbild, die in den
Behne 1927 im Begriff der ,Konstruktion': Industriebauten von Gropius/Meyer nach 1920 zu
"Früher baute man Fabriken (. .. ), heute konstru- entdecken ist, muß als Resulat dieser Vorstellung
iert man sie (. .. )."78 "Die konstruierte Fabrik ist angesehen werden, die in der Formulierung vom "In-
nichts anderes als der klarste, technisch sauberste ternationalen Stil"82 durch Gropius kulminierte.
Ausdruck des Betriebsvorganges, wobei der im Be- Die Wahrheit einer architektonischen Form bemißt
trieb Mitwirkende nicht mehr als eine Nummer, sich fortan danach, in welcher Weise sie Auskunft
sondern als Mensch betrachtet wird, der Anspruch über den Zweck des Gebäudes geben kann, der
hat auf ein Höchstmaß an Licht, an Luft und an allerdings niemals die bloß alltägliche, sondern
Sauberkeit. "79 ebenso die gesellschaftliche Gebrauchsfunktion
Alle Industriebauten, die Walter Gropius und sein meinte. Die Unterscheidung zwischen administrati-
Mitarbeiter Adolf Meyer zwischen 1910 und 192 5 ver und produktiver Arbeit wurde für Walter Gro-
für die Privatindustrie planten und ausführten, sind pius' und Adolf Meyers Industriearchitektur
von diesem Prinzip der Konstruktion geprägt. Sie letztlich unerheblich, weil sie beide Bauaufgaben
wurden niemals zu jenen bloßen Gebäudehüllen, abstrakt als Stätte gesellschaftlicher Arbeit begrif-
die für Produktionshallen bereits vor 1911 als Fer- fen; die Besonderung lag in der Berücksichtigung
tigprodukte von Baufirmen geliefert wurden, und des Arbeitsablaufs, der sich in der jeweiligen
wie sie von de Fries kritisiert worden waren. Es Funktionentrennung im Grund-und Aufriß nieder-
sind vielmehr Raumorganismen, die sich in einem schlug.
variationsreichen Außenbau mitteilen und in den Ein ideales Zeugnis dieser Auffassung sind die Fa-
beiden Industrieanlagen vor 1914 in geradezu brikations- und Verwaltungsgebäude, die Adolf
komplizierten Einzelformen in Erscheinung treten. Meyer zwischen 1927 und 1929 in Frankfurt/M.
Zu Recht hat Behne in seinem Buch Der moderne vor allem für das ,Städtische Elektrizitätswerk' ge-

20
baut hat, und auch das Dessauer Arbeitsamt von sionen geprägt, welche die Werkbundpolitik zwi-
Walter Gropius aus dem Jahre 1928 legt mit dem schen 1907 und Kriegsbeginn bestimmten. Sein be-
ringförmigen Grundriß davon Zeugnis ab. Aber vorzugtes Thema dieser Jahre, das Verhältnis zwi-
schon im Gebäude für die Alfelder Firma ,Gebr. schen künstlerischer und maschineller Produktion,
Kappe & Co.' von 1922 wie im Entwurf zum ,Chi- von Kunst und Industrie, Architektur und Technik
cago Tribune Tower' im gleichen Jahr macht sich ist ganz den von dieser Organisation vertretenen
diese Tendenz zur Vereinheitlichung verschiedener Positionen verpflichtet, sei es in der Propagierung
Bauaufgaben geltend, da als Thema der beiden Bau- des reproduzierbaren Typus (1910) oder in der Ver-
typen die vergesellschaftete Arbeit gilt. teidigung des individuellen Entwurfs im Gefolge
Innerhalb dieser Entwicklung nehmen die beiden von van de Veldes Replik auf Hermann Muthesius
Büro- und Fabrikationsgebäude vor 1914 insofern im Werkbundstreit (1914). In dieser Hinsicht ist
eine Sonderstellung ein, als sowohl beim Fagus-Werk Gropius nicht gerade originell, sondern ein typi-
wie auch bei der Musterfabrik auf der Werkbundaus- sches Kind seiner Zeit. Eigenständigkeit beweist er
stellung 1914 beide Funktionen innerhalb eines aber in seiner Fähigkeit, den im Werkbund schwe-
Bauzusammenhangs miteinander zu verbinden wa- lenden Ideen Ausdruck zu verleihen. Mit Vehemenz
ren, im übrigen typisch für Unternehmen mittlerer und agitatorischem Impetus versteht er es immer
Größe. Die beiden Verwaltungsbauten nach 1920 wieder, die Interessen der Künstler im Werkbund
sind im Gegensatz dazu Planungen für große Un- prägnant zu fassen, worüber die Aufsätze des Drei-
ternehmen gewesen, die den Verwaltungsbereich ßigjährigen in den beiden Werkbundjahrbüchern
vom Produktionsort abzusondern begannen, um in von 1913 und 1914 Aufschluß geben. 84
selbständigen Verwaltungshäusern, zumeist im Entwicklungsgeschichtlich sind Gropius' Thesen be-
innerstädtischen Bereich, Repräsentationsansprü- einflußt von den Auseinandersetzungen zwischen
che verwirklicht zu sehen. Exemplarisch läßt sich Künstlern und Gewerbetreibenden um die Situation
das an derWettbewerbsausschreibung zum Chicago- dcs deutschen Kunstgewerbes, die schließlich zur
Tribune-Gebäude und der Ablehnung all jener Gründung des ,Deutschen Werkbundes' führten.
Entwürfe, die sich einer sachlichen Architekturspra- Der Anlaß ist inzwischen allgemein bekannt, soll
che bedienten, nachzeichnen. aber zur Verdeutlichung der kontroversen Stand-
Für die Produktionsgebäude, die Gropius/Meyer punkte hier noch einmal ausführlich vorgetragen
nach 1922 bauten, ist festzustellen, daß ihre äußere werden.
Erscheinung mit der gleichen Aufmerksamkeit be- Hermann Muthesius, der Preußische Kulturdezer-
handelt wurde, die man auch an anderen Gebäuden nent, war mehrfach öffentlich gegen die vom Ge-
dieser Jahre finden kann. Der beste Beweis dafür ist werbe - aus rein pekuniären Gründen - bevorzug-
der kleine Bau der Firma ,August Müller' in Kirch- te "Oberflächlichkeit der sogenannten Stilform"
brak. Nach wie vor sind die Industrieanlagen Gegen- aufgetreten. 85 Der ,Verband für die wirtschaftli-
stand ,künstlerischer Gestaltung'. Daran hat sich seit chen Interessen des Kunstgewerbes' hatte heftig
dem Fagus-Werk von 191O/11-nichtsgeändert. Die reagiert, indem er seiner Empörung - ,Der Fall
Bedeutung, die man dem Industriebau als Aufgabe Muthesius' auf der Verbandstagung im Juni 1907
aber damals zugemessen hatte, trat in den zwanzi- - Ausdruk gab. 86 Fairerweise hatte die Gegensei-
ger Jahren in den Hintergrund; zur gesellschaftlich te Gelegenheit zur Selbstdarstellung erhalten. In
dominanten Bauaufgabe wurde der Wohn- und Sied- den Industriellen Peter Bruckmann und Wolf Dohrn
lungsbau bzw. die Gebäude für Sozialeinrichtungen. von den ,Dresdener Werkstätten' waren geschickt
Diese Architektur konnte dann aufbauen auf den gewählte Repräsentanten der Muthesiusschen In-
Auseinandersetzungen, die die Architekten um teressen erschienen, die als Vertreter der Pro duzen-
1910 geführt hatten und auf den Resultaten, die im tenseite über jeglichen Verdacht des Illusionismus
Industriebau jener Jahre sichtbar geworden waren. erhaben waren. Schließlich nahm der Publizist J 0-
sef August Lux zu den Vorwürfen des Verbandes
Die Krise der ,Architektur als Kunst'83 Stellung und benutzte die Gelegenheit, seinen Bei-
Der Konflikt im Deutschen Kunstgewerbe trag mit einer Kampfansage zu beenden, indem er
und die Gründung des Deutschen Werkbundes 1907 die Möglichkeit einer konkurrierenden Vereinigung
Walter Gropius' architekturtheoretisch·e Äußerun- von Industriellen und Künstlern andeutete: Gemeint
gen vor 1914 sind von den Problemen und Diskus- war der ,Deutsche Werkbund'. 87

21
Dieser Streit um die Person Muthesius' war aber, These erfolgte noch im selben Jahr durch Werner
wie das Organ des ,DWB', ,Die Form', 1932 schrieb, Sombart. Er faßte das Verhältnis von Kunst und
"bereits der zweite Akt des Schauspiels. Vorausge- Gewerbe als die notwendige" Umkleidung" der Mit-
gangen war im Jahr vorher ein erster Akt, nicht tel unserer "Notdurft mit dem Zauber zwecklosen
ganz so stürmisch wie der zweite, aber immerhin Spiels"96 und entwickelte es aus dem historischen
schon mit den Anzeichen künftiger Verwicklun- Verlauf des Zivilisations- und Kulturprozesses der
gen. "88 Schon 1906, anläßlich der ,Dritten Kunst- Menschheit.
gewerbe-Ausstellung' in Dresden, hatten nämlich
In der Eindeutigkeit, mit der Schumacher den Kon-
earl Schmidt von den ,Dresdener' , später ,Deut-
flikt zwischen ,Geschäft und Kunst' polarisierte, ist
schen Werkstätten', Friedrich Naumann und ande-
der durchaus selbstbewußte Reflex des Künstlers
re eine organisatorische Neuorientierung für das
auf eine soziale Situation spürbar, in der seine
deutsche Kunstgewerbe in Betracht gezogen. 89
spezifischen Fähigkeiten aus dem Produktionssek-
Das Motiv, das schließlich am 6. Oktober 1907 zur
tor nach und nach ausgeschieden worden waren.
Gründung des ,Deutschen Werkbundes' in München
Mit der Entfaltung der Maschinerie hatte das Hand-
führte 90 , war die "F ormverwilderung"91 in Kunstge-
werbe und Architektur gewesen, wie es der spiritus werk im 19. Jahrhundert zunehmend an Bedeutung
rector jener Organisation, Muthesius, nannte. Was verloren, die industriell gefertigte Massenware war
darunter verstanden wurde, beschrieb Karl Scheff- an die Stelle des einzeln gefertigten Gebrauchspro-
ler 1907: "Sie bauen Börsen als antike Tempel, Ver- duktes getreten, wodurch die kunsthandwerkliche
Einzelbearbeitung auf die Entwurfsarbeit für die
waltungsgebäude als barocke Königsschlösser, pro-
testantische Predigthallen als katholische Dome maschinelle Reproduktion reduziert wurde. 97 Da-
und Mietshäuser als italienische Paläste. "92 Diese mit hatte sich ein wesentliches Merkmal der künst-
Situation bildete den Hintergrund, vor dem bereits lerischen Arbeit aufgelöst: Originale zu schaffen,
in denen sich die unverwechselbare Einzelleistung
Fritz Schumacher sein Konzept für die Dresdener
niederschlug. Das industrielle Gewerbe mit der
Ausstellung erarbeitet und darin neuartigen Form-
vorstellungen breiten Raum gewährt hatte - Vor- Kunst aber gaukelte jene Originalität weiterhin vor,
die den Schein handwerklicher Herstellung zumeist
zeichen einer Aufbruchsstimmung, wie sie z. B.
in historisierenden oder Jugendstilornamenten nur-
Theodor Heuss empfand, indem er das Gelingen
mehr vorspiegelten, oder - ein Zusammenhang,
der Ausstellung darin sah, daß sich "nun breiter
den Michael Müller für die Entwicklung des Funk-
und gesicherter als bei dem Darmstädter Experi-
tionalismus untersuchte - eine lebendige, konkrete
ment von 1901 der neue Formwille für Möbel und
Arbeitsleistung eines Künstlers vorgab, die doch
Hausarbeit, für Textilien, Tapeten und Schmuck,
längst von der ,toten seelenlosen Maschine' aufge-
für profanes und kultisches Bauen"93 dargestellt
sogen worden war und deren Produkte z. B. Gro-
hatte.
pius auf neuartige Weise zu beleben gedachte. 98
Schon Fritz Schumacher war, wie ein Jahr darauf
Muthesius, dem Unwillen der kunstgewerblichen Die Nobilitierung eines Produktes durch ein nur
Fachverbände preisgegeben. Er hatte eben ein phrasenhaftes ,hic et nunc' galt den Werkbund-
Programm entwickelt, das Kunst und Produk- künstlern nun als "Verbrechen gegen die Form"99,
tion als keineswegs unvereinbare Gegensätze pro- wie es Muthesius genannt hatte, oder war ein ,Ver-
klamierte. In einem eingeforderten Rechtfertigungs- brechen' des Ornaments 100 überhaupt, wie Adolf
bericht nahm Schumacher zu dem Vorwurf, die Loos es zuspitzend formulierte. Und Gropius
Dresdener Ausstellung sei eine "Künstler-Ausstel- charakterisierte diese Situation als verlogene "Mas-
lung, nicht die des Kunstgewerbes" 94 gewesen, dann kerade"lOl. Die Veränderung dieses Zustandes
unmißverständlich Stellung: galt deshalb beinahe als moralische Pflicht im
,,( ... ) diese Veranstaltung ist keine Ausstellung des Namen der Kunst, der Zugriff jener Künstler auf
Kunstgewerbes als Geschäft, sondern eine Ausstel- die Alltagswelt als Notwendigkeit, der zudem die
lung des Kunstgewerbes als Kunst. "95 Damit hatte unfreiwillige Isolation oder, wie Gropius es 192 3 in
er für die neue Kunstgewerbe- und Architekturbe- Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhauses Wei-
wegung programmatisch Stellung bezogen. Der erste mar nennen sollte, die "Vereinsamung des Künst-
Versuch einer theoretischen Fundierung dieser lers" 102 aufzuheben versprach.

22
Architekt und Ingenieur. sie sich in der Trennung von Ingenieur und Archi-
Die Personalisierung des Widerspruchs tekt personalisierte.
von Kunst und Technik Wie im Kunstgewerbe, so waren auch in der Bau-
kunst die formal-ästhetischen überlegungen unbe-
Wie sich in der Kunstgewerbebewegung ein verän- rührt von technischen Veränderungen geblieben.
dertes Kunstverständnis vor dem Hintergrund einer Aber gerade der Einfluß der Technik hatte mit der
technifizierten Welt auszudrücken begann, so ge- Durchsetzung der Arbeitsteilung die originäre Ar-
schah es in der Architektur, die in historistischem chitektenfähigkeit des einheitlichen Planens und
Gewand gleichermaßen als übel empfunden wurde. Ausführens zersplittert; der Architekt war derge-
Wie dort, so erschien auch in dieser Gattung die stalt zum "Bekleidungskünstler" 108 verkommen,
Krise zunächst einmal als eine des Berufs, worauf wie ihn Muthesius in Anlehnung an Sempers ,Ver-
Gropius in seinen Schriften in agitatorischer Re- kleidungssymbolik<109 nunmehr nannte. Die Verfü-
plik noch reagierte. Karl Scheffler gab 1907 in sei- gung über ein verselbständigtes, im Eklektizismus
nem Buch Der Architekt eine vorzügliche Beschrei- beliebig handhabbar gewordenes Formenvokabular
bung des Zerfalls jenes Berufsstandes l03 : einer Fassadenhülle, die Eisenkonstruktionen vor-
"Entscheidend für die Entartung des Architekten- geblendet wurde, war ihm als Aufgabe verblieben.
berufs ist die jähe Vervielfältigung der Bedürfnisse Das allein galt in der Folge beispielsweise der Sem-
geworden, bedingt durch die Entstehung der Groß- perschen Architekturtheorie als Kunst. Diese Fas-
stadt und der Industrie, durch die nationale und so- saden aber wurden den Werkbundkünstlern zu Ver-
ziale Befreiung der Kräfte und durch die kapitali- schleierungen; sprachen sie von solchen Fassaden,
stisch sich organisierende Weltwirtschaft. Im Laufe taten sie es geringschätzig im Sinne der Umgangs-
weniger Jahrzehnte sind Forderungen der Notdurft sprache.
an den Architekten herangetreten, die sonst über Der Einfluß der Technik, wie er durch die Maschi-
Jahrhunderte verteilt waren." 104 ne zur Formkrise des Kunsthandwerks geführt hat-
Das führte, nach Scheffler, zu einer Zersplitterung te, schlug sich gleichermaßen in der Architektur
jener Fähigkeiten, die der Architekt früherer Zeiten nieder. Die mit der Industrialisierung entfalteten
alle in seiner Person vereinte: Technologien hatte das Gebrauchsprodukt wie das
"Die Folge in unseren Tagen ist, daß der Architekt bauliche Gebilde unter den Zwang technischer Ver-
nicht mehr ein Unternehmer, Handwerker, Gelehr- änderungen geste~lt. Dem waren die Ingenieure ge-
ter, Beamter und Künstler zugleich ist, sondern im- rec~t gew?rden; SIe galten aber als bloße Erfüllungs-
mer nur eines davon (. .. ). Hier erblicken wir den gehilfen emer Zweck-Nutzen-Relation wie sie die
Architekten als einen kapitalistisch entarteten Un- rein re~hn~ri~ch sic~ legitimierende Formfindung
ternehmer, dort als einen trockenen Wissenschaft- der kap~tahst1sche? Ökono.mie zur Verfügung stell
ler; er tritt uns als ein dem Handwerk entfremde- te. DamIt befand SIch ArchItektur in dem Dilemma,
ter entgegen oder als ein pedantischer Bureau- dort, wo sie als Kunst galt, funktionslos zu sein,
krat. "105 dort aber, wo sie funktionierte, nicht als Kunst zu
In dieser Weise innerhalb des allgemeinen Arbeits- gelten.
teilungsprozesses als Spezialist ausgesondert, wird
Die theoretischen Schriften von Walter Gropius
der Baukünstler vor dem "allmächtig gewordenen
1910-1914
technischen Prinzip" 106 "einerseits zum Techniker
und Ingenieur", "andererseits zum Archäolo- Schon in seiner ersten uns bekannten Schrift vom
gen"107. März 1910 nahm Walter Gropius zu dieser Berufs-
Diese Definition ist nicht allein zu verstehen vor krise offensiv Stellung. Es ist das Programm zur
dem Hintergrund einer Umschichtung in der sozia- G.rün~u~g einer Hausbaugesellsch1t aufkünsterisch
len Stellung des Künstlers, sie entsprang einer gera- etnheztltcher Grundlage m.b.H. 11 Dieser Text ist
dezu persönlich empfundenen Betroffenheit vor nicht zuletzt deshalb bedeutungsvoll, weil er einen
der Tatsache, daß der Ingenieur den traditionell ge- wichtigen Punkt innerhalb Gropius' beruflicher Ent-
schulten, d. h. den stilkopierenden Architekten vor wicklung markiert: den zum selbständig arbeiten-
den neuen Bauaufgaben des industriellen Zeitalters den Architekten.
völlig deklassiert hatte. In nuce: Man litt unter der Walter Gropius ist zur Zeit der Niederschrift seines
vollzogenen Trennung von Statik und Asthetik, wie ,Programms' Bürochef im Atelier von Peter Behrens

23
in Berlin-Neubabelsberg. In seiner Schrift, die aus Um der veränderten Situation gerecht zu werden,
der Diskussion mit Behrens entsteht, schlägt sich gelte es vor allem das fundamentale "Prinzip der
diese Situation nieder. 111 Ihre Thematik ist näm- Industrie, die Arbeitsteilung" 117 uneingeschränkt
lich direkter Bestandteil der Arbeit des Behrens- anzuerkennen, also auch für den Bauvorgang, d. h.
Büros, das sich neben Fabrikbauten für die AEG in die jeweiligen Spezialisten, den Künstler, Bauunter-
Hennigsdorf, vor allem mit einer neu zu errichten- nehmer und Kaufmann, in ihren je speziellen Fä-
den Werkssiedlung beschäftigt. 112 Angesichts dieses higkeiten geradezu zu unterstützen, um sie sodann
konkreten Bedarfs an billigen Häusern formuliert in einer alle umfassenden Organisation - eben je-
Gropius allgemeine Prinzipien zu einer grundsätz- ner Hausbaugesellschaft - zusammenzuschließen.
lich verbilligenden Hauserrichtung: überwindung "Diese Verwendung von Spezialisten ist der einzi-
handwerklicher Arbeit zugunsten einer industriell ge Weg, durch den wesentliche, d. h. geistige Schöp-
betriebenen Fertigung vorfabrizierter Einzelteile fung ökonomisch ausgeschöpft und dadurch das
auf der Grundlage größtmöglicher Typisierung. Auf Publikum mit künstlerisch und technisch qualität-
diese Weise sei, so Gropius, schließlich auch die ver- vollen Produkten versorgt werden kann. "118
lorengegangene stilistische Einheitlichkeit neuerlich Und konkreter:
wieder herzustellen. 113 "Die Gesellschaft will nun die Konsequenz aus die-
Abgesehen von der historischen Vorwegnahme von sen tatsächlichen Verhältnissen ziehen und durch
Bauproblemen, die erst 1919 virulent werden, sind die Idee der Industrialisierung die künstlerische Ar-
es vor allem die konzeptionelle Eindeutigkeit und beit des Architekten mit der wirtschaftlichen des
der praktisch organisatorische Zugriff, die seine in- Unternehmers vereinigen (. .. ). Damit wird Kunst
tellektuelle Eigenständigkeit signalisieren. und Technik zu einer glücklichen Vereinigung ge-
Gropius' Fähigkeit, Tagesbedürfnisse vorausschau- bracht (. .. )." 119
end zu verallgemeinern, Einzelerscheinungen in grö- Unter Anerkennung der gesellschaftlichen Arbeits-
ßere Zusammenhänge zu integrieren, also Architek- teilung habe sich deshalb die künftige Arbeit des
turfragen vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Architekten in Anlehnung an das moderne indu-
Strukturen zu diskutieren, offenbart sich bereits in strielle Schaffen zu entwickeln. Das bedeutet nun
diesem ersten Text. Es entspricht darüber hinaus Ablehnung überladener Schmuck- zugunsten kla-
einem allgemeinen Charakteristikum seines Den- rer Raumarrangements, Verzicht auf individuali-
kens, daß er die organisatorischen Vorschläge sei- sierende Stilpartikel zugunsten einer Formverein-
nes Programms erst auf der Grundlage und nach heitlichung im Typus. Dessen Rhythmisierung in
Darstellung des sozialen Umfeldes von Bauen um der Wiederholung garantiere die angestrebte Kon-
1910 entfaltet. Unter der ersten Kapitelüberschrift sistenz der Form, und so sei auch wieder ein "Zeit-
Zugrundeliegende Idee 1l4 formuliert er, gleichsam stil" zu erreichen, "der die Tradition ehrt und sich
als Propädeutikum, jene gesellschaftlichen Fakto- gegen die falsche Romantik richtet" 120 .
ren, die die Neubestimmung von Bauen unumgäng- Gropius' Betrachtungen zum Hausbau allgemein
lich machen werden. sind für die Beschäftigung mit seinen Industrie-
Als künstlerischen Trend seiner Zeit beschreibt bauten deshalb so wichtig, weil in ihnen schon
Gropius einen gewissen Zug zum Pompösen, zu ei- alle wesentlichen Positionen seiner späteren Ver-
ner "falschen Romantik", der an Stelle "guter Pro- öffentlichungen zu finden sind. Man kann diese
portion" und "praktischer Einfachheit" herrsche. 11 5 Aufsätze und Vorträge vor 1914, das sei hier vor-
Diese Situation sei wesentlich zwei Mißständen ge- weggenommen, mehr oder weniger als Paraphra-
schuldet: sierungen der in dieser Schrift aufgeworfenen The-
1. der Konkurrenz, die zwischen dem Bauunterneh- sen begreifen, die um das immer wiederkehrende
mer und dem Architekten herrsche, so daß "das und je nach Bedarf konkretisierte bzw. weiterent-
Publikum in jedem Fall im Nachteil" 116 sei, und wickelte Thema kreisen: das historische Problem
2. der vorherrschenden Bautradition, die immer der Schaffung einer zeitgemäßen Form und eines
noch auf dem Handwerk basiere, das aber, ge- ebensolchen Stils, der den Widerspruch von Kunst
samtgesellschaftlich gesehen, dem Wettbewerb und Technik, wie er aus der gesellschaftlichen Ar-
mit der Industrie nicht mehr Stand halten könne, beitsteilung erwuchs, aufzuheben in der Lage ist.
da die industriellen Methoden auch schon die Der gesellschaftliche Horizont der notwendigen
Bauerrichtung umzustrukturieren begännen. formalen Neuerung ist die Industrie.

24
Die vier Veröffentlichungen, das Faltblatt zur ,Wan- aus - als Markenzeichen 129 mit Qualitätsgaran-
derausstellung 18 des Deutschen Museums für tie erschienen. 130
Kunst in Handel und Gewerbe', mit dem Titel In- An die Architekten:
dustriebauten 1911 121 , der in der Zeitung ,Der 1. Um der Industrie als Bauherrn als adäquater
Industriebau' abgedruckte Artikel Sind beim Bau Partner gegenübertreten zu können, müsse der
von Industriegebiiuden künstlerische Gesichtspunk- Architekt mit der herkömmlichen Architektur-
te mit praktischen und wirtschaftlichen verein- auffassung brechen. Im Gegensatz zur herrschen-
bar? 1912 122 , der im Jahrbuch des Deutschen Werk- den Praxis, Künstlerisches auf Applikation indi-
bundes erschienene Artikel Die Entwicklung mo- vidualisierenden Dekorums zu beschränken, ha-
derner Industriebaukunst 1913 123 und schließ- be der wahre Baukünstler die Form aus der je-
lich der im Jahrbuch des Deutschen Werkbundes weiligen Bauaufgabe selber zu entwickeln, deren
von 1914 abgedruckte Artikel Der stilbildende spezifischer Charakter erkannt werden müsse,
Wert industrieller Bauformen 124 dokumentieren um das notwendige "künstlerische Durchdenken
alle diesen thematischen Schwerpunkt, desgleichen von vornherein" zu garantieren. 131
der Vortrag, den Gropius unter dem Titel Monu- 2. Damit diese Formentwicklung nicht willkürlich,
mentale Kunst und Industriebau am 10. April sondern mit "Notwendigkeit aus den Lebensäu-
1911 125 auf Einladung von Karl Ernst Osthaus im ßerungen der Zeit"132 entstehe, habe sich die
Museum Folkwang in Hagen hielt. künstlerische Phantasie an den Prinzipien der
Gropius argumentiert in den drei frühen Aufsätzen maschinellen Produktion so zu orientieren, daß
vornehmlich auf zwei Ebenen: Zum einen nimmt deren Charakteristika zur Grundlage einer neuen
er, das Beispiel AEG vor Augen, die nationale Indu- Formensprache werden. Der Industriebau biete
strie durch die ihr zugewachsene Rolle als eines Kul- dafür die optimalen Voraussetzungen.
turträgers mit großem propagandistischem Eifer in 3. Erst die derart geübte Zucht des Geistes ermögli-
die Pflicht. 126 Zum anderen entfaltet er seinen Kol- che, die "inneren Werte des organisierten Arbeits-
legen über die Kritik an der Architekturtradition lebens"133 eben nicht nur richtig, sondern auch
ein System zur zeitgemäßen Formbildung, wie es "würdig" auszudrücken. Für den Baukünstler be-
ihm notwendig aus der Bauaufgabe ,Industriebau' stehe geradezu die Pflicht, seine Arbeit in dieser
erwächst. Die Argumente, die er seinen Adressaten Weise zu orientieren, da nur dieser und nicht et-
nahelegt, kehren in allen drei Aufsätzen wieder. wa der Ingenieur, dem die neuen Bauaufgaben
An die Industriellen: der industriellen Gesellschaft bisher zufielen, in
1. Zwar habe die Industrie in der Phase des Auf- der Lage sei, das "mechanisierte" Leben wieder
baus künstlerische Gesichtspunkte verständlicher- mit "Geist anzufüllen": aus einer rationalen "Zi-
weise vernachlässigen müssen, nach der Konsoli- vilisation" also eine humane "Kultur"134 erste-
dierung jedoch zwinge die Konkurrenz zunächst hen zu lassen.
bei der Produktgestaltung, sodann aber auch bei Aus dem bisher Gesagten wird deutlich: Weder die
der Konzeption der Produktionsstätten zu künstlerische, d. h. in diesem Fall historistische,
"ästhetischen Erörterungen" 127. noch die vornehmlich technisch orientierte Baupra-
2. Dem Unternehmer erwüchsen daraus Vorteile xis kann den Anspruch erheben, noch bzw. schon
von unschätzbarem Wert, indem einerseits zur Architektur, also zeitgemäße Baukunst zu sein. Litt
Stabilisierung der Marktinteressen beigetragen die eine daran, im architektonischen Ausdruck dem
und andererseits der gärenden sozialen Unruhe industrialisierten Leben unangemessen zu sein, so
entgegengetreten werde. Durch die damit ver- hatte die andere zumindest deutlich machen kön-
bundene Verbesserung der Arbeitssituation des nen, welcher Weg einzuschlagen wäre. Gropius kon-
"modernen Industriearbeiters" 128 , komme der statierte: "Von diesen Werken der Industrie und
Industrielle nicht nur seiner zivilisatorischen Technik nimmt die neue Entwicklung der Form ih-
Aufgabe, sondern auch seiner kulturellen in ren Ausgangspunkt. "135 Die Betonung des Zweck-
geradezu vorbildlicher Weise nach. rationalen von Gebäuden durch die Ingenieure hat-
3. Die künstlerische Bearbeitung der Fabrikations- te den Blick zwar auf bauliche Primärformen ge-
bauten bringe eine entschiedene Steigerung des lenkt, doch war dieses Ent-Kleiden allein noch nicht
Reklamewertes eines Unternehmens hervor, da Architektur, nur Baustein innerhalb ihrer Entwick-
die Fabriken nun selber - über die Produkte hin- lung. Denn das Augenmerk des Technikers blieb

25
wesentlich auf die zweckmäßigste Befriedigung ma- denen der Kunst unter, wenn sie ein schöpferischer
terieller Bedürfnisse unter Wahrung der größten Wille dazu zwingt." 142 Erst der Künstlerwille entfal-
Ökonomie gerichtet; darin aber taugte der bauliche te also auf der materiellen Grundlage die Gesetze,
Ausdruck nur für dieses Faktum selbst. Der Tatbe- die Ungeordnetes ordnen, systematisieren und zu
stand ,Kunstwerk' ist für Gropius aber erst dann er- neuer Form, dem Wert des Materials gemäß, ver-
füllt - und er verweist in seinem Vortrag Monumen- dichten.
tale Kunst und Industriebau von 1911 explizit auf "Wir glauben also zu erkennen - (. .. ) -, daß die
seinen kunsttheoretischen Bezugsrahmen Riegl und Schönheit des Kunstwerks auf einer dem schöpferi-
Worringer 136 - , wenn sich Kunst vom Naturhaften schen Willen innewohnenden unsichtbaren Gesetz-
entferne und sich als "bewußte Schönheit", also als mäßigkeit beruht, nicht auf der Naturschönheit des
"Kunstschönes" 137 setze, mithin ein Ausdruck ge- Materiellen, und daß alle materiellen Dinge nur die-
funden werde, der das Zweckrationale überschrei- nende Mittelsfaktoren sind, mit deren Hilfe einem
tet. Denn Kunst, monumentale Kunst - und um höheren seelischen Zustande, eben jenem Kunstwol-
sie geht es ihm -, gibt eine "gewollte, subjektive len, sinnlicher Ausdruck verliehen wird. Je sinnfäl-
Umwertung der Wirklichkeit" 138 , beschränkt sich liger nun diese Ausdrucksmittel gewählt werden,
also nicht auf Vorgefundenes, indem es bloß mate- desto monumentaler muß die Wirkung sein, die von
rielle Bedürfnisse befriedigt. Vielmehr wurzelt sie dem Kunstwerk ausgeht, denn an die Sinne gebun-
"in seelischen ideellen Bedürfnissen und befriedigt den, können wir uns nicht entmaterialisieren." 143
seelische Bedürfnisse im Menschen. Sie hat also im
Prinzip mit materiellen Bedürfnissen nichts gemein. Wahrheit der Form - Formung der Wahrheit.
Ihre Aufgabe ist die Darstellung höherer transcen- Das Werkbundmitglied Walter Gropius
dentaler Ideen mit materiellen Ausdrucksmitteln, contra Historismus
die der sinnlichen Welt des Raumes und der Zeit an-
gehören. Das Materielle ist das Element, aus dem Wie wir sahen, formulierte Walter Gropius die Krise
das Kunstwerk erst entstehen soll, nicht dieses der ,Architektur als Kunst' wesentlich unter dem
selbst. Die Materie an sich ist tot und wesenlos, erst individuellen Eindruck der Berufskrise. Seine über-
die Form spendet Leben, die der Schöpferwille des legungen zur überwindung dieser Situation setzten
Künstlers ihr einhaucht (. .. )".139 deshalb an der sozialen Funktion von Künstlerar-
Auf die Baukunst bezogen bedeutet das - und chitekten an. Unter Anerkennung der allgemeinen
Gropius verknüpft damit eine Absage an den soge- gesellschaftlichen Veränderung durch die Technik,
nannten Materialismus Semperscher Provenienz -, die die traditionellen Herstellungs- und Wirkungs-
daß Baumaterial und technische Kenntnisse nur- zusammenhänge von Kunstwerken schließlich ganz
mehr die Grundlage gestalterischer überlegun- aufgelöst hatte, behauptete Gropius unbedingt des-
gen sein können, daß ihre bloße zweckmäßige An- sen soziale Relevanz. Die reale Deklassierung des
wendung noch keine Baukunst sei. Damit nimmt er Architekten als Künstler wurde ihm Angriffspunkt
einen Gedankengang auf, der ähnlich schon 1910 insofern, als er vehement darauf hinwies, daß nur
von Behrens formuliert worden war. Dem "Ge- dieser dem unbestreitbaren zivilisatorischen Pro-
brauchszweck, dem Rohstoff und der Technik" sei greß durch die Industrialisierung in dessen kulturel-
im Formungsprozeß, so Behrens, nurmehr die ler Bewältigung ein qualitatives Gewicht zu geben
Funktion von "Reibungskoeffizienten" 140 zuzu- vermöge.
messen. Damit hatte er einen Begriff und ein Theo- Walter Gropius fühlte sich - und das wissen wir
rem Riegls übernommen, das er in seinen Aufsät- nicht nur aus einem Vitruv-Exzerpt in seinem Nach-
zen gerne explizierte. Wie bereits für Behrens, so laß der humanistischen Bildungstradition ganz
vermag auch für Gropius erst der "Schöpferwille verpflichtet. 144 Es ist in diesem Zusammenhang in-
des Künstlers" 141 den naturhaften Charakter des teressant, daß Gropius bei dem Auszug vor allem
Baustoffs (und das gilt auch für künstliche Baustof- Gewicht auf jene Passagen legte, die sich mit der
fe, wie Eisen, Beton etc.) seine technische Verwen- (Aus-)Bildung des Architekten beschäftigten. 145
dung in einer gewissen Künstlichkeit aufzusaugen. Vitruv hatte für die Ausübung des Architektenberu-
"In der Materie an sich liegen demnach keine fes eine universelle Gelehrsamkeit, vor allem eine
Kunstgesetze, wohl aber ordnet sie sich im Kunst- weitreichende philosophische Schulung als unab-
werk neben den Gesetzen der eigenen Natur auch dingbare Voraussetzung gefordert. Noch Gropius

26
war offensichtlich dieser Meinung, wenn er sich Gropius, und das wissen wir vor allem aus seinen
auch im klaren darüber war, daß der Einzelne eine späteren Schriften i52 , die zum großen Teil Vertie-
profunde, interdisziplinäre Gelehrsamkeit im ar- fungen seiner Vorkriegsthesen darstellen, Schön-
beitsteiligen 20. Jahrhundert nicht mehr herzustel- heit weiterhin mit Wahrheit verbindet, den "gestal-
len vermag. Aber er meinte ja nicht nur theoretisch terischen Wachstumsprozeß" als einen "Wahrheit-
diesen Mangel durch team-work 146 ausgleichen zu schaffenden" 153 in seinem Rückschau haltenden
können, worin das Team gleichsam als kollektives Vortrag von 1934 die "tiefen und weitgreifenden
Künstlersubjekt die versprengten Wissensinhalte Absichten der Erneuerung" als auf "Wahrhaftigkeit
wieder in sich vereinigt. Die Schaffung einer indu- gegründete" 154 beschreibt und anläßlich der Verlei-
striellen Kultur war für Gropius also nur im Künst- hung des Goethepreises die Aufgabe des Architekten
lerarchitekten, selbstverständlich im konsequenten darin sieht, den "inneren Wahrheiten neue Form"
Zusammenwirken mit anderen Spezialisten, garan- geben zu müssen. ISS Daraus aber ergibt sich ein
tiert. Eine unverzichtbare soziale Rolle konnte die- fundamentales Problem für diesen Gropiusschen
ser aber nur dann erfüllen, wenn es ihm gelang, das Kunstbegriff. Denn Hegel hatte in seinem System-
veränderte Verhältnis der Menschen zur Natur, ihre aufbau die Kunst, sofern sie "Schein von Wahrheit"
durch Technik vermittelte Weltaneignung adäquat ist, als eine überkommene Erkenntnisform entfaltet,
auszudrücken. Damit Bauen also wieder ernsthafte die durch höher stehende, vor allem durch die spe-
Kunstproduktion zu werden vermochte, mußte in kulative Philosophie ihrer einstigen Funktion be-
Abkehr vom historistischen Formenkanon, der nur raubt worden war. Er hatte damit erstmals auf eine
auf vergangene, überholte soziale Verhältnisse sich Situation angespielt, die den Wendepunkt der
bezog, ein neuer entwickelt werden. Solche "Um- Kunst, speziell der Architektur zur Moderne be-
wertung der Wirklichkeit", wie es Gropius nannte, zeichnet: auf den "Verlust der Kunst"IS6, wie Gro-
sollte über eine bloß "materielle" Veränderung in pius es selbst einmal nannte, und auf den Verlust
Stoff-, Material- und Herstellungstechnik hinaus - ihrer Anschaulichkeit vor der Universalisierung des
die Ingenieurbauten hatten dies bereits vollzogen - szientifischen Denkens.
zur "Darstellung höherer transcendentaler Ideen" Die Frage, die sich nun grundsätzlich stellt, wurde
vordringen. 147 Darin erst vermochte Architektur von Otto Pöggeler in seiner Heidelberger Antritts-
ihren Kunstcharakter zu erfüllen. vorlesung so formuliert: ob nämlich "die Architek-
Die Aufgabe einer neuen Baukunst, so beschrieben, tur auch im Zeitalter der industriellen Standardisie-
steht unübersehbar in der Tradition idealistischer rung noch ,Kunst' zu bleiben" vermöge bzw. "wie
Ästhetik, vor allem in Zusammenhang mit der De- in unserer ,technischen' Welt noch Schönes möglich
finition der ,schönen Kunst' als "dem sinnlichen sei" 157. Wenn also Gropius beharrlich Schönheit
Scheinen der Idee" 148 durch Hege!. Neben dieser und Wahrheit für seinen Kunstbegriff bestimmend
offensichtlichen begrifflichen Konvergenz erweist gleichsetzt - und dies nach Hegels Postulat vom
sich ein Rekurs auf dessen Theoreme für die Klä- Ende der Kunst vor der Wissenschaft -, so muß ein
rung des Gropiusschen Kunstverständnisses noch begrifflicher Hintergrund entdeckt werden können,
aus anderen Gründen als sinnvoll. Hegel hatte in der dieses Vorgehen weiterhin legitimiert. Diesen
seiner Ästhetik aus der Definition der ,schönen gilt es nun zu skizzieren.
Kunst' als "Schein von Wahrheit", als "besondere
Art und Weise des Scheins, in dem sie dem sich
selbst Wahrhaftigen Wirklichkeit gibt" 149 , eine not- Vom Ende der Kunst vor der Wissenschaft.
wendige Entsprechung von Inhalt und Form abge- G. W. F. Hegel
leitet. Auf diesen Zusammenhang grundsätzlich In der Hegelschen Philosophie war die Kunst dem
hingewiesen zu haben, war ein Verdienst seines und sich selbst bewegenden Geist Ausdruck seiner
eines in dieser Tradition stehenden philosophischen Selbsterkenntnis, indem er aus sich heraus "die
Denkens gewesen. Gropius' Charakterisierung des Werke der schönen Kunst als das erste versöhnende
Historismus als Maskerade, als "falsche Roman- Mittelglied zwischen dem bloß Äußerlichen, Sinnli-
tik" ISO, oder die noch eindeutigere Formulierung chen und Vergänglichen und zwischen dem reinen
Ernst J äckhs von der "materialisierten Lebenslü- Gedanken, zwischen der Natur und endlichen Wirk-
ge"151 verstand sich aus der Einsicht in eben diese lichkeit und der unendlichen Freiheit des begreifen-
Relation. Es wundert deshalb nicht, daß Walter den Denkens schafft" 158.

27
Die "wahrhafte Aufgabe" der Kunst ist demnach, kann sie ihrer Natur nach nicht heraus. Hegel
"die höchsten Interessen des Geistes zum Bewußt- charakterisiert sie in seiner Ästhetik dort, wo er sich
sein zu bringen" 159. Sie kann daher in ihren Inhalten mit den einzelnen Kunstformen befaßt:
und Formen nicht willkürlich sein, und es ergibt "Blicken wir auf den Gang zurück, den wir bisher
sich vor allem für die formale Fassung, daß sie in der Entwicklung der besonderen Künste verfolgt
"nicht dem bloßen Zufall anheimgegeben" 160 ist. haben, so begannen wir mit der Architektur. Sie war
"Nicht jede Gestaltung ist fähig, der Ausdruck und die unvollständigste Kunst, denn wir fanden sie un-
die Darstellung jener Interessen (des Geistes; K. W.) fähig, in der nur schweren Materie, welche sie als
zu sein, sie in sich aufzunehmen und wiederzuge- ihr sinnliches Element ergriff und nach den Gesetzen
ben, sondern durch einen bestimmten Inhalt ist der Schwere behandelte, Geistiges in angemessener
auch die ihm angemessene Form bestimmt. "161 Gegenwart darzustellen, und mußten sie darauf be-
Aus der Einsicht in diese Relation kann sich Gropi- schränken, aus dem Geiste für den Geist in seinem
us' Ablehnung der historistischen Architekturform lebendigen, wirklichen Dasein eine kunstgemäße
begründen. Die Frage nach der Form, nach dem äußere Umgebung zu bereiten." 168
Ausdruck wird demnach als eine nach der überein- Zum Zwecke seiner Selbsterkenntnis schafft sich
stimmung, Angleichung und Entsprechung 162 zu der Geist deshalb neue, ihm gemäße, höher stehende
ihrem Gehalt gestellt, und, sofern sie reflektorisch Ausdrucksformen, in den Raumkünsten die Skulp-
vorgetragen wird, auch zu Recht als eine nach ihrer tur und Malerei, die den stofflichen Bestandteil
Wahrhaftigkeit. weiter zu sublimieren vermögen, der sodann im ge-
Hegel hatte die vorherigen Bestimmungen seines samten System der Kunstformen, in der Musik und
Kunstbegriffs entfaltet, um die Berechtigung einer Poesie beinahe aufgesogen wird. Die einzelnen Kün-
wissenschaftlichen, d. h. philosophischen Betrach- ste erweisen ihre Wertigkeit innerhalb des ästheti-
tung der ,schönen Kunst' zu begründen. Wissen- schen Systems gemäß ihrer Gebundenheit an das
schaftswürdig war sie ihm aber nur - und das ver- äußerlich-sinnliche Material, ihre fortschreitende
bindet ihn mit anderen ästhetischen Theorien des Freiheit davon sind immer geistgemäßere, also auf
Idealismus - als "unabhängige", nicht "dienende", Denken und Reflexion hinweisende Formen seines
eben "in ihrem Zwecke wie in ihren Mitteln freie Selbstwissens. Und - wie die Architektur weder
Kunst"163. Diesen Voraussetzungen entsprach sie "die höchste noch absolute Weise" war, "dem Geist
nur dann, wenn sie sich "in freier Selbständigkeit seine Interessen zu Bewußtsein zu bringen" 169 --, so
zur Wahrheit" erhob, "in welcher sie sich unabhän- verhält es sich schließlich mit der Kunst als Bewußt-
gig nur mit ihren eigenen Zwecken"164 erfüllte. Als seinsform des Geistes überhaupt. Hegel schreibt:
"Schein von Idee und Wahrheit" war also die Kunst "Denn eben ihrer Form wegen ist die Kunst auch
frei nur insofern, als sie sich in der "Freiheit den- auf einen bestimmten Inhalt beschränkt. Nur ein
kender Erkenntnis der Wirklichkeit und Endlich- gewisser Kreis und Stufe der Wahrheit ist fähig, im
keit", also der Naturhaftigkeit zu "entheben" ver- Elemente des Kunstwerks dargestellt zu werden; es
mochte. 165 muß noch in ihrer eigenen Bestimmung liegen, zu
Derart normativ gedacht, mußte die Architektur dem Sinnlichen herauszugehen und in demselben
die unterste Stufe des ästhetischen Systems einneh- sich adäquat sein zu können, um echter Inhalt für
men, weil ihr Ursprung in der Bedürfnisbefriedi- die Kunst zu sein, wie dies z. B. bei den griechischen
gung liegt und sie am eindeutigsten am Stofflichen Göttern der Fall ist. Dagegen gibt es eine tiefere
gebunden bleibt. Sie wird deshalb von Hegel bei der Fassung der Wahrheit, in welcher sie nicht mehr
Klassifizierung der Kunstformen in symbolische, dem Sinnlichen so verwandt und freundlich ist, um
klassische und romantische als symbolische be- von diesem Material in angemessener Weise aufge-
schrieben, die in sich selber wiederum diese Unter- nommen und ausgedrückt werden zu können (. .. ).
teilung vollzieht. 166 Die Architektur zielt - nach Von solcher Art ist die christliche Auffassung der
Hegel -- immer auf eine über sie selbst hinausgehen- Wahrheit, und vor allem erscheint der Geist unserer
de Bedeutung, ist selbst in ihrer harmonischen, also heutigen Welt, oder näher unserer Religion und un-
klassischen Form, im griechischen Tempel, nichts serer Vernunftbildung, als über die Stufe hinaus,
mehr als das Haus für den Gott, sie dient diesem al- Werke der Kunst göttlich verehren und sie anbeten
so und bleibt grundsätzlich im "Dienst des Geisti- zu können; (. .. ) Der Gedanke und die Reflexion
gen" befangen. 167 Aus diesen Zusammenhängen hat die schöne Kunst überflügelt." 170

28
Die Erkenntnisformen, die die ,schöne Kunst' ablö- Der Einfluß der Naturwissenschaften
sen, sind für Hegel zunächst die mit der Kunst noch auf den Kunstbegriff
"aufs innigste verknüpfte" 171 Religion, die wieder-
um von der Philosophie aufgehoben wird. Die spe- Hegel hatte Wissenschaft mit Philosophie identifi-
kulative Philosophie, vornehmlich seine eigene, ist ziert, einzig das "freie Denken"l77 wissenschaftli-
nun die entwickelste Stufe, ist Wissenschaft schlecht- cher Erkenntnis für fähig gehalten und diese ideali-
hin, die die Wahrheit allgemein zu fassen versteht, stisch begründet. Denn ebenso wie die Kunst und
zum Begriff vorzustoßen vermag und damit die Be- die Religion hatte für ihn die Philosophie, also Wis-
sonderung im sinnlichen Material der Kunst, die senschaft, "keinen anderen Gegenstand als Gott"
"Form des sinnlichen Wissens" 172, endgültig über- und war "so wesentlich rationelle Theologie (. .. )
windet. als im Dienste der Wahrheit fortdauernder Gottes-
Die Entwicklung der Kunstformen, ihre normative dienst" 178. Hegels Wissenschaftsverständnis hatte
Ordnung wie ihre überwindung dergestalt als Stufe aber eine materiale Entsprechung in der Weltaneig-
im Gang des Geistes begriffen und damit historisiert nung durch den Menschen. Sein Verhältnis zur Na-
zu haben, muß als großartige Leistung der Hegel- tur war derart in ein neues Stadium getreten, weil
schen Philosophie angesehen werden. 173 Sie hatte sie ihm nicht mehr wesentlich nach tradiertem Er-
die Kunst als eine Erkenntnisstufe innerhalb der fahrungsschatz verfügbar, sondern nach ihren imma-
Menschheitsgeschichte entfaltet, eine bestimmte nenten Gesetzmäßigkeiten abstrakt erkennbar ge-
Relation von Wissensinhalt und -form in der An- worden war. In der Systematik der Naturgesetze
schaulichkeit für die Anschauung vorgestellt. So- lag die Möglichkeit begründet, die Natur weitgehend
fern der Geist im Interesse seiner Selbsterkenntnis experimentell aus sich selbst heraus zu erklären,
aber fortging, um sich im reinen abstrakten Denken Naturerkenntnis abstrakt deduktiv zu formulieren,
näher zu kommen, wurde die Kunst nach der Seite Phänomene zu mathematisieren und damit die
"ihrer höchsten Bestimmung", nämlich dem "Geist sinnlich konkrete Naturaneignung zugunsten einer
seine höchsten Interessen zum Bewußtsein "174 zu reflektorisch abstrakten schließlich ganz zu ver-
bringen, eine" vergangene" 175 . drängen. 179
"Die schönen Tage der griechischen Kunst wie die Im Gefolge der sich entfaltenden Naturwissenschaf-
goldene Zeit des späten Mittelalters sind vorüber. ten veränderte auch deren Anwendung, die Tech-
Die Reflexionsbildung unseres heutigen Lebens nik, ihren Charakter. Den mechanischen Hilfsmit-
macht es uns, sowohl in Beziehung auf den Willen teln und Verfahren folgten nun die sich selbst be-
als auch auf das Urteil, zum Bedürfnis, allgemeine wegenden Maschinen. Der Künstler, der mit seinen
Gesichtspunkte festzuhalten und danach das Beson- besonderen Verfahrensweisen oft zu neuen Techni-
dere zu regeln, so daß allgemeine Formen, Gesetze, ken verholfen hatte oder gar wissenschaftliche Er-
pflichten, Rechte, Maximen als Bestimmungsgründe kenntnisse mit seinen Mitteln noch auszudrücken
gelten und das hauptsächlich Regierende sind. Für im Stande war, wird nun arbeitsteilig aus dieser
das Kunstinteresse aber wie für die Kunstproduk- Pflicht entlassen. 180 Die Kunst war auch insofern
tion fordern wir im allgemeinen eine Lebendigkeit, eine ,vergangene' , als sie ihre Erkenntnispotenz
in welcher das Allgemeine nicht als Gesetz und Ma- der Naturphänomene an die exakten Wissenschaf-
xime vorhanden sei, sondern als mit dem Gemüte ten abgeben mußte.
und der Empfindung identisch wirke wie auch in Vor diesem Hintergrund wurde Hegels idealistische
der Phantasie das Allgemeine und Vernünftige als Begründung des Geschichtsverlaufs der Kritik unter-
mit einer konkreten sinnlichen Erscheinung in Ein- zogen. Mit der Frage, was denn die Geschichte tat-
heit gebracht enthalten ist. Deshalb ist unsere Ge- sächlich bewege, ob der Geist die Menschen zu
genwart ihrem allgemeinen Zustande nach der Agenten sich mache, oder aber diese Auffassung
Kunst nicht günstig." 176 selber nur einer besonderen Art der Weltaneignung
In Hegels entwicklungsgeschichtlicher Darlegung ist des Menschen entspreche, stellte sich die Frage nach
damit erstmals das Dilemma der Kunst im 19. und dem Agens der Geschichte materialistisch. Der
20. Jahrhundert als das ihrer Dequalifizierung durch Marxschen Hegelrezeption ist folgende Einsicht zu
die Wissenschaft, ihres Anschaulichkeitsverlustes verdanken:
durch die Vorherrschaft abstrakten Denkens weit- "Ganz im Gegenteil zur deutschen Philosophie,
sichtig thematisiert. welche vom Himmel auf die Erde herabsteigt, wird

29
hier von der Erde zum Himmel gestiegen. D. h., es darauf wies Ernst Bloch hin 184 -, der schon im He-
wird nicht ausgegangen von dem, was die Menschen geIschen Denken anklingt.
sagen, sich einbilden, sich vorstellen, auch nicht
von den gesagten, gedachten, eingebildeten, vorge- Von der Philosophie der Kunst
stellten Menschen, um davon aus bei den leibhafti- zur Kunstgeschichte. Alois Riegl
gen Menschen anzukommen; es wird von den wirk- Alois Riegls Kunsttheorie entsteht in Zusammen-
lich tätigen Menschen ausgegangen und aus ihrem hang mit den überlegungen zur Methoden- und Ge-
wirklichen Lebensprozeß auch die Entwicklung der genstandsbestimmung der relativ jungen Disziplin
ideologischen Reflexe und Echos dieses Lebenspro- ,Kunstgeschichte'. Riegls Wissenschaftsinteresse ist
zesses dargestellt (. .. ). In der ersten Betrachtungs- wesentlich auf die Systematisierung und Klassifizie-
weise geht man von dem Bewußtsein als dem leben- rung der Kunstwerke nach stilistischen Merkmalen
digen Individuum aus, in der zweiten, dem wirkli- gerichtet, denn für ihn hat seit Winckelmann die
chen Leben entsprechenden, von den wirklichen le- Kunstgeschichte als Wissenschaft nach wie vor
bendigen Individuen selbst und betrachtet das Be- "zum obersten Ziele, die Kunsterscheinungen
wußtsein nur als ihr Bewußtsein." 181 durch Heraushebung der ihnen gemeinsamen Merk-
Mit dem historischen Materialismus waren die sich male untereinander zu verknüpfen und sie im Wege
in der Arbeit mit der Natur vermittelnden Men- der also gewonnenen Erkenntnis in unser Bewußt-
schen zum Motor der Geschichte, war ihr kommu- sein einzuführen"185. In dieser Formulierung ver-
nikatives System die Gesellschaft geworden. Inso- weigert sich das Erkenntnisinteresse explizit der
fern war auch die Kunst nicht länger Erkenntnis- normativen zugunsten einer verstehenden Systema-
stufe durch und für den Geist, sondern als eine Be- tisierung der Kunstgegenstände. 186 Riegl - und das
wußtseinsform der Gesellschaft definiert, in der sie verdeutlicht sein Rückgriff auf Winckelmann 187 -
sich selbst Auskunft über ihren Zustand, ihr Welt- ist aber offenbar nicht bereit, die theoretische Be-
verhältnis zu geben vermochte. Auch darin konnte stimmung vom Wesen der Kunst ihrer rein histori-
sie wahr oder falsch, d. h. ideologisch sein. Für die- schen Faktizität zu opfern. In Hegels dialektischem
se materialistische Wendung war Voraussetzung, die System waren beide Bestimmungen untrennbar mit-
Kunst in ihrer Geschichtlichkeit sozial begründet einander verbunden, war der Formwandel in der
zu denken, sie vom Instrument der göttlichen Geschichte des Geistes selbst begründet gewesen.
Selbsterkenntnis zur Erkenntnis der Gesellschaft zu Auch der Kunsthistoriker stellt die Frage nach der
emanzipieren. Derart in die Welt getreten, entfaltet Geschichtlichkeit der Kunst an ihr selber und, ge-
sie sich zur Begleiterin von Geschichte, in der sie mäß seinem Untersuchungsgegenstand, konkret als
sich mit dieser entwickelt und sich mit und in ihr Frage nach dem Impuls der Stilveränderung. Für
verändert. In der Marxschen Einsicht, daß "wo die Riegl ist die zentrale "moderne Frage der Kunstge-
Spekulation aufhört, beim wirklichen Leben, (. .. ) schichte" folgende: "Was ist das Eine im Wandel,
also die wirkliche, positive Wissenschaft die Dar- und wodurch ist sein scheinbarer Wandel be-
stellung der praktischen Betätigung, des prakti- dingt?" 188 In der Einleitung zu seinem 1901 er-
schen Entwicklungsprozesses der Menschen" 182 be- schienen Buch Späträmische Kunstindustrie ant-
ginne, liegt schließlich der Grundstein für die Syste- wortete er in Abgrenzung zum modisch geworde-
matik einer Wissenschaft von der Geschichte der nen Sempersehen Materialismus:
Kunst, die - aus dem normativen Korsett der Frei- "Im Gegensatz zu dieser mechanistischen Auffas-
heit von Nutzen und Bedürfnis befreit - als Kron- sung vom Wesen des Kunstwerkes, habe ich - so-
zeuge gesellschaftlicher Bedürftigkeit verstanden viel ich sehe, als Erster - in den ,Stilfragen' eine te-
werden kann. Im vormaligen ,sinnlichen Scheinen leologische vertreten, indem ich im Kunstwerke das
der Idee', worin die ,reine Schönheit' für idealisti- Resultat eines bestimmten und zweckbewußten
sche Ästhetik sich erfüllte, kann - über die Vermitt- Kunstwollens erblickte, das sich im Kampfe mit
lung historistischen Denkens 183 - die positive Gebrauchszweck, Rohstoff und Technik durch-
Kunstgeschichte das sinnliche Scheinen der Gesell- setzt. " 189
schaft nun erblicken. Es ist diese Erweiterung, die Damit ist das "Kunstwollen" als das "Eine im Wan-
sich in Alois Riegls Theorie niederschlägt und die del" bestimmt oder die "unabhängige Variable",
diese im Begriff vom Kunstwollen der Kunstge- wie es Hans Sedlmayr nannte. 190 Ihm verdanken
schichte verfügbar macht, ein Begriff im übrigen - wir auch die stichhaltigste Deutung dieses Begriffs,

30
die er in der Diskussion anderer Interpretationen Hans Sedlmayr hat später darauf hingewiesen, daß
findet: Riegl "aber noch einen entscheidenden Schritt wei-
"Der Träger des Kunstwollens ist (. .. ) immer eine tergegangen (ist) und (. .. ) diese vergleichende
bestimmte Gruppe von Menschen, die sehr verschie- Strukturlehre der Kunstgebilde unterbaut (hat)
den groß sein kann. Dadurch erreicht man jene Va- durch eine Lehre von den wesensmöglichen Rich-
riabilität, die notwendig ist, um das gleichzeitige tungen des Kunstwollens, eine theoretisch-apriori-
Vorhandensein verschiedener Stile in demselben sche Disziplin" 196.
geographischen Raum und den verschiedenen, Um- Die sich auf diesem Wege ergebenden "letzten Stil-
fang' der Stil-Gattungen und ihrer Unterarten zu typen des Kunstwollens", die Idealtypen sind, re-
erklären. "191 sultieren aus der Wahrnehmung des Menschen, aus
Die Stilveränderung, in der Geschichte sich vollzie- seiner Weltauffassung, die er nun in der Formung
hend, ist damit wie diese selbst sozial begründet, die der Kunstgebilde realisiert.
Inhalt-Form-Relation als Entsprechung von gesell- "Diesen Zusammenhang zwischen bildender Kunst
schaftlichem Movens und künstlerischem Ausdruck und Weltanschauung im einzelnen nachzuweisen,
oder Wirklichkeit, und deren Umwertung, wie es wäre nun nicht Sache des Kunsthistorikers, sondern
später bei Gropius heißt, neuerlich bestimmt. Inso- diejenige - und zwar die eigentliche Zukunftsauf-
fern erscheinen die einzelnen "Kunstwerke als Sinn- gabe - des vergleichenden Kulturhistorikers (. .. ).
gebilde, deren Teile in ihrem Sein und So-sein an Alle die genannten nichtkünstlerischen Kulturgebie-
einer bestimmten Stelle des Ganzen durch ein te (Wissenschaft, Philosophie, Religion; K. W.) spie-
Strukturprinzip des Ganzen bestimmt sind" 192. Für len nämlich unablässig in die Kunstgeschichte hin-
Sedlmayr bestand die theoretische Leistung Riegls ein, indem sie dem Kunstwerk (das niemals ohne
eben darin: äußeren Zweck ist) die äußere Veranlassung, den
"Dieser Schritt der Ableitung der einzelnen Stil- Inhalt liefern. "197 So folgerte Riegl in seinem
merkmale aus zentralen Gestaltungsprinzipien ist Aufsatz Naturwerk und Kunstwerk.
also das eigentlich Entscheidende für das neue Ver- Der Kunstgeschichte ist nun alles wissenschaftliches
fahren. Erst in der Verbindung damit bekommt der Material; sie kann durchaus Urteile über die Qualität
Rekurs auf das ,Kunstwollen' (und letzten Endes der künstlerischen Ausführung fällen 198, will sich
auf das ,Kulturwollen') seinen wichtigen Sinn. Man aber eines ordnenden historischen Wertsystems ent-
verankert damit die Anderung der Stilprinzipien in halten. Als geschichtliche Zeugnisse gesellschaftli-
fundamentalen Anderungen der Geistesstruktur ei- cher Befindlichkeit werden deshalb alle Kunstgat-
ner Gruppe von Menschen, in Anderungen der tungen, die Architektur und nun sogar das Kunstge-
,Ideale', in Umwertung der ,Werte' und damit der werbe als gleichrangige Kunstformen beschreibbar,
möglichen Willensziele auf allen Gebieten. "193 die ihre Wertigkeit nicht in der Autonomie von
So verstanden erweist sich im Rieglschen Begriff Stofflichkeit und Bedürfnis erweisen, sondern als
vom Kunstwollen die Wissenschaft von der Ge- "faits socials"198a eine besondere, nämlich künstleri-
schichte der Kunst tatsächlich als fähig, den norma- sche Art der Weltverarbeitung repräsentieren. Wenn
tiven Impetus philosophischer Ästhetik abzuweh- wir bei Riegl in einem Aufsatz von 1899 sodann
ren, ohne auf eine theoretische Bestimmung, näm- eine historische Gliederung der Kunstwerke finden,
lich sozialhistorische Formation 194 zu sein, verzich- die der Hegels nicht ganz unähnlich ist, so sind
ten zu müssen. diese dem Kunsthistoriker doch alle wesentlich in
Für die Entwicklung der Kunstgeschichte als Diszi- ihren Ausdrucksveränderungen, die - aus dem
plin hatte Riegl festgestellt, daß "eine sehr wichtige ganzen Umfeld der Sozietas entstanden - ihm
Voraussetzung aller wissenschaftlichen Forschung, gleichermaßen Auskunft über das Weltverhältnis der
die zwar schon seit Winckelmann angestrebt wurde, Menschen geben. Aus dem Bedürfnis der Menschen,
nun erst recht zur Tat werden konnte: die Voraus- in und mit der Natur in ein harmonisches Verhält-
setzung nämlich, daß jedes einzelne Kunstwerk der nis zu treten, entstehen die Kunstwerke und sind
wissenschaftlichen Betrachtung und Erkenntnis die sinnlichen Garanten zu dessen Befriedigung.
würdig ist, ohne Rücksicht darauf, ob es dem be- In Riegls Beschreibung vom historischen Verlauf der
trachtenden Subjekt gefällt oder mißfällt." 195 Kunst ist ein Reflex auf Hegels Gang zur Vervoll-
Das war eine wesentliche Voraussetzung zur Ent- kommnung des Menschen in Sittlichkeit und Wissen
wicklung des Begriffs vom Kunstwollen, jenes Be- spürbar. 199 Diesem wie auch jenem wird die erwei-
griffs, der die Stilveränderungen zu greifen verstand. terte Naturbeherrschung zum qualitativen Um-
31
schlag bisherigen Kunstvermögens. Da aber das Be- einst Kleist den ästhetischen Diskurs Uber das Ma-
dürfnis nach Harmonie sich nicht wie bei Hegel in rionettentheater 204 geschlossen, würden Grazie und
einem absoluten Wissen des Geistes erfüllt, bleibt Harmonie wieder ermöglichen. "Ein wenig zer-
es in den Menschen vorhanden, die weiterhin origi- streut" hatte sich der Dichter gefragt: ,,(. .. ) müßten
näre Kunstwerke erzeugen, und zwar auf der Grund- wir wieder von dem Baum der Erkenntnis essen,
lage dieses neuen Wissens. Zu eben diesem Schluß um in den Stand der Unschuld zurückzufallen?"
kommt Riegl in seiner Suche nach dem "Inhalt der Und der Tänzer hatte ihm geantwortet: "Allerdings,
modernen Kunst"200 und kehrt Hegels Theorem da- das ist das letzte Kapitel von der Geschichte der
mit um: Welt. "205
"Unter den bisher skizzierten drei Weltanschauun- In Riegls positivem Zugriff auf das Wissen war die-
gen, die sämtlich die Herstellung der Harmonie von ses Kapitel erst eröffnet, die bitteren Früchte blie-
einem sozusagen persönlichen Eingreifen einer un- ben noch zu pflücken. Die Aufgabe der Kunst aber,
fehlbaren höheren Gewalt erwarten, die also allein der modernen Kunst, hatte Riegl auch für die Zu-
und ausschließlich auf das Gottvertrauen begründet kunft schon gefaßt: "Weder Proportions- und Li-
sind, ist zweifellos die christliche die vollkommenste nienschönheit, wie das klassische Altertum, noch
und den Menschen befriedigendste, weil sie den geistige Erhebung, wie das christliche Mittelalter:
Schutz des sittlichen Menschen durch eine sittliche hingegen unter allen Umständen Lebenswahr-
Gewalt verbürgt. Alles hängt aber dabei vom Glau- heit. "206 Damit war besiegelt, was Kunst fortan
ben ab. Solange ich das unbedingte Vertrauen habe, nicht mehr kann: das Bild einer idealen Welt har-
daß Gott mich als einen gerechten Menschen vor monisch zu geben. In einer zerrissenen Welt - und
dem Blitzschlag schützen wird, schafft mir die so kommt sie auf uns als moderne - ist sie zerrisse-
christliche Weltanschauung vollkommene Harmo- ne Kunst, gibt darin ,Lebenswahrheit', aber nicht
nie. Dies ändert sich aber, sobald ich einen Blitzab- ohne zugleich in ihrer Zerrissenheit auf Harmonie
leiter auf meinem Hause aufrichte: denn jetzt ver- als ihr anderes beharrend zu verweisen, ihrer so ge-
traue ich mehr meinem Wissen, das mich von jener setzten Aufgabe also nach wie vor gerecht zu wer-
Vorrichtung den begehrten Schutz sicher erwarten den. Adorno hat diesen ästhetischen Vollzug später
läßt, als meinem Glauben, der mir den Blitzableiter so beschrieben:
entbehrlich erscheinen lassen müßte. Damit ist ge- "Das Neue ist die Sehnsucht nach dem Neuen,
sagt, daß mir der Glaube allein wenigstens in irdi- kaum es selbst, daran krankt alles Neue. Was als
schen, materiellen Dingen die volle Harmonie nicht Utopie sich fühlt, bleibt ein Negatives gegen das Be-
mehr gewährleistet. Die christliche Weltanschauung stehende, und diesem hörig. Zentral unter den ge-
erscheint hiermit gerade in demjenigen Teile, der für genwärtigen Antinomien ist, daß Kunst Utopie sein
die bildende Kunst von entscheidender Bedeutung muß und will und zwar desto entschiedener, je mehr
ist - in der Auffassung des Naturgesetzes - verlas- der reale Funktionszusammenhang Utopie verbaut;
sen und überwunden. Es kann nur das Wissen sein, daß sie aber, um nicht Utopie an Schein und Trost
von dem ich fortan die Harmonie zu erwarten ha- zu verraten, nicht Utopie sein darf. Erfüllte sich die
be. "201 Utopie von Kunst, so wäre das ihr zeitliches Ende.
Für Riegl ist sie am Ende des Jahrhunderts sichtbar Hegel als erster hat erkannt, daß es in ihrem Begriff
in dem, was er "Stimmungskunst" nennt, also jener impliziert ist. Daß seine Prophezeiung nicht einge-
Kunst, vor allem der Malerei, die, wissenschaftliche löst ward, hat seinen paradoxen Grund in seinem
Erkenntnis nutzend, Natur und das konkrete Geschichtsoptimismus. Er verriet die Utopie, in-
menschliche Verhältnis zu ihr als Kausalitätsverhält- dem er das Bestehende konstruierte, als wäre es je-
nis darstellt. 202 Was dem Menschen durch den ne, die absolute Idee. Gegen Hegels Lehre, der Welt-
Glauben einst im Transzendentalen Ruhe verschaff- geist sei über die Gestalt der Kunst hinaus, behaup-
te, übernimmt nun das umfassende Wissen, das uns tet sich seine andere, welche die Kunst der wider-
die "erlösende Harmonie" zu "schaffen" vermag. spruchsvollen Existenz zuordnet, die wider alle af-
Das vernünftige Wissen, die Lösung der Sinnfrage in firmative Philosophie fortwährt. Schlagend ist das
der "beruhigenden überzeugung vom unverrückba- an der Architektur: wollte sie aus überdruß an den
ren Walten des Kausalitätsgesetzes"203 wird die Zweckformen und ihrer totalen Angepaßtheit, der
Darstellungsaufgabe der Kunst. Erst alle gepflück- ungezügelten Phantasie sich anheimgeben, sie geriete
ten Früchte vom Baum der Erkenntnis, so hatte sogleich in Kitsch. So wenig wie Theorie vermag

32
Kunst Utopie zu konkretisieren; nicht einmal nega- wicklung der "Organisation ihrer Wahrnehmung"210
tiv. Das Neue als Kryptogramm ist das Bild des Un- verbunden sei, wurde zum Anknüpfungs- und Aus-
tergangs; nur durch dessen absolute Negativität gangspunkt für Walter Benjamin, der Riegls Ansatz
spricht Kunst das Unaussprechliche aus, die Utopie. weiterführte und in seinem Essay Das Kunstwerk
Zu jenem Bild versammeln sich alle Stigmata des im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit
Abstoßenden und Abscheulichen in der neuen für die Bedingungen der industriell produzierenden
Kunst. Durch unversöhnliche Absage an den Schein Gesellschaft explizierte. Benjamin, der seit langem
von Versöhnung hält sie diese fest inmitten des Un- Riegl und die Wien er Schule kannte und bewunder-
versöhnten, richtiges Bewußtsein einer Epoche, dar- te 211 und der Riegls Aufsatz, worauf einige Form-
in die reale Möglichkeit von Utopie - daß die Er- elemente schließen lassen, vor Augen gehabt haben
de, nach dem Stand der Produktivkräfte, jetzt, hier, muß 212 , ging von der notwendigen Beschränkung
unmittelbar das Paradies sein könnte - auf einer der Rieglschen Einsichten aus. Benjamin schreibt:
äußersten Spitze mit der Möglichkeit der totalen "So weittragend ihre (Riegls und Wickhoffs; K. W.)
Katastrophe sich vereint. "207 Erkenntnisse waren, so hatten sie ihre Grenze darin,
Riegl hatte in den beiden Termini ,Kunstwollen' und daß sich diese Forscher begnügten, die formale Si-
,Lebenswahrheit' die Grundlage für den Fortbestand gnatur aufzuweisen, die der Wahrnehmung in der
eines Kunstbegriffs gelegt, der Wahrheit, Wissen Spätrömischen Zeit eigen war. Sie haben nicht ver-
und Anschaulichkeit in einen Bedingungszusam- sucht - und konnten vielleicht auch nicht hof-
menhang in sich aufnahm. Im Begriff vom ,Kunst- fen -, die gesellschaftlichen Umwälzungen zu zei-
wollen', der das Kunstwerk aus der Dynamik des gen, die in diesen Veränderungen ihren Ausdruck
sozialen Lebens entstanden denkt, war die Säkula- fanden. Für die Gegenwart liegen die Bedingungen
risation der Kunst, wie sie sich seit der Renaissance einer entsprechenden Einsicht günstiger. Und wenn
vollzogen hatte, theoretisch besiegelt, in dem Be- Veränderungen im Medium der Wahrnehmung, de-
griff der ,Lebenswahrheit' der Grundstein gelegt, ren Zeitgenossen wir sind, sich als Verfall der Aura
sie einer Wirkung zu entreißen, die Walter Benjamin begreifen lassen, so kann man dessen gesellschaftli-
später die auratische nannte. Hegel hatte diese Ver- che Bedingungen aufzeigen."213
änderung vor der Entfaltung wissenschaftlichen Benjamin definiert Aura als "einmalige Erschei-
Denkens ja schon als den Verlust des Auratischen nung einer Ferne, so nah sie sein mag"214. Aber
im Ritus beklagt, als er konstatierte: "Mögen wir eben jene Ferne oder "Fernsicht", die für Riegl
die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich noch Harmonie versprach, wird nun selber historisch
finden und Gottvater, Christus, Maria noch so wür- unmöglich, und zwar, wie Benjamin ausführt, auf
dig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, Grund zweier" Umstände", "die beide mit der zu-
unser Knie beugen wir doch nicht mehr. "208 nehmenden Bedeutung der Massen im heutigen
Leben zusammenhängen. Nämlich: die Dinge
räumlich und menschlich näher zu bringen, ist ein
genau so leidenschaftliches Anliegen der gegenwär-
tigen Massen, wie es ihre Tendenz einer überwin-
dung des Einmaligen jeder Gegebenheit durch die
Von der diachronischen Aufnahme von deren Reproduktion ist."21S
zur synchronischen Kunstbetrachtung.
Auf der Grundlage einer umfassenden Anwendung
Walter Benjamin
der Wissenschaft in der Technik, in deren histori-
Auch für Riegl war an die Stelle der Andacht die schem Verlauf das Kunstwerk gewissermaßen aus
wissenschaftliche Aufklärung, diese jetzt wie einst seinem rituellen Gebrauch in seinem bloß alltägli-
jene dem Menschen Harmonie verschaffend, getre- chen sich aufzulösen schien, hatte es schließlich all
ten. Diese Wirkung - und davon war Riegl in sei- jene Bestimmungen eingebüßt, die einst untrennbar
nem ,Stimmungskunst'-Aufsatz ausgegangen -, ist mit seinem Begriff verbunden waren: Einzigartig-
gebunden an die "menschliche Sinneswahrneh- keit, Echtheit, Originalität, Objekt kontemplativer
mung", kommt nur durch diese zustande, und zwar Versenkung zu sein, d. h. Kultwert zu besitzen. "In
dann, wenn der Mensch durch "Fernsicht"209 sich dem Maße", so führt Benjamin seine Gedanken
den Dingen entfernend nähert. Dieser Rieglsche fort, "in dem der Kultwert des Bildes sich säkulari-
Schluß, daß die Geschichte der Kunst mit der Ent- siert, werden die Vorstellungen vom Substrat seiner

33
Einmaligkeit unbestimmter. Immer mehr wird die scher Verfahren auf die künstlerische Produktion
Einmaligkeit der im Kultbilde waltenden Erschei- und Rezeption gesamtgesellschaftlich obsolet. Die
nungen von der empirischen Einmaligkeit des Bild- Echtheit eines Kunstwerkes, die Einmaligkeit seiner
ners oder seiner bildenden Leistung in der Vorstel- Rezeption durch ein sich enthebendes Individuum
lung des Aufnehmenden verdrängt. "216 wird aufgelöst vor der Tatsache, daß jedes Kunst-
Oder anders: Mit der gesamtgesellschaftlich herr- werk zu jeder Zeit wieder erstehen kann (in man-
schenden Maschinenarbeit, mit der Entwicklung chen späteren Kunstrichtungen sogar SOll)221 bzw.
technischer Medien wird nun jedes Produkt, auch in der Reproduktionsmöglichkeit allgegenwärtig
das künstlerische, tendenziell reproduzierbar, und ist, nun also umgekehrt als die wiederholbare Nähe,
eben nicht allein auf Grund erweiterter Reproduk- so fern sie sein mag, erfahren wird. Aus dieser Nah-
tionsverfahren, wie bei der Fotografie oder beim sichtigkeit, die nun prinzipiell allen möglich ist, re-
Film, sondern grundsätzlich als Entwurf für ein Ma- sultiert der Funktionswandel: "An die Stelle ihrer
schinenprodukt, vom kunsthandwerklichen Gegen- Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf ei-
stand bis zum vorgefertigten Bauteil. Das originäre ne andere Praxis: nämlich ihre Fundierung auf Po-
der künstlerischen Arbeit reduziert sich damit allein litik. "222 Daß die zukünftige Kunst unbedingt ,le-
auf den Entwurf217 , das Hier und Jetzt des künstle- benswahr' zu sein habe, ist in dieser Formulierung
rischen Produktes aber ist nicht mehr uneinge- enthalten, doch transponiert der Begriff der Au-
schränkt kommensurabel, seine Rezeption beliebig thentizität die Rieglsche Anschauung radikal auf
möglich, das Kultische an ihm damit aufgelöst. die Diesseitigkeit, den Wahrheitsgehalt der Kunst
Doch "freilich niemals ganz ohne Rest", so Benja- grundsätzlich auf die je konkrete sozialhistorische
min, denn "mit der Säkularisierung der Kunst tritt Struktur. Was Benjamin in seinen Thesen Uber den
die Authentizität an die Stelle des Kultwertes" 218 . Begriff der Geschichte 223 Historismus und histori-
Die Konkretion dieses Begriffs verdanken wir Lien- schen Materialismus als differierende Geschichtswis-
hard Wawrzyn: "Die Einzigkeit, die jetzt vom senschaften voneinander abgrenzen ließ, gilt für
Kunstwerk gefordert ist, ist diejenige der Abbildung den Umschlag vom Kunststil ,Historismus' zur Ver-
einer historischen Situation. ,Authentizität' ist die gegenwärtigung des sozialhistorischen Jetzt bei den
ins Politische transponierte Kategorie der Einmalig- Neuerern der Moderne: "Der Historismus stellt das
keit. In einem dialektischen Umschlag hat die hi- ,ewige' Bild der Vergangenheit, der historische Ma-
storisch fundierte Einmaligkeit der numerischen, terialist eine Erfahrung mit ihr, die einzig da-
wie sie im Werk selber verankert war, den Rang ab- steht. "224 In dieser Formulierung ist nicht nur der
gelaufen. ,Einzigkeit' zielt damit auf die Vermitt- Umgang mit Vergangenheit, sondern auch der mit
lung von Erfahrung. "219 Gegenwart prädisponiert. Als authentische Kunst
Was Benjamin im Verfall der Aura angesprochen gilt fortan, und nur darin legitimiert sich eine Ver-
hatte, beschrieb die Wirkungsgeschichte der Kunst- bindung von Kunst und Wahrheit, daß ihre formale
werke durchaus von einem historischen Endpunkt Fassung als Ausdruck einer je konkreten sozialhi-
her, jedoch nicht, ohne im Begriff des ,Authenti- storischen Formation erkennbar sein muß. Nichts
schen' ihre Geburtsstunde neu zu eröffnen. Benja- anderes hat Gropius bei seinem ersten öffentlichen
min war einige Jahrzehnte nach Riegl in der Lage, Auftritt, dem Vortrag von 1911, angesprochen, als
nicht nur die Kunst auf die veränderte, wissen- er die Aufgabe der Baukunst programmatisch fast
schaftliche Welt erfahrung fundiert zu sehen, son- für sein ganzes zukünftiges Schaffen so darstellte:
dern auch deren Auswirkungen auf das gesamtge- "Denn das moderne Leben braucht neue Bauorga-
sellschaftliche Apperzeptionsvermögen zu analysie- nismen entsprechend den Lebensformen unserer
ren und daraus Schlüsse zu ziehen. Die wissenschaft- Zeit. Bahnhöfe, Warenhäuser, Fabriken verlangen
liche Aufklärung hatte das Kultische an den Kunst- ihren eigenen modernen Ausdruck und können gar
werken endgültig aufgelöst und damit die Annähe- nicht im Stil der vergangenen Jahrhunderte gelöst
rung an Kunst verändert, die Kunst also in ihrer so- werden, ohne daß man in leeren Schematismus und
zialen "Funktion umgewälzt"220. Was für Riegl in historische Maskerade verfällt (. .. )." 225
einem gleichsam rituellen Akt noch möglich schien, Und etwas später:
sich in der Fernsicht der Alltäglichkeit zu entheben, "Diese neuen Formen können nicht willkürlich er-
um so eines harmonischen Weltganzen ansichtig funden werden, sondern ergeben sich mit Notwen-
werden zu können, wird vor dem Einbruch techni- digkeit aus den Lebensäußerungen der Zeit."226

34
Die Industrie als Träger des KunstwoUens. Entwicklung einer neuen Kultur ausüben wird, von
Walter Gropius' Entwicklung der in unseren Tagen so viel die Rede ist, wie früher
eines authentischen Stils der dynastische Einzelwille eines Herrschers. "228
Im Titel des Aufsatzes von 1914, Der stilbildende
Walter Gropius verbindet die Forderung nach der Wert industrieller Bau/ormen, ist dann angezeigt,
allgemeinen künstlerischen Neu- mit einer Selbstbe- daß Gropius die Vermutung von einst inzwischen als
sinnung. Wie wir wissen, hatte er sich in seinem bestätigt ansieht. Entsprechend führt er nun aus:
Vortrag von 1911 explizit auf die Kunsttheorie "Es beginnen sich langsam in unseren Tagen solche
Riegls berufen, um von ihr aus zu eigenen Urteilen gemeinsamen Gedanken von weltbewegender Be-
und Schlüssen zu kommen. Beinahe schulbuchmäßig deutung aus dem Chaos individualistischer Anschau-
mutet seine Interpretation des Begriffs vom ,Kunst- ungen abzulösen. In den Riesenaufgaben der Zeit,
wollen' an, mit dem er nun seiner Zeit zu Leibe den gesamten Verkehr - die ganze materielle und
rückt. Ausgehend von der vorgefundenen Unange- geistige Menschenarbeit - organisatorisch zu bewäl-
m~ssenheit des architektonischen Ausdrucks im hi- tigen, verkörpert sich ein ungeheurer sozialer Wille.
storistischen Ornament, fragt sich Gropius nämlich Mehr und mehr wird die Lösung dieser Weltaufgabe
nach den Beweggründen dieser Entwicklung des zum ethischen Mittelpunkt der Gegenwart und da-
Auseinanderfallens von künstlerischer Form und mit wird der Kunst wieder geistiger Stoff zur symbo-
sozialem Gehalt und sucht nach jenen Faktoren, die lischen Darstellung in ihren Werken zugeführt."229
dafür gesamtgesellschaftlich prägend sind. Seine Was Gropius um 1910 als Organisatorin jener ,gei-
Frage zielt also auf jene gesellschaftlich hervorra- stigen und materiellen Menschenarbeit' vor Augen
gende Kraft, die die Teile des Sozialgefüges mitein- stand, war eine hochentwickelte Industrie 230 , die
ander vermittelt, also für das Ganze bestimmend ist, sich in der kapitalistischen Produktionsform die
für es sprechen kann und somit wieder stilbildend geistige und körperliche Arbeit subsumiert hatte.
zu wirken vermag. Beispielhaft formuliert Gropius Darin erschien sie als Garantin gesamtgesellschaftli-
seinen Ansatz in dem Artikel von 1914: chen Progresses überhaupt. Diese soziale Avantgar-
"Der Kunst der vergangenen Jahrzehnte fehlte der deposition ist für Gropius der nervus rerum zur
moralische Sammelpunkt und damit die Lebensbe- Entfaltung einer künstlerischen, die nun Anspruch
dingung zu einer fruchtbaren Entwicklung. Es gab auf Authentizität erheben kann. Damit ist das öko-
in dieser nur materiell sich vorbereitenden Zeit nomische zum ästhetischen Subjekt erklärt. Und so
kein geistiges Ideal von so allgemein gültiger Bedeu- rückt nun, gar nicht überraschend, der Ort von In-
tung, daß der schaffende Künstler über egozentri- dustrie, der Fabrikbau, und rücken in dessen Gefol-
sche Vorstellungen hinaus einen allgemein verständ- ge die Einrichtungen zur Organisation des Waren-
lichen Vorwurf daraus gewinnen konnte. Auf allen umschlags immer mehr ins Zentrum der Betrach-
Gebieten geistigen Lebens zersplitterten sich die tung. Vor allem das Fabrikgebäude, als Repräsen-
Meinungen, und die Kunst - die immer die geisti- tant der spezifischen Seinsweise und sichtbares Zei-
gen Erscheinungen ihrer Zeit darstellen will - war chen der historisch gewonnenen zivilisationsbilden-
das getreue Spiegelbild dieser innerlichen Zerfahren- den Kraft von Industrie, erhält für Gropius eine we-
heit. Das Grundproblem der Form war ein unbe- sentliche Bedeutung; er bekennt:
kannter Begriff geworden (. .. ). Solange eben die "Von der Seite der Architekten ist die baukünstle-
geistigen Begriffe der Zeit noch unsicher schwan- rische Aufgabe der Industrie erkannt und mit Inter-
ken, ohne ein einiges festes Ziel, solange fehlt auch esse aufgegriffen worden. Der völlig neue formale
der Kunst die Möglichkeit, Stil zu entwickeln, d. h. Charakter, die Wucht und Knappheit, die den Bau-
den Gestaltungswillen der vielen in einem Gedanken ten der Industrie von Haus aus innewohnt, muß ja
zu sammeln." 227 auch die lebendige Phantasie des Künstlers rei-
Was diese beherrschende gesellschaftliche Kraft und zen. "231
wer deren personelle Träger sein könnte, hatte Gro- Für eine zeitgemäße Architekturentwicklung ist die
pius schon drei Jahre zuvor, 1911, angedeutet: form bildende Funktion des Industriebaus damit
"Auf der richtigen Verteilung der Rollen beruht hypostasiert. Auch wenn Gropius noch 1911 ge-
die Macht der modernen Zeit, und es sind Anzeichen meint hatte, daß "eine Stätte der Arbeit nie in uns
vorhanden, daß die Industrie durch Zusammen- so starke seelische Impressionen (wird) erwecken
schluß vieler einen ebenso starken Einfluß auf die können, wie ein Gotteshaus", so hatte er doch ge-

35
folgert, "in den Bauten der heutigen Industrie Der Mensch als Subjekt der Raumgestaltung.
könnte der Keim zu höheren Architekturgedanken August Schmarsow und Heinrich Wölfflin
verborgen liegen, der sie schon heute der Sphäre der
monumentalen Kunst näherrückt" 232 . Walter Gropius steht mit seiner Wesenbestimmung
Erste "Vorboten eines kommenden monumentalen von Architektur in der Tradition der Kunsttheorie
Stils"233 waren ihm amerikanische Industriebauten, des späten 19. im übergang zum 20. Jahrhundert.
die "Getreidesilos von Kanada und Südamerika, die "Die Geschichte der Baukunst ist eine Geschichte
Kohlensilos der großen Eisenbahnlinien und die des Raumgefühls. "241 Das war die Quintessenz von
modernsten Werkhallen der nordamerikanischen August Schmarsows Antrittsvorlesung Das Wesen
Industrietrusts"234. Sie alle machten ihm die "ur- der architektonischen Schöpfung (1893) gewesen.
sprüngliche Mächtigkeit, die den Bauten der Indu- Was lange dafür gehalten yvurde, "das tektonische
strie von Haus aus innewohnt"235, sinnfällig und Gerüst, der ganze Aufwand an massigem Material",
bargen jene Elemente, die der Architekt allen zeit- so hatte er es seinem Resümee vorausgeschickt,
genössischen Bauaufgaben zukünftig zu entlocken sinke "zu einer sekundären Bedeutung herab, näm-
hatte. War deren "monumentale Gewalt des Ein- lich des Mittels zum ästhetischen Zweck" 242 . Ob
drucks"236 dem instinktiven Handeln ihrer Erbau- die einen "Konstruktion, die anderen Bekleidung
er geschuldet gewesen, bei denen sich "der natürli- des Gerüsts oder die tektonische Gliederung" zum
che Sinn für große, knapp gebundene Form, selbst- Wesentlichen erklärten, sie alle befänden sich im
ständig, gesund und rein"237 erhalten hatte, so ist gleichen Irrtum, wie im übrigen auch jene, die in
es jetzt Aufgabe des Baukünstlers, diesen Gestal- der "Architektur selbst die ideale Darstellung der
tungsakt bewußt zu vollziehen. Sind die stilbilden- das Weltall enthaltenden Gesetze der Schwere, eine
den Potenzen der Industrie einmal erkannt worden, Darstellung der Begriffe Kraft und Last für unser
so bildet deren "organisiertes Arbeitsleben" , dem Gefühl"243 sähen. Das alles sei nicht das Wesen der
"Wucht, Strenge und Knappheit"238 zu eigen ist, Baukunst, denn vor deren Materialisation stehe ein
das Material, welches die Architektur darzustellen übergreifendes, alle baulichen Organismen Verbin-
hat. Dementsprechend muß sich der Architekt, der dendes, den Begriff Architektur Umfassendes, näm-
Baukünstler, auf einfache "knappe Formen"239 be- lich der Vorentwurf in der Phantasie des künstleri-
sinnen, auf stereometrische Grundformen also, um schen Subjekts, und dieser sei immer und vor allem
darin die ingenieurmäßige Bauauffassung zu subli- eine Raumvorstellung. Denn der gemeinsame Ge-
mieren und nun in einer symbolischen Darstellung sichtspunkt, unter dem sich jedes architektonische
zur Architektur zu entfalten. Gropius folgert: Gebilde fassen lasse, sei der des ,Raumgebildes' :
"J e sinnfälliger nun diese Ausdrucksmittel gewählt ,,(. .. ) vom langen Straßenzug des ägyptischen Wall-
werden, desto monumentaler muß die Wirkung sein, fahrtstempels, bis zum säulengetragenen herrlichen
die von dem Kunstwerk ausgeht, denn an die Sinne Dach des Hellenengottes, von der Karaibenhütte bis
gebunden, können wir uns nicht entmaterialisieren. zum Reichstagsgebäude, - so können wir, möglichst
(. .. ) Für die bildende Kunst, im besonderen auch allgemein ausgedrückt, sagen, sie sind samt und
für die Baukunst, ist nun das übermittelnde Sinnes- sonders Raumgebilde, - und zwar gleichgültig aus
organ das Auge und das materielle Substrat für den welchem Material, von welcher Dauer und Kon-
formenden Kunstwillen sind die sichtbaren Ele- struktion, oder welcher Durchbildung der tragen-
mente des Raumes. "240 den und getragenen Teile. "244
Zum Kunstwerk wird ein Bau also erst dann, so läßt Die Architektur als ,Raumgestalterin' hat ihre "Ge-
sich aus Gropius' Darlegungen resümieren, wenn schichte als Geschichte des Raumgefühls" , sie ist
ideelle Bedürfnisse am ungeordneten Material dar- deshalb - und damit endete der Vortrag Schmar-
gestellt und damit formal bewältigt werden; Kör- sows - "bewußt oder unbewußt ein grundlegender
pergestaltung und Raumbegrenzung sind die visuel- Bestandteil der Weltanschauung"245. Wie sich der
len Träger dieses Darstellungsbemühens. Baukunst Mensch in der Welt bewegt, bzw. wie er sich in ihr
hat demnach das Ordnen des Raumes nach ideellen zu bewegen gedenkt, darüber gibt die architektoni-
Gesichtspunkten zu ihrem Wesen, sie macht ihre sche Schöpfung, der einzelne Raum, das Raumen-
Authentizität in der räumlichen Organisation an- semble bis hin zum Stadtraum Aufschluß. 24 6 Die
schaulich und erkennbar; Konstruktion und Mate- Architekturen sind Ausdruck seines besonderen ge-
rial sind die Mittel dieser Darstellung. sellschaftlichen Seins oder seiner Vorstellung davon.

36
Das Subjekt dieses architektonischen Schaffens ist gemäßen Prinzipien resultiert bei Schmarsow aus
für Schmarsow der Mensch, der in seiner physischen dem unterstellten Willen nach menschlicher Vervoll-
Organisation die architektonische bestimmt. Vor kommung und dem Aufgehen des Individuums in
allem fungiert er als die "Dominante des Axsyste- einer sittlich harmonischen Gesellschaftsverfas-
mes, das Höhenlot vom Scheitel an die Sohlen". sung. 253
"Das heißt, solange eine Umschließung des Subjekts Zu ähnlichen Ergebnissen kam 1886 Heinrich
gewollt wird, bedarf der Meridian unseres Leibes Wölfflin in seiner Dissertation mit dem methodisch
keiner sinnlich sichtbaren Herstellung: wir selber beziehungsreichen Titel Prolegomena zu einer Psy-
sind seine Ausgestaltung in Person. Die Architektur chologie der Architektur. Bei Schmarsow hatte die
als unsere Raumgestalterin schafft als ihr eigenstes, Begründung des Analogons von Architektur- und
das keine andere Kunst zu leisten vermag, Um- Menschengestalt darin bestanden, daß die Architek-
schließungen unserer selbst, in denen die senkrech- tur als Umschließung des menschlichen Organismus'
te Mittelaxe nicht körperlich hingestellt wird, son- sich diesem anverwandelt und sie uns darin ästheti-
dern leer bleibt, nur idealiter wirkt und bestimmt schen Genuß verschafft. Wölfflin verlegt dieses
ist als Ort des Subjektes. "247 Faktum weiter in das menschliche Subjekt, in sein
Am biologischen Sein des Menschen orientiert sich konkretes subjektives Empfinden. Ausgehend von
die räumliche Ausprägung, des Menschen Achse be- der These, daß "leibliche Organisation (. . .) die
stimmt das "Höhenlot, seine Bewegungsfähigkeit Form (ist), unter der wir alles Körperliche auffas-
die Tiefenausdehnung und die Ausbreitung der Ar- sen "254, wollte er zeigen, "daß die Grundelemente
me die Breitendimension"248. Sein Körper ist also der Architektur: Stoff und Form, Schwere und
das Maß aller räumlichen Dinge. Seinem physischen Kraft sich bestimmen nach den Erfahrungen, die
Sein gemäß formt sich der Mensch eine Architektur- wir an uns gemacht haben; daß die Gesetze der for-
welt "zu seinem eigenen Genügen und Genuß"249. malen Ästhetik nichts anderes sind als die Bedin-
Die "freie ästhetische Betrachtung", worunter gungen, unter denen uns allein ein organisches
Schmarsow versteht, daß "wir uns mit Hülfe der Wohlbefinden möglich scheint, daß endlich der Aus-
Phantasie hineinversetzten in das Centrum des In- druck, der in der horizontalen und vertikalen Glie-
nenraumes, dessen Aussenseite sich vor uns aufbaut, derung liegt, nach menschlichen (organischen) Prin-
und durch die Frage nach dem Axensystem da drü- zipien gegeben ist"255 .
ben die Ausgestaltung des fremden Organismus Aus den psychischen Vorgängen im Individuum, in
dem analogen Gefühl in uns zu erschliessen stre- den "Gefühlserscheinungen, die der Anblick von
ben"250, kommt erst zustande und wird zu einem Körpergebilden in ihm auslöst, der sich die Farbe,
wirklichen Genuß, sobald wir einem Gebilde gegen- die Assoziationen, welche aus Geschichte und Be-
überstehen, das wir als ein von uns unterschiedenes, stimmung des Gebäudes erwachsen oder die Be-
aber ähnliches begreifen, "denn eben dies Gefühl, schaffenheit des Stoffes"256, zum Eindruck hinzu-
dass ein zweiter Meridian als Mittelaxe dort, uns fügt, resultiert schließlich der ästhetische Genuß
gegenüber vorhanden ist, bedingt die Anerkennung und daraus das Urteil über ein Artefakt. Was als
des Raumgebildes als Körper eigner Organisation "schöne Form" empfunden und von den Bestim-
ausser uns selbst"251 . mungen der "formalen Ästhetik" als solche gefaßt
Zum Parameter architektonischer Schöpfung wird wird, ist aber nach Wölfflin nichts anderes als die
also der menschliche Organismus. Demgemäß syste- Resultante der "Bedingungen des organischen Le-
matisiert und ordnet der Mensch das sinnlich-räum- bens"257.
liche Material in dem Wunsch nach Angleichung Das ästhetische Organ dieses ,organischen Lebens'
der Außenwelt an eine ihn selbst bestimmende Sitt- war für Wölfflin der ,organische Wille', der sich
lichkeit. Alle "Raumumschließungen" sind für die Welt nun anzuverwandeln gedenkt. Wie von
Schmarsow deshalb Zeichen und Erweiterungen selbst ergeben sich daraus Konsequenzen, die er am
des "regnum hominis", die "dem Menschengeist in sinnfälligsten an der symmetrischen Ausformung
der Durchführung seines eigenen gesetzmässigen expliziert. Hier wird uns paradigmatisch sein me-
Wesens ein Genüge (schaffen), das schliesslich in thodischer Ansatz vorgeführt. In der Diskussion der
dem Glauben an eine sittliche Weltordnung gip- Vischerschen Definition von Symmetrie folgert er:
felt"252. "Die Forderung der Symmetrie ist abgeleitet von
Das Ordnen der Welt nach der menschlicher Natur der Anlage unseres Körpers. Weil wir symmetrisch

37
aufgebaut sind, glauben wir diese Form auch von Mittlerrolle des Willens, später Gestaltung genannt,
jedem architektonischen Körper verlangen zu dür- der allerdings vom organischen zum anorganischen
fen. Nicht deswegen, weil wir unsern Gattungsty- sich wandelt.
pus als den unsrigen für den schönsten halten, wie Ich möchte, da sich der Umschlag des Architektur-
man schon gemeint hat, sondern weil es uns so allein gehaltes andeutet, nochmals zusammenfassen: Ob
wohl ist. In der Wirkung der Asymmetrie (. .. ) liegt die architektonische Schöpfung aus der direkten
das Verhältnis klar vor; wir empfinden ein körperli- Angleichung oder - wie bei Wölfflin - durch die
ches Mißbehagen; indem wir uns in der symbolisie- Einfühlung gewonnen wird und darin ästhetischen
renden Anschauung mit dem Objekt identifiziert Genuß evoziert, immer steht im Zentrum der ästhe-
haben, ist uns als sei die Symmetrie unseres Leibes tischen Erfahrung der Mensch. An seiner Körper-
gestört, als sei ein Glied verstümmelt. lichkeit, an seinem psychischen Empfinden orientie-
Aus dem Ursprung der Forderung von Symmetrie ren sich Körpergestaltung und Raurnabschließung;
ergibt sich auch ihre unbedingte Geltung. Man ist der Mensch ist sich selbst Thema, selbst eigener Ge-
zwar oft der Meinung, der Zweckmäßigkeit müsse nuß; er entwirft in der Gestaltung des Raumganzen
sie sofort weichen, ohne daß das Gefallen eine Ein- wie der Raumglieder immer nur ein Bild von sich,
buße erlitte. Fechner (Vorschule der Ästhetik) das greifbar, anschaulich, eben konkret ist.
bringt als Beispiel die Tasse, die ja nur einen Henkel
habe. Allein gerade hier bewährt sich unser Prinzip
Walter Gropius' Raumkonzept:
aufs beste. Unwillkürlich wird uns die Henkelseite
Subjekt der Raumgestaltung -
zum Rücken der Tasse, so daß die Symmetrie ge-
die ,zweite Natur', die Technik
wahrt bleibt. Sobald dann zwei Henkel gegeben
sind, dreht sich das Verhältnis wieder und wir fassen Für Walter Gropius ist eine solche, auf das konkre-
sie als ein Analogon unserer Arme. te Individuum geronnene Raumvorstellung nicht
Aus alledem geht aber auch zur Genüge hervor, daß mehr greifbar, da es zuallererst in seinem sozialen
ein Ausdruck in der Symmetrie als solcher nicht Sein und hierin eben bestimmt durch die herrschen-
liegen kann, so wenig beim Menschen ein seelisches de soziale Kraft, die Industrie, definiert ist. Weil für
Moment in der Gleichheit der Arme zur Erscheinung Gropius "die Kunst des Architekten" vor allem dar-
kommt. "258 in besteht, "gleichsam die Brücke zum praktischen
Im Gegensatz zu Schmarsow gliedert Wölfflin nun Leben"260 zu schlagen, und zwar zu dessen gesell-
die materielle Seite des Bauwerks, die Stoffdeter- schaftlich dominantem Teil, werden ihm zum The-
minante, in das System ein. Für Schmarsow war sie ma einer authentischen Architekturschöpfung die
reines Mittel ohne wirkliche Bedeutung für den Ar- durch die Industriewelt präformierten Erfahrungen,
chitekturkörper gewesen, für Wölfflin ist der Stoff worin für ihn das Individuelle aufgeht. Schmarsows
dem organischen Bilden einverleibt, weil er aus sich Begriff vom Architekten als Raumschöpfer, der, an
heraus eine bestimmte Form fordere: konkreter menschlicher Körperlichkeit orientiert,
"Der Stoff selbst sehnt sich gewissermaßen der dem Individuum letztlich eine harmonische Weltver-
Form entgegen. Alles Lebendige sucht sich ihm zu fassung räumlich erfahrbar machen will, geht in
entringen, zur Regelmäßigkeit, zum Gleichgewicht Gropius' Auffassung vom Künstlerarchitekten nur-
zu gelangen, als dem naturgemaßen Verhalten. In mehr ausschnitthaft, aber doch insofern noch auf,
diesem Versuch des organischen Willens, den Körper als für ihn die gesellschaftlich vorherrschenden Er-
zu durchdringen, ist das Verhältnis von Stoff zu scheinungen, der ,Grundton der Zeit', vor allem
Form gegeben. "259 raumbildend zu organisieren sind. Damit ist sein
Der organische Wille, der ein Wille zum Organischen Architekturprogramm und dessen baukünstlerische
ist, manifestiert sich in einer entsprechenden Form Fassung gegeben. "Den Grundton unserer Zeit be-
und entlockt gewissermaßen dem Stoff inhärente stimmen nun aber Handel, Technik und Ver-
Qualitäten, wie Lebendigkeit etc. Die Maxime von kehr." 261 Das Thema der Raumschöpfung ist also
der Materialgerechtigkeit, die der Funktionalismus nicht der Mensch als solcher, sondern der Mensch
in den zwanziger Jahren dann entwickeln wird, die im Zusammenhang mit der industrialisierten Ar-
er aus der wissenschaftlichen Erforschung eines - beitswelt, womit der räumlichen Durchbildung be-
so könnte man sagen ~. Stoffwesens gewinnen will, reits ,Ausdrucksformen'262 vorgegeben sind. Es
basiert letztlich auf dieser Auffassung von der tritt, so Gropius, "das moderne Problem der Ver-

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kehrsbewegung als gänzlich neuer für den räumli- form gilt es zu sublimieren. Es gelte vielmehr zur
chen Organismus wesentlich formbestimmender "symbolischen Darstellung" 265 , zum "symbolischen
Faktor auf. Schärfste Beanspruchung von Material, Ausdruck"266 zu gelangen, es gelte "rhythmisch
knappste Ausnutzung von Raum und Zeit sind da- umzuwerten" 267 , "sinnfallig zu machen"268. Das
mit die grundlegenden Voraussetzungen für das rekurriert aber darauf, daß der Architekturraum als
Formschaffen des modernen Baukünstlers gewor- Kunstraum, also durch architektonische Mittel er-
den; erkennt er ihre Notwendigkeit, werden sie ihm fahrbar gemacht wird. Diese, Umwertung der Wirk-
zum innerlichen Erlebnis, so sucht er ihren Sinn lichkeit' nimmt ihre architektonische Sprache aus
nicht nur allenthalben auf, sondern erfüllt damit der Technikwelt, ihre Mittel sind das tragende Ge-
seine Formen in dichterischer übertreibung, so daß rüst, auf beliebige Erweiterung angelegt, die Rei-
jedwedem Besucher die Grundidee des Ganzen sinn- hung, der Takt; alle Bewegung evozierenden Motive
fällig offenbar wird. "263 werden zu Mitteln des Raumkünstlers, des "moder-
Diese Auffassung, nach welcher das ästhetische Ver- nen Architekten"269 . Was dem Menschen dergestalt
mögen am ökonomisch-technischen sich orientiere, entworfen wird, ist nicht mehr das Bild seiner
wird von Gropius zu einem ganzen Konvergenzpro- selbst, sondern das seiner Naturbeherrschung mit
gramm ausgeweitet: "entmenschten"270, entindividualisierten, eben ab-
"Das Motiv der Bewegung - das entscheidende Mo- strakten Formen.
tiv der Zeit - gibt sich darin dem schauenden Auge
in mannigfaltiger Gestalt zu erkennen. Wie die Ver- Zusammenfassung
kehrsbauten ihre Aufgabe, den Verkehr aufzuneh- Das spezifisch Künstlerische, worin auch die Sub-
men und zu ordnen, in einem klar übersehbaren jektivität des Künstlers aufgeht, ist die Form als
rhythmisch gegliederten Gehäuse aufkommen läßt, Materialisation seines Umgangs mit den ,Lebensäu-
so sind die Verkehrsmittel zu Lande, zu Wasser und ßerungen der Zeit'. Damit ist ein Rahmen der
zu Luft - Automobil und Eisenbahn, Dampfschiff künstlerischen Entäußerung angegeben; Form kann
und Segeljacht, Luftschiff und Flugzeug - förmlich nicht beliebig sein, doch wird die Subjektivität des
zu Sinnbildern der Schnelligkeit geworden. Ihre Künstlers darin nicht aufgesogen, hier wird keinem
klare, mit einem Blick erfaßbare Erscheinungsform Determinismus das Wort geredet. Architektur hat
läßt nichts mehr von der Kompliziertheit des tech- sich aber, will sie Baukunst, also authentisch sein,
nischen Organismus ahnen. Technische Form und des konkreten, und das heißt im 20. Jahrhundert
Kunstform sind darin zu organischer Einheit ver- des durch Technik vermittelten Weltverhältnisses,
wachsen. "264 der sich in maschineller Arbeit vollziehenden Natur-
Die organische Einheit, die Gropius vorschwebt, hat aneignung des Menschen zu vergewissern und diese
nichts mehr mit der zu tun, die Wölfflin in Archi- formal umzusetzen. Darin erst macht sie sich als
tekturen vernehmen wollte, die Einheit nämlich durch Technik bestimmte auch erkennbar. Ist sich
zwischen Kunst- und Naturgebilde. Der Mensch als der Baukünstler über den Bezugsrahmen seiner
auch Naturwesen, als der organischen Welt zugehö- schöpferischen Produktivität derart bewußt, muß
rig, wird als Vorlage verdrängt, die von ihm geschaf- er sich vom individualisierenden Ornament, welches
fene ,zweite Natur', die Technik, zum Thema Handwerkliches vorgaukelt, wegbewegen zu einem
ästhetischer Erfahrung dekretiert. Die an die Formenkanon, der die wissenschaftstechnische
menschliche Physis gebundene Raum-Zeit-Erfah- Vermittlung von Natur und deren spezifisch gesell-
rung wird jetzt über die Maschine als sinnlichem schaftliche Aneignungsform auszudrücken vermag.
Korrelat der Technik vermittelt und diese als raum- Ins künstlerische Blickfeld gerät nun, was Sedlmayr
bildnerische Vorlage erkannt. Die Maschine, die erschrocken konstatierte: "Anstelle der Mimesis der
durch ihre Bewegungszeit nun die des Menschen Natur tritt die Nachahmung der technischen Ersatz-
bestimmt, verdrängt den Menschen als raumbildne- natur. "271 Ist diese das Thema, d. h. eine Wirklich-
risches Subjekt, sein Arbeitsmittel tritt an seine keitserkenntnis, in der mathematische Konstruktio-
Stelle. nen, also abstrakte Wertgrößen herrschen, so rela-
Aber, so wurde Gropius in seinem Aufsatz von 1914 tiviert sich das Anschauungsvermögen der Kunst.
nicht müde zu paraphrasieren, der rein rechnerisch Künstlerischer Ausdruck wird nun gleichermaßen
gewonnene Raumkörper, die bloß ökonomisch ra- abstrakt, und nicht nur Architektur konzentriert
tionelle und in dieser Weise zweckmäßige Einzel- sich auf struktive Werte, auf stereometrische Grund-

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formen und Materialpotenzen. Damit ist jene archi- Aneignung den ästhetischen Mangel und den Wunsch
tekturhistorische Situation irreversibel, die Argan zu dessen überwindung erfahrbar machen. Es er-
so charakterisierte, daß "der mechanische Vorgang scheint paradox, aber gerade ihre Unvollkommen-
der Industrie die geistige Entwicklung vom Material heit ist es, die nun als historisches Faustpfand für
zur Form wiederholt. Auf diese Weise gelangt die Veränderung gilt. Architektur als Kunst erweist ih-
umfassende, vielfältige Erfahrung des Handwerks, re Authentizität in kapitalistisch produzierender
r
die stets zugleich Materialerfahrun ist, an die
Schwelle der reinen Konstruktion. "27
Gesellschaft gerade im Mangel, der Unanschaulich-
keit, nicht jedoch ohne die utopische Potenz an sich
Ihr Element wird das vorfabrizierte, maschinell her- selbst darin zu haben, daß sie, wie es Adorno für
gestellte Bauteil. Also folgert er: die Kunst allgemein formulierte, "nur durch abso-
"Durch das Mittel der Vorfabrikation nimmt die lute Negativität das Unaussprechliche, die Uto-
Architektur die Erfahrung des Handwerks vollstän- pie"273 a ausspricht.
dig in sich auf und erhebt sich damit auf die Ent- Daß Gropius den Zusammenhang dieser gesell-
wicklungsstufe der industriellen Produktion und schaftlichen Unvollkommenheit mit der künstleri-
gelangt zu einer vollen Ausnutzung der modernen schen begriff, beweist die Tatsache, daß er, was lei-
Produktionsmittel. "273 der zu oft unterschlagen wird, ja keineswegs das
Die Architektur der industriell produzierenden Ge- Dogma einer radikalen Ornamentlosigkeit predigte,
sellschaft hat damit ihr geradezu idealtypisches Ge- sondern die Schmucklosigkeit als Notwendigkeit in
staltungselement, das ökonomisch rationell, klar, einer Menschengemeinschaft konstatierte, die auf
einfach und konstruktiv echt ist, aus der industriel- Grund ihrer Konstitution Schmuck nicht mehr und
len Sphäre selbst gewonnen. Aus dem vorfabrizier- noch nicht wieder zuläßt. Seinen Artikel von 1914
ten Einzelteil konstruiert der Architekt der techni- hatte er deshalb mit folgendem Absatz beendet:
sierten Welt hinfort Gehäuse. Das mag uns nicht ge- "Aber erst wenn das große Glück eines neuen Glau-
fallen. Aber Architektur wird so zu dem, was Walter bens den Menschen wieder zuteil werden sollte, wird
Gropius imperativisch von ihr verlangte, nämlich auch die Kunst ihr höchstes Ziel wieder erfüllen
zum ,Spiegel des Lebens und der Zeit'. Derart als und zu den herben Formen des Anfangs zum Zei-
soziale Kunst schlechthin gedacht, resultiert Bau- chen der innerlichen Verfeinerung die heitere
kunst aus einer festumrissenen Sozialstruktur, in Schmuckform neu erfinden können. "274
der sie sich bewegt und die sie mitvollzieht. Als Weil Architektur sich dem direkten Lebenszusam-
ästhetisches Produkt wird der einzelne Bau, der di- menhang nicht verweigern kann, muß sie auch mit
rekter als andere Artefakte sein Material auch aus den darin enthaltenen Widersprüchen konkret fertig
den gesellschaftlichen Zusammenhängen zieht, zum werden. In diesen Bezügen entwickelt sie Lebens-
sinnlichen Träger einer bestimmten sozialpolitischen modelle, gute wie mangelhafte. Der Architekt als
Erfahrung. Künstler ist selbstverständlich bemüht, ,ideale' Le-
Dieses Produkt wird nun seinerseits zum Objekt bensmodelle nicht nur in architekturutopischen
ästhetischer Aneignung und damit auch der Kritik. Entwürfen, sondern auch in seinen Bauten der Ge-
Die Potentialität für Kritik hat authentische Bau- sellschaft zur Verfügung zu stellen. In der folgenden
kunst in sich selbst, und als Spiegelbild des Lebens Analyse der Industriebauten Walter Gropius' soll
und der Zeit vermag sie den Lebenden der Zeit den dessen ,Lebensmodell' überprüft werden, um Auf-
Spiegel vorzuhalten. Als materialisierter Reflex auf schluß über seine Vorschläge zur Organisation
gesellschaftlich Widersprüchliches kann Baukunst menschlicher Arbeit in der Industriegesellschaft zu
auf ein dahinter Liegendes verweisen: in konkreter erhalten.

40
Walter Gropius' Industriebauten ste gut genug sei. Er nahm einen Künstler-Architek-
ten, den damals noch ziemlich unbekannten, auch
heute noch seiner radikal-modernen Bauweise we-
gen viel befehdeten Walter Gropius, und dessen
Das ,Fagus-Werk Kar! Benscheidt' Mitarbeiter Adolf -Meyer und führte ein Werk auf,
in Alfeld a.d. Leine 1910-1925 das den einen erstaunen ließ und dem anderen ein
Angesichts der ausführlichen Literatur 275 zum ,Fa- Kopfschütteln abnötigte. Zwingt nicht der Konkur-
gus-Werk Kar! Bendscheidt' in Alfeld an der Leine renzkampf zur äußersten Beschränkung, und muß
erscheint ein Kapitel zur Baugeschichte und Re- nicht Sparsamkeit, so meinte man, der oberste
konstruktion dieser Büro- und Fabrikationsanlage Grundsatz für den Industriebetrieb sein? Hier aber
wenn nicht überflüssig, so doch ein wenig überra- bauten Künstler eine Fabrik! Nicht äußerste Billig-
schend. Vor allem der werkmonographischen Erfas- keit, sondern größte Zweckmäßigkeit war ihr lei-
sung dieser Gropius-Bauten durch Helmut Weber tender Gedanke. Sie bauten auch nicht in der her-
scheint zunächst nichts mehr hinzuzufügen zu kömmlichen und altbekannten Weise, sondern sie
sein. 276 Eine genaue Rekonstruktion der einzelnen machten vieles anders, als man es bis dahin ge-
Bauphasen, wie sie sich aus den umfangreichen macht hatte." 277
Bauakten im Alfelder Städtischen Bauamt beinahe Der Autor dieses Berichtes gibt uns zwei Hinweise,
minutiös nachzeichnen lassen, muß dennoch der die für die Entstehung des Fagus-Werks von außer-
Analyse dieser Industrieanlage vorangestellt wer- ordentlicher Bedeutsamkeit sind: zunächst den auf
den. Denn bis heute führt das in Vergessenheit ge- die Alfelder Schuhleistenfabrik ,earl Behrens'. Der
ratene Faktum, daß der Bauzustand des Fagus- ältere Benscheidt hatte dem Betrieb seit 1887 als
Werkes nicht mehr mit dem ursprünglichen Ent- technischer Direktor278 angehört und hier grundle-
wurf und der ersten Ausführung übereinstimmt, gende Erfahrungen in der industriellen Schuhlei-
wieder und wieder zu falschen Datierungen. Für stenproduktion sammeln können. Außerdem -
uns ergeben sich daraus einige Akzentverschiebun- und das ist für unseren Zusammenhang wichtig -
gen bisheriger Rezeptionen, die das vorherrschende hatte er beim Bau des neuen Fabrikgebäudes der
Bild vom Ursprungsbau funktionalistischer Bau- Firma Behrens im Jahre 1897 den Hannoveraner
form in Deutschland geraderücken und vielmehr Industriearchitekten Eduard Werner kennenge-
zeigen, wie sich diese nurmehr langsam aus tradi- lernt 279 , den er dann 1910 mit der Projektierung
tionellen Bezügen herauskristallisiert hat, bis seines eigenen neuen Fabrikationskomplexes beauf-
schließlich jener Formenkanon erreicht war, den tragte.
wir mit dem Fagus-Werk verbinden. Und es ist zum anderen das herausgehobene Fak-
tum, daß mit Walter Gropius und Adolf Meyer zu-
sätzlich zwei ,Künstler-Architekten' verpflichtet
Baugeschichte wurden, was offensichtlich noch 1925 als Selten-
In einem Artikel in Westermanns Monatsheften heit und Wagnis galt, zumal für einen neu gegründe-
von 192 5, der die rege Industrietätigkeit in Alfeld ten, noch kleinen mittelständischen Betrieb wie das
an der Leine schildert, wurde der Schuhleistenpro- Fagus-Werk um 1910.
duktion dieser Kleinstadt besondere Aufmerksam- Daß mit der Berufung von Gropius/Meyer und der
keit geschenkt. Dort kann man lesen: Entscheidung für deren neuartige Architekturästhe-
"In Alfeld gibt es zwei große Schuhleistenfabriken, tik eine offensive und sehr selbstbewußte Haltung
die eine, gegründet von Carl Behrens im Jahre 1885, gegenüber der Behrensschen Schuhleistenfabrik ein-
ist auch heute noch die größte ihrer Art auf dem genommen und damit der lokalen Konkurrenzsitu-
weiten Erdenrund; die andere, das Fagus-Werk, mu- ation Rechnung getragen wurde, und daß sie dar-
stergültig modern, gewissermaßen die Keimzelle ei- über hinaus dem Selbstverständnis eines speziali-
ner neuen Industriekultur, darf hier nicht unbe- sierten, technisch innovativen Erfinderunterneh-
sprochen bleiben. mens 280 Ausdruck geben konnte, wird im folgen-
Als Karl Benscheidt der Ältere einige Jahre vor den zu zeigen sein.
dem Kriege dieses Werk gründete, brach er, obwohl Carl Benscheidt hatte sich offensichtlich schon län-
selbst ein Industriemann der alten Schule, mit der gere Zeit nach dem Tode seines Arbeitgebers earl
überlieferung, daß für den Industriebau das Billig- Behrens (1896) mit der Absicht getragen, den auf-

41
getretenen Differenzen innerhalb des Behrensschen Briefwechsel des Jahres 1911 zwischen Benscheidt
Betriebes durch die Neugründung einer eigenen und Gropius erstmals veröffentlicht wurde 292 , ist
Schuhleistenfirma zu entgehen. 281 Denn als Ben- eindeutig zu entnehmen, welche Rolle Gropius im
scheidt Anfang 1910 kündigt, ist alles gut geplant. Fagus-Werk-Projekt zugewiesen wurde. Alle be-
Schon im Oktober macht er die ersten Holzkäufe, triebsorganisatorischen Entscheidungen lagen in
überlegt mit Eduard Werner, wie eine ideal angeleg- den Händen Eduard Werners, die Fabrik beruht auf
te Fabrik "in etwa 1/4 der Größe der Behrens- seinem Lageplan, auf seinen Fundamenten.
schen"282 beschaffen sein müßte und hat im De- So oft Gropius auch versuchte, auf die grundlegen-
zember bereits Kontakte zu Walter Gropius, der de Planunr einzuwirken, es gelang ihm nur unwe-
ihm auf Grund der Vermittlung seines Schwagers sentlich. 29 Selbst Werners Außengestaltung ent-
am 7. Februar 1910 eine Offerte geschickt hat- sprach durchaus Zweckmäßigkeitsanforderungen ;
te. 283 Zu diesem Zeitpunkt sind Werners erste Vor- sie ist in der Umsetzung des Inneren in eine äußere
arbeiten, denen Gropius im folgenden konfrontiert Ablesbarkeit der Gropiusschen gar nicht so unähn-
sein sollte, wie z. B. dem Lageplan, der Konzeption lich; darauf wiesen schon Weber und Wulf Schaden-
der einzelnen Gebäudegrund- und -aufrisse bereits dorf hin, der dies dem starken Einfluß earl Ben-
in vollem Gange (Abb. 13), das Gelände, auf dem scheidts zuschreibt. 294 (Abb. 14, 49, 50) Die Fra-
die Fabrik entstehen soll, ist ausgesucht. 284 Sie ge ist umso mehr, was Gropius anders machen soll-
wird der Firma ,earl Behrens' gegenüberliegen; nur te, bzw. anders machen konnte.
durch Bahngleise voneinander getrennt wird man earl Benscheidt versprach sich einiges aus dieser
mit Blickkonfakt zukünftig nebeneinander leben Zusammenarbeit des Praktikers mit dem Künstler.
müssen. Ein recht provokanter Standort des neuen Dies ist dem entscheidenden Brief an Gropius vom
Konkurrenzunternehmens also, zumal auf schwie- 13. März 1911 zu entnehmen. Nach ungefähr zwei
rig zu bebauendem Sumpfgebiet, das aufgeschüttet Monaten heftigen Ringens um die jeweiligen Kom-
werden muß. 285 petenzen schrieb Benscheidt:
Als dann am 28. März 1911 die Firmeneintragung "Sie übernehmen die architektonisch, künstlerische
,Fagus G.m.b.H.'286 - später in ,Fagus-Werk Karl Baugestaltung unserer projektierten Fabrikanlage,
Benscheidt' umbenannt - vollzogen ist, sieht sich wofür die Konstruktionspläne bereits von dem Ar-
earl Benscheidt einer Konkurrenz von ca. 20 deut- chitekten Werner in Hannover in der Hauptsache
schen Schuhleistenfabriken 287 gegenüber, wird ge- fertiggestellt sind. Sie fertigen die durch Ihre An-
stützt von 800 000 Mark amerikanischem Fremd- ordnungen erforderlichen Pläne und Detailzeich-
kapital gegenüber 200 000 Mark EigenkapitaP88, nungen, soweit sie für den Bau und zur behördli-
verfügt also über wichtige Auslandsbeziehungen chen Genehmigung erforderlich sind, vollständig
und nicht zuletzt über amerikanische Produktions- an. Dabei werden Sie sich im Grundriß und in der
techniken, die er und vor allem sein Sohn nach ei- konstruktiven Anordnung an die Pläne des Herrn
nem Studienaufenthalt in den Vereinigten Staaten Werner anlehnen und nach Ihrem besten Können
zwischen 1910 und 1911 in den neuen Betrieb ein- bemüht sein, der ganzen Anlage ein geschmackvol-
bringt. 289 Die ,Fagus G.m. b.H.' betritt also den les Ansehen zu geben. "295
Markt auf einer finanziell gesicherten Grundlage, Es ist das von Benscheidt explizit vorgetragene,
mit modernstem know-how, als ein technisch hoch- durch Werners Entwürfe nicht befriedigte Bedürfnis
entwickelter Spezialbetrieb. nach einem ,geschmackvollen Ansehen', das ihn die
Warum earl Benscheidt, ein ,Industriemann der al- Berufung von Walter Gropius aussprechen ließ. Mit
ten Schule', dem erfahrenen Werner den jungen aller Eindeutigkeit ist das bereits dem ersten Brief
und in seinen Entwürfen unkonventionellen Walter earl Benscheidts an Gropius, der Antwort auf die
Gropius zur Seite stellte, ist oftmals mit der Per- Offerte, zu entnehmen:
sönlichkeitsstruktur earl Benscheidts erklärt wor- "In bezug auf die innere Anordnung und Ausgestal-
den, dem entweder gegenüber Gropius' Plänen tung der Bauten hat dieser Herr (Eduard Werner;
"Aufgeschlossenheit"290 attestiert wurde, oder des- K. W.) auch eine so große Erfahrung, daß ich kaum
sen "Mut wir", wie Siegfried Giedion meinte, "die glaube, eine bessere Kraft finden zu können. An-
Faguswerke"291 verdanken. Leider wurde der Be- ders urteile ich jedoch über die äußere Gestaltung
gründung dieser Haltung bisher zu wenig Beachtung der Bauten. Hier wird vielleicht der fragliche Herr
geschenkt. Dem Buch Helmut Webers, in dem der meinen Wünschen nicht ganz entsprechen, und in-

42
sofern Sie bereit sind, hierin bei dem Projekt mit- Mitarbeiters, des Architekten Karl Schneider, die
zuarbeiten, bin ich gerne bereit, mich Ihrer Dienste den ehemaligen Bürochef des Gropiusschen Bauate-
zu bedienen. "296 liers in Dessau, Ernst Neufert, noch heute mit Be-
Als Gropius nach dem ersten Treffen mit Carl Ben- geisterung erfüllen 301 , haben späterhin ihren Bei-
scheidt am 1. Februar 1911 in Hannover den Wer- trag zur überzeugung Carl Benscheidts geleistet.
nerschen Lageplan erhält und mit Änderungsvor- Die große Glas-Eisen-Fassade (Abb. 2, 5, 6) jeden-
schlägen nach Alfeld zurücksendet, antwortet ihm falls, diese Riesenfenster nach Gropius' und Meyers
Benscheidt am 20. März des Jahres recht eindeutig Entwürfen waren im Jahre 1911 sensationell und
damit, daß er "einen ganzen Satz der Wernerschen drückten im architektonischen Material eben das
Zeichnungen" 297 (Abb. 14 bis 17) beilege mit der Moderne, das Fortschrittliche, Tatkraft Bezeugen-
beharrlichen Bitte, "diese Pläne zu prüfen, um zu de aus, das im Inneren der Fabrik die Produktion
sehen, was Sie in bezug auf die Fassade machen erfüllen sollte. Daß diese Identifikation nicht bloße
können"298. Phantasie war, unterstreicht neuerlich eine Rekla-
Was Benscheidt erwartet und Gropius' Entwürfe zu me vom Juni 1980: Hier wirbt eine Fußbodenfirma
erfüllen versprechen, ist, der neuen Firma ein neu- für ihre Produkte mit der Abbildung des Fagus-
es, sich von anderen unterscheidendes Image zu ge- Werkes und dem Slogan ,Gropius hat Maßstäbe für
ben. Das vermochte Eduard Werner nicht, und Wal- die funktional betonte Industrie Architektur ge-
ter Gropius erinnerte sich 1959: "Der Entwurf des setzt'302. Der Verweis auf die Modernität seiner Ar-
Herrn Werner war gänzlich in Backstein, die ge- chitektur soll noch heute eine fortschrittliche, dem
wöhnliche Art von Fabrikbauten mit sehr wenig Neuen aufgeschlossene Unternehmensführung sug-
ästhetischen Bestrebungen. "299 gerieren, deren Produkte selbstverständlich auf
Werners Fassadengestaltung verblieb im üblichen dem höchsten Stand technischer Entwicklung sind,
Formenkanon, er arbeitete mit historisierenden wie einst Gropius' Fagus-Werk. 303
Motiven oder einer landschaftsbezogenen Fach- Helmut Weber hat in seiner Darstellung die sehr in-
werkarchitektur (Lagerhaus) (Abb. 33, 34) und teressante Auseinandersetzung zwischen dem Bau-
entwarf damit ein architektonisches Erscheinungs- herrn und seinem Architekten, d. h. die wesentli-
bild, das dem gegenüberliegenden Behrensschen Fa- chen Teile ihres Briefwechsels aus dem Jahre 1911,
brikationskomplex nichts Neues gegenüberzustellen dokumentiert. 304 Des besseren Verständnisses we-
vermochte. Was Eduard Werner an Qualitäten ga- gen möchte ich trotzdem noch einmal die wichtig-
rantierte, nämlich größtmögliche Ökonomie im sten Baudaten in Erinnerung rufen und Ergänzun-
Produktionsablauf und konstruktive Solidität, ging gen vornehmen, wie sie sich aus den Akten des
ins Fagus-Werk ein. Die Solidität des bewährt Tra- Alfelder Bauamtes ergeben haben.
ditionalen seiner Architektur aber wurde verwor- In einem Brief an die Alfelder Polizeiverwaltung
fen. machte Carl Benscheidt Mitteilung über seine neue
Das war Gropius' historische Chance. Das Indu- Fabrikanlage. Dieses Schriftstück gibt Aufschluß
stiellenbewußtsein der Benscheidts war geprägt über den produktionstechnischen Ablauf, die
durch die produktionstechnische Modernität ihres conditio sine qua non des Industriebaus:
neuen Betriebes. Diesem Bewußtsein konnte "über die Anlage selbst erläutern wir folgendes:
Gropius mit seinen neuartigen aufregenden Fassa- Das Grundstück ist im Westen durch die Chaussee
denentwürfen Ausdruck geben. Deshalb wurde ihm Hannover Alfeld und das Jiospital St. Elisabeth, im
die ,architektonisch, künstlerische Baugestaltung' Norden durch die Mengeschen-Arbeiter-Häuser und
übertragen. Man rufe sich nochmals ins Gedächtnis: die Neue Wiese der Realgemeinde, im Osten durch
Es gab die konkrete Konkurrenzsituation zwischen die Eisenbahn, im Süden durch eine Wiese der Fir-
der Behrensschen und Benscheidtschen Schuhlei- ma Strobel und die Fabrik von Künkel und Wagner
stenfabrik. Die eine hatte die jahrelange bewährte und die alte Molkerei begrenzt. Das Grundstück
Produktionserfahrung, die andere erfahrene Pro- wird mit Geleisanschluss versehen und hat 2 Zu-
duktionsleiter, aber noch keine eigenständige Fa- fahrtswege. Das Gelände dieses Anschlussgeleises
brikation. Ihr Vorteil gegenüber dem bekannten, liegt in gleicher Höhe mit dem Bahngelände. Von
alteingesessenen Betrieb war die technische Moder- dem Geleis bis zur Hannoverschen-Straße wird das
nität, die es zu nutzen galt, und dies eben auch op- Gelände mäßig abfallen und dementsprechend auf-
tisch. 300 Die Zeichnungen des damaligen Gropius- geschüttet."30s (Abb. 12)

43
Der Produktionsvorgang, der ungefähr ,,75-80 Ar- Die Fabrikation der Stanzmesser
beitsvorgänge"306 umfaßt, ist in seiner Abfolge klar
gegliedert. In der Sägerei (Abb. 42), "in der man 7 Die Fabrikation soll in besonderen Räumen auf
Personen zu beschäftigen"307 gedenkt, werden die dem südlichen Teil des Grundstückes erfolgen."
Rotbuchenstämme in entsprechende Werkstücke (Abb. 40, 41) "Es sind also diese Räume von der
zerlegt, die nach einer Vorbearbeitung sodann in Leistenfabrikation vollständig getrennt.
der Oämpferei (Abb. 45) durch einen Arbeiter des- Die Fabrikation der Stanzmesser erfolgt aus Profil-
infiziert und danach im Lagerhaus einem mehrjäh- stahl, welcher durch Schmieden in die ungefähre
rigen Trocknungsprozeß ausgesetzt werden. Form der Messer gebracht wird. Die Schmiede er-
"Zu diesem Zweck werden die einzelnen Etagen ga- hält an 3 Seiten Fenster, ausserdem erfolgt die Ab-
lerieartig mit Latten und Brettern nur soweit abge- führung der Schmiedegase durch einen 20 mtr. ho-
deckt, als dieses zum Aufstapeln der Leisten und hen Schornstein. Die weitere Verarbeitung der
zur Herstellung von Gängen erforderlich ist. Auf Stanzmesser erfolgt in der Schlosserei mittels Fräs-
diese Weise kann die Luft vom Boden bis zum und Schleifmaschinen (. .. ). Ein Sandschleifstein
Dach frei zirkulieren (. .. ). Zur Vermittlung des wird in einem besonderen Raume aufgestellt. Eben-
Transports zwischen den einzelnen Etagen soll ein so erfolgt die Härtung der Stanzmesser in einem be-
Fahrstuhl mit elektrischem Antriebe dienen. Der sonderen Raume. Die Giebel des Daches erhalten
Raum für den elektrischen Antriebmotor wird im Lüftungskla ppen.
Keller eingebaut und von den übrigen Räumen feu- In der Schmiede und Schlosserei werden insgesamt
ersicher abgeschlossen."308 (Abb.43/44) 25 Personen beschäftigt.
Auch im Lagerhaus (Abb. 35 bis 37) wird man ei- Das Kessel- und Maschinenhaus und der Schorn-
nen Arbeiter benötigen. Ist der natürliche Trock- stein sind von der vorläufigen Baugenehmigung aus-
nungsprozeß abgeschlossen, werden die Rohleisten geschlossen." (Abb. 25 bis 29) "Wir werden bei Ein-
einem künstlichen im Trockenhaus (Abb. 19) un- richtung des Conzessionsgesuches für den Dampf-
terzogen, wo sie weitere ,,4 bis 6 Wochen la- kessel hierfür besondere Pläne und statische Be-
gern"309 müssen, um schließlich zur Endbearbei- rechnungen einreichen. Nachdem diese Teile vor-
tung in den Hauptarbeitssaal zu gelangen. Dieser läufig von der Baugenehmigung (. .. ) ausgeschlos-
"ist eingeschossig und erhält Ober- und Seitenlicht." sen sind, hoffen wir, dass der baldgepfl. Genehmi-
(Abb. 17 bis 21) "In den Giebeln der einzelnen Sat- gung unseres Gesuches nichts im Wege steht und
teldächer sind Ventilationsklappen vorgesehen. Der wir bitten, uns zu gestatten, dass wir sofort mit
Arbeitssaal wird vollständig unterkellert. Das Kel- dem Ausschachten und Herstellen der Fundamente
lergeschoss wird die Transmissionen und die Zu- beginnen können. "310
und Ableitungsrohre für die Dampfheizung und die Bereits einen Tag zuvor, am 28. April 1911 311 , lie-
Entstaubungsanlage enthalten (. .. ). gen Eduard Werners Pläne der Behörde vor, die
In diesem Haupt-Arbeits-Saal sollen 24 Leisten- dem Bauantrag am 8. Mai 1911 bedingt stattgibt
Drehbänke, 2 Bandsägen, 3 Fräsmaschinen, 2 und mitteilt:
Kreissägen, 6 Bohrmaschinen, 2 Schmirgelscheiben, "Der Beginn der Erdarbeiten wird vorläufig nur un-
2 Stanzen und Spezialmaschinen und etwa 24 ter der Bedingung gestattet, dass Ansprüche oder
Schleif- und Poliermaschinen aufgestellt und etwa Forderungen irgend welcher Art nicht gestellt wer-
60 Arbeiter beschäftigt werden (. .. )." (Abb. 46/ den können, wenn die Prüfung der Unterlagen Ab-
47) änderungen erheischen oder gar die Baugenehmi-
"Das Kellergeschoss erhält im südlichen Teil den Ar- gung versagt werden sollte. "312
beiter-Speise-Saal in einer Grösse von etwa 90 Da die Alfelder Baubehörde zunächst einige Ein-
qmtr." (Abb. 16) "Während die Kellerhöhe im allge- wände gegen die Planung vorzubringen hat, wendet
meinen 2,60 mtr. beträgt, wird die Höhe dieses Au- sich die ,Fagus G.m.b.H.' an den zuständigen Re-
fenthalt-Raumes 2,80 mtr. betragen. Die Kleiderab- gierungsbaumeister Senff in Hildesheim, der u. a.
lage wird jedoch nicht in diesem Speisesaale, son- feuerpolizeiliche Bedenken ausräumt. Nach diesem
dern in einem anderen neben demselben gelegenen Gespräch kann Benscheidt in seinem Brief vom 16.
Raume erfolgen. Außerdem werden hier 5 Badezel- Mai 1911 die Alfelder Polizei behörde darüber in-
len und zwar 2 mit Wannen und 3 mit Oouschen formieren, daß "sich Herr Regierungsbaumeister
eingerichtet werden. Senff mit der Unterbringung des Essraums im Kel-

44
ler einverstanden erklärt. (. .. ) Das 2. Obergeschoss ners Konstruktion nicht wesentlich billiger wä-
des Hauptgebäudes (soll) vorzugsweise als Ausstel- re 319 , läßt sich Benscheidt überzeugen. Gropius'
lungs- evtl. Modellierraum benutzt werden. "313 Veränderung für die Raumfolge der Stanzmesserab-
(Abb. 48) Ferner werde "die Abort-Anlage auf Er- teilung können dagegen nur noch teilweise berück-
suchen des Gewerbe-Inspektors so geändert, daß sichtigt werden, da "die Ausschachtungen entspre-
vor jeder ein Vorraum entsteht". chend den Wernerschen Plänen ausgeführt sind
"Die Fenster der Arbeitsräume werden sämtlich mit (. .. )"320. Dann, am 22. August 1911, kann die
öffenbaren Kippflügeln, wie vorgeschrieben, verse- ,Fagus G.m.b.H.' der ,Polizei-Verwaltung der Stadt
hen (. .. ). Da Herr Regierungsbaumeister Senff sich Alfeld a. d. Leine' endlich mitteilen:
mit dem Beginnen der Betonarbeiten einverstanden "Im Anschluß an unser Baugesuch vom 29. April
erklärte, werden wir in den nächsten Tagen mit die- und die unterm 26. Mai erteilte Baugenehmigung,
sen Arbeiten beginnen und hoffen wir, dass Sie auch überreichen wir anbei in doppelter Ausfertigung
Ihrerseits hiermit einverstanden sind." 314 Pläne, welche die an unserer projektierten Anlage
Etwa 60 bis 70 Arbeiter aus Alfeld, so fügt man vorgenommenen Aenderungen darstellen.
hinzu, sollen am Bau arbeiten. Die Aenderungen bezwecken in der Hauptsache ei-
Am 20. Mai 1911 sind die Fundamentgräben und ne Umgestaltung der Fassaden, um von allen Seiten
ein Teil der Stampfbetonfundamente fertig, der ein möglichst gutes Gesamtbild der Anlage zu erzie-
Bauerlebnisschein für die Wernerschen Vorlagen len. Die innere Konstruktion der Gebäude hat im
wird am 26. Mai 1911 ausgestellt, die Grundsteinle- allgemeinen eine Aenderung nicht erfahren; Kon-
gung erfolgt schließlich am 29. Mai des Jahres 315 , struktionsaenderungen sind nur insoweit vorge-
am darauffolgenden Tag werden schließlich auch nommen worden, als dieses vornehmlich zur Er-
die zwei statischen Berechnungen für den Schorn- reichung des vorgenannten Zweckes erforderlich
stein mit der Bitte um Baugenehmigung nachge- war."32f (Abb. 23,24)
reicht. 316 Nach etwa einem weiteren Monat, am 23. Septem-
Walter Gropius und seine Mitarbeiter sind derweil ber 1911, wird die Bauerlaubnis für die Entwürfe
mit den Fassadenänderungen am Hauptgebäude des Gropius-Büros als Nachtrag zu den Wernerschen
(Abb. 17, 18), deren Berechnungen und den Vor- vom 26. Mai des Jahres erteilt 322 ; es folgt der Bau-
schlägen für die Schmiede und Schlosserei, die erlaubnisschein zur Büroeinrichtung der ersten Eta-
Stanzmesserabteilung, beschäftigt. Vor allem die ge des Hauptgebäudes am 15. März 1912, und am
großen Eisenfenster müssen gegen die provinziellen 30. Mai 1912 erhält die ,Fagus G.m.b.H.' schließ-
Baugewohnheiten, später auch die finanziellen lich die Schlußabnahmebescheinigung für die ge-
Bedenken des Bauherrn durchgesetzt werden. samte Fabrik 323 . Damit ist das erste Kapitel der Fa-
Benscheidt schreibt am 15. Mai an Walter Gropius, brikanlage ,Fagus-Werk' abgeschlossen und jener
man müsse sich "von einem hiesigen Schmiedemei- Bauzustand behördlich genehmigt, der uns heute
ster und der Fabrik ,Finestra' G.m.b.H. Düsseldorf- nur noch fotografisch dokumentiert ist. (Abb. 2 bis
Obercassel, Offerte auf die Fenster machen lassen. 11, 38)
Immerhin ist zu berücksichtigen, dass die Unterhal- Ruft man sich ins Gedächtnis, daß Carl Benscheidt
tung derartig grosser Fenster an einem solchen klei- - wie man bei Weber nachlesen kann 324 - zeitwei-
nen Platze wie Alfeld, mit allerlei Schwierigkeiten se erwogen hatte, auf die dritte Etage des Hauptge-
verknüpft ist. Die hiesigen Malermeister haben bäudes zu verzichten, da eine Nutzung der Räume
nämlich keine so grossen Gerüste, um derartige zu Produktionszwecken noch nicht absehbar
Fenster in Anstrich halten zu können. Die Fenster schien, so kann man es als Glück für ihn ansehen,
müssten aber doch wohl alle 2-3 Jahre gestrichen daß Gropius damals aus künstlerischen Gründen ve-
werden."317 hement für die Beibehaltung dieses Stockwerks plä-
Als Carl Benscheidt schließlich die Kostenberech- diert hatte. Denn die Erweiterung der Fabrikanalge
nung für die Fenster durch den Alfelder Schmiede- wurde schon kurz nach ihrer Fertigstellung not-
meister vorliegt, scheinen ihm die veranschlagten wendig. Zusätzliche, wenn auch unbedeutende Ge-
5000 Mark doch zuviel. Durch das Entgegenkom- bäude werden sogar noch vor der offiziellen
men der Firma ,Fenestra', die - wie E. Neufert be- Schlußabnahme von Gropius in Angriff genommen.
richtet - zu Recht mit einer Reklamewirkung rech- Die Pläne für einen Fahrradschuppen, einen weite-
nete 318 und Gropius' Aufrechnung, daß auch Wer- ren für Kisten und Packstroh sowie ein Wagen- und

45
Automobilschuppen 325 , alle an der Hannoverschen Erweiterung der westlichen Bürohausfront, die
Straße gelegen und heute abgerissen, tragen unter später das Bild vom Fagus-Werk als Inkunabel des
dem Datum 12. März 1912 seine Unterschrift 326 Funktionalismus, von der ersten ,curtain wall' der
und können eine Woche später von der ,Fa~s Architekturgeschichte prägen wird. (Abb. 73, 74)
G.m.b.H.' zur Baugenehmigung vorgelegt werden. 27 Die Pläne für den Hauptarbeitssaal (Abb. 71, 75,
Schon der erste umfassende Artikel über die ,Fa- 76) und das Bürogebäude bearbeitet das Büro Gro-
guswerke in Alfeld' im Januarheft des Jahrgangs pius gleichzeitig mit den Erweiterungen zur Schlos-
1913 der Zeitschrift Der Industriebau, worin uns serei (Abb. 77, 78) mit dem Härteraum zwischen
einige interessante Innenaufnahmen dieses ersten Januar und Februar 1914. Die statischen Berech-
Bauzustandes für heute bewahrt sind, kann auf den nungen unterzeichnet Gropius am 2. Februar 333 ,
Au.sbau aufgrund der Produktionssteigerung hin- die sodann vom Bauherrn der Behörde am 12. Fe-
weIsen: bruar 1914 334 zugeleitet werden. Inzwischen mit
"Der Hauptbetrieb um faßt die Herstellung von Lei- den Konstruktionen gut vertraut, erteilt diese
sten und ist vorläufig für die tägliche Produktion schon nach acht Tagen, am 20. Februar, die Bauer-
von 1500 Stück berechnet. Diese Produktionsfähig- laubnis. 335
keit hat die Fabrik allerdings bereits erreicht, so Damit ist das Fagus-Werk mit dem breiten Lager-
daß wahrscheinlich zum Frühjahr eine Verdoppe- hauskubus, dem sechsschiffigen Hauptarbeitssaal,
lung der Fabrikationsräume vorgenommen werden der nun durch ein horizontales, ohne gemauerte
muß."328 Stützen unterbrochenes Fensterband belichtet wird,
Offiziell wird aber das neue Bauvorhaben erst im den sieben angebauten Jochen mit den Vorhangfen-
Herbst 1913 eingeleitet. Am 6. September schreibt stern des Bürogebäudes und einem bisher fehlenden
die ,Fagus G.m.b.H.' an die Alfelder Baubehörde: Eingangstrakt (Abb. 72), kurze Zeit vor Beginn des
"Wir beabsichtigen unsere Fabrikanlage um das Ersten Weltkriegs so fertiggestellt, wie es heute
Doppelte ungefähr zu vergrössern. Von der Ver- noch von seinen Besuchern von der Hannoverschen
grösserung soll ausgeschlossen werden die Sägerei Straße, also von Süden her, wahrgenommen wird.
und der Dämpferraum. (Abb. 96 bis 101)
Wir behändigen Ihnen nun anbei die Pläne für die Im ersten Kriegsjahr tritt die ,Fagus G.m.b.H.'
Vergrösserung des Lagergebäudes, des Verbin- noch des öfteren an die Alfelder Baupolizei heran,
dungsganges zwischen dem Lagergebäude und dem denn die Kriegseinwirkungen zwingen zu provisori-
Trockengebäude und zwar in je doppelter Ausferti- schen Anbauten. Zunächst ist ein Lagerschuppen
gung (. .. )." (Abb. 69, 70) an der Hannoverschen Straße geplant (Abb. 83)336,
"Zur Erläuterung bemerken wir noch, dass die Er- später ein weiterer in der Nähe des Hauptarbeits-
weiterungsbauten sich in der Bauart wie auch in ih- saales, "zur Hälfte gemauert, zur Hälfte aus hölzer-
rem Verwendungszweck vollständig den früheren nen Pfosten hergestellt, die Gefache aus Fachwerk
Bauten anschliessen (. .. ). mit Ziegelbehang ausgeführt" 337 . Zwischen Februar
Trotz der Vergrösserung wird in der Sägerei, Dämp- und Mai des Jahres werden die Zeichnungen zu den
ferei, Lagergebäude und Trockengebäude die Zahl Veränderungen an der Südseite von ortsansässigen
der beschäftigten Personen in diesen Gebäuden Firmen eingereicht; noch im Februar 1915 besteht
nicht vergrössert."329 (Abb. 65, 66) die Nordseite der Fabrik, wie dem Plan zu dem er-
Diesem Bauersuchen, das von Architektenseite sten Provisorium entnommen werden kann, in ih-
Adolf Meyer in Vertretung für Walter Gropius be- rem ursprünglichen Zustand. Aber schon im März
treut, wird am 10. Oktober 1913 stattgegeben. 330 ändert auch dieser noch aus der ersten Bauphase er-
Die anderen bestehenden Gebäude werden nun haltene Bautenkomplex sein Gesicht. Ein großer
sukzessive in diesen Vergrößerungsprozeß der Fa- Hauptschornstein, den Gropius schon bei der Erwei-
brik einbezogen. Am 31. Dezember bittet die ,Fa- terung des Lagerhauses und den Trockenkammern
gus G.m.b.H.' um die Erlaubnis zur Sägereierweite- im Plan vom 5. September 1913 skizzierte (Abb.
rung 331 . (Abb. 68) Gropius überwacht die stati- 67), soll endlich nach seinem Entwurf ausgeführt
schen Berechnungen (unterschrieben am 27. De- werden (Abb. 87, 132). Er entsteht an der Längs-
zember 1913).332 Und schließlich reichten auch seite des Trockenhauses, dem Lagergebäude gegen-
das Hauptgebäude, also der Hauptarbeitssaal und über. 338 Schließlich eine weitere wichtige Verände-
das Bürogebäude, nicht mehr aus; Gropius plant die rung: Man plant ein neues Kessel- und Maschinen-

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haus, das in seiner architektonischen Erscheinung nahmt und nicht mehr verfeuert werden darf"342,
vollkommen in Glas aufgelöster Wandflächen die oder im Jahr zuvor ein "Pförtnerhaus"343 . Den An-
Modernitätsthese der Fagus-Werk-Rezeption end- trag zu diesem Provisorium begründet die Firma ge-
giiltig rechtfertigt und den Technikkultlern der genüber dem ,Stellvertretenden Generalkommando
zwanziger Jahre gerne als Vorwegnahme ihrer ästhe- X.A.K. Hannover' mit folgenden Argumenten:
tischen Bestrebungen dienen wird 339 . (Abb. 85, 86, "Wir beschäftigen bei Ausbruch des Krieges etwa
106, 107) 250 Arbeiter, jetzt dagegen hat sich die Zahl auf
Am 27. Oktober 1915 kündigt die ,Fagus G.m.b.H.' 450 erhöht, darunter etwa 250 Frauen und Mäd-
der Baubehörde dieses Gebäudes mit der Hoffnung chen.
an, "dass dem Beginn des Baues technische Beden- Bei unserem wenigen Aufsichtspersonal sind wir
ken nicht entgegenstehen"340. Da die Behörde je- nicht in der Lage, die Ordnung unter den Arbei-
doch nicht positiv reagiert, schickt das Unterneh- tern so aufrecht zu erhalten, wie es sein müßte.
men am 18. November einen weiteren Brief mit der U. a. sind uns in den letzten Wochen mehrere Treib-
"Wiederholung des Antrags auf Baugenehmigung riemen gestohlen worden, so daß die Aufrechter-
für das Kessel- und Maschinenhaus" und expliziert: haltung des Betriebes durch die mangelnde Kon-
"Unser bisheriger Bauleiter, Architekt Walter Gro- trolle gefährdet ist (. .. ). Alle Materialien sind aus
pius, hat die Ideen für die Anordnung der Bauten den vor dem Kriege vorgesehen und nicht ausge-
angegeben und die Zeichnungen geprüft. Derselbe führten Naubauten vorhanden (. .. ). "344
ist jedoch z. Zt. im Felde und so werden die Unter- Ein Hinweis, der angesichts des totalen Baustops für
zeichneten, Ingenieur Otto Wesselrr.ann, Inhaber Privatleute während des Krieges die erfolgreiche Be-
des Alfelder Eisenwerks und Herr Maurermeister scheidung des Antrags unterstützen mochte und
Dietrich Rhode in Firma Gebr. Rhode in Alfeld/L., darauf aufmerksam macht, daß die nach 1919
die bereits bei Ausführung unserer bisherigen Fa- errichteten Erweiterungs- und Neubauten offenbar
brikbauten mit tätig waren, für ihre Arbeiten ver- seit längerem vorgesehen waren.
antwortlich sein. Dann, vom Jahre 1921 an, finden wir den Namen
Die beabsichtigten Bauten werden im allgemeinen Walter Gropius wieder, der inzwischen Professor
in derselben Ausführung wie unsere bisherigen Fa- und Direktor geworden ist, und aus der ehemaligen
brikbauten hergestellt werden. Das Mauerwerk wird ,Großherzoglichen Kunstgewerbeschule' und 'Hoch-
im Äußeren mit gelben Verblendsteinen aufgeführt, schule für bildende Kunst' in Weimar das ,Staatli-
im Inneren werden die Wände mit verlängertem Ze- che Bauhaus Weimar' gemacht hat. 345 Der erste
mentmörtel geputzt. Der Fußboden des Kesselhau- Auftrag für das inzwischen in ,Fagus-Werk Kar!
ses erhält Klinkerbelag, der des Maschinenhauses Benscheidt'346 umbenannte Werk ist ein ,Haus für
Mettlacher Plattenbelag. Die Wände des Maschinen- eine Gleiswinde und Gleiswaage' (Abb. 88, 89). Die
hauses werden mit glasierten Wandfliesen beklei- statischen Berechnungen unterschreibt letztmals
det (. .. ). Gropius am 4. Oktober 1921 347 , die Bauerlaubnis
In dem Plan für das Kesselhaus ist der Platz für drei wird am 19. Dezember 1921 348 erteilt. Zwei Jahre
Zweiflammrohrkessel von je 100 Quadratmeter später, im Juli 1923, stellt das Fagus-Werk den An-
Heizfläche und mit Vorfeuerung vorgesehen. Vor- trag auf "Erweiterung des vorhandenen Kohlen-
läufig soll nur einer dieser Kessel zur Aufstellung und Spänebunkers" an der Bahnseite. Man erläutert
gelangen und die jetzige Lokomobile als Reserve das Bauvorhaben so:
benutzt werden. Die Lokomobile bleibt an ihrem "Dem Sinn des Gebäudes entsprechend, gemäß den
jetzigen Standort, jedoch wird das Lokomobilge- vorhandenen Gebäuden in einfachen großen For-
bäude umfaßt durch den Neubau. Mit der Fertig- men. Das aufgehende Mauerwerk wird mit Ver-
stellung des Neubaues wird das alte Lokomobilge- blendstein verkleidet. Die Beton- und Eisenbeton-
bäude" (Abb. 7, 25, 26) "entfernt."341 teile bleiben im rohen Zustand stehen (. .. ). Es ist
Bis zum Ende des Krieges holt die ,Fagus G.m.b.H.' also im wesentlichen nur ein großer luftiger Raum
weitere Baugenehmigungen für provisorisch zu er- geschaffen, welcher hauptsächlich auch zu Lager-
richtende Gebäude ein, die alle von ortsansässigen zwecken verwandt wird."349 (Abb. 90 bis 92)
Baufirmen gebaut werden. Es entsteht z. B. ein Im September 1923 schickt das Fagus-Werk die sta-
Bretterschuppen zur Lagerung des Sägemehls, das tischen Berechnungen an das zuständige Bauamt,
1918 "für kriegswirtschaftliche Zwecke beschlag- die nun Ernst Neufert in Vertretung für Walter Gro-

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pius unterschrieben hat. Für die "künstlerische Pro- und seiner Kontrollfunktion buchstäblich im Wege
jektierung" zeichnet das "Büro Gropius im Auftrag gestanden. Sie wird deshalb durch zwei Mauerwerks-
Meyer"350. Der Schriftzug Gropius' begegnet uns stützen ersetzt, wodurch der intendierte Raumein-
von nun an in den Bauakten zum ,Fagus-Werk Karl druck jedoch verlorengeht, obgleich man den Ent-
Benscheidt' nicht mehr. Es sind vor allem seine Mit- wurf ansonsten realisiert. (Abb. 93 bis 95)
arbeiter Adolf Meyer und Ernst Neufert, dieser spä- Das Bauvorhaben wird am 14. September 1924 ge-
ter in Alfeld, die die An- und Neubauten für den nehmi~. 354 Die statischen Berechnungen zu den
Architekten betreuen. Dieser hält selbstverständ- Entwürfen von Gropius und Meyer werden am 17.
lich seine Hand weiterhin über allem, nun da das September nachgereicht. Sie sind von Neufert in
Fagus-Werk in seiner architektonischen Erscheinung Vertretung von Gropius unterzeichnet 355 , außer-
festgelegt ist. Dieser Zeitpunkt, da Gropius die Fol- dem liefert die Hannoveraner Baufirma ,Robert
gebauten zum Faguskomplex mehr und mehr sei- Grastorf G.m.b.H.' ergänzende Berechnungen. 356
nen Mitarbeitern überläßt, ist nicht nur damit zu Als dann auch für diesen Bauvorgang die Schluß-
erklären, daß es sich im vorliegenden Fall von 1923 abnahmebescheinigung am 11. Mai 1925 erteilt
um einfache Ausbauten eines bereits vorhandenen wird 357 , ist das ,Fagus-Werk Karl Benscheidt' schon
Gebäudes und ein Jahr später lediglich um einen fast 15 Jahre alt. Jetzt erst hat es seine Gestalt an-
kleinen Neubau handelt. Als Bauhausdirektor steht genommen, die wir Heutigen in dem Fagus-Werk
Gropius zu diesem Zeitpunkt unter starkem politi- vor uns haben, sieht man einmal von den unwesent-
schem Druck; er muß für das Bauhaus in Weimar lichen An- und Neubauten des Sägereitraktes ab 358 .
Arbeitsergebnisse vorweisen und verwirklicht dies (Abb. 102 bis 105) Daß es uns so erhalten blieb,
auch in der berühmt gewordenen Ersten Baubaus- ist ein Glücksfall, den wir der frühzeiti~en Rettung
Ausstellung in Weimar, die im eigens dafür entwor- durch den Denkmalschutz verdanken 59, der das
fenen ,Haus am Horn' vom Juli bis zum September Werk durch Gesetz schon 1946 zum Kunstgegen-
1923 351 , also genau während des Zeitraums des Ge- stand erhob und es dadurch nach dem Zweiten
nehmigungsverfahrens für die Faguserweiterungen, Weltkrieg der geplanten Demontage entziehen
gezei~ wird. konnte.
Als dann im Juli 1924 die Holzdecke des Späne- Man vergegenwärtige sich: Der nordwestliche Fa-
hauses durch eine Eisenbetondecke ersetzt wird, brikationskomplex, das Lager- und Trockenhaus,
wickelt Neufert diesen Vorgang in Vertretung für und die Vorhangwand des Bürohauses - hier muß-
Gropius ab. 352 ten Gropius und Meyer ihre neuartige Ästhetik an
Auch der beabsichtigte Umbau des Pförtnerhäus- konstruktiven Vorgaben entfalten, die schließlich
chens wird von Neufert zusammen mit Benscheidt im Maschinenhaus mit den hinter die Glaswand zu-
der Alfelder Baupolizei zur Kenntnis gebracht. In rückgesetzten Eckstützen selbständig zu Ende ge-
ihrem Schreiben kündigen sie darüber hinaus "die dacht wurde. Dann die Vervollständigung moder-
Errichtung einer Grenzmauer am Eingang des Wer- nen Architekturvokabulars in dem vom Stijl beein-
kes"353 an. Einige Tage später folgen die Entwurfs- flußten Pförtner häuschen. Mit den sich durchdrin-
zeichnungen. Diese zeigen einen kleinen ein ge- genden Raumkompartimenten zeigt dieser kleine
schossigen Bau mit zwei Seitenräumen, bedacht Bau schon jene Merkmale in Vollendung, die spä-
von einer weit auskragenden Betonplatte, die ter mit dem Begriff ,Bauhaus-Stil' ge faßt werden
gegenüber dem Pförtnerfenster mit einer freiste- sollten. Obwohl Walter Gropius diese stilistische
henden Wand verzahnt ist und an der linken vor- Verallgemeinerung immer verabscheute 360 , konn-
deren Ecke stützenlos ausläuft. Der Einfluß des te er es nicht verhindern, daß fortan im Zusammen-
Raum- und Konstruktionskonzeptes der Stijl- hang mit dem Fagus-Werk vom ,Bauhaus-Stil' die
künstler ist unübersehbar, denn hier ist ein homoge- Rede war, ja der ganze Komplex mit seiner Fertig-
nes Raumkontinuum gebrochen, um durch inein- stellung im Jahre 1925 nun generell für diesen ein-
andergreifende Flächenelemente eher vage defi- zustehen begann.
niert zu werden. Währenddessen arbeitete man in Dessau an dem
Dieses offene Raumgebilde des ersten Entwurfs hat lichtdurehfluteten, scheinbar schwebenden Glasku-
paradoxerweise einen entscheidenden Nachteil: Es bus des Bauhausgebäudes, das zum Sinnbild des
ist nämlich unübersichtlich. Die freistehende Wand Neuen Bauens schlechthin wurde. Ein Architektur-
hätte dem Pförtner die geforderte Sicht versperrt programm hatte sich also durchgesetzt, interessan-

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terweise zu einem Zeitpunkt, da auch die Wirtschaft Zeitablau[ - Bewegung - Asymmetrie.
der neu errichteten Republik relativ stabilisiert wer- Der Grundriß
den konnte. Die Zeit des Experimentierens war da-
mit eigentlich vorbei; von Weimar nach Dessau ver- Der asymmetrische Lageplan des Fagus-Werkes, der
schlagen, konnte die Kunstschule ,Bauhaus' auf der die überschaubarkeit auf einen Blick, die selbstver-
abgesicherten künstlerischen Grundlage weiterarbei- ständliche Zuordnung der einzelnen Gebäude unter
ten, die Gropius und Meyer architektonisch im Fa- eine beherrschende Form ein zentrales Motiv nicht
gus-Werk Schritt für Schritt entwickelt hatten. zuläßt, provoziert dazu, die gegebene abstrakte Be-
Wohl nicht zufällig ist im Jahre 192 5 auch die au- wegungsfolge immer wieder aufzunehmen. Es ist
ßerordentlich produktive Zusammenarbeit dieser dem Betrachter nämlich unmöglich, in begriffener,
Architektengemeinschaft beendet worden. Meyer seinem Sein zugeordneter Weise kontemplativ zu
stellte sich zunächst auf eigene Füße, um durch die verharren. Um die Ursache dieser Raumfolge zu ent-
Vermittlung von Gropius schließlich im Stadtpla- decken, muß er in abermaliger Nachzeichnung eine
nungsamt Ernst Mays am Gesicht des ,Neuen Frank- von ihm wesensmäßig unterschiedene Selbstbewe-
furt' zu arbeiten. gung aufspüren. Die abstrakte formale Fassung des
Lageplans wird aber nicht sprachlos - wie das oft
für die moderne Architektur behauptet wurde 362 -,
sie verweist vielmehr auf ein raumbildendes Sub-
jekt, das unterschieden vom anschauenden Men-
schen naturähnliche Assoziationen nicht mehr er-
Bauanalyse
möglicht.
Worin das Neuartige der Fagus-Werk-Architektur Der Praktiker Eduard Wem er hatte den Produk-
besteht bzw. worin sich ein andersartiger künstle- tionsvorgang vom Baumstamm bis zum Versand
rischer Ei~enwert um 1910 auszudrücken vermoch- des fertigen Schuhleistens in eine Gebäudeabfolge
te, ist - nach Gropius' eigenem Verständnis vom gebracht, die den einzelnen voneinander getrenn-
Wesen des Architektonischen - aus dem Raum- ten Arbeitsabläufen entsprach. Das zentrale Prinzip,
erlebnis zu schließen, also zuallererst aus dem dem sich die Konzeption einer Industrieanlage un-
Grundriß; bei einer Industrieanlage wie dem ,Fagus- terzuordnen hatte, war die rationelle und zweck-
Werk Kar! Benscheidt', in der produktive und ad- mäßige Zuordnung der einzelnen Gebäude zueinan-
ministrative Funktionen in einem Bauensemble zu der, um einen möglichst zeitökonomischen Produk-
vereinen waren, aus dem Lageplan. tionsablauf zu ermöglichen. Das, so auch Gropius,
Wir erinnern uns: Dem organischen Willen war die sei "die Grundidee des Ganzen"363. Die geometri-
symmetrische Form als entsprechend oder ange- sche Darstellung dieses Sachverhaltes leistet die so-
nehm zugeordnet worden. Also entspräche die genannte Funktionslinie (Abb. 39), und an ihr hatte
Asymmetrie dem von Gropius geforderten und - Werner die Gebäudeanordnung orientiert. Wie die
ich möchte es in Umkehrung so nennen - anorga- kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten die
nischen Konstruieren. Gerade ist, so bildet beim Produktionsvorgang des
Wölfflin fand die symmetrische von der asymmetri- Fagus-Werkes die Funktionslinie den kürzesten Weg
schen Wirkung dadurch unterschieden, daß die zwischen dem Roh- und Fertigprodukt. Sie ist
Symmetrie beim Betrachter Ausgeglichenheit her- hier beinahe geradlinig. Als Zentrum und Achse be-
vorrufe, da die symmetrische, für sich abgeschlosse- stimmt die Funktionslinie die Lage der einzelnen
ne Gestalt in sich ruhe und daher Ruhe bewirke. Gebäude; deren direkte oder vermittelte Funktion
Dagegen könne die asymmetrische Gestalt keine im Produktionsablauf definiert ihre Nähe zur Funk-
feste Form erreichen, zwinge Bewegung hervor und tionslinie. Sie liegen also entweder direkt auf dieser
erzeuge daher Unruhe. 361 Das Bestreben des Men- Achse, wie das Lager und Trockenhaus, der Haupt-
schen bestehe aber vor allem darin - davon war arbeitssaal mit dem Versand (Abb. 4, 22) oder ord-
nicht nur Wölfflin ausgegangen -, sich die Welt sei- nen sich dieser zu, wie z. B. das Maschinenhaus,
ner eigenen Natur gemäß zurechtzuarbeiten, so daß aber auch die Verwaltungsräume. Als das wesent-
sie seinem nach Ruhe und Ausgeglichenheit streben- lich raumbildende Element der Industrieanlage, so
den Körpergefühl, seiner eigenen symmetrischen läßt sich jetzt erkennen, fungiert hier also die zur
Anlage, entspreche. Produktion benötigte Zeit, ja diese Produktionszeit

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präformiert den Gebäudezusammenhang. Die der- Raumkontinuum zu schaffen. Gropius entwarf nun
art entstandene Asymmetrie erschließt in der suk- für das Bürohaus eine Skelettkonstruktion aus auf-
zessiven Nachzeichnung des Lageplans den Produk- gemauerten Pfeilern (Abb. 1) - die Verkleidung
tionsvorgang selber und damit den Lebensnverv der mit den ledergelben Verblendern wurde in einem
Industrieanlage. Die Asymmetrie ist im Fagus-Werk Zuge mit den Aufrnauerungen vorgenommen 369 -,
aus dem Produktionsablauf gewonnen, dessen adä- vor die er geschoßübergreifende Fensterbahnen
quater Ausdruck sie in ihrer Bewegung simulieren- hängte. Er knüpfte dadurch an das ästhetische Kon-
den Wirkungsweise zugleich ist. Denn es geht um zept an, das durch die Eisenarchitektur historisch
den Ausdruck der Bewegung in Permanenz, die die erwachsen war und jenen wechselseitigen Bedin-
maschinelle Produktion sui generis fordert und die gungszusammenhang von Rentabilität, zweckmäßi-
in der Form des A-Natürlichen, der Asymmetrie ger Konstruktion und Form am eindrücklichsten
aufscheint. repräsentierte. Daß Gropius die Materialeigenschaf-
Walter Gropius hatte diesen Lageplan, die in einem ten des Backsteins diesem Konzept unterwarf,
rationalistischen Verfahren gewonnene asymmetri- mochte vom Standpunkt einer Materialnatur -
sche Raumfolge zu berücksichtigen. Gemäß seinem wie sie A. G. Meyer 1907 in dem Buch Eisenbauten
Postulat, einen "Bau von Grund auf zu druchden- idealtypisch herausgearbeitet hatte - geradezu wie
ken"364, also von der Grundrißkonzeption die äu- dessen Denaturierung erscheinen. 37o Diesem Um-
ßere Erscheinung zu entwickeln, mußten sich die stand mag es geschuldet sein, daß sich einige Auto-
aus der Notwendigkeit der Produktion entstande- ren diese Konstruktion fälschlicherweise gar nicht
nen Bewegungseindrücke in der Gebäudefolge auch anders als ein Glas-Eisen/Stahl-Gerüst vorstellen
im Aufriß wiederfinden lassen. konnten. 371
Gropius' Entscheidung für eine bestimmte architek-
Der Einfluß von Peter Behrens tonische Wirkung dominiert also die Wahl einer Ske-
und der AEG-Turbinenhalle. lettkonstruktion, die gleichwohl jener vergleichbar
Der Aufriß war, die bis dahin vornehmlich durch künstliche
Baumaterialien gewährleistet schien. Die wechsel-
Analog zur Bewegung evozierenden Asymmetrie seitige Verbindung, die die Architekturform mit
des Lageplans war die Aufrißgestaltung des Fagus- der Rentabilität in der industriell produzierenden
Werkes selber rhythmisch bewegt. Ihr entsprach eine Gesellschaft eingehen muß, um die zum herrschen-
Skelettkonstruktion, die den Raum nicht zusam- den ökonomieprinzip gewordene Produktionsöko-
menhängend, sondern in aneinandergereihten Kom- nomie auch ausdrücken zu können, war bereits in
partimenten schafft. Das hatten im 19. Jahrhundert der Asymmetrie des Lageplans deutlich geworden.
vor allem eiserne Binderkonstruktionen geleistet. Daß Gropius diesem Faktum auch in der Bürohaus-
Mit dem Eisen war erstmals ein Material zur Anwen- front unbedingt Rechnung zu tragen versucht, läßt
dung gekommen, dessen Stoffnatur der Produk- sich im weiteren an der Form der Stützen und an
tionsrationalität am besten entsprach. A. G. Meyer der Konstruktion der berühmten stützenlosen Ecke
hatte sie folgendermaßen charakterisiert: ,,( ... ) die zeIgen.
Wirkung des rationellsten Baumaterials, das die kon- Der Notwendigkeit, so billig und effizient wie mög-
struktive Aufgabe mit dem geringsten Volumen auf lich zu bauen, war Gro~ius beim Fagus-Werk immer
dem kürzesten Wege am schnellsten löst. "365 konfrontiert gewesen. 72 Wie die maschinelle Pro-
Die in der Materialökonomie des Eisens gewährlei- duktion zur rationellen Material- und Zeitausnut-
stete effiziente Raum- und Zeitbewältigung ent- zung zwingt, so hat auch eine Architektur, die die-
sprach dem, was Gropius als ästhetischen Impuls se Produktion organisiert, ja zu ihrem ästhetischen
betrachtete, nämlich "die schärfste Beanspruchung Thema macht, darauf Bezug zu nehmen. Für die
von Material, knappste Ausnutzung von Raum und Skelettkonstruktion des Bürohaustraktes wählte
Zeit"366. Walter Gropius mußte aber auf Grund der Gropius eine Stütze, deren Erscheinungsbild inso-
wirtschaftlichen Erwägung seines Bauherrn das Fa- fern überrascht, als sie nach oben hin zunehmend
gus-Werk in Backstein ausführen 367 , in einem Mate- hinter die Glasfront zurücktritt. Er trägt damit ei-
rial also, dessen Stoffnatur darin gesehen wurde, ner Tatsache Rechnung - darauf wies H. Weber
daß es "Masse mit Masse homogen vereinte" 368 und hin -, die der statischen Belastung einer Stütze
damit eher geeignet war, ein zusammenhängendes entspricht und verspricht, materialökonomisch zu

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sein. 373 Der nach unten hin zur Fassadenseite zu- danken der Jetztzeit, die sozialen und wirtschaftli-
nehmende Querschnitt wäre also zunächst die au- chen Ideen auszusprechen vermag, aber es sind eben
genfällig rationelle Stützenform. Nun weist aber nur die Mittel.
derselbe Autor nach, daß diese Stützen gegenüber Das Wie der Darstellung ist unerlernbar, ist intui-
ihrer rechnerisch notwendigen Querschnittsfläche tive Gabe des Genies. "378
entschieden überdimensioniert seien. 374 Gropius Sieht man einmal von dem pathetischen Gestus die-
benutzte also ein statisches Faktum, ohne es seiner ser Äußerung ab, so reduziert sie sich in bezug auf
,Natur' gemäß zu realisieren, es erscheint uns nur unser Problem darauf, daß Behrens zwar die ent-
so: Es geht ihm also. wesentlich um die architekto- scheidenden Impulse jener Bewegungsillusion vor-
nische Wirkung, die durch die geneigte Fassaden- gestellt hat, aber nur als Mittel, die auch anders an-
fläche der Stütze zu erzielen ist. Sieht man nämlich wendbar sind.
diese Stützen im Zusammenhang mit den vorge- Behrens hatte der maschinellen Bewegung Ausdruck
hängten Fensterflächen, so ergibt sich eine nach verliehen, aber er hatte es unter Mißachtung der im
oben hin intensivierte Schattenzone, welche die Eisenbau entfalteten Materialökonomie getan. Die
Wandebene aufreißt und belebt. Gropius verwan- Binder, die er plante, waren im Gegensatz zu den
delte so ein reines Element der Statik in ein ästhe- rechnerisch gefundenen Stabkonstruktionen voll-
tisches Motiv, wobei ihm gleichzeitig ein coup de wandig, also aufwendiger als rechnerisch notwendig.
theatre gelang. Indem nämlich die Fensterflächen Sie waren in ihrer konstruktiven Funktion betont
lotrecht vor den geneigten Flächen der Stützen sit- nach außen gestellt worden und da, wo sie in ihrem
zen, werden letztere als tragende Glieder in ihrer Bewegung evozierenden Gelenk konstruktive Insta-
Massigkeit optisch zurückgenommen. Sie sind de bilität suggerieren mochten, eingebunden in den
facto überdimensioniert, dennoch wirken sie - das Betonsockel. Die ganze Konstruktion war also be-
mer kte Posener kritisch an - "nicht konstruktiv" 3 7 5. tont kompakt. 379 Diese Konsequenzen hatte Beh-
Daß für diese Lösung die Turbinenhalle von Peter rens aus seiner Definition von Baukunst gezogen,
Behrens Pate stand, ist inzwischen zur Binsenwahr- die sich 1910 so las:
heit geworden. 376 In der Berlichingenstraßenfront "Das Eisen sowohl wie das Glas entbehren natur-
hatte Behrens das Verhältnis von Pfeiler zu Fenstern gemäß in der Erscheinung des Voluminösen der ge-
genau umgekehrt ausgedeutet. Die Gelenkbinder schichteten Steine. Aber durch eine wohlüberlegte
der Turbinenhalle verlaufen lotrecht, und die zu- Verteilung von Licht- und Schattenflächen (. . . )
rückgesetzten Fenster sind hier geneigt. Die mächti- in der Fassade, indem große Glasflächen mit den
gen Gelenke erscheinen frei vor der Fensterflucht eisernen Stützen zu einer Ebene zusammengezogen
eingebunden in einen Betonsockel und ein Beton- werden und andererseits Horizontalverbindungen
band, beide zusammen über mannshoch. Behrens kräftig hervortreten, kann dem Gebäude zur Kör-
war in der Wiederholung der Binder und kompak- perlichkeit verbolfen werden und dadurch auch
ten Binderfüße ein architektonischer Bewegungsaus- ästhetisch das Gefühl der Stabilität zum Ausdruck
druck gelungen, der die maschinelle Produktion gebracht werden, das ohne diese Anordnung trotz
mit den spezifischen Mitteln der Architektur ver- der rechnerisch beweisbaren Festigkeit im Eisen
sinnbildlichen konnte. 377 Diese Analogiebildung dem an Sinnfälligkeit gebundenen Auge verborgen
kann auch als Grundgedanke der Bürohausfront des bleibt. "380 '
Fagus-Werkes und des eingeschossigen Fensterban- Durch ein architektonisches Zauberspiel, so forder-
des zum Produktionsraum gelten. Aber, wie gesagt, te Behrens hier, sei auch den unkörperlichen Mate-
nur als Grundgedanke, als übernahme des Rei- rialien Körperlichkeit abzugewinnen. Behrens war
hungsprinzips im Skelett oder, um es mit Gropius' davon ausgegangen, daß der rechnerischen Stabili-
eigenen Worten von 1911 zu sagen: tät erst eine sensorische zugesellt werden müsse;
"Die exakt geprägte Form, jeder Zufälligkeit bar, beide seien also nicht identisch, der letzteren könne
klare Kontraste, Ordnen der Glieder, Reihung glei- erst durch den architektonischen Kommentar Ge-
cher Teile und Einheit von Form und Farbe sind nüge getan werden. Das hatte ihn bewogen, der Tur-
die Grundlagen zur Rhythmik des modernen bau- binenhalle die statisch überflüssigen Eckpylonen
künstlerischen Schaffens. der Vorderfront - man kann ruhig sagen - an die
Es sind gleichsam die Sprach mittel des modernen Seite zu stellen. Sie haben das Eisengerüst allein für
Architekten, mit denen er die schöpferischen Ge- das Auge zu befestigen. 381

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Gropius hat die Definition der Baukunst als Körper- zicht auf Dekoration, in der Reduktion auf ele-
und Raumgestaltung - wie sie Behrens vortrug - mentare Architekturformen mochte er aber nicht
folgsam wiederholt. Ein Jahr später, 1911, formu- so weit gehen, aus den neuen konstruktiven Bedin-
lierte er: gungen andere raumbildnerische Schlüsse zu ziehen,
"Körpergestaltung und als notwendige Folge davon als sie durch den traditionellen, am klassischen Vor-
Raumbegrenzung ist die eigentliche Aufgabe der bild orientierten Steinbau gültig waren. Er beharrte
Baukunst. Unabhängig von den Eigenschaften des auf einem Wahrnehmungsvermögen, das das her-
Materials muß sie die Wesenhaftigkeit, die tastbare kömmliche Verhältnis von Stütze und Last als Ga-
Undurchdringlichkeit der Bauteile als unerläßliche rantie einer sinnlich faßbaren Stabilität postulier-
Vorbedingung für die monumentale Körper- und te. 386
Raumwirkung behaupten und die Widerstände, die In der traditionellen Dreiteilung des Baukörpers in
sich aus dem jeweiligen Material ergeben, überwin- Sockel, Wand und Dach war der Erdbezug, wie er
den. "382 sich für den menschlichen Körper (Beine, Rumpf,
Allerdings war Gropius in der Beurteilung der bau- Kopf) als Teilnatur darstellte, anschaulich gewe-
technischen und volkswirtschaftlichen Realisation sen. Der Traum vom Fliegen begann erst Wirklich-
skeptischer als Behrens, er merkte nämlich an: keit zu werden; will sagen, was hierin zum Aus-
"Für unsere Zeit erscheint allerdings die Aufgabe druck kam, entsprach dem Stadium vormaschinel-
des Baumeisters sehr schwer, aus dem wesenlosen, ler Naturbeherrschung. Im Sockel hatte sich der
lichtdurchfluteten Eisengerippe wieder Körper und Bezug zur Erdbasis grundsätzlich verkörpert, das
Räume zu machen, ohne Störung der Technik, des Fundament garantierte die statische Sicherheit des
Gebrauchszweckes und der pekuniären Ökono- Oberbaus ad oculos, die durch Rustizierung oder
mie. "383 Böschung besonders sinnfällig gemacht werden
Als er dann seine erste selbständige Industrieanlage, konnte. Die Wand bedeutete den Raumabschluß,
das Fagus-Werk Karl Benscheidt, abgeschlossen hat- die Grenze zwischen Innen und Außen, sie gab
te, war aus der Berücksichtigung jener Faktoren Schutz vor der Außenwelt und garantierte die In-
nicht nur eine konkrete Variante zum Behrensschen timität des Innenraums. Das übergreifende Dach
Vorgängerbau, sondern auch eine alternative Raum- schließlich war die obere Zusammenfassung des ge-
Körperauffassung dessen entstanden, was er selber samten Raumkörpers. Das Giebel-, Walm- oder Man-
mit Behrens die "dargestellte Stabilität"384 nannte. sarddach stellte den Bezug zur Erdbasis direkt
Er hatte sich also gewissermaßen praktisch revidiert. wieder her. Wurde beispielsweise ein Flachdach,
Gropius hat diesen Widerspruch später bemerkt. In wie etwa bei Gottfried Sem pers Villa Rosa in Dres-
seinem Budapester Vortrag von 1934, den wir wie den von 1839, gewählt, so wurde durch das Auskra-
eine Bilanz seiner Arbeit bis zur Emigration verste- gen auch hier die zusammenfassende Funktion
hen müssen, kam er zu folgender Erklärung: deutlich, der Bezug zum Unterbau derart wieder
"als schüler von peter behrens kam ich lange vor aufgenommen. 387 Dem ordneten sich weitere Kom-
dem krieg zum erstenmal mit systematischer be- positionsmittel zu, axiale Bezüge um eine Mitte,
handlung architektonischer fragen in berührung. um eine Symmetrieachse sich versammelnd, und
in der mitarbeit an seinem bedeutenden werk und abschließende Eckformen, z. B. Risalite und Archi-
in zahlreichen gesprächen mit ihm und dem kreis tekturglieder, wie Pilaster. Darin entfaltete sich die
des ,deutschen werkbundes' bildete sich meine ei- Fassade, die als Schauseite mindestens drei Funk-
gene anschauung vom bauen. meine ersten arbeiten tionen zu erfüllen hatte: sie diente erstens der Ver-
entstanden freilich noch unbewußt, sie tragen zwar bildlichung von Ideen, die in reinen Schmuckfor-
schon deutlich die grund merkmale meiner späteren men auf Ideales, auf die Wahrhaftigkeit des Geistes
arbeiten, aber das eigene theoretische durchdenken, verwiesen; zweitens der Erläuterung des gesellschaft-
das bewußte verantwortliche vortragen einer idee, lichen Anspruchs eines Gebäudes und drittens als
um mit eigenen erkenntnissen bresche zu schlagen, Verweis auf Konstruktives, worin nach Semper die
setzte in mir erst nach dem erlebnis des Krieges eigentliche Aufgabe des Ornaments zu bestehen
ein. "385 hatte. 388 Eine derartige Raumorganisation ist an
Behrens hatte in der Turbinenhalle ein großartiges ein menschliches Wahrnehmungsvermögen gebun-
konstruktives Analogon für die in der Halle statt- den, das Statik mit Massigkeit und Abgeschlossen-
findende maschinelle Arbeit gefunden. Im Ver- heit verbindet. Ich muß sinnlich erfahren, daß et-

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was hält. Alle diese Wirkungsweisen waren mit na- "Die prätendierte Unmittelbarkeit ihres (der Mo-
türlichen Baumaterialien, wie Holz, Stein etc., ver- derne) künstlerischen Verhaltens ist durchaus ver-
bunden gewesen, aber durch die Glas-Eisen-Archi- mittelt. Der gesellschaftlich fortgeschrittendste
tekturen der Ingenieure tendenziell überkommen. Stand, deren eine Bewußtsein ist, das ist im Inne-
Das Stab hafte der Eisenkonstruktionen, die die ren der ästhetischen Monaden der Stand des Pro-
Massivität des Steinbaus konstruktiv überholt hat- blems. Die Kunstwerke zeichnen in ihrer eigenen
ten, die Gelenkbögen, die große Spannweiten in be- Figur vor, worin die Antwort darauf zu suchen
liebiger Reihung in große Raumzusammenhänge sei, die sie doch von sich aus, ohne Eingriff nicht
bringen konnten, hatten den bisherigen dreiteiligen zu geben vermögen; das allein ist legitime Tradi-
Baukörper zugunsten einer Skelettkonstruktion auf- tion der Kunst. Ein jedes bedeutende Werk hin-
gelöst. Sockel, Wand und Dach konnten deshalb in terläßt in seinem Material und in seiner Technik
völlig veränderten Bezügen zueinander existieren Spuren, und diesen zu folgen ist die Bestimmung
und wahrgenommen werden. Sie relativierten der- des Modernen als des Fälligen, nicht: zu wittern,
art ihre bisherige Bedeutungsebene. was in der Luft liegt. Sie konkretisiert sich durchs
Behrens hatte auf diese Dreiteilung des Baukörpers kritische Moment. Die Spuren in Material und Ver-
nicht verzichtet. Die Turbinenhalle hat einen aus- fahrensweisen, an die jedes qualitativ neue Werk
geprägten Sockel, eine Gebälkzone - sie ist aus Ei- sich heftet, sind Narben, die Stellen, an denen die
sen -, dazwischen die vollwandigen Binder mit den voraufgegangenen Werke mißlangen. Indem das
zurückgesetzten Glasfenstern, die eben in dieser neue Werk an ihnen laboriert, wendet es sich ge-
Einbindung, so mächtig sie auch sind, Fensterein- gen diejenigen, welche die Spuren hinterließen (. .. ).
schnitte bleiben; und sie hat die Eckummantelung Der Wahrheitsgehalt der Kunstwerke ist fusioniert
aus Beton. Für das Auge wird hier nochmals eine mit ihrem kritischen. Darum üben sie Kritik auch
Statik demonstriert, die im klaren, eindeutig vom aneinander. Das, nicht die historische Kontinuität
Menschen her gedachten Stabilitätsempfinden ihrer Abhängigkeiten, verbindet die Kunstwerke
begründet liegt, die aber eine Pseudostabilität ist; miteinander; ,ein Kunstwerk ist der Todfeind des
darin bleibt der Architekt Peter Behrens der anderen'; die Einheit der Geschichte von Kunst ist
Tradition verpflichtet. Dazwischen - dort, wo die die dialektische Figur bestimmter Negation."39o
Wandfläche zum Schaubild wurde - nahm er Diese ,dialektische Figur bestimmter Negation'
die neue Konstruktion als Vorlage, um in der entwirft Gropius am eindringlichsten in der stützen-
überhöhung der konstruktiven Arbeit geradezu losen Ecke. Hier denkt er zu Ende, was sich im
einen Hymnus auf die maschinelle Arbeit anzu- Grunde in der Turbinenhalle angekündigt hatte,
stimmen, ihren Bewegungsmythos zu entfalten. was Behrens aber architektonisch nicht auswerten
Er konstruierte der Turbinenhalle eine Fassade, wollte: die Auflösung des traditionellen Baukör-
die durch ihre Architekturglieder zur geronnenen pers.
Erzählung ihres Inhaltes wird, der ein ganz und gar Der Steinbau hatte in den Eckbildungen eine Kon-
neuzeitlicher ist. 389 zentration der Baurnassen gesehen, also ein gestei-
Alles das gibt es in der Wandlösung des Fagus-Wer- gertes Maß an Belastung. Dieser Sachverhalt war
kes nicht mehr. Gropius konterkariert geradezu al- oftmals im Außenbau durch Architekturglieder wie
les, was der Wirkung eines mit künstlichen Materia- Pilaster oder Lisenen veranschaulicht worden. 391
lien hergestellten Baus widersprechen könnte. Das Im Gegensatz zum Massivbau wird die tragende
war schon an der Stützenform gezeigt worden. Last der Fagusecke nun nicht mehr von einer gleich-
Gropius deutet die Turbinenhalle radikal aus, in- mäßigen Ummauerung aufgefangen, sondern durch
dem er deren Konstruktionsmöglichkeiten zu En- einen eisernen Unterzug auf die beiden Mauerwerks-
de denkt und deshalb zu einem Baukörper vor- pfeiler links und rechts des Kragarms diagonal über-
stößt, der die dargestellte Stabilität nicht mehr für tragen (Abb. 112) Der im Steinbau benötigte Auf-
das Auge bereithält. Die Turbinenhalle ist für Gro- wand an Materialmasse wird hier zu einer direkten,
pius das große Vorbild, die, mit Adorno zu spre- geradlinigen Verteilung der Last, zu einer material-
chen, "ästhetische Monade". Gerade Adornos Be- ökonomischen Verbindungslinie, die der typi-
stimmung dessen, was "legitime Tradition der schen "Kraft-Linie"392 des Eisenbaus gleichkommt.
Kunst" sei, läßt sich auf Gropius' Traditionsver- Gropius umhüllt nun diese ,Kraftlinie' ganz mit
hältnis zu Behrens anwenden: rechtwinklig aufeinanderstoßenden Glasflächen, er

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schafft einen durchsichtigen Raumkörper, wobei Eine Kunst auf intellektueller Basis also, ein Wider-
die ihn tragenden Kräfte unsichtbar bleiben. So spruch in sich? Doch wieder Kunst als eine vergan-
scheint er zu schweben, und es entsteht der Ein- gene? Erinnern wir uns an Riegl; er hatte ja gerade
druck, als truge sich, wie von Zauberhand, der Bau- die moderne Kunst auf das Wissen gegründet und
körper an dieser Stelle selber. Gropius erreicht die- darauf hingeweisen, daß eben jener "Teil, der für
se Wirkung, indem er die von ihm an klassischen die bildende Kunst von entscheidender Bedeutung
Bauten bewunderte Identität von Konstruktions- war, die Auffassung des Naturgesetzes"395 in der
und Kunstform, von rechnerischer und dargestell- industriell produzierenden Gesellschaft extrem ver-
ter Stabilität wirklich ernst nimmt. 393 Er denkt ändert sei. Gropius' Lösung ist ein Beispiel dafür.
nämlich die durch die veränderte Statik hervorgeru- Der Mensch findet hier nichts wieder, was sich an
fene Freiheit des frei ausschwingenden Kragarms seinen eigenen Kräften messen ließe; statt dessen
architektonisch zu Ende. In der Verglasung, die begegnet ihm eine Material- und Raumbeherr-
stützenlos ist, wird nachgerade vorgeführt, daß die- schung, die nur durch seine entwickelten Arbeits-
se Ecke gar nichts tragen muß. mittel, durch seine erweiterte Naturbeherrschung
Der Hintergrund dieser Lösung ist also Aufklärung zu leisten ist. Walter Gropius entfaltet an der stüt-
über den statischen Sachverhalt. Gropius vollendet zenlosen Ecke das Verhältnis des modernen Men-
in der Negativität - die Ecke trägt nichts, also zei- schen zur Natur paradigmatisch: keine Mimesis der
ge ich, daß sie nichts trägt - das Prinzip der Iden- Natur, sondern ihrer Beherrschung durch die Tech-
tität von Konstruktions- und Kunstform, und er nik. Sie aber ist für das bestimmte Konventionen
macht das recht wirkungsvoll, indem er am emp- gewöhnte Auge nicht mehr nachvollziehbar, weil
findlichsten Punkt den Akzent des Neuen setzt. sie rational und abstrakt ist. In diesem Wesen prägt
Daß er bereit ist, die Konsequenz aus dem verän- sie hinfort die Architekturform und ist darin au-
derten rechnerischen Sachverhalt zu ziehen, und thentisch.
damit nicht mehr, wie es noch für Behrens unab- Julius Posener kommt im Vergleich zwischen der
dingbar war, dem Auge eine Stabilität vorspiegelt, Turbinenhalle und dem Fagus-Werk zu dem Ergeb-
die de facto gar nicht so vorhanden ist, signalisiert, nis, daß das Fagus-Werk "im besten Falle wie Men-
daß hier auf ein anderes als das natürliche Verhält- delsohns Einsteinturm, Zeichen einer neuen Kon-
nis des Menschen zum umgebenden Raum, durch struktion gewesen sei: Aber der Vergleich mit dem
seine sinnliche Erfahrung geprägtes Stabilitätsemp~ Einsteinturm zeigt, daß er (der Bau, d. h. das Fagus-
finden Bezug genommen wird. Was das sein könn- Werk; K. W.) nicht einmal dies gewesen ist: Er ist
te, finden wir schon bei Behrens benannt: unkonstruktiv, vielleicht, mag der Architekt von
"Wir haben uns freilich schon an manche Konstruk- neuartigen Konstruktionen gesprochen haben, anti-
tionsform gewöhnt, aber ich glaube nicht daran, konstruktiv". 396
daß die auf mathematischem Wege berechnete Sta- Hier schafft sich Gropius' ästhetisches Wollen of-
bilität für das Auge sinnfällige Wirkung bekommen fensichtlich bestens Ausdruck, was Posener aller-
wird. Das hieße sonst so viel als eine Kunst auf in- dings dagegenhält. Gropius beschrieb seine künst-
tellektueller Basis, was einen Widerspruch in sich lerischen Absichten, die er im Fagus-Werk hatte
bedeutet. "394 realisieren wollen, später so, daß es ihm um "die
Es geht Gropius also offenbar nicht mehr um die schwebende Leichtigkeit der Baurnasse" zu tun war,
Sinnfälligkeit der Stabilität fürs Auge. Er appelliert daß er alle bisher "übliche Erdenschwere und Abge-
an etwas anderes, nämlich den menschlichen Ver- schlossenheit des Baukörpers aufbrechen"397 woll-
stand. Denn ist mir auch in der Eckbildung jegli- te, daß es ihm also genau darum ging, für das Auge
che Gewißheit einer Stabilität sinnlich entzogen, so antikonstruktiv zu wirken.
kann ich sie doch im Wissen um die konstruktiven Daß die stützenlose Ecke nicht nur der ästheti-
Zusammenhänge in meinem Bewußtsein realisieren. schen Wirkung zuliebe, sondern gleichzeitig auch
Mir wird beim Anblick der frei aufeinanderstoßen- aus Gründen der ,pekuniären Ökonomie' gewählt
den Glasflächen sozusagen ein Vertrauen in die Wis- worden war, soll hier nicht vergessen werden. In
senschaft der Statik zugemutet, denn weiß ich um der Replik auf Vorwürfe eines Mitarbeiters der
die Mauerwerkspfeiler und das System der Unter- Deutschen Bauzeitung referierte Gropius 1928, wie
züge, kann ich nun an Stelle der Stabilitätsempfin- es zu dieser Ecklösung gekommen war. Man hatte
dung Stabilitätsbewußtsein entwickeln. ihm nämlich vorgehalten, "einzelne bauglieder,

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(. .. ) nur der ästhetischen Wirkung zuliebe, ohne hinter die Flucht der Glaswand zurückgesetzt
sachliche begründung angewendet"398 zu haben. (Abb. 111), zwar fehlt eine sichtbare Dachbekrö-
Anhand einer schematischen Darstellung führte nung, es erscheint alles vermieden, was die Sockel-
Gropius damals aus: und Bedachungsassoziation hervorrufen könnte.
"bei der gliederung der großen glasfassade des Betrachtet man aber das untere Mauerband genau-
,fagus-werks' konnte die stützenordnung entwe- er, so fällt auf, daß Gropius - bevor er das leder-
der in dem sinne, wie sie der herr verfasser für rich- gelbe Klinkerwerk aufführt - mehrere liegende Zie-
tig hält (. .. ), oder aber in dem von mir gewählten gelreihen und darüber eine Rollschicht aus gesinter-
sinn (. .. ) unter weglassung der Eckstützen gelöst ten, also dunklen Klinkern aufmauern läßt. Sowohl
werden, in dem ersten fall müssen 10 stützen ge- die Farbwahl als auch die aus dem Mauerwerksver-
stellt werden, in dem anderen nur 9. ich ließ eine band herausstechende Rollschicht, der die Funktion
berechnung anstellen, welche konstruktion rentab- eines Fußgesimses zukommt, setzen die helle Auf-
ler sei; diese fiel zugunsten der (zweiten; K. W.) lö- mauerung klar ab und verdeutlichen das Sockelmo-
sung (. .. ) aus, denn die größere anzahl stützen er- tiv, wobei gerade die Farbwahl auf Erdhaftes ver-
gab höhere kosten, als die der eckauskragung des weist. Die Funktion des Sockels, daß er trägt und
Sturzes ausmachten. auskragende und schwebende dies auch für die statische Empfindung garantiert,
konstruktionen sind - unter umständen sogar un- wird aber sogleich durch die vor die Mauerwerks-
ter ersparnis von masse und mitteln - eben das cha- flucht tretenden Fensterflächen relativiert (Abb.
rakteristische der neuen beton- und eisenkonstruk- 101). Der Eindruck ihres Schwebens wird dadurch
tion. aus dem kragvermögen des eingespannten unterstrichen, daß der traditionelle Architekturteil
trägers aus eisen oder eisen beton resultiert eine zwar angedeutet wird, aber hinter die Fensterwand
neue formgebung, die der alte steinbau logischer- zurückgesetzt als aufgemauerter Sockel seine stati-
weise nicht zuließ. "399 sche Funktion verloren hat. Das gleiche Prinzip
bestimmt die Bearbeitung des Flachdaches. Das
Dach springt, wie vorher für Sempers Villa Rosa be-
Antithetische Architektur. schrieben, auch beim Fagus-Werk über die Wand-
Analyse eines Gestaltungskonzepts fläche vor, wenn auch nur gering; immerhin aber ist
Die Antithese zum alten Steinbau kann als das Ge- der Impetus, das Abschließende kenntlich zu ma-
neralthema des Fagus-Werkes betrachtet werden. chen, deutlich. Gropius fängt jedoch diese ehemalige
Selbst in den Einzelbauten, die als verputzte Klin- Dachfunktion auf, indem er zwischen den gebälk-
kerbauten ausgeführt sind, versucht Gropius, die artigen Mauerstreifen und dem Flachdach eine
Wirkung schwebender Baukörper hervorzurufen. hohlkehlenartige Fuge einfügt, wodurch die Dach-
Die Mittel, derer er sich bedient, zeugen von großer platte wie ein darüber schwebender eigenständiger
baukünstlerischer Geschicklichkeit, er entfaltet Bauteil wirkt und in seiner Beziehungslosigkeit
nämlich eine Architekturgeschichte in concreto, im zum Unterbau unterstrichen wird. Das alles dient
Baumaterial selber. Er negiert beispielsweise die dazu, dem Betrachter den historischen Bezug zwar
Dreiteilung des traditionellen Baukörpers, nicht mitzuliefern, allerdings nur, um in der gleichzeiti-
ohne ihn gleichzeitig zu zitieren, entfaltet das Neu- gen Negation des jeweiligen Architekturmotivs
artige umso eindrücklicher aus dem Zitat. Das Alte aufgehoben zu werden. Nicht in der Aus-, sondern
wie das Neue des Baukörpers ist in seiner Konfron- in der Rückbildung des Sockels, nicht im Lasten,
tation immer zugleich vorhanden und stößt sich sondern im scheinbaren Schweben des Daches
umso entschiedener voneinander ab. Das gilt für manifestieren sich Herkunft und Absagen als be-
alle Bauten des Fagus-Werkes. stimmte Negation.
Beginnen wir aber mit der Glasfront. Die Dreitei- "Die Form als solche", schreibt Wölfflin in seinem
lung des Baukörpers in eine fixierte Sockel- und Buch Kunstgeschichtliche Grundbegriffe, "muß
Dachzone mit der dazwischenliegenden Wandflä- vollkommen bekannt sein, bevor sie in die neue Er-
che bleibt hier spürbar: Ein Mauerband schließt scheinung überführt werden kann. "400 Diese Bedin-
nämlich die Vorhangwand in der Sockel- und Dach- gung führt Gropius mit beinahe lehrmeisterlicher
zone ab (Abb. 110). Dadurch wird eine eigenstän- Genauigkeit im Architekturgefüge selber vor.
dige Wandfläche ausgesondert, indem sie sie zu- Daß er durch bewußte Anspielungen an traditio-
gleich einbindet. Zwar ist das untere Mauerband nelles Formempfinden das spezifisch Andere seiner

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Architektur unterstreichen will, wird selbst in der Eckausbildungen im Massivbau bisher waren, nicht
,curtain wall', der gläsernen vorgehängten Wand- ohne ihn in dem anderen dominierenden Gebäude
fläche, nachweisbar. Die traditionelle Wand war als des Fagus-Werkes, dem Lagerhaus der ersten Bau-
tragende Mauerbegrenzung zwischen Außen und phase, wieder aufzunehmen.
Innen ebenso Projektionsebene architektonischen Hier begegnen wir den soeben dargelegten Gestal-
Schmucks; hier vor allem entfaltete man die Schau- tungsmitteln wieder (Abb. 61). Gropius setzt einen
seite. mehrgeschossigen, verputzten Raumkubus auf ein
Die Stärke einer Wand, der sichtbare Beweis ihrer mit gelben Verblendern aufgemauertes Sockelge-
Standfestigkeit, wurde z. B. durch tiefe Fensterein- schoß, das an der Basis die gleichen gesinterten Zie-
schnitte und in den dadurch hervorgerufenen Hell- gelreihen wie das Bürogebäude aufweist und als un-
Dunkel-, Licht-Schatten-Effekten ablesbar. Die ge- teres dunkles Sockelband alle Gebäude der Fabrik
samte Statik des Baukörpers kam selbst in der umzieht. Dieses Klinkergeschoß ist wie das Basis-
Wandebene derart nochmals wirkungsvoll zur An- mauerwerk der Vorhangwand hinter den Baukörper
schauung. Bei einer Skelettkonstruktion gibt die zurückgesetzt. Der massive Putzbau ragt dadurch
Wand ihre statische Funktion an das Gerüst ab. Sie über dieses Sockelgeschoß hinaus und gewinnt, bei
reduziert sich auf die reine Abgrenzung zum Um- entsprechendem Lichteinfall verstärkt, eine erstaun-
raum. Sie kann deshalb konsequent in Glas aufge- liche Leichtigkeit. Das Sockelmotiv erscheint also
löst werden, wird nurmehr Schutzhaut gegen Wit- auch hier in der Umkehrung seiner bisher wahr-
terung - als solche wollte Gropius sie auch verstan- nehmbaren Funktion, wodurch die intendierte
den wissen401 - und wird geradezu zum Zeichen schwebende Wirkung eines Raumkörpers durch-
der Naturbeherrschung des' Menschen, der das Ab- aus entstehen kann. Und auch hier zitiert Gropius
geschlossene, Mauerhafte zu seinem Schutze nicht sogleich die Dreiteilung des traditionellen Baukör-
mehr benötigt. pers, damit die neue architektonische Wirkung um-
Diese Wirkung der vollkommen in Glas aufgelösten so deutlicher werde. Durch ein kräftiges Gurtgesims
Wandfläche, die den gesamten Baukörper umzieht, grenzt er nämlich den Putzbau gegen das Attika-
ergibt sich beim Fagus-Werk immer erst, wenn man geschoß ab, das in seiner ehemals dunklen Schie-
den Blick an der Gebäudeflucht entlanggleiten läßt. ferplattenverkleidung 403 wie ein das die Wandflä-
Erst so erscheint sie als zusammenhängende gläser- che bekrönendes Dach wirkt (Abb. 7, 8). Auch hier
ne Vorhangwand (,curtain wall') (Abb. 103). Stellt provoziert die Farbwahl, wie bereits im Sockel, den
man sich jedoch dem Bürohaustrakt frontal gegen- architekturhistorischen Bezug. Allerdings bleibt der
über, so ergibt sich wieder das wechselvolle Spiel Eindruck, daß es sich hier um ein Geschoß handelt,
der Wandschichtung, indem die in ihren Außenflä- gleichermaßen bestehen und wird sogar verstärkt,
chen geneigten Stützen zwischen den lotrechten indem es sichtbar hinter die Flucht des Putzbaues
Fensterflächen rhythmisch Schattenzonen ergeben, gesetzt und von schmalen rechteckigen Fenstern
die durch die metallverkleideten dunklen Brüstun- durchzogen ist. Selbst in der Wandgestaltung des
gen in der Horizontalen aufgenommen werden. verputzten Baukörpers, und das gilt vornehmlich
Gropius hatte die Stockwerkhintermauerungen auf für den Bauzustand bis zur Veränderung im Herbst
Grund baupolizeilicher Bedenken vornehmen müs- 1913, kommt dieses Prinzip der Gegenüberstellung
sen, die tatsächlich konstruktiv überflüssig waren. 402 des Alten mit dem Neuen zum Tragen. Die Bezüge
Durch den stahlgrauen Anstrich ist hier aber betont des Lagerhauses und der angegliederten Mauerwerks-
eine dunkle Zone geschaffen, die die Fensterbahnen bauten (Sägerei und Trockenhaus) zur klassizisti-
jetzt regelrecht wie Stockwerksfenster voneinander schen Architektur sind des öfteren herausgearbeitet
abgegrenzt, die man wieder wie Wandeinschnitte worden 404 (Abb. 9). Leider hat man dabei überse-
auffassen kann. Je nachdem, welchen Blickwinkel hen, daß diese Bauten in ihrer Detailgestaltung
man also einnimmt, kommentieren sich Festigkeit ebenso wie die Bürohausfront über das zweifellos
und Durchlässigkeit, Raumbegrenzung und Raum- vorhandene Vorbild hinausgehen, oder - wie bis-
durchdringung. her dargelegt wurde - es relativieren. Zwar sind
Die radikalste und konsequenteste Ausformung die Lüftungsfenster horizontal wie vertikal zu Ach-
erfährt die Argumentation des Neuartigen schließ- sen zusammengefaßt, die horizontalen Verputzfu-
lich in der stützenlosen Ecke. Gropius verzichtete gen unterstreichen ihre Einbindung, aber über die-
hier auf den materiellen Hinweis dessen, was die se Ordnungsfunktion hinaus - sie weisen außerdem

56
auf eine Geschoßunterteilung hin, die es gar nicht rem als plan verlaufendes Mauerwerk, als durchlau-
gibt - haben sie wesentlich eine architektonische fende Wandfläche aufgeführt und werden erst spä-
Wirkung zu unterstützen. ter verändert (Abb. 97, 98). Ich meine deshalb, daß
Diese Feststellung führt noch einmal zur Turbinen- nur die Fugen der Lagerhauswände, die mit ihrem
halle von Behrens zurück. Man erinnere sich: Beh- grauen Verputz geradewegs an den Beton der Tur-
rens hatte die Eckpylonen durch horizontale Fugen binenhalle erinnern, eine direkte Verbindung mit
gegliedert, und zwar - wie er 1910 schrieb - aus dem Behrensbau rechtfertigen. Denn in den Hohl-
folgendem Grund: kehlen seiner Klinkerbauten gebraucht Gropius
"Die abgerundeten Ecken des Baus bestehen aus dieses Mittel nicht ausschließlich zur Bewegungs-
Beton und sind horizontal durch Eisenbinder un- evokation. Zwar entfaltet er auch keine Material-
terteilt, um dadurch als Füllungen zu erscheinen ornamentik, wie beispielsweise Bruno Taut in sei-
und zwar im Gegensatz zu den konstruktiven verti- ner Fabrik für die ,Dampfwäscherei Reibedanz &
kalen Stützen der Längsseite. "405 Co.' in Berlin Tempelhof (1914), aber Gropius zeigt
Was Behrens als Betonung der statischen Nicht-Be- doch - und das wird an dem herkömmlichsten Ge-
lastung gedacht hatte, wird von Gropius mit ähnli- bäude des Fagus-Werkes, der Standmesserabteilung
chem Impuls vorgetragen. Die Verputzfugen, die (Abb. 109), deutlich -, daß er die in Norddeutsch-
den ganzen Baukörper umziehen und ihn harmo- land beliebte Klinkertradition durchaus zu reflek-
nisch, in abgestimmten Maßverhältnissen unterglie- tieren und einzusetzen vermag. Seine Materialver-
dern, beleben zugleich die Wandfläche. Im Zusam- wendung ist im Gegensatz zu der Tauts streng.
menspiel mit dem zurückgesetzten Sockelgeschoß Macht man sich aber klar, daß Gropius zur Zeit der
und dem Orientierungspunkt Eckpylon der Turbi- Erweiterung des Fagus-Werkes die Werkbundfabrik
nenhalle wird die Intention deutlicher: der Wand schon plant und den Klinker hier durchaus orna-
die Schwere zu nehmen und den intendierten Bewe- mental verwenden wird, dann läßt sich wohl zu
gungsausdruck eines scheinbar schwebenden Raum- Recht schließen, daß er mit der Hohlkehle auch ein
teils zu unterstreichen. Dieser Wirkung weiß Gro- Schmuckmotiv meinte ;am repräsentativen Eingangs-
pius auch eine rein funktionale Begründung einzu- trakt des Fagus-Werkes allemal (Abb. 113).
verleiben. Er muß die Südwestecke des Lagerhauses Unterstrichen wird diese Interpretation weiterhin
belichten, da sich an dieser Stelle die geschoßver- dadurch, daß wir die Hohlkehlen - allerdings als
bindende Treppe befindet. Er wählt eine Lösung, Vertikalfugen - im Inneren des Eingangstraktes
die wiederum den Baukörper im Eckpunkt aufreißt wiederfinden (Abb. 123). Es gilt hier ebenso, was
und ihn dadurch rhythmisiert, daß die beiden Eck- K. E. Ost haus für die Angleichung der Innen- und
fenster zur Horizontalachse der Belüftungsöffnun- Außengestaltung am Hagener Krematorium von
gen versetzt sind. Nun war das um die Ecke gezoge- Peter Behrens feststellte, "daß die Außengestaltung
ne Fensterband spätestens seit Olbrichs Darmstädter der raumgliedernden Innengestaltung innerlich ver-
Hochzeitsturm bekannt, Gropius' Entwurf also zu- wandt"406 sei. Dieser Bau, den Gropius später als
mindest in diesem Punkt nicht unbedingt originell. "architektonisches Vorbild "407 seiner ersten Schaf-
Im Bautenkomplex Fagus-Werk aber ist diese Fen- fensphase benannte, führt ganz direkt zu Behrens
sterstellung wohl eher eine Variation der stützen- und dessen Behandlung repräsentativer Elemente
losen Ecke im Kleinen. Auf diese Weise erreichte zurück. Sie blieb prägend für die Innengestaltung
Gropius schließlich auch die Asymmetrie des ge- des Fagus-Werkes.
samten Baukörpers, denn nur an dieser Stelle war Das Fagus-Werk der ersten Bauphase besaß keinen
die Durchfensterung notwendig, und nur hier ist eigenständigen Repräsentationstrakt. Die Büros des
der ansonsten klar definierte, abgeschlossene Bau- Senior- und Juniorchefs waren in den Kontorbe-
körper auch durchbrochen. reich des ersten Stockwerks integriert, und man er-
Gropius beschränkt die horizontale Fugengliederung reichte sie über ein einfach ausgestattetes Treppen-
im ursprünglichen Entwurf - dem Bauzustand von haus im Nordwesten (Abb. 51, 56, 57). Am Ende
1913 entsprechend - allein auf diesen Putzbau. Die des Ganges war ein schmales Vestibül dem Warte-
gern genannten Abbilder dieser Behrensschen Hori- zimmer vorgelagert.
zontalgliederung, die Eingangsfront und die Aufriß- Die erhaltenen Fotografien vom Wartezimmer und
gestaltung des Trockenhauses, existieren entweder dem ebenfalls für Publikumsverkehr gedachten Mu-
zu dieser Zeit noch gar nicht oder sind bei letzte- stersaal, in dem Schuhleisten ausgestellt waren, zeig-

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ten allerdings eine aufwendige Wandgestaltung; ver- rung in der ihm eigenen Konsequenz ebenso, wie
mutlich sind die geometrischen Wandrahmen des er sie ganz selbstverständlich dem luxuriösen Mo-
Wartezimmers aus Schwarzglas gewesen, dem Mate- biliar des Hauses Mendel (1913/14) gleichberech-
rial, das wir im heutigen Eingangstrakt finden (Abb. tigt zugesellte (Abb. 53).
52). Dem Mustersaal hatte man einen dunklen Korbmöbel waren um 1910 zu beliebten Einrich-
Wandanstrich gegeben, der von einem Zickzack- tungsstücken avanciert. Allein die Jahrgänge zwi-
Fries abgeschlossen wurde (Abb. 54). Zierlicher als schen 1910 und 1914 der Zeitschrift Deutsche
der des Wartesaals, war er hier in farblicher Umkeh- Kunst und Dekoration wimmeln geradezu von Ent-
rung gearbeitet. Die gläsernen Trennwände, die würfen für Sessel, Stühle, Sofas, Tischchen und so-
auch heute noch die Büros zum Gang hin abschlie- gar Lampenständer aus diesem Material. Alles, was
ßen, zeigten eine profilierte Rahmung, die den Tür- unter den Raumkünstlern dieser Jahre Rang und
sturz wie Voluten einfaßten (Abb. 55, 58, 59) - Namen hatte, unterschiedliche Temperamente wie
eine Schmuckform, die Gropius drei Jahre später van de VeIde oder Emanuel von Seidel408 , mach-
im Bürohaus der Werkbundfabrik wiederholte und ten Designvorschläge, und Peter Behrens hatte
die, wie das jetzt bekannt gewordene Frühwerk ver- schon 1904 über Probleme bei der Serienfertigung
deutlicht, seine bevorzugte Ornamentform war nachgedacht, nicht ohne, wie seit 1907 Henry van
(Abb. 161). Dieses Geschoß war im Inneren also de Velde, auf die Vielfalt der Gebrauchsfunktion
aufwendig, und die der Öffentlichkeit zugänglichen solcher Möbel hingewiesen zu haben. 409
Räume wiesen eine vornehme Innengestaltung auf. Bald gehörten sie zum Ausstattungsbestand von
Mit Sicherheit waren die Büros der beiden Chefs Ausstellungsgebäuden; Behrens selbst richtete sei-
ähnlich gestaltet, vermutlich sogar mit den gleichen nen Sonderraum auf der Kunstausstellung in Düssel-
hellen Korbmöbeln ausgestattet, wie man sie auf dorf im Sommer 1907 mit Korbmöbeln ein, und
der zeitgenössischen Fotografie des Wartezim- Bruno Paul wählte sie 1910 für die Ausstellungsräu-
mers sieht und die von Beutinger im Grundriß des me der ,Vereinigten Werkstätten für Kunst im
Seniorchetbüros eingezeichnet worden sind (Abb. Handwerk' in Berlin. 410
51). Vier Jahre später fanden sie in Gropius' Bürogebäu-
Dieser Tatbestand ist bemerkenswert, denn Gropius de auf der Kölner Werkbundausstellung Verwen-
hat mit dem Verzicht auf das in Verwaltungsräu- dung, und nicht nur zur Möblierung des Dachgar-
men übliche, repräsentative Ledermobiliar eine tens, was nahelag, sondern auch im glasummantel-
Funktionsveränderung der betrieblichen Admini- ten Vorzimmer zur Büroetage. Die Freizeitstim-
stration augenfällig gemacht. Die Wirkung solcher mung des Außen-, des Naturraums, wurde so in den
Ledermöbel war beeindruckend gewesen, ihre kalt- dreiseitig verglasten Innenraum gerückt: Raumbil-
prächtige Materialexklusivität schuf eine Distanz dung und -ausstattung ergänzten sich zur Entspan-
zwischen dem Arbeiter, dem Angestellten oder Fir- nungs- und Erholungsarchitektur. Etwas von die-
menbesucher auf der einen, dem Repräsentanten sem Klima sollte schon die Möblierung im Fagus-
des Unternehmens auf der anderen Seite, die kalku- Werk spürbar machen. Es läßt sich aus den Unter-
liert und bezweckt war. Demgegenüber erzeugten lagen des Fagus-Werkes heute nicht mehr rekonstru-
die von Gropius gewählten hellen derb-materialwir- ieren, ob diese Möbel nach Gropius' Entwürfen ge-
kenden Korbmöbel - die als Gartenmöbel vertraut arbeitet wurden. Aus mehreren Gründen glaube ich
waren und die Behaglichkeit des Privaten ausstrahl- aber, daß sie von ihm stammen. Carl Benscheidt
ten - eine ganz andere, nämlich leichte, freundli- sen. hatte Walter Gropius engagiert, damit er die
che Raumstimmung. Die Kluft zwischen dem ,Ar- Anlage "architektonisch künstlerisch" 411 ausgestal-
beitnehmer-' und ,Arbeitgeberstatus' wurde so tat- tete. Das galt auch für die Innenräume. Deren Aus-
sächlich spürbar geringer, das ,sozialpartnerschaftli- stattung zeigte - wie wir sahen - ganz und gar den
che' Verhältnis damit sozusagen atmosphärisch von Behrens beeinflußten Architekten und Designer.
kreiert. Wir wissen durch Adolf Behne, daß Gropius, bevor
Daß Rohrgeflechtmöbel, damals wie gesagt vorran- er das Fagus-Werk plante, Möbelentwürfe für die
gig im Garten verwendet, diesem Gebrauch hier ent- Berliner Firma Gerson gemacht hat 412 und später
rückt werden konnten, war nicht allein Gropius' die Sitzgruppe im Eingangstrakt des erweiterten
Verdienst, aber in der Ausweitung auf den öffentli- Bürohaustraktes entwarf, wo sie noch heute zu se-
chen Bereich einer Firmenleitung eine Weiterfüh- hen ist 413 (Abb. 131). Gropius hat also die Ben-

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scheidts auch in Ausstattungsfragen beraten, wozu Behrens'.419 Auf Grund der engen Planungsbeteili-
er auch später als Bauhausdirektor beim Ausbau gung und Ähnlichkeit mit dem Fagus-Entwurf ver-
der Privathäuser der Benscheidts sen. und jun. mute ich aber, daß diese Zeichnung nach Behrens'
(1925) (Abb. 133, 134) und im selben Jahr bei der Angaben von Gropius entwickelt wurde.
Ausstattung einer Fagus-Werkswohnung Gelegen- Alle repräsentativen Gestaltungen sind also mehr
heit bekam 414 (Abb. 135, 136). Im Jahrbuch des oder weniger direkt durch Behrens beeinflußt.
Deutschen Werkbundes von 1912 ist ein von Gro- Selbst ein Beleuchtungskörper (Abb. 58), den Gro-
pius gestaltetes ,Herrenzimmer' abgebildet. 415 Die pius für das Fagus-Werk wählte, war in ähnlicher
Fotografie zeigt u. a. einen Sessel nach seinem Ent- Form bereits im Lesesaal der Düsseldorfer Landes-
wurf, der stilistisch den Korbsesseln im Fagus-Werk bibliothek (1904) von Behrens verwandt worden.420
eng verbunden ist. Es kann demnach mit großer Si- Gropius blieb vor allem im Aufgabenbereich der
cherheit angenommen werden, daß auch dieses Mo- Repräsentation noch ein Suchender, die originäre
biliar von ihm stammte und eventuell sogar von der Leistung gelang ihm am Außenbau, in der curtain
Firma Gerson geliefert wurde. wall.
Die zwar gegenüber üblicher Repräsentation redu-
zierte, aber dennoch deutliche Ausgrenzung der Glasarchitektur:
Chefbüros und der Räume, die der Öffentlichkeit Zum Verhältnis von Architektur und Gesellschaft
zugänglich waren, blieb aber für die Außengestal-
tung des Fagus-Werkes der ersten Bauphase noch Der utopische Entwurf
belanglos. Das änderte sich erst in der zweiten Bau-
phase, als mit der Verlängerung des Bürohaustrak- Im Jahre 1914, dem Jahr der Werkbundausstel-
tes in südwestlicher Richtung ein drittes Treppen- lung, der Entstehung des Tautsehen Glashauses,
haus die Funktion eines sichtbar eigenständigen der glasummantelten Treppentürme an Gropiusl
Portals übernahm (Abb. 113). Ober mehrere Stu- Meyers Werkbundfabrik und der Erweiterung der
fen betritt man einen Vorraum, dessen Wände mit Bürohausglaswand des Fagus-Werkes erscheint das
geometrischen Mustern aus Opakglas 416 gerahmt Buch eines Literaten, dem der Tautbau gewidmet
sind (Abb. 124 bis 130), die - wie die Wandgestal- ist und dem die beiden anderen zumindest verbun-
tungen in der Kontoretage - ohne die Innen- und den sind: Paul Scheerbarts Buch ,Glasarchitektur'421 .
Außengestaltungen von Behrensbauten undenk- Dieses ist seinerseits dem Architekten Bruno Taut
bar sind. zugeeignet und ein Plädoyer für die Glasarchitektur ,
Behrens hatte Wandrahmungen entwickelt, "flä- für eine bessere Gesellschaft. Scheerbart hatte sein
chige Lineamente", wie sie Fritz Hoeber nannte 417 , Organon für die Architektur mit einigen kleinen
die vornehmlich aus Hell-Dunkel-Werten bestanden Erzählungen abgeschlossen, darunter Der Architek-
und gleichzeitig Strukturierung und Schmückung tenkongreß. Eine Parlamentsgeschichte. Er schil-
der Fläche waren. In mehreren Ausstellungsbauten dert darin den Verlauf eines "Architektenkongres-
hatte Behrens diese Ornamentierung schon vor ses" im zweiten Viertel des 20. Jahrhunderts" in der
1910 realisieren können 418 , und sie warWalter Gro- Nähe der Stadt Brandenburg an der Havel"422 und
pius vertraut. Eine ähnliche Innengestaltung lernte verbindet damit die Geschichte des Portierssohns
Gropius bei einem Bau kennen, den er selbst als Georg Hannemann. Der wird von seinem Vater an-
Bauleiter des Behrensbüros betreute, dem zwischen gehalten, dem Kongreß von der Portiersloge aus
1908 und 1911 errichteten ,Haus Cu no ' in Hagen. beizuwohnen. Er soll nämlich Architekt und nicht,
Im K. E. Osthaus-Archiv gibt es eine Zeichnung der wie es Georg vorhat, Ingenieur werden. Auf diese
Stockwerkstreppe, die als direkte Planungsvorlage Weise, so meint der Vater, könne Georg "ein be-
zum Treppenhaus des Fagus-Werkes gelten muß. rühmter Mann werden und das Leben der Men-
Sie zeigt nämlich die gleichen vertikalen Putzfugen, schen köstlich ausgestalten"423. Zum Vorsitzenden
die gleiche Krümmung der Antrittsstufen einer des Kongresses macht Scheerbart den amerikani-
zweiläufigen Treppe, ein ähnlich einfaches und ele- schen Millionär Macpherson, und als ersten Redner
gantes Treppengeländer, nur kragen im Unterschied läßt er den "großen Architekten, den Geheimen
zur Hagener Villa die Podeste im Fagus-Werk wie- Regierungsrat Krummbach" , zu Wort kommen:
derum in einer stützenlosen Ecke frei aus. Die ",Meine Herren, die Staatsregierungen haben uns
Zeichnung zum ,Haus Cuno' firmiert unter ,Atelier Architekten diesseits und jenseits des Ozeans sehr

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ungeduldig gemacht. Wir sind nicht länger bereit, wenn man merkt, daß eine Glaswand immer warm
die Entwicklung der Architektur unserer Staatsge- sein kann, so wird man das Glas doch auch als warm
bäude hemmen zu lassen. Wir wollen mehr Glas - empfinden. Die kalten Kacheln in den holländi-
mehr farbiges Glas. Und wir wollen Stahlgerippe schen Häusern wirken auch warm. überhaupt: die
überall und keine Backsteine mehr und möglichst Gemütlichkeit.' Abermals ertönte stürmisches Ge-
wenig Holz (. .. ). Ich war, um Ihnen meinen Seelen- lächter. "425
zustand ganz deutlich zu zeigen, vor drei Jahren in Nachdem die Sitzung beendet ist und die Archi-
der alten Alhambra im fernen Granada. Und da war tekten sich alle "in große Glasrestaurants begeben"
ein Saal, in dem das Ornament zumeist aus arabi- haben, verspricht Georg dem Vater "Ingenieur und
scher Schrift bestand. Sah man näher hin, so er- Architekt" zu werden. Der Vater ist's zufrieden
kannte man plötzlich, was die Schrift sagte - über- und schließt mit folgendem Räsonnement:
all stand: Allah allein der Sieger. Das sprachen sieg- "Früher dachte man manchmal, man könnte auch
reiche Araber aus. So wollen auch wir als siegreiche als Portier berühmt werden. Aber von dieser An-
Architekten ornamental ausrufen: Das Grenzenlose sicht ist man abgekommen. Nur in der Architektur
das Größte. Wir wollen keine von der Welt vollkom- ist wahrer Ruhm zu erobern. Versrrich mir, daß du
men abschließende Wand - wie die alte Backstein- dir die größte Mühe geben willst!" 26
wand: wir wollen farbenprächtige, durchscheinen- Diese schöne Geschichte wird hier so ausführlich
de, doppelte Glaswände haben - überall - wo sie wiedergegeben, weil Scheerbart die ästhetischen
nur angebracht werden können - besonders in den und gesellschaftlichen Implikationen, die die Dis-
Staatsgebäuden. Wir wollen Wände haben, die uns kussion um die Glasarchitektur um 1914 und die
nicht abschließen von der großen, unendlichen Welt spätere um das ,Neue Bauen' in der Weimarer Re-
(. .. ). Wir wollen Wände haben, durch die die Son- publik bestimmten, mit großer Prägnanz darstellt.
ne scheint am Tage - und nachts der große Mond Es sind seine Aussagen über die Verbindung von
mit den Sternen des unbegrenzten endlosen Wel- Material, Architekturform und sozialem Gehalt, die
tenraumes.' Alle nickten mit den Köpfen. Jeder Gesellschaftsutopie der Glasarchitektur und die
Kongreßteilnehmer hatte einen kleinen Klumpen Grenze des Machbaren, die überwindung der Raum-
Blei zur Linken und eine silberne halbkugelartige grenze und die damit verbundene Veränderung des
Glocke zur Rechten. Schlug er mit seinem kleinen Verhältnisses von öffentlichkeit und Privatheit, die
silbernen Hammer auf den Bleiklumpen, so war er Auflösung der ,Gemütlichkeit' also, und es ist
nicht einverstanden mit dem, was ein Redner sag- schließlich das Postulat von der gesellschaftspoli-
te - erklang die silberne Glocke, so war er's (. .. ). tischen Führerrolle des Architekten und seiner Fä-
Da dröhnte aber der Bleiklumpen des Präsidenten, higkeit, einem demokratischen Gesellschaftsgefüge
und der Mr. Macpherson sprach: ,Wir wollen hier im Glasbau angemessene Sozialerfahrung durch
aber nicht schwärmen - sondern sachlich reden. Architektur zu schaffen. In diesen Bestimmungen
Durch schwärmerische Ansprachen, für die der erkennen wir die Bauten von Bruno Taut ebenso
praktische Amerikaner gar keinen Sinn hat, wird wieder wie die von Walter Gropius und Adolf Meyer.
der sachliche Ton irritiert. ,Oho' rief man nun von Ludwig Grote, der 1952 das Vorwort in einem be-
allen Seiten, ,wir können auch sachlich reden.' "424 gleitenden Katalog zu einer Gropius-Ausstellung
Scheerbart beschreibt nun, wie die Architekten aus schrieb, hatte die Beeinflussung durch Scheerbart
den verschiedensten Ländern der Welt mit sachli- umfassend und linear gesehen. "Gropius' runde,
chen Argumenten die Glasarchitektur befürworten. durchsichtige Treppentürme aus Glas sind Realisie-
"Schließlich wurden aber keine Beschlüsse gefaßt. rungen der Phantasien Scheerbarts von gläserner
Man beschloß nur, im Juli noch mal zusammenzu- Architektur (. .. )"427, meinte er vom Bürohaus der
kommen. Ein deutscher Konsistorialrat wollte Kölner Ausstellung. Präziser und richtiger ist aller-
noch behaupten, daß das Eisen doch nicht so ge- dings die Charakterisierung der Gropiusschen Glas-
mütlich sei wie das alte Holz. Diese Bemerkung architektur, die Adolf Behne im Vergleich der Aus-
weckte stürmisches Gelächter auf allen Seiten des stellungsbeiträge von Taut und Gropius fand:
Glashauses. "In ihrer (der Werkbundfabrik; K. W.) weitgehen-
Krummbach sagte: ,Das Eisen wird doch mit fein- den Verwendung des Glases ist sie ein Gegenstück
stem Email überzogen. Wir sind doch nicht so arm zum Tautschen Glashaus. Zeigt dieses (. .. ) das
wie im vorigen Viertel des 20. Jahrhunderts. Und - Glas vornehmlich in seiner künstlerischen Verwend-

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barkeit, so beweist die Gropiussche Fabrik, wie sehr ter ,Wertheimbau' , Bernhard Sehrings ,Warenhaus
das Glas in seiner rein praktischen Möglichkeit Tietz', beide in Berlin, oder in kleineren Städten
noch ausgenutzt werden kann. "428 wie Hannover das ,Warenhaus Morling & Co.' von
Und Behne fuhr fort: Hiller & Kuhlmann. Messel hatte die notwendige
"Auch lehrt dieser Bau sehr deutlich, daß das Glas Durchlichtung der Verkaufsräume schon weitge-
überall dort, wo es in großem Umfange herangezo- hend vollzogen, das Hannoveraner Warenhaus und
gen wird, notwendig eine Bresche legt in die uns ,Tietz' hatten sogar eine generelle Glasdurchfenste-
vom Backstein her gewohnten Monumentalfor- rung der Schauwand, Sehrings Bau besaß sogar eine
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