SRH Fernhochschule
Sozialpsychologie
Autoren
Heike Orth
Diplom-Psychologin
Ausbildung
Berufspraxis
Studium
Berufliche Tätigkeiten
Publikationen
l Zahlreiche Buch- und Fachpublikationen zu den Themen Stress und Burnout, Telefonkom-
munikation, Infotainment-Rhetorik sowie Transferstärke und Praxistransfer
Sozialpsychologie 5
André Kunnig
Diplom-Psychologe, Jahrgang 1971
Aktuelle Position
Berufliche Entwicklung
Weitere Tätigkeiten
Ausbildungen
Veröffentlichungen
Inhaltsverzeichnis
Autoren .................................................................................................................................... 3
Inhaltsverzeichnis ...................................................................................................................... 7
Vorwort .................................................................................................................................. 11
3.2 Die Frage nach dem Warum: Die Attributionstheorien von Heider und Kelley .......... 77
3.2.1 Die Attributionstheorie von Fritz Heider ........................................................ 77
3.2.2 Das Kovariationsmodell von Kelley ................................................................ 78
3.2.3 Attributionsverzerrungen: Fehler beim Prozess der Ursachenzuschreibung .... 83
3.3 Selbstattribution: Die Attribution von Erfolg und Misserfolg nach Weiner................ 85
3.4 Die Theorie der erlernten Hilflosigkeit (Seligman)..................................................... 88
3.5 Die Reaktanz-Theorie (Brehm) ................................................................................. 90
5 Einstellungen – Die Brille, durch die wir die Welt betrachten ......................................... 111
5.1 Definition und Bedeutung ..................................................................................... 111
5.2 Entstehung von Einstellungen ............................................................................... 114
5.2.1 Genetische Aspekte .................................................................................... 114
5.2.2 Kognitiv basierte Einstellungen ................................................................... 114
5.2.3 Affektiv basierte Einstellungen .................................................................... 115
5.2.4 Verhaltensbasierte Einstellungen ................................................................. 116
5.3 Änderung von Einstellungen ................................................................................. 117
5.3.1 Einstellungsänderung aufgrund von kognitiver Dissonanz ........................... 117
5.3.2 Einstellungsänderung mittels persuasiver Kommunikation........................... 118
5.3.3 Einstellungsänderung mittels Emotion......................................................... 122
5.3.4 Einstellungsänderung in Abhängigkeit von der Art der Einstellung und der
Kultur ......................................................................................................... 126
5.3.5 Resistenz gegenüber Einstellungsänderungsversuchen ................................ 126
5.4 Einstellungen und ihre Vorhersagekraft für zukünftiges Verhalten......................... 128
5.4.1 Messung von Einstellungen ......................................................................... 128
5.4.2 Vorhersage von Verhalten auf Basis von Einstellungen ................................ 130
5.4.3 Einflussfaktoren auf den Zusammenhang zwischen Einstellung und
Verhalten .................................................................................................... 133
Lösungen.............................................................................................................................. 191
Vorwort
auch wenn es fast trivial ist, es an dieser Stelle zu erwähnen – wir Menschen sind soziale Wesen.
Wir leben und agieren in verschiedenen sozialen Umgebungen und Gruppen: wir haben Familie
und Freundeskreise, wir arbeiten in Unternehmen in Teams, sind Mitglieder in einem Sportverein
oder Fans einer bestimmten Fußballmannschaft. Sicherlich haben Sie die Erfahrung gemacht, dass
wir uns in diesen unterschiedlichen Gruppen auch unterschiedlich verhalten – wir verhalten uns
anders, wenn wir in der Familie sind, mit unseren Kindern spielen oder auf Arbeit ein Teamprojekt
leiten und verantworten. Wahrscheinlich haben Sie auch schon die Erfahrung gemacht, dass Ihre
Leistungsbereitschaft oder Ihr Verhalten unterschiedlich sein können, je nachdem, wie Vorge-
setzte oder Kollegen sich Ihnen gegenüber verhalten. Aber nicht nur in dieser Hinsicht formt und
beeinflusst uns unsere soziale Umgebung. Wir bilden auch unser Selbst, indem wir uns einerseits
von anderen Menschen abgrenzen und uns andererseits als ein Teil von bestimmten sozialen
Gruppen definieren, die uns wichtig sind.
Mit Einflüssen dieser Art auf das menschliche Verhalten befasst sich die Sozialpsychologie. Sie
geht der Frage nach, wie andere Menschen bzw. bestimmte Situationen oder Rahmenbedingun-
gen unser Verhalten bestimmen. Wie Sie im Verlauf des Studienbriefes sehen werden, haben wir
es auf vielfältige Art und Weise in unserem Alltag mit sozialpsychologischen Fragstellungen und
Phänomenen zu tun. In diesem Studienbrief soll Ihnen die Sozialpsychologie nahegebracht wer-
den. Sie lernen das Fach in den Rahmen der Psychologie und anderer Nachbardisziplinen einzu-
ordnen. Sie erfahren darüber hinaus etwas über die Entstehung und Geschichte dieses Faches
und über aktuelle Entwicklungen und Herausforderungen.
Sie lernen in diesem Studienbrief klassische und prägende Untersuchungen der Sozialpsychologie
kennen, die jeder kennen sollte, der sich mit diesem Fach beschäftigt. Anhand dieser klassischen
Studien werden Sie erfahren, wie mächtig der Einfluss von anderen Menschen oder bestimmter
Situationen sein kann. Dabei ist es zum Teil schockierend, wie der situative Einfluss uns als Person
beeinflusst, obwohl wir uns selbst mit unseren persönlichen Eigenschaften vielleicht ganz anders
sehen.
Letztendlich werden die wichtigsten Theorien und Erkenntnisse des Faches dargestellt und es wird
immer versucht einen Bezug zum Alltag herzustellen, praktische Beispiele zu liefern und span-
nende und bahnbrechende Untersuchungen darzustellen. Die Sozialpsychologie liefert uns dabei
wichtige Erkenntnisse rund um die Themen Selbstwahrnehmung, Zuschreibung von Ursachen o-
der Einstellungsbildung. Das Wissen um diese Gesetzmäßigkeiten spielt eine wichtige Rolle, wann
immer Sie es mit Menschen zu tun haben: bei der Führung von Mitarbeitern oder bei betrieblichen
Veränderungsprozessen, bei der sozialen Arbeit oder bei der Bildung und selbstverständlich auch
in Ihrem Alltag, wenn Sie den Beeinflussungsversuchen der Werbung oder anderer Menschen auf
die Schliche kommen wollen.
Lernziele
l wissen Sie, aus welchem Blickwinkel die Sozialpsychologie menschliches Verhalten betrach-
tet;
l können Sie die Sozialpsychologie gegenüber anderen sozialen Wissenschaften abgrenzen;
l kennen Sie zentrale Eckpunkte in der Geschichte der Sozialpsychologie;
l kennen Sie drei klassische Experimente der Sozialpsychologie zur Macht sozialer Einflüsse;
l können Sie aktuelle Probleme und das ethische Forschungsdilemma der Sozialpsychologie
nachvollziehen.
Die Sozialpsychologie befasst sich mit vielen verschiedenen Phänomenen unseres alltäglichen Er-
lebens. Sie untersucht, wie Menschen übereinander denken, wie sie sich gegenseitig beeinflussen
und wie sie ihre Beziehungen zueinander gestalten. Es geht dabei um Themen wie Macht, Ag-
gressionen, Einfluss, Einstellungsbildung, Hilfeverhalten, Vorurteile und vieles mehr. Die Sozial-
psychologie befasst sich mit der Frage, wie andere Menschen und bestimmte Situationen oder
Objekte unser Verhalten bestimmen – kurz: sie befasst sich mit sozialen Einflüssen.
Praxisbeispiel
Ist Ihnen schon einmal aufgefallen, dass sich sogar bei Geschäftsmeetings oder Betriebsversammlun-
gen bevorzugt die hinteren Sitzreihen füllen? Sicherlich haben Sie auch schon häufiger erlebt, dass
Mitarbeiter und Kollegen sich gegenüber einer Führungskraft anders benehmen als sonst, dass sie
versuchen sich in einem günstigen Licht darzustellen. Oder haben Sie bei sich selbst schon erlebt,
dass es Ihnen schwerer fällt ein Thema vor einer Gruppe darzustellen? Haben Sie an sich selber schon
bemerkt, dass Sie im Urlaub instinktiv nach Ihrer Tasche greifen, wenn Sie sich in einer Gruppe frem-
der Menschen bewegen? Sicherlich haben Sie auch schon erlebt, dass die Arbeitsproduktivität in
einem Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen wird, weil Kollegen sich bei Teamarbeit zurückhal-
ten und nicht die volle Leistungsfähigkeit zeigen. Manchmal verstören uns auch Berichte in den Me-
dien von Unfällen oder Unglücken, wo viele Menschen Zeugen waren, aber niemand half.
Diese Beispiele verdeutlichen, wie wir von anderen Menschen und Situationen beeinflusst werden
und wie sich dadurch unser Verhalten oder das unserer Mitmenschen ändert. Genau dieses Spektrum
menschlicher Reaktionsweisen ist Gegenstand der Sozialpsychologie. Diese Beispiele zeigen aber
auch, wie alltäglich wir es mit sozialpsychologischen Fragstellungen und Phänomenen zu tun haben.1
Zur Definition des Faches Sozialpsychologie wird meistens auf die Definition von Gordon Allport
zurückgegriffen: „Sozialpsychologie ist der Versuch, zu verstehen und zu erklären, wie die Ge-
danken, Gefühle und Verhaltensweisen von Personen durch die tatsächliche, vorgestellte oder
erschlossene Anwesenheit anderer Menschen beeinflusst werden“2. Umgangssprachlich formu-
liert ist der Gegenstand der Sozialpsychologie die Untersuchung des sozialen Einflusses auf das
Individuum. Dabei umfasst sozialer Einfluss nicht nur direkte Versuche der Beeinflussung und Ein-
flussnahme auf das Verhalten, wie es beispielsweise durch Werbung geschehen soll, sondern auch
die uns nicht bewusste Art der Beeinflussung durch die bloße Anwesenheit anderer Menschen,
die nicht einmal mit uns interagieren müssen. Gemeint sind aber auch Beeinflussungen durch
Personen, die nicht einmal anwesend sein müssen. So hat zum Beispiel die vorgestellte Zustim-
mung oder Ablehnung von Partner, Eltern, Freunden oder anderen wichtigen Bezugspersonen
einen deutlichen Einfluss auf unser Verhalten.3
Auch andere Wissenschaftsdisziplinen wie die Philosophie, die Soziologie, die Wirtschaftswissen-
schaften, die Politikwissenschaften oder – innerhalb der Psychologie – die Persönlichkeitspsycho-
logie beschäftigen sich mit dem Einfluss sozialer Faktoren auf menschliches Verhalten. Diese Dis-
ziplinen unterscheiden sich hauptsächlich in den Analyseebenen. Ebenso konkurriert die Sozial-
psychologie mit Alltagswissen oder Volksweisheiten. Daher ist es sinnvoll, die Sozialpsychologie
von anderen Wissenschaftsdisziplinen ebenso abzugrenzen, wie von Alltagswissen.4
Zur Beantwortung der sozialpsychologischen Fragstellungen sowie zur Erklärung und Beschrei-
bung von den oben beispielhaft skizzierten Phänomenen, bedient sich die Sozialpsychologie wis-
senschaftlicher Methoden und grenzt sich dadurch von Alltagswissen, philosophischen Deutun-
gen oder dem gesunden Menschverstand ab. Bei den zu untersuchenden Phänomenen handelt
es sich um empirische Fragen, also solche, deren Beantwortung sich aus Experimenten und Mes-
sungen ableiten lässt. Zuvor aufgestellte Hypothesen, also gut überlegten Vermutungen darüber,
welche Situation zu welchem Ergebnis führt, werden mittels kontrollierter Experimente überprüft.
Dadurch ist es uns immer besser möglich, bestimmte Verhaltensweisen zu erklären und auch Vor-
hersagen zu machen, wenn wir die wichtigsten Bestimmungsstücke einer Situation kennen.5
Die der Sozialpsychologie am nächsten liegenden Disziplinen sind die Soziologie und die Persönlich-
keitspsychologie. Die Sozialpsychologie beschäftigt sich mit dem Individuum und fokussiert die Be-
antwortung von Fragen zur Beeinflussung innerpsychischer Prozesse durch soziale Aspekte. Die Ana-
lyseebene ist hier das Individuum im Kontext einer sozialen Situation. Im Fokus steht das „durch-
schnittliche Individuum“. Ziel dieser Forschungen ist es, eine gewisse Voraussagbarkeit von Verhalten
zu ermöglichen. So versucht die Sozialpsychologie beispielsweise zu verstehen und zu erklären, wes-
halb aggressive Handlungen ausgeführt werden – weshalb z.B. eine Schlägerei entsteht. Hierfür wird
untersucht, ob Frustration eine Rolle spielt und wenn ja, welche. Ist sie notwendige Voraussetzung
für die Ausführung einer aggressiven Handlung? Unter welchen Bedingungen führt Frustration zu
einer offenen aggressiven Handlung? Was ist verantwortlich dafür, dass Aggression nicht offen aus-
getragen wird? Welche Faktoren außer Frustration können zu aggressiven Handlungen führen?
Demgegenüber beschäftigen sich andere Sozialwissenschaften stärker mit dem Einfluss sozialer,
politischer, wirtschaftlicher und historischer Faktoren auf gesamtgesellschaftliche Entwicklungen.
Im Fokus stehen dort mehr Gesellschaftsgruppen als Einzelpersonen. Bezüglich der Gewalt z.B.
würde sich die Soziologie mit der Frage beschäftigen, weshalb die Gewaltverbrechensrate in ei-
nem Land höher ist als in einem anderen Land oder weshalb das offene Austragen von Aggression
in einer Kultur oder einer sozialen Gruppe stärker zutage tritt als in einer anderen. Die Analyse-
ebene ist in dieser Disziplin die Gruppe oder die Institution.
Die Persönlichkeitspsychologie untersucht ebenso wie die Sozialpsychologie das Individuum, je-
doch geht es hier nicht um den „Durchschnittsmenschen“, sondern es geht um Unterschiede
zwischen Personen. Hier wäre bezüglich der benannten Gewaltthematik also die Frage, welchen
Einfluss die Persönlichkeit eines Menschen auf seine Gewaltbereitschaft hat. Es wäre die Frage,
weshalb ein Mensch in gleicher sozialer Gruppe mit gleicher sozialer Herkunft Aggressivität offen
austrägt und ein anderer nicht. Die Analyseebene ist hier das Individuum.
Innerhalb der Psychologie ist die Sozialpsychologie ein Grundlagenfach, welches Niederschlag in vie-
len anwendungsbezogenen – auch über die Psychologie hinausgehenden – Fächern findet. So ist
sicherlich gut vorstellbar, wie unter anderem sozialer Einfluss oder Einstellungsänderung in der
Werbe- und Konsumentenpsychologie und beim Verkauf eine große Rolle spielen.6 Diese Themen
werden Teil dieses Studienbriefes sein. Ebenfalls enthalten sind sozialpsychologische Grundlagen, wie
sie zum Beispiel bei der Teamarbeit, bei Kommunikation und Führungsprozessen, bei der Meinungs-
beeinflussung sowie generell bei der Arbeit mit Menschen eine Rolle spielen. Dies sind Themen, die
beispielsweise in der sozialen Arbeit, aber auch in der Wirtschaftspsychologie und der Personalpsy-
chologie eine wichtige Rolle spielen. Hinzu kommen noch Macht- und Machtbeziehungen, Bewusst-
seinsbildung, sozialer Austausch und Hilfeverhalten, die in diesen Anwendungsfeldern auch von Re-
levanz sind.7 Bei der Personalauswahl spielen zum Beispiel Prozesse der Ursachenzuschreibung und
Wahrnehmungsverzerrung eine große Rolle.8 Letztendlich seien noch die Pädagogik und damit ein-
hergehend die pädagogische Psychologie genannt, die sich mit solchen Themen, wie Selbstkonzept,
Selbstregulation, (Klassen-)Führung aus dem „Grundlagenkasten“ der Sozialpsychologie bedienen.9
Da sich Menschen schon immer mit der Lösung von Problemen beschäftigt haben, ist es recht
schwierig und auch willkürlich den Beginn einer Wissenschaftsdisziplin zu benennen. So kann
man gerade im Hinblick auf die Psychologie von einer langen Vergangenheit und einer kurzen
Geschichte sprechen. Die Anfänge der Psychologie als eigene Wissenschaft beginnen mit der Ab-
lösung dieser aus der Philosophie im Verlauf des 19. Jahrhunderts.10 Als Vorläufer der Sozialpsy-
chologie können die Völkerpsychologie (1900 bis 1920) von Wilhelm Wundt mit der Grundidee
der Existenz einer Volkseele11 und die Massenpsychologie von Gustave Le Bon 1895 mit der
Grundidee „Die Masse ist die Quelle vieler Übel“12 angesehen werden. Weitere Wurzeln liegen in
der experimentellen Psychologie, welche gerade um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20.
Jahrhundert einen Aufschwung erlebte13. Daher lässt sich die Geburtsstunde der modernen Sozi-
alpsychologie um das Jahr 1900 datieren und besonders anhand von zwei Studien festmachen.
Im Jahr 1898 untersuchte Norman Triplett den Anstieg der Leistung bei einfachen Aufgaben durch
die Anwesenheit und Beobachtung der Leistung anderer Personen14. Triplett zeigte in seinen Stu-
dien zur sozialen Erleichterung, dass Menschen in einer Gruppe eher zusätzlich Energie freisetzen,
als wenn sie alleine agieren.15 Max Ringelmann (1890) stellte in seinen Studien fest, dass die Leis-
tung des Einzelnen abnimmt, sobald er in einer Gruppe ist. Die beiden ersten Bücher mit dem
Titel „Sozialpsychologie“ erschienen 190816 und stammen von den Amerikanern William McDou-
gall („An introduction to Social Psychology“) und Edward Ross („Social Psychology. An outline
and source book“) und können als Übergang zur modernen Sozialpsychologie betrachtet werden.
Einen Einfluss auf die Sozialpsychologie hatte ebenfalls der Behaviorismus. Diese 1913 von John B.
Watson begründete Schule der amerikanischen Psychologie hatte als Grundannahme ein einfaches
„Stimulus-Response-Schema“17. Die wissenschaftlich relevante Frage war hier, mit welchen unter-
schiedlichen Situationen Personen konfrontiert werden (Stimulus) und wie reagieren sie darauf
(Reaktion).18 Der Behaviorismus beschränkte sich auf das objektiv beobachtbare und messbare Ver-
halten und verzichtete auf die Berücksichtigung von Bewusstseinsinhalten. Gerade in der nachfol-
genden Entwicklung der Sozialpsychologie zeigte sich jedoch, dass vermittelnde Gedanken (Kog-
nition) und Gefühle (Emotion) für das zu beobachtende Verhalten von Relevanz sind.
Das Interesse an der Art und Weise, wie Menschen eine soziale Situation interpretieren, hat ihre
Wurzeln im Ansatz der Gestaltpsychologie, die damit eines der wichtigsten frühen theoretischen
Modelle der Sozialpsychologie darstellt. Die Gestaltpsychologie befasste sich mit der menschlichen
Wahrnehmung und wurde zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Deutschland von Kurt Koffka, Wolf-
gang Kohler, Max Wertheimer und ihren Studierenden entwickelt.20 Die Studien aus dieser For-
schungstradition der Sozialpsychologie richteten sich auf komplexe Kernerscheinungen des Grup-
penlebens, wie Kommunikation, Machtstrukturen, Meinungsbildung, interpersonelle Beeinflus-
sung und Gruppenzusammenhalt.21 In den 30er-Jahren emigrierten viele deutsche Psychologen
in die Vereinigten Staaten, um dem Naziregime zu entkommen und hatten in der Folge einen
großen Einfluss auf die amerikanische Psychologie.22
Zu den Emigranten zählte auch Kurt Lewin (1890-1947), der allgemein als Gründungsvater der
modernen experimentellen Sozialpsychologie gilt. Prägend für Lewin war der in den 30er-Jahren
in Nazideutschland um sich greifende Antisemitismus, den er als junger deutsch-jüdischer Profes-
sor erlebte. Diese Erfahrung beeinflusste sein Denken zutiefst. Lewins Ideen haben die amerika-
nische Sozialpsychologie ebenfalls entscheidend mitgeprägt und deren Interesse an der Erfor-
schung der Ursachen und dem Abbau von Vorurteilen und ethnischen Stereotypen hervorgeru-
fen.23 Lewin gründete nach seiner Emigration in den USA ein Forschungszentrum für
Gruppendynamik24. Als Theoretiker unternahm Lewin den mutigen Schritt, die zentralen Prinzi-
pien der Gestaltpsychologie auf die soziale Wahrnehmung anzuwenden. Er stellte sich dabei die
Frage, wie Menschen andere Menschen und deren Motive, Absichten und Verhaltensweisen
wahrnehmen. In innovativen sozialpsychologischen Ansätzen ging es Kurt Lewin bspw. um die
Untersuchung von sozial induziertem Einstellungswandel und um den Einfluss von Führungsstilen
auf den Gruppenprozess25. Lewin war der erste Wissenschaftler, der erkannte, wie wichtig es ist,
soziale Situationen aus der Perspektive der Betroffenen zu betrachten, um zu verstehen, wie sie
ihre soziale Umwelt erfassen (wahrnehmen, interpretieren und verzerren). Schon bald kon-
zentrierten sich die Sozialpsychologen stärker auf die subjektive Interpretation sozialer Situationen
(wie sie von den Menschen wahrgenommen werden).
Das Beispiel Lewin ist typisch für die Entwicklung der Sozialpsychologie. Denn obwohl es bereits
vor dem Zweiten Weltkrieg einige wichtige Forschungsarbeiten gab, wurden die meisten Theorien
und Forschungsarbeiten, die als Bestandteil der modernen Sozialpsychologie angesehen werden,
erst nach dem Zweiten Weltkrieg veröffentlicht.
Der Zweite Weltkrieg ließ das Interesse an sozialem Einfluss und an Einstellungsänderung rapide
zunehmen. Carl Hovland (1912-1961), der während seiner Jahre in der Armee Leiter einer Abtei-
lung war, die sich mit experimentellen Arbeiten über Massenkommunikation und der Einstellungs-
änderung durch Kommunikation beschäftigte26, begründete und leitete später das ausgespro-
chen einflussreiche „Yale Communication and Attitude Change Program“. Das Programm bildete
die Grundlage für die moderne Forschung zur Einstellungsänderung.
Darüber hinaus prägte der Nationalsozialismus und seine Schreckensherrschaft die Sozialpsycho-
logie der Nachkriegszeit bis in die 1970er Jahre nachhaltig. Sie geht in dieser Zeit grundsätzlich
von einer dunklen Seite des Menschen aus und versuchte zu erforschen, wie Millionen Menschen
Krieg, Völkermord, Deportation und die Zerstörung einer Zivilgesellschaft zumindest dulden konn-
ten oder gar unterstützen.27
Neben Kurt Lewin ist ein zweiter Auswanderer besonders zu erwähnen, der die Entwicklung der
Sozialpsychologie in den USA stark beeinflusste – nämlich Fritz Heider (1896-1988) aus Österreich.
Fritz Heider begründete zwei theoretische Traditionen (die Konsistenztheorien und die Attributi-
onstheorie), welche die Forschungsagenda der Sozialpsychologie in der Zeit nach dem Krieg be-
einflussten.
In den folgenden Jahrzehnten wurde eine Reihe von einflussreichen Theorien entwickelt, auf die
auch in diesem Studienbrief eingegangen wird. In den 1950er Jahren entstanden z.B. die Theorie
der Kognitiven Dissonanz von Leon Festinger28, einem Schüler von Kurt Lewin29, und die Theorie
26 Vertiefend dazu: Hovland, Janis und Kelley (1953); Hovland, Lumsdaine und Sheffield (1949); Hovland und Weiss (1951)
27 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 3
28 Vgl. Festinger (1957)
29 Vgl. Heinz (1999), S. 710
Sozialpsychologie 19
des sozialen Austauschs von John Thibaut und Harold Kelley.30 Ende der 1960er Jahre gab es eine
entscheidende Weiterentwicklung der von Fritz Heider begründeten Attributionstheorie. Es han-
delt sich dabei um das Kovariationsmodell von Harold Kelley31.
Der Schwerpunkt der Forschung verlagerte sich seither immer mehr zur Erforschung von kognitiven
Theorien hin. Auch wenn die kognitive Forschung schon vorher ein wichtiger Bestandteil war, spricht
man von der sogenannten kognitiven Wende. Themen sind seither Einstellungen, Dissonanztheorien
und Gruppenprozesse33. Ebenso ein wichtiges Thema war und ist die soziale Kognition, in deren
Fokus die mentalen Prozesse, die dem sozialen Verhalten des Menschen zugrunde liegen, stehen.34
Mit Ende des Kalten Krieges änderte sich das Menschenbild in der Sozialpsychologie und im Mit-
telpunkt des Interesses stand eher die Frage, wie Menschen ihr soziales Umfeld als positive Res-
source nutzbar machen können. Diese sogenannte „ausgewogene Sozialpsychologie“ befasst
sich mit den Ressourcen, die Menschen aus ihrer sozialen Umwelt ziehen, um beispielsweise Kri-
sen zu bewältigen oder prosoziales Verhalten zu zeigen.35
Die Geschichte der Sozialpsychologie ist auch geprägt von einigen sehr bekannten klassischen
Experimenten, auf die nun im nächsten Kapitel näher eingegangen wird. Diese Experimente grei-
fen eine für die Entwicklung der Sozialpsychologie wichtige Facette auf: Wie sind die Einflüsse
von Situation oder Persönlichkeit auf das nachfolgende Verhalten?
Mittlerweile weiß man in der wissenschaftlichen Sozialpsychologie, dass unser menschliches Ver-
halten eine komplexe Wechselwirkung zwischen den Merkmalen einer Situation und den jeweili-
gen Persönlichkeitseigenschaften ist. Die beiden Extrempole nennt man Situationismus (die Situ-
ation ist zentral für das menschliche Verhalten) und Dispositionismus (die Person mit ihren Eigen-
schaften ist prägend).39 Im Alltagserleben ist dies jedoch anders: Wenn Sozialpsychologen
versuchen, Menschen bewusst zu machen, dass ihr Verhalten in hohem Maße von ihrem sozialen
Umfeld beeinflusst wird, dann sehen sie sich oft einer gewissen Skepsis gegenüber. Das liegt
daran, dass wir glauben, dass unsere Lernerfahrungen, Werte und Überzeugungen uns sehr in
unserem Handeln bestimmen. Zeigt sich zum Beispiel jemand hilfsbereit oder grausam, dann füh-
ren wir dieses Verhalten auf die Persönlichkeit der Person zurück. Doch bei dieser Einschätzung
unterliegen wir dem sogenannten fundamentalen Attributionsfehler. Es ist die Tendenz, das Ver-
halten anderer anhand ihrer Persönlichkeitseigenschaften zu erklären und die Macht situativer
Einflüsse zu unterschätzen. Wenn wir uns Verhalten auf diese Art und Weise erklären, dann haben
wir das Gefühl einer stabilen und kontrollierbaren Umwelt und das Gefühl von Sicherheit. Erklären
wir uns beispielsweise abstoßendes Verhalten anderer Menschen mit deren Persönlichkeit, so liegt
der Makel in dem Anderen begründet und gibt uns das Gefühl, dies könnte uns nicht passieren.40
Wie stark der Einfluss des sozialen Umfelds ist, zeigen drei klassische Experimente in der Sozial-
psychologie, auf die im Folgenden näher eingegangen wird:
Gruppen können unser Verhalten auf vielfältige Art und Weise beeinflussen. Wir sprechen von
informativem sozialem Einfluss, wenn wir uns in unserem Verhalten an der Gruppe orientieren,
weil wir uns einer bestimmten Sache nicht sicher sind und die Gruppe als Informationsquelle nut-
zen. Hingegen sprechen wir von normativem sozialem Einfluss, wenn wir uns in einer Gruppe der
Meinung oder dem Verhalten der Mehrheit anschließen, weil wir nicht von der Gruppe abweichen
wollen und negativ dastehen wollen.41 Um die letzte Art des Einflusses geht es im Folgenden.
Asch konnte durch seine Experimente nachweisen, wie soziale Normen unser Verhalten beeinflus-
sen.42 Soziale Normen sind die expliziten oder impliziten Regeln in einer Gruppe, die besagen, wie
sich ihre Mitglieder verhalten sollten. Es sind spezifische Erwartungen bezüglich sozial akzeptierter
Einstellungen und Verhaltensweisen.
Wer sich einer Gruppe anschließt, bemerkt sehr bald, welche Verhaltensstandards existierten. Es gibt
eine Uniformität bestimmter Verhaltensweisen, die alle oder die meisten Gruppenmitglieder zeigen.
Verletzt jemand diese sozialen Normen, lassen sich negative Konsequenzen – sogenannter Gruppen-
druck – gegenüber dem Abweichler beobachten. Abweichler können von anderen Gruppenmitglie-
dern verspottet, bestraft oder sogar ausgestoßen werden. Angesichts des grundlegenden menschli-
chen Bedürfnisses nach sozialen Kontakten verhalten sich Menschen konform, um akzeptiert zu wer-
den. Bereits Kleinkinder im Alter von 2 Jahren passen sich im Verhalten der Gruppenmehrheit an, um
dazuzugehören, sogar wenn sie dafür eigene Nachteile in Kauf nehmen müssen.43
Konformität ist die Tendenz von Menschen, das Verhalten und die Meinungen anderer Gruppen-
mitglieder zu übernehmen. Konformität aus normativen Gründen liegt in Situationen vor, in de-
nen wir dem Beispiel anderer nicht deswegen folgen, weil wir sie als Informationsquelle nutzen,
sondern weil wir nicht auffallen, lächerlich gemacht, in Schwierigkeiten geraten oder ausgeschlos-
sen werden wollen. Von normativem sozialem Einfluss sprechen wir also dann, wenn der Einfluss
anderer uns zu konformem Verhalten verleitet, weil wir gemocht oder akzeptiert werden möch-
ten. Studien zeigen, dass diese Art der Konformität zu öffentlicher Compliance mit den Überzeu-
gungen und Verhaltensweisen der Gruppe führt, aber nicht unbedingt zu privater Akzeptanz.44
Es wird Sie wahrscheinlich nicht allzu sehr verwundern, dass sich Menschen konform verhalten,
um gemocht und akzeptiert zu werden. Was soll daran schlimm sein, mögen Sie denken. Denn
solange es keinem schadet, spielt es keine Rolle. Doch wie gut können wir wirklich dem Anpas-
sungsdruck von Gruppen widerstehen?
Dieser Frage ging Asch in seinem klassischen Experiment45 nach, bei dem er eine physikalisch völlig
eindeutige Situation schuf. Es ging dabei darum, in der Gruppe die Länge von drei Vergleichslinien
zu einer Standardlinie einzuschätzen. Eine der drei Vergleichslinien war dabei identisch mit der
Standardlinie (siehe Abbildung 4).
Asch führte sein Experiment mit Studenten durch. Den Probanden wurde gesagt, dass sie an
einem Experiment zur Untersuchung einfacher visueller Wahrnehmung teilnehmen. Die Proban-
den wurden an den vorletzten Platz in einem Halbkreis aus weiteren sechs bis acht Studierenden
gesetzt. Ohne dass die Teilnehmer dies wussten, waren alle anderen in den Versuch eingeweiht.
Es waren Vertraute des Versuchsleiters, die gemäß einem abgestimmten Plan reagieren sollten.46
Hier ist das Szenario47: Der Versuchsleiter zeigt jedem Teilnehmer zwei Karten. Eine mit nur einer
Linie darauf, die andere mit drei Linien, die mit 1, 2 und 3 gekennzeichnet sind. Er bittet jeden,
zu beurteilen und dann laut zu verkünden, welche der drei Linien auf der zweiten Karte bezüglich
ihrer Länge am ehesten der Linie auf der ersten Karte entspricht.
44 Vgl. Cialdini, Kallgreen & Reno (1991), S. 201ff.; Nail, McDonald & Levy (2000), S. 454ff.
45 Vgl. Asch (1951), S. 177ff.
46 Vgl. Asch (1956), S. 3f.
47 Vgl. Asch (1956), S. 4ff.; Aronson et al. (2014), S. 269f.
22 Sozialpsychologie
Es ist völlig klar, dass die korrekte Antwort „Linie 2“ lauten muss. Und so überrascht es nicht, dass
jeder der Teilnehmer „Linie 2“ sagt. Der uneingeweihte Teilnehmer ist, wie erwähnt, als Vorletzter
dran und sagt natürlich auch „Linie 2“. Der letzte Teilnehmer pflichtet ihm bei. Der Versuchsleiter
zeigt der Gruppe dann ein neues Kartenpaar und bittet sie wiederum, ihre Beurteilung laut zu
verkünden. Wieder ist die Lösung offensichtlich, und jeder gibt die korrekte Antwort. An diesem
Punkt hat vermutlich der eine oder andere gedacht: „Was für ein langweiliger Versuch.“
Dann aber passiert etwas Überraschendes. Der Versuchsleiter präsentiert ein drittes Kartenpaar,
und auch diesmal ist die Antwort offensichtlich – Linie 3 entspricht in der Länge eindeutig am
ehesten der Ziellinie. Doch der erste Teilnehmer verkündet, die richtige Antwort sei Linie 1. Dann
verkündet der zweite Teilnehmer, die korrekte Antwort sei Linie 1. Der dritte, vierte, fünfte und
sechste Teilnehmer stimmt dem zu. Dann ist der uneingeweihte Proband an der Reihe, der sich
verwirrt die Frage stellt, ob ihm etwas entgangen ist und sich die Linien nun ganz genau ansieht.
Für ihn ist klar: Linie 3 ist eindeutig die richtige Antwort.
Abbildung 5: Teilnehmer der Asch-Studie. Der wahre Proband sitzt in der Mitte.
(Quelle: Gerrig & Zimbardo, 2008, S. 675)
Dieses Dilemma für den uneingeweihten Probanden wurde in 12 der 18 Durchgänge wiederholt,
wobei jeweils andere Karten gezeigt wurden, deren Linienlängen unterschiedlich waren. Ange-
sichts dieser Eindeutigkeit erwartete Asch, dass die Probanden trotz des sozialen Druckes der
Gruppe rational und objektiv richtig reagieren würden. Um diese Hypothese zu überprüfen, un-
tersuchte er zwei Gruppen: eine Experimental- und eine Kontrollgruppe.
Die Probanden der Kontrollgruppe gaben ihr Urteil jeweils schriftlich und nicht öffentlich ab, ohne
zu wissen, wie der Nachbar geurteilt hatte und es ergab sich in 95% der Fälle die richtige Antwort.
Bei den Probanden der Experimentalgruppe zeigte sich dagegen ein Ergebnis, das ganz und gar
nicht der Erwartung von Asch entsprach. Lediglich 24% der uneingeweihten Probanden passten
sich bei keinem der Versuchsdurchgänge an die Gruppenmeinung an. Anders ausgedrückt: 76%
der Teilnehmer verhielten sich bei mindestens einem der Durchgänge konform. Ungefähr 31%
der Teilnehmer gingen bei 7 und mehr von 12 Durchgängen – also bei nahezu allen Durchgängen
– konform mit der Gruppe.48
Ein Teil der Versuchspersonen gaben bei der Nachbefragung an, tatsächlich überzeugt gewesen
zu sein, dass die Gruppe Recht hatte. Sie zweifelten an ihrer eigenen Wahrnehmung, glaubten
an optische Täuschungen oder waren einfach der Meinung, dass nicht die ganze Gruppe falsch
liegen könne. Manche fingen an zu zweifeln, waren verwirrt und auch frustriert, das sie nicht das
sahen, was die Gruppe sah.49 Bei anderen spielte offensichtlich der normative Druck der Gruppe
eine Rolle bei der Anpassung an die Mehrheitsmeinung. Obwohl die Probanden die anderen Teil-
nehmer nicht kannten, war die Angst, der einzige Abweichler zu sein, so groß, dass sie sich an-
passten. Zumindest gelegentlich. Ein Proband erklärte: „Es gab die Gruppe. Sie hatte eine feste
Vorstellung. Meine Vorstellung wich davon ab. Das hätte Verärgerung geben können ... ich fiel
völlig aus der Rolle ... ich wollte mich nicht blamieren ... ich war mir sicher, dass ich recht hatte
... (aber) sie hätten mich für sehr sonderbar halten können.“50
Die Probanden wussten also teilweise, dass es falsch ist, was sie taten, verhielten sich jedoch
trotzdem anders, um nicht als Narr dazustehen. Asch beschreibt einige Teilnehmer, die der Mehr-
heit in den meisten Fällen nachgegeben haben, als „desorientiert“ und „von Zweifeln geplagt“.
Er sagt, sie „erlebten einen mächtigen Impuls, nicht von der Mehrheit abweichend zu scheinen“.
Diejenigen, die nachgaben, unterschätzten den Einfluss des sozialen Drucks und die Häufigkeit
ihrer Konformität. Einige behaupteten sogar, dass sie die Linien wirklich als gleich lang wahrge-
nommen hatten, trotz der offensichtlichen Diskrepanz.51 Dies würde bedeuten, dass dieser zuletzt
benannte Teil der Studienteilnehmer möglicherweise tatsächlich die Gruppe als Informations-
quelle nutzte und es sich um einen informativen sozialen Einfluss handelte. Die Teilnehmer, die
aber wussten, dass die Gruppe falsch lag und sich dennoch konform verhielten, obwohl sie in-
nerlich anderer Überzeugung waren, unterlagen dem normativen sozialen Einfluss. 52 Dies nennt
man öffentliche Compliance ohne private Akzeptanz. 53
In anderen Studien variierten Asch und auch andere Forscher drei Faktoren: die Größe der ein-
stimmigen Mehrheit, die Anwesenheit eines Partners, der von der Mehrheitsmeinung abwich und
die Größe der Diskrepanz zwischen dem korrekten physikalischen Stimulus und den, von der
Mehrheit gewähltem. Asch fand heraus, dass starke Konformitätseffekte bereits durch eine ein-
stimmige Mehrheit von nur drei oder vier Personen hervorgerufen wurden, die jedoch bei einem
weiteren Anstieg auf über 4 oder 5 Personen kaum weiter zunimmt.54
Am stärksten ist der normative soziale Einfluss in der Gruppe, wenn man keine Verbündeten hat,
wenn die Gruppe also einhellig in ihrer Meinung ist. Sobald nur eine Person ebenfalls der abwei-
chenden Meinung war, ließ es sich besser dem Gruppendruck standhalten und die Studienteil-
nehmer verhielten sich nur in sechs Prozent der Durchgänge konform.55
Das nachfolgende Diagramm zeigt, wie sich die Konformität über zwölf Durchgänge verändert,
je nachdem, ob der Proband in der Kontrollgruppe war, allein in einer einheitlichen Mehrheit oder
noch einen unterstützenden Partner hatte.
l Gruppengröße: Die Konformität nimmt zu, je größer die zahlenmäßige Mehrheit derjenigen
Personen ist, die falsche Antworten gibt.
l Einstimmigkeit: Es ergeben sich weniger konforme Antworten, wenn mindestens eine wei-
tere Person vor dem Probanden die richtige Antwort gibt. Diese soziale Unterstützung wirkt
sich noch deutlicher aus, wenn es nicht nur um Linien, sondern um Einstellungen und Mei-
nungen geht. Ebenso sinkt die Konformität, wenn die abweichende Meinung falsch ist.
l Bedeutung der Gruppe für einen selber: Je wichtiger die Gruppe für jemanden ist, je größer
deren Bedeutung, desto höher ist der normative Druck.57
l Kultur: In kollektivistischen Kulturen (Kulturen, die dazu neigen, individuelle Ziele Gruppen-
zielen unterzuordnen) ist die Konformität höher als in individualistischen Kulturen (indivi-
duelle Leistungen werden stärker betont).58
l Unmittelbarkeit: Wie nahe ist die Gruppe räumlich und zeitlich bei dem Versuch der Beein-
flussung?59
Viele weitere Studien befassten sich nach Asch mit dem normativen sozialen Einfluss und konnten
zeigen, dass normativer sozialer Einfluss auch bei Komplexerem und Wichtigerem als einem ein-
fachen Linienvergleich funktioniert. Auch wenn festgehalten werden muss, dass Menschen nicht
vollständig durch Normeneinfluss in ihrem Handeln gesteuert werden – sonst hätten alle unein-
geweihten Probanden stets der Meinung der Mehrheit folgen müssen – der normative Einfluss
gehört zu uns Menschen – ob wir dies zugeben oder nicht.60 Heute merken wir beispielsweise
einen großen normativen Druck bei bestimmten Modewellen oder dem Körperbild von Männern
und Frauen. Gerade bei diesen Beispielen zeigt sich auch der kulturelle Einfluss: es zeigte sich,
dass gerade in Japan, also einer Kultur, in der Konformität von vorneherein eine große Rolle spielt,
Frauen einem starken normativen Druck ausgesetzt sind, dem aktuellen (westlichen) extrem
schlanken Körperbild zu entsprechen. Interessant war ebenfalls: das mittels eines Fragebogens
gemessene Bedürfnis nach sozialer Anerkennung war ein wichtiger Indikator für Essstörungen.61
Auch wenn wir uns selber als selbstständig und frei in unseren Entscheidungen erleben und beim
Durchdenken dieser Fakten uns selber insgeheim anders sehen – Gruppen sind sehr effektiv darin
„Abweichler“ auf Linie zu bringen. Wenn wir gegen Gruppennormen verstoßen, werden wir zu-
nächst Irritation und Verwunderung auslösen, dann Beeinflussungsversuche erleben und letzt-
endlich uns mit dem Gruppenausschluss konfrontiert sehen.62 Möglicherweise ist dies das Erbe
einer früheren Zeit, als das Dazugehören zu einer Gruppe überlebenswichtig war.
Es ist für uns normal von früher Kindheit an Autoritätspersonen zu gehorchen, zum Bespiel Eltern,
Lehrern oder Polizisten. Allerdings kann Gehorsam auch dramatische Folgen haben, wie die Bei-
spiele von Kriegen, Kriegsverbrechen und Völkermord zeigen. Deshalb standen – wie bereits in Ka-
pitel 1.2 „Geschichte der Sozialpsychologie“ erwähnt – Prozesse, wie der Gehorsam gegenüber
Autoritäten funktioniert und wieweit Menschen gehen, nach dem zweiten Weltkrieg im Interesse
der Forschung. Dies versuchte auch Stanley Milgram in einer Reihe von Studien zu erforschen. Diese
Untersuchungen fanden ab 1963 statt und hatten zum Ziel, ein besseres Verständnis für die Entste-
hung des Holocaust im Nationalsozialismus zu entwickeln. Milgram wollte verstehen, wie es zu Ge-
horsam im Kontext der systematischen Vernichtung von Menschenleben kommen konnte.63
Zur ersten Untersuchung – der sogenannten Baseline-Studie – suchte Milgram 40 männliche Pro-
banden per Zeitungsanzeige und führte ein Laborexperiment durch. Der eigentliche Untersu-
chungszweck – Gehorsam – wurde nicht erwähnt. Den Studienteilnehmern wurde erläutert, es
sei eine Untersuchung zum Thema Gedächtnis und Lernen und es gehe um ein Lehrer-Schüler-
Szenario. Die Rollen seien durch Zufall bestimmt. Tatsächlich jedoch kam der jeweilige Versuchs-
teilnehmer mit Hilfe eines Tricks stets in die Rolle des Lehrers, der Schüler war in Wirklichkeit ein
Vertrauter des Versuchsleiters. 64
Der „Schüler“ wurde nun in einem Nebenraum an einen Stuhl gefesselt und es wurden Elektro-
den an seinem Arm befestigt. Der „Lehrer“ wurde in einen anderen Raum gebracht, wo er keinen
Sichtkontakt zum „Schüler“ mehr hatte (siehe Abbildung 8). Er sollte nun dem „Schüler“ Wort-
paare, wie blau-Kiste oder schön-Tag, vorlesen und diesen danach befragen. Immer wenn der
„Schüler" einen Fehler machte, sollte der „Lehrer" ihm Stromstöße zunehmender Intensität ver-
abreichen. Die Probanden sahen vor sich ein Schaltpult mit 30 Schaltern mit Beschriftungen der
Stromstärke und ergänzenden verbalen Beschriftungen, wie bspw. „leichter Schock“ von 15 bis
60 Volt, „starker Schock“ bei 135 Volt, „Gefahr, schwerwiegender Schock“ bei 355 Volt sowie
einem ominösen „XXX“ bei den letzten beiden Stufen (siehe Abbildung 9). Darüber hinaus sorgte
Milgram dafür, dass alle Versuchspersonen selbst leichte Stromschläge in Höhe von 45 Volt er-
hielten, um die Schmerzhaftigkeit erfahrbar zu machen und so späteren Aussagen, wie ‚man habe
nicht geglaubt, dass das tatsächlich weh tue‘, vorzubeugen. So wurde ein glaubwürdiges Szenario
aufgebaut, damit die „Lehrer“ von der Echtheit überzeugt waren.65
Die „Lehrer“ wurden angewiesen, beim ersten Fehler einen Stromstoß von 15 Volt zu verabrei-
chen und bei jedem weiteren Fehler die Stromhöhe um 15 Volt zu erhöhen. In Wirklichkeit wur-
den jedoch keine Stromstöße verabreicht. Neben dem Probanden stand der vermeintliche Ver-
suchsleiter, der einen Kittel anhatte und damit die Autorität darstellte. Die Reaktionen der „Schü-
ler“ waren ebenso fest gelegt wie Kleidung und Reaktionen des Versuchsleiters, der mit dem
„Lehrer“ während des gesamten Versuches gemeinsam im Raum war.
65 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 292ff; Vgl. Fischer et al. (2014), S. 144f.
Sozialpsychologie 27
Anfänglich verlief alles nach Plan, doch zunehmend häuften sich die Fehler des vermeintlichen Schü-
lers und der Proband musste ihn mit Elektroschocks zunehmender Stärke bestrafen. Die Versuchs-
personen bekamen die Reaktionen der „Schüler“ über eine Sprechanlage mit. Sie reichten von Aus-
rufen wie „oh“ über „he, das tut wirklich weh“ und „Versuchsleiter, lassen Sie mich raus! Ich möchte
nicht mehr am Experiment teilnehmen! Ich weigere mich, weiter mitzumachen!“ bis zu intensivem
und andauerndem Schreien wegen starker Schmerzen. Die folgende Übersicht (siehe Abbildung 10)
zeigt das Protokoll der Proteste des Schülers bei Milgrams Studie und der Instruktionen, mit denen
der Versuchsleiter die Probanden dazu bringen wollte, weitere Schocks zu verabreichen. Dieses Re-
pertoire an Reaktionen war standardisiert und einheitlich bei allen Versuchspersonen.
Abbildung 10: Protokoll der vorgegebenen Proteste des „Schülers“ und der Reaktionen des Versuchsleiters beim Mil-
gram-Experiment
(Quelle: Aronson et al., 2014, S. 293)
28 Sozialpsychologie
Wie weit würden die Versuchspersonen in der Rolle des Lehrers gehen und den Instruktionen des
Versuchsleiters folgen? Milgram befragte zuvor Psychologiestudierende, Erwachsene der Mittel-
schicht und Psychiater. Diese schätzen die Wahrscheinlichkeit, dass Studienteilnehmer bis zur
höchsten Stufe gehen zwischen 1% und 0,2% ein.66
Die tatsächlichen Ergebnisse der Studie waren überraschend und bestürzend, denn alle Proban-
den gaben mindestens 300 Volt Stromstöße und 65% der Probanden (26 der 40 Personen) gin-
gen bis zum Ende der Skala und gaben Stromstöße bis zur maximalen Höhe von 450 Volt – und
hätten damit in Kauf genommen, dass die vermeintlich andere Versuchsperson durch einen hohen
Elektroschock stirbt. Die durchschnittliche höchste Stromstärke lag bei 360 Volt.67
Abbildung 11: Absolute Häufigkeiten der maximalen Schockstärken. Jeder Datenpunkt zeigt die Anzahl der Versuchs-
personen an, für die die jeweilige Schockstärke die maximale Intensität darstellte.
(Quelle: Fischer et al., 2016, S. 145)
Diese Ergebnisse waren schockierend, zeigte sich doch, dass offenbar normale, gut situierte Män-
ner in der Lage waren, komplett fremde Menschen zu töten – einfach, weil es Ihnen befohlen
wurde.68 Diese Studienergebnisse zeigten sich relativ konstant über verschiedene Länder und Kul-
turen hinweg.69
Durch verschiedene Variationen des ursprünglichen Versuches konnte Milgram auch Bedingun-
gen ausmachen, durch die der Effekt variiert werden konnte und die darüber entschieden, ob
und in welcher Stärke Gehorsam auftrat. Entscheidend war zum einen die physische Nähe zum
Opfer. Wenn die „Lehrer“ die Schüler nicht nur hören konnten, sondern auch sahen oder gar ihre
Hand halten sollten, reduzierte sich deutlich die Anzahl derer, die bis zu maximalen Schockstärke
gingen. Ebenso zeigte sich die Anwesenheit des Versuchsleiters, also der Autoritätsperson, als
wichtig. Gab dieser seine Anweisungen bspw. nur per Telefon, so waren weniger Probanden
bereit die volle Stromstärke zu geben. Auch die Legitimität der Autoritätsperson wurde in ver-
schiedenen Versuchen variiert und zeigte sich als entscheidender Faktor, bei der Bereitschaft zum
Gehorsam. Fanden die Untersuchungen nicht in der Universität, sondern in einen alten Bürokom-
plex statt, reduzierte sich der Gehorsam ebenfalls. Letztendlich beeinflusst auch die Anwesenheit
Anderer die Bereitschaft zum Gehorsam: war noch ein weiterer Lehrer anwesend, der konsistent
66 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 293; Vgl. Fischer et al. (2014); S. 145;
67 Vgl. Fischer et al. (2014); S. 145; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 293f.
68 Vgl. Haslam & Reicher (2012), S. 1
69 Vgl. Fischer et al. (2014); S. 145
Sozialpsychologie 29
gehorchte, stieg der Anzahl der Personen, die maximale Schocks gaben, auf unglaubliche 92%
an, sank jedoch auf 10%, wenn die andere Versuchsperson sich weigerte.70
Sicherlich kann man dem normativen Druck, dem Versuchsleiter weiterzuhelfen, ihn nicht zu ent-
täuschen, eine maßgebliche Rolle beim Gehorsam in dieser Situation zuschreiben. Es ist schwierig
„Nein“ zusagen, wenn jemand direkt und nachdrücklich etwas von uns fordert – gerade wenn
es sich um eine Autoritätsperson handelt. Allerdings hat auch der informationale soziale Einfluss
einen entscheidenden Einfluss, da die Versuchsperson sich in dieser für sie neuen und verwirren-
den Situation an dem Verhalten des Versuchsleiters orientiert. Zwar schrie der „Schüler“ und gab
an, sein Herz mache Probleme, jedoch versicherte der Versuchsleiter, dass die Stromstöße keine
dauerhaften Schäden verursachen würden.71
Milgram sah grundsätzlich vier verschiedene Faktoren, die er als ursächlich für Gehorsam ansah:72
l Soziokulturelle Faktoren: Innerhalb unserer Gesellschaft lernen wir im Lauf unserer Ent-
wicklung Autoritätspersonen zu gehorchen. Hier spielt zum einen die „Expertenheuris-
tik“73 eine Rolle, indem wir uns auf die offensichtliche Objektivität und Sachlichkeit von
Experten verlassen. Zum anderen werden wir generell in unserer Entwicklung eher für Ge-
horsam als für Ungehorsam belohnt.
l Situativer Einfluss: Das Versuchsdesign war bestimmend gestaltet und streng reglementiert.
So waren die Bestrafungsschritte fest vorgegeben und man konnte nicht die Schockhöhe
selber gestalten. Weiterhin ging man mit einem hohen Tempo vor, so dass insgesamt wenig
eigene Spielräume für die Versuchspersonen und wenig Zeit zum Nachdenken existierten.
Unkritischer Gehorsam ist Ursache für schlimme Taten und Ereignisse – sowohl in der Geschichte,
als auch bis in die heutige Zeit. Denken Sie an Völkermorde und -vertreibungen, an Eskalationen
gegenüber Gefangenen und Ähnliches. Aber auch im Alltag kann solcher Gehorsam schlimme Fol-
gen haben. Denken Sie an Situationen im Krankenhaus. Was geschieht, wenn ein Arzt sich in einer
Medikamentendosierung irrt und die Pflegekraft die Anweisung einfach ausführt? Was, wenn sich
die Pflegekraft bei der Medikamentengabe vertut und der Patient sie nicht darauf anspricht, dass
seine Tabletten heute anders aussehen als die ganze Zeit vorher? Daher erscheint es zwingend not-
wendig, sich mit Folgen von unkritischem Gehorsam und mit der Wirkung von Autorität auseinan-
derzusetzen und Gegenmaßnahmen zu überlegen und anzuwenden. Dies können sein74:
l Betonung der Eigenverantwortung des Handelnden: Wenn klargestellt wird, dass Verant-
wortung nicht allein bei der Autoritätsperson liegt, können viele Fehler vermieden werden.
Dann würde die Pflegekraft in der oben geschilderten Situation nachdenken und den Arzt
auf die ungewöhnliche Dosierung ansprechen.
l Hinterfragung von Motiven und Expertise einer Autoritätsperson: Nicht immer und in jeder
Situation ist ungefragt zu befolgen, was die Autoritätsperson vorgibt. So könnte im Beispiel
der falschen Medikamentenzuordnung durch die Pflegekraft der Patient nachfragen, was
geändert wurde und aus welchem Grund die Veränderung erfolgte.
Innerhalb von Gruppen existieren meist eine Anzahl klar definierter sozialer Rollen, also gemein-
same Erwartungen an das Verhalten der Einzelnen. Rollen definieren, wie sich Personen, die in-
nerhalb der Gruppe bestimmte Positionen einnehmen, zu verhalten haben. So füllen ein Ange-
stellter und ein Vorgesetzter in einem Unternehmen verschiedene Rollen aus, und es bestehen
daher unterschiedliche Erwartungen an ihr Verhalten. Im Gegensatz dazu geben Normen Regeln
an, die für alle Gruppenmitglieder gelten.75 Soziale Normen und auch soziale Rollen können sehr
hilfreich sein, weil man weiß, was man voneinander zu erwarten hat. Daher führt das Einhalten
der Rollen in einer Gruppe zu Zufriedenheit und zu guter Leistung. Die Kehrseite ist allerdings: je
stärker sich Menschen in eine Rolle einfinden, desto mehr geht ihre persönliche Identität und ihre
Persönlichkeit verloren.76 Normalerweise sind uns die Einflüsse von Rollen und Regeln nicht be-
sonders bewusst. Aber das spektakuläre Experiment von Philip G. Zimbardo das unter dem Namen
Stanford-Gefängnis-Experiment77 in die Geschichte einging, verdeutlicht auf ungeahnte Weise
den Einfluss von sozialen Rollen. 78
Alles begann Anfang der 1970er Jahre an einem ruhigen Sonntagmorgen im August in Palo Alto,
Kalifornien:79 Ein Polizeiauto durchkämmte die Stadt, um im Zuge einer Massenverhaftung Stu-
denten festzunehmen, die gegen § 211 des Strafgesetzbuches „Bewaffneter Raubüberfall“ und
§ 459 „Einbruch“ verstoßen hatten. Jeder der Verdächtigten wurde in seiner Wohnung verhaftet
und dort über die ihm zur Last gelegten Beschuldigungen informiert, bevor er über seine Rechte
aufgeklärt wurde. Mit gespreizten Armen und Beinen mussten sich die Festgenommenen an das
Polizeiauto lehnen, wurden dann durchsucht und unter den Blicken von überraschten und neu-
gierigen Nachbarn in Handschellen gelegt. Dann wurden die Verdächtigten im Polizeiauto mit
Blaulicht und Sirene zur Polizeistation gebracht.
Alles was die Verdächtigten getan hatten, war, auf eine Zeitungsanzeige zu antworten, in der
Freiwillige für eine Studie über die psychischen Auswirkungen des Gefängnislebens gesucht wur-
den. Die Forscher um Philip Zimbardo wollten herausfinden, welche psychischen Auswirkungen
es hat, ein Gefangener oder ein Strafvollzugsbeamter zu sein. Deshalb stellten sie ein Gefängnis
nach, um zu beobachten, welche Effekte diese Einrichtung und das Einnehmen dieser bestimmten
Rollen auf das Verhalten aller Beteiligten hat. Zu diesem Zweck bauten sie im Kellergeschoss des
Psychologischen Institutes der Stanford University ein Gefängnis nach und bezahlten die Stu-
dienteilnehmer dafür, eine entsprechende Rolle einzunehmen.80
Es meldeten sich über 70 Bewerber, mit denen diagnostische Interviews und Persönlichkeitstests
durchgeführt wurden, um Kandidaten mit psychischen Problemen, körperlichen Gebrechen, krimi-
neller Vergangenheit oder Drogenmissbrauch ausschließen zu können. Übrig blieben 24 Studenten
aus den USA und Kanada, die sich 15 Dollar pro Tag durch die Teilnahme an einer psychologischen
Studie verdienen wollten. Bei den Tests und Untersuchungen lagen diese Versuchsteilnehmer bei
allen untersuchten oder beobachteten Merkmalen im Normalbereich. Die Studie startete also mit
einer durchschnittlichen Gruppe von gesunden, intelligenten Männern aus der Mittelschicht. Diese
wurde nach dem Zufallsprinzip durch Münzwurf in zwei Gruppen geteilt: einer Hälfte wurde die
Rolle der Strafvollzugsbeamten zugewiesen, der anderen die der Gefangenen. Vor dieser Studie
bestanden also keine Unterschiede zwischen den Gefangenen und den Strafvollzugsbeamten –
dies wird noch einmal wichtig werden, wenn wir die Ergebnisse betrachten.
Das Gefängnis wurde mit Hilfe von ehemaligen Strafgefangenen so authentisch wie möglich ein-
gerichtet, indem im Keller des Universitätsgebäudes die beiden Enden eines Flures abgesperrt
wurden. Dies war als „Gefängnishof“ der einzige Ort, den die Gefangenen außerhalb ihrer Zellen
betreten durften. Diese wiederum waren Laborräume, aus denen man die Türen entfernt hatte
und die man stattdessen mit Gittern versehen hatte. Der Weg zur Toilette, die außerhalb der
Zellen lag, musste mit verbunden Augen absolviert werden. Es wurde sogar eine Möglichkeit zur
Isolationshaft eigerichtet. Es gab die Möglichkeit, durch vor der Untersuchung installierte Technik,
Ton- und Videoaufzeichnungen zu machen.
Aus Sicht der gefangen genommenen Verdächtigen spielte sich die Situation nach der Verhaftung
wie folgt ab: Mit verbundenen Augen und im Zustand eines leichten Schocks angesichts der über-
raschenden Verhaftung durch die örtliche Polizei wurden die Gefangenen in das Auto geladen und
zum „Stanford County Jail“ gefahren. Einzeln wurden die Gefangenen ins Gefängnis gebracht,
wo sie vom stellvertretenden Anstaltsleiter begrüßt wurden, der sie auf ihre Vergehen, deren Ernst-
haftigkeit und den Status als Gefangene hinwies. Es folgten demütigenden Prozeduren, wie zum
Beispiel eine Entlausung, das Tragen einer kleid- oder kittelähnlichen Gefangenenuniform und von
Gummischlappen, ein abgeschnittener Nylonstrumpf als Kopfbedeckung und das Tragen einer
Fußkette. Die Gefangenen bekamen Identifikationsnummern und wurden fortan auch nur mit die-
sen angesprochen. Insgesamt waren es neun Gefangene, die nun rund um die Uhr im Gefängnis
Sozialpsychologie 33
lebten. Uhren und Kontakt zur Außenwelt gab es nicht. Die Zellen waren sehr klein, so dass gerade
Platz für drei Pritschen war. Auf diesen schliefen oder saßen die Gefangenen.
Den anderen Part bildeten insgesamt neun Wärter, welche auch studentische Versuchspersonen
waren und die zu Dritt in Acht-Stunden-Schichten arbeiteten. Die Wärter trugen eine Uniform
aus militärgrünen Hemden und Hosen, eine Trillerpfeife, einen Polizeischlagstock und verspiegelte
Sonnenbrillen. Dies sollte verhindern, dass die Augen oder Gefühle sichtbar waren und zusätzlich
die Anonymität und Distanz erhöhen. Die Wärter erhielten kein besonderes Training für ihre Auf-
gabe. Innerhalb bestimmter Grenzen wurde es ihnen selbst überlassen, dass für sie Notwendige
zu tun, um sich den Respekt zu verschaffen und für Gesetz und Ordnung zu sorgen.
Trotz einer anfänglichen Rollenunsicherheit aller Beteiligten (wie ernst soll man die Rolle spielen?)
entwickelten sich schnell eigene Regeln:
Es entwickelte sich eine Eigendynamik und das Experiment begann eine nicht geahnte Wendung
zu nehmen. Es kam zum einem Aufstand der Gefangenen, den die Wärter niederschlugen. Sie
spritzten mit Feuerlöschern eisiges Kohlendioxyd in die Zellen, brachen dann die Zellen auf und
entfernten die Betten. Die Gefangenen wurden nackt ausgezogen, die Anführer in Einzelhaft
gesperrt und die Wärter begannen, die Gefangenen zu schikanieren und einzuschüchtern.
„Gute“ und „Schlechte“ Gefangene wurden unterschiedlich behandelt, um die Gruppe zu spal-
ten und die Solidarität der Gefangenen untereinander zu stören. Das Verhalten der Wärter wurde
immer willkürlicher und sogar der Gang zur Toilette wurde als ein Privileg behandelt, welches sie
nach Lust und Laune gestatteten oder verweigerten.
Spätestens bei diesen Beschreibungen wird klar, dass die Teilnehmer nicht mehr realisierten, dass
es bloß ein Experiment wahr – die Gefangenen wurden als Unruhestifter betrachtet und die Wär-
ter als Unterdrücker.
Nach noch nicht mal 2 ½ Tagen zeigte der erste Gefangene Zeichen einer emotionalen Störung,
wie desorganisiertes Denken, unkontrolliertes Schreien und Wutanfälle. Anfangs dachte man an
einen Täuschungsversuch; später ließ man den Probanden jedoch gehen.
Nachdem das Gerücht eines Massenausbruchs auftauchte – der dann letztendlich doch nur ein
Gerücht war – erhöhten die Wärter nochmals das Ausmaß ihrer Demütigungen und Schikanen,
und zwangen die Gefangenen zu erniedrigender, eintöniger Arbeit wie z.B. das Reinigen der Toi-
lettenschüsseln mit den bloßen Händen.
Insgesamt konnten die Forscher im Laufe des weiteren Versuchs beobachten, dass es drei Typen
von Wärtern gab. Zum einen gab es die strengen, aber fairen Strafvollzugsbeamten, die sich an
die Regeln des Gefängnisses hielten. Dann gab es die „guten Kerle“, die den Gefangenen kleine
Gefallen taten und sie nie bestraften. Und schließlich verhielt sich ein Drittel der Strafvollzugsbe-
amten feindlich und willkürlich gegenüber den Gefangenen und war sehr einfallsreich darin, sich
Demütigungen für die Gefangenen auszudenken.
Die Gefangenen hingegen gingen mit ihren Gefühlen der Frustration und Machtlosigkeit sehr unter-
schiedlich um. Anfangs rebellierten einige Gefangene oder kämpften mit den Wärtern. Vier Gefan-
gene brachen emotional zusammen und konnten so der Situation entkommen. Ein Gefangener ent-
wickelte einen psychosomatischen Hautausschlag am ganzen Körper, als er erfuhr, dass sein Bewäh-
rungsgesuch abgelehnt worden war. Andere versuchten, mit der Situation fertig zu werden, indem
sie gute Gefangene waren und alles taten, was die Strafvollzugsbeamten von ihnen verlangten.
Schnell entwickelte sich eine Eigendynamik, die alle Erwartungen in den Schatten stellte. Die For-
scher hatten vorgehabt, die Studierenden zwei Wochen lang zu beobachten, um zu sehen, ob sie
sich wie echte Gefängniswärter und -häftlinge zu verhalten begannen. Wie sich herausstellte,
übernahmen die Probanden diese Rollen so intensiv, dass die Wissenschaftler das Experiment nach
nur sechs Tagen – am 20. August 1971 – abbrachen81. Die Forscher hatten eine überwältigend
machtvolle Situation kreiert – eine Situation, in der sich die Gefangenen in sich selbst zurückzogen
und pathologisch verhielten und in welcher sich einige der Wärter sadistisch benahmen. Die Rol-
len waren so mächtig und hatten einen solchen starken Einfluss, dass die simple Tatsache, dass
es sich nur um ein psychologisches Experiment handelte und das Gefängnis nur eine Attrappe
war, einfach verdrängt wurde. Die Teilnehmer der Studie gingen derart in ihrer Rolle auf, dass sie
ihre eigene Identität, ihre Persönlichkeit und ihre Menschlichkeit verloren.82
Insgesamt warfen die erschreckenden Ergebnisse des Experiments zahlreiche Fragen auf. Allem
voran die Frage, wie es kommen kann, dass „normale“ Menschen sich zu brutalen Wärtern ver-
wandeln können. Ein entscheidendes Merkmal des Stanford-Gefängnis-Experiments ist, dass ein-
zig der Zufall, in Form zufälliger Zuweisung, über die Rollen der Teilnehmer als Wachen oder
Gefangene entschied. Diese Rollen hatten Status- und Machtunterschiede geschaffen, die in der
Gefängnissituation aufgezeigt wurden. Niemand hatte die Teilnehmer gelehrt, wie sie ihre Rollen
zu spielen hatten. Ohne jemals ein echtes Gefängnis besucht zu haben, lernten alle Teilnehmer
etwas über die Interaktion zwischen den Mächtigen und den Machtlosen.83
Die studentischen Teilnehmer hatten solche Machtunterschiede schon in vielen früheren sozialen
Interaktionen erlebt: Eltern – Kind, Lehrer – Schüler, Arzt – Patient, Vorgesetzter – Arbeiter, Mann
– Frau. Sie haben für diese spezielle Umgebung lediglich ihre früheren Verhaltensmuster verfeinert
und intensiviert. Jeder Studierende hätte jede Rolle spielen können. Viele Studierende aus der
Wärter-Gruppe berichteten, dass sie überrascht waren, wie leicht es ihnen fiel, Freude an der
Kontrolle über andere Menschen zu haben. Es reichte, einfach die Uniform anzuziehen, um sie
von passiven Studierenden zu aggressiven Gefängniswärtern zu machen.
Dass diese machtvolle Situation nicht nur im Rahmen eines psychologischen Experiments geschaf-
fen werden kann, sondern auch in der Wirklichkeit und dass sie auch noch heute existieren kann,
zeigen z.B. die Fälle körperlichen, psychischen und sexuellen Missbrauchs, wie sie durch US-Sol-
daten im irakischen Gefängnis Abu Ghraib geschahen. Diese 2004 aufgedeckten Fälle zeigen, wie
auch heute noch Menschen so in ihrer Rolle aufgehen, dass sie ihre Identität und vor allem Ihre
Menschlichkeit verlieren.84
Und so stellt sich abschließend die Frage: Was für ein Mensch werden Sie, wenn Sie in unter-
schiedliche Rollen hinein- und wieder hinausschlüpfen? Wo endet Ihr Gefühl des eigenen Selbst
und wo beginnt Ihre soziale Identität?
1.3.4 Die Banalität des Bösen: Eine kritische Reflexion der Experimente von Milgram und Zim-
bardo
Die Banalität des Bösen – wie weit gehen Menschen, wenn sie gehorsam sind und die Anweisun-
gen anderer ausführen? Sehr weit! Dies waren die Schlüsse aus dem Milgram-Experiment. Das
Stanford-Gefängnis-Experiment war nicht weniger alarmierend: Der Mensch versinkt in Tyran-
nei.85 Beide Experimente habe die Sozialpsychologie sehr beeinflusst und sind darüber hinaus
allgemein ins kulturelle Gedächtnis eingegangen – bisher anständige Menschen gehen selbstver-
ständlich aufgrund ihrer Natur konform mit Autoritäten (Milgram) und sozialen Rollen (Zimbardo)
und werden zu Unterdrückern und Tyrannen. Steckt das Böse wirklich in uns allen und bestimmt
diese machtvolle Situation unser Verhalten allein? Wie eingangs des Kapitels bereits erwähnt, ist
unser Verhalten eine Interaktion aus Einflüssen der Situation und der Persönlichkeit. Und so haben
neuere Forschungsarbeiten auch auf diese bahnbrechenden und prägenden Untersuchungen ei-
nen differenzierten Blick ermöglicht.86 Demnach war nicht allein der blinde Gehorsam einer Au-
torität gegenüber oder das komplette Aufgehen in einer Rolle entscheidend für das Verhalten,
sondern der Glauben an die Wichtigkeit, was sie dort tun (bei Milgram) und auch der Enthusias-
mus Einzelner, der mehr das Verhalten beeinflusste, als der blinde Gehorsam einer Rolle gegen-
über (bei Zimbardo). Nicht jeder Wärter war tyrannisch und nicht jeder „Lehrer“ bei Milgram ging
so weit. Interessanterweise machten Personen beispielsweise weiter, wenn sie mit der Wichtigkeit
der Forschung überzeugt wurden (‘‘The experiment requires that you continue’’) und verweiger-
ten sich, wenn es hieß „Sie habe keine andere Wahl“ (‘‘You have no other choice, you must go
on’’)87. Also die machtvolle Situation in diesen Experimenten wirkt, wenn die Studienteilnehmer
davon überzeugt sind, eine wichtige Rolle in der Wissenschaft zu spielen, sie sich mit dem Forscher
und der Untersuchung identifizieren und es dem Forscher gelingt zu überzeugen, dass es nützlich
ist, was sie da tun. Es waren also eher engagierte Follower als blind Gehorsam Leistende und die
Teilnehmer taten nichts unbewusst, sondern weil sie überzeugt waren, es sei das Richtige.88
Im vorigen Abschnitt wurde die prägende Wirkung der sozialen Situation herausgestellt. Doch
was ist eigentlich genau eine soziale Situation? Was sind die Merkmale einer solchen Situation?
Es ist schwierig, objektive Facetten einer sozialen Situation zu bestimmen, um damit alleine das
Verhalten anderer Menschen zu verstehen und zu erklären. Dies war der Ansatz des Behavioris-
mus, der versuchte mittels der Untersuchungen von Bestrafungen und Belohnungen, also der
verstärkenden Merkmale der Umwelt, das Verhalten von Menschen zu verstehen. Dieser psycho-
logische Ansatz hatte viele Stärken und bahnbrechende Erkenntnisse. Viele Theorien, beispiels-
weise zum Lernen oder die Theorie des sozialen Austausches, können mittels des behavioristi-
schen Ansatzes menschliche Verhaltensweisen gut erklären.89 So basiert beispielsweise auch die
Verhaltenstherapie auf dieser psychologischen Schule.
Allerdings vernachlässigte der behavioristische Ansatz die Gefühle und die Gedanken als Mittler
zwischen Situation und Verhalten, weil diese zu vage und zu wenig beobachtbar schienen. Damit
übersah dieser Ansatz jedoch auch die Bedeutung der Interpretation einer Situation durch den
Menschen. Es erscheint jetzt sicherlich trivial, dass ein und dieselbe soziale Situation, je nach un-
serer Sichtweise auf diese und je nach unserer Interpretation, eine vollkommen andere Wirkung
hat. Dem Kellner im italienischen Restaurant unterstellen wir bei der Frage „Wie geht es?“ andere
Motive, als wenn dies ein guter Freund fragen würde – auch wenn Inhalt und Tonfall der Botschaft
identisch sind. Dem Kellner würde ich mit hoher Wahrscheinlichkeit nichts von meiner Krankheit
erzählen, da ich die Frage als verkaufsfördernde Floskel einstufe. Dem guten Freund hingegen
unterstelle ich aufrichtiges Interesse an meinem Wohlergehen und würde ihm von meinen Prob-
lemen berichten. Unsere Reaktion, also unser Verhalten, hängt also auch von unserer Interpreta-
tion ab und nicht nur von der Situation alleine.90
Dies waren die Denkansätze, die ihre Wurzeln in der Gestaltpsychologie hatten, welche damit die
Sozialpsychologie vor einer rein auf den Behaviorismus fixierten Sichtweise bewahrte. Damit rück-
ten die innerpsychischen Prozesse, die Kognitionen und die Emotionen sowie die Deutung des
einzelnen Menschen in den Fokus.91
Exkurs Kognition
Kognition ist ein Sammelbegriff für alle Vorgänge oder Strukturen, die mit dem Gewahrwerden
und Erkennen zusammenhängen. Dies umfasst beispielsweise Begriffe wie Wahrnehmung, Erin-
nerung, Vorstellung, Begriffe und Gedanken, jedoch auch Vermutung und Erwartung.92
Eine ganz bestimmt Art und Weise der Deutung ist uns allen gemeinsam und sehr verbreitet: der
naive Realismus. Dies ist die Überzeugung, dass nur wir alleine die Dinge so wahrnehmen, wie sie
tatsächlich sind. Wenn Andere dieselben Dinge anders sehen, dann liegt dies an ihrer Voreinge-
nommenheit. Daran scheitern auch oft Verhandlungen – zwischen zwei Partnern, im Wirtschafts-
leben, in der Politik, zwischen zwei Staaten und bei internationalen Verhandlungen. Jede Ver-
handlungsseite nimmt an, dass auch andere vernünftige Menschen die Situation und die Prob-
leme so wahrnehmen, wie sie selbst es sehen. Auch wenn beide Parteien in Betracht ziehen, dass
der Gegenüber die Probleme anders wahrnimmt, dann denken beide Seiten, dass die jeweils an-
dere Seite voreingenommen ist und nur man selber die Situation „objektiv“ wahrnimmt. Ich gehe
davon aus, dass meine Wahrnehmung die Grundlage einer vernünftigen Einigung ist! Damit der
Widersacher nicht von einem Kompromiss profitiert, bleiben beiden Seiten hart.93
Doch wie kommen Menschen zu ihren Deutungen, zu ihrer subjektiven Wahrnehmung einer Si-
tuation? Die Erforschung der Gesetzmäßigkeiten, warum wir Menschen die soziale Welt so deu-
ten, wie wir es tun, ist Aufgabe der Sozialpsychologie. Ursächlich für unser Verhalten und unsere
Gedanken sind vielfältige Motive und Bedürfnisse. Davon seien zwei an dieser Stelle besonders
herausgriffen: Das Streben, ein hohes Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, mit sich selbst zufrie-
den zu sein und das Bedürfnis, realistisch zu sein. Diese beiden Motive können unser Verhalten in
die gleiche Richtung lenken, sie können aber jedoch auch genau in unterschiedliche Richtungen
ziehen. Die meisten Menschen haben ein sehr starkes Bedürfnis, sich selbst als kompetent und
gut wahrzunehmen, also ein hohes Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten. Wenn wir also vor der
Wahl stehen, die Welt realistisch wahrzunehmen oder sie zu verzerren, um zufrieden mit uns zu
sein, entscheiden wir uns oft für Letzteres. Dabei werden wir kaum alle Informationen verneinen
und die Realität völlig verzerren, aber wir versuchen „der Wahrheit ein schöneres Antlitz“ zu
geben und damit auch unser früheres Verhalten zu rechtfertigen. Dies führt manchmal auf den
ersten Blick zu paradoxem oder völlig unerwartetem Verhalten. So bevorzugen wir beispielsweise
Dinge, die mit hohen Kosten für uns verbunden waren oder Menschen, derentwillen wir einmal
gelitten haben, gegenüber denen, für die dergleichen nicht nötig war.94
Diese beiden Motive, der Erhalt des Selbstwertgefühls und das Bedürfnis realistisch zu sein, wer-
den später im Studienbrief nochmal in den Kapiteln 2.5 „Impression Management und die Wah-
rung eines positiven Selbstbildes“ sowie 4 „Soziale Kognition – Das Denken über unsere soziale
Welt“ aufgegriffen.
Die Sozialpsychologie ist eine noch recht junge Wissenschaft, die ihre Wurzeln hauptsächlich in
den Vereinigten Staaten hat. Daher sind viele ihrer Theorien noch nicht in andern Kulturen über-
prüft worden und gelten strenggenommen nur für die nordamerikanische bzw. westliche Kul-
tur.95 Viele der (vor allen älteren) Untersuchungen sind an weißen Männern, häufig aus der Mit-
telschicht und häufig an Collegestudenten der USA durchgeführt worden und dementsprechend
in ihren Aussagen begrenzt. Mittlerweile werden viele Punkte von einer interkulturellen Forschung
aufgegriffen, um allgemeingültigere Aussagen zu bekommen. Bei vielen Befunden und Theorien
werden wir in diesem Studienbrief sehen, dass es doch erhebliche Unterschiede zwischen zum
Beispiel asiatischen und westlichen Kulturen gibt. So gibt es beispielsweise Unterschiede in der
Selbstsicht: eher unabhängig, wie in westlichen Kulturen oder eher abhängig und auf die Gruppe
bezogen, wie in asiatischen Kulturen. Es gibt aber auch Unterschiede in der Definition, wer zur
eigenen sozialen Gruppe gehört und wer nicht, so dass durchaus unterschiedliche Verhaltenswei-
sen bei den Menschen resultieren, obwohl möglicherweise die grundlegenden Prozesse – zum
Beispiel beim Hilfeverhalten – dieselben sind.96
Abbildung 19: Die Tendenz nur positive Ergebnisse zu veröffentlichen im Vergleich zwischen verschiedenen Wissen-
schaften.
(Quelle: Yong, 2012, S. 300)
Wie in anderen empirischen Wissenschaften ist es in der Sozialpsychologie wichtig und üblich,
dass Forschungsergebnisse von anderen Forschern aufgegriffen und wiederholt werden. Solche
Wiederholungsversuche sind eine Art „wissenschaftliche Bewährungsprobe“ und sie tragen dazu
bei, Befunde zu festigen oder abweichende Bedingungen zu erkennen. Dadurch werden nicht
nur Befunde bestätigt, sondern insgesamt das Bild zu einem Sachverhalt deutlicher oder – bei
konzeptuellen Wiederholungen, also solchen, die dem Original nur ähneln – größer.97 Insgesamt
tragen diese sogenannten Replikationen zur Integrität der Forschung bei.
Gerade hier ist es jedoch in den letzten Jahren in der Sozialpsychologie zu einigen Kontroversen
gekommen, die sogar Niederschlag in der nichtwissenschaftlichen Presse gefunden hat98. Anlass
war, dass sich einige der in der Sozialpsychologie bekannten Befunde nicht replizieren ließen. So
schlug beispielsweise die Wiederholung des Versuches fehl durch Priming – also die gedankliche
Voranbahnung – von intelligenz-bezogenen Konzepten allgemeinen Wissensfragen besser beant-
worten zu können. In der Originalstudie konnten Menschen, die sich bspw. einen typischen Pro-
fessor vorstellen sollten, danach allgemeine Wissensfragen besser beantworten. Dieser Befund
konnte allerdings in mehreren Studien nicht repliziert werden.99
Ein Problem in diesem Zusammenhang – welches zu einer erheblichen Debatte zwischen For-
schern führte – war, dass häufig nur positive Befunde publiziert werden.100 Es werden sehr häufig
nur Untersuchungen veröffentlicht, wo sich ein Effekt finden ließ – allerdings ist auch das Nicht-
Finden eines Effektes ein Ergebnis. Gerade die Psychologie nimmt hier einen eher unrühmlichen
Platz ein (siehe Abbildung 19).101
Ein weiteres Problem ergibt sich aus einem Prozess, der eigentlich in der Wissenschaft als Quali-
tätskriterium eingeführt wurde – dem sogenannten peer-review. D.h. eine Forschungsarbeit wird
von anderen Forschern aus dem Gebiet überprüft. Gerade bei den benannten Problemen waren
aber gerade die Prüfer der fehlgeschlagenen Replikationsversuche die Wissenschaftler, deren Stu-
die sich nicht wiederholen lies.102
Letztendlich führt gerade auch der Druck, positive Ergebnisse zu erzielen, zu anderen Problemen:
schlichtweg Betrug. Es wurden in den letzten Jahren immer wieder manipulierte Forschungsdaten
und Ergebnisse aufgedeckt.103 Dies ist nicht unbedingt nur ein Problem der Sozialpsychologie
allein – aber eben auch hier tritt es auf. Auch diese Fälle haben es teilweise in die nicht wissen-
schaftliche Presse geschafft104 und tragen leider nicht dazu bei, das Ansehen und das Vertrauen
in die Forschung zu fördern.
Lassen wir die bisher unter 1.3 „Die Macht der Situation – Klassische Experimente der Sozialpsy-
chologie“ dargestellten Studien noch einmal Revue passieren und stellen uns die Frage, ob be-
sonders solche Experimente wie von Milgram oder Zimbardo noch heute möglich wären. Diese
Frage lässt sich – gerade bei den beiden genannten High-Impact-Studien – recht leicht mit einem
„Nein“ beantworten.
Denn diese Studien zeichnen sich dadurch aus, dass die Teilnehmer mit Situationen konfrontiert
waren, die hohen und unnötigen Stress auslösten, unangenehm waren oder sogar ihre Sicherheit
und Gesundheit gefährdeten. Außerdem wurden die Teilnehmer z.T. ganz bewusst getäuscht und
nicht über den eigentlichen Zweck der Untersuchung informiert.
„Ich beobachtete einen Geschäftsmann mittleren Alters, der anfangs fröhlich und selbstsicher das
Labor betrat. Innerhalb von 20 Minuten war er nur noch ein zuckendes, stotterndes Wrack, das
geradewegs auf einen Nervenzusammenbruch zusteuerte. Er zog permanent an seinen Ohrläpp-
chen und rieb sich nervös seine Hände. Plötzlich schlug er sich mit der Faust an den Kopf und
stammelte: ,Oh Gott, lass uns bitte aufhören’. Und dennoch macht er weiter und gehorchte dem
Versuchsleiter bis zum Ende.“105
Um die Sicherheit, das Wohlbefinden und die Würde der Forschungsteilnehmer zu wahren, exis-
tieren mittlerweile ethische Grundprinzipien, die für die gesamte psychologische Forschung gel-
ten. So veröffentlichte beispielsweise die American Psychological Association ethische Grundprin-
zipien106, welche auch von der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) und dem Berufs-
verband Deutscher Psychologinnen und Psychologen adaptiert worden sind107, sowie aktualisiert
und am 21.9.2016 und beschlossen wurden (siehe Abbildung 20).108
Die Richtlinien ... stellen die deutsche Adaptation der auf Forschung und Publikation bezogenen
ethischen Richtlinien der APA dar („Ethical Principles of Psychologists and Code of Conduct“,
American Psychologist, 2002, 57, 1060–1073).
....
(d) Beim Einholen der auf Aufklärung basierenden Einwilligung klären Psychologinnen und Psycho-
logen die teilnehmenden Personen über folgende Sachverhalte auf: (1) den Zweck der Forschung;
(2) die erwartete Dauer der Untersuchung und das Vorgehen; (3) ihr Recht darauf, die Teilnahme
abzulehnen oder sie zu beenden, auch wenn die Untersuchung schon begonnen hat; (4) absehbare
Konsequenzen der Nichtteilnahme oder der vorzeitigen Beendigung der Teilnahme; (5) absehbare
Faktoren, von denen man vernünftigerweise erwarten kann, dass sie die Teilnahmebereitschaft be-
einflussen, wie z.B. potenzielle Risiken, Unbehagen oder mögliche anderweitige negative Auswir-
kungen, die über alltägliche Befindlichkeitsschwankungen hinausgehen; (6) den voraussichtlichen
Erkenntnisgewinn durch die Forschungsarbeit; (7) die Gewährleistung von Vertraulichkeit und Ano-
nymität sowie ggf. deren Grenzen; (8) Bonus für die Teilnahme und (9) an wen sie sich mit Fragen
zum Forschungsvorhaben und zu ihren Rechten als Forschungsteilnehmerinnen und Forschungsteil-
nehmer wenden können. Den potenziellen Teilnehmerinnen und Teilnehmern wird die Gelegenheit
gegeben, Antworten auf ihre Fragen zum Forschungsvorhaben zu erhalten.
...
sei denn, sie sind nach gründlicher Überlegung zu dem Schluss gekommen, dass der Einsatz von
Täuschungstechniken durch den voraussichtlichen bedeutsamen wissenschaftlichen, pädagogi-
schen oder praktischen Erkenntnisgewinn gerechtfertigt ist und dass geeignete alternative Vor-
gehensweisen ohne Täuschung nicht zur Verfügung stehen.
(b) Psychologinnen und Psychologen täuschen potenzielle Teilnehmerinnen und Teilnehmer nicht
über solche Aspekte einer Forschungsarbeit, von denen vernünftigerweise angenommen werden
kann, dass sie ernsthafte physische und/oder psychische Belastungen erzeugen.
(c) Psychologinnen und Psychologen klären jede Täuschung innerhalb eines Experiments so früh
wie möglich auf, vorzugsweise am Ende der Teilnahme, aber spätestens am Ende der Datenerhe-
bung, und erlauben den teilnehmenden Personen das Zurückziehen ihrer Daten.
...
(b) Falls Psychologinnen und Psychologen bedeutsame Fehler in von ihnen veröffentlichten Daten
entdecken, unternehmen sie alle Schritte, um diese Fehler zu korrigieren, und zwar durch Berich-
tigung, Zurückziehen, Erratum oder andere angemessene Publikationsmittel.
...
(12) Plagiate
Psychologinnen und Psychologen präsentieren keine Arbeiten oder Daten anderer als ihre eige-
nen, auch nicht, wenn diese Quelle zitiert wird.
....
Abbildung 20: Auszüge der ethischen Richtlinien der Deutschen Gesellschaft für Psychologie
und des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen
(Quelle: Deutsche Gesellschaft für Psychologie, 2017)
Grundlage einer ethischen und die Menschenwürde achtenden Forschung ist eine auf Aufklärung
basierende Einwilligung vor Beginn des Experimentes. Häufig ist diese Vorgehensweise möglich
und wird dann auch gewählt. Aber häufig offenbart sich hier ein nicht zu lösendes Dilemma in
der sozialpsychologischen Forschung: Stellen Sie sich vor, den Probanden beim Asch-Experiment
wäre bereits vorher gesagt worden, dass es um Konformität gehen soll und die anderen Teilneh-
mer absichtlich falsche Angaben machen, um zu sehen, wie sich die Versuchsperson verhalten
wird. Diese Vorab-Informationen beeinflussen auf jeden Fall das Verhalten und verfälschen somit
Befunde – sofern es dann überhaupt welche gibt. Bei dieser Art von Experiment ist es unerlässlich,
die Ereignisse so zu inszenieren, als wären sie real. Dieses grundlegende Dilemma der Sozialpsy-
chologie-Forschung lässt sich nicht grundsätzlich lösen, sondern es muss immer wieder zwischen
dem Forschungsinteresse und der Notwendigkeit einer Täuschung abgewogen werden.109 Auf
der einen Seite sind Sozialpsychologen bestrebt, realistische, packende Situationen zu schaffen,
um Einblick in zentrale Fragestellungen zu bekommen. Es geht ihnen z.B. darum, wichtige Infor-
mationen über menschliches Sozialverhalten zu gewinnen – über das Eingreifen von Zeugen, Vor-
urteile, Konformität, Aggression und Gehorsam gegenüber Autoritäten. Auf der anderen Seite
sind genau diese Situationen oftmals ethisch bedenklich.110
Sollte eine Täuschung notwendig sein, ist eine Nachbesprechung – auch Debriefing genannt –
notwendig. Dies ist ein ausführliches Gespräch nach Abschluss des Experiments, das die Teilneh-
mer über die wahren Ziele und den wahren Zweck der Studie aufklärt und klarstellt, was sich
tatsächlich ereignet hat. Sollte das Experiment bei irgendeinem der Teilnehmer Unbehagen ver-
ursacht haben, so muss der Forscher es in dem Debriefing beseitigen oder lindern.
Letztendlich muss jede Einrichtung (wie zum Beispiel eine Universität), die staatliche Mittel für
psychologische Forschungsvorhaben beantragt, ein Institutional Review Board (IRB) genanntes
Gremium haben, das sich aus mindestens einem Wissenschaftler, einem Laien und einem von der
Forschungsinstitution unabhängigen Mitglied zusammensetzt. Dieses Institutional Review Board
begutachtet die psychologische Forschung an dieser Institution und entscheidet, ob sie ethischen
Richtlinien entspricht. Jeder Aspekt des Experiments, der nach Ansicht dieses Gremiums für die
Teilnehmer zu anstrengend oder aufwühlend ist, muss vor seiner Durchführung geändert oder
gestrichen werden.
Der Konflikt zwischen den Erfordernissen guter Wissenschaft und den Erfordernissen ethischer
Wissenschaft lässt sich am Ende nicht lösen. Es ist stets von Fall zu Fall abzuwägen, welcher Weg
der beste ist. Und genau diesen Entscheidungsprozess sollen die Ethik-Richtlinien fördern.
Übungsaufgaben zu Kapitel 1
001 Was ist Untersuchungsgegenstand der Sozialpsychologie? Bitte grenzen Sie das Fach von
anderen Disziplinen ab.
002 Erläutern Sie an einem Beispiel aus der Unternehmenspraxis, wie soziale Normen das Leis-
tungsverhalten des einzelnen Mitarbeiters beeinflussen.
003 Stellen Sie sich vor, dass Sie der neue Vorgesetzte eines zehnköpfigen Arbeitsteams sind.
Sie möchten gerne einige Neuerungen einbringen. Diskutieren Sie, inwiefern Ihnen dabei
die Gesetzmäßigkeiten der Konformität hilfreich oder hinderlich sein werden.
004 Nennen Sie Maßnahmen gegen unkritischen Gehorsam und gegen die negativen Auswir-
kungen von Autorität.
005 Nennen und erläutern Sie aktuelle Probleme und Herausforderrungen der Sozialpsychologie.
Lernziele
Wer sind wir? Wie sind wir zu der Person geworden, die wir „Ich“ nennen? Das sind Fragen, die
sich mit unserem Selbst beschäftigen. Doch wie lässt sich der Begriff Selbst definieren?
Probieren Sie es einmal aus und beantworten Sie sich selbst folgende Fragen: Wer bin ich? Wie
bin ich? Vermutlich werden Sie Eigenschaften von sich ebenso nennen, wie Gruppenzugehörig-
keiten. Sie erzählen vielleicht etwas wie: ich bin Student, 30 Jahre alt, sportlich, intelligent, ehr-
geizig, Vater einer Tochter, Reiter und fahre einen Audi A4. Während unser Selbstkonzept in
unserer Kindheit recht konkret anhand leicht beobachtbarer Merkmale, wie Alter, Geschlecht,
Aussehen, Größe, Farbe der Haare und Hobbys beschrieben wird, nimmt es im Laufe unseres
Erwachsenwerdens immer komplexere Formen an. Körperliche Merkmale treten dann zugunsten
unserer psychischen Verfassung, wie Gedanken, Emotionen, unserer Persönlichkeit sowie der
Frage, wie Andere uns sehen, in den Hintergrund.111 Dies illustriert die unterschiedlichen Dimen-
sionen und Bedürfnisse, die bei einer Selbstdefinition eine Rolle spielen:
Unser Selbst beinhaltet zum einen das Selbstkonzept als die Summe aller Informationen und Ur-
teile einer Person über sich selbst. Das Selbstkonzept ist demnach unser Wissen und unsere Ein-
schätzungen über uns selbst.112 Es gehören aber ebenso die Prozesse der Selbstwahrnehmung,
Selbstaufmerksamkeit und Selbstregulation dazu.
Die Bestandteile des Selbst haben einen entscheidenden Einfluss auf unser Denken, Fühlen und
Handeln. Unser Selbst, also die Ansichten und das Wissen über uns, wird durch einen aktiven
Konstruktionsprozess in der Interaktion mit unserer sozialen Umwelt gebildet: Wir handeln und
agieren in unserer sozialen Welt und formen dadurch uns selbst und unsere Lebensumstände.
Dieser Prozess wird aber auch davon beeinflusst, wie wir uns selber gerne sehen wollen – durch
unsere Überzeugungen und unsere Gefühle zu uns selbst und durch unser Selbstwertgefühl.113
111 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 141; Vgl. Fischer & Wiswede (2009), S. 395
112 Vgl. Fischer & Wiswede (2009), S. 395
113 Vgl. Jonas et al. (2014) S. 143f.
46 Sozialpsychologie
Zusammengefasst können wir sagen: unser Selbst ist ein soziales Produkt: Durch die Interaktion
mit anderen lernen wir, wer wir sind – aber gleichzeitig verhalten wir uns anderen gegenüber in
einer bestimmten Art und Weise, um deren Bild von uns und deren Sicht auf uns zu beeinflus-
sen.114
Abbildung 21: Unser Selbst wird durch die Interaktion in der sozialen Welt geprägt und beeinflusst diese wiederum
auch mit.
(Quelle: Jonas et al., 2014, S.144)
Das Selbst erfüllt verschiedene Funktionen, die nachfolgend weiter erläutert werden.
Unser Selbst ist zunächst eine mentale Repräsentation, welche eine organisatorische und struktu-
rierende Funktion bezüglich unserer Kognitionen hat. Diese mentale Repräsentation besteht aus dem
Selbstkonzept (den kognitiven Inhalten) und dem Selbstwertgefühl (der affektiven Bewertung).
Das Selbstkonzept ist ein Netzwerk von Überzeugungen über uns und besteht aus Inhalten unse-
rer Selbsterfahrung. Es enthält alle unsere charakteristischen Merkmale, Werte, Ziele, sozialen
Rollen und Ängste. Die einzelnen Elemente unseres Selbstkonzeptes, durch die wir uns definieren,
sind Selbstschemata, die uns helfen, Informationen über die eigene Person und die zugehörige
Umwelt zu analysieren und zu organisieren.115 Informationen, die das Selbst betreffen oder in
Verbindung zum Selbst gesehen werden, werden besonders leicht und gründlicher verarbeitet
und man erinnert sich besser an sie. Überprüfen Sie das in Ihrem Alltag: An welches Ereignis
erinnern Sie sich eher? Ein intensives Gespräch mit einer Person über ein für Sie wichtiges Problem
oder ein Gespräch mit jemandem über die Probleme einer für Sie unbekannten Person? Die Ten-
denz, selbstbezogene Informationen besser als andere Information zu verarbeiten, nennt man
Selbstreferenzeffekt.116 Dieser Selbstreferenzeffekt führt auch dazu, dass wir zum Beispiel die
Leistungen oder die Persönlichkeit anderer Menschen dadurch beurteilen, indem wir sie mit uns
vergleichen und uns als Maßstab nehmen. Ebenso sind die Merkmale, die wir an uns am meisten
schätzen, auch jene, die wir bei anderen als wichtig erachten. Halte ich mich selber für fleißig, so
ist dies ein Merkmal, über das andere Leute auch verfügen sollten.
Unsere Selbstkenntnis enthält auch eine Gesamtbewertung und -einschätzung unseres Selbst –
unser Selbstwertgefühl. Wie sehen wir uns als Mensch? Auf welche charakteristischen Merkmale
bin ich stolz. Welche sind mir peinlich? Unser Selbstwertgefühl bezieht sich darauf, wie gut wir
uns selbst akzeptieren können und wie wir unseren Wert in unserer sozialen Umwelt einschät-
zen117 und es hat eine zentrale Bedeutung für unser Fühlen und unsere Bereitschaft zur Handlung.
Das Selbstwertgefühl entwickelt sich auf der Basis positiver und negativer Bewertungen einzelner
Aspekte des Selbstkonzeptes. Grundsätzlich unterscheiden sich Menschen in ihrem Selbstwertge-
fühl. Manche sehen sich stärker positiv und sind optimistisch bezüglich erreichbarer Ziele und wie
das Leben läuft. Andere haben eher negativere Einschätzungen über die eigene Person und haben
Zweifel bezüglich ihrer Qualitäten und Eigenschaften.118
Das Selbstwertgefühl unterliegt generell in der Lebensspanne Schwankungen: in der Kindheit ist
es positiv, verringert sich dann in der Adoleszenz (besonders bei Mädchen), steigt dann im Er-
wachsenalter an und nimmt im hohen Alter wieder ab (siehe Abbildung 22). Genau wie das
Selbstkonzept durch situative Einflüsse geprägt wird, verändert sich unser Selbstwertgefühl auch
mit aktuellen Einflüssen und Erfahrungen. Bei manchen Menschen ist das Selbstwertgefühl auch
weniger stabil als bei anderen und ist daher mehr durch alltägliche Erlebnisse beinflussbar. Diese
Menschen reagieren auch empfindlicher und mit einem höheren Ausmaß an Ärger, Feindseligkeit
und Defensivität auf potenzielle Bedrohungen des Selbstwertgefühls.119
Zusammenfassend ist der Aufbau unseres Selbst als mentale Repräsentation nochmals in Abbil-
dung 23 dargestellt.
Selbst (mentale
Repräsentation)
Selbstwertgefühl
Selbstkonzept
(affektive
(kognitive Inhalte)
Bewertung)
Unser Selbst hat ebenso eine Steuerungsfunktion bezogen auf unsere Emotionen und Motivatio-
nen. Diese Funktion tritt besonders deutlich zutage, wenn unser Selbstbild durch einen Angriff,
durch Kritik oder durch Erleben eines Misserfolgs bedroht wird – also, wenn unser Selbstwertge-
fühl in Gefahr ist.
Menschen haben ein grundsätzliches Motiv ein objektives Verständnis von sich selbst zu erlangen
– das Selbsteinschätzungsmotiv. Studien zeigen jedoch auch, dass wir in vielen Situationen zwar
bestrebt sind etwas über unsere Stärken herauszufinden, bei den Schwächen nehmen wir es dann
jedoch nicht mehr so genau. Da greift häufiger das Selbstaufwertungsmotiv, also das Bestreben
sich positiv zu sehen und das Bestreben nach einem positiven Selbstwertgefühl.120 Grundsätzlich
sind wir nämlich bestrebt, ein möglichst positives Selbstkonzept zu entwickeln und aufrechtzuer-
halten. Deshalb nutzen wir dann verschiedene Möglichkeiten, um unser positives Selbstbild zu
schützen oder wiederherzustellen:121
l Vergleich unseres Selbstbilds früher und heute, da wir dabei in der Regel Verbesserungen
erkennen;
l Einsatz von Zukunftsvisionen, um die Motivation zu zielführendem Verhalten zu erhöhen;
l Einsatz abwärts gerichteter Vergleiche (d.h., wenn wir uns mit Menschen vergleichen, de-
nen es schlechter geht als uns, die schwächer sind als wir, können wir unser Selbstwertge-
fühl stärken);
l Einsatz aufwärtsgerichteter Vergleiche zur Motivation und Zielformulierung, wobei der Ver-
gleichsmaßstab ein erreichbares Niveau haben muss, da sonst der gegenteilige Effekt eintritt.
Wir werden auf dieses Thema der Selbstaufwertung noch einmal zurückkommen und uns im
Kapitel 2.5 „Impression Management und die Wahrung eines positiven Selbstbildes“ mit konkre-
ten Ansätzen zur Wahrung des positiven Selbstbildes, wenn das Selbstbild bedroht ist, beschäfti-
gen. Aber warum werten wir uns selber auf? Studien zeigen, dass Selbstaufwertung positiv mit
psychischer und körperlicher Gesundheit sowie Wohlbefinden einhergeht.122 Erklärt werden kann
dies zum Beispiel mit der Terrormanagement-Theorie, die annimmt, dass unsere menschliche
Selbstaufmerksamkeit uns die eigene Endlichkeit und existenzielle Sorgen vor Augen führt und
dass die Menschen diese Furcht bewältigen, indem sie sich eine Weltsicht konstruieren, die hilft,
das Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten.123 Aber Selbstaufwertung und ein hohes Selbstwertge-
fühl fördern nicht nur unsere körperliche und psychische Gesundheit und stärken unsere Belast-
barkeit, sie führen auch – und das ist die Kehrseite der Medaille – dazu, dass wir unangemessene
Risiken eingehen (gefährliche Sexualpraktiken, Delinquenz, Substanzmissbrauch).
Eine weitere und dritte wichtige Funktion des Selbst besteht darin, „Herr über uns selbst“ zu sein
und Entscheidungen über unser Handeln zu fällen.124 Dies nennt man die ausführende Funktion
oder auch Selbstregulation. Prozesse der Selbstregulation sind zum Beispiel Impuls- und Affekt-
kontrolle sowie auch die Hierarchisierung von Absichten.125 Das Selbst reguliert Verhalten, trifft
Entscheidungen und formuliert Ziele und hat damit entscheidenden Einfluss auf unsere Lebens-
gestaltung. Es geht darum, inwieweit wir nicht nur auf äußere Bedingungen reagieren oder den
Impulsen unserer Bedürfnisse folgen, sondern, wie wir uns für oder gegen die eine oder andere
Verhaltensweise entscheiden. Die Selbstregulation ist also der Prozess, bei dem wir das eigene
Verhalten kontrollieren und lenken, um erwünschte Ziele, Gedanken und Gefühle zu erreichen.126
Die Selbstregulation kann als eine der wichtigsten Funktionen des Selbst betrachtet werden. 127
Die Fähigkeit zur Selbstregulation wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Zum einen durch
die Energieverfügbarkeit, denn wir benötigen viel Energie, um Kontrolle über unsere Handlungen
ausüben zu können. Selbstkontrolle erfordert viel Energie und die zur Verfügung stehenden Res-
sourcen sind begrenzt und werden durch Verausgabung verbraucht.128 Dies bedeutet, je stärker
eine Belastungssituation ist, desto geringer ist die vorhandene Energiekapazität und desto geringer
ist die Fähigkeit zur Selbstregulation. Zur Illustration stellen Sie sich vor, Sie legen großen Wert auf
gute und gesunde Ernährung, kochen daher selbst für sich und greifen nicht auf Fertiggerichte
zurück. Nun befinden Sie sich im Lernstress vor einer Prüfung. Vermutlich haben Sie nicht mehr
genug Energie zum täglichen Kochen und greifen auf ungesündere Ernährungsweisen zurück. Oder
122 Vgl. Taylor & Brown (1988), S. 193ff.; Vgl. Jonas et al. (2014), S. 178
123 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 178ff.
124 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 165ff.
125 Vgl. Fischer & Wiswede (2009), S. 393
126 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 185
127 Vgl. Fischer & Wiswede (2009), S. 423
128 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 166; Vgl. Jonas et al. (2014), S. 187ff.
50 Sozialpsychologie
Ihnen ist bestimmt auch schon aufgefallen, dass wir in stressigen Situationen vielleicht nicht immer
beherrscht sind, sondern unwirsch reagieren. Diese vorübergehende Verringerung unserer Regula-
tionsfähigkeit aufgrund der verringerten Energieressourcen nennt man auch Selbsterschöpfung.
Der zweite wichtige Aspekt im Rahmen der Selbstregulation ist die Selbstaufmerksamkeit,129 d.h.
der Grad an Aufmerksamkeit, der auf die eigene Person und das eigene Selbst gerichtet ist. Diese
Art der Aufmerksamkeit wird beeinflusst durch die individuelle Neigung und Bereitschaft, sich
selbst zu beobachten und durch situative Gegebenheiten. So erhöht sich beispielsweise der Zu-
stand der Selbstaufmerksamkeit durch externe Auslöser, die die Aufmerksamkeit auf uns fokus-
sieren: wir sehen Bilder oder einen Film von uns, wir schauen in einen Spiegel oder stehen vor
einem Publikum. Dadurch vergleichen wir verstärkt unsere momentanen Gedanken und unser
Verhalten mit unseren inneren Normen, Werten und Erwartungen. Erleben wir Übereinstimmung,
so ist dies ein positiv erlebter Zustand. Generell kann es sehr positiv sein, wenn man sich nach
einem Erfolg auf sich selber konzentriert und so die Leistung nochmal hervorhebt. Was aber,
wenn unser Handeln nicht mit unseren Normen und Werten übereinstimmt? Dies kann der Mo-
tivator und Anreiz sein, sich zu ändern und auch hier positiv herauszugehen. Eine weitere Mög-
lichkeit wäre natürlich auch der Selbstaufmerksamkeit zu entfliehen, wenn wir unser Verhalten
nicht ändern können oder wollen. Häufig sind Alkoholmissbrauch oder Fressattacken oder auch
riskantes Verhalten Ausdruck einer Flucht vor der Selbstaufmerksamkeit (siehe Abbildung 24). 130
Die Auswirkungen der Selbstaufmerksamkeit sind auch noch von der Selbstwirksamkeitserwar-
tung abhängig, also der Erwartung, dass wir mit unserem Handeln etwas bewirken und erreichen
können.131
Eng verbunden mit der Selbstaufmerksamkeit ist die Selbstüberwachung, d.h. das Ausmaß der
Überwachung des eigenen Verhaltens – auch Monitoring genannt. Liegt ein hohes Maß an Selbst-
überwachung vor, so erfolgt ein ständiger Abgleich mit den Anforderungen in Situationen oder
den Erwartungen anderer Menschen. Das Verhalten wird in hohem Maß an äußere Bedingungen
angepasst. Bei geringem Maß an Selbstüberwachung erfolgt die Orientierung stärker an eigenen
Befindlichkeiten und Sichtweisen als an denjenigen anderer Personen.132
Bei gut gelernten oder routinisierten Fertigkeiten kann ein zu hohes Maß an Selbstregulation aber
auch zum Versagen in Leistungsdrucksituationen, wie Prüfungen oder sportlichen Wettkämpfen,
führen.133
129 Vgl. Schwarzer (2000), S. 68ff.; Vgl. Jonas et al. (2014), S. 183f.
130 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 147ff.
131 Vgl. Schwarzer (2000), S. 173ff.; Vgl. Jonas et al. (2014), S. 184
132 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 186f.
133 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 190
Sozialpsychologie 51
Unser Selbstkonzept ist kein statisches Bild, sondern wird durch Kontextfaktoren beeinflusst: Es
sind nicht immer alle Aspekte des Selbstkonzeptes aktiv, sondern nur ein kleiner Teil der aktuell
situationsrelevanten.134 Daher ist unser Selbstkonzept situationsspezifisch und somit dyna-
misch135. Diese Kontextfaktoren bewirken die Fokussierung jeweils unterschiedlicher Selbstas-
pekte. Welche Aspekte nun genau im Fokus stehen, ist abhängig von der jeweiligen Zugänglich-
keit. Hier sind im Wesentlichen zwei Dimensionen zu unterscheiden: eine chronisch erhöhte Zu-
gänglichkeit und eine situativ erhöhte Zugänglichkeit.
l Kultureller Sozialisationskontext: Die Umgebung, in der wir aufwachsen, hat Einfluss auf
unser Selbstkonzept. So zeigt sich beispielsweise in westlichen Industrienationen ein eher
unabhängiges Selbstkonzept, d.h., eigene Gedanken und Meinungen sind relativ wichtiger
als Beziehungen zu anderen Personen. In asiatischen Kulturen zeigt sich ein eher abhängi-
ges Selbstkonzept, d.h., Beziehungen sind relativ wichtiger als eigene Meinungen.136
l Betonung von Unterschieden zu anderen Gruppen und Ähnlichkeiten zur eigenen Gruppe:
Die Selbstkategorisierungstheorie138 besagt, dass je nach Art der Wahrnehmung von uns
selbst unterschiedliche Aspekte in unseren Fokus treten. Denken wir über uns als Person
nach, so werden wir vor allem diejenigen Aspekte fokussieren, die uns von anderen Perso-
nen unterscheiden. Wir erleben uns als attraktiver, größer, intelligenter, dicker, schlanker,
liebevoller ... Denken wir über uns als Mitglied einer Gruppe nach, z.B. wir als Vegetarier,
so werden wir Aspekte fokussieren, die uns als Vegetarier kennzeichnen. Wir essen kein
Fleisch, viel Gemüse, viel Obst, bevorzugen Rohkost, ...139
l Stimmungen: Es werden diejenigen Selbstaspekte aktiviert, die zur aktuellen Stimmung pas-
sen – sind wir guter Stimmung, werden positive Aspekte aktiviert, sind wir schlechter Stim-
mung, eher negative Aspekte.
l Verhalten: Aktuelles Verhalten hat Rückwirkung auf die Wahrnehmung von Selbstaspek-
ten. Beschäftigen wir uns gerade mit einem Kind, so werden wir eher Selbstaspekte wahr-
nehmen, die mit Geduld, Einfühlungsvermögen, Mütterlichkeit in Zusammenhang stehen,
als wenn wir gerade ein Auto reparieren.
Nachdem wir nun die Aspekte und Funktionen unseres Selbst kennen gelernt haben, stellt sich
die Frage, wie sich unser Selbstbild entwickelt und zusammensetzt. Wie definieren wir, wer wir
sind? Wie entstehen die individuellen Inhalte des Selbstkonzepts? Hierfür ist Selbsterkenntnis not-
wendig, die auf unterschiedliche Art und Weise erfolgen kann. 140
Introspektion bedeutet das Nachdenken über sich selbst, das Nach-Innen-schauen, das Analysie-
ren eigener Gedanken, Gefühle, Motive und Beweggründe für unser Verhalten. Dieses Vorgehen
erscheint uns möglicherweise zunächst trivial, da es recht einfach erscheint, über diese Art und
Weise Informationen über uns zu erlangen und das Wissens über uns selbst zu erweitern. Schnell
stößt man damit jedoch auch an Grenzen, denn zum einen sind uns nicht alle Ursachen für unser
Verhalten unmittelbar zugänglich und bewusst und zum anderen nutzt der Mensch gar nicht so
häufig die Möglichkeit, über sich nachzudenken, wie wir glauben.141
Bei der Introspektion spielt wieder die Selbstaufmerksamkeit eine Rolle. Aber auch bei hoher
Selbstaufmerksamkeit ist es oft schwierig für uns zu wissen, warum wir uns so fühlen, wie wir es
gerade tun. Zum einen neigen Menschen dazu, ihnen unangenehme, ungewollte Gedanken und
Gefühle vom Bewusstsein fernzuhalten. Antriebe bleiben unbewusst. So kommt es dazu, dass
von uns vermutete Gründe gar nicht die wirkliche Ursache für unsere Gefühle sind. Zum Beispiel
glauben wir, dass uns eine Person unsympathisch ist, weil sie sich stets in den Vordergrund spielt,
immer das letzte Wort haben muss. Dieses Verhalten kann eine Rolle bei unserer Ablehnung spie-
len, der wahre Grund ist aber vielleicht, dass diese Person Ähnlichkeit mit jemandem hat, der uns
einmal schwer gekränkt oder verletzt hat. Wir würden möglicherweise vollkommen anders mit
dieser Person umgehen, wenn uns diese Ähnlichkeit bewusst wäre. Zum anderen versuchen wir
alles zu erklären und wir verlassen uns häufig auf unsere individuellen Kausaltheorien, welche
aber eher kulturelle Überlieferungen als wirkliches Faktenwissen darstellen.142
Schlussendlich kann man zusammenfassen, dass es häufig schwierig für uns ist, die Ursachen von
Gefühlen genau zu kennen. Wenn wir uns auf dieser Basis nun Gedanken über Pro und Kontra
einer Sache machen, dann reduzieren wir die Dinge auf jene, die sich für uns leicht benennen
und beschreiben lassen und übersehen dabei häufig die wahren Gründe für unsere Gefühle, wie
Zuneigung oder Abneigung gegenüber einer Person. Aber gerade die schwer verbalisierbaren,
unbeschreibbaren Gründe, warum die „Chemie“ stimmt oder nicht, sind unter Umständen die
auf lange Sicht wichtigen.143 Dass wir uns der Gründe für unser Verhalten nicht immer bewusst
sind, zeigt sich auch bei Konsumentenverhalten. In einer mittlerweile klassischen Studie wählten
Kundinnen eine Ware, die sie aufgrund spezieller Eigenschaften hervorhoben. Tatsächliche waren
alle Produkte gleich und die Kundinnen kauften jene, die sie zuletzt sahen.144
Die Selbstwahrnehmungstheorie145 geht davon aus, dass Menschen ihr eigenes Verhalten ge-
nauso beobachten wie das Verhalten anderer Personen und daraus ebenso Rückschlüsse auf Mo-
tive, Einstellungen, Emotionen und andere interne Zustände ziehen wie bei anderen Menschen.
Dies gilt gerade dann, wenn unsere Einstellungen und Emotionen schwer definierbar, schwach,
zweideutig oder nicht interpretierbar sind – also, wenn wir uns unsicher sind.
Nehmen Sie an, Sie werden gefragt, ob Sie andere begeistern oder überzeugen können. Wenn
Sie hierfür keine direkte Einschätzung verfügbar haben, so werden Sie wahrscheinlich in die Ver-
gangenheit blicken und sich Situationen überlegen, in denen Sie versucht haben andere zu über-
zeugen oder in denen andere sich Ihren Argumenten angeschlossen haben. Je nachdem, welche
Verhaltensweisen und Situationen Ihnen einfallen, wird Ihre Antwort ja oder nein lauten. Vielleicht
ist Ihnen auch schon passiert, dass Sie etwas getan haben und danach einen Rückschluss auf Ihre
Befindlichkeit gemacht haben. Möglicherweise haben Sie sich in den Finger geschnitten oder ver-
brannt und danach festgestellt, dass Sie aufgrund großen Stresses unkonzentriert waren.
Eine wichtige Rolle im Rahmen der Selbstwahrnehmung spielen intrinsische und extrinsische Motive:
l Intrinsisch motiviertes Verhalten wird aus Spaß und Interesse an der Handlung gezeigt. Die
Gründe für das Verhalten liegt in der Person und in den Erlebenszuständen während der
Handlung (bspw. das Erleben von Kompetenzgefühlen). Der angestrebte Zielzustand liegt
innerhalb der Handlung.
l Extrinsisch motiviertes Verhalten erfolgt, weil es äußere Anreize gibt, beispielsweise Aus-
sicht auf Belohnung, Entgelt oder auch Wegfall von Druck. Die Gründe für das Verhalten
liegen in den positiven Folgen. Der angestrebte Zielzustand liegt außerhalb der Handlung.
Wenn nun eine intrinsische Motivation durch eine extrinsische Motivation ersetzt wird, dann geht
das intrinsische Interesse an der Tätigkeit verloren. Dies nennt man den Effekt der Überrechtferti-
gung. Er besagt, dass beim Vorhandensein von extrinsischen Gründen grundsätzlich vorhandene
intrinsische Gründe in den Hintergrund treten und letztlich ganz verschwinden können. Laut der
Selbstwahrnehmungstheorie von Bem, werde ich mir mein Verhalten, wenn ich darüber nach-
denke, damit erklären, dass ich eine Belohnung dafür bekomme. Wird mir für mein Verhalten ein
externer Grund geliefert, bin ich nicht mehr auf der Suche und überlege nicht, warum ich mich
so verhalten habe.146 Wir attribuieren unser Verhalten also nur dann auf innere Zustände, wenn
uns die Situation nicht auseichend das Verhalten zu erklären scheint.
Hierfür ein kleines Beispiel: Sie spielen Fußball, einfach weil Sie Spaß und Freude daran haben.
Dann taucht jemand auf, der Ihnen für Ihr Üben Geld gibt. In Folge sinkt der Spaß an der Tätigkeit
und es entsteht das Gefühl, nur noch wegen des Geldes zum Training zu gehen. Wenn Sie dann
später keine Belohnung mehr bekommen, gehen Sie auch nicht mehr zum Training. Je stärker
Verhalten durch äußere Gründe zu erklären ist, desto geringer ist die Erfordernis nach inneren
Gründen zu suchen.
Das bedeutet, dass bei Vorliegen ausreichender extrinsischer Motive eine Zuschreibung intrinsi-
scher Motive sogar unterbleibt. Das heißt, dass Fußballspielen Spaß macht, wird gar nicht mehr
bewusst. Überträgt man dieses Ergebnis auf Führungsaufgaben, so könnte man daraus schließen,
dass Belohnungen kontraproduktiv seien. Generell sind die experimentellen Ergebnisse in diesem
Bereich eindeutig: je mehr jemand für eine Aktivität belohnt wird, desto weniger attraktiv bewer-
tet er diese. Allerdings muss man dies differenziert betrachten und kann nicht verallgemeinern,
denn der Effekt der Überrechtfertigung tritt nur unter bestimmten Voraussetzungen ein. Intrinsi-
sche Motivation kann grundsätzlich nur zerstört werden, wenn sie überhaupt vorhanden war. Das
heißt eine Belohnung ist unproblematisch, wenn ohnehin kein oder nur wenig Interesse an der
Aufgabe vorlag; sie ist besonders problematisch, wenn zuvor die intrinsische Motivation hoch
war. Außerdem ist die Art der Belohnung relevant. Ist die Belohnung direkt an Leistung gekoppelt,
z.B. Bonuszahlung bei Erreichen eines bestimmten Umsatzzieles, so ist die Auswirkung seltener
negativ als eine aufgabenabhängige und leistungsunabhängige Belohnung, z.B. gleiche Bonus-
zahlung für alle unabhängig von der Umsatzleistung. Und letztendlich tritt der Effekt der Über-
echtfertigung nicht auf, wenn man den Menschen ihre intrinsische Motivation als eigentlichen
Grund für ihr Verhalten deutlich macht.147
Die Selbstwahrnehmung spielt auch beim Erleben und Verstehen unserer Gefühle eine Rolle. Auch
wenn es anfangs etwas paradox klingen mag – schließlich glauben wir doch zu wissen, was wir
fühlen und müssen diesbezüglich nicht noch über uns nachdenken. Nach der Zwei-Faktoren-The-
orie der Emotion von Stanley Schachter148 benötigen wir jedoch zum Erleben einer Emotion zu-
nächst einen körperlichen Erregungszustand für den wir dann eine geeignete Erklärung suchen.
Da grundsätzlich unsere körperlichen Erregungszustände für uns schwierig zu erklären sind, grei-
fen wir auf situationsbezogene Informationen zurück und erklären somit unsere Erregung. In ein-
drucksvollen Studien konnte Schachter tatsächlich mit seinen Kollegen zeigen, dass die resultie-
renden Emotionen von den situativ angebotenen Möglichkeiten oder einer angebotenen Erklä-
rung der körperlichen Erregung abhängen (siehe Abbildung 25).149
Abbildung 25: Die Zwei-Faktoren-Theorie der Emotion: Menschen erleben zunächst einen körperlichen Erregungszu-
stand und versuchen ihn dann zu erklären
(Quelle: Nach: Aronson et al., 2014, S. 157)
Da es häufiger in unserem Alltag mehrere plausible Gründe für eine körperliche Reaktion gibt, ist
es, wie bereits erwähnt, schwierig unseren Erregungszustand und seine Gründe genau zu benen-
nen. Daher kann es auch zu falschen Ursachenzuschreibungen kommen. Dies nennt man auch
Fehlattribution des Erregungszustandes oder auch Erregungstransfer. 150
Eindrucksvoll belegt dies eine Studie von Dutton und Aron151, bei der Männer als Versuchsteilneh-
mer einer attraktiven Frau begegneten, die sie im Rahmen eines Psychologieprojektes um das Aus-
füllen eines Fragebogens bat. Nach dem Ausfüllen gab die attraktive Versuchsleiterin den Probanden
ihre Telefonnummer und legte den Männern nahe, sie anzurufen, wenn sie weitere Informationen
zur Studie wünschten. In der einen Versuchsbedingung mussten die Männer jedoch zuvor eine sehr
hohe, schmale, schwankende und durchaus beängstigende Hängebrücke über einen Fluss in einer
tiefen Schlucht überqueren und wurden noch auf der Brücke angesprochen. In einer weiteren Ver-
suchsbedingung wurden die Probanden erst nach einer 10-minütigen Pause nach dem Überqueren
der Brücke angesprochen. Und in einer dritten Variante überquerten die Probanden eine feste und
breite Holzbrücke. Offensichtlich war der körperliche Erregungsgrad der Versuchsteilnehmer recht
unterschiedlich und wir können annehmen, das die Versuchspersonen, welche noch auf der
schwankenden Hängebrücke angesprochen wurden, eine deutlich höhere körperliche Erregung hat-
ten als die Teilnehmer in den anderen Bedingungen. Und tatsächlich – ein viel höherer Anteil der
Männer in dieser Versuchsbedingung attribuierten offensichtlich die körperliche Erregung fälschli-
cherweise auf die Attraktivität der Versuchsleiterin und riefen die Frau später an. Aus den anderen
Versuchsbedingungen taten dies deutlich weniger Männer und war der Versuchsleiter gar ein Mann,
gab es keine Unterschiede zwischen den Versuchsbedingungen.152
150 Attribution ist ein psychologischer Begriff und meint Ursachenzuschreibung. Damit beschäftigt sich auch das
nächste Kapitel.
151 Vgl. Dutton & Aron (1974), S. 510ff.
152 Vgl. Dutton & Aron (1974), S. 510ff.
56 Sozialpsychologie
Interessant ist es auch, sich der Frage zu widmen, wie wir uns selber unsere Fähigkeiten und Bega-
bungen erklären. Manche Menschen glauben, dass man bestimmte Fähigkeiten und Begabungen
hat und andere eben nicht. Dies kann man als eine starre Denkweise bezeichnen. Diese Denkweise
geht davon aus, dass wir eine feststehende und vor allem unveränderliche Menge an Intelligenz,
besonderer Begabung für beispielsweise Musik oder Sport haben. Mit dieser Denkweise ist es wahr-
scheinlicher, dass wir nach Rückschlägen aufgeben, da wir eben nicht über die erforderliche Fähig-
keit oder Fertigkeit verfügen. Andere Menschen hingegen glauben, dass Ihre Fähigkeiten formbar
sind und wachsen können. Dies nennen wir eine an Wachstum orientierte Denkweise. Was glauben
Sie, wie solche Menschen mit einem Rückschlag umgehen? Genau – diese Menschen sehen mit
höherer Wahrscheinlichkeit einen Rückschlag als Möglichkeit, um sich anzustrengen und sich zu
verbessern.153 Ein Weg der Selbsterkenntnis, der prägend dafür ist, wie wir unser Selbst definieren,
ist also zweifelsohne die Art und Weise, wie wir über unsere Fähigkeiten denken.
Es stellt sich am Rande die Frage, wie gut wir unsere Fähigkeiten denn eigentlich einschätzen
können. Dies ist zwar für den eben beschriebenen Weg der Selbsterkenntnis irrelevant, denn es
genügt ja schon der Glaube, dass meine Fähigkeiten veränderbar sind, um mich anzustrengen –
aber es ist eine Frage, die sich stellt, wenn wir uns mit den Wegen einer möglichen Selbsterkennt-
nis beschäftigen. Zum einen neigen die meisten Menschen dazu, ihre positiven Eigenschaften zu
überschätzen und sich für klüger, attraktiver usw. als der Durchschnitt zu halten. Dies ist schon
statistisch nicht möglich.154 Einen weiteren Anhaltspunkt liefert der sogenannte Dunning-Kruger-
Effekt. Menschen, die von einem Fachgebiet wenig Wissen haben oder eine geringe Expertise
besitzen, haben paradoxerweise ein hohes Selbstvertrauen in ihr Wissen in diesem Bereich. Mit
dem Anwachsen des Wissens und der Expertise sinkt zunächst das Vertrauen in die diesbezügli-
chen Fähigkeiten, um dann bei noch größer Expertise langsam anzusteigen. Wenn ich wenig Wis-
sen über etwas habe, fehlt mir auch das Wissen, um die Richtigkeit meines Wissens einschätzen
und bewerten zu können. Das Wissen, um Richtig und Falsch in dem Zusammenhang zu beurtei-
len, kann ich nur haben, wenn ich kompetent in dem Bereich bin.155
Und letztendlich haben Menschen eine Menge positiver Illusionen über ihr Selbst: über das Aus-
maß an Kontrolle, über ihre Erfolgsaussichten und die Qualität ihrer Leistungen.156
Bereits in der Abbildung 21 und unter dem Punkt 2.3 „Die Stabilität des Selbst“ wurde deutlich,
dass unser Selbst nicht aus sich alleine heraus entsteht, sondern durch die Auseinandersetzung
mit anderen Menschen geprägt wird. Schon alleine zur Abgrenzung unseres Selbst von anderen
Menschen benötigen wir diese.
Um unsere eigenen Fähigkeiten und Einstellungen einschätzen und erfassen zu können, ist es
nützlich sich mit anderen zu vergleichen. Dabei leistet der Vergleich mit anderen Personen einen
wichtigen Beitrag zu unserer Selbsteinschätzung. Nehmen wir an, Sie absolvieren einen Intelli-
genztest und erreichen 80 von 100 Punkten. Das klingt für sich genommen recht gut. Die Ein-
schätzung ändert sich jedoch, wenn Sie erfahren, dass die durchschnittliche Punktzahl 90 und
höher ist oder dass die durchschnittlich erreichte Punktzahl bei 60 liegt. Im ersten Fall sinkt Ihre
Selbsteinschätzung, im zweiten Fall steigt sie vermutlich an. Die Ursprünge dieses Ansatzes liegen
in der Theorie des sozialen Vergleiches, die von Leon Festinger formuliert und nachfolgend von
vielen anderen aufgegriffen und weiterentwickelt wurde.157
Wir nehmen soziale Vergleiche besonders dann vor, wenn es sich um abstrakte Begriffe, wie z.B.
Sportlichkeit handelt, wenn kein objektiver Maßstab existiert oder wenn wir uns bezüglich einer
bestimmten Facette unseres Selbst unsicher fühlen. Bei dem Beispiel Sportlichkeit stellt sich die
Frage nach konkreten Inhalten. Sie empfinden sich als sportlich, weil Sie zweimal die Woche spa-
zieren gehen, einmal ins Fitness-Studio und morgens zu Fuß zum Bäcker laufen. Im Vergleich zu
jemandem, der nie Sport macht und jeden Weg mit dem Auto zurücklegt, haben Sie Recht. Ver-
gleichen Sie sich aber mit jemandem, der täglich vor der Arbeit 30 Minuten joggen geht und
zweimal die Woche sowie am Wochenende 30 km Fahrrad fährt, dann ist fraglich, ob Sie wirklich
so sportlich sind, wie Sie sich erleben. Die Tendenz zum sozialen Vergleich ist also individuell un-
terschiedlich und wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst.
Mit wem wir uns vergleichen, hängt wiederum von dem Ziel unseres Vergleiches ab: wenn wir
uns über unseren tatsächlichen Stand informieren wollen, dann sollte ich eine Person zum Ver-
gleich wählen, die einen ähnlichen Hintergrund wie ich hat. Wenn wir wissen wollen, was eine
mögliche Spitzenleistung ist, dann sollten wir einen aufwärts gerichteten Vergleich wählen. Um
bei dem Beispiel Sport zu bleiben, sollte ich mir dann tatsächlich jemanden zum Vergleich heran-
ziehen, der regelmäßig trainiert. Dies kann jedoch auch dazu führen, dass wir uns unterlegen
fühlen und resignieren. Wenn wir unseren Selbstwert erhöhen wollen, dann sollten wir einen
abwärts gerichteten Vergleich wählen und – auf unser Beispiel bezogen – den unsportlichen Mit-
menschen zum Vergleich wählen.158
l Assimilation, d.h. Annäherung des eigenen Urteils an den Vergleichsstandard – hier wird
im Vergleich auf Ähnlichkeiten fokussiert.
l Distanzierung, d.h. Kontrastierung zum Vergleichsstandard – hier wird im Vergleich auf
Unterschiede fokussiert.
Ob beim Vergleich nach Ähnlichkeiten oder Unterschieden gesucht wird, ist abhängig von ver-
schiedenen Faktoren: 159
l Vergleichsstandard: Je extremer der Standard, desto stärker ist die Tendenz zur Suche nach
Unterschieden. Beim Vergleich mit einem Topmodell werden Frauen eher dazu tendieren,
ihre Attraktivität niedrig zu bewerten – also starke Unterschiede wahrzunehmen – als beim
Vergleich mit einer Frau mittleren Alters mit durchschnittlicher Figur.
l Art der Informationsverarbeitung: Wenn die Aufgabe lautet „Suche nach Ähnlichkeiten“,
so besteht eine Tendenz zu Assimilation; lautet die Aufgabe „Suche nach Unterschieden“,
so besteht die Tendenz zu Distanzierung.
Nicht unerwähnt bleiben soll letztendlich auch, dass wir auch die Ansichten anderer, uns naheste-
hender Menschen oft übernehmen, wenn es um unsere Sichtweise der sozialen Welt geht. Sicher-
lich ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass Menschen, die sich nahestehen und viel Zeit miteinander
verbringen häufig in vielen Fällen ganz ähnliche Ansichten haben. Dazu wird sicherlich auch bei-
tragen, dass sich Menschen mit ähnlichen Ansichten eher zusammenfinden – ganz nach dem
Motto: „Gleich und Gleich gesellt sich gern“. Aber gerade wenn Menschen miteinander auskom-
men wollen oder müssen, werden sie auch Einstellungen und Ansichten übernehmen.160
Die Kultur, das Umfeld in dem eine Person lebt, übt einen entscheidenden Einfluss auf das Selbst-
konzept aus, denn die Kultur setzt Werte und Normen, an die sich eigene Maßstäbe und Werte
anpassen. Dies zeigt sich besonders im Vergleich von individualistischen westlichen Kulturen mit
kollektivistischen östlichen Kulturen. 161
Denken Sie an Ihren Urlaub in südlichen Ländern Europas und vergleichen Sie verschiedene As-
pekte, z.B. den Umgang mit Kindern dort mit dem Umgang hier. In südlichen Ländern ist es nor-
mal, dass Kinder spielen, laut sind, herumrennen – was passiert, wenn Kinder das hier tun? Oder
der Umgang mit der Mittagspause – dort sind lange Mittagspausen häufig eine Selbstverständ-
lichkeit, erklären Sie hier Ihrem Arbeitgeber, Sie wollten täglich zwei oder drei Stunden Mittags-
pause machen. Diese Beispiele haben auch Auswirkungen auf das Selbstbild, auf die Werte und
Erwartungen, auf die wir unser Selbstkonzept gründen – hier erleben wir uns als wenig pflichtbe-
wusst, wenn wir so lange Mittagspause machen, verurteilen vielleicht sogar Kollegen, die sich ein
solches Recht zumindest teilweise herausnehmen. Würden wir in Südfrankreich, in Italien oder
Spanien leben, wäre eine solche Vorgehensweise für uns eine Selbstverständlichkeit.
Vergleicht man nun westliche mit östlichen Kulturen, so zeigen sich deutliche Unterschiede sowohl
in der Werteorientierung, als auch in den jeweiligen Selbstkonzepten. In individualistischen west-
lichen Kulturen haben individuelle Ziele in der Regel Vorrang vor Gruppenzielen. Leistungsorientie-
rung, Streben nach Verbesserung der eigenen individuellen Position sowie Autonomie und Einzig-
artigkeit bilden einen wichtigen Grundpfeiler der Motivationsstruktur. Demgegenüber stehen in
kollektivistischen östlichen Kulturen Gruppenziele im Vordergrund, individuelle Ziele werden die-
sen untergeordnet. Leistung dient nicht in erster Linie der Verbesserung der eigenen individuellen
Position, sondern wird erbracht, um die Position der eigenen Gruppe zu verbessern. Das Selbst ist
grundlegend mit anderen verbunden und es wird Beziehungsharmonie betont.162
Das independente Selbst betont die Autonomie und den Individualismus und das Selbst wird über
innere Merkmale wie Persönlichkeitsmerkmale, Fähigkeiten und Einstellungen definiert.164 Wir
lernen in unserem Kulturkreis uns selbst unabhängig von und getrennt von anderen zu definieren
und wertschätzen dementsprechend auch Unabhängigkeit und Eigenartigkeit. Wichtige Bestand-
teile dieses Selbstkonzepts sind:
161 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 142ff.: Vgl. Jonas et al. (2014), S. 163f.
162 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 163
163 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 142f.
164 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 163f.
60 Sozialpsychologie
Das interdependente Selbst dagegen wird primär durch die Verbindung und Beziehungen zu an-
deren, durch Gruppenmitgliedschaften und durch soziale Rollen definiert.165 Die Selbstdefinition
basiert in diesen Kulturen also auf der Beziehung zu anderen und legt zu Grunde, dass das eigene
Verhalten oft vom Denken, Fühlen und Handeln anderer bestimmt wird. Daher wird Einzigartig-
keit und Unabhängigkeit – ganz im Gegensatz zu unserer Kultur – eher verpönt.166 Wichtige Be-
standteile dieses Selbstkonzeptes sind:
So wird, was eine Kultur als normal und positiv ansieht, von einer anderen Kultur völlig anders
bewertet.
Gibt es Unterscheide in den Selbstkonzepten zwischen Männern und Frauen oder spiegeln solche
Wahrnehmungen eher gängige Stereotype wieder? Frauen sprechen eher über Gefühle, Probleme
und Beziehungen und Männer sprechen über alles, außer dieses?
Forschungen in den vereinigten Staaten zeigten, dass sich zumindest dort Unterschiede in den
Selbstkonzepten zeigen167 (über die Probleme der Allgemeingültigkeit von Studienergebnissen
siehe Kapitel 1.5.1 „Sozialpsychologie, Kultur und die Verallgemeinerbarkeit der Aussagen“).
Demnach konzentrieren sich Frauen eher auf enge Beziehungen, wie die zum Partner oder zu den
Kindern (relationale Interdependenz), während bei Männern eher die Zugehörigkeit zu größeren
Gruppen, wie die Nationalität oder die Zugehörigkeit zu einem Verein, eine Rolle spielt (kollektive
Interdependenz). So legen Frauen mehr Wert auf Vertrautheit und eine kleine Zahl enger Freunde
und thematisieren dort Gefühle und persönliche Themen – bei Männern steht eher ein Engage-
ment in größeren Gruppen, wie Sportvereinen, im Mittelpunkt.168 Wenn Frauen nach wichtigen
emotionalen Ereignissen in ihrem Leben gefragt wurden, berichteten diese daher eher persönliche
Ereignisse, wie Heirat oder Tod. Männer erzählen hauptsächlich von Ereignissen, die mit ihrer
Mitgliedschaft in Gruppen in Zusammenhang standen (siehe Abbildung 28).
Abbildung 28: Geschlechtsunterschiede bei den verschiedenen Arten von Interdependenz: Frauen berichten bei der
Frage nach wichtigen emotionalen Ereignissen eher solche, die mit engen Beziehungen zu tun haben,
Männer hingegen solche, die mit der Zugehörigkeit zu größeren Gruppen in Verbindung stehen
(Quelle: Aronson et al., 2014, S. 145)
Mädchen werden zudem so sozialisiert, dass sie solche Eigenschaften priorisieren, die sich an
anderen ausrichten. Dahingegen werden Jungs ermutigt, Eigenschaften zu zeigen und zu entwi-
ckeln, die sie von anderen unterscheiden. Daher neigen Frauen eher dazu, ein interdependentes
Selbst zu entwickeln und Männer eher ein independentes.169
Wie wir bereits schon wissen, beruht eine der mächtigsten Determinanten menschlichen Verhal-
tens auf unserem Bedürfnis, ein stabiles, positives Selbstbild aufrechtzuerhalten. Wir sind bestrebt,
eine relativ vorteilhafte Sicht auf uns selbst zu wahren, insbesondere dann, wenn wir auf Hinweise
stoßen, die unserem typischerweise positiven Selbstverständnis widersprechen. So sorgen wir
schon im Rahmen der Wahrnehmung dafür, dass wir bevorzugt Informationen verarbeiten und
uns an solche erinnern, die unser Selbstbild bestätigen. 170 Aber auch gegenüber anderen Men-
schen sind wir bestrebt uns und unser Handeln im besten Licht erscheinen zu lassen und versu-
chen andere Menschen dazu zu bringen, uns zu sehen, wie wir gesehen werden möchten.171
Im Folgenden wird dargestellt, welche typischen Bedrohungssituationen für das Selbst auftreten
können und wie diesen entgegengewirkt werden kann.172
Bedrohungssituationen sind:
sozialen Vergleich und bei der Ausführung einer Aufgabe, bei der Stereotype wirksam sind.
Ein Beispiel hierfür wäre: Sie sind eine Frau, es besteht das Vorurteil, dass Frauen hand-
werklich unbegabt sind und Sie sollen den Reifen eines Autos wechseln.
l Erinnerung an die eigene Sterblichkeit: Die Konfrontation mit der Endlichkeit des eigenen
Lebens bedroht die eigene Wertigkeit. Daher versuchen wir eine spezielle Sicht auf die Welt
und die eigene Person einzunehmen. Entsprechend der Terrormanagement-Theorie 173
dient ein gutes Selbstwertgefühl als Puffer vor dem Gedanken an unseren Tod.174 Diese
Theorie postuliert zwei wichtige Dimensionen, die vor der Angst vor dem eigenen Tod
schützen. Da ist zum einen die kulturelle Weltsicht, die für eine gewisse Ordnung, Bestän-
digkeit und Sinn im Leben sorgt, für Werte, an denen man sich orientieren kann und die
ggf. ein Bild von Transzendenz und geistiger Existenz – unabhängig von der körperlichen
Existenz – vermittelt. Die zweite Dimension ist die Selbstachtung, d.h., der Mensch strebt
danach so zu leben, dass er seine Selbstachtung nicht verliert. Er bemüht sich hier Werte
zu verfolgen, die zum jeweiligen kulturellen Kontext passen. Grundsätzlich sind alle Men-
schen den gleichen Bedrohungssituationen ausgesetzt, jedoch gibt es unterschiedliche Fä-
higkeiten zum Umgang mit solchen Situationen. So sind Personen mit vorübergehend ge-
schwächtem oder gar chronisch niedrigem Selbstwertgefühl schlechter in der Lage, mit
Bedrohungssituationen umzugehen als Personen mit hohem Selbstwertgefühl. Personen
mit hoher Selbstregulationsfähigkeit sind besser in der Lage sich vor Bedrohungen zu schüt-
zen und Strategien einzusetzen, die das eigene Selbstbild stabil halten.
l Selbstwertbestätigung: Konzentration auf Aspekte und Bereiche, die das Selbstbild bestä-
tigen, in denen man „gut“ ist. „Gegengewicht“ zu einem Misserfolg in einer mathemati-
schen Prüfung könnte das gute Abschneiden in einem Sprachtest sein. Der Verlust des
Arbeitsplatzes könnte zunächst kompensiert werden mit einer guten Leistung im Sport,
zum Beispiel der erfolgreichen Teilnahme an einem Marathonlauf.
l Positive Selbstdarstellung: wir versuchen die Eindrücke zu steuern, die wir bei anderen
hinterlassen und versuchen verschiedene Attributionen (Ursachenzuschreibungen) und
Emotionen hervorzurufen (siehe Tabelle 2).175
l Selbstwertdienliche Vergleiche: Soziale Vergleiche vor allem mit Personen denen gegen-
über man vergleichsweise besser abschneidet und Distanzierung gegenüber Personen, die
vermeintlich deutlich besser abschneiden als man selbst. Bezüglich Sportlichkeit und Fitness
sollte man also eher den Vergleich mit jemandem suchen, der vor allem das „Couching“
pflegt, anstatt mit jemandem, der ständig im Fitness-Studio trainiert.
l Defensive Attributionen:178 Bei real existenten Bedrohungen neigen wir dazu, die Bedrohung
für uns geringer anzusehen als für andere, z.B. gehen wir davon aus, dass wir nicht an Krebs
erkranken werden, weil wir gesünder leben, immer zur Vorsorge gehen ... usw. In diese Kate-
gorie gehört der sogenannte unrealistische Optimismus, der besagt, dass man davon ausgeht,
dass einem selbst mehr Gutes und weniger Schlechtes widerfahren wird als anderen.179 Eine
weitere defensive Attribution ist der Glaube, dass schlechte Dinge nur schlechten Menschen
passieren, oder nur solchen, die dumme Fehler begehen. Aus diesem Grund wird uns nichts
Schlimmes passieren. Dies bezeichnet man auch als Glauben an eine gerechte Welt.180
2.6 Das Bedürfnis unser Verhalten zu rechtfertigen: Die Theorie der kognitiven
Dissonanz
Die Theorie der kognitiven Dissonanz hat seit ihrer ersten Veröffentlichung im Jahr 1957 mehr als
jede andere sozialpsychologische Theorie zu empirischer Forschung angeregt.182 Sie ist nicht nur
eine der bekanntesten, sondern auch eine der umstrittensten Theorien in der Sozialpsychologie.
Einer der Gründe dafür ist, dass viele Vorhersagen dieser Theorie dem gesunden Menschenverstand
widersprechen.183 Allerdings ist sie in der Lage, viele Phänomen aus unserem Alltag zu erklären.184
Die Theorie ist aus der Gestaltpsychologie hervorgegangen und geht davon aus, dass jeder
Mensch ein Bedürfnis nach Konsistenz hat und daher bestrebt ist, Widersprüche zwischen ver-
schiedenen Kognitionen zu vermeiden bzw. wieder zu neutralisieren. Kognitionen sind geistige
Phänomene wie Überzeugungen, Urteile, Erinnerungen, Wissen oder Absichten. Kognitive Kon-
sistenz bedeutet, dass sich Gedanken, Meinungen oder Erinnerungen einer Person miteinander
in Einklang befinden. Ist dies nicht der Fall, so kommt es zu Unbehagen. Diesen unangenehmen
Zustand nennt man kognitive Dissonanz und er motiviert dazu, diesen Zustand wieder abzu-
bauen.185 Dieses ungute Gefühl kennen Sie sicherlich aus dem Alltag, wenn Sie etwas gekauft
haben und sich hinterher fragen, ob es richtig war. Es sind Gedanken wie: Ist der Preis angemes-
sen? Brauche ich das Produkt wirklich? Und um über dieses Unbehagen hinweg zu kommen,
fangen Sie an, gute Gründe für Ihre Entscheidung zu finden. Ein anderes alltägliches Beispiel ist,
wenn Sie gerne rauchen (Kognition 1), Ihnen aber gleichzeitig bewusst ist, dass Rauchen schädlich
ist und Krebs verursachen kann (Kognition 2). Diese beiden Kognitionen sind schwer miteinander
vereinbar und werden kognitive Dissonanz auslösen.
In dem klassischen Experiment zur Dissonanz von Festinger und Carlsmith186 erzählten Studierende
anderen Studierenden eine Lüge und bekamen dafür einen unterschiedlich hohen Geldbetrag. Die
Aufgabe bestand zunächst in einer ausgesprochen langweiligen Tätigkeit. Die Probanden sollten
eine Reihe von Spulen auf ein Tablett legen, sie wieder herunternehmen und danach wieder da-
rauflegen – dasselbe immer wieder, über 30 Minuten lang. Danach bekamen die Versuchspersonen
die Aufgabe, eine Reihe von viereckigen Pflöcken im Uhrzeigersinn zu drehen, wieder 30 Minuten
lang. Nach dieser Prozedur begann für die Autoren das eigentliche Experiment. Es war wie folgt
aufgebaut: Der Versuchsleiter bedankte sich bei den Teilnehmern und äußerte dann noch eine
Bitte. Die Versuchsperson sollte eine andere wartende Versuchsperson (in Wirklichkeit ein Mitwis-
ser) in das Experiment einweisen, weil der Student, der dies üblicherweise vornahm, nicht erschie-
nen sei. Bei der Einweisung sollte der Proband erzählen, dass dieses Experiment sehr interessant
und anregend sei. Es ginge darum, herauszufinden, wie unterschiedliche Erwartungen an das Ex-
periment die Leistung beeinflussten. Für die Einweisung sollte der Student auch ein Honorar erhal-
ten. Dabei gab es zwei Versuchsbedingungen: eine Gruppe von Studenten bekam einen Dollar,
die andere Gruppe 20 Dollar. Nachdem die Versuchspersonen die nachfolgenden Probanden ent-
sprechend in das Experiment eingewiesen hatten, wurden sie auf dem Gang von Studenten des
jüngeren Semesters angesprochen. Sie gaben vor, im Rahmen einer Interviewstudie etwas über die
an der Universität durchgeführten Untersuchungen erfahren zu wollen. Bei diesen Interviews
wurde regelmäßig nach dem soeben absolvierten Experiment gefragt. Die Versuchspersonen hat-
ten somit die Gelegenheit, unverblümt zu sagen, was sie von dem Erlebten hielten.
Überlegen Sie doch einmal kurz an dieser Stelle, was Ihre Antwort gewesen wäre – je nachdem,
ob Sie einen oder 20 Dollar als Honorar erhalten hätten. Fakt ist, dass jeder Proband der warten-
den Versuchsperson eine Lüge erzählte. Festinger und Carlsmith gingen aufgrund ihrer Theorie
davon aus, dass die Probanden, die 20 Dollar für ihre Lüge erhalten hatten, sich selbst sagten,
dass sie einen gewichtigen Grund zum Lügen hatten. Sie hatten dafür nämlich viel Geld erhalten.
Wer dagegen fürs Lügen nur einen Dollar erhalten hatte, der konnte sich sein Lügen nicht so
einfach erklären. Die Dissonanztheorie setzt aber voraus, dass wir unser Verhalten – zumal unser
eigenes – erklären wollen, und zwar stimmig und widerspruchsfrei. Nun steht die Behauptung:
„dieses Experiment ist interessant“ in einer sehr unstimmigen Beziehung zu der Tatsache, dass es
sterbenslangweilig ist. Da bei der 1-Dollar-Gruppe der Anreiz für die Lüge recht schwach war, um
das im Grunde widersprüchliche Verhalten zu erklären, sollten folglich die Teilnehmer der 1-Dol-
lar-Gruppe kognitive Dissonanz empfinden.187
Die 20-Dollar-Gruppe wird dieser Unverträglichkeit mit folgender Kognition begegnet sein:
l Kognition C: Ich habe eine Dienstleistung ausgeübt, indem ich für 20 Dollar gesagt habe,
das Experiment sei interessant. Das war nur ein Job, für den ich angemessen bezahlt wurde.
Genau dieser Vorstellung, nämlich angemessen bezahlt worden zu sein, konnte sich die 1-Dollar-
Gruppe nicht hingeben. Als externale Rechtfertigung reichte die Entlohnung nicht. Daher konnte
sie nicht wie die 20-Dollar-Gruppe eine weitere Kognition C hinzuziehen.
l Änderung der Kognition A: So schlimm war das Experiment nun auch wieder nicht.
Weil die 1-Dollar-Gruppe unter den externalen Bedingungen keinen überzeugenden Grund vor-
findet, von dem Experiment zu behaupten, es sei interessant, passt sie die internalen Bedingungen
an und wertet das Experiment auf. Nachdem sie einmal ihre Meinung zu dem Experiment geän-
dert hatte, gab es für die 1-Dollar-Gruppe keine kognitive Dissonanz mehr bei der Behauptung.
Dementsprechend wird über den Versuch positiver berichtet. Wie von der Dissonanztheorie vor-
hergesagt, bewerteten die Probanden, die nur einen Dollar erhalten hatten, die Aufgabe als sig-
nifikant interessanter als die Probanden, die 20 Dollar erhalten hatten.188
Eine andere berühmte Untersuchung von Cohen sollte die Befunde von Festinger und Carlsmith
mit einer neuen Methode replizieren.189 Studenten sollten einen Aufsatz schreiben, der ihrer ei-
gentlichen Meinung zuwiderlief. Es ging darum, das Eingreifen der Polizei bei Studentenunruhen
zu verteidigen. Den Studenten wurde erzählt, dass sie aus Gründen der Ausgewogenheit für beide
Seiten Argumente sammeln sollten. Wieder wurden die Versuchspersonen entlohnt, und zwar
zwischen zehn Dollar und 50 Cent. Wieder zeigte sich, dass die Gruppe, die am geringsten ent-
lohnt wurde, die stärkste Einstellungsänderung vornahm.
Die Experimente von Festinger und Carlsmith oder von Cohen sind Beispiele für das sogenannte
Forced-Compliance-Paradigma, einer Versuchsanordnung, die aufgrund einer forcierten oder er-
zwungenen Einwilligung zu einer Einstellungsänderung führt. Der dahinterstehende Gedanke ist
neuartig. Denn normalerweise würde man davon ausgehen, dass man, um eine Person in ihrem
Verhalten zu beeinflussen, zunächst durch Überzeugung und Überredung ihre Einstellung ändern
muss, um in der Folge auf entsprechend verändertes Verhalten zu hoffen.190
Festinger hat in seiner Theorie näher beschrieben, wie und unter welchen Bedingungen kognitive
Dissonanz entsteht. Er unterscheidet zwischen Kognitionen, die in irrelevanter und solchen, die in
relevanter Beziehung zueinander stehen. Zwei Kognitionen stehen in einer relevanten Beziehung
zueinander, wenn beide im kognitiven System des Individuums etwas miteinander zu tun haben:
Die Kognition „Ich studiere Wirtschaftspsychologie" und die Kognition „Die Prüfungsanforderun-
gen werden verschärft" stehen in einer relevanten Beziehung. Zwei Kognitionen stehen in einer
irrelevanten Beziehung, wenn sie zusammenhanglos nebeneinander auftreten. Beispiel: „Ich stu-
diere Wirtschaftspsychologie" und „Es regnet in Riedlingen".
Relevante Beziehungen zwischen Kognitionen können konsonant und dissonant sein. Dieser Ge-
danke soll noch einmal am Thema Rauchen verdeutlicht werden. Obwohl bekanntlich Rauchen
die Gesundheit schädigt, raucht etwa ein Drittel der deutschen Bevölkerung. Das gemeinsame
Auftreten der Kognitionen „Ich konsumiere täglich 20 Zigaretten“ und „Rauchen ist extrem ge-
sundheitsschädlich“ erzeugt Dissonanz, wenn sie für eine Person miteinander unvereinbar sind.
Zwei Kognitionen stehen in einer konsonanten Beziehung, wenn sie für eine Person miteinander
vereinbar sind: z.B. „Ich rauche“ und „Rauchen beruhigt mich“. Festinger meint dabei nicht logi-
sche oder kausale Unvereinbarkeiten, sondern psychologische. Was für eine Person A psycholo-
gisch vereinbar ist, mag für Person B psychologisch unvereinbar sein.
188 Vgl. Festinger & Carlsmith (1959), S. 203f.; Vgl. Fischer et al. (2014), S. 16f.
189 Vgl. Cohen (1962), S. 75ff.
190 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 16f.
Sozialpsychologie 67
Das Ausmaß der kognitiven Dissonanz ist von zwei Aspekten abhängig:191
l dem Verhältnis zwischen den dissonanten und den konsonanten Kognitionen sowie
l der Wichtigkeit der in der dissonanten Beziehung stehenden Kognitionen.
Kognitive Dissonanz entsteht z.B. auch dadurch, dass eine Person eine Entscheidung zwischen
zwei Alternativen (z.B. zu rauchen oder nicht zu rauchen) getroffen hat. Je höher die Anzahl und
Wichtigkeit der Kognitionen, die unvereinbar mit der gefällten Entscheidung sind und die impli-
zieren, dass die spezifische Entscheidung nicht hätte gefällt werden sollen, umso größer ist die
Dissonanz. Kognitive Dissonanz erzeugt eine Motivation, die entstandene Dissonanz zu reduzie-
ren. Diese Reduktion kann neben einer Veränderung des Verhaltens auch durch verschiedene
Strategien erfolgen, bei denen das kognitive System verändert wird:192
Durch diese Veränderungen kann erreicht werden, dass der Anteil dissonanter gegenüber dem
Anteil konsonanter Kognitionen verringert wird. Dabei erfordert der jeweilige Prozess der Addition,
Subtraktion bzw. Substitution oft ein hohes Ausmaß an kognitiver Verzerrung. Bei einer Dissonanz-
reduktion nach Entscheidungen wird so die Attraktivität der gewählten Variante gesteigert und die
der nicht gewählten verringert. Dies nennt man „Spreading apart of alternatives“-Effekt.193
Welche der Kognitionen nach der Entstehung der Dissonanz addiert, subtrahiert oder substituiert
werden, hängt vom Änderungswiderstand der beteiligten Kognitionen ab: Je größer die Anzahl kon-
sonanter Beziehungen einer Kognition zu anderen Kognitionen ist, umso schwerer kann eine Kog-
nition verändert werden, um die kognitive Dissonanz zu verändern und umso größer ist die Wahr-
scheinlichkeit, dass bei einer Änderung dieser Kognition neue dissonante Beziehungen entstehen.
Besonders änderungsresistent sind demnach solche Kognitionen, die bei einer Veränderung neue
Dissonanz – vielleicht sogar in stärkerem Maße als vor der Veränderung – erzeugen würden.
Festinger zählt vier Klassen von Bedingungen auf, unter denen die Wahrscheinlichkeit des Auftre-
tens kognitiver Dissonanz hoch ist:
Diese Prozesse des Dissonanzerlebens und der unbewusst ablaufenden Dissonanzreduktion sind
für uns sehr alltäglich, auch wenn wir dies eben nicht bemerken. Wie häufig tun wir unvernünf-
tige Sachen, verhalten uns nicht so, wie es eigentlich unserem Selbstbild entspricht oder erleben
Enttäuschungen, nach Trennungen oder weil wir etwas nicht bekommen, was wir erwartet ha-
ben.194 Wo begegnet uns im Alltag die kognitive Dissonanz?195
l Wir erleben kognitive Dissonanz, wenn wir entgegen unserem Selbstbild handeln. Wenn
man bei Menschen ein positives und hohes Selbstbild fördert, führt dies dazu, dass sich
diese weniger auf unmoralische Handlungen einlassen und sich mehr für Leistungen an-
strengen, weil dieses Verhalten dann in Einklang mit ihrem Selbstbild ist.
l Wenn wir unser positives Selbstbild aufrechterhalten wollen, verarbeiten wir Informationen
so, dass sie unseren vorgefassten Ansichten entsprechen, um keine Dissonanz zu erzeugen.
Dann weicht unsere rationale Wahrnehmung einer eher rationalisierenden Sicht: wir ver-
arbeiten Informationen nicht unvoreingenommen.
l Wir suchen generell Informationen so, dass sie zu unseren Standpunkten, Wünschen, Er-
wartungen und Entscheidungen passen. Dies nennt man selektive Informationssuche (sel-
ective exposure). So lesen wir beispielsweise bevorzugt Zeitungsartikel, die zu unseren po-
litischen Einstellungen passen. Dies führt zu einem Konfirmationsbias196 und dieser erhöht
das Risiko von Fehlentscheidungen, da wir Risiken und Warnsignale übersehen und unser
Standpunkt objektiv nicht haltbar ist. Als ein Beispiel hierfür gilt der Krieg der USA gegen
den Irak aufgrund vermuteter Massenvernichtungswaffen – obwohl bereits genügend An-
zeichen da waren, die dieser Sicht widersprachen.
l Jedes Mal, wenn wir Entscheidungen treffen, erleben wir kognitive Dissonanz, da wir einer
Sache den Vorzug geben. Haben wir vor einer Entscheidung noch Pro und Kontra für beide
Alternativen parat, werden wir nach einer (endgültigen) Entscheidung, die gewählte Vari-
ante positiver als zuvor bewerten und bei der nicht gewählten Alternative eher die Nach-
teile im Kopf haben. Wir verändern also unsere Einschätzungen und Gefühle bezüglich der
gewählten und der nicht gewählten Variante, um uns mit unserer Entscheidung wohler zu
fühlen („Spreading apart of alternatives“-Effekt). Dies gilt insbesondere dann, wenn beide
Alternativen in der Wahrnehmung nahe beieinanderlagen. Wir rationalisieren jedoch nicht
nur unsere Entscheidungen und unser Handeln, sondern auch unsere Normen und Werte
und passen diese den getroffenen Entscheidungen an. Begehe ich eine unmoralische Hand-
lung, wie beispielsweise Betrügen, so werde ich diese Verfehlung als weniger schlimm be-
werten (dies tun doch alle); entscheide ich mich jedoch dagegen, dann werde ich meinen
moralischen Standard im Nachhinein diesbezüglich sehr hoch ansetzen. Diese Rechtferti-
gung meiner Handlung im Nachhinein, macht es uns im Übrigen schwer, eine einmal ge-
fällte Entscheidung und Meinung zu ändern, auch wenn wir es tun sollten.
l Wir rechtfertigen vor allem Handlungen, für die wir bereits viel Anstrengung investiert ha-
ben, da die Kognition „Ich habe viel investiert“ nicht im Einklang mit der Kognition „Dies
ist aber für etwas Wertloses geschehen“ stehen würde. Das heißt, je mehr wir in eine Sache
investiert haben, desto positiver bewerten wir diese.
l Indem ich Menschen mit dem Unterschied zwischen ihren Worten und ihren Taten konfron-
tiere (das sogenannte Scheinheiligkeitsparadigma), erzeuge ich bei diesen Menschen kog-
nitive Dissonanz, und kann somit Verhalten in die gewünschte Richtung beeinflussen.
l Der Zwang zur internen Rechtfertigung eines Verhaltens, wie es bei dem klassischen Expe-
riment von Festinger und Carlsmith benutzt wurde, kann sehr vielfältig genutzt werden:
• Wenn ich jemanden für mich gewinnen will, sollte nicht ich ihm einen Gefallen tun,
sondern ich bringe ihn am besten dazu, mir einen Gefallen zu tun. Diese Person muss
nun eine interne Rechtfertigung für ihr Handeln finden – und entdeckt wahrscheinlich
die Sympathie zu mir.
• Wenn ich eine langfristige Verhaltensänderung anstrebe, arbeite ich besser mit keinen
hohen Belohnungen oder Bestrafungen, sondern eher mit einer unzureichenden Beloh-
nung bzw. Bestrafung (siehe Abbildung 30).
Abbildung 30: Externale und internale Rechtfertigung: Unzureichende Bestrafung oder Belohnung führt zu Selbst-
rechtfertigung und zu Selbstüberzeugung mit einer dauerhaften Verhaltensänderung.
(Quelle: Aronson et al., 2014, S. 199)
Hunderte von Experimenten und Feldstudien haben mittlerweile die Macht der kognitiven Disso-
nanz zur Veränderung von Einstellungen und Verhalten gezeigt.197 Doch insgesamt lässt die The-
orie von Festinger auch noch zahlreiche Fragen offen. So ist noch zu wenig präzisiert, unter wel-
chen Bedingungen Dissonanz entsteht. Auch die Aussage, dass die Art und das Ausmaß der Re-
aktion kognitiver Dissonanz vom Änderungswiderstand der beteiligten Kognitionen abhängen, ist
zu abstrakt. Nach der Veröffentlichung der Theorie haben zahlreiche Autoren versucht, diese Be-
dingungen zu konkretisieren. Ein gemeinsamer Nenner ist dabei, dass die Dissonanzreduktion
sowohl nach dem Prinzip der Einfachheit als auch nach dem Prinzip der Effizienz erfolgt. Eine
Reduktion soll nicht nur einen geringen kognitiven Aufwand erfordern und geringe Änderungen
des kognitiven Systems nach sich ziehen, sondern soll auch vollständige, größtmögliche und damit
stabile Dissonanzreduktionen erbringen. Unter bestimmten Bedingungen führen geringe kogni-
tive Änderungen zu unstabiler Dissonanzreduktion, so dass das Individuum nach kurzer Zeit ge-
zwungen ist, neue kognitive Änderungen vorzunehmen. Ein geringer kognitiver Aufwand wird
also dann nachteilig sein, wenn die Stabilität nicht gewährleistet ist.198
Eine andere Frage ist, inwiefern sich Dissonanzeffekte auf andere Kulturen verallgemeinern lassen.
Denken Sie noch einmal an die Art und Weise, in der sich das Konzept des Selbst von Kultur zu
Kultur verändert. Wie bereits im Kapitel 2.4.5 „Einfluss der Kultur auf das Selbst“ beschrieben,
gibt es besonders im Vergleich von individualistischen westlichen Kulturen mit kollektivistischen
östlichen Kulturen deutliche Unterschiede. So sehen sich zum Beispiel Nordamerikaner üblicher-
weise als unabhängig (independent) und von anderen in ihrer Umgebung verschieden. Mitglieder
asiatischer Kulturen sehen sich selbst üblicherweise als wechselseitig abhängig (interdependent)
und tief mit anderen verbunden.
Die Experimentatoren baten dann die Teilnehmer, zwischen zwei Essensgutscheinen zu wählen.
Auf den Gutscheinen standen das fünft- und sechstbeliebteste Gericht (ihres oder das des Freun-
des). Zum Schluss sollten sie dann ihre zehn beliebtesten Gerichte nochmals durchgehen und in
eine Rangfolge stellen.
Die Frage war, wie sich wohl ihre Bewertungen vom ersten zum zweiten Mal änderten. Nach der
Dissonanztheorie sollten sie bei einer schwierigen Entscheidung – so wie der zwischen dem fünf-
ten und sechsten Gericht auf der Liste – ihre Bewertungen so anpassen, dass sie sich mit dem
Ergebnis der Wahl besser fühlen. Beispiel: „Wenn ich Kung-Pao-Hühnchen wähle [ursprünglich
Nr. 5], muss es wirklich besser sein als Mu-Shu-Schweinefleisch [ursprünglich Nr. 6].“
Die Annahme war, dass kanadische Teilnehmer eine stärkere Dissonanz in Bezug auf ihre eigene
Auswahl erleben sollten (wegen ihres independenten Konzeptes des Selbst), während japanische
Teilnehmer mehr Dissonanz bei der Auswahl für ihren Freund erleben sollten (wegen ihres interde-
pendenten Konzeptes des Selbst). Die Daten bestätigten diese Vorhersagen: Im zweiten Durchgang
änderten sich die Einschätzungen der kanadischen Teilnehmer bei der Auswahl für sich selbst stär-
ker; die Ratings der japanischen Teilnehmer dagegen mehr bei der Auswahl für ihre Freunde.
Diese Forschungsarbeiten legen nahe, dass Menschen nur dann kognitive Dissonanz erleben und
dementsprechend die Konsistenz innerhalb ihres Selbst-Konzeptes aufrechterhalten, wenn sie ein
independentes Konzept des Selbst haben.200 In kollektivistischen Kulturen werden wir also weni-
ger Verhaltensweisen erleben, die Personen für die Reduktion ihrer Dissonanz vornehmen, aber
mehr Verhaltensweisen, die die Aufrechterhaltung von Harmonie in der Gruppe zum Ziel haben
oder Dissonanzreduktion, wenn ihr Verhalten die Gruppe enttäuscht oder beschämt hat.201
Übungsaufgaben zu Kapitel 2
007 Stellen Sie die Grundannahmen der Selbstwahrnehmungstheorie dar. Diskutieren Sie kri-
tisch den Wert der Theorie für die betriebliche Praxis.
008 Welchen Zusammenhang sehen Sie zwischen der Fähigkeit zur Selbstregulation und Stress?
009 Erläutern Sie den Begriff „Selektive Informationssuche“ und beschreiben Sie, welche Prob-
leme damit verbunden sind.
010 Erläutern Sie exemplarisch, durch welche Situationen das Selbst von Menschen in eine Dis-
sonanz geraten kann. Verdeutlichen Sie an einem Beispiel, was diese Erkenntnisse für die
Führungspraxis bedeuten
Soziale Wahrnehmung ist der Prozess, bei dem wir Menschen Informationen über andere Personen
sammeln und interpretieren202 und durch die wir das Verhalten anderer verstehen und kategorisie-
ren. Es ist wichtig, diese Prozesse zu verstehen, weil diese Wahrnehmung und Interpretation beein-
flussen und wie wir anderen gegenüber handeln und somit den Umgang miteinander bestimmen.
Wir bilden uns stets eine Meinung über andere, machen uns ein Bild von deren Charakter, bilden
Schlussfolgerungen, warum sie so sind, wie sie sind und warum sie so handeln, wie sie handeln203.
So stellt sich die Frage: wie kommen Menschen zu ihrem Bild vom anderen? Wann entsteht eine
positive Einschätzung, wann eine negative? Wann ist eine Person sympathisch und wann nicht?
Wann vertrauen wir jemandem und wann nicht? Wodurch werden Einschätzungen bestimmt und
beeinflusst? Dieser Prozess der sozialen Einschätzung wird als soziale Wahrnehmung bezeichnet.
Dabei orientieren wir uns zum einen am beobachtbaren Verhalten. Der erste Schritt ist der erste
Eindruck, den wir von einer Person haben, wenn wir ihr persönlich begegnen. Dabei sind vor
allem äußere Merkmale von großer Bedeutung: grobe Dimensionen, wie Kleidung, Attraktivität,
verbales und nonverbales Verhalten, ebenso wie Detailinformationen, wie Gesichtsausdruck, Ges-
ten, Tonfall, Brille, Haarfarbe, Kleidermarke, Name der Person. Andererseits bilden wir uns aber
bereits einen Eindruck und machen wir uns ein Bild von einer Person, auch wenn wir ihr noch
nicht begegnet sind und nur eine Beschreibung von ihr erhalten oder etwas erzählt bekommen.
Es existieren viele verschiedene Phänomene bei der sozialen Wahrnehmung, die bei der Eindrucks-
bildung auch unabhängig von einer persönlichen Begegnung eine wichtige Rolle spielen.204
Der Primacy-Effekt beispielweise besagt, dass früher dargebotene Informationen bei der sozialen
Wahrnehmung und Interpretation einen stärkeren Einfluss haben, als spätere. Dies basiert auf der
Funktionsweise unseres Gedächtnisses, nach der wir uns Informationen, die am Anfang einer
Sequenz auftreten, besser merken können als Informationen, die später auftreten205. Solch eine
Episode könnte z.B. ein Vorstellungsgespräch sein. Gemäß dem Primacy-Effekt erinnert sich z.B.
der Interviewer viel besser an die Informationen aus dem ersten Eindruck als an die weiteren
Informationen aus dem Gespräch – wenn er sich keine Notizen macht.
Eng mit dem Primacy-Effekt verbunden ist der Recency-Effekt. Auch dies ist ein Gedächtniseffekt
und es geht darum, welche Informationen man am besten behalten kann. Neben der erwähnten
Anfangsposition hat nämlich auch die Endposition eine starke Auswirkung auf die Gedächtnis-
leistung. Informationen, die am Ende auftreten, bleiben z.B. auch mehr in Erinnerung206. Daraus
ergeben sich z.B. Beurteilungsfehler in der Mitarbeiterbeurteilung. Denn nur die letzten Eindrücke
einer Beurteilungsperiode sind stärker präsent. Aber auch bei Vorträgen spielt dieser Effekt eine
wichtige Rolle. Deshalb gibt es z.B. die Empfehlung, die wichtigsten Informationen zum Schluss
noch einmal zusammenzufassen. „Späte“ Informationen haben den Vorteil, dass sie nicht durch
weitere Informationen überdeckt werden und bleiben so leichter im Gedächtnis.
Asch fand 1946207 heraus, dass personenbeschreibende Adjektive ein unterschiedliches Gewicht bei
der Meinungsbildung haben und es zentrale und periphere Persönlichkeitsmerkmale gibt. Ein zent-
rales Persönlichkeitsmerkmal ist ein dispositionales Merkmal, welches den Gesamteindruck einer
Person maßgeblich beeinflusst. Dahingegen ist ein peripheres Persönlichkeitsmerkmal ein Merkmal,
dessen Vorhandensein den Gesamteindruck über einen Menschen nicht maßgeblich beeinflusst.208
Machen Sie einmal die Probe: Stellen Sie sich vor, Sie bekommen eine Person als intelligent, ge-
schickt, fleißig, warm, entschlossen, praktisch und vorsichtig beschrieben. Welches Bild machen Sie
sich von der Person? Nun bekommen Sie eine Person als intelligent, geschickt, fleißig, kalt, ent-
schlossen, praktisch und vorsichtig beschrieben. Welche Vorstellung haben Sie von dieser Person?
Vermutlich haben Sie von der ersten Person ein positiveres Bild als von der zweiten, denn bei
„warm“ handelt es sich um ein zentrales Persönlichkeitsmerkmal. Eine Person wird Ihnen als intelli-
gent, geschickt, fleißig, höflich, entschlossen und praktisch beschrieben. Wie ist Ihr Bild? Nun erhal-
ten Sie die Beschreibung: intelligent, geschickt, fleißig, ungehobelt, entschlossen und praktisch. Wie
ist Ihr nun Ihr Bild? Vermutlich unterscheiden sich die Bilder der ersten und zweiten Person nicht
wesentlich, denn bei „höflich“ handelt es sich um ein peripheres Persönlichkeitsmerkmal.
Allerdings ist es so, dass kein beschreibendes Wort über alle Situationen und Kontexte hinweg
zentral ist. Ob ein Wort zentral ist oder nicht hängt auch davon ab, welche anderen Wörter dar-
geboten werden.209
Nach jetzigem Wissensstand ist es so, dass Menschen nicht einfach die erhaltenen Informationen
aufsummieren und dass bei einer schon positiven Gesamtbewertung eine weitere positive Infor-
mation zu einem noch viel positiveren Gesamturteil führt. Vielmehr ist es so, dass wir den Infor-
mationen, aufgrund unserer Annahmen, welche Persönlichkeitseigenschaften zusammenpassen,
aktiv Bedeutungen verleihen. Wir haben also implizite Persönlichkeitstheorien mittels derer wir
versuchen, zugrunde liegende Muster in den sozialen Informationen zu erkennen. Diese aktive
Konstruktion von Bedeutungen im Rahmen der Eindrucksbildung nennt man Konfigurationsmo-
dell.210 Das bedeutet, dass Menschen dazu neigen, sich aus vorhandenen Informationen und Er-
fahrungswissen ein Gesamtbild zu konstruieren. Sie füllen Informationslücken durch Annahmen
aufgrund vorhandener Schemata zur Passung von Eigenschaften. So wird häufig davon ausge-
gangen, dass ein Mensch, der liebenswürdig ist, auch großzügig ist oder dass ein Mensch, der
kalt ist, eher geizig oder wenig freigiebig ist.
Ein alternativer Erklärungsansatz dazu ist die sogenannte kognitive Algebra. Teilinformationen
werden addiert oder gemittelt. So wird eine Person, die als warm und langweilig bezeichnet wird,
im Gesamteindruck weniger positiv erlebt als eine Person, die als warm und interessant beschrie-
ben wird. Sie wird jedoch positiver erlebt als eine Person, die als kalt und langweilig beschrieben
wird. Adjektive, die zentrale Persönlichkeitsmerkmale beschreiben, scheinen stärker zu wirken
und vermitteln relativ mehr bewertende Informationen als periphere Persönlichkeitseigenschaf-
ten. Eine weitere Einflussgröße im Rahmen dieses Modells ist die Relevanz einer Eigenschaft für
die vorzunehmende Einschätzung. So ist die Eigenschaft „warm“ wichtiger, wenn wir einen
Freund auswählen wollen, als wenn wir uns für einen neuen Kfz-Meister für die Reparatur unseres
Autos entscheiden möchten.211
Findet nun eine persönliche Begegnung statt, so spielen weitere Aspekte eine Rolle.212 Auch wenn
die nachfolgenden Einflussfaktoren bei einer objektiven Betrachtung oberflächlich erscheinen,
machen wir uns recht schnell aufgrund selbst der unbedeutendsten Hinweise einen Eindruck von
anderen Menschen.
Bereits im ersten Augenblick einer Begegnung machen wir uns innerhalb von Millisekunden auf-
grund des Gesichtsausdruckes einen Eindruck von der anderen Person.213 Menschen, deren Ge-
sichtszüge denen eines Babys ähneln – das sogenannte Babyface: große runde Augen, kurze Nase,
hohe Stirn und kurzes Kinn – wirken weniger dominant, naiver und wärmer. Personen mit einer
hohen oder lauten Stimme beurteilen wir als extrovertierter.214
Eine herausragende Rolle spielt die physische Attraktivität und die sogenannte Beauty-is-good-
Annahme. Physisch attraktive Personen werden in der Regel positiver eingeschätzt als physisch
weniger attraktive Personen. Sie sind in den Augen anderer wärmer, sensibler, freundlicher, ent-
gegenkommender, interessanter, stärker, ausgeglichener, bescheidener, verfügen über einen bes-
seren Charakter… usw. Das hat weitreichende und ganz praktische Konsequenzen für das soziale
Miteinander in verschiedenen Bereichen. Physisch attraktive Personen gewinnen eher eine Wahl,
ihnen wird bereitwilliger geholfen, sie bekommen eher eine Arbeitsstelle, sie haben bessere Chan-
cen vor Gericht, bekommen geringere Strafen, attraktive Babys bekommen mehr Aufmerksam-
keit, Leistungen werden besser beurteilt, wenn sie von einem attraktiven Menschen stammen...215
Diese Aufzählungen lassen sich noch fortsetzen und es handelt sich hier nur um eine Auswahl
von Zuschreibungen und deren positive Folgen für physische attraktive Menschen.
Ein weiterer Faktor, welcher großen Einfluss auf die Eindrucksbildung ausübt, ist die Ähnlichkeit
bzw. der Similar-to-me-Effekt. Personen sind für uns umso sympathischer, je ähnlicher sie uns
sind. Dabei kann Ähnlichkeit ganz viele Facetten umfassen. Neben einer rein optischen Ähnlich-
keit zählt auch die Ähnlichkeit in Einstellungen, Werthaltungen, Gewohnheiten, Weltanschauun-
gen, aber auch in demographischen Variablen wie Alter, Geschlecht, Herkunft, Geburtsdatum,
Geburtsort. Stimmt eine Person in ihrer Meinung mit meiner überein, so wird sie zu einer Quelle
der Bestätigung und gibt mir dadurch das Gefühl, dass meine Einstellungen richtig sind. Dies wird
beispielsweise in Verkäuferschulungen ausgenutzt, da wir von Verkäufern, die uns ähnlich sind,
eher etwas kaufen.216 Ebenso beurteilen Vorgesetzte ihnen ähnliche Mitarbeiter besser und Mit-
arbeiter vertrauen Vorgesetzten, die ihnen ähnlich sind, mehr.217
Ein fast trivial erscheinender, aber dennoch sehr wirksamer Einflussfaktor ist die Assoziation mit
Positivem oder Negativem. Personen, die mit positiven Ereignissen in Verbindung gebracht wer-
den, werden positiver beurteilt und sind beliebter als Personen, die mit negativen Ereignissen in
Verbindung gebracht werden. So sind z.B. Politessen unbeliebt, weil sie die Assoziation „Strafzet-
tel“ hervorrufen, wohingegen der Kinokartenverkäufer eher positive Resonanz auslösen dürfte.219
Signale wie Körperbau und Körpergröße oder Symbole wie Markenkleidung, das Tragen einer Uni-
form220, die Wohnungseinrichtung oder das Büroumfeld beeinflussen die Einschätzung einer Per-
son. So führt beispielsweise Business-Kleidung dazu, dass eine Person zuvorkommender behandelt
wird, als wenn sie nur Casual-Kleidung trägt.221 Normalgewichtigen Ärzten wird höhere Beratungs-
kompetenz bezüglich Gesundheit zugeschrieben als übergewichtigen Ärzten.222 Neue, teure Autos
werden später angehupt als ältere, kleine Modelle, wenn sie bei grüner Ampel nicht losfahren.223
Auch aus dem nonverbalen Verhalten bzw. der nichtverbalen Kommunikation ziehen wir Rück-
schlüsse über andere Personen. Gesichtsausdruck, Tonfall, Gesten, Körperhaltung, Körperbewe-
gungen sowie Blicke sind aufschlussreiche Signale, geben Botschaften und leisten einen wichtigen
Beitrag zur Einschätzung einer Person. Aus diesem Grunde postulierte Watzlawick den bekannten
Satz: „Man kann nicht nicht kommunizieren.“224 Häufig sind nonverbale Botschaften, die mit
Blicken, Gesten, Gesichtszügen, Stimme, Körperhaltung, Berührung und räumlicher Nähe bzw.
Distanz vermittelt werden, sogar wichtiger als verbale Inhalte. So wirkt zum Beispiel jemand mit
lebhafter, ausdrucksstarker Mimik sympathischer, attraktiver und insgesamt positiver. Angemes-
sene Berührungen führen zu deutlicher Beeinflussung. Einige Beispiele mögen dies illustrieren.
Berührungen führen dazu, dass Konsumenten ein neues Produkt eher ausprobieren und kaufen.
Nach Berührung wird eine Bitte eher erfüllt als ohne Berührung. Prüfungsleistungen sind besser,
wenn vorher Berührung durch den Lehrer erfolgte. Berührungen schaffen Vertrauen und erleich-
tern das Sprechen über persönliche Probleme oder steigern die Motivation bei der Bewältigung
schwieriger Aufgaben.225 Die wichtigste nonverbale Kommunikation ist der Gesichtsausdruck und
die darüber vermittelten Emotionen. Dies liegt sicherlich in der – bereits seit der frühen Evolution
des Menschen – hohen Wichtigkeit der Fähigkeit seinen Zustand über den Gesichtsausdruck aus-
zudrücken und den des Gegenübers lesen zu können. Daher sind auch die Gesichtsausdrücke bei
Emotionen universell und über allen Kulturen hinweg gültig.226
Sie sehen also, dass die soziale Wahrnehmung von einer Vielzahl an Aspekten und Faktoren be-
einflusst wird. So erklärt sich auch wie schwer es fällt, einen gewünschten Eindruck zu vermitteln
bzw. einen unerwünschten Eindruck zu vermeiden. Diese eben beschriebenen Mechanismen sind
selbstverständlich nicht der einzige Weg zur Eindrucksbildung und sie unterscheiden sich auch
von unseren alltäglichen Interaktionen. Wir begegnen Menschen persönlich und ziehen dann
nicht im Stillen unsere Schlüsse, sondern wir interagieren und richten unser Verhalten daran aus,
wie die betreffende Person unser Meinung nach ist.
3.2 Die Frage nach dem Warum: Die Attributionstheorien von Heider und Kelley
Wenn sich Menschen gegenseitig beobachten, machen sie sich auch stets Gedanken dazu, wieso
sich Mitmenschen auf die eine oder andere Weise verhalten. Es ist offenbar ein menschliches
Bedürfnis, Antworten auf die Warum-Fragen des Lebens zu wissen und eine nahezu automatische
Neigung menschlichen Handlungen Motive und Dispositionen zuzuschreiben.227 Warum hat mein
Trainer jemanden anderes für den Wettkampf vorgeschlagen und nicht mich? Warum interessiert
sich mein Vorgesetzter nicht für meine Ideen? Warum schafft mein Bekannter es nicht, pünktlich
zu sein? Alle diese Warum-Fragen führen zu einer Analyse der möglichen Ursachenfaktoren für
eine bestimmte Handlung, ein Ereignis oder ein Ergebnis.
Praxisbeispiel
Der Vorgesetzte Hartmut Kraus wundert sich. Zwischen seinen beiden Mitarbeiterinnen Anneliese
Kawelzki und Marion Barth scheint es heftige zwischenmenschliche Gewitter zu geben. Die bei-
den grüßen einander nicht mehr, rauschen mit abgewendetem Gesicht aneinander vorbei und
scheinen nur noch über E-Mail miteinander zu verkehren, wenn es um dienstliche Belange geht.
Ihm ist sofort klar, dass dieser „Zickenkrieg“ nur durch Frau Kawelzki zustande gekommen sein
kann. Die Mitarbeiterin, Mitte 40, die sich neuerdings die Haare mit dem Farbton Aubergine färbt,
umgibt stets dieser Hauch von einer Diva.
Vielleicht hätten Sie als Vorgesetzter die Situation ganz anders bewertet. Tatsache ist, dass wir im
Alltag blitzschnell zu Ursachenzuschreibungen kommen. Diesen Prozess, durch den wir zu Schluss-
folgerungen über die Ursachen eines Verhaltens einer anderen Person kommen, nennen wir Kausa-
lattribution.228 Dabei können allerdings typische Fehleinschätzungen passieren. Die Attributionsthe-
orie beschäftigt sich genau mit diesen kognitiven Prozessen. Sie geht der Frage nach, wie wir Ver-
mutungen über die Ursachen des Verhaltens anderer Menschen anstellen und welche Fehler wir
dabei machen. Meistens beschäftigen sich die Attributionstheorien mit der Ursachenzuschreibung
beim Verhalten anderer Menschen, jedoch gibt es auch Theorien zur Selbstattribution.
Als Begründer der Attributionstheorie wird gewöhnlich Fritz Heider (1896 bis 1988) angesehen.229
Heider war der Meinung, dass Menschen ständig kausale Analysen vornehmen, um die soziale
Welt zu verstehen. Er prägte den Begriff „naive Psychologie“ oder „Psychologie des gesunden
Menschenverstandes“. Seiner Ansicht nach verhalten sich die Menschen wie Amateurwissen-
schaftler, die das Verhalten anderer Menschen zu verstehen versuchen, indem sie Informationen
zusammenfügen, bis sie zu einer vernünftigen Erklärung oder Ursache gelangen. Ziel der nach
Ursachen suchenden Person ist es, Dispositionen, also überdauernde charakteristische Merkmale
wie eine Fähigkeit oder ein Persönlichkeitsmerkmal herauszufinden, die den beobachteten Effek-
ten zugrunde liegen. Denn wenn man diese kennt, ist es möglich, mehr oder weniger stabile
Vorhersagen über die Welt zu machen und diese zu kontrollieren. Wenn ich zum Beispiel weiß,
dass mein Gegenüber eine freundliche und nette Person ist, weiß ich, was ich beim nächsten Mal
als Reaktion erwarten kann.230
Heider interessierte sich dafür, wie die Menschen zu ihren Schlussfolgerungen gelangen und was
ihnen vernünftig erscheint. Eine Kernidee von Heider ist die Unterscheidung in zwei grundsätzlich
verschiedene Ursachenzuschreibungen:231
l internal, d.h., die Ursachen liegen innerhalb einer Person, sind also durch deren Persönlich-
keit, Einstellungen, Disposition oder Charaktereigenschaften bestimmt;
l external, d.h., die Ursachen liegen in den äußeren Umständen einer Situation begründet.
Stellen Sie sich vor, Sie sehen auf der Straße, wie ein Mann ein kleines Mädchen anschreit, das
offenbar seine Tochter ist. Sie fragen sich fast automatisch nach der Ursache. Wenn Sie der An-
sicht sind, dass der Vater sich nicht im Griff hat und ein cholerischer Schreihals ist, der nicht richtig
mit Kindern umgehen kann, nehmen Sie eine internale Attribuierung vor. Fällt Ihnen auf, dass das
Kind mit einem Fuß auf der Straße steht und sich gerade ein Auto schnell nähert, werden sie
vielleicht denken, der Vater schreit das Kind laut an, um es zu warnen. Sie nehmen eine externale
Attribuierung vor. Sie schieben das Schreien auf die Situation und nicht auf die Persönlichkeitsei-
genschaften des Vaters. Je nach Attribuierung fällt also das Urteil über den Vater komplett anders
aus. Selbst für uns privat spielt diese Dichotomie (Zweiteilung) der Ursachen eine Rolle: bei einem
guten Freund oder in einer funktionierenden Partnerschaft schreiben wir positive Ereignisse inter-
nal zu (sie ist ein guter Mensch) und negative Ereignisse external (er hatte Stress auf Arbeit) – in
unzufriedenen Partnerschaften oder Freundschaften ist dies genau umgekehrt.232
Harold. H. Kelley (1921 bis 2003) hat in einem 1967 erschienenen einflussreichen Aufsatz233 an
Heiders Überlegungen angeknüpft. Er systematisierte dessen Gedanken, die später unter dem
Namen Kovariationsprinzip (oder Kovariationskonzept) bekannt wurden. Kelleys Beitrag zur Attri-
butionstheorie war, dass wir mehrere Informationen und mehrfache Beobachtungen berücksich-
tigen, wenn wir uns einen Eindruck bilden und Gedanken über die Ursache eines Verhaltens ma-
chen. Nach Kelley sammeln wir während einer Attribution Daten, insbesondere inwieweit das
Verhalten eines Menschen im Lauf der Zeit, an verschiedenen Orten mit verschiedenen Menschen
und anderen Verhaltenszielen kovariiert – also gemeinsam auftritt. Durch das Erkennen einer sol-
chen Kovariation – also eines gemeinsamen Auftretens eines bestimmten Ereignisses mit einer
bestimmten Art von Information – können wir auf eine Ursache schließen.234 Kelley benutzt in
seinem Modell Begriffe des statistischen Verfahrens der Varianzanalyse (wie Kovariation) da er
Parallelen in der Herangehensweise des normalen Menschen zu diesem Verfahren sieht.
Das Kovariationsmodell nimmt also an, dass Beobachter kausale Schlüsse über das Verhalten an-
derer ziehen, indem sie Daten über vergleichbare Fälle sammeln. Als Verhaltensursache kommt
230 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 72; Aronson et al. (2014), S. 114
231 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 114f.
232 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 115
233 siehe Kelley (1967)
234 Vgl. Meyer & Försterling (2009), S. 186ff.; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 116f.
Sozialpsychologie 79
dann die Person, die Entität235 (das Objekt) oder die Situation in Betracht, die mit dem beobach-
teten Effekt gleichzeitig auftritt.236 Wir beobachten also, welche Faktoren konsistent mit dem uns
interessierenden Effekt gleichzeitig auftreten bzw. nicht auftreten, wenn der Effekt ausbleibt.
Dazu ein Beispiel: Stellen Sie sich vor, Sie beobachten den Studenten Karl, der seinen Studientext
nicht versteht. Die Frage ist nun, woran es liegt.
Die Kausalanalyse gemäß dem Kovariationsprinzip erfolgt nun in der Weise, dass Sie mehrere
Beobachtungen machen. Sie beobachten als erstes alle anderen Studenten (Ludwig, Rosemarie,
Anke, usw.). Sie stellen fest: sie alle verstehen den Text. Sie haben Karl auch zu mehreren Zeit-
punkten (gestern Abend, heute Morgen, gerade eben) beobachtet, wie er versucht hat, den Text
zu verstehen. Doch er schafft es nicht. Sie beobachten Karl auch bezüglich anderer Studientexte
(Text A, Text B, Text C) und stellen fest, dass er diese ebenfalls nicht versteht. Wenn Sie nun alle
Beobachtungsdaten zusammenfassen, dann variiert der Effekt über verschiedene Personen. Karl
versteht den Text nicht, die anderen Studenten verstehen den Text. Der Effekt variiert aber nicht
über die Zeit. Denn Karl versteht den Text zu allen Beobachtungszeitpunkten nicht. Schließlich
variiert der Effekt auch nicht über das spezifische Merkmal der Situation – nämlich Studientexte.
Karl versteht diesen Studientext nicht und die anderen auch nicht. Fazit: Der Effekt variiert also
ausschließlich über Personen. Gemäß dem Kovariationsprinzip ist dann die Schlussfolgerung, dass
Karl nicht die entsprechende Fähigkeit zum Verstehen von Studientexten hat.
Kelley meint nun, dass es von der Konstellation von drei verschiedenen Informationen abhängt,
auf welche Ursache ein Effekt zurückgeführt wird. Diese drei Informationsarten sind (siehe auch
Tabelle 3):237
l Die Distinktheitsinformation bezieht sich darauf, inwieweit der Effekt bei der in Frage ste-
henden Person für ein bestimmtes Objekt spezifisch ist. Niedrige Distinktheit liegt vor,
wenn der Effekt bei allen einander mehr oder weniger ähnlichen Objekten (z.B. alle mög-
lichen Studientexte) auftritt (keine Kovariation). Hohe Distinktheit liegt vor, wenn der Effekt
nur bei einem spezifischen Objekt auftritt (z.B. nur ein bestimmter Studientext) und bei den
anderen nicht (Kovariation).
l Die Konsensusinformation bezieht sich darauf, ob andere Menschen in einer spezifischen Si-
tuation (z.B. Studientext A) das gleiche Verhalten zeigen (z.B. sie verstehen den Text auch
nicht). Es geht also um die Frage, ob ein Effekt über verschiedene Personen variiert oder bei
anderen Personen auch auftritt. Der Konsensus ist hoch, wenn der Effekt nicht nur bei der in
Frage stehenden Person auftritt, sondern auch bei den anderen betrachteten Personen ge-
geben ist (keine Kovariation). Der Konsensus ist niedrig, wenn der Effekt nur bei der in Frage
stehenden Person und nicht auch bei den anderen Personen gegeben ist (Kovariation).
l Die Konsistenzinformation bezieht sich darauf, ob ein Effekt über verschiedene Zeitpunkte
variiert, zu denen die in Frage stehende Person mit derselben spezifischen Situation (z.B.
Studientext A) konfrontiert ist. Hohe zeitliche Konsistenz liegt vor, wenn der Effekt zu ver-
schiedenen Zeitpunkten immer wieder auftritt (keine Kovariation). Niedrige Konsistenz des
Effektes liegt vor, wenn er nur zu diesem Zeitpunkt und nicht auch zu anderen Zeitpunkten
gegeben ist (Kovariation).
235 Entität ist ein Begriff aus der Philosophie, der alles Seiende umfasst, also unterschiedliche Begriffe, wie Dinge, Ei-
genschaften, Sachverhalte oder Ereignisse
236 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 75
237 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 75ff.
80 Sozialpsychologie
Die folgende Tabelle zeigt, wie die Beobachtungen idealerweise verlaufen, um zu Attributionen
auf die Person, die spezifische Situation oder die besonderen Umstände eines Zeitpunktes zu füh-
ren. Zugrunde gelegt ist ein Beispiel aus Jonas et al. (2014, S. 75): Hermine sagt, das Thema
Attributionstheorien ist langweilig.238
Zur weiteren Illustration soll folgende Situation in einem Restaurant dienen: Sie besuchen mit
Ihrem Geschäftspartner Herrn Meisenkötter das Restaurant „Zum Grünen Hirschen“ zu einem
Arbeitsessen. Herr Meisenkötter beschwert sich über das Essen. Es handelt sich dabei um Pfeffer-
steak Madagaskar mit Pommes frites und einem Beilagensalat. Es ergibt sich nun die Frage nach
der Ursache für diese Beobachtung. Woran liegt die Verärgerung bei Ihrem Geschäftspartner?
Würde man nun systematisch alle in Frage kommenden Situationen beobachten, dann würde
man analysieren, ob nur Herr Meisenkötter sich beschwert oder ob sich auch alle anderen Gäste
beschweren (Konsensus), die das Pfeffersteak essen. Ein niedriger Konsensus liegt vor, wenn sich
herausstellt, dass das Steak nur Herrn Meisenkötter nicht schmeckt.
Weiterhin wäre zu prüfen, ob sich Herr Meisenkötter bei jedem Pfeffersteak Madagaskar be-
schwert, dass er in einem Restaurant isst (Distinktheit). Eine hohe Distinktheit liegt vor, wenn Herr
Meisenkötter sich nur über dieses eine spezielle Steak beschwert.
Schließlich ist noch zu prüfen, inwiefern Herr Meisenkötter sich zu verschiedenen Zeitpunkten
über etwas beschwert (Konsistenz). Eine niedrige Konsistenz liegt vor, wenn er sich nur heute in
dem Restaurant über das Steak beschwert.
Zusammengefasst nehmen wir in diesem Beispiel folgende Beobachtungsergebnisse an: Herr Mei-
senkötter beschwert sich nur bei diesem einen Steak (hohe Distinktheit) und nur heute (niedrige
Konsistenz). Andere Gäste beschweren sich nicht (niedriger Konsensus). Man könnte also sagen,
dass Herr Meisenkötter ausgerechnet heute ein Pfeffersteak erwischt hat, das nicht schmeckt,
weil der Koch ausnahmsweise in der Küche kein schmackhaftes Steak gebrutzelt hat. Und deshalb
beschwert Herr Meisenkötter sich. Er ist folglich kein notorischer Meckerkopf und das Restaurant
auch kein „Saftladen“. Die nachfolgende Abbildung zeigt diese Konstellation.
Ein Problem des Kovariationsmodells ist, dass häufig die vollständigen Kausalinformationen nicht
zur Verfügung stehen, da uns die Gelegenheit, Zeit oder Motivation fehlt, die für eine „ideale“
Ursachenanalyse notwendigen Informationen über Konsensus, Konsistenz und Distinktheit durch
mehrfache Beobachtungen eines Effektes einzuholen. Häufig liegt nur eine einzige Beobachtung
eines Effektes vor. In diesem Fall kommt ein anderes Prinzip der Kausalanalyse zum Tragen, nämlich
die sogenannten kausalen Schemata. Die Annahme von Kelley ist, das wir aufgrund unserer bishe-
rigen Erfahrungen zu Faustregeln greifen und die fehlende Information einfach einfügen. Wir schlie-
ßen dann aufgrund einzelner Beobachtungen einzelne mögliche Ursachen oder Erklärungen aus
und machen Annahmen über unbeobachtete Kausalfaktoren. Kausale Schemata sind also Wissens-
strukturen, die unsere Attributionen steuern.239 Dabei wirken ganz unterschiedliche Prinzipien.
So schließen wir beispielsweise im Abwertungsprinzip bestimmte Erklärungen aus, wenn wir den
Effekt auch mit einem anderen, schon bekannten Faktor erklären können. Beobachten wir bei-
spielsweise einen Radfahrer, der sehr schnell einen Berg herunterfährt, dann schließen wir nicht
aufgrund der Geschwindigkeit auf eine Ursache in der Person (Fähigkeit zum schnellen Radfah-
ren), sondern auf die Situation, da die fallende Steigung als Erklärung schon alleine genügt.
Beim Aufwertungsprinzip hingegen schließen wir, dass eine fragliche Ursache stärker sein muss,
wenn ein Einfluss existiert, der dem beobachteten Effekt entgegenwirkt. Nehmen wir noch einmal
das Beispiel unseres Radfahrers: Beobachten wir, dass er schnell einen Berg hinauffährt, schließen
wir automatisch auf seine Fähigkeit, da der Einfluss des Anstieges dem Effekt entgegenwirkt.240
Das Abwertungsprinzip und das Aufwertungsprinzip funktionieren natürlich auch bei psychischen
Faktoren. Zum Beispiel beobachten Sie, wie eine Person eine Aufgabe in kurzer Zeit löst. Sie sehen
das nur ein einziges Mal. Gleichzeitig wissen Sie, dass die Aufgabe extrem schwierig ist. Aufgrund
des Wirkens des Faktors „hohe Aufgabenschwierigkeit“ und des Faktors „Problemlösefähigkeit“
kommen Sie vermutlich zu dem Schluss, dass die Ursache für das schnelle Lösen dieser Aufgabe
auf die hohe Problemlösefähigkeit der beobachteten Person zurückzuführen ist.
Auch bei einmaligen Beobachtungen treffen wir recht zuverlässige Attributionen. Gewöhnlich ha-
ben wir nämlich ähnliche Effekte in der Vergangenheit beobachtet. Dadurch haben wir bereits ge-
wisse Vorstellungen über mögliche wichtige Ursachen erworben und in welcher Weise sie mit dieser
Art von Effekt in Verbindung stehen. So ist es auch nicht verwunderlich, dass es mittlerweile als
gesichert gilt, dass Menschen nicht jedes Mal eine systematische und vollständige Analyse durch-
führen. Ebenso zeigten Überprüfungen der Theorie von Kelley, dass Menschen die Konsensusinfor-
mation – also ob andere Personen sich auch so verhalten – weniger stark berücksichtigen.241
Wie wir eben festgestellt haben verfügen wir Menschen häufig nicht über die Möglichkeit oder
die Motivation, um vollständige systematische Analysen durchzuführen. Oft greifen wir auf Vor-
wissen, unsere Erfahrungen oder Annahmen über Zusammenhänge zurück bzw. haben erlernte
Attributionsstile. Dadurch ist der Attribuierungsprozess anfällig für Fehler und Verzerrungen. Bei
diesen Attributionsverzerrungen (auch Attributionsfehler oder biases) geben wir unter bestimm-
ten Bedingungen einigen Ursachen mehr Gewicht als anderen. 242
Einen dieser Fehler haben wir schon im Kapitel 1.3 „Die Macht der Situation – Klassische Experi-
mente der Sozialpsychologie“ aufgegriffen – den fundamentalen Attributionsfehler. Stellen Sie sich
vor, Sie beobachten, wie in einer U-Bahn eine Gruppe Jugendlicher einige Fahrgäste anpöbelt. Wie
wird Ihre Wahl sein? Sehen Sie die Ursache in den Persönlichkeitseigenschaften der Jugendlichen
(internal) oder in den Umständen der Situation, dass diese als Gruppe auftreten (external)? For-
schungsergebnisse zeigen, dass Menschen im Durchschnitt mit größerer Wahrscheinlichkeit die dis-
positionale Erklärung wählen.243 Diese Tendenz ist in der Tat so stark, dass der Sozialpsychologe Lee
Ross244 (1977) sie als den fundamentalen Attributionsfehler bezeichnete. Der fundamentale Attri-
butionsfehler steht für die gleichzeitige Tendenz bei Menschen, dispositionale Faktoren überzube-
werten (Menschen verantwortlich machen) und situative Faktoren unterzubewerten (die Umstände
einer Situation weniger verantwortlich machen), wenn sie nach der Ursache für ein Verhalten oder
Ergebnis suchen.245 Für diesen Attributionsfehler gibt es verschiedene Erklärungen. Häufig sind si-
tuative Einflussfaktoren subtil bzw. schwer festzustellen, so dass wir uns oft dieser Einflüsse gar nicht
bewusst sind. Häufig wird unsere Wahrnehmung und in Folge unsere Beurteilung einer Situation
durch die Auffälligkeit (Salienz) von Reizen beeinflusst. Beispielsweise werden die Redeanteile von
Personen innerhalb einer Gruppe, die z.B. ein auffälliges Kleidungsstück tragen oder eine andere
Hautfarbe haben, als höher und gewichtiger wahrgenommen als die Anteile anderer Personen – im
positiven wie im negativen Sinn. Da zumindest in Studien häufig die salientesten Informationen
etwas mit der Person zu tun haben, macht dies oft auch eine dispositionale Zuschreibung, wie beim
fundamentalen Attributionsfehler, wahrscheinlicher.246
Ebenso wird unsere Wahrnehmung auch durch unsere Erwartungen, wie andere Menschen sich ver-
halten werden, verzerrt. So führt beispielsweise ein Falscher-Konsensus-Fehler dazu, dass wir erwar-
ten, dass andere Menschen sich so verhalten, wie wir es tun würden oder genau die gleichen Einstel-
lungen, Werte und Überzeugungen wie wir teilen.247 Ebenso können wir die bereits oben benannte
Unterbewertung der Konsensusinformation durchaus als eine Attributionsverzerrung bezeichnen.
Manchmal gelingt es uns auch nicht, aufgrund hoher kognitiver Anforderungen unsere ursprüng-
lichen Annahmen und Schlussfolgerungen über die Ursachen eines Verhaltens zu korrigieren. So
geht man mittlerweile davon aus, dass unsere „voreingestellte“ und automatische Schlussfolge-
rung eine dispositionale ist und dass mögliche nachfolgende Korrekturen von unseren kognitiven
Ressourcen abhängen. Aufgrund dessen und weil der Effekt dieser Attributionsverzerrung auch
über Kulturen hin variiert wird sie mittlerweile nicht immer mehr als fundamental angesehen und
wird daher auch Korrespondenzverzerrung genannt.248
Der Blickwinkel eines Beobachters hat Einfluss auf die Attribution von Verhalten in einer Situation.
Besonders relevant ist dies in Gruppensituationen, bei einem Lehrer in Bezug auf seine Schüler, in
einem Assessment-Center, vor Gericht, in einer Sportgruppe und ähnlichen Situationen. So zeigte
beispielsweise eine Studie im juristischen Kontext, dass das Zeigen der Aufnahme des Geständ-
nisses eines Verdächtigen, bei dem dieser im Fokus der Kamera stand, glaubhafter eingeschätzt
wurde, als wenn der verhörende Polizeibeamte im Fokus stand. Hier entstand eher der Eindruck
eines erzwungenen Geständnisses. Situation und verbale Aussagen waren vollkommen identisch.
Ebenso schreiben wir Personen, denen wir als Beobachter direkt gegenüber stehen einen größe-
ren Einfluss in Gesprächssituationen und eine größere Dominanz zu.250
Die Diagnostizität eines Verhaltens spielt ebenso eine wichtige Rolle. Das heißt, je weniger norm-
konform ein Verhalten ist, desto eher neigen wir dazu, eine Charakterzuschreibung vorzuneh-
men. Wenn wir Personen beim Einkauf beobachten, die ordnungsgemäß ihre Ware bezahlen, so
werden wir uns keine besonderen Gedanken über den Charakter einer Person machen. Beobach-
ten wir jedoch jemanden beim Ladendiebstahl, so sieht das schon anders aus. Obwohl auch hier
situative Faktoren, wie beispielsweise eine akute finanzielle Notlage, wichtiger sein können als die
persönliche Disposition.
Sie haben bisher erfahren, dass Menschen dazu neigen, zunächst dispositionale Ursachen für Ver-
halten zu suchen. Wenn ausreichend Zeit zur Verfügung steht oder besondere Gründe vorliegen,
so kann das erste Urteil mittels Einbezug situativer Faktoren überprüft und ggf. korrigiert werden.
Solche Korrekturen finden oft dann statt, wenn eine Beurteilung als besonders wichtig erachtet
wird und so besonders sorgfältig und damit verlangsamt erfolgt. Die geistige Verarbeitungskapa-
zität und Motivation können daher in der Einschätzung eine wichtige Rolle spielen.
Hier kommt noch eine weitere Attributionsverzerrung hinzu: wir neigen als Menschen zur vorzei-
tigen Reduzierung komplexer Sachverhalte. Dies führt dazu, dass wir auch bei komplexen Sach-
verhalten nur eine einzige Ursache suchen und eine singuläre Attribution bevorzugen.251
Es existieren jedoch noch anders motivierte Verzerrungen, die eher unseren persönlichen Interessen
dienen – sogenannte selbstwertdienliche Attributionsverzerrungen (siehe dazu Kapitel 2 „Selbst-
konzept – Das Verständnis unseres Selbst“). Hierbei werden soziale Ereignisse so interpretiert, dass
sie unser Selbstwertgefühl verbessern oder erhalten. So attribuieren wir Erfolge eher auf unsere
Leistung und nehmen sie so in Anspruch für uns. Bei Misserfolgen schieben wir eher die Schuld auf
andere oder auf die ungünstige Situation. 252 Hier lässt sich möglicherwiese auch die Verzerrung mit
dem blinden Fleck einordnen: Menschen glauben, dass andere viel anfälliger für Attributionsverzer-
rungen sind als sie selber. Ebenso können zu den selbstwertdienlichen Attributionsverzerrungen die
defensiven Attributionen gezählt werden (siehe 2.5 „Impression Management und die Wahrung
eines positiven Selbstbildes“), also die Tendenz Bedrohungen für uns geringer anzusehen als für
andere. Eine weitere Form der defensiven Attribution ist der Glaube an eine gerechte Welt: jeder
bekommt, was er verdient. Schlechtes stößt nur schlechten oder unvernünftigen Menschen zu. Da
wir dies selber natürlich nicht sind, kann uns so etwas auch nicht zustoßen.253
3.3 Selbstattribution: Die Attribution von Erfolg und Misserfolg nach Weiner
Eine zentrale Thematik im betrieblichen Alltag ist, wie man als Vorgesetzter das Leistungsverhal-
ten von Mitarbeiten einschätzen kann und erreichen kann, dass diese sich engagieren und gute?
Leistungen erbringen.
Praxisbeispiel
Der Vertriebsleiter Nord des Werkzeugherstellers Krause & Co KG ist unter Druck. Das Unterneh-
men will in diesem Jahr fünf Prozent mehr Umsatz realisieren. Doch seiner Mannschaft fehlt of-
fenbar der richtige Biss. Er sieht, dass es bei einigen seiner Mitarbeiter am Einsatz fehlt. Die Ver-
kaufsfähigkeiten sind eigentlich ganz gut ausgeprägt, doch die Zahlen zeigen zu wenig Kunden-
kontakte. Als er sich näher mit den Zahlen auseinandersetzt, fällt ihm auf, dass besonders die
Mitarbeiter nachgelassen haben, die letztes Jahr sehr einsatzfreudig gewesen waren, aber trotz-
dem nur einen geringen Bonus erhalten haben, weil die vereinbarten Umsatz-Zielgrößen unter-
schritten waren. Er fragt sich, ob diese Mitarbeiter vielleicht frustriert sind. Mit seiner Einschätzung
ist der Vorgesetzte in dem Praxisbeispiel bereits auf dem richtigen Weg. Es stellt sich jedoch die
Frage, ob Misserfolge zwingend zu Leistungseinbußen und Demotivation führen müssen.
Unsere Erfolge und unsere Leistungen sind nicht alleine von unseren Begabungen und Fertigkei-
ten abhängig, sondern auch von motivationalen und emotionalen Prozessen. So ist unser Erfolg
abhängig von unserer Anstrengung, Ausdauer und der Konzentration auf die Aufgabe. Die Mo-
tivation, mit der man sich der Aufgabe widmet, sowie die dabei erlebten Gefühle sind wiederum
abhängig von vergangenen Erfolgen und Misserfolgen. Diese wirken sich jedoch nicht direkt auf
unsere zukünftige Motivation aus, sondern sind vermittelt über die Ursachenzuschreibungen des
Erfolges beziehungsweise des Misserfolges. Wie wir bisher schon erfahren haben sucht der
Mensch nach grundlegenden Erklärungen und Ursachen für ihn umgebende Ereignisse – eben
auch nach denen für seinen eigenen Erfolg oder Misserfolg. Hier spielt also eine andere Art der
Kausalattribution eine Rolle – die Selbstattribution von Erfolg und Misserfolg.254 Stellen Sie sich
vor, sie haben eine schwierige Aufgabe vor sich. Es resultieren ganz unterschiedliche Strategien
und Herangehensweisen für das Bewältigen dieser Aufgabe, je nachdem, wie Sie eine vorherige
Leistung in diesem Bereich beurteilen. Glauben Sie, ein Misserfolg liegt daran, dass Sie etwas
252 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 97; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 120f.
253 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 131
254 Vgl. Stiensmeier-Pelster & Schwinger (2008), S. 74ff.
86 Sozialpsychologie
Entscheidendes übersehen haben, werden Sie sich vermutlich versuchen mehr anzustrengen und
zu konzentrieren und zuversichtlicher an eine Bewältigung glauben. Denken Sie jedoch, der letzte
Misserfolg liegt an Ihren mangelnden Fähigkeiten, erwarten Sie eher wieder Misserfolge und neh-
men möglicherweise an, dass es sinnlos ist sich anzustrengen. Hier entscheidet die Kausalattribu-
tion darüber, wie sich Erfahrungen auf unser zukünftiges Verhalten und unsere Leistung auswir-
ken. Aber auch, wenn wir Leistungsverhalten anderer Menschen beurteilen – als Führungskraft,
als Pädagoge oder in anderen Kontexten, wo die Ursache für ein möglicherweise fehlendes Leis-
tungsverhalten wichtig erscheint – ist diese Attribuierung von Interesse.
Grundlegende Arbeiten dazu gibt es von Bernard Weiner (1986). Weiner greift bei seiner Attribu-
tionstheorie zu Motivation und Emotion255 die Unterscheidung von Heider auf, wonach der Ort
der Ursache internal oder external sein kann. Außerdem hat er die Gedanken zur Kontrollüber-
zeugung von Rotter256 aufgenommen. Rotter nannte sein Konzept Locus of Control. Danach be-
steht bei einer Person die generalisierte Erwartungshaltung, dass sie durch eigene Handlungen
bestimmte Ergebnisse erzielen kann. Es liegt ein interner Locus of Control vor, d.h., die Person
sieht den Ort der Kontrollierbarkeit von Ergebnissen bei sich selbst. Die andere generalisierte Er-
wartungshaltung besteht darin, dass der Zufall, andere mächtige Personen oder andere äußere
Einflüsse die Ergebnisse von Handlungen bewirken. In dem Fall liegt ein externer Locus of Control
vor. Die Person sieht sich als Spielball äußerer Umstände. Gemäß dem Locus of Control unter-
schied Weiner als zweite Dimension im Rahmen von Attribuierungsprozessen den Kausalfaktor
Kontrollierbarkeit. Außerdem gibt es nach Weiner noch eine dritte Dimension, die darüber ent-
scheidet, wie Erfolge oder Misserfolge bewertet werden. Diese Dimension betrifft die Stabilität
eines Grundes und hat die Ausprägungen Stabilität vs. Instabilität. Die Kernfrage dabei ist, in
welchem Maß ein kausaler Faktor wahrscheinlich über die Zeit hinweg stabil (konsistent) oder
instabil (variabel) ist.257
Vor dem Hintergrund dieser drei Dimensionen lassen sich Ursachenattributionen in folgenden
Kombinationen darstellen (siehe Tabelle 5).
Um dies zu verdeutlichen, sei nochmals auf das eingangs erwähnte Vertriebsbeispiel zurückge-
griffen: Um die Verkaufszahlen anzukurbeln, hat der Vertriebsleiter die Idee, seine Mitarbeiter zu
einer Schulung zu schicken. Sein Vertriebsmitarbeiter Meyer ist nicht begeistert. Er glaubt, dass
seine schlechten Verkaufszahlen nichts mit ihm zu tun hätten, sondern klagt, dass die Wirtschafts-
krise momentan schuld sei. Diese Worte kennt der Vertriebsleiter. Wenn es nicht die Wirtschafts-
krise ist, dann sind es die anspruchsvollen Kunden, wenn die Umsätze bei Meyer stagnieren (ex-
terne, instabile und nicht-kontrollierbare Attribuierung). Ganz anders reagiert Vertriebsmitarbeiter
Krause. Er ist offen für eine Schulung, weil er glaubt, dass er im Grunde die Fähigkeit zum Verkauf
hat und durch die Schulung wieder einen Ansporn und Anregungen für seine Arbeit bekommen
wird (interne, instabile und kontrollierbare Attribuierung).
Das Beispiel zeigt, wie unterschiedlich die Ursachen für „schlechte Verkaufszahlen“ attribuiert
werden können. Sehe ich den Misserfolg bei mir als Person, sind die Handlungen und Emotionen
ganz anders, als wenn ich die Ursachen von mir losgelöst sehe und äußere Faktoren dafür verant-
wortlich mache. Im letzten Fall gibt es daher auch keinen Grund, an sich zu arbeiten und zum
Beispiel eine Schulung zu besuchen.
Zusätzlich zu den bereits bei Weiner beschriebenen Attributionsdimensionen „Ort der Ursache“
und „Stabilität“ fügen Abramson, Seligman und Teasdale258 noch die Dimension Globalität vs.
Spezifität hinzu. Eine globale Attribuierung stellt die Überzeugung dar, dass ein Ereignis von Fak-
toren verursacht wird, die in einer Vielzahl von Situationen wirksam sind (z.B. die eigene allge-
meine Intelligenz, die die Leistungen auf verschiedenen Gebieten beeinflusst). Dagegen sind spe-
zifische Faktoren nur für eine aktuelle, ganz bestimmte Situation gültig (z.B. musikalisches Talent,
das sich nur auf die Leistungen in musikalischen Fächern auswirkt).
Die herangezogene Ursache für meinen Erfolg oder Misserfolg beeinflusst die zukünftigen Er-
folgserwartungen sowie die Emotionen, die das Ereignis auslöst. Die Erfolgserwartungen und
Emotionen beeinflussen wiederum zukünftiges Verhalten. Dabei ist es nicht entscheidend, welche
Ursache zugeschrieben wird, ob Fähigkeit, Glück oder Anstrengung, Sondern, welche Eigenschaf-
ten diese Ursache auszeichnen259:
Lokalisation:
Weiners Theorie hat eine weite Verbreitung und Anwendung gefunden, denn sie erklärt auch die
enge Verbindung zwischen Selbstkonzept und Leistung. Es gibt eine engen Zusammenhang zwi-
schen Selbstwertgefühl und Attribution: Kausalattribuierungen bestimmen, wie erwähnt, die
emotionalen Reaktionen auf Erfolg und Misserfolg. Wenn Sie an einem Wettbewerb teilnehmen,
bei dem jeder einen Preis erhält, werden Sie genauso wenig Stolz oder Kompetenz empfinden,
als wenn Sie gegen einen Tennisgegner gewinnen, der immer verliert. Ist es dagegen so, dass Sie
den einzigen Preis gewinnen oder einen Tenniscrack besiegen, werden Sie extrem begeistert sein.
Studien zeigen, dass Menschen mit hohem Selbstwertgefühl ihre Leistungserfolge internalen,
stabilen und unkontrollierbaren Ursachenfaktoren, wie ihren Fähigkeit und Begabungen, zu-
schreiben, während sie Misserfolge eher internalen, instabilen und kontrollierbaren Faktoren wie
258 Vgl. Abramson, Seligman & Teasdale (1978), S. 49ff.; Vgl. Jonas et al. (2014), S. 81f.
259 Vgl. Stiensmeier-Pelster & Schwinger (2008), S. 74ff.
88 Sozialpsychologie
Anstrengung oder externalen, unkontrollierbaren Faktoren wie Schwierigkeit einer Aufgabe zu-
schreiben. Leistungsstarke Menschen glauben, dass ihr Erfolg von ihren Fähigkeiten und Anstren-
gungen abhängt, auf die sie vertrauen. Misserfolge sehen sie im Sinne von äußeren Umständen
und daher weniger bei sich selbst begründet. Misserfolge berühren daher nicht ihr Selbstwertge-
fühl. Erfolge dagegen bauen ihr Selbstvertrauen auf. Leistungsschwache Menschen dagegen
zweifeln eher an ihren Fähigkeiten und wenn sie einmal Erfolg haben, schreiben sie es mehr dem
Zufall oder Glück zu als ihrem Können. Sie fühlen sich für ihren Erfolg nicht selbst verantwortlich.
Folglich wächst auch nicht ihr Selbstvertrauen.
Ein weiterer Betrachtungswinkel für Attribuierungsprozesse stellt die Theorie der erlernten Hilflo-
sigkeit von Seligman260 dar. Hierbei wird deutlich, wie Attribuierungsprozesse darüber entschei-
den, ob wir Kontrolle oder Kontrollverlust in bestimmten Situationen erleben und welche zum
Teil dramatischen Auswirkungen dies haben kann.
Die Kernannahme der Theorie der erlernten Hilflosigkeit ist: Wenn Personen chronisch die Erfah-
rung machen, dass zwischen ihrem Verhalten und den Ergebnissen dieses Verhaltens kein Zusam-
menhang besteht (sogenannte non-kontingente Beziehung), und wenn dieses weder im Nach-
hinein erklärt, noch auf bestimmte Situationen eingegrenzt und auch nicht durch kognitive Um-
strukturierungen bewältigt werden kann, erleben sie massiven Kontrollverlust, der in einem
Zustand von erlernter Hilflosigkeit enden kann.261
Die Theorie sagt voraus, dass es in einem solchen Fall zu drei Arten von Beeinträchtigungen
kommt, nämlich:
In ihrem klassischen Experiment zur erlernten Hilflosigkeit brachten Seligmann und Maier ver-
schiedene Gruppen von Hunden in folgende Versuchssituation: 262
In der ersten Versuchsphase bekamen die Hunde schmerzhafte Elektroschocks. Die Hunde der
einen Versuchsgruppe konnten den Schocks dadurch entkommen, indem sie lernten, einen Schal-
ter zu drücken. Die Hunde der anderen Versuchsgruppe erhielten auch Schocks, konnten aber
nichts tun. Egal, was sie unternahmen, die Schocks blieben.
In der zweiten Versuchsphase, einen Tag später, wurden die Hunde in einer anderen Vorrichtung
untergebracht, aus der sie leicht entkommen konnten, indem sie über eine niedrige Hürde spran-
gen. Ein Ton meldete nun den Beginn der Schocks. Die Tiere, die in der Situation am Tag zuvor
gelernt hatten zu fliehen, lernten schnell, beim Erklingen des Tones über die Hürde zu springen
und so dem Schock zu entgehen. Die Tiere jedoch, die gelernt hatten, dass ihre Handlungen
zwecklos waren, schafften das nur selten. Stattdessen saßen sie einfach zusammengekauert da
und ließen die Schocks passiv über sich ergehen. Diese passive allgemeine Reaktion des „Aufge-
bens“ infolge der Erfahrung von nicht-kontingenten unkontrollierbaren Schocks wird als erlernte
Hilflosigkeit bezeichnet.
Analoge Situationen des Erlebens von Unkontrollierbarkeit kommen beim Menschen beispiels-
weise beim Erziehungsverhalten vor, wenn Eltern ihre Kinder inkonsistent – also eher nach Lust
und Laune – belohnen oder betrafen.263 Da die kognitiven, motivationalen und emotionalen Er-
scheinungen der erlernten Hilflosigkeit starke Parallelen zu der psychischen Erkrankung der De-
pression aufweisen, lag anfangs die Vermutung nahe, dass die Depression die Folge von erlernter
Hilflosigkeit sein könnte. Weitere Studien zeigten jedoch, dass Hilflosigkeit allein nicht automa-
tisch zu Depression führt.264 So kamen Abramson, Seligman und Teasdale.265 in ihrer Reformulie-
rung der Theorie der gelernten Hilflosigkeit zu der Annahme, dass Menschen nur dann depressiv
werden, wenn es ein spezielles Attributionsmuster von Unkontrollierbarkeit gibt. Die Reaktion auf
wahrgenommene Unbeeinflussbarkeit hängt danach davon ab, welche Ursachen zugrunde gelegt
werden. Damit wurde das ursprüngliche, vor allem lerntheoretische Theoriekonzept um eine at-
tributionstheoretische Erklärung erweitert. Wie bereits erwähnt fügten Abramson et al . zur The-
orie von Weiner noch die Dimension Globalität vs. Spezifität hinzu. Spezifische Ursachen beziehen
sich nur auf die eine, aktuelle Situation, dagegen wirken globale Ursachen über eine Vielzahl von
Situationen. 266 Als Beispiel benennen die Autoren unter anderem die Attribution einer Frau, die
von einem Mann zurückgewiesen wurde, wie es in Tabelle 6 dargestellt ist.
An diesem Beispiel ist deutlich sichtbar, dass die Reaktion auf diese Erfahrung der Hilflosigkeit von
den Schlussfolgerungen, also den Attribuierungen, abhängt.
In Hinblick auf das Phänomen der erlernten Hilflosigkeit kommen Abramson et al.267 zu folgenden
Vorhersagen:
l Internale Attribution führt zu persönlicher Hilflosigkeit (die Person sieht nur sich selbst als
hilflos an), externale Attribution führt zu universeller Hilflosigkeit (alle Personen sind in einer
bestimmten Situation hilflos).
l Erlernte Hilflosigkeit wird umso umfassender generalisiert (d.h. bei umso mehr Ereignis-
sen/Zuständen erwartet), je globaler die Ursachen angesehen werden.
l Erlernte Hilflosigkeit dauert umso länger an, je stabiler die Ursachen eingeschätzt werden.
Die Intensität der Defizite hängt von der Stärke oder Sicherheit der Erwartungen zukünftiger Un-
kontrollierbarkeit ab. Im Falle der affektiven Reaktionen und der Beeinträchtigungen des Selbstwert-
gefühls hängt sie zusätzlich von der Wichtigkeit der Handlungsergebnisse ab. Die nachfolgende
Abbildung zeigt die fünf Phasen in Richtung einer Depression aus attributionstheoretischer Sicht:
Nach dieser Theorie sind also Menschen, die folgenden Attributionsstil haben, stärker gefährdet
Hilflosigkeit oder eine Depression zu entwickeln: internal (es liegt an mir), stabil (es bleibt so),
unkontrollierbar (ich kann nichts machen) und global (es geht mir überall so).268 Je stärker die
Zuschreibung auf externe, spezifische und instabile Faktoren, desto weniger wahrscheinlich wird
der Weg in die Depression. Als Vorsorgemaßnahme oder in der Therapie geht es folglich darum,
depressionsförderliche Attributionsmuster zu verändern.
Ergänzend zur Theorie der erlernten Hilflosigkeit kann noch die Reaktanztheorie aufgeführt werden,
da beide Theorien gegenläufige Prozesse im Umgang mit Kontrollverlust beschreiben.269 Es ist na-
heliegend, dass nicht sofort absoluter Kontrollverlust erlebt wird, sondern, dass Menschen zunächst
versuchen werden die Kontrolle wiederherzustellen. Dies ist die Kernaussage der Reaktanztheorie,
dass Menschen bei Verlust ihrer Entscheidungsfreihei, versuchen diese wiederherzustellen.270
Mit der Reaktanztheorie lassen sich auch paradoxe Effekte bei der Sanktionierung von Handlun-
gen, bei der Persuasion und bei Versuchen der Einstellungsänderung erklären. Erlebte Einschnitte
in der Handlungsfreiheit können nämlich auch zu einem Bumerangeffekt führen und genau das
Verhalten attraktiver erscheinen lassen und fördern, welches beispielsweise verboten wurde oder
welches verändert werden sollte.271 Stellen Sie sich vor, Sie sind in einem Supermarkt und wollen
Fleisch kaufen, weil Sie heute Abend Besuch empfangen und kochen wollen. So richtig wissen
Sie noch nicht, was Sie brauchen, die Auswahl ist sehr groß. Sie bemerken ein Sonderangebot,
welches zwar günstig ist, jedoch können Sie sich noch nicht dafür entscheiden, weil es eigentlich
viel zu viel ist. Von diesem Sonderangebot ist jedoch nur noch eine Packung vorhanden. Sie be-
merken einen anderen Kunden, der sich auch für dieses Angebot interessiert. Schnell gehen Sie
hin und packen sich die letzte Packung in den Korb. Was ist passiert?
Entsprechend der Reaktanz-Theorie von Brehm272 führt Freiheitseinengung oder die Einschrän-
kung der Handlungsfreiheit zu einem aversiven motivationalen Zustand, der darauf ausgerichtet
ist, die verlorene Freiheit wiederherzustellen. Dabei wird Reaktanz als ein unangenehmer Span-
nungszustand verstanden, der irgendwie abgebaut werden soll.273
Der Spannungszustand kann sich auf verschiedenen Ebenen zeigen. Emotional kann es zu Verär-
gerung oder Wut kommen, die sich meist gegen die Quelle der Freiheitseinschränkung richtet.
Auf der kognitiven Ebene ändern Personen oft ihre Einstellung zu einer Sache, bewerten die be-
drohte oder verlorene Option positiver und die Quelle der Einschränkung negativer. Auf der Ver-
haltensebene schließlich zeigen Personen bei Reaktanz oft demonstrativ das verbotene Verhalten
(nach dem Motto: „Jetzt erst recht“), streben bewusst nach der bedrohten Option, verweigern
sich einem Beeinflussungsversuch („Mit mir nicht.“) oder verlassen eine einengende Situation
ganz. Ist eine Option endgültig verloren, wird sie rückblickend höher bewertet. Eine Trotzreaktion
tritt dann auf, wenn man etwas verboten bekommt, wovon man eigentlich erwartet, dass man
darüber verfügen kann. Reaktanz tritt auch dann auf, wenn mich jemand beeinflussen will. Dazu
muss jedoch die Beeinflussungsabsicht deutlich erkennbar sein.274
Allerdings wird nach außen nicht immer nur Widerstand gezeigt, insbesondere wenn der Druck
groß ist. An dieser Stelle existiert nach Wortman und Brehm eine Verbindung zwischen der Reak-
tanz-Theorie und der Theorie der erlernten Hilflosigkeit von Seligmann (siehe Kapitel 3.4). Zur
Erinnerung: Erlernte Hilflosigkeit tritt auf, wenn jemandem negative Ereignisse widerfahren, die
durch sein Verhalten nicht änderbar sind und diese als unkontrollierbar erlebt werden. Wortman
und Brehm275 haben die zunächst scheinbar im Widerspruch zueinander stehenden Aussagen der
Theorie der gelernten Hilflosigkeit und der Reaktanz-Theorie in einem integrativen Ansatz ver-
bunden. Sie nahmen an, dass Reaktanz nur dann auftritt, wenn die unbeeinflussbare Situation
nur geringeren Ausmaßes ist. Dann ist eine Person bestrebt, die verlorene Handlungsfreiheit wie-
der aktiv herzustellen. Dabei sind Aktivitäten zu beobachten, die dazu dienen, die Kontrolle wie-
derherzustellen. Diese Kontrollversuche sind von Ärger begleitet. Die Reaktanzmotivation nimmt
jedoch mit länger andauernder Unbeeinflussbarkeit wieder ab. Sie geht schließlich in Motivati-
onsverlust, kognitive Defizite und einen depressiven Affekt über, wenn sich die Erwartung, Beein-
flussbarkeit auszuüben, nicht erfüllen lässt. Diese Annahmen Wortmans und Brehms konnten in
einer Reihe empirischer Untersuchungen bestätigt werden.276
So hat sich z.B. gezeigt, dass Personen mit externalen Kontrollüberzeugungen nach Unbeeinfluss-
barkeitserfahrungen geringeren Ausmaßes bereits mit Leistungsbeeinträchtigungen reagierten,
die nach fortdauernder wahrgenommener Unbeeinflussbarkeit weiter abfielen. Personen mit in-
ternalen Kontrollüberzeugungen reagierten dagegen zunächst mit Leistungssteigerungen. Bei
fortdauernder Unbeeinflussbarkeit zeigten sie jedoch dann stärkere Beeinträchtigungen als Per-
sonen mit externaler Kontrollüberzeugung.
Somit lässt sich festhalten, dass Personen so lange, wie sie aufgrund eigener Überzeugungen
und/oder situativer Bedingungen erwarten, Beeinflussbarkeit ausüben zu können, mit aktiven
Versuchen reagieren, Beeinflussbarkeit aufrechtzuerhalten bzw. wiederherzustellen. Hilflosig-
keitsreaktionen auf wahrgenommenen Kontrollverlust werden erst dann gezeigt, wenn die Er-
wartungen aufgegeben werden müssen, dass Konfrontationsstrategien zum Erfolg führen.
Übungsaufgaben zu Kapitel 3
011 Erläutern Sie an einem Beispiel, was bei der Attributionstheorie von Heider mit der Unter-
scheidung in internale und externale Faktoren gemeint ist.
012 Eine wichtige Aufgabe von Vorgesetzten ist die Mitarbeiterbeurteilung. Was kann ein Vor-
gesetzter aus dem Kovariationsmodell von Kelley für seine Führungsaufgabe ableiten?
013 Was sollte man aufgrund der Attributionstheorie von Weiner beachten, um die optimale
Leistung von anderen (bspw. Schülern, Mitarbeitern) zu fördern? Verdeutlichen Sie die Ge-
danken an geeigneten Beispielen.
014 Erläutern Sie, wie aus Sicht der attributionstheoretisch reformulierten Theorie der erlernten
Hilflosigkeit eine Depressionsprophylaxe erreicht werden könnte.
015 Unternehmen werden aufgrund der Globalisierung immer mehr mit organisationalen Ver-
änderungsprozessen konfrontiert. Erläutern Sie auf der Basis der Reaktanz-Theorie, wieso
sich häufig Widerstände von Seiten der Führungskräfte und Mitarbeiter zeigen. Durch wel-
che Maßnahmen lassen sich aus Sicht dieser Theorie das Engagement und die Bereitschaft
zur Veränderung bei der Belegschaft erhöhen?
Sozialpsychologie 93
l können Sie den Begriff ‚soziale Kognition‘ und damit verbundene Denkprozesse erläutern;
l haben Sie den Unterschied zwischen automatischen und kontrollierten kognitiven Prozes-
sen verstanden;
l wissen Sie, was sich hinter dem Begriff ‚kognitive Kontrolle‘ verbirgt;
l kennen Sie die Hintergründe für die Entstehung und den Abbau von Vorurteilen.
Die soziale Kognition beschäftigt sich damit, wie wir uns in unserem komplexen sozialen Leben
zurechtfinden und wie wir zur Bewältigung unseres Alltags kommen. Welche Informationen er-
wecken unsere Aufmerksamkeit, welche nutzen wir? Wie organisieren wir diese sozialen Infor-
mationen in unseren Urteilen und in unserer Interaktion? Weshalb begehen wir bestimmte Hand-
lungen, woraus ziehen wir Schlüsse und warum hegen wir welche Gedanken. Kurz: Soziale Kog-
nition beschäftigt sich damit, wie wir über andere Menschen denken und wie die beteiligten
Prozesse unsere Urteile und unser Verhalten in sozialen Kontexten beeinflussen. 278 Soziale Kog-
nition ist für uns ein Regelwerk zur Auswahl, Interpretation und Erinnerung sozialer Informatio-
nen. Am besten kann man soziale Kognition mit dem Begriff soziales Denken umschreiben.
Würde es Ihnen auch so gehen, dass Sie einen Mann in Business-Outfit in der Etage der Geschäfts-
leitung automatisch für den Chef halten und verwundert wären, wenn er der Sekretär ist? Sind
Sie auch im ersten Moment irritiert, wenn Sie ins Taxi steigen und darin sitzt eine Fahrerin – Sie
hatten eher einen Fahrer erwartet? Mit solchen Fragen beziehungsweise den dahinterliegenden
Denkprozessen und Schlussfolgerungen beschäftigt sich das Thema soziale Kognition.
Ein wichtiges und übergreifendes Thema im Rahmen der sozialen Kognition ist die Unterschei-
dung zwischen einem abgewogenen und genauen sowie einem schnellen und impulsiven Den-
ken. Diese zwei unterschiedlichen Denkarten sind wichtig, um zu verstehen, wie wir Menschen
unsere soziale Welt einschätzen und wie zutreffend unsere Einschätzungen sind.279 Diese Unter-
scheidung werden wir im Folgenden als den Gegensatz zwischen automatischen und kontrollier-
ten Prozessen aufgreifen.
Ein automatischer Prozess läuft ohne Absicht ab, ohne Aufwand und ohne Bewusstsein. Andere
gleichzeitig ablaufende kognitive Prozesse werden nicht beeinträchtigt.280 Gute Beispiele für au-
tomatische Prozesse sind Handlungen, über die wir nicht weiter nachdenken müssen, z.B. die
tägliche Fahrt ins Büro auf gewohnter Strecke verläuft nahezu automatisch, wir biegen automa-
tisch an der richtigen Stelle ab, kennen ggf. Radarfallen, an denen wir langsam fahren müssen,
usw. Das automatische Denken ist eine Hilfe bei der Erfassung von Situationen, wobei wir hier
einen Bezug zu unseren bestehenden Erfahrungen herstellen.
Ein kontrollierter Prozess dagegen unterliegt der willkürlichen Kontrolle einer Person, er findet
absichtlich statt, ist aufwändig, erfordert Bewusstsein281 und erschwert andere kognitive Prozesse.
Bleiben wir beim Autofahren, der automatische Prozess der Fahrt ins Büro wird zu einem kontrol-
lierten Prozess, wenn ein Unfall ist und wir die gewohnte Strecke nicht fahren können. Dann
müssen wir nachdenken, welche Strecke wir nehmen, wie wir fahren, wo wir abbiegen müssen.
Der kontrollierte Prozess kann das automatische Denken überprüfen und ausgleichen, wenn die
Ereignisse von Routinen abweichen.
Dazu zunächst eine kleine Übung für Sie – lesen Sie folgenden Text und denken Sie nicht lange
nach:
„Ein Vater und sein Sohn wurden in einen Autounfall verwickelt, bei dem der Vater starb
und der Sohn schwer verletzt wurde. Der Vater wurde am Unfallort für tot erklärt und sein
Leichnam ins örtliche Leichenschauhaus gebracht. Der Sohn wurde mit einem Unfallwagen
ins nächste Krankenhaus transportiert und sofort in den Operationssaal der Notfallabteilung
gerollt. Es wurde ein Mitglied des Chirurgenteams gerufen. Als es eintraf und den Patienten
sah, rief es aus: „Oh Gott, das ist mein Sohn.“ Haben Sie eine Erklärung dafür?“282
Haben Sie eine Erklärung gefunden? Vielen gelingt dies nicht oder Sie konstruieren weit herge-
holte Erklärungen, wie der verstorbene Vater war der Adoptivvater oder der Fahrer des Wagens
war katholischer Priester und wurde deshalb als „Vater“ bezeichnet. Die Erklärung, dass es sich
beim Mitglied des Chirurgenteams um die Mutter handelt, unterbleibt bei mehr als 40% der
Befragten. Dies liegt daran, dass viele davon ausgehen, dass Chirurgen Männer sind und so „au-
tomatisch“ davon ausgegangen wird, dass auch das Mitglied des Chirurgenteams männlich sein
wird und es daher nur „der Vater“ sein kann, der „sein Kind“ wiedererkennt.283
Bei solchen automatischen Prozessen oder Schlussfolgerungen spielen folgende Begriffe und Pro-
zesse eine Rolle: Schemata, Stereotype und Heuristiken.
Schemata sind kognitive Strukturen oder mentale Repräsentationen, die vorverarbeitete Informatio-
nen und Vorstellungen oder Erwartungen beinhalten, die sich auf Objekte oder Menschen bestimm-
ter Kategorien beziehen. Sie definieren für uns diese Objekte oder Gruppen.284 Zum Beispiel haben
wir die Vorstellung: schwarze Haare, temperamentvoll, braun getönte Hautfarbe – das könnte je-
mand aus dem Süden Europas sein; oder: helle Haut, helle Haare, eher ruhigeres Auftreten, das
könnte jemand aus dem Norden sein. Schemata ordnen also unser Wissen über die soziale Welt und
haben dadurch Einfluss darauf, welche Informationen wir wahrnehmen, welche wir erinnern und
über welche wir nachdenken. Der Begriff ist sehr allgemein und umfasst einen breiten Bereich – vom
Wissen, wie ein typischer Ingenieur ist, bis hin zum normalen Ablauf eines Restaurantbesuches.285
Auch Stereotype sind kognitive Strukturen und sie enthalten unser Wissen, unsere Überzeugun-
gen und Erwartungen bezüglich einer sozialen Gruppe von Menschen.286 Sie führen dazu, dass
wir bei Feststellen der Passung zu einem Stereotyp zunehmend selektiver wahrnehmen und uns
auf Informationen fokussieren, die zu unserer Erwartung, zum Stereotyp passen. Nehmen wir an,
wir hätten die Vorstellung, dass schwarze Hunde gefährlich sind, so würden wir jedes Signal eines
schwarzen Hundes, das zu unserer Theorie passt, aufnehmen, z.B. knurren, bellen, aufgeregt sein;
dass der Hund zwischendurch liegt und schläft oder andere Menschen schwanzwedelnd begrüßt,
würden wir ignorieren.
Heuristiken (auch Urteilsheuristiken genannt) bestehen in einer Art Schnelldurchlauf der Informa-
tionsverarbeitung, sie bilden eine Art kognitive Faustregel, um sich schnell Urteile zu komplexen
sozialen Situationen oder Personen zu bilden. Diese Urteile sind häufig effektiv und richtig, aber
eben nicht in allen Situationen.287 Heuristiken benötigen häufig nur wenige Informationen,
manchmal nur eine, um angewendet zu werden.288
Exkurs Heuristiken289
Bei der Verfügbarkeitsheuristik wird ein Urteil danach gefällt, wie leicht wir bestimmte Informati-
onen aus dem Gedächtnis abrufen können. Die Fehlerquelle liegt hierbei darin, dass das, woran
wir uns am schnellsten erinnern können, nicht unbedingt typisch für die Gesamteinschätzung ist.
Entsprechend der Repräsentativitätsheuristik beurteilen wir etwas danach, wie ähnlich es einem Pro-
totyp ist. Jens Jensen, mit blonden Haaren und hellem Hauttyp kommt bestimmt von der Küste.
Wenden wir die Expertenheuristik an, verlassen wir uns bei Entscheidungen oder dem was wir
glauben, auf das Urteil von Experten.
Bei der sozialen Heuristik, verlassen wir uns auf das Mehrheitsurteil. Ähnlich ist die Nachahmungs-
heuristik, wenn wir uns mit unserem Verhalten am Verhalten der Menge orientieren.
Die Ankerheuristik sagt aus, dass wir Informationen auf der Basis unseres bisherigen Wissens in-
terpretieren. Das heißt aber auch, das einmal gefasste Hypothesen oder Meinungen unseren wei-
teren Informationsverarbeitungsprozess lenken.
Lassen Sie uns nun betrachten, welche grundlegenden Prozesse bei einem automatischen Prozess
eine Rolle spielen.
Da ist zum ersten die Kategorisierung. Um unseren Alltag zu erleichtern und den Umgang mit
einer Vielzahl an Reizen und Informationen, die täglich auf uns einwirken, zu vereinfachen, ver-
suchen wir, Objektkategorien zu bilden, indem wir Objekte oder Subjekte mit gemeinsamen
Merkmalen zu Gruppen zusammenfassen, die Objektkategorien oder soziale Kategorien bilden.
So haben wir zum Beispiel Kategorien für Möbel und Musikinstrumente, aber auch für Frauen,
Ärzte oder Obdachlose. Die Kategorisierung ist also die Tendenz, Objekte und Menschen auf-
grund gleicher charakteristischer Merkmale in Gruppen einzuteilen. Diese Fähigkeit ist für uns
lebenswichtig, weil wir ansonsten jedes neue Objekt oder jeden Menschen neu entdecken und
bewerten müssten und dies unsere Informationsverarbeitungskapazität überlasten würde.290
Diese Kategorisierungsprozesse sind die Grundlage von Stereotypen. Die soziale Kategorisierung
erfolgt anhand besonders hervorstechender (salienter) Merkmale, wie zum Beispiel Alter, Ge-
schlecht, ethnische Zugehörigkeit, aber auch Einstellungen, politische Orientierung oder Religi-
onszugehörigkeit. Zur sozialen Kategorisierung, also der Gruppierung von Personen, kommt nun
noch die Zuschreibung bestimmter Eigenschaften, Fähigkeiten oder Motive hinzu.291 Bleiben wir
bei dem Beispiel des Obdachlosen. Sehen wir einen Menschen in der Stadt, der ungepflegt wirkt,
schmutzig, nachlässig gekleidet, der einen mit Plastiktüten gefüllten Einkaufswagen vor sich her-
schiebt, der vielleicht obenauf eine angebrochene Einwegverpackung mit Rotwein liegen hat, so
aktivieren wir unser Stereotyp und ordnen diesen Menschen einer bestimmten sozialen Gruppe –
den Obdachlosen – zu.
Die Grundlage der Kategorisierung und der Stereotype ist also die Gruppierung von einzelnen
Reizen und Informationen – wir bilden also im Gedächtnis Konstrukte von zusammenhängenden
Informationen. Die Wahrnehmung eines einzelnen Reizes aktiviert das ganze Konstrukt und an-
dere damit assoziierte Konzepte, welche nun leichter zugänglich sind. Dies bedeutet, dass die
einzelnen Informationen leichter gefunden, verarbeitet und genutzt werden. Diese Aktivierung
eines Stimulus nennt man Priming und es kommt zu einer sich ausbreitenden Aktivierung (siehe
Abbildung 35). Diese Aktivierung von Stereotypkategorien und demnach die Aktivierung von ste-
reotypen Informationen erfolgt häufig automatisch.292
Der nächste Schritt im Prozess sind die Schemata. Haben wir einmal ein Stereotyp aktiviert, kommt
all unser Wissen und das hinzu, was wir mit diesem Stereotyp verbinden. Schemata sind – zur
Erinnerung – Pakete aus vorverarbeiteten Informationen, die wir über die Objekte oder Menschen
im Kopf haben. Darin enthalten sind Vorstellungen über komplexere Prozesse, Handlungssequen-
zen und unsere Erwartungen und Annahmen, wie sich zum Beispiel entsprechende Personen ver-
halten und wie sie im sozialen Kontext agieren. Sie sind also mehr als die additive Aneinanderrei-
hung von Einzelmerkmalen, sondern enthalten darüber hinaus Wissen über Zusammenhänge,
zugehörige Gefühle, Werturteile und eigene Meinungen. Hieraus resultieren Annahmen und Er-
wartungen, welche die Alltagsbewältigung erleichtern. Nehmen wir zum Beispiel an, dass wir
viele Informationen mit der Kategorie „Frau“ verbinden. Wir haben auch verschiedene Unterka-
tegorien gebildet, wie Hausfrau oder Geschäftsfrau. Zu jeder dieser Unterkategorie haben wir nun
nicht nur stereotype Vorstellungen und Informationen, die wir damit verbinden (die Geschäftsfrau
ist ehrgeizig und trägt Businesskostüme), wir haben auch konkrete Vorstellungen über ihr typi-
sches Verhalten: Die Geschäftsfrau ist ehrgeizig, eher kalt und rücksichtslos.293
Ein anderes und interessantes Beispiel entstammt einer Werbekampagne des britischen Guar-
dian. In einer Filmsequenz sieht man, wie ein Skinhead auf einen Geschäftsmann zurennt (siehe
Abbildung 37).
Die Szene sieht für uns bedrohlich aus und wir haben nicht nur sofort unser Stereotyp für Skin-
heads aktiviert, wir haben auch ein Handlungsschema parat und antizipieren, was gleich passieren
wird. Nach unserem Stereotyp sind Skinheads aggressiv und gewalttätig und er wird wahrschein-
lich den Geschäftsmann gleich überfallen. Tatsächlich stößt der Skinhead den Geschäftsmann
jedoch beiseite, um ihn vor herabstürzenden Ziegeln zu retten (siehe Abbildung 38).294
293 Vgl. Jonas et al. (2014), S.114ff; Vgl. Aronson et al (2014) 64ff.
294 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 114f.
98 Sozialpsychologie
Woher kommt unsere Erwartung? Das Bild des Skinheads aktiviert das zugehörige Schema: aggres-
siv, anarchistisch, gewaltbereit. Daher gehen wir davon aus, dass das nächste Bild eine Gewalttat
zeigen wird. Schemata enthalten also eine Menge unterschiedlichen Wissens über eine bestimmte
Kategorie inklusive eventueller kausaler Zusammenhänge. Damit geht unser Prozess der Eindrucks-
bildung ziemlich schnell. Schemata führen also dazu, dass wir unvollständige Informationen schnell
zu einem ganzen Bild ergänzen, das richtig, aber wie das oben genannte Beispiel zeigt, auch falsch
sein kann. Schemata lenken darüber hinaus unsere Aufmerksamkeit. Das heißt, wir fokussieren ins-
besondere diejenigen Aspekte, die zum Schema passen, andere vernachlässigen wir.
Schemata beeinflussen nicht nur die Einschätzung einer aktuellen Situation, sondern beeinflussen
auch die Erinnerung an diese Situation, insbesondere an Personen in dieser Situation. Eine Unter-
suchung konnte dies zeigen:295 Die Versuchsteilnehmer sahen ein Video von einer Frau, die mit
ihrem Mann interagierte. Ihnen wurden vorher unterschiedliche Informationen gegeben. Eine
Gruppe bekam die Information, die Frau sei Bibliothekarin, die andere Gruppe, die Frau sei Kell-
nerin. Die Frau zeigte Verhaltensweisen, die jeweils zu einem Stereotyp passten. Sie trug eine
Brille und hörte gerne klassische Musik (Bibliothekarin), sie trank aber auch Bier (Kellnerin). Beim
nachträglichen Erzählen des Filmes erinnerten sich die jeweiligen Teilnehmer stärker an diejenigen
Aspekte, die zum jeweiligen Stereotyp passten als an andere Aspekte.
Nicht immer werden bevorzugt mit dem Stereotyp konsistente Informationen erinnert. Dies ist
insbesondere dann der Fall, wenn starke Inkonsistenzen bestehen und stark widersprüchliche In-
formationen gegeben werden. Dies kann durch folgende Phänomene erklärt werden – starke
Widersprüche erregen unsere Aufmerksamkeit und führen zu stärkerer Auseinandersetzung mit
Detailaspekten; Informationen, die nicht zu Erwartungen passen, irritieren und führen zu intensi-
verer Auseinandersetzung und damit zu besserer Erinnerung.
Alles in allem lässt sich konstatieren, dass Schemata in jeder Art der sozialen Wahrnehmung eine
wichtige Rolle spielen. Experimente zeigten, dass sie nicht nur bei der Wahrnehmung eine Rolle
spielen, sondern in Folge auch soziales Verhalten beeinflussen. Die Aktivierung der Kategorie „älte-
rer Mensch“ beispielsweise verursachte in Untersuchungen eine Verlangsamung der Motorik296, die
Aktivierung der Kategorie „Professor“ verbesserte die Leistungen bei einer Denksportaufgabe.297
1. Stereotyp: Aktivierung von Persönlichkeitsmerkmalen, die mit dem Stereotyp assoziiert sind,
2. Aktivierung von zugehörigen Verhaltensrepräsentationen,
3. Aktivierung zugehöriger motorischer Programme,
4. Verhalten
Generell können wir festhalten, dass die Nutzung von Kategorisierungen, Stereotypen, Schemata
und Heuristiken kognitive Abkürzungen sind, welche uns die soziale Informationsverarbeitung
erleichtern und vor allem auch beschleunigen. Als Mensch sind wir eine Art kognitiver Geizkragen,
der in seiner Verarbeitungskapazität begrenzt ist und daher zur Nutzung kognitiver Abkürzungen
neigt.298
Sie haben die Funktionsweise von Stereotypen kennengelernt und erfahren, welche Vorteile diese
Art der Wahrnehmung im Alltag bietet – sie ermöglicht schnelle und unmittelbare Orientierung.
Sie haben aber auch von Nachteilen erfahren. Es können falsche Schlüsse gezogen werden. Daher
ist es wichtig sich damit zu beschäftigen, wie die Aktivierung von Stereotypen und die zugehörige
stereotype Reaktion unterbunden oder verändert werden können bzw. festzustellen, unter wel-
chen Bedingungen Stereotype gar nicht erst aktiviert werden.
4.3.1 Verhinderung der Aktivierung und Verhinderung des Wirksamwerdens von Stereotypen
Auch wenn es aufgrund der Menge der zu verarbeitenden Informationen und unserer einge-
schränkten Kapazität diese Menge zu bewältigen naheliegt, so ist die automatische Prozessverar-
beitung und die damit einhergehende Stereotypaktivierung auch nicht unausweichlich und un-
vermeidlich. Untersuchungen zeigen, dass die Aktivierung eines Stereotyps von verschiedenen
Faktoren abhängig ist, die nachfolgend aufgegriffen werden:299
l Die Aktivierung eines Stereotyps ist von den impliziten (unbewussten) Zielen der Person
abhängig, sich auf eine bestimmte Art und Weise zu verhalten.
l Das Verarbeitungsziel, mit dem die Informationen wahrgenommen und interpretiert wer-
den, zeigte in Untersuchungen ebenso einen Einfluss. So zeigte eine Untersuchung von
Macrae, Bodenhausen, Milne, Thorn und Castelli300, dass bei Personen, die unter der Prä-
misse der semantischen Verarbeitung301 eine Aufgabe erledigten, Stereotype aktiviert wur-
den, wohingegen bei anderen Personen, die sich nicht intensiv mit dem Material auseinan-
dersetzen mussten, die Stereotype nicht aktiviert wurden.
l Die individuelle Überzeugung zu Vorurteilen und Egalitarismus, also die grundsätzliche Wer-
torientierung einer Person hin zu Egalität und damit Vorurteilsfreiheit, beeinflusst ebenfalls
die Aktivierung von Stereotypen. Je wichtiger einer Person eine egalitäre Weltsicht ist,
desto weniger leicht werden Stereotype aktiviert.
Insgesamt zeigt die aktuelle Forschung, dass die Aktivierung von Stereotypen von einer ganzen
Reihe kognitiver, motivationaler und auch biologischer Faktoren abhängt.
Eine weitere wichtige Frage ist, wie man die Wirkung von Stereotypen verhindern kann, wenn sie
einmal aktiviert sind. Bis zu einem gewissen Ausmaß sind wir durchaus in der Lage, nach einer Ste-
reotypaktivierung uns zu entscheiden, wie wir gegenüber anderen reagieren wollen. Voraussetzung
für die Möglichkeit der Übernahme von Kontrolle über automatische Prozesse ist jedoch Folgen-
des:302
Um die relevanten Prozesse, die nach der Aktivierung eines Stereotypes ablaufen können, näher
zu beleuchten, werden wir uns nachfolgend mit verschiedenen theoretischen Ansätzen auseinan-
dersetzen.
4.3.2 Auf dem Weg zu einer individualisierten Verarbeitung – Das Kontinuummodell der Ein-
drucksbildung
Beim Bilden eines Eindrucks von anderen Personen spielen zwei Informationsquellen eine wichtige
Rolle: 303
l Wissen über die Zugehörigkeit zu einer speziellen Kategorie – männlich, weiblich, älter ...
usw. Dies sind die kategorialen Informationen und Bewertungen.
l Individualisierende Informationen, d.h. Informationen über spezifische Merkmale der Per-
son (bspw. vergesslich, offen, langsam), die nicht aus der Zugehörigkeit zu einer Kategorie
abgeleitet werden.
Das Kontinuummodell von Fiske und Neuberg304 geht nun davon aus, dass die Eindrucksbildung ein
Prozess ist, der auf einem Kontinuum mit dem einen Pol der kategorisierten Bewertungen und dem
anderen Pol der individualisierten Reaktionen verläuft. Das Fortschreiten auf diesem Kontinuum ist
sowohl von motivationalen als auch von Interpretations- und Aufmerksamkeitsfaktoren abhängig.
Das Modell geht davon aus, dass bei der Wahrnehmung als erstes auf kategoriales Wissen zurück-
gegriffen wird. Das heißt, wir sehen eine Person und ordnen sie in eine uns bekannte Kategorie ein
– z.B. ‚ältere Frau‘. Im Anschluss an diesen ersten Schritt erfolgt eine Einschätzung der persönlichen
Relevanz der entsprechenden Person. Gibt es geringes Interesse an der Person, so erfolgt keine lang-
wierige weitere Auseinandersetzung. Wir denken in der Regel nicht länger über jemanden nach, an
dem wir im Supermarkt vorbeilaufen; in diesem Fall wird der Prozess der Eindrucksbildung abgekürzt
und die Einschätzung erfolgt weitestgehend Kategorie basiert. Je höher das Interesse an der Person,
desto umfassender ist der Versuch, individuelle Eigenschaften der betreffenden Person zu erschlie-
ßen. Dieser Prozess läuft so lange weiter und erfolgt in mehreren Stufen, bis eine gewisse Zufrieden-
heit entsteht und keine Motivation für weitere Erkenntnisse mehr vorhanden ist.
l Abhängigkeit des Wahrnehmenden von der Zielperson: Je stärker die Abhängigkeit, desto
höher ist die Motivation zur Entwicklung eines detaillierten Bildes. Wissen wir, dass wir mit
jemanden zusammenarbeiten müssen, so ist es wichtiger für uns, seine persönlichen Ei-
genheiten kennenzulernen, als wenn wir erfahren, dass derjenige zukünftig zum Team ei-
ner anderen Abteilung gehören wird.
Das Dissoziationsmodell von Devine306 postuliert, dass automatische und kontrollierte Prozesse
unabhängig voneinander (dissoziiert) ablaufen können und nicht automatisch das eine auf das
andere folgt. Das bedeutet, dass nach Aktivierung eines Stereotyps nicht zwangsläufig auch die
zugehörige stereotype Reaktion erfolgen „muss“.
Die Reaktion kann beeinflusst und so kontrolliert werden. Hierfür müssen folgende Voraussetzun-
gen gegeben sein:307
Zur Illustration möge ein Beispiel dienen. Nehmen wir an, Sie legen Wert darauf, tolerant und
vorurteilsfrei zu sein und das auch nach außen zu demonstrieren. Nun treffen Sie auf eine Person,
die das Stereotyp „Obdachlos“ in Ihnen aktiviert. Sie merken das und wollen das Wirksamwerden
von entsprechenden Vorurteilen verhindern. Nun zwingen Sie sich, genauer hin zu schauen, wei-
tere Details an der Person wahrzunehmen, fragen sich, ob die Informationen, die Sie erhalten,
auch anders interpretiert werden könnten. Hierfür brauchen Sie Zeit.
Es stellt sich die Frage, ob man Stereotype bewusst unterdrücken kann. Können wir dafür sorgen,
unerwünschte Gedanken nicht zu denken? Die Forschung zeigt, dass dies nicht gelingen kann. Eher
das Gegenteil ist der Fall – es entsteht ein Bumerang-Effekt. Der Versuch, bestimmte Gedanken zu
unterdrücken, sorgt dafür, dass wir uns relativ häufig mit diesem Gedanken beschäftigen. Je häufiger
wir uns allerdings mit einem Gedanken beschäftigen, desto leichter werden die zugehörigen Ge-
dächtniskonstrukte, die Stereotype, zugänglich und haben dadurch stärkeren Einfluss als zuvor.308
4.3.5 Keine automatische Verknüpfung von sozialer Wahrnehmung und sozialem Verhalten
Der Ablauf automatisierter Prozesse geht davon aus, dass die Aktivierung eines Stereotyps oder
Schemas auch unmittelbar zum assoziierten stereotypen Verhalten führt. Mittlerweile wird dies in
der Forschung differenzierter betrachtet, da viele der Studien, die einen automatischen Effekt
zeigen, mögliche Moderatoreffekte309 innerhalb der Person, wie Motive und Ziele, oder auch au-
ßerhalb der Person in Form von Umweltaspekten vernachlässigen. Weitere Forschungen zeigen,
dass dieser Automatismus nicht zwangsläufig so passieren muss, sondern dass zum Beispiel nach-
folgend genannte Faktoren ebenso Einfluss haben.310
Schemata erleichtern das Alltagsleben, indem sie unmittelbare, anstrengungsfreie Analyse von
Informationen ermöglichen und unmittelbare Handlungskonsequenzen initiieren. Denken Sie an
Autofahren, das zugehörige Schema erlaubt Ihnen eine Vielzahl an Handlungen ohne darüber
nachzudenken. Sie können Auto fahren und dabei ein Hörbuch hören und dessen Inhalte verar-
beiten. Das wäre nicht möglich, müssten Sie sich jede zum Fahren notwendige Bewegung mittels
intensiven Nachdenkens „erarbeiten“.
Aus diesem Grund ist es schwierig, Schemata zu verändern, denn diese Veränderung führt zu
Verunsicherung und erfordert „Mehrarbeit“. Dennoch ist es unter bestimmten Bedingungen
möglich:
l Vorliegen falscher oder ungenauer Schemata: Es gibt Informationen, die das bestehende
Schema eindeutig und klar widerlegen, die in starkem Widerspruch stehen. Nehmen Sie
an, Sie glauben, dass Italienerinnen temperamentvoll sind. Treffen Sie nun auf eine Italie-
nerin, die diesem Bild nicht entspricht, so wird Sie das nicht weiter beeindrucken und nicht
zur Veränderung Ihres Schemas führen. Treffen Sie jedoch laufend auf Italienerinnen, die
ruhig und in sich gekehrt sind, so werden Sie beginnen, Ihr bisheriges Schema in Frage zu
stellen und ggf. zu verändern.
308 Vgl. Jonas et al. (20014), S. 134; Vgl. Macrae, Bodenhausen, Milne & Jetten (1994), S. 808ff.
309 Ein Moderatoreffekt oder auch eine Moderatorvariable ist eine Variable von der abhängt, wie der Einfluss einer Va-
riable A auf die Variable B ist.
310 Jonas et al. (2014), S. 136ff.
Sozialpsychologie 103
4.4 Vorurteile
Eine spezielle Form von Stereotypen sind Vorurteile. Vorurteile haben die gleiche Grundlage, wie
die Stereotype – die soziale Kategorisierung zur Vereinfachung und Strukturierung unserer kom-
plexen Umwelt – jedoch sind die Stereotype nicht notwendigerweise wertend. Als Vorurteile wer-
den hingegen die typischerweise negativen Bewertungen von Gruppen und deren Mitgliedern
und die damit einhergehenden negativen Gefühle und Verhaltenstendenzen definiert.311 Zwar
fallen uns auch positive stereotype Beschreibungen für Personen ein (zum Beispiel Brillenträger
sind intelligent), jedoch fehlt hier das negativ Wertende und das Benennen der Verhaltenstenden-
zen fällt schon deutlich schwerer. Bestimmend für ein Vorurteil ist neben der Stereotypisierung
also die negative, ablehnende, sogar teilweise feindselige Haltung gegenüber der anderen Person
oder Personengruppe, die allein auf der Gruppenzugehörigkeit beruht. Die affektive Komponente
steht beim Vorurteil im Vordergrund. Äußert sich ein Vorurteil in ablehnendem, abwertendem
oder aggressivem Verhalten, so sprechen wir von Diskriminierung. 312
Ein Vorurteil ist eine emotional sehr wirkungsvolle Einstellung und besteht wie diese aus drei
Komponenten:313
l Kognitive Komponente: das Stereotyp, d.h. die Überzeugungen und das Wissen, das die
Merkmale enthält, die eine Gruppe und deren Mitglieder auszeichnet. Dabei findet man
mitunter bei der Kategorisierung und der Stereotypisierung ein „Körnchen Wahrheit“, je-
doch ist das Vorurteil eine unzutreffende und vor allem unflexible Generalisierung.314
l Affektive Komponente: ein negatives Gefühl gegenüber den Angehörigen einer Gruppe
aufgrund ihrer Gruppenzugehörigkeit, wie beispielsweise Wut oder Feindseligkeit.
l Verhaltenskomponente: die Diskriminierung, d.h. der Ausdruck von Vorurteilen in unge-
rechtfertigtem, schädlichem Verhalten gegenüber einer Person aufgrund ihrer Gruppenzu-
gehörigkeit.
Da die Grundlage der Vorurteile die soziale Kategorisierung ist, basieren Vorurteile insbesondere
auf schnell identifizierbaren, äußeren und auffälligen Merkmalen.315 Daher sind vor allem drei
Kriterien eng verbunden mit Vorurteilen: Geschlechts- und Rassenzugehörigkeit, Alter und kör-
perliche Erscheinung.
Vorurteile aufgrund des Alters: Ältere Personen sind häufig Opfer einer Vielzahl von Vorurteilen.
Sie werden insbesondere im Arbeitsleben diskriminiert, indem sie weniger gerne eingestellt wer-
den, eher ihren Job verlieren – ggf. indem sie gebeten werden, vorzeitig in Rente zu gehen. Auch
im Kontext von Weiterbildung oder medizinischer Behandlung werden die Probleme älterer Men-
schen von Experten wie Lehrern, Erziehern, Ärzten, Psychotherapeuten etc. weniger ernst genom-
men als dieselben Probleme, wenn sie von jüngeren Personen geäußert werden.317 Ähnliches gilt
für Kinder, auch ihre Bedürfnisse finden weniger Akzeptanz.
Vorurteile aufgrund der äußeren Erscheinung: Ganz allgemein werden attraktive Menschen posi-
tiver wahrgenommen als weniger attraktive Personen. Sie werden auch entsprechend positiver
behandelt, erhalten mehr Aufmerksamkeit. Auch bestimmte Körpermerkmale können zu Diskri-
minierungen führen. Wichtig ist hier insbesondere das Übergewicht, das schon von Kind auf zu
Benachteiligungen führt. Übergewichtige haben zum Beispiel schlechtere Chancen auf dem Ar-
beitsmarkt oder erhalten geringere finanzielle Unterstützung zur Ausbildung von den Eltern.318
Bei der Entstehung von Vorurteilen spielen verschiedene Aspekte eine Rolle, die im Folgenden
näher erläutert werden.
Wie bereits mehrfach erwähnt, ist die Grundlage für Vorurteile die soziale Kategorisierung, welche
notwendig ist, um unseren Alltag zu strukturieren, um die Verarbeitung der Reizvielfalt zu erleich-
tern und um schnell und adäquat auf verschiedene Interaktionspartner reagieren zu können.
Weiterhin existieren innerhalb der Person liegende psychologische Faktoren (intra-individuelle Merk-
male), die darüber entscheiden, ob Menschen gegenüber Fremdgruppen reserviert und misstrauisch
sind und von daher eher zu Vorurteilen neigen. Dazu zählen zum Beispiel die Ambiguitätsintoleranz
(also die Intoleranz gegenüber Mehrdeutigkeit), welche auch als need for closure (Bedürfnis nach
Klarheit) bekannt ist. Solche Menschen lieben Klarheit, Ordnung, Entschlossenheit und Vorhersag-
barkeit. Eine Einteilung der sozialen Welt in Gruppen, die feinsäuberlich voneinander getrennt sind,
die für sich jeweils sehr homogen erscheinen und die danach bewertet werden, ob man selbst da-
zugehört oder nicht, befriedigt ein solches Bedürfnis. Eine besonders stark ausgeprägte Form dieses
Bedürfnisses nach Klarheit findet sich im essenzialistischen Denken, wonach Mitglieder von dersel-
ben Gruppe als von derselben Essenz wahrgenommen werden.319 Ein weiterer Faktor, der Vorteile
begünstigt, ist eine hohe soziale Dominanzorientierung. Hierbei wird ein Wunsch nach hierarchi-
schen Gruppenbeziehungen zum Ausdruck gebracht. Viele Befunde zeigen, dass Menschen mit
einer hohen sozialen Dominanzorientierung sexistischer, rassistischer und vorurteilsbehafteter ge-
genüber einer ganzen Reihe von sozialen Gruppen sind.320 Ebenso spielt der Selbstwert bei der
Fremdgruppenabwertung und dem Entstehen von Vorurteilen eine Rolle, jedoch ist dieser Zusam-
menhang noch nicht vollständig geklärt. Insgesamt ist es so, dass diese personenzentrierten Ansätze
in ihrer Erklärungskraft noch unzureichend sind 321 und dass ohne den sozialen Kontext hinzuzuzie-
hen, Vorurteile nicht erklärt werden können. Zusätzlich nimmt der Kontext auch noch Einfluss auf
solche Merkmale, wie beispielsweise Dominanzorientierung.322
Vorteile entstehen jedoch auch aufgrund bestimmter Eigenschaften der Beziehung zwischen zwei
Gruppen. Diese können tatsächlich real oder auch subjektiv wahrgenommen sein. Dazu zählen zum
Beispiel Interessenkonflikte zwischen Gruppen, die zu wechselseitiger Abwertung führen. Vorurteils-
fördernd sind ebenso begrenzte Ressourcen, Konkurrenzsituationen oder Existenzbedrohungen für die
Gruppe oder auch deren Kultur und Werte (Auslöschung der Sprache, Verlust von Traditionen und
Riten). Das Phänomen lässt sich zum Beispiel dadurch erklären, dass in Zeiten knapper Ressourcen
der Zusammenhalt in der Eigen-Gruppe stärker wird und das Gefühl der Bedrohung durch die Fremd-
Gruppe zunimmt. Somit steigen Vorurteile, Diskriminierung und ggf. Gewaltpotential an.323 Weiter-
hin werden Vorteile gefördert, wenn man die Eigengruppe im Vergleich zu anderen ungerecht be-
wertet ansieht oder sich relativ benachteiligt erlebt. So wird ein Arbeitsloser, der glaubt Asylbewerber
bekämen zu viel finanzielle Unterstützung, zu Vorurteilen gegenüber Asylbewerbern neigen. Schließ-
lich können Vorteile auch entstehen, wenn sie eine bestimmte Funktion haben, zum Beispiel, um
bestehende Ressourcenverteilungen oder Ungleichheiten in Gesellschaften zu rechtfertigen.324 Ein
Vorurteil hat also oft auch einen Nutzen für den Wahrnehmenden und deshalb ist ein gewisses Ei-
geninteresse mittlerweile auch ein definitorischer Bestandteil des Begriffes geworden.325
In diesem Zusammenhang spielt ein weiterer Aspekt eine wichtige Rolle – der Sündenbock. Lässt
sich kein direkter Konkurrent in einer Situation finden, so besteht die Neigung einen Sündenbock
zu suchen und verantwortlich zu machen. Ein besonders schreckliches Beispiel für dieses Prinzip
ist der Holocaust im Nationalsozialismus. Die Juden wurden für jegliche Probleme des deutschen
Staates verantwortlich gemacht und die Vernichtung verhieß die Lösung für alle Probleme.326
Ein wichtiges Phänomen ist die Eigengruppenbevorzugung. Das bedeutet, dass wir für Personen, die
als der eigenen Gruppe zugehörig eingeordnet werden, positivere Gefühle entwickeln, sie begünsti-
gen und sie anders behandeln als Nicht-Zugehörige. Hierfür können schon einzelne Merkmale wie
z.B. ein gemeinsamer Geburtsort, ein gemeinsamer Geburtstag oder die gemeinsame Nationalität
ausreichen. Die gemeinsame Gruppenzugehörigkeit ermöglicht für jeden Einzelnen Selbstwerterhö-
hung mittels Identifikation mit dieser Gruppe, die als „erhöht“ wahrgenommen wird gegenüber an-
deren Gruppen. Die Fremdgruppe wird herabgesetzt und weniger positiv behandelt.327
Zusätzlich können auch kognitive Prozesse etwas zur Erklärung von Vorurteilen beitragen. Dazu
zählt zum Beispiel die Fremdgruppenhomogenität. Das bedeutet, dass die Eigenschaften der An-
gehörigen anderer Gruppen als homogen wahrgenommen werden. Die Mitglieder einer Fremd-
gruppe scheinen sich ähnlicher als sie tatsächlich sind. Unterschiede zwischen diesen Personen
werden kaum registriert, Verallgemeinerungen sind an der Tagesordnung und die Logik setzt aus
(„Die sind alle gleich“). Innerhalb unserer eigenen Gruppe unterscheiden wir viel mehr Facetten
und bilden Subgruppen, während die Fremdgruppe als homogenes „Sie“ gesehen wird. Vermut-
lich haben Sie alle schon einmal die Erfahrung gemacht, wie mühsam und schwierig es ist, mit
jemandem zu diskutieren und von einer anderen Meinung zu überzeugen, der ein tief sitzendes
Vorurteil gegenüber einer bestimmten Gruppe von Personen hegt.328
Die Neigung, zwischen auffälligen, seltenen und häufig auch negativen Ereignissen und Gruppen,
über die man wenig weiß, einen Zusammenhang herzustellen, ist ebenfalls ein kognitiver Mecha-
nismus, der zur Entstehung von Vorteilen beiträgt. Dieses Phänomen nennt man illusorische Kor-
relation. Erfährt man über kriminelles Verhalten eines Mitgliedes einer Minderheit, so ist man
vielmehr geneigt diese gesamte Minderheit insgesamt als kriminell einzustufen, als wenn der Be-
richt über ein Mitglied der Mehrheit gewesen wäre.329 Ein weiteres Beispiel für einen solchen
illusorischen Zusammenhang ist Folgendes: So gibt es beispielsweise die weit verbreitete Mei-
nung, dass es Paaren, die kein Kind zeugen konnten, gelingt ein Kind zu zeugen, nachdem sie
ein Kind adoptiert haben. Erklärt wird dies mit Entspannung der Beziehung. Diese Korrelation ist
trügerisch, denn es gibt genauso viele vermeintlich unfruchtbare Paare, die ein Kind bekommen,
ohne ein Kind adoptiert zu haben. Das Ereignis „Schwangerschaft“ nach Adoption fällt jedoch
auf und so kommt es zur Annahme des Zusammenhangs.
Ein weiteres Phänomen sind normenverankerte Vorurteile. Normen sind in jeder Gruppe vorhan-
den und bestimmen, welches Verhalten korrekt, annehmbar und zulässig ist. Solche Normen va-
riieren zwischen Kulturen, können jedoch auch zwischen Regionen innerhalb einer Kultur beste-
hen. In diesem Zusammenhang zeigen sich insbesondere folgende Normen330:
l Institutionalisierter Sexismus, d.h. die Wirksamkeit sexistischer Einstellungen, die von der
großen Mehrheit einer Gesellschaft geteilt werden, weil diese Stereotype und Diskriminie-
rungen in dieser Gesellschaft die Norm sind. Schauen Sie sich in Führungsetagen und Uni-
versitäten um. Wie viele weibliche Führungskräfte und Professoren gibt es?
Auch die schon erwähnte Attributionsverzerrung bietet einen Erklärungsbeitrag für das Entstehen
von Vorurteilen. Eine besonders fatale Wirkung hat eine dispositionale Ursachenzuschreibung auf
eine ganze Fremd-Gruppe. Dies wird als ultimativer Attributionsfehler bezeichnet. Eine Studie mit
Collegestudenten illustriert dies überzeugend. In Amerika gibt es Stereotype gegenüber Hispanos,
die Aggression und Gewaltpotenzial umfasst. Nun spielten die Studenten die Rolle von Juroren in
fingierten Gerichtsverfahren. Es stellte sich heraus, dass die Studenten einen Angeklagten eher
für schuldig hielten, wenn sein Name Carlos Ramirez war, als wenn sein Name Robert Johnson
war. Situative Informationen und mildernde Umstände wurden nicht berücksichtigt, wenn das
Stereotyp ausgelöst war.331
Eine wichtige Rolle spielen auch unsere Erwartungen. Unsere Vorurteile werden bestärkt, wenn
ein Mitglied einer Fremd-Gruppe sich so verhält, wie wir es erwarten. Nehmen wir an, wir gehen
davon aus, dass Frauen nicht einparken können, dann wird unser Vorurteil bestätigt, wenn wir
eine Frau beobachten, die tatsächlich Schwierigkeiten hat. Was passiert aber, wenn unsere Er-
wartung nicht bestätigt wird? Wenn wir eine Frau sehen, die prima einparkt? Wir werden das als
Ausnahme werten, als Zufall (sie hat Glück gehabt), als situativ bedingt, weil die Parklücke ganz
besonders groß war. So bleibt das Vorurteil bestehen.
Auch die sich selbsterfüllende Prophezeiung spielt hier eine wichtige Rolle. Sie besagt, dass wir
gewissermaßen mit unserer Erwartung dafür sorgen, dass die Erwartung sich erfüllt. Dies ge-
schieht in einem Kreislauf. Wir haben eine Erwartung gegenüber einer Person, z.B. sie kann nicht
einparken. Wir behandeln die Person entsprechend unserer Erwartung, wenn wir neben ihr im
Fahrzeug sitzen. Unser Verhalten wiederum verunsichert die Fahrerin so sehr, dass sie tatsächlich
kaum in die Parklücke kommt. Unsere Erwartung hat sich bestätigt.332
Betrachten wir in diesem Zusammenhang auch die Auswirkungen von Stereotypen und Vorurtei-
len. Es existiert das interessante Phänomen, dass sich Menschen aus der Angst heraus, ein be-
stimmtes Stereotyp zu bestätigen erst recht entsprechend dieses Stereotypes Verhalten. Wenn
Menschen also um bestehende Vorurteile gegen Sie wissen, möchten Sie mit allen Mitteln ver-
meiden, dass sich diese bestätigen. Hier sieht man die Wirksamkeit der sich selbsterfüllenden
Prophezeiung (self-fulfilling-prophecy). Dies wird auch als Bedrohung durch Stereotype (stereo-
type threat) bezeichnet. Erklärt werden kann dies durch drei mögliche Prozesse: 333
Da die Grundlage wie bei den Stereotypen die Kategorisierung ist, liegen der Aktivierung auch
dieselben Prozesse und Mechanismen zugrunde: Bei der Wahrnehmung bestimmter Merkmale
wird das zugehörige Stereotyp – die Beschreibung von Mitgliedern einer Gruppe – aktiviert und
zeigt ggf. seine fatale Wirkung. Bei der Aktivierung lassen sich die bereits erwähnten zwei Verar-
beitungsprozesse unterscheiden: der automatische und der kontrollierte Prozess. Die nachfol-
gende Abbildung gibt einen schnellen Überblick zu dem Zweistufenmodell der kognitiven Verar-
beitung von solchen Stereotypen.
Die Abbildung zeigt deutlich, dass der automatische Prozess nicht verhindert werden kann; er
kann jedoch mittels des kontrollierten Prozesses bearbeitet und so ggf. missachtet oder zurück-
gewiesen werden. Dies schauen wir uns im nächsten Abschnitt an.
Vorurteile sind vielfältig und allgegenwärtig. Aufgrund ihrer teilweise fatalen Folgen ist es wichtig,
sich damit zu beschäftigen, wie diesen Auswirkungen begegnet werden kann, wie Vorurteilen
vorgebeugt werden kann oder wie vorhandene abgebaut werden können.
Bereits bei der allgemeinen Abhandlung der Stereotype haben wir gesehen, dass eine reine Unter-
drückung von Stereotypen und demnach auch von Vorurteilen nicht zielführend ist. Zum einen ist
diese kognitive Gegenreaktion nur mit einem erheblichen Energieaufwand möglich und beeinträch-
tig daher andere kognitive Prozesse. Zum anderen erschöpfen sich die Ressourcen schnell und er-
neuern sich nur langsam. In der Folge treten dann Vorurteile besonders stark zutage, wenn sie vor-
her unterdrückt wurden. Dies ist der sogenannte Rebound-Effekt.334 Die kognitive Kontrolle von
negativen und abwertenden Einstellungen gegenüber anderen erfolgt jedoch nur von Menschen,
welche die Motivation dazu haben und die egalitäre Normen der Gleichwertigkeit und Gleichbe-
handlung verinnerlicht haben. Allerdings können durch Wiederholung und Übung solche Regulati-
onsstrategien automatisiert werden. Die Regulation wird dann quasi zum Automatismus.335
Die Effekte von Vorteilen können jedoch auch durch persönliche Informationen durch eigene Er-
fahrung oder Beobachtungen, welche dann in den Vordergrund treten, abgeschwächt werden.
Allerdings ist hier auch Vorsicht geboten, da Stereotype und Vorurteile, wie wir bereits wissen,
unsere Wahrnehmung beeinflussen. Positiv verlaufende Kontakte zwischen zwei Gruppen, bei
denen wiederholt ein positiver Affekt erlebt wird, sind ein entscheidender Beitrag für den Abbau
von Vorurteilen.336
Ein erfolgreiches Konzept, bei dem Vorurteile unter sorgfältig ausgewählten Bedingungen redu-
ziert werden können, ist die sogenannte Kontakthypothese. Sie besagt, dass Vorurteile zwischen
Gruppen abgebaut werden können, wenn diese Gruppen verstärkt Kontakt zueinander haben.
Dies kann unter bestimmten Voraussetzungen tatsächlich gelingen:337
l gleicher Status der Beteiligten, z.B. von Entlassung bedrohte ältere Mitarbeiter eines Un-
ternehmens türkischer und deutscher Nationalität;
l gemeinsame Ziele der Beteiligten, z.B. Erhalt des Arbeitsplatzes;
l wechselseitige Abhängigkeit, z.B. bei Produktionsprozessen können die einen nur arbeiten,
wenn die anderen ihre Arbeit gemacht haben; ein Stift kann nur gesetzt werden, wenn vorher
das Loch gebohrt wurde und erst danach können zwei Bretter zusammengefügt werden.
l Einführung kooperativer Situationen, in denen zusammengearbeitet werden muss, z.B.
Wasserrohrbruch bei dem alle zusammen helfen müssen, um Schäden im Unternehmen zu
verhindern.
l Kontakt im Rahmen einer freundlichen informellen Umgebung, die direkte Interaktionen
zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern ermöglicht, z.B. ein Treffen bei dem vielleicht
Aktionen oder Spiele veranstaltet werden, die zur Durchmischung auffordern, Auftritt von
Künstlern oder ähnliches. Verhindern, dass die Gruppen jeweils für sich bleiben.
l Sorge dafür tragen, dass die freundlichen Kontakte mit Fremd-Gruppen-Mitgliedern nicht
nur als Ausnahmen erlebt werden, sondern als typisch für die Fremd-Gruppen-Mitglieder
gewertet werden, z.B. dafür sorgen, dass möglichst viele unterschiedliche Einzelkontakte
entstehen und positive Erfahrungen ermöglichen.
l Einführung sozialer Normen, die Gleichheit zwischen den Gruppen fördern und unterstüt-
zen, z.B. gleichberechtigte Befragung aller Arbeitnehmer, Sitzordnung am runden Tisch.
Neuere Forschungen zeigen hierzu, dass dies keine notwendigen Bedingungen sind, sondern er-
leichternde, die einen Abbau von Vorurteilen wahrscheinlicher machen. Als wichtig hat sich jedoch
herausgestellt, dass das Mitglied der Fremdgruppe als repräsentativ für diese angesehen wird.338
Eine besonders bekannte und gelungene Anwendung der Kontakthypothese ist das sogenannte
Gruppenpuzzle (Jigsaw classroom). Diese kooperative Lernmethode wurde bei Schülern angewandt,
die kurz nach Aufhebung der Rassentrennung in den USA immer feindlicher und aggressiver zuei-
nander wurden – ein Zeichen dafür, dass der alleinige Kontakt nicht genügt, sondern, dass dieser
eher noch vorurteilsfördernd ist. Die Schüler bearbeiteten in Kleingruppen mit unterschiedlichen Eth-
nien verschiedene Aufgaben. Innerhalb der Kleingruppe hatten die Schüler unabhängige Teilaufga-
ben als Vorbereitung zu bearbeiten, welche erst am Ende zu einem Gesamtbild zusammengefügt
wurden und jedes Kind die anderen über seine Teilinformation zu informieren hatte. Beispielsweise
mussten die Kinder in der Gruppe etwas über die Biographie einer berühmten Person lernen und es
waren die Puzzlestücke Kindheit, Familie, Arbeit usw. zusammenzufügen. Die Ergebnisse waren bein-
druckend und auch heute noch zeigen Studien, dass diese Methode zu mehr Sympathie untereinan-
der führt, bessere Leistungen erbringt und ein höheres Selbstwertgefühl zur Folge hat.339
Da jedoch gerade ein Kontakt zwischen unterschiedlichen sozialen Gruppen schwierig zu arran-
gieren ist, hat man sich in der Forschung auch mit Ansätzen beschäftigt, die andere Methoden
benutzen. Eine Methode ist, generell Informationen über die Fremdgruppe zu geben, die das Ste-
reotyp widerlegen:
Es gibt einige Belege für die Wirksamkeit des Buchführungs- und des Konversionsmodells. Betrach-
ten Sie ein Beispiel. Jemand ist der festen Überzeugung, Lehrer sind faul. Mittels Buchführungsme-
thode könnte er langfristig und sukzessive von dieser Überzeugung abrücken, wenn er immer wie-
der auf Lehrer trifft, die das Vorurteil widerlegen, die viel arbeiten, die auch in den Ferien Vorberei-
tungen treffen etc. Das Subtypisierungsmodell scheint zu wirken, wenn mehrere Stereotyp
inkonsistente Informationen erfolgen, die Merkmalsträger aber ansonsten schon dem Stereotyp ent-
sprechen. Bei einzelnen Informationen oder, wenn der Merkmalsträger nicht Stereotyp entspre-
chend ist, führt die Subtypisierung eher zur Aufrechterhaltung des Stereotypes.340 Wenn ich zum
Beispiel das Vorurteil habe, Migranten sind bildungsfern und werde dann von einem Migranten, der
Arzt im Krankenhaus ist, hervorragend behandelt, dann werde ich eine Subtypisierung vornehmen,
diesen Arzt als Ausnahmefall abspeichern und das Vorurteil bleibt dadurch unberührt.
Ebenfalls wirksam scheint der erweiterte Kontakt zu sein, also das Wissen, dass ein Mitglied der
Eigengruppe eine enge Beziehung zu einem Mitglied der Fremdgruppe hat. Auch scheinen die
Übung von Perspektivenübernahme und die Induzierung von Empathie wirksam zu sein.341
Übungsaufgaben zu Kapitel 4
016 Definieren Sie die Begriffe Stereotyp, Schema und Heuristik. Nennen Sie Beispiele und er-
läutern Sie den Zusammenhang zum Begriff soziale Kognition.
017 Erläutern Sie an einem Beispiel das Zwei-Stufen-Modell der kognitiven Verarbeitung von
Stereotypen.
019 Aus welchen drei Komponenten besteht ein Vorurteil? Erläutern Sie die Komponenten an-
hand eines Beispiels.
020 In Unternehmen lässt sich das Phänomen beobachten, dass Abteilungen gegeneinander
Vorurteile haben, die die Zusammenarbeit beeinträchtigen. Übertragen Sie die Gedanken
der Kontakthypothese auf dieses Problem und zeigen Sie an einem Beispiel aus der Praxis
auf, wie sich solche Vorurteile vermindern lassen könnten.
Sozialpsychologie 111
Lernziele
l wissen Sie, was der Begriff Einstellung bedeutet und welche Arten von Einstellungen es gibt;
l können Sie erklären, wie Einstellungen entstehen und wie man sie verändern kann;
l wissen Sie, wie man sich vor Einstellungsbeeinflussung schützen kann;
l kennen Sie Zusammenhänge, warum man aufgrund von Einstellungen zukünftiges Verhal-
ten nicht immer treffsicher vorhersagen kann.
Das Thema Einstellungen hat in der Anwendung, insbesondere in der Konsumpsychologie, in der
Werbung und in der Organisationspsychologie eine hohe Bedeutung.342 Beispielsweise spielt die
Einstellung zu einem Produkt bei einer möglichen Kaufentscheidung eine Rolle oder aber die Ar-
beitszufriedenheit als Einstellung zur Arbeit im Zusammenhang mit Absentismus. Wie das folgende
Praxisbeispiel zeigt, bestimmen Einstellungen in hohem Maße das Verhalten und die Emotionen von
Menschen und sind dafür verantwortlich, inwiefern es Leistungsbereitschaft, Engagement oder
Identifikation in einem Unternehmen gibt. Aus diesem Grund ist es sehr wichtig zu wissen, wie sich
Einstellungen bilden, wie man sie genau erkennt und wie man sie verändern kann.
Praxisbeispiel
„Unsere Geschäftsführung weiß überhaupt nicht, was an der Basis passiert.“ Das ist ein häufig zu
hörender Kritikpunkt von Mitarbeitern. Aber auch Führungskräfte des Lower Managements teilen
diese Ansicht. Denn sie sind als Team- bzw. Gruppenleiter meistens auch noch stärker mit dem
operativen Tagesgeschäft verbunden. Diese Aussage „Unsere Geschäftsführung weiß nicht, was an
der Basis passiert“ ist eine Einstellung. Diese Einstellung prägt das Handeln der Beschäftigten und
ihre emotionalen Reaktionen. Typisch für die Art von Einstellung ist, dass sich Beschäftigte mit Ent-
scheidungen aus dem Top-Management nicht identifizieren. Ein anderes typisches Konfliktfeld zwi-
schen den verschiedenen Hierarchieebenen ist, dass Mitarbeiter die Einstellung haben: „Die da oben
halten selbst nicht ein, was sie von uns fordern“. Kurzum, das Top-Management gilt als ein negati-
ves Vorbild und auch diese Einstellung führt dazu, dass Beschäftigte ihr Engagement reduzieren.
Wir Menschen sind in der Regel keine neutralen Beobachter, sondern wir bewerten fortlaufend
was wir erleben, sehen, hören, fühlen. Es wäre eher ungewöhnlich, wenn wir keine Meinung
oder keine Bewertung zu den Menschen, Dingen oder Ideen um uns herum hätten.343 Jede Ein-
stellung ist wie eine Brille, durch die wir die Welt sehen. Je nach Einstellung werden bestimmte
Informationen von vornherein ausgefiltert und dadurch auch Lösungsmöglichkeiten und Hand-
lungsspielräume begrenzt. Wenn z.B. ein Mitarbeiter die Einstellung hat „Keiner schätzt meine
Arbeit“, nimmt er mit großer Wahrscheinlichkeit alle die Informationen nicht wahr, die ihm das
Gegenteil zeigen könnten. Der Effekt ist im Prinzip der Gleiche, als wenn Sie beschlossen haben,
sich eine bestimmte Automarke zu kaufen. Wenn Sie diese Marke bisher nicht gefahren sind,
werden Sie ab dem Zeitpunkt des Interesses für diese Automarke sehr viel mehr Autos von diesem
speziellen Hersteller im Straßenverkehr wahrnehmen.
Der Grund dafür ist das Prinzip der selektiven Wahrnehmung. Aus der Gesamtmenge von Infor-
mationen, die ständig auf den Organismus einströmen, wird ständig nur eine relevante Teilmenge
ausgewählt und bewusst. Diese selektive Aufmerksamkeit dient wesentlich der Handlungssteue-
rung bzw. der handlungssteuernden Selektion.344 Einstellungen sind also kognitive Kategorien
oder Schemata, die bei der Strukturierung des Alltags helfen und unser Denken, Fühlen und Ver-
halten beeinflussen.345 Einstellungen bestimmen auf einer ganz basalen Ebene, ob wir uns zu
einem Objekt hingezogen fühlen oder nicht. Darüber hinaus tragen Einstellungen auch zur Iden-
titätsbildung und zur Definition einer Gruppenzugehörigkeit bei.346 Einstellungen beeinflussen
auch unsere Informationsverarbeitung, so dass wir eher Informationen wahrnehmen und verar-
beiten, die in Einklang mit unseren Einstellungen sind und solche ignorieren, die unseren Einstel-
lungen widersprechen. Wenn diese Selektion nicht möglich war, dann werden wir solche Infor-
mationen für weniger richtig oder glaubhaft halten und daher eher widerlegen. Dies gilt umso
mehr, je zentraler die Einstellung für uns ist. Dies trägt auch zur Festigung und schweren Änder-
barkeit von Einstellungen bei.347
Die Einstellung eines Menschen ist zusammengefasst eine psychologische Tendenz, die sich in
einer positiven, neutralen oder negativen Bewertung von Menschen, Objekten, Verhaltensweisen,
Situationen oder Ideen ausdrückt.348 Unsere Einstellungen sind in uns nicht losgelöst voneinander,
sondern mehr oder weniger stark vernetzt.349
Bewertungen und die resultieren Einstellungen können sich auf drei Ebenen manifestieren bzw.
haben drei Komponenten350:
l Die Affektive Komponente ist die emotionale Reaktion auf das entsprechende Objekt, Sub-
jekt oder Ereignis – Freude, Ärger, Wut, Trauer, etc.
l Die Kognitive Komponente ist eine reflektierbare und bewusste Bewertung, also die das
entsprechende Objekt, Subjekt oder Ereignis betreffenden Gedanken und Überzeugungen
– mag ich, mag ich nicht, verstehe ich nicht, muss ich drüber nachdenken, gefällt mir, etc.
l Die Verhaltenskomponente betrifft schließlich die Handlungen oder das beobachtbare Ver-
halten in Verbindung mit dem entsprechenden Objekt, Subjekt oder Ereignis – umarmen,
fliehen, lachen, schreien, weinen, etc.
Diese drei Komponenten sind jedoch nicht so getrennt voneinander, wie man ursprünglich an-
nahm. Die affektive Komponente scheint eine ausschlaggebende Rolle zu spielen und weist zur
kognitiven eine enge Beziehung auf.351
Implizite, automatische Einstellungen sind uns nicht bewusst und nicht unmittelbar zugänglich; zum
Beispiel „Angst vor Männern, die eine Mütze tragen“. Diese beeinflussen eher die Verhaltensweisen,
die wir nicht überwachen und kontrollieren, wie beispielsweise eine Nervosität in der Gesellschaft
von Migranten, obwohl wir offen und bewusst – also explizit – eine offene Einstellung äußern. Es
gibt Belege dafür, dass implizite Einstellungen ihre Wurzeln in Erfahrungen der Kindheit haben.352
Explizite, deliberative Einstellungen hingegen sind uns bewusst und können leicht verbalisiert
werden – „Ich verhalte mich tolerant gegenüber Angehörigen einer anderen Hautfarbe“. Explizite
Einstellungen scheinen ihre Wurzeln eher in unseren aktuellen Erfahrungen zu haben. Explizite
und implizite Einstellungen können durchaus nebeneinander und das gleiche Einstellungsobjekt
betreffend existieren und dabei auch gegenläufig sein.353
Gespeicherte Einstellungen: Einstellungen, die im Gedächtnis gespeichert sind und so beim Auf-
treten entsprechender Reize unmittelbar zur Verfügung stehen – wurde ein Kind vom Hund ge-
bissen und wird fortan in seiner Meinung unterstützt, dass Hunde gefährlich sind, so wird auch
der Erwachsene unmittelbare Angstreaktionen zeigen, wenn er auf einen Hund trifft.
Welche Bedeutung haben nun Einstellungen in unserem Leben? Einstellungen habe viele Funkti-
onen, die sich grob in die zwei nachfolgenden einteilen lassen:355
dungen. Einstellungen sind also eine praktische Zusammenfassung gegenüber dem Einstellungsob-
jekt, so dass keine komplexe und umfassende Prüfung bei jedem Erscheinen des Einstellungsobjektes
notwendig ist. Nehmen wir an, Sie sind allergisch gegen Weizen. Sie wissen, dass Nudeln in der Regel
aus Weizen hergestellt sind. Sie sehen in der Kantine ein Nudelgericht. Sie wissen unmittelbar, dass
Sie dieses Gericht nicht essen werden, ohne alle Einzelbestandteile wie Tomatensauce, Fleisch, Pap-
rika zusätzlich zu analysieren. Ihr Schema „Weizen vertrage ich nicht“ führt zu unmittelbarer Ein-
schätzung und Sie können sich schnell ein anderes Gericht als Alternative auswählen.
Bei der Entstehung von Einstellungen spielen verschiedene Aspekte eine Rolle und es können –
neben biologischen Ursachen – drei weitere hauptsächliche Typen der Einstellungsbildung unter-
schieden werden.356
Genetische Aspekte scheinen zumindest bei einem Teil unserer Einstellungen eine Rolle zu spielen.
Zwillingsstudien geben Hinweise darauf, dass Einstellungen zum Teil auch erbliche Anteile haben
können, die jedoch eher ein Nebenprodukt anderer erblich beeinflusster Persönlichkeitsfacetten
sind oder eine grundsätzliche Haltung beispielsweise gegenüber wilden Tieren sind. Ein Gen für
eine bestimmte Einstellung wird es wohl eher nicht geben.357 Es wird jedoch nur ein kleiner Teil
der Unterschiede in den Einstellungen verschiedener Menschen durch diese erbliche Komponente
erklärt und soziale Erfahrungen spielen bei der Bildung von Einstellungen eine große Rolle.358
Unsere Einstellungen können auch durch bewusstes Nachdenken über einen Sachverhalt und auf
Fakten zu einem relevanten Thema basieren. Dies sind sogenannte kognitiv basierte Einstellungen.
Hierbei wird eine Einstellung gebildet und eine Bewertung vorgenommen, indem die Eigenschaften
und die Vor- und Nachteile eines Objektes in Verbindung mit den zugehörigen Überzeugungen zur
Grundlage genommen werden. Ein schönes Beispiel hierfür ist der Kauf eines Autos. Hier werden
Sie zur Kaufentscheidung verschiedene Aspekte wie Preis, Verbrauch, Airbagverfügbarkeit, An-
triebsart, Markenimage etc. heranziehen und dann zur Einstellung kommen „attraktiv für mich“
oder „nicht attraktiv für mich“ und damit die Entscheidung treffen können: Kauf ja oder nein.359
356 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 87ff.; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 218ff.
357 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 87
358 Vgl. Wänke & Bohner (2006), S. 404f., Vgl. Aronson et al. (2014), S. 218
359 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 88; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 218
Sozialpsychologie 115
Gefühle und Werte führen zu affektiv basierten Einstellungen. Hier bilden weniger vernunftba-
sierte Kriterien oder Logik und rationale Überprüfung von Fakten die Basis für eine Einstellung
oder Entscheidung. Vielmehr hängen sie oft mit Emotionen und den Werten eines Menschen
zusammen und der Versuch der Einstellungsänderung stellt gleichzeitig das vorhandene Werte-
system in Frage. Deshalb verändern Überzeugungsversuche mit Argumenten nur selten solche
Einstellungen. Dies betrifft zum Beispiel religiöse und moralische Überzeugungen und zum Bei-
spiel die Einstellungen bezüglich solcher Themen, wie Todesstrafe, Abtreibung oder Sexualität.
Auch Einstellungen gegenüber Politik und Politikern werden häufiger weniger rational, sondern
eher emotional gebildet.360
Weiterhin können affektiv basierte Einstellungen als Resultat einer sensorischen oder emotionalen
Reaktion entstehen oder werden mittels klassischer oder operanter Konditionierung erlernt. Eine
sensorische Reaktion liegt vor, wenn sich beispielsweise Kaschmirwolle auf Ihrer Haut besonders
gut anfühlt. Das möchten Sie wieder erleben, unabhängig vom Preis eines solchen Kleidungs-
stücks. Oder die Käsesahnetorte in Ihrem Lieblingscafé schmeckt so gut, dass Sie sich diese auch
beim nächsten Mal bestellen, ohne darüber nachzudenken, dass Sie eigentlich abnehmen wollen.
Eine emotionale Reaktion liegt vor, wenn Sie begeistert sind vom Design eines Autos oder eines
Möbelstücks und für diese Begeisterung alle anderen Kriterien wie Preis, Funktionalität in den
Hintergrund rücken lassen.
Eine Einstellung entsteht durch Klassische Konditionierung, wenn ein positiver oder negativer Reiz
zusammen mit dem Einstellungsobjekt auftritt.361 Dies bedeutet, dass ein Reiz, der eine emotio-
nale Reaktion hervorruft, begleitet wird von einem neutralen Reiz, der zunächst keine emotionale
Reaktion hervorruft und zwar so lange, bis der ursprünglich neutrale Reiz dieselbe Reaktion her-
vorruft, wie der ursprünglich Reiz.362 Das klassische experimentelle Beispiel hierfür ist der
„Pawlowsche Hund“. Hier wurde dem Hund Fleisch angeboten und parallel ertönte ein Klingel-
ton. Der Anblick des Fleisches löste Speichelfluss aus, der Klingelton nicht. Zum Abschluss des
Lernprozesses löste das Hören des Klingeltons Speichelfluss aus und die Darbietung von Fleisch
war nicht mehr notwendig.
Greifen wir nochmals unser Beispiel vom Autokauf auf. Wie würde hier eine affektive Einstellung
aussehen? Eine affektiv basierte Einstellung würde ihre Begeisterung für eine bestimmte Marke
betreffen und andere Kriterien wie Verbrauch, Preis etc. vergleichsweise wenig berücksichtigen.
Bezüglich des Werterahmens haben Sie vielleicht seit Ihrer Kindheit erfahren, dass Mercedes eine
seriöse, gute, auf Sicherheit bedachte, qualitativ hochwertige Marke ist, für die es sich lohnt mehr
Geld auszugeben. Erhalten Sie nun Informationen, die diesen Überzeugungen widersprechen, so
müssten Sie Ihre grundsätzliche Einstellung gegenüber der Marke in Frage stellen.
Nehmen wir an, Sie kaufen immer den gleichen Erdbeerjoghurt und jemand fragt Sie nach dem
Grund. Sie kommen ins Grübeln und geben dann die Antwort: vermutlich schmeckt es mir. Wür-
den Sie die Marke kaufen, weil sie so preisgünstig ist, weil Ihnen die Verpackung so gut gefällt,
weil der Joghurt keine Zusatzstoffe enthält, müssten Sie nicht nachdenken und könnten sofort
antworten. In diesem Moment beruht Ihre Einstellung mehr auf der Beobachtung des eigenen
Verhaltens als auf rationalen Fakten oder einem Affekt. Oder Sie fragen einen Bekannten, wes-
halb er jeden Abend seine Zigaretten zu Fuß am Automaten holt und nicht schon auf der Rück-
fahrt vom Büro dort anhält. Er denkt nach und antwortet dann, dass ihm der abendliche Spazier-
gang guttut. Wäre der Kollege fitnessbegeistert und würde ohnehin dafür sorgen sein Auto so
wenig wie möglich zu bewegen, müsste er nicht über sein Verhalten nachdenken, sondern könnte
sofort die entsprechende Antwort geben.
Um Einstellungen verändern zu können, muss man sie erst einmal als solche erkennen. Üblicher-
weise sind uns unsere Einstellungen gar nicht bewusst, sondern wir handeln einfach danach.
Praxisbeispiel
Stellen Sie sich vor, Sie sind bei einem Seminar. Im Zuge des Seminars merken Sie immer mehr,
dass Ihnen langweilig wird. Vielleicht denken Sie „Das bringt mich hier alles nicht weiter.“
Bereits dieser Gedanke stellt eine Einstellung dar. Um noch mehr über Ihr Einstellungssystem zu
erfahren, müssten Sie sich selbst weiter fragen: „Warum denke ich so?“ Mit jeder weiteren Frage
würden Sie alle diese Informationen an das Tageslicht holen, die am Ende Ihre momentane Ein-
stellung verursachen. Durch die Selbstreflektion wird Ihnen möglicherweise erst bewusst, dass
Ihre Einstellung daher rührt, dass Sie bei einem anderen Seminar mehr Übungen und praktische
Beispiele erfahren haben, die Sie in dem aktuellen Seminar vermissen. Auf diese Weise wird es
Ihnen möglich, den Dozenten anzusprechen und zu fragen, ob sich etwas an der Methode ändern
lässt. Ob Sie allerdings Ihre Frage aussprechen, hängt wieder von anderen Einstellungen ab, die
Sie im Laufe Ihres Lebens erworben haben. Vielleicht haben Sie die Einstellung „Ich will mich hier
nicht hervortun.“ Oder „Der Dozent bekommt sein Honorar, da muss die Leistung stimmen.“
Entsprechend Ihrer Einstellung werden die weiteren Handlungen vorgenommen.
Einstellungen haben eine erstaunliche Stabilität365, jedoch wissen wir auch, dass eine einmal er-
worbene Einstellung nicht dauerhaft fortbestehen muss, sondern veränderbar ist.366 Die Einstel-
lungsforschung zeigt jedoch, dass sich Einstellungen nicht nach den gleichen Regeln wie beispiels-
weise Fähigkeiten verändern lassen. Entscheidend ist die Einstellung, dass jemand glaubt, dass die
Einstellungen in seinem Kopf eine Entscheidung sind, die er selbst getroffen hat und demzufolge
auch wieder verändern kann. Da Einstellungen je nach ihrer Stärke eine hohe Stabilität haben,
lassen sie sich nicht einfach wegdiskutieren, auch nicht durch die besten Beweise. Das zeigt sich
z.B., wenn jemand glaubt, er würde benachteiligt. Wenn unsere Einstellungen sich ändern, so ist
dies häufig die Folge sozialen Einflusses.367
Warum sich Einstellungen bisweilen so hartnäckig halten können, lässt sich mit den psychologischen
Mechanismen unseres Selbstkonzeptes erklären. Wie bereits im Kapitel 2.6 „Das Bedürfnis unser
Verhalten zu rechtfertigen: Die Theorie der kognitiven Dissonanz“ dargestellt, haben wir Menschen
eine natürliche Bestrebung, dass sich Überzeugungen, Gedanken, Meinungen, Erinnerungen mitei-
nander im Einklang befinden. Jede Einstellungsänderung stört diese Ordnung und sorgt für eine
Dissonanz. Dies führt uns direkt zu einer ersten Möglichkeit der Einstellungsänderung.
Einstellungen und damit Verhalten ändern sich gemäß der in Kapitel 2.6 erwähnten Theorie der
kognitiven Dissonanz, wenn sich Menschen im Widerspruch zu ihren Einstellungen verhalten und
keine externe Rechtfertigung für ihr Verhalten finden können.
Stellen Sie sich nun einmal vor, Sie haben einen guten Freund, dessen Freundschaft sehr wichtig
für Sie ist. Sie sind Vegetarier, Ihr Freund jedoch ist sowohl Jäger, als auch Züchter von Schweinen
und Fan für Fleisch- und Wurstwaren jeder Art. Ihr Gespräch kommt häufiger auf Ihre Einstellung
zu Ernährung. Da Ihnen die Freundschaft viel bedeutet, äußern Sie sich vorsichtig und sagen, dass
Fleisch sicher auch wichtige Mineralien und Vitamine enthält. Diese Äußerung steht aber in Wi-
derspruch zu Ihren Einstellungen, was bei Ihnen kognitive Dissonanz erzeugt. Möglicherweise
geraten Sie sogar ins Grübeln und denken darüber nach, ob es für Ihre Gesundheit sinnvoll sein
könnte, doch ab und zu auch Fleisch zu essen. Sie beginnen, das, was Sie sagen, auch zu glauben.
Kurzum: Sie beginnen nach internen Rechtfertigungen zu suchen, indem Sie die beiden Kogniti-
onen (vegetarische Ernährung ist gut, aber mein Freund ist Fleischfan) einander annähern. Sie
finden gute Gründe, warum „Fleisch essen“ gar nicht so schlimm ist. Und je mehr Gründe Sie
finden, umso mehr beginnen Sie auch zu glauben, was Sie sagen.
Etwas zu sagen, wovon man eigentlich gar nicht überzeugt ist, entspricht der Methode der ein-
stellungskonträren Argumentation. Wenn wir jemanden dazu bringen, sich entgegen seinen Ein-
stellungen in aller Öffentlichkeit zu äußern oder Argumente zu finden, ohne dass dies mit einer
Belohnung, einer Gefälligkeit oder Zwang verbunden ist, dann ist dies ein starkes Mittel, um die
Einstellung zu verändern.368 Die Einstellungsänderungen durch kognitive Dissonanz sind neueren
Erkenntnissen zufolge sogar recht dauerhaft.369 Deutlich wird hier allerdings auch, dass dieser
Ansatz nicht dazu geeignet ist, um die Einstellungen einer größeren Anzahl von Personen zu
ändern. Dazu würden wir auf die nachfolgend beschriebenen Techniken der persuasiven370 Kom-
munikation zurückgreifen.
Persuasive Kommunikation findet statt, wenn mittels Einsatz kommunikativer Mittel Einfluss auf
bestehende Einstellungen ausgeübt werden soll und bestehende Einstellungen geändert werden
sollen. Einen ersten Ansatz zur Erklärung der hier wirksamen Mechanismen liefert der Yale-Ansatz
zur Einstellungsänderung (siehe Abbildung 42). Die Anfänge dazu wurden von Carl Hovland
(1912-1961) und seinen Kollegen von der Yale University gemacht, woher dieser Ansatz auch
seinen Namen hat. Hovland und seine Kollegen beschäftigten sich mit Massenkommunikation
und der Einstellungsänderung durch Kommunikation, um die Kampfmoral amerikanischer Solda-
ten zu steigern.371 Das „Yale Communication and Attitude Change Program“ bildete die Grund-
lage für die moderne Forschung zur Einstellungsänderung.372
Der Yale-Ansatz beschäftigt sich hauptsächlich damit „wer sagt was zu wem“. Er zeigt auf, wel-
che Faktoren eine Rolle spielen: wer etwas mitteilt, wie etwas mitgeteilt wird und wer etwas
mitgeteilt bekommt. Allerdings macht er keine Aussage über eine mögliche unterschiedliche Ge-
wichtung der Faktoren (Was muss betont werden, um welche Änderung zu erzielen? Welcher
Faktor hat in welchem Kontext möglicherweise Vorrang?).373
Um die Fragestellung anschaulicher zu gestalten, nehmen Sie ein Beispiel: Sie wollen mittels einer
umfassenden Kampagne dafür sorgen, dass Jugendliche aufhören, zu viel Alkohol zu konsumie-
ren und darauf verzichten, an Veranstaltungen teilzunehmen, die zum „Komasaufen“ verführen.
Ihr Budget ist unbegrenzt. Sie haben vollkommen freie Hand. Nun müssen Sie verschiedene Über-
legungen anstellen:
l Wer kann Ihre Botschaft überbringen? Ein von Jugendlichen akzeptierter Musikstar, ein
Sportler, ein Experte, wie beispielsweise ein Arzt, ein Jugendlicher?
l Wie kann die Botschaft sinnvoll übermittelt werden: Indem Sie Schreckensszenarien auf-
bauen und „Alkoholleichen“ zeigen, indem Sie Hirn- und Leberveränderungen durch ho-
hen Alkoholkonsum zeigen, indem Sie möglichst viele Fakten vermitteln und informieren?
l Und dann müssen Sie sich selbstverständlich damit beschäftigen, wer Ihnen wo zuhören
soll. Welches Alter haben Ihre Zuhörer? Welches Bildungsniveau? Widmen Sie sich kon-
zentriert Ihrer Kampagne oder sind Sie dabei abgelenkt?
Sie haben also eine Vielzahl von Fragen zu beantworten. Selbst wenn Sie all diese Fragen gelöst
haben, wissen Sie aber noch nicht, was der wichtigste Aspekt für Ihre Kampagne ist? Der Über-
bringer Ihrer Botschaft, die Art der Übermittlung oder Ihre potentiellen Zuhörer?
Der zentrale Weg bedeutet, dass Menschen motiviert und in der Lage sind, sich mit den Fakten
einer Kommunikation zu beschäftigen, dass sie aufmerksam zuhören, was ihnen mitgeteilt wird.
Überzeugung und damit gegebenenfalls eine Einstellungsänderung erfolgt dann am ehesten,
wenn die präsentierten Fakten logisch schlüssig sind. Das bedeutet, der Inhalt der Kommunikation
und die enthaltenen Informationen werden verarbeitet, überdacht und führen dann möglicher-
weise zu einer neuen Einstellung.
Beim peripheren Weg der Informationsverarbeitung fehlen Motivation oder Fähigkeit zur aufmerk-
samen Wahrnehmung und Auseinandersetzung mit den Inhalten der Kommunikation. Äußere
Kennzeichen werden wichtiger – Dinge wie die Länge einer Rede, wer die Rede hält, ob es dabei
etwas zu trinken gibt. Diese Merkmale tragen dann stärker zur Einstellungsbildung bzw. -ände-
rung bei als inhaltliche Aspekte.
Ausschlaggebend dafür, ob der zentrale oder periphere Weg der Informationsverarbeitung be-
schritten wird, sind im Wesentlichen zwei Einflussgrößen: die Motivation und die Fähigkeit zur
Auseinandersetzung mit den dargebotenen Informationen. Ist beides vorhanden, besteht Bereit-
schaft, Aufmerksamkeit zu schenken und die Menschen folgen dem zentralen Weg der Informa-
tionsverarbeitung (siehe Abbildung 43).
Nun stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen Menschen motiviert sind, sich aufmerksam
mit den Inhalten von Kommunikation auseinanderzusetzen. Ein wichtiger Aspekt dabei ist die
374 Vgl. Petty & Cacioppo (1986), S. 124ff.; Vgl. Petty & Wegener (1999), S. 41ff; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 224ff.
375 Vgl. Chaiken & Maheswaran (1994), S.460ff.; Vgl. Fischer et al. (2014), S. 92
376 Vgl. Petty & Cacioppo (1986), S. 127ff.; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 225f.
Sozialpsychologie 121
persönliche Relevanz des Themas. Je wichtiger das Thema für das Leben einer Person, für ihr per-
sönliches Wohlergehen ist, desto höher ist die Motivation, sich mit zugehörigen Informationen
auseinanderzusetzen. Überzeugung gelingt dann umso besser, je stichhaltiger und logischer die
Argumente sind. Hat ein Thema nur geringe Relevanz für eine Person, so besteht wenig Motiva-
tion, sich im Detail damit zu befassen, sich gewissermaßen anzustrengen. Es wird ein einfacherer
Weg gewählt und auf schnell erfassbare äußere Kriterien zurückgegriffen. Gibt es zum Beispiel
mehrere Redner zu einem Thema, so wird vielleicht derjenige mit der kürzeren Rede eher über-
zeugen als derjenige, der langatmig und weitschweifig formuliert, weil es weniger zeitraubend
ist. Vielleicht geht man aber auch davon aus, dass die längere Rede mehr Inhalt enthält und des-
halb fundierter sein muss. Dann wird dieser mehr überzeugen. Hält ein Experte die Rede, so wird
man davon ausgehen, dass dieser weiß, wovon er redet und ihm eher Recht geben als jemandem,
dessen Name man noch nie gehört hat oder der nicht als Experte ausgewiesen wird.377
Unabhängig von der persönlichen Relevanz der Thematik wirkt sich das Bedürfnis nach Kognition
(Need for cognition) aus.378 Dieses Persönlichkeitsmerkmal ist in Abhängigkeit von der jeweiligen
Persönlichkeit eines Zuhörers unterschiedlich ausgeprägt. Es gibt Menschen, die mehr Freude da-
ran haben, sich inhaltlich mit Dingen auseinanderzusetzen und sie zu durchdenken, als andere
Menschen. Personen mit einem hohen Bedürfnis nach Kognition werden ihre Einstellungen eher
nach sorgfältigem Abwägen von Informationen bilden und gegebenenfalls ändern, also den zent-
ralen Informationsweg wählen, als Menschen, die weniger Freude am Denken haben. Diese wer-
den eher den Weg der peripheren Informationsverarbeitung wählen.
Wie oben erwähnt ist neben der Motivation auch die Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit Inhal-
ten ein wichtiger Aspekt. Wodurch wird nun diese Fähigkeit beeinflusst?379
Zum einen durch die Inhalte selbst: Sehr komplexe, schwer verständliche Inhalte sind schwerer zu
verarbeiten als leicht verständliche. Das bedeutet, dass man bestrebt sein sollte, möglichst leicht
verständlich zu formulieren, das heißt auch „schwere Kost leicht verdaulich“ zu präsentieren. Zum
anderen spielen Faktoren in der Person des Zuhörers eine wichtige Rolle, er kann übermüdet sein,
Kopfschmerzen haben, durch private Sorgen belastet sein. Hierfür bietet die Kommunikation we-
nig Einflussmöglichkeiten. Ein weiterer wichtiger Aspekt sind äußere Bedingungen unter denen
Kommunikation stattfindet – ist vor dem Fenster Baulärm, ist der Raum überhitzt oder zu kalt, ist
schlechte Luft, so wird Aufmerksamkeit beeinträchtigt, die Fähigkeit zum Zuhören wird gemindert.
Je schwieriger es erscheint inhaltlich zu folgen, desto wichtiger werden periphere Informationen.
Das Heuristisch-systematische Modell (HSM) macht neben den zwei Prozessen der Informations-
verarbeitung, die hier systematischer und heuristischer Verarbeitungsprozess heißen, noch An-
nahmen über drei Motive, welche die Informationsverarbeitung beeinflussen:380
l Das Verteidigungsmotiv dient dem Schutz und der Verteidigung eigener Einstellungen und
Standpunkte und führt zu einer verzerrten Informationsverarbeitung.
l Das Wahrheitsmotiv, also das Streben nach korrekten Ansichten, Entscheidungen und Ein-
stellungen, führt zu einer vorwiegend ausgewogenen Informationsverarbeitung.
l Das Motiv des sozialen Eindruckes, also das Streben nach sozialer Akzeptanz und Anerken-
nung macht die Informationsverarbeitung – ob ausgewogen oder einseitig – von den sozi-
alen Zielen abhängig.
Sie haben nun zwei Wege kennengelernt, die zu Einstellungsänderungen führen können. Nun
stellt sich die Frage, ob es einen Unterschied macht, über welchen Weg der Informationsverarbei-
tung Einstellungen geändert wurden. Das Ergebnis ist ja zunächst identisch – das gewünschte Ziel
ist erreicht. Von Bedeutung ist der Weg der Informationsverarbeitung für die Nachhaltigkeit einer
Einstellungsänderung. Langfristige Änderungen sind eher möglich, wenn der zentrale Weg zur
Informationsverarbeitung gewählt wurde, wenn die Menschen sich ausführlich und detailliert mit
Inhalten und Argumenten auseinandergesetzt haben. Überzeugungen, die auf peripherer Verar-
beitung beruhen, sind weniger konsistent und dauerhaft.381
Stellen Sie sich vor, wie Sie im Fernsehen eine Szene aus der Dritten Welt sehen. Sie sehen ein
halbverhungertes Kind mit großen braunen Kulleraugen, über dem brummende Fliegen kreisen.
Die Knochen des Brustkorbes ragen wie spitze Äste eines Baumes durch die Haut. Sie werden sich
dem Bild kaum entziehen können und eine emotionale Regung wahrnehmen. Und genau darin
besteht die Methode. Die Bilder sollen Ihre Aufmerksamkeit wecken, indem sie an Ihre Emotionen
appellieren. Doch wie wirken Emotionen und die damit verbundenen Botschaften auf uns und
unsere Einstellungen?
Ein wichtiger Aspekt im Zusammenhang mit Gefühlen ist die vorhandene Grundstimmung einer
Person. Ist sie guter Stimmung, so ist sie bestrebt das gute Gefühl aufrechtzuerhalten und wird
weniger bereit sein, sich mit Aspekten auseinanderzusetzen, die ihr die Stimmung verderben
könnten. Das hat auch zur Konsequenz, dass sie sich eher mit peripheren Informationen beschäf-
tigen wird als mit Fakten, insbesondere wenn sie befürchten muss, dass enthaltene Fakten die
gute Stimmung verschlechtern könnten. Personen in trauriger Stimmung und noch viel mehr Per-
sonen in ärgerlicher Stimmung, lassen sich hingegen stärker in ihrer Einstellung von der Qualität
der Argumente beeinflussen.382
Eine Untersuchung mit Studenten illustriert das oben Beschriebene. 383 Studenten wurden in gute
bzw. traurige Stimmung versetzt, indem sie über eine glückliche oder traurige Begebenheit ihres
Lebens schreiben sollten. Danach sollten die Studenten sich eine Rede anhören, die darüber in-
formierte, dass sich die Studiengebühren an ihrer Universität erhöhen sollten. Die Rede wurde in
zwei Varianten gehalten – einmal mit stichhaltigen Argumenten, einmal mit schwachen, wenig
durchdachten Argumenten. Das Ergebnis der Studie zeigte, dass diejenigen Studenten, die zuvor
über eine traurige Begebenheit geschrieben hatten (also eher schlechter Stimmung waren), sich
detailliert mit den Informationen der Rede auseinandersetzten und sich von den stichhaltigen
Argumenten überzeugen ließen, nicht jedoch von den schwachen Argumenten. Studenten in gu-
ter Stimmung widmeten den inhaltlichen Aspekten der Rede wenig Aufmerksamkeit und waren
unabhängig von den Argumenten eher bereit, dem Redner zu glauben.
Eine weitere, häufig genutzte Methode ist es, Furcht auszulösen und so vermittelt durch die Emo-
tion Angst in der Kommunikation eine Verhaltensänderung zu bewirken. So müssen schon seit
Jahren alle Zigarettenpackungen in Kanada abschreckende und furchterregende Bilder von Er-
krankungen des Zahnfleisches oder andern Körperteilen tragen, um so vor den Gefahren des
Rauchens zu warnen. Und auch in Deutschland und innerhalb der gesamten EU zeigen Zigaret-
tenschachteln seit 2016 neben einer Warnung vor schädlichen Folgen des Rauchens abschre-
ckende Schockbilder. Der Versuch, die Einstellung zu verändern, indem man an die Angst appel-
liert, wird als furchtauslösenden Kommunikation bezeichnet.384
Helfen nun solche furchterregenden Botschaften, die Einstellung zu ändern? Offenbar nicht immer.
Denn sonst gäbe es längst keine Raucher mehr. Sozialpsychologen haben die Zusammenhänge zwi-
schen Emotionen und Einstellungsänderungen untersucht. Alles in allem hängt es davon ab, ob die
Angst unsere Fähigkeit beeinflusst, auf die Argumente zu achten. Danach ist es so, dass eine Bot-
schaft dann sorgfältig von den Adressaten analysiert wird, wenn mäßige Furcht erregt wird und
diese glauben, dass sie in der Botschaft erfahren, wie man diese Furcht vermindert.385
Das Ergebnis lässt sich so erklären: Der Film erregte Angst und die Probanden bekamen Wege
gezeigt, ihre Angst zu bekämpfen; so entstand die Motivation zur Einstellungs- und Verhaltens-
änderung. Die Gruppe, die nur den Film sah, bekam zwar Angst – dies führte jedoch aufgrund
der Tendenz des Menschen, Angst einflößende Informationen auszublenden und zu verdrängen
dazu, dass man sich nicht weiter mit dem Thema beschäftigen wollte. Das alleinige Lesen der
Broschüre zeigte nur geringe Wirkung, denn es gab keine Motivation, sich mit der Thematik aus-
einanderzusetzen, es erfolgte keine vorherige Sensibilisierung.
Die aus Kommunikation resultierende Angst darf nicht so stark werden, dass sie als stark bedroh-
lich erlebt wird. Starke Bedrohung oder Todesangst führen zu Rückzug oder Verleugnung und
verhindern eine rationale Auseinandersetzung mit einer Thematik. Weitere Studien zeigen, dass
furchterregende Appelle scheitern, wenn sie so stark ausfallen, dass die Menschen davon über-
wältigt werden. Werden Menschen in intensive Angst versetzt, werden sie defensiv, leugnen die
Relevanz der Bedrohung und werden unfähig nachzudenken. Daraus folgt als Empfehlung: Man
muss so viel Furcht erregen, dass die Menschen noch motiviert sind, den eigenen Argumenten
zuzuhören, aber nicht so viel Furcht, dass sie sich abwenden oder missverstehen, was man zu
sagen hat.387 Folgerichtig verwundert auch folgende Schlagzeile aus dem Handelsblatt nicht:
„Schockbilder helfen nicht – Gruselaufdrucke lassen Tabakindustrie kalt“.388
Letztendlich existiert noch eine dritte Art, wie Emotionen Einfluss auf Einstellung und Einstellungs-
änderung ausüben: Emotionen wirken als Heuristiken. 389 Sie können dann als eine Art Signal
dienen, das einen Hinweis auf die jeweils vorhandene Einstellung gibt. Dadurch ermöglichen sie
die Bestimmung der eigenen Einstellung, ohne sich lange mit der Detailanalyse von Informationen
auseinanderzusetzen. Eine solche Heuristik kann sein, dass Experten immer Recht haben, dass
eine lange Rede wohl fundierter ist und daher überzeugender wirkt. Auch die Stimmung an sich
kann als Heuristik dienen. Fühlt man sich gut, so ist die Einstellung gut, fühlt man sich schlecht,
so ist auch die Einstellung und damit die Entscheidung schlecht. Dieses Procedere ist in vielen
Fällen hilfreich.390
Nehmen wir an, Sie suchen eine neue Wohnung. Dann ergibt es sicher Sinn, sich die Frage zu
stellen, wie Sie sich fühlen, wenn Sie sich in den Räumen aufhalten und gegebenenfalls von der
Anmietung Abstand zu nehmen, wenn Sie sich schlecht fühlen. Das Problem bei dieser Vorge-
hensweise ist jedoch, dass oft nicht genau feststellbar ist, woher ein Gefühl kommt und wie wir
im Kapitel 2.4.2 beim Thema Fehlattribution des Erregungszustandes und Erregungstransfer er-
fahren haben, können unsere Gefühle auch andere Ursachen haben.
Bleiben wir beim Wohnungsbeispiel. Wie können Sie sicher sein, dass Ihr Gefühl an der Wohnung
liegt und nicht durch andere Aspekte hervorgerufen wurde wie z.B. eine schlechte Zensur in einer
Klausur, die Sie zuvor zurückbekommen haben, Streit mit Ihrem Partner, eine Kritik von Ihrem
Chef, eine Autopanne auf dem Weg zur Wohnung. Nun fügen Sie sich wahrscheinlich keinen
Schaden zu, wenn Sie diese Wohnung nicht mieten. „Gefährlicher“ könnte es sein, wenn Sie ein
gutes Gefühl haben und sich dann für die Anmietung der Wohnung entscheiden. Das gute Gefühl
389 Heuristiken sind geistige Faustregeln oder mentale Abkürzungen, um schnell und effizient zu einem Urteil zu gelan-
gen.
390 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 232
126 Sozialpsychologie
haben Sie vielleicht, weil Sie auf der Fahrt Ihr Lieblingslied gehört haben, weil die Sonne scheint,
weil Sie die Aussicht auf einen guten Job haben usw. Nach Unterzeichnung des Mietvertrags
stellen Sie dann fest, dass die Anbindung an öffentliche Verkehrsmittel schlecht ist, dass Straßen-
lärm vorliegt oder Ähnliches. Im Kleinen kennen das bestimmt alle – jeder hat vermutlich Klei-
dungsstücke im Schrank, die gekauft und nur wenige Male bis hin zu gar nicht getragen wurden.
In der Konsequenz heißt das also, dass Emotionen gute Hinweisgeber sein können, jedoch nicht
zu Verzicht auf Detailanalyse verführen sollten.
5.3.4 Einstellungsänderung in Abhängigkeit von der Art der Einstellung und der Kultur
Die Beeinflussung von Einstellungen ist abhängig von der Art ihrer Entstehung. Das bedeutet, kog-
nitiv basierte Einstellungen sind am besten beeinflussbar mittels Fakten und kognitiver Auseinan-
dersetzung. Dagegen sind affektiv basierte Einstellungen am besten über emotionale Zugänge
erreich- und veränderbar.391
Diese Tatsache illustrieren die Untersuchungsergebnisse von Shavitt.392 Sie untersuchte die Effek-
tivität unterschiedlicher Arten von Werbung. Sie verwendete zwei Arten von Werbematerialien
zu zwei unterschiedlichen Produktkategorien: einmal Werbematerialien mit nutzenorientierten
Botschaften, die zu kognitiver Auseinandersetzung herausfordern; zum anderen Werbematerial
mit eher affektiven Botschaften zu Werten und sozialer Identität. Die Produktkategorien waren
einmal Nutz-Artikel wie Klimaanlagen und Kaffee und andererseits Soziale-Identitäts-Artikel wie
Parfüm oder Grußkarten. Bei Nutzartikeln, die eine kognitiv basierte Kaufentscheidung fordern –
energiesparend, preisgünstig, usw. – hatten diejenigen Werbeanzeigen den meisten Erfolg, die
Botschaften zum Gebrauchswert des Produktes vermittelten. Handelte es sich um eher affektiv
besetzte Produkte, so waren diejenigen Werbebotschaften am erfolgreichsten, die sich auf Werte
und Fragen der sozialen Identität bezogen.
Auch die Kultur hat durch die grundlegend unterschiedliche Art der Einstellungsmuster einen Ein-
fluss auf Maßnahmen zur Einstellungsänderung. Angehörige westlicher Kulturen, deren Einstel-
lungen sich eher auf Werte wie Individualität und Unabhängigkeit gründen, fühlen sich eher an-
gesprochen von Werbebotschaften, die diese Werte betonen. Demgegenüber fühlen sich Ange-
hörige asiatischer Kulturen, bei denen Interdependenz und Gemeinschaftssinn eher im
Vordergrund stehen, auch durch Werbebotschaften stärker angesprochen, die diese Werte in den
Vordergrund stellen. Nehmen wir als Beispiel Schuhwerbung. In westlichen Kulturen spricht eher
der Slogan „Mit den richtigen Schuhen geht es ganz einfach“ an, in der asiatischen Kultur: „Die
Schuhe für Ihre Familie“.393
Nun stellt sich die Frage, wie man sich vor Manipulation schützen kann und wie man dafür sorgen
kann, dass die eigene Einstellung stabil bleibt oder sich nur dann ändert, wenn man selbst das
auch möchte. Hierfür gibt es verschiedene Wege.
Eine Möglichkeit ist die sogenannte Einstellungsimpfung. Je mehr wir uns im Voraus mit mögli-
chen Argumenten gegen unsere Einstellung beschäftigen und diese durchdenken, desto besser
sind wir gegen Beeinflussungsversuche anderer gewappnet. Dieser Prozess verläuft in Analogie
zur Impfung gegen Krankheitserreger in einem schrittweisen Aufbau von Abwehr gegen Angriffe
auf Einstellungen. Dies geschieht, indem wir uns in kleinen Dosen Argumenten aussetzen, die
unserer eigenen Position widersprechen. Diese schwachen Argumente lösen eine Gegenargu-
mentationskette aus, die zur Stärkung der verankerten Einstellung führt und man wird relativ
immun gegen Versuche die Einstellung zu ändern.394
Eine Untersuchung von McGuire395 demonstriert diesen Prozess. Ein Teil der Versuchsteilnehmer
wurde geimpft, indem ihnen schwache Argumente gegen die Überzeugung, dass die Zähne nach
jeder Mahlzeit geputzt werden sollten, präsentiert wurden. Der andere Teil erfuhr diese Impfung
nicht. Nach zwei Tagen kamen die Teilnehmer wieder und wurden stärkeren Argumenten ausge-
setzt, die auch Statements enthielten, die logisch begründeten, weshalb allzu häufiges Zähneputzen
nicht gut sei. Die Teilnehmer, die sich vorab mit den schwächeren Argumenten auseinandergesetzt
hatten, waren deutlich weniger bereit ihre Meinung zu ändern als diejenigen Teilnehmer, die hier
zum ersten Mal mit der Thematik konfrontiert wurden. Das lässt sich dadurch erklären, dass die
„geimpften“ Versuchsteilnehmer sich vorab bereits ausführlich mit der Thematik Zähneputzen nach
dem Essen auseinandergesetzt hatten und so besser gewappnet waren gegen andere Argumente.
Die anderen Teilnehmer hatten sich nie näher mit der Thematik beschäftigt und waren daher mit
den starken Argumenten leichter zu überzeugen. Was bedeutet das nun für Ihren Alltag und den
Schutz Ihrer Einstellungen? Sie können für Stabilität sorgen, indem Sie sich von Anfang an ausführ-
lich mit Pro- und Contra-Argumenten auseinandersetzen und dann Ihre Entscheidung treffen.
Ebenso kann eine Vorwarnung auf einen Beeinflussungsversuch hilfreich sein. Wenn Sie im Vor-
hinein wissen, dass jemand versuchen möchte, Sie zu einer Einstellungsänderung zu bewegen, so
können Sie vorbeugen, indem Sie Gegenargumente sammeln und sich so gegen Beeinflussungs-
versuche rüsten. Um auch ohne eine Vorwarnung gegen Beeinflussungsversuche gewappnet zu
sein, ist es ein sicheres Mittel, sich eine klare Meinung zu einer Thematik zu bilden und sich der
Pro-Argumente sicher zu sein.
Oft bestehen Angriffe auf unsere Einstellungen aus Appellen an unsere Emotionen. Gerade in
Gruppensituationen beruht der Druck nicht aus logischen Argumenten, sondern es wirken emo-
tionale Aspekte. Denken Sie an Ihre Kampagne gegen „Komasaufen“. Hier trinken Jugendliche
in der Regel nicht aufgrund logisch schlüssiger Argumente, sondern weil sie dazugehören wollen,
weil sie nicht als Angsthase gelten wollen, weil sie sich cool fühlen wollen, weil sie sich erwachsen
fühlen wollen und weil sie Angst vor Zurückweisung haben. Deshalb sind diese Jugendlichen auch
schwer erreichbar mittels Botschaften wie „zu viel Alkohol ist ungesund“. Wichtig ist daher auch
die Auseinandersetzung mit der Frage, wie wir einem solchen Gruppendruck widerstehen kön-
nen.396 Eine Möglichkeit zur Beeinflussung wäre jedoch auch hier eine Art Einstellungsimpfung
entsprechend des Ansatzes von McGuire. Neben der „Impfung“ mit Argumenten, kann man auch
mit in der Situation möglichen emotionalen Appellen „impfen. Man könnte mit den Jugendlichen
Rollenspiele machen, in denen sie Argumenten ausgesetzt werden wie „Du bist ein Feigling, wenn
du nichts trinkst“. Sie könnten sich dann gezielt Gegenargumente und Reaktionen erarbeiten, die
sie vor ungesundem Alkoholkonsum schützen.397
Wenn man versucht, Menschen gegen Angriffe auf ihre Einstellungen zu immunisieren, ist es wich-
tig, nicht zu übertreiben. Je stärker Beeinflussungsversuche sind, desto eher wird in einer Art Bume-
rang-Effekt das Gegenteil erreicht. Das lässt sich mit der bereits in Kapitel 3.5 dargestellten Reak-
tanz-Theorie erklären. Denn auch wenn ich versuche, einer Person etwas einzureden, sie von einer
Sache zu überzeugen, kann das als Freiheitseinschränkung gesehen werden. Dieser Bumerang-Ef-
fekt ist gerade im Umgang mit Verboten recht offensichtlich. Je stärker ein Verbot ist, desto verfüh-
rerischer ist es, dieses zu brechen.398 Sie kennen das vermutlich von sich selbst. Stellen Sie sich vor,
Sie gehen auf der Straße und treffen plötzlich auf ein großes Schild, das Ihnen verbietet, rechts
abzubiegen. Was geschieht? Sie werden sich fragen, weshalb man nicht rechts abbiegen soll, einen
Blick in die Straße werfen, gegebenenfalls sogar darüber nachdenken, ob Sie da nicht doch abbie-
gen sollten – einfach um auszuprobieren, was passiert. Ohne dieses Schild hätten Sie die Abbiege-
möglichkeit vielleicht gar nicht beachtet, denn Ihr Weg führte Sie eigentlich ohnehin geradeaus.
Ebenso können Sie diesen Bumerang-Effekt anschaulich erleben, wenn Sie Kinder beobachten. Neh-
men Sie ein Kind, das früh schlafen gehen soll, weil Gäste erwartet werden. Wird das Kind ohne
große Abweichung von alltäglichen Routinen zu Bett gebracht, so bestehen recht gute Chancen,
dass das gelingt. Sagen Sie dem Kind schon von morgens an, dass es abends früh schlafen gehen
soll, wird es vermutlich hellwach sein und Ihren Wunsch nach früher Müdigkeit und Schlaf nicht
erfüllen. Insgesamt lebt der Bumerang-Effekt von der deutlich sichtbaren Beeinflussungsabsicht. Da-
von hängt nämlich auch ab, wie stark die Bedrohung der Freiheit empfunden wird.
Unser Interesse an Einstellungsänderung rührt zum Großteil in dem Interesse, Verhalten vorher-
zusagen und vor allem zu verändern. Üblicherweise nehmen wir nämlich an, dass Menschen sich
in ihrem Verhalten ändern, wenn sie ihre Einstellung ändern. Allerdings ist dieser Zusammenhang
nicht so eindeutig, wie Studien zeigen. Es hat sich herausgestellt, dass Einstellungen zwar das
Verhalten vorherbestimmen, aber nur unter bestimmten spezifizierbaren Bedingungen.399
Bevor wir Faktoren aufführen, welche die Enge des Zusammenhanges zwischen Einstellungen und
Verhalten vermitteln, soll zunächst aber noch auf einen anderen Aspekt eingegangen werden,
der für die fehlende Einstellungs-Verhalten-Übereinstimmung verantwortlich sein kann: Nämlich
die Art der Messung. Die Forschung zeigte eine gemischte und sehr uneinheitliche Befundlage,
was den Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten betrifft. Hierfür wurden aber me-
thodische Unterschiede verantwortlich gemacht, so dass es wichtig ist, dass sich die Messung von
Einstellung und Verhalten entsprechen.400
Nach Ajzen und Fishbein401 können sowohl Einstellungen als auch Verhaltensweisen in Bezug auf
vier verschiedene Aspekte beschrieben werden:
l Der Handlungsaspekt („action element“): Welches Verhalten soll untersucht werden (z.B.
jemanden wählen, jemandem helfen oder etwas kaufen)? Das Verhalten kann sehr allge-
mein sein und eine Klasse verschiedener Verhaltensweisen umfassen (jemandem helfen),
oder es kann eine sehr eng umrissene Verhaltensweise darstellen (z.B. jemandem 100 Euro
leihen); es kann eine einzelne Verhaltensweise, eine ganze Verhaltenssequenz oder wie-
derholtes Verhalten beinhalten.
l Der Zielaspekt („target element“): Auf welches Objekt bzw. Ziel ist das Verhalten gerichtet;
z.B. den Bundeskanzler (wählen), einem Freund (helfen), ein neues Auto (kaufen)?
l Der Kontextaspekt („context element“): In welchem Kontext wird das Verhalten ausge-
führt; z.B. innerhalb eines totalitären oder demokratischen Systems (wählen), öffentlich
oder privat (helfen) oder mit leerem oder gut gefülltem Portemonnaie (einkaufen)?
l Der Zeitaspekt („time element“): Zu welchem Zeitpunkt soll das Verhalten ausgeführt wer-
den; z.B. im Herbst 2020, sofort oder innerhalb der nächsten zwei Jahre?
Insgesamt kann man bei der Einstellungsmessung zwischen direkten und indirekten Verfahren
unterscheiden. 402
In der Anwendung, aber auch in der Forschung stehen direkte Maße im Vordergrund. Personen
geben dabei üblicherweise auf einer numerischen Skala an, inwieweit sie einer Aussage zustimmen
oder nicht. Es werden mit bereits einer oder einigen wenigen Aussagen schon Daten mit einer guten
Messgenauigkeit geliefert.403 Da bei den direkten Methoden zur Einstellungserfassung von den je-
weiligen Befragten selbst berichtete Daten erhoben werden, sind diese natürlich subjektiv.
Häufig werden hier Fragebögen eingesetzt, in denen Ratingskalen angewendet werden, mit Hilfe
derer die eigene Einstellung wiedergegeben werden kann. Ein Item könnte lauten: „Beim Neukauf
eines Autos ist mir ein niedriger Benzinverbrauch besonders wichtig.“ Sie könnten dann Ihre Mei-
nung mit Hilfe einer Skala angeben, die von „ich stimme überhaupt nicht zu“ bis „ich stimme voll
und ganz zu“ reicht. Häufig werden Einstellungen nicht nur mit einer Frage erhoben, sondern es
werden mehrere Items zu einem Thema erhoben und die Einstellung als Mittelwert aller Items
angenommen.404
Wenn affektive Komponenten erhoben werden, wird häufig das sog. semantische Differential
angewendet.405 Hier werden Skalenendpunkte durch Gegensatzpaare gebildet. Nehmen wir an,
Sie wollen erheben, welche Atmosphäre eine Person in ihrem Wohnzimmer bevorzugt. So könnte
die Frage lauten: „Bitte kreuzen Sie an, wie wichtig Ihnen nachfolgend genannte Eigenschaften
in Bezug auf die Atmosphäre in Ihrem Wohnzimmer sind“ und entsprechende Gegensatzpaare
wären dann z.B. „warm – kalt“, „groß – klein“, „geordnet – chaotisch“ usw.
Diese subjektiven Angaben sind häufig Verzerrungen unterworfen, die zum einen durch unsere Gren-
zen in der Introspektionsfähigkeit zustande kommen (d.h. den Mangel an Fähigkeit zur Gabe der
gewünschten Antwort) und zum anderen durch einen möglichen Mangel an Bereitschaft zu wahr-
heitsgemäßer Auskunft, Tendenz zu sozial erwünschter Antwort. Ebenso hat die formale Gestaltung
der Erhebungsinstrumente, wie die Skalenbenennungen oder die Fragereihenfolge einen Einfluss.
Bei den indirekten Methoden zur Einstellungsmessung versucht man Einstellungen aus dem mess-
oder beobachtbaren Verhalten von Versuchsteilnehmern abzuleiten. Diese Verfahren sind jedoch
teilweise schwer handhabbar, wenn es um die Erfassung der Einstellung einer größeren Menge
von Probanden geht. Daher werden sie in der angewandten Sozialforschung kaum benutzt, da
man hier auf große Stichproben angewiesen ist.406 Folgende Methoden zählen zu den indirekten
Verfahren:
l Implizite Maße: Erhebung von „Leistungsdaten“ wie Reaktionszeiten oder Fehlerraten als
Indikatoren für Einstellungen. Diese Messmethode basiert auf der Annahme, dass kognitive
Repräsentationen im Gehirn mittels eines assoziativen Netzwerks organisiert sind. Je stärker
Konzepte miteinander assoziiert sind, desto leichter erfolgt bei Nähe ein Zugriff und erlaubt
so Rückschluss auf Einstellungen. Bei Reaktionszeitmessungen beispielsweise geht man da-
von aus, dass je schneller eine bestimmte Reaktion erfolgt (Tastendruck, Joystickbewe-
gung), desto näher Konzepte assoziativ verbunden sind.409
Wie bereits eingangs erwähnt, stimmen Verhalten und Einstellung nicht immer in dem Maß über-
ein, wie wir dies vielleicht erwarten würden. Dies wurde bereits in den frühen 1930er Jahren in
einer klassischen Studie durch den amerikanischen Soziologen Richard LaPiere festgestellt.410
Auch wenn diese frühe Studie methodische Mängel aufwies und daher nur erste Hinweise geben
konnte, zeigten doch auch die nachfolgenden Forschungen, dass die Einstellung nur ein schwa-
cher Anhaltspunkt für die Vorhersage des Verhaltens sein kann.411 Generell kann man sagen, dass
starke und schnell zugängliche Einstellungen Verhalten besser vorhersagen können, als schwa-
che.412 Ein entscheidender Faktor zur Verhaltensvorhersage ist jedoch, ob das Verhalten, das wir
voraussagen wollen, spontan oder überlegt ist. Grundsätzlich gibt es nämlich, zwei Möglichkeiten,
wie wir zu einer Entscheidung oder einer Handlung kommen: Manchmal sind wir gezwungen
schnell und spontan eine Entscheidung zu treffen (wenn wir zum Beispiel auf der Straße nach
einer Spende gefragt werden) und manchmal haben wir eine Handlung überlegt und geplant
(wenn wir zum Beispiel ein neues Auto kaufen).
Diesen Zusammenhang belegt eine Studie415 zu Einstellungen und Verhalten im Kontext von Kon-
sumgütern. Im ersten Schritt schätzten die Teilnehmer ihre Einstellung zu verschiedenen Produk-
ten ein – z.B. verschiedene Sorten Kaugummi, Schokoladenriegel. Die Zugänglichkeit wurde er-
schlossen aus der Überlegungszeit, die die Versuchsteilnehmer brauchten, um die Fragen zur Ein-
stellung zu beantworten. Je kürzer die Zeit zum Überlegen, desto höher die Zugänglichkeit.
Danach wurden 10 Produkte in zwei Fünferreihen vor den Probanden auf den Tisch gelegt und
sie durften 5 davon aussuchen und mit nach Hause nehmen. Die Untersuchung zeigte, dass bei
hoher Zugänglichkeit auch die Konsistenz zwischen Einstellung und Verhalten hoch war, d.h. bei
positiver Einstellung und hoher Zugänglichkeit wählten die Teilnehmer auch die entsprechenden
Produkte aus, um sie mitzunehmen.
Mit spezifischen Einstellungen sind nicht allgemeine Einstellungen gemeint, sondern speziell die
Einstellungen, die sich auf das in Frage kommende Verhalten beziehen.418 Diese Tatsache unter-
mauert eine Untersuchung zur Verwendung der Pille als Verhütungsmittel.419 Verheiratete Frauen
wurden nach ihren Einstellungen zur Antibabypille befragt. Die Fragen betrafen allgemeine The-
men (wie Einstellung zur Geburtenkontrolle) bis hin zu spezifischen Fragen (ihre Einstellung zum
Gebrauch der Antibabypille in den nächsten zwei Jahren).
Nach zwei Jahren wurde das Verhalten – die Verwendung der Pille in den letzten beiden Jahren
– erhoben. Die Vorhersagekraft war bei der detailliertesten Abfrage am höchsten (siehe Abbil-
dung 48).
Ebenfalls von Bedeutung für die Intention eines Menschen sind seine subjektiven Normen, d.h.
seine Überzeugungen dazu, wie andere für ihn wichtige Personen sein Verhalten wahrnehmen
und beurteilen. Nehmen Sie das folgende Beispiel: Sie wollen vorhersagen, ob eine Freundin von
Ihnen am Wochenende zum Pokal-Länderspiel geht. Sie wissen, dass sie Fußball nicht viel abge-
winnen kann und viel lieber ein Buch liest oder spazieren geht. Also gehen Sie davon aus, sie wird
da nicht hingehen. Nun wissen Sie aber zusätzlich, dass ein Mann zu diesem Länderspiel geht,
der Ihrer Freundin sehr wichtig ist. Möglicherweise fällt Ihre Prognose nun anders aus.421
Nun spielt zu guter Letzt auch noch die wahrgenommene Verhaltenskontrolle eine wichtige Rolle,
das heißt die Annahme, wie leicht oder schwer ein Verhalten durchzuführen sein wird. Das heißt,
wenn man annimmt, dass es schwierig sein wird das fragliche Verhalten zu zeigen, so wird die
Intention schwächer sein, als wenn anzunehmen ist, dass es leicht sein wird, ein Verhalten zu
zeigen. Stellen Sie sich das Vorhaben vor, dreimal pro Woche joggen zu gehen und stellen Sie
sich das Vorhaben vor, heute nach der Arbeit Pizza essen zu gehen. Was denken Sie, welches
Verhalten ist leichter durchzuführen und bei welchem Verhalten wird demnach Ihre Intention
höher sein? Vermutlich beim Pizza essen gehen – es sei denn, Sie gehen ohnehin schon seit langer
Zeit diszipliniert dreimal in der Woche zum Laufen.422
Untersuchungen zeigen, dass die Erhebung aller drei Einflussgrößen der Intention die Wahrschein-
lichkeit für die richtige Prognose geplanten Verhaltens erhöht. Insgesamt besteht zwischen der
Verhaltensintention und dem tatsächlichen Verhalten ein mittlerer bis großer Zusammenhang –
die Wahrscheinlichkeit, dass Verhalten und Einstellung übereinstimmen, sinkt jedoch sobald eine
der drei Komponenten fehlt.423
Beim Betrachten des Zusammenhanges zwischen Einstellung und Verhalten spielen noch weitere
Faktoren eine Rolle. Einstellungen sagen noch unter folgenden Bedingungen das Verhalten gut
vorher:424
Dies Faktoren beeinflussen sich gegenseitig und sind daher schwierig trennbar. Eine besondere
Bedeutung hat jedoch die Zugänglichkeit. Die Zugänglichkeit einer Einstellung bemisst sich an der
Geschwindigkeit und Leichtigkeit, mit der einstellungsrelevante Informationen aus dem Gedächt-
nis abgerufen werden können.425 Ist die Zugänglichkeit hoch, so wird die Einstellung Ihnen jeder-
zeit in den Sinn kommen, wenn Sie auf das Objekt treffen oder gar nur den zugehörigen Begriff
lesen. Probieren Sie es einmal aus: Was geschieht, wenn Sie jetzt den Begriff Surfbrett lesen? Lässt
Sie der Begriff relativ unberührt oder fallen Ihnen sofort positive oder negative Bewertungen ein,
werden Gefühle von Mögen oder Nicht-Mögen geweckt? Je zugänglicher Ihre Einstellung zu die-
sem Objekt, desto stärker Ihre Reaktionen. Die Zugänglichkeit wird beeinflusst über die Häufigkeit
mit der wir über das entsprechende Thema nachdenken und die Häufigkeit mit der wir diese
Einstellung vertreten oder nach dieser handeln.
Weiterhin erhöht sich der Zusammenhang zwischen Einstellungen und Verhalten durch eine grö-
ßere Stabilität der Einstellung. Diese ist umso höher, je einseitiger die jeweiligen aktuell vorliegenden
Informationen sind (beispielsweise nur positive oder negative Aspekte des Einstellungsobjektes).
Ebenso erhöht sich die Stabilität der Einstellung und damit die Wahrscheinlichkeit entsprechenden
Verhaltens, je konkreter und spezifischer sich die Einstellung auf Verhalten bezieht.426
Je sicherer wir uns einer Einstellung sind und je stärker wir von der Richtigkeit dieser Einstellung
überzeugt sind, desto stabiler ist auch die Einstellung und desto wahrscheinlicher ist auch ent-
sprechendes Verhalten: Die Sicherheit wiederum hängt damit zusammen, wie häufig wir über
diese Einstellung nachgedacht haben, je direkter die eigenen Erfahrungen sind und je einseitiger
die Informationssuche ist.427
Letztendlich spielt die Stärke einer Einstellung eine wichtige Rolle: Je stärker eine Einstellung ist,
desto stabiler und resistenter gegen Veränderung ist sie und umso besser sagt sie Verhalten vo-
raus.428 Dass die Stärke von Einstellungen variiert, wird unmittelbar verständlich, wenn man sich
Beispiele anschaut. So ist vermutlich Ihre Einstellung gegenüber dem Preis von Kohlrabi in Jugo-
slawien eher schwach ausgeprägt und wird vielleicht etwas stärker, wenn es um den Preis hier
geht und Sie Kohlrabi besonders mögen. Demgegenüber ist Ihre Einstellung gegenüber religiösen,
ethischen oder politischen Werten vermutlich stärker ausgeprägt. Besonders stark ausgeprägt sind
Ihre Einstellungen und Überzeugungen wahrscheinlich gegenüber Ihnen nahestehenden Perso-
nen. Diese Beispiele illustrieren ebenso die Kriterien, die bei der Ausbildung der Stärke von Ein-
stellungen eine wichtige Rolle spielen.
Abbildung 49: Verschiedene Einflüsse auf den Zusammenhang von Einstellung und Verhalten
(Quelle nach: Fischer et al., 2014, S. 86)
Übungsaufgaben zu Kapitel 5
021 Erläutern Sie an einem Beispiel, was mit dem Begriff „Einstellung“ gemeint ist und welche
drei Komponenten damit verbunden sind.
022 Weshalb bewirken Aufdrucke wie „Rauchen kann tödlich sein“ oder schockierende Bilder
auf Zigarettenpackungen eher wenig Verhaltensänderungen bei Rauchern?
024 Stellen Sie je eine direkte und eine indirekte Maßnahme der Einstellungsmessung dar.
Verdeutlichen Sie auch, welche Kritikpunkte es beim Einsatz dieser Methoden gibt.
Wodurch wird die Messgenauigkeit für Einstellungen beeinträchtigt?
025 Diskutieren Sie die Frage, inwiefern ein Vorgesetzter das Leistungsverhalten seines Mitar-
beiters vorhersehen kann, wenn er dessen Einstellung zu seiner Arbeit kennt.
136 Sozialpsychologie
Lernziele
l können Sie die Begriffe Hilfe, prosoziales Verhalten und Altruismus erklären und voneinan-
der abgrenzen;
l kennen Sie Erklärungsansätze für prosoziales Verhalten;
l sind Ihnen personen- und situationsbedingte Determinanten für prosoziales Verhalten be-
kannt;
l wissen Sie um die Zusammenhänge, warum Menschen bei Notfällen nicht helfen.
Hilfeverhalten zwischen Menschen ist universell und scheint weit verbreitet zu sein. Im Unter-
schied zu anderen Lebewesen kooperieren wir häufig mit anderen, sogar mit Fremden, auch
wenn wir diese Menschen eventuell nie persönlich treffen werden. Denken Sie nur an die vielfäl-
tigen Spenden, welche weltweit für Opfer von Naturkatastrophen, wie Erdbeben oder Tsunamis
erfolgen. Ebenso ist das Hilfeverhalten weitgestreut und umfasst ganz unterschiedliche Facetten:
von der Nachbarschaftshilfe, über die Hilfe von Kollegen bis hin zur Hilfe bei Naturkatastrophen.
Aber es gibt auch Unterschiede: so spendeten beispielsweise Schweizer und Amerikaner viel we-
niger für Naturkatastrohen wie beispielsweise für das Erdbeben in Iran 2003 oder für das Erdbe-
ben auf Haiti 2010, als für Katastrophen in der Schweiz oder den USA – obwohl bei letzteren viel
weniger Opfer zu beklagen waren und die Menschen vergleichsweise wohlhabend waren.430
Praxisbeispiel
Sachbearbeiter Thomas Mühlen tritt gedanklich auf der Stelle. Jetzt hat er den Vorgang schon
dreimal durchgelesen. Er versteht ihn nicht. Sein Blick geht durch den Raum zu seinem Kollegen
Karl Kuhn. Offenbar ist er gerade ansprechbar. Kurz darauf steht er neben ihm und fragt: „Karl,
ich habe da ein Problem, kannst du mir helfen? Ich steige hier nicht durch.“ „Gerne, zeig’ mal
her.“ Wahrscheinlich wären Sie im Arbeitsalltag höchst überrascht, wenn der Kollege sagen
würde: „Nein, mache deine Arbeit allein. Ich helfe dir nicht.“ In den meisten Fällen ist es ganz
selbstverständlich, dass sich Menschen gegenseitig helfen. Besonders in Arbeitsteams zählt ge-
genseitige Hilfe und Unterstützung als ein wichtiger Wert. Doch warum helfen Menschen?
Bevor der Frage „Warum helfen Menschen“ nachgegangen werden soll und auf einige Erklä-
rungsansätze eingegangen wird, sollen zunächst die Begriffe „Helfen“, „prosoziales Verhalten“
und „Altruismus“ kurz erläutert werden. Diese Begriffe werden häufig synonym verwendet, be-
inhalten jedoch wichtige Unterschiede (siehe auch Abbildung 50).431
Helfen ist der umfassendste Begriff und bedeutet die Absicht, die Situation desjenigen, der die
Hilfe bekommt, zu verbessern. Hierunter fällt auch die beruflich motivierte Hilfe wie die Pflege
einer Krankenschwester, das Koffertragen des Hotelboys oder die Hilfe der Stewardess beim Ver-
stauen von Gepäck.
Prosoziales Verhalten bedeutet ein Hilfeverhalten, das von der Gesellschaft als nützlich für andere
Menschen erachtet wird, welches nicht beruflich motiviert ist oder von einer Organisation getätigt
wird, mit Ausnahme von Wohltätigkeitsorganisationen, deren definiertes Ziel die Förderung von
Wohlbefinden bei Bedürftigen ist. Hierunter fällt Nachbarschaftshilfe oder das Engagement bei
der Tafel.
Altruismus nun ist der engste Begriff und besteht in einer Tätigkeit, die zum obersten Ziel hat,
einer anderen Person nützlich zu sein und welches ohne Erwartung extrinsischer Belohnung und
nur aufgrund empathischer Motivation ausgeführt wird. Rein altruistisches Verhalten enthält die
biblische Geschichte des guten Samariters, der einen Verletzten versorgte, mit sich nahm und
pflegte.
Abbildung 50: Abgrenzung der Begriffe „Hilfe“, „Prosoziales Verhalten“ und „Altruismus“.
(Quelle: Nach: Bierhoff, 2006, S. 151)
Im Zusammenhang mit der Definition von Altruismus hat sich als einer der größten Streitpunkte
die mögliche Motivation hinter dem Hilfeverhalten herauskristallisiert. Gibt es tatsächlich selbst-
lose Hilfe, die aufgrund von Empathie erfolgt? Als Empathie wird das Verstehen oder Teilen des
emotionalen Zustandes einer anderen Person bezeichnet. Die Klärung dieser Frage wird im nächs-
ten Absatz erfolgen.
Sozialpsychologie 139
In diesem Kapitel sollen nun vier Ansätze kurz erläutert werden, die erklären, warum sich Men-
schen gegenseitig helfen: die evolutionäre Psychologie, der soziale Austausch, die Attribution der
Verantwortung und Empathie.
Basis dieses Ansatzes ist die Annahme angeborener bzw. genetischer Tendenzen für die Entwick-
lung prosozialen Verhaltens. Sie basiert auf der Evolutionstheorie von Charles Darwin, die davon
ausgeht, dass natürliche Selektion dafür sorgt, dass sich diejenigen Gene erhalten und weiterge-
geben werden, die das Überleben sichern. Der Mensch kann die Chancen seine Gene weiterzu-
geben nicht nur erhöhen, indem er eigene Kinder zeugt, sondern auch, indem er genetisch Ver-
wandten hilft. Es konnte gezeigt werden, das engeren Verwandten eher geholfen wird als weiter
entfernten Verwandten. Dies ist die sogenannte Theorie der Verwandtenselektion. Damit ist auch
die Weitergabe der eigenen Gene wahrscheinlicher, da mit engeren Verwandten eine höhere
genetische Gemeinsamkeit besteht. Allerdings konnte auch festgestellt werden, dass ich zu en-
geren Verwandten auch eine größere emotionale Nähe habe und dass daher die genetische Basis
als Erklärung möglicherweise nicht alleine genügt. Generell – und dies trifft für alle evolutionspsy-
chologischen Ansätze zu – werden hier lediglich im Nachhinein Befunde erklärt ohne eine tat-
sächliche Kausalität beweisen zu können.432
Die Theorie der Verwandtenselektion erklärt prosoziales Verhalten im Familienkreis, nicht jedoch
unter Freunden. Hier greift das Prinzip des reziproken Altruismus, das auf der Reziprozitätsnorm
beruht. Sie besagt, dass selbst Hilfe und Unterstützung erwartet werden können, wenn anderen
geholfen wird, andere unterstützt werden.433 Diese Norm scheint kulturübergreifend Gültigkeit
zu haben und beinhaltet zwei Grundsätze:
Das Reziprozitätsprinzip birgt insoweit Gefahren, als Betrüger oder skrupellose Mitmenschen das
System ausnutzen können. Sie nehmen ohne zu geben. Daher ist Vertrauen ein wichtiger Faktor
in dem System. Je vertrauter man ist, desto eher und desto leichter wird man Hilfe leisten. Darüber
hinaus spielen Stabilität der Gruppenzugehörigkeit und der Gruppe selbst eine wichtige Rolle,
ebenso wie die Wiedererkennungsmöglichkeit von Gruppenmitgliedern. Denken Sie an ein gro-
ßes Unternehmen. Hier wird Hilfsbereitschaft zwischen Mitgliedern eines kleinen Teams stärker
auftreten als zwischen zwei größeren Abteilungen, in denen sich vielleicht noch nicht einmal alle
Mitarbeiter untereinander kennen.
432 Vgl. Fischer et al. (2014), S.54; Vgl. Aronson et al. (2014), S. 397f.
433 Vgl. Aronson et al. (2014), S. 398f.
140 Sozialpsychologie
Altruistisches Verhalten kann seitens des Helfenden von eigenen Interessen motiviert sein. Die The-
orie des sozialen Austauschs434 geht davon aus, dass Menschen bestrebt sind, Belohnungen zu ma-
ximieren und Kosten zu minimieren. Es lässt sich ein Vergleich ziehen zum kaufmännischen Bereich:
Ein Unternehmer ist bestrebt das Verhältnis zwischen Gewinn und Verlust zu maximieren. Analog
dazu ist der Mensch in Beziehungen bemüht, das Verhältnis zwischen sozialen Belohnungen und
sozialen Kosten in Richtung soziale Belohnungen zu maximieren. Zwar führen wir nicht Buch über
unsere Aktivitäten, aber auf eine implizite Art und Weise verfolgen wir, was wir tun und erhalten.
Hilfeleistung kann auf verschiedene Art rentabel sein: die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass selbst
Hilfe erhalten werden kann; Spannungsreduktion, wenn man Zuschauer einer Situation ist in der
Hilfe benötigt wird; soziale Anerkennung sowohl bei direkt Betroffenen wie von anderen, die zuge-
schaut haben oder von der Hilfeleistung erfahren; besseres Selbstwertgefühl. Hilfeleistung kann je-
doch auch hohe Kosten verursachen: Gefahr für die eigene Person, Verursachung von Schmerz,
Entstehung einer peinlichen Situation, Verlegenheit, hoher Zeitaufwand.435
Die Theorie des sozialen Austauschs besagt, dass Hilfeleistung abnimmt, wenn die Kosten zu hoch
werden: wenn für die eigene Person Gefahr besteht, Schmerz verursacht werden könnte, Pein-
lichkeit oder Verlegenheit ausgelöst werden könnten oder zu viel Zeit in Anspruch genommen
würde. Die Theorie geht davon aus, dass es „reinen“ Altruismus, d.h. Hilfe, auch wenn Nachteile
entstehen, nicht gibt.436
Wenn wir um Hilfe gebeten werden, machen wir uns häufig auch Gedanken, wer für die Notlage
oder Hilfsbedürftigkeit verantwortlich ist und warum das Opfer unsere Hilfe benötigt. Dabei stehen
die Fragen „Ist die Person verantwortlich für ihre Notlage?“ und „Ist die Situation für die betreffende
Person kontrollierbar?“ im Vordergrund. Wir helfen hauptsächliche Manchen, die unverschuldet in
einer Notlage sind, aus der sie sich auch nicht selbst befreien können. Halten wir die Notlage für
selbstverschuldet und kontrollierbar, dann resultiert eher Ärger und wir helfen nicht.437
6.2.4 Empathie
Batson postuliert, dass Hilfe aus eigennützigen Motiven wie sie die Theorie des sozialen Aus-
tauschs angibt, existiert, dass jedoch ebenso Altruismus aus rein altruistischen Motiven existiert.
Das bedeutet, Hilfe wird auch dann geleistet, wenn Kosten oder Nachteile entstehen. Batson geht
davon aus, dass solch reiner Altruismus insbesondere dann vorkommt, wenn Empathie für denje-
nigen vorliegt, der Hilfe benötigt. Empathie heißt, dass wir in der Lage sind, Mitgefühl zu empfin-
den, nachzuempfinden wie der Betreffende sich in der Situation fühlt und die Ereignisse und
Emotionen so wahrnehmen, wie sie der Betroffene erlebt.438
Nehmen Sie an, Sie sehen einen alten Herrn beim Einkaufen im Supermarkt, der sich schwer tut
mit dem schnellen Einräumen am Band und sichtlich in Hektik gerät. Dann fällt ihm noch der
Geldbeutel herunter, das ganze Kleingeld kullert auf dem Boden herum und die Schlange an der
Kasse wird schon mürrisch und nervös. Laut Batson werden Sie dem Herrn helfen, sein Geld ein-
zusammeln und gegebenenfalls die restlichen Waren in den Einkaufswagen zu legen, wenn Sie
ihm gegenüber Empathie verspüren, wenn Sie sein Leiden nachempfinden können. Ist das der
Fall, helfen Sie ohne zu reflektieren, was Ihnen das Ganze für einen Nutzen bringt. Sie möchten
ausschließlich die Not des alten Herrn lindern. Wenn Sie keine Empathie empfinden, kommt die
Theorie des sozialen Austauschs zum Tragen. Es kommen Fragen auf, ob es da für Sie etwas zu
gewinnen gibt, etwa Anerkennung des alten Herrn oder der anderen Personen, die in der
Schlange stehen oder Zeitgewinn, weil es schneller geht. Wenn Sie zu dem Schluss kommen, dass
es keinen Vorteil für Sie gibt, werden Sie stehenbleiben und zusehen, bis der alte Herr fertig ist.
Diese Annahmen Batsons blieben nicht unumstritten und führten in der Sozialpsychologie zu einer
langen Debatte und man hat auf vielfältige Art und Weise versucht, zwischen egoistischem und
altruistischem Hilfeverhalten zu unterscheiden. Letztendlich ist echter Altruismus nicht zwingend
nachweisbar und die wirklichen Motive des Handelns bleiben auch bei altruistischen Persönlich-
keiten unklar. So konnte gezeigt werden, dass auch altruistischem Hilfeverhalten ein egoistisches
Motiv zugrunde liegen kann, indem man bestrebt ist durch das Hilfeverhalten eine persönliche
Anspannung oder negative Stimmung zu reduzieren, die beim Beobachten von Hilfebedürftigkeit
entsteht439 oder den Selbstwert zu steigern.440 Somit lässt sich zumindest festhalten, dass es viele
Gründe für Hilfeverhalten geben kann und dass Altruismus zumindest ein mögliches Motiv dar-
stellen kann.441
Neben den bisher genannten Theorien, die verschiedene Erklärungen für prosoziales Verhalten lie-
fern, existieren noch intrapersonelle, also in der Person liegende Merkmale, die bei der Ausführung
prosozialen Verhaltens eine Rolle spielen: Persönlichkeitsunterschiede, Geschlecht, Kultur und Stim-
mung. Diese Merkmale helfen uns zu erklären, warum manche Menschen eher als andere helfen.442
Untersuchungen zum Einfluss der prosozialen Persönlichkeit oder auch altruistischen Persönlich-
keit konzentrieren sich auf Persönlichkeitsmerkmale, die mit einem erhöhten Ausmaß an proso-
zialem Verhalten einhergehen. Als prosoziale Persönlichkeit wird die andauernde Tendenz, an die
Rechte und das Wohl von anderen zu denken, bezeichnet. Menschen mit einer prosozialen Per-
sönlichkeit empfinden Anteilnahme und Empathie und handeln so, dass es den anderen nützt.443
Man fand heraus, dass Empathie, soziale Verantwortung, Perspektivenübernahme, moralisches
Denken gegenüber anderen, an gemeinsamen Problemen orientiertes moralisches Denken, eine
internale Kontrollüberzeugung, der Glaube an eine gerechte Welt und ein positives Selbstwert-
gefühl wesentliche Persönlichkeitsfaktoren sind, von denen abhängt, wie die Menschen auf an-
dere reagieren, die sich in einer Notlage befinden. Allerdings scheinen diese Persönlichkeitseigen-
schaften nicht geeignet, die Wahrscheinlichkeit prosozialen Verhaltens situationsübergreifend zu
prognostizieren, denn situative Faktoren spielen eine ebenso wichtige Rolle.444
Studien haben ergeben, dass selbst für Menschen, die in Persönlichkeitstests hohe Gesamtwerte zu
Altruismus erreicht haben, nicht festgestellt werden kann, dass sie anderen Menschen mit höherer
Wahrscheinlichkeit helfen als andere Personen. So war beispielsweise ihre Bereitschaft, Blut zu spen-
den, nicht höher als die von Menschen mit niedrigem Altruismus-Wert. Dennoch kann man nicht
sagen, dass die Persönlichkeitsmerkmale eines Menschen keine Rolle spielen. Es hat den Anschein,
als wäre der Einfluss der Persönlichkeit auf prosoziales Verhalten stärker, wenn der situative Druck zu
helfen schwach ist und die Kosten des Helfens hoch sind. Wenn dagegen der situative Druck stark
ist, tritt der Einfluss der Persönlichkeit in den Hintergrund. Wenn die Kosten gering sind, wird proso-
ziales Verhalten als Routinehandlung unter der Kontrolle situativer Anforderungen ausgeführt. Wich-
tige weitere Dimensionen sind die Art der jeweiligen Situation, die Stimmungslage des Menschen
und der Druck, der in der jeweiligen Situation auf die Person entsteht. 445
6.3.2 Geschlecht
Es zeigen sich durchaus Unterschiede in der Art und Weise der Hilfe zwischen Männern und Frauen.
Männer zeigen eher geschlechtsstereotype Verhaltensweisen, vom Typ nichtroutinemäßiger, riskan-
ter Handlungen. Sie zeigen also eher „ritterlich-heroisches“ Hilfeverhalten, zum Beispiel in den Fluss
springen, um einem Ertrinkenden zu helfen oder ein Unfallopfer aus einem Auto ziehen. Demge-
genüber zeigen Frauen eher Hilfeverhalten, welches von ihrem Geschlechtsstereotyp erwartbar
wäre: routinemäßige, persönliche Hilfe, welche sie eher in langfristigen engen Beziehungen zeigen.
Sie kümmern sich eher um die persönlichen und emotionalen Bedürfnisse anderer in Situationen,
die mehr Hingabe erfordern. Das sind Situationen wie ehrenamtliche Pflegeunterstützung im Alten-
heim, Kochen für Obdachlose und Ähnliches. Allerdings geht man mittlerweile davon auch, dass
diese gefundenen Unterschiede zum Teil auch auf die Art und Weise der Forschung und der durch-
geführten Experimente zum Hilfeverhalten zurückzuführen sind.446
6.3.3 Kultur
Im bisherigen Verlauf dieses Studienbriefes haben Sie an vielen Stellen schon erfahren, dass in
westlichen Kulturen eher Individualismus vorherrscht und dass die Menschen hier eher zu einer
unabhängigen Selbstsicht neigen. In östlichen Kulturen dagegen dominiert Kollektivismus und es
besteht die Tendenz zu interdependenter Selbstsicht. Die interdependente Sicht führt zu mehr
Bindung, da die Menschen sich stärker über ihre sozialen Beziehungen definieren. Das hat zur
Konsequenz, dass sie eher jemandem helfen. Allerdings gilt kulturübergreifend, dass Personen,
die einer Gruppe angehören, sich gegenseitig eher helfen, als unbekannten Menschen geholfen
wird oder gar Menschen, die einer Gruppe angehören, die abgelehnt wird. Menschen gegenüber,
die wir zu unserer Eigengruppe zählen, empfinden wir eher Empathie und helfen. Menschen aus
einer Fremdgruppe helfen wir hingegen nur, wenn unsere Kosten-Nutzen-Bilanz positiv aus-
fällt.447
6.3.4 Stimmung
Eine positive Grundstimmung sorgt für erhöhte Hilfsbereitschaft. Denken Sie noch einmal an das
Beispiel mit dem alten Herrn an der Kasse, das Sie im Zusammenhang mit Empathie kennenge-
lernt haben. Stellen Sie sich nun vor, dass Sie prima gelaunt sind und alle Zeit der Welt haben,
wenn Sie die Situation beobachten oder total genervt sind, weil Sie vorher eine Diskussion mit
Ihrem Chef hatten, in der Ihre Beförderung abgelehnt wurde. In welcher Situation sind Sie eher
geneigt, Empathie zu empfinden und dem alten Herrn zu helfen? Vermutlich in der ersten. Für
diesen Einfluss positiver Stimmung auf die Bereitschaft zu prosozialem Verhalten sind im Wesent-
lichen vier Gründe verantwortlich448:
l Eine positive Grundstimmung führt zur Betrachtung des Lebens von der Sonnenseite aus,
d.h., positive Aspekte stehen im Fokus der Wahrnehmung.
l Gute Taten tragen dazu bei, eine positive Stimmung zu erhalten.
l Es verdirbt die gute Laune, wenn ich helfen sollte und dies unterlasse.
l Gute Laune führt zu erhöhter Selbstaufmerksamkeit. Hohe Selbstaufmerksamkeit hat zur
Folge, dass wir verstärkt darauf achten, unseren inneren Werten und Überzeugungen ge-
mäß zu handeln. Altruismus ist ein erstrebenswertes, sozial anerkanntes Handeln und da-
her wird positive Stimmung die Bereitschaft zu prosozialem Verhalten verstärken.
Was passiert, wenn negative Stimmung dominiert? Bedeutet das, dass die Bereitschaft Hilfever-
halten zu zeigen, sinkt? Nicht unbedingt. Ist die negative Grundstimmung von Schuldgefühlen
verursacht, so wird die Bereitschaft für prosoziales Handeln verstärkt, denn eine gute Tat sorgt
gewissermaßen für ein Gegengewicht gegenüber der „schlechten“ Tat. So zeigt eine Studie, dass
Kirchgänger vor der Beichte eher Geld für einen guten Zweck spenden als nach der Beichte. Ver-
mutlich, weil die Beichte die Schuldgefühle reduziert. Eine depressive Grundstimmung oder Trauer
kann Hilfsbereitschaft verringern, sie kann jedoch ebenfalls positive Auswirkungen haben, wenn
die Aussicht besteht, dass sich durch das Helfen auch die eigene Stimmungslage bessern kann.
Hier kommt wieder die Theorie des sozialen Austauschs zum Tragen: Je höher die angenommene
„Belohnung“, desto höher die Wahrscheinlichkeit prosozialen Verhaltens.449
Machen Sie ein Gedankenexperiment. Stellen Sie sich vor, Sie laufen in der Fußgängerzone, dann
stolpern Sie, fallen hin und können kaum aufstehen. Sie haben sich den Knöchel verstaucht. Ge-
hen Sie nun davon aus, dass die Fußgängerzone sich in einer ländlichen Kleinstadt befindet und
im Kontrast dazu in einer Großstadt. Was schätzen Sie, wo wird Ihnen eher geholfen?
Haben Sie vermutet, dass Sie im ländlichen Umfeld eher geholfen bekommen? Dann haben Sie
Recht. Hilfsbereitschaft scheint in ländlichen Gegenden stärker vertreten als in urbanen Gebieten.
Hierfür gibt es zwei mögliche Erklärungen450.
Eine mögliche Erklärung ist, dass das Aufwachsen im ländlichen Umfeld für die Entwicklung einer
altruistischen Persönlichkeit förderlicher ist, als das Aufwachsen in urbanem Umfeld. Das würde
bedeuten, dass der Geburtsort ausschlaggebend wäre für eine nachhaltig gegebene Hilfsbereit-
schaft. Das hätte zur Konsequenz, dass jemand, der auf dem Land aufgewachsen ist, lebenslang
und umgebungsunabhängig stärker zu prosozialem Verhalten neigen würde als jemand, der in
der Großstadt aufgewachsen ist.
Der zweite mögliche Erklärungsansatz geht davon aus, dass der Aufenthalt in urbanem Umfeld
für Reizüberflutung sorgt. Die Menschen müssen dafür sorgen, sich zu schützen und bleiben des-
halb eher alleine und ziehen sich mehr in sich selbst zurück. Die Gültigkeit dieser „Urban-Over-
load“-Hypothese hätte zur Konsequenz, dass auch ein Großstadtbewohner im ländlichen Umfeld
eher helfen würde und umgekehrt der Landbewohner im städtischen Umfeld weniger.
Die Forschung stützt eher die zweite Erklärung – die „Urban-Overload-Hypothese“. Es scheint rele-
vanter, wo ein Ereignis stattfindet als wo ein Mensch herkommt.451 Besonders relevant scheint die
Bevölkerungsdichte: Je höher diese ist, desto unwahrscheinlicher das Angebot von Hilfe. Je mehr
Menschen auf einem Raum zusammen sind, desto höher ist die Reizdichte und desto eher versuchen
Menschen, sich in sich selbst zurückzuziehen und Details der Umwelt nicht mehr wahrzunehmen.
Grundsätzlich sind Menschen hilfsbereiter, die längere Zeit an einem Ort wohnen und dort sess-
haft sind. Dadurch entwickelt sich eine größere Bindung an die Gemeinschaft und mehr Interde-
pendenz mit den Nachbarn, was zu einer größeren Hilfsbereitschaft führt.452
Im Alltäglichen wird sich Hilfe eher zwischen Nahestehenden und Bekannten abspielen, als zwi-
schen Fremden. Deshalb ist die Art der Beziehung in der Betrachtung ebenso wichtig. Grundsätz-
lich lassen sich zwei Arten von Beziehungen unterscheiden:
In Gemeinschaftsbeziehungen wird keine Bilanz gezogen, es wird nur darauf geachtet, welche
Hilfe gerade benötigt wird. In Austauschbeziehungen ist das anders. Hier wird abgewogen und
es entstehen Konflikte, wenn ein Ungleichgewicht entsteht.
Grundsätzlich kann man sagen: Je besser eine Person bekannt ist, je näher man sich steht, desto
höher ist die Wahrscheinlichkeit von Hilfeleistung. Das heißt dem Partner, der Familie oder Freun-
den wird eher geholfen als Fremden. Die Zusammenhänge dazu zeigt nachfolgende Grafik.
Eine Ausnahme gibt es hierbei jedoch: erfolgt die Hilfeleistung in einem Bereich, der für unsere Selbst-
achtung wichtig ist, dann helfen wir eher Fremden als Freunden – weil es uns schmerzt, wenn ein
enger Freund in einem Bereich, der für unsere Selbstachtung wichtig ist, besser abschneidet, als
wir.453 Wie schon der Sänger Morrissey sang „We hate it when our friends become successful”.
Letztendlich gehört zu den situativen Einflussfaktoren, wann Menschen helfen, auch die Anzahl
der Zuschauer und der sogenannte Zuschauereffekt. Dieses ist jedoch auch unter dem Aspekt der
unterlassenen Hilfe betrachtet worden, weshalb wir diesen situativen Einflussfaktor im nachfol-
genden Kapitel extra betrachten.
Eng verbunden mit den situationalen Determinanten des Hilfeverhaltens, sind die Forschungen zu
der Frage „Warum helfen Mensch nicht?“. Bisher haben Sie Hintergründe und Bedingungen er-
fahren, warum Menschen hilfsbereit sind. Doch das ist nur eine Seite der Medaille. Genauso gibt
es Situationen wie schwere Verkehrsunfälle oder brutale Übergriffe in der S-Bahn, wo zahlreiche
Menschen tatenlos zuschauen und nichts tun. Einer dieser tragischen Fälle hat die Sozialpsycho-
logie besonders zu intensiver Forschung angeregt. Es handelt sich um den Fall der New Yorkerin
Kitty Genovese.
Die junge Frau wurde von einem Gewalttäter brutal niedergestochen, während dies 38 Zeugen
mitbekamen. Ihre verzweifelten Schreie müssen sich deutlich vom Alltagslärm der Müllabfuhr und
des Autohupens abgehoben haben. Doch anstatt einzugreifen oder die Polizei zu rufen, sahen
diese anderen Menschen mit Aufmerksamkeit zu. Und das ganze 35 Minuten lang. Denn so lange
dauerte dieser gewalttätige Vorfall.454
Bibb Latanè und John Darley, zwei Sozialpsychologen, die zur Zeit des Genovese-Mordfalls an
Universitäten lehrten, versuchten die Geschehnisse sozialpsychologisch zu erklären.455 Bei ihrer
Analyse des Falls kamen die beiden zu der Erkenntnis, dass es offenbar die Zahl der Zuschauer
war, die dieses Verbrechen ermöglichte. Paradoxerweise, so dachten sie, könnte die Wahrschein-
lichkeit, dass einer der Zuschauer helfend eingreift, umso geringer sein, je mehr Zuschauer es
gibt.456 In einer Reihe inzwischen klassischer Versuche fanden Latanè und Darley heraus, dass eine
große Anzahl von Menschen, wenn es um Hilfeleistung geht, keine Sicherheit bietet, sondern
dass sie eher die Wahrscheinlichkeit verringern, dass einer der Anwesenden eingreifen wird.457
Eines dieser klassischen Experimente simulierte die Situation, dass ein Student einen Anfall bekam.
Bei dieser Studie saßen die Teilnehmer in Einzelkabinen und nahmen (über eine Gegensprechan-
lage) an einer Gruppendiskussion mit Studierenden in anderen Kabinen über das Leben im Col-
lege teil. Einer der anderen Studierenden hatte plötzlich einen epileptischen Anfall, rief um Hilfe,
würgte und verstummte schließlich. Es gab allerdings nur einen wirklichen Probanden bei der
Studie. Die anderen „Teilnehmer“, einschließlich desjenigen mit dem Anfall, waren aufgezeich-
nete Stimmen. Der Zweck der Studie war, herauszufinden, ob der echte Teilnehmer versuchen
würde, dem Anfallopfer zu helfen, indem er versuchte, ihn zu finden oder den Versuchsleiter zu
rufen, oder ob er, wie Kitty Genoveses Nachbarn, einfach dasitzen und gar nichts tun würde. Wie
Latanè und Darley angenommen hatten, hing das Ergebnis davon ab, wie viele Zeugen der Notfall
scheinbar hatte. Wenn der Proband glaubte, er sei der einzige, der den Anfall hören konnte, half
er in den meisten Fällen (85%) innerhalb von 60 Sekunden. Nach zweieinhalb Minuten hatten
100% derjenigen, die glaubten, der einzige Zeuge zu sein, Hilfe angeboten. Im Gegensatz dazu
halfen die Probanden, wenn sie glaubten, es höre noch ein weiterer Studierender zu, weniger oft
– nur 62% innerhalb von 60 Sekunden.458
Wie in der nachfolgenden Abbildung zu sehen ist, setzte die Hilfe später ein, wenn es zwei Zuhö-
rer gab und erreichte nie 100%, nicht einmal nach sechs Minuten, als das Experiment beendet
wurde. Schließlich fiel der Prozentsatz von Probanden, die halfen, noch dramatischer, wenn sie
glaubten, es gebe außer ihnen noch vier andere Zuhörer. Nur 31% halfen dann innerhalb der
ersten 60 Sekunden und nach sechs Minuten waren es erst 62%.
454 Vgl. Gansberg (1964); zur kritischen Einordnung & Relativierung der Geschehnisse siehe Jonas et al. (2014), S. 367
455 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 367ff.
456 Siehe dazu auch Latanè und Darley (1970)
457 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 368f.
458 Vgl. Darley und Latanè (1968), S. 377ff.
Sozialpsychologie 147
Abbildung 53: Eingreifen der Zuschauer in Abhängigkeit der Anwesenheit anderer und der Zeit
(Quelle: nach Aronson et al., 2014, S. 412 und Darley und Latanè, 1968, S. 380)
Dutzende anderer Studien, sowohl im Labor als auch im Feld, haben dasselbe ergeben: Je größer
die Anzahl der Zuschauer bei einem Notfall, desto geringer die Wahrscheinlichkeit, dass einer von
ihnen dem Opfer hilft – ein Phänomen, das als Zuschauer- oder Bystander-Effekt bezeichnet wird.
Dieser Effekt ist damit einer der stabilsten und am zuverlässigsten replizierten Befunde in der
Sozialpsychologie.459 Warum verhalten sich Menschen weniger hilfsbereit in der Gegenwart an-
derer Menschen? Latanè und Darley entwickelten ein 5-schrittiges Prozessmodell des Eingreifens
in Notfallsituationen (siehe Abbildung 53).460 Folgende fünf Schritte laufen ab, bevor in einer
Notsituation eingegriffen wird:461
l Es ist zunächst wichtig, dass ein Ereignis überhaupt bemerkt wird. Menschen, die in Eile sind,
nehmen beispielsweise weniger Umfeldinformationen wahr, als Menschen, die nicht in Eile
sind. So kann es passieren, dass sie die Bedürftigkeit eines Menschen gar nicht registrieren.
l Wird eine Situation bemerkt, so stellt sich die Frage, wie sie interpretiert wird. Wird Hilfe be-
nötigt oder handelt es sich um harmloses Geschehen? Braucht ein Mensch, der zusammen-
gesunken in einem Hauseingang liegt, Hilfe oder ist es „nur“ ein betrunkener Obdachloser,
der seinen Rausch ausschläft? Hier greift der Prozess der pluralistischen Ignoranz (siehe unten).
l Nachdem die Situation bemerkt und festgestellt wurde, dass Hilfe notwendig erscheint, ist
der nächste Schritt die Frage nach der Verantwortlichkeit. Auch hier spielt die Anzahl der
Zuschauer eine wichtige Rolle. Je weniger potentielle Helfer zur Verfügung stehen, desto
höher ist die eigene Verantwortlichkeit. Je mehr Personen verfügbar sind, desto geringer
die eigene Verantwortlichkeit, denn es könnten auch andere helfen. Hier greift der Prozess
der Verantwortungsdiffusion (siehe unten).
l Gehen wir davon aus, jemand übernimmt die Verantwortung zur Hilfestellung, so ergibt
sich die nächste Frage: Welche Art von Hilfe ist notwendig? Nachdem diese Frage beant-
wortet ist, ist noch zu klären, ob der Betreffende die Fähigkeit hat, die geforderte Hilfe zu
leisten. Wenn eine Herzmassage notwendig ist, kann nur helfen, wer weiß, wie diese geht.
Sie sehen, Hilfeleistung ist nicht so einfach und es sind viele Kriterien zu berücksichtigen.
Auf jeder dieser Stufen, kann das Eingreifen einer Person aus den unterschiedlichsten Gründen
verhindert werden, aber es existieren drei psychologische Hemmungsprozesse, die explizit mit der
hohen Zuschaueranzahl zusammenhängen:462
Als erster Hemmungsfaktor wirkt die pluralistische Ignoranz – das passive Beispiel anderer Zeugen.
Notsituationen ereignen sich eher selten und sind von ihrer Natur her einzigartig. Die Zuschauer
sind sich nicht sicher, ob es ein Notfall ist und wie sie reagieren sollen. Weil Zuschauer zögern und
herauszufinden versuchen, was zu tun ist, werden sie – unabsichtlich – gegenseitig zu Modellen
ihrer Passivität. Weil ein Notfall plötzlich eintritt und verwirrt, erstarren die Zuschauer, blicken um
sich und lauschen mit ausdruckslosen Gesichtern, während sie versuchen herauszubekommen, was
vor sich geht. Wenn sie sich dann gegenseitig anschauen, sehen sie scheinbar einen Mangel an
Besorgnis bei allen anderen. Daraus ergibt sich ein Zustand pluralistischer Ignoranz. Die Zuschauer
kommen zu der Annahme, dass die Situation harmlos ist und die angemessene Reaktion in der
Situation darin besteht, nichts zu tun. Offenbar ist alles in Ordnung, weil niemand betroffen wirkt.
Es entwickelt sich eine Situation, in der Passivität zur sozialen Norm wird.
462 Vgl. Latanè und Darley (1970), S. 31ff.; Jonas et al. (2014), S. 371ff.; Fischer et al. (2014), S. 49f.
Sozialpsychologie 149
Der zweite und sicherlich wichtigste Prozess ist die Verantwortungsdiffusion. Dies ist die Neigung
von Menschen, die Verantwortung auf alle anderen Anwesenden zu verteilen. Dadurch sinkt die
empfundene Verantwortung, die jeder einzelne wahrnimmt, je mehr Menschen anwesend sind.
Schließlich gibt es noch als dritten Faktor die Furcht, sich zu blamieren bzw. die Bewertungsangst.
Die Anwesenheit anderer Zuschauer löst Gefühle des Unbehagens aus, weil die anderen zu mögli-
chen Beobachtern werden, wenn man selbst eingreift. Die sich daraus ergebende Angst negativ
bewertet zu werden oder sich zu blamieren ist ein hemmender Faktor für eine Intervention, speziell
in Situationen, in denen Zuschauer Zweifel daran haben, ob sie in der Lage sind, erfolgreich einzu-
schreiten. Denn sie sind in diesem Fall der Meinung, dass sie nicht die Fähigkeit haben, in angemes-
sener Weise zu handeln. Mögliche Helfer können auch Furcht davor haben, sich zu blamieren, wenn
sie eine Situation irrtümlich als Notsituation interpretieren, obwohl dies gar nicht der Fall ist. Wenn
man versucht eine Handgreiflichkeit zu unterbinden, hinterlässt es ein Gefühl, etwas Dummes ge-
macht zu haben, wenn sich herausstellt, dass sich die beiden Beteiligten einen Spaß erlaubt haben.
Der Bystander-Effekt konnte in vielen Situationen gezeigt werden und ist sogar nicht nur auf
Notsituation beschränkt, sondern tritt auch in einfachen Hilfesituationen, wie dem Aufhalten ei-
ner Tür, auf. Er wirkt besonders, wenn die Situation uneindeutig ist und ist in städtischen Gebieten
stärker. Er verringert sich, wenn die anwesenden Personen befreundet und nicht fremd sind und
wenn sie über adäquates Wissen zum Einschreiten verfügen.463 Paradoxerweise verringert sich
der Bystander-Effekt, wenn es sich um eine gefährliche Notfallsituation handelt und ein Täter
anwesend ist und wenn das Einschreiten mit hohen physischen Kosten verbunden ist. Dies ist mit
den Begriffen Zivilcourage, Heldentum und gesellschaftliche Verantwortung verbunden. 464
Ebenso wird der Bystander-Effekt durch die Menge der anwesenden Personen beeinflusst – je
mehr Anwesende, desto größer ist er.465
Übungsaufgaben zu Kapitel 6
026 Erläutern Sie den Zusammenhang von Reziprozitätsnorm und prosozialem Verhalten.
027 Erklären Sie, inwiefern sich die eigene Stimmung darauf auswirkt, ob man prosoziales Ver-
halten zeigt.
028 Erläutern Sie kurz die fünf Entscheidungsschritte, bis eine Person Hilfe leistet. Diskutieren
Sie, ob eine breite öffentliche Aufklärung zu diesem Thema das Hilfeverhalten steigern
würde.
029 Das Phänomen der Verantwortungsdiffusion trägt dazu bei, dass Menschen im Notfall
nicht eingreifen. Erläutern Sie den Begriff. Stellen Sie dar, wie sich aus Ihrer Sicht der
Hemmfaktor der Verantwortungsdiffusion überwinden lässt.
030 Nennen Sie die 5 Persönlichkeitsfaktoren, die eine prosoziale Persönlichkeit auszeichnen.
Diskutieren Sie die Frage, ob in einer Situation mit pluralistischer Ignoranz dieses Persön-
lichkeitsmerkmal oder der Situationseinfluss überwiegt.
Sozialpsychologie 151
Lernziele
l wissen Sie, was Gruppen sind und warum sich Menschen diesen anschließen;
l können Sie den Begriff „sozialer Einfluss“ erläutern und wissen, welchen Einfluss die An-
wesenheit anderer Menschen auf Verhalten hat;
l kennen Sie die Bedingungen, unter denen Mehrheiten bzw. Minderheiten Einfluss auf die
Mitglieder einer Gruppe ausüben;
l kennen Sie Mechanismen, um bewusst Einfluss auf andere Menschen auszuüben;
l wissen Sie, ob Gruppen bessere Entscheidungen treffen;
l wissen Sie, wie Konflikte entstehen und gelöst werden können.
Es ist fast schon trivial zu sagen: der Mensch ist ein soziales Wesen. Unser gesamtes Leben spielt sich
in der Gemeinschaft und in verschiedenen Gruppen ab. Die Isolation von anderen wird als Bestrafung
und Folter benutzt. Wie wir bereits im Kapitel 1.3.1 „Der Einfluss von Gruppendruck: Der Asch-Effek“
bei den Experimenten von Solomon Asch und dem Konformitätsdruck erfahren haben, ist es ein
grundlegendes menschliches Bedürfnis, Gruppen anzugehören. In unserer früheren Evolutionsge-
schichte war dies sicherlich überlebensnotwendig. Menschen, die Bindungen eingingen und Arbeits-
teilung betrieben, hatten eine größere Überlebenschance, so dass sich die Gruppenzugehörigkeit als
ein grundlegendes, angeborenes Bedürfnis entwickelte, welches wir in allen Gesellschaften wieder-
finden. Wir sind überall motiviert Beziehungen einzugehen, achten auf unseren Status in der Gruppe
und achten auf jedes Anzeichen, was auf Ablehnung schließen lässt. Gruppen sind ebenso wichtig
für unser Selbst und für unsere Identität. Dabei neigen wir eher dazu uns kleineren Gruppen anzu-
schließen, weil wir dort sowohl die positive Gruppenfunktion der Zugehörigkeit erleben, als auch die
Möglichkeit haben uns von anderen abzugrenzen und etwas Besonderes zu sein.466
l Ihre Größe: Üblicherweise betrachten wir aufgrund unserer Definition von Gruppe Grup-
pengrößen von 3 bis 6 Mitgliedern; darüber hinaus kann man nicht mehr von einer Inter-
aktion sprechen.
l Gruppen weisen gewöhnlich bezüglich Alter, Geschlecht, Überzeugung und Meinung eine
hohe Übereinstimmung auf, sind also relativ homogen. Zum einen liegt es daran, dass sich
eher ähnliche Menschen in Gruppen zusammenschließen. Zum anderen agieren Gruppen
aber auch dergestalt, dass Homogenität eher unterstützt wird.
l Gruppen haben soziale Normen, die einen deutlichen Einfluss auf unser Verhalten ausüben.
Diese Normen regeln, welches Verhalten akzeptabel ist und führen durch Gruppendruck
dazu, dass sich Mitglieder dementsprechend verhalten. Wer häufig gegen soziale Normen
verstößt, wird von der Gruppe gemieden und letztendlich ausgeschlossen.
l Gruppen haben ebenso klar definierte soziale Rollen, also gemeinsame Erwartungen an
das Verhalten der einzelnen Gruppenmitglieder.
l Gruppen unterscheiden sich in ihrem Ausmaß der Gruppenkohäsion, also des Gruppenzu-
sammenhaltes. Damit sind all die Aspekte gemeint, die Gruppenmitglieder aneinanderbin-
den. Eine hohe Gruppenkohäsion kann einerseits bei Aufgaben, die eine enge Kooperation
benötigen, bessere Leistungen hervorbringen, andererseits jedoch auch eine optimale Leis-
tung verhindern, wenn die Aufrechterhaltung einer guten Beziehung zwischen den Grup-
penmitgliedern wichtiger als die Erarbeitung einer guten Lösung ist.
7.2 Die Entstehung von Gruppen und die Wahrnehmung der Gruppenzugehörig-
keit
Grundsätzlich tendieren Gruppen dazu, andere Gruppen systematisch abzuwerten und mit diesen
zu rivalisieren. Häufig werden zur Erklärung die Knappheit an zu verteilenden Ressourcen ange-
führt, die zu Konflikten und Vorurteilen führt. Allerdings lassen sich die Verhaltensweisen des
Abwertens und Rivalisierens auch erklären, wenn keine erkennbaren Interessenkonflikte vorhan-
den sind. Gruppen sind bestrebt, sich von anderen Gruppen positiv abzuheben. Dies nennt man
positive soziale Distinktheit. Aus diesem Grund werten sie die eigene Gruppe auf und die andere
Gruppe ab. Ursächlich ist, dass wir zum einen unseren Selbstwert aus einer Gruppenidentität
ableiten und zum anderen unseren Selbstwert steigern möchten – je besser unsere Gruppe nun
im Vergleich zu anderen Gruppen dasteht, desto besser ist es für unseren Selbstwert.468
Die Identität eines Menschen bewegt sich nach der Theorie der sozialen Identität469 auf einem
Kontinuum von personaler Identität bis hin zur sozialen Identität. Die personale Identität enthält
all das Wissen, was ich über die eigene Person habe: Fähigkeiten, Charakter, Persönlichkeit, Intel-
ligenz usw. Dieses Wissen formt sich aus dem Vergleich mit anderen Personen. Auf der anderen
Seite meiner Identität steht die soziale Identität, als die Wahrnehmung meines Selbst als ein Teil
einer Gruppe. Die Vergleiche finden hier also auf Gruppenebene statt: meine Bezugsgruppe wird
mit der anderen und deren Eigenschaften verglichen. An dieser Stelle passiert der Aufwertungs-
prozess der eigenen Gruppe um meinen Selbstwert zu steigern. Je nach situativen Kontext befin-
den wir uns also in einem Wir-Modus, bei dem wir die Mitglieder der eigenen und der Fremd-
gruppe homogener wahrnehmen als sie tatsächlich sind, und einem Modus, wo die individuellen
Merkmale im Vordergrund stehen.470
Mit der Theorie der sozialen Identität lassen sich demnach der soziale Wettbewerb zwischen Grup-
pen, grundlegende sozialpsychologische Prozesse wie Vorurteile, Rassismus und Abwertung an-
derer Gruppen, aber auch das Verhalten in Organisationen verstehen. Organisationen sind große
Gruppen von Menschen, welche häufig aus vielen Untergruppen (Abteilungen, Bereichen) beste-
hen und wo es verschiedene wahrgenommene soziale Identitäten gibt.471 Die Abwertung der
Fremdgruppen alleine fördert schon Feindseligkeiten zwischen Gruppen, so dass hieraus auch
schon Konflikte und Aggressionen entstehen können, ohne dass ein materieller Interessenskon-
flikt zwischen den Gruppen vorliegt.472
468 Vgl. Tajfel & Turner (1986), S. 7ff; Vgl. Fischer et al. (2014), S. 119ff.
469 Vgl. Tajfel & Turner (1986), S. 8f.
470 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 122ff.
471 Vgl. Fischer et al. (2014), S. 124ff.
472 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 349
Sozialpsychologie 153
Um Mitglied einer Gruppe zu werden, ist es entscheidend, dass man sich mit den Gruppennormen
vertraut macht, diese verinnerlicht und in das eigene Verhaltensrepertoire übernimmt. Um Mit-
glied einer Gruppe zu sein ist es notwendig, die charakteristischen Merkmale einer Gruppe zu
teilen. Da alle Gruppenmitglieder diese grundlegenden Gruppennormen verinnerlicht haben, re-
sultiert daraus auch das gruppenspezifische normorientierte Verhalten. Dadurch lassen sich auch
Konflikte zwischen Gruppen über lange Zeit aufrechterhalten und tradieren.473
Selbstverständlich haben Gruppen nicht nur Einfluss untereinander oder auf unsere Identität, son-
dern auch auf unser individuelles Verhalten im Gruppenkontext: Wir verhalten uns anders, wenn
andere um uns herum sind. Erste Ansätze lieferte dazu 1895 Gustave Le Bon mit seinem Werk
„Psychologie der Massen“474. Die Ideen von Le Bon wurden von der nachfolgenden Forschung auf-
griffen, jedoch wird der Einfluss von Gruppen im Vergleich zu Le Bon weniger negativ gesehen. Wir
werden darauf jedoch noch einmal zurückkommen. Hauptsächlich stehen in der modernen Sozial-
psychologie die reine Anwesenheit anderer sowie der normative und informative Einfluss im Fokus.
Unter sozialem Einfluss verstehen wir generell die Wirkung einer Person oder einer Personen-
gruppe auf die Gefühle, Gedanken und das Verhalten einer anderen Person oder Personen-
gruppe. Dabei muss die Gruppe oder die Person nicht anwesend sein, sondern kann auch vorge-
stellt sein.475 Sozialer Einfluss ist uns suspekt, weil wir nicht genau wissen, wie er passiert und weil
wir das Gefühl haben, ihn nicht kontrollieren zu können. So haben wir z.B. Angst, dass wir zum
Kauf eines Produktes verführt werden, das nicht wirklich sinnvoll und nützlich für uns ist oder
dass unsere Kinder zum Drogenkonsum verführt werden oder unser Partner unterwegs mit seinen
Freunden zu viel trinkt. Wenn Sie nachdenken, fallen Ihnen sicherlich noch weitere Beispiele ein.
Daher wollen wir uns in diesem Kapitel mit den Faktoren beschäftigen, die sozialen Einfluss er-
möglichen. Sozialer Einfluss ist sicherlich im Zusammenhang zum Thema „Gruppen“ zu sehen,
weshalb es hier auch eingeordnet wurde. Sie werden jedoch in diesem Kapitel auch Verbindungen
zu den Themen „Einstellungsänderung“ und zur „Theorie der kognitiven Dissonanz“ erkennen.
Alleine die bloße Anwesenheit anderer Personen kann einen Effekt auf unser Verhalten ausüben,
ohne dass wir mit ihnen interagieren. Es lassen sich hier zwei Effekte unterscheiden:476
l Soziale Erleichterung meint, dass die Anwesenheit anderer Personen die Ausführung einer
Aufgabe erleichtert und so zu besseren Leistungen führt. Dies trifft bei einfachen oder gut
geübten Aufgaben zu und wenn die Einzelleistung messbar ist.
l Soziale Hemmung meint, dass die Anwesenheit anderer Personen die Ausführung einer
Aufgabe erschwert und so zu schlechteren Leistungen führt. Dies trifft bei schwierigen
oder ungeübten Aufgaben zu.
Diese Effekte wurden in der „drive theory of social facilitation“477 durch die Wirksamkeit physio-
logischer Faktoren erklärt. Die Anwesenheit anderer Personen führt zu physiologischer Erregung
Zum einen geht man davon aus, dass die Anwesenheit anderer unsere Aufmerksamkeit bindet. Die
„distraction-conflict-theory“ geht davon aus, dass die Anwesenheit anderer die Aufmerksamkeits-
leistung beeinträchtigt und somit ein Aufmerksamkeitskonflikt entsteht: andere Personen werden
beachtet und binden so Aufmerksamkeitskapazität, die dann zur Aufgabenbewältigung nicht mehr
zur Verfügung steht. Dieser Aufmerksamkeitskonflikt steigert wiederum unsere Erregung.479
Ein weiterer wirksamer Aspekt sind die Erwartung einer Bewertung der jeweiligen Leistung durch
andere und die Bewertungsangst. Die oben genannten Effekte zeigen sich verstärkt, wenn das
Individuum davon ausgeht, dass die anwesenden Personen die gezeigte Leistung bewerten wer-
den und wenn die Leistung überhaupt bewertbar ist.480 So zeigt sich soziale Erleichterung oder
Hemmung auch bei der elektronischen Überwachung von Arbeitsleistungen. Bei Arbeitern, denen
ihre Tätigkeit leichtfiel, stieg unter Überwachung die Leistung an, bei Arbeitern, denen die Tätig-
keit schwerfiel, sank die Leistung ab bzw. zeigte sich ohne Überwachung bessere Leistung.481
Ein weiterer Effekt durch die bloße Anwesenheit anderer ergibt sich aus der Tatsache, dass wir
manchmal mit unserer Leistung in der Gruppe nicht mehr identifizierbar sind und quasi in „in der
Gruppe untergehen“. Hier kommt es zu einem gegenteiligen Effekt im Vergleich zur sozialen Er-
leichterung, dem sogenannten sozialen Faulenzen. Wenn die individuelle Leistung nicht mehr iden-
tifizierbar ist, entspannen wir uns und es kommt zu einem Abfall der Leistung bei einfachen Aufga-
ben. Es kommt jedoch aufgrund der Entspannung, wenn Einzelleistung nicht messbar ist, zu einer
Leistungssteigerung bei schwierigen Aufgaben. Im Übrigen neigen Männer mehr als Frauen zum
sozialen Faulenzen. Außerdem ist diese Neigung in westlichen Kulturen stärker ausgeprägt, als in
asiatischen. 482 Soziales Faulenzen kann also unter bestimmten Bedingungen zu Prozessverlusten
führen und dazu führen, dass die Gruppenleistung unter der eigentlich möglichen bleibt.483
Die folgende Abbildung zeigt nochmal zusammenfassend, wie sich die Anwesenheit anderer auf
die Leistung auswirkt.
Abbildung 55: Der Einfluss durch die Anwesenheit anderer: Soziale Erleichterung und soziales Faulenzen
(Quelle: Aronson et al., 2014, S. 320)
Lassen Sie uns noch einmal kurz zu Gustave Le Bon zurückkehren. Le Bon nimmt in seinem Werk
eine sehr negative Sicht ein und beschreibt wie einzelne Menschen in großen Menschengruppen
verschmelzen und es zu Anonymität, Gefühlsansteckung und einer unbewussten Beeinflussung
kommt. Als Teil einer großen Masse verfolgt der Einzelne dann andere Ziele und legt ein anderes
Verhalten zu Tage, als er es alleine machen würde. „Die bewusste Persönlichkeit schwindet, die
Gefühle und Gedanken aller Einzelnen sind nach derselben Richtung orientiert. Es bildet sich eine
Gemeinschaftsseele …“484. Durch die Zugehörigkeit zu einer Masse spürt der Einzelne ein Gefühl
von Macht, welches ihm gestattet sämtliche Normen und Regeln zu missachten und seine Triebe
auszuleben. Die Masse ist impulsiv, irritierbar und zeigt eine übersteigerte Emotionalität.485 Zwar
hat sich die moderne Forschung von dieser allzu negativen Sicht entfernt, jedoch existieren durch-
aus Effekte, wie Le Bon sie beschrieb.
Das Untertauchen in einer großen Masse kann dazu führen, dass der Einzelne normale Verhaltens-
beschränkungen fallen lässt. Dies nennt man Deindividuation. In einer solchen Situation kann der
Mensch Taten begehen, von denen keiner gedacht hätte, dass er dazu fähig ist. Beispiele von Lynch-
justiz, Gewaltexzessen bei Massenveranstaltungen, wie Fußballspielen oder Rockkonzerten oder
Kriegsverbrechen, wie das Massaker von My Lai, wo amerikanische Soldaten hunderte wehrlose
Frauen und Kinder töteten, belegen dies auf erschreckende Weise. Menschen fühlen sich dann für
ihre Handlungen nicht mehr verantwortlich, weil die Wahrscheinlichkeit, dass ein einzelnes Indivi-
duum herausgriffen wird sehr gering ist. Deindividuation führt aber nicht per se zu Gewaltexzessen
oder aggressivem Verhalten, sondern dazu, dass bevorzugt die Gruppennormen befolgt werden
und andere Normen, wie Gesetze und Regeln, in den Hintergrund treten. Es liegt also auch an der
spezifischen Gruppennorm, was aus einer solchen Situation der Deindividuation wird. Ein möglicher
Ansatzpunkt um der Deindividuation und deren Folgen zu begegnen ist die Individualisierung der
beteiligten Personen: sprechen Sie gezielt ganz bestimmte Personen an, nach Möglichkeit mit Na-
men oder allem, was dazu führt, dass sie als Individuum aus der Masse herausgelöst werden.486
Eine andere Form der Deindividuation, dem anonymen Versinken in der Masse, sehen wir regel-
mäßig, wenn wir in sozialen Netzwerken unterwegs sind oder die Kommentare von Onlinezeit-
schriften oder Ähnliches uns anschauen. Auch hier werden Verhaltensweisen gezeigt, die man
jenseits der Anonymität so wahrscheinlich nicht erleben würde.487
Es lässt sich nicht bestreiten, dass Einflüsse stattfinden und Sie können sich sicherlich alle an Situ-
ationen erinnern, in denen es einfach war, sich der Mehrheit anzupassen oder wie schwierig es
ist, sich einer Mehrheit zu widersetzen, sich „alleine auf weiter Flur“ zu fühlen. Daher soll hier
dargestellt werden, wie sich Mehrheiten auf die Meinungsbildung und das Verhalten auswirken.
Mehrheiten üben einen starken Einfluss auf Verhalten und Meinung aus. Häufig entsteht Druck,
sich Mehrheiten anzupassen. Es sind hierbei zwei grundlegende Prozesse unterscheidbar.
Wir sprechen von informativem sozialen Einfluss, wenn wir uns am Verhalten anderer orientieren,
um korrekte Informationen zu sammeln oder um unsere Unsicherheit zu reduzieren. Informativer
Einfluss beruht auf dem Informationswert des Verhaltens der Mehrheit und hat insbesondere
dann große Wirkkraft, wenn Situationen mehrdeutig sind und das Bedürfnis nach korrektem Ver-
halten besteht. Es wird dann nach situativen Merkmalen gesucht, die Hinweise auf angemessenes
Verhalten geben könnten.488
Nehmen Sie an, Sie sind in einem Museum im Ausland. Sie sprechen leider die Sprache des Landes
nicht und verstehen nun deshalb auch nicht, was der Museumswärter, der gerade hereinkommt,
mit wichtiger Mine verkündet. Galt das Ihnen? Galt das allen? War es vielleicht ein Hinweis, dass
das Museum bald schließt? Sie schauen sich um, wie die anderen sich verhalten und Sie sehen,
dass diese langsam alle den Museumsaal verlassen. ‚Ah ja, vermutlich doch der Hinweis auf die
baldige Schließung‘, denken Sie und verlassen das Museum ebenfalls. Hier kommt das Prinzip der
sozialen Bewährtheit zum Tragen. Es besagt: „Was alle machen, ist gut/richtig“. Informativer Ein-
fluss führt in der Regel zu Konversion, das heißt, die innere Überzeugung des Individuums passt
sich der Überzeugung der Mehrheit an.
Eine andere Möglichkeit, wie die Mehrheit uns beeinflussen kann, ist der normative Einfluss. Die
Wirksamkeit dieser Einflussgröße haben Sie bereits in Kapitel 1.3.1 bei der Untersuchung von
Asch zur Konformität kennen gelernt. Wie Sie sich vermutlich noch erinnern, haben sich zahlrei-
che Probanden einer offensichtlich falschen Gruppenmeinung angeschlossen. Die Probanden
wollten nicht unangenehm auffallen oder gar ausgelacht werden. Normen stellen Regeln in Grup-
pen dar. Das Einhalten der Regeln sorgt für Akzeptanz und Bestätigung in der Gruppe. Das Nicht-
Einhalten birgt die Gefahr negativer Reaktionen und Sanktionen. Von normativem sozialen Ein-
fluss sprechen wir also dann, wenn sich jemand dem Verhalten oder der Meinung der Mehrheit
anschließt, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, um anerkannt zu werden, um nicht von der
Gruppe abzuweichen und um negative Sanktionen der Gruppe zu vermeiden. Normativer Einfluss
führt häufig nicht zu Konversion, sondern zu öffentlicher Compliance. Das bedeutet, es erfolgt
äußere Anpassung an die Gruppennormen, die innere Überzeugung bleibt eine andere.489
Konformität tritt nicht in jedem Fall auf, das heißt, wir passen uns nicht immer einer Mehrheits-
meinung an, sondern das Verhalten ist von verschiedenen Faktoren abhängig:490
l Art des Urteilsgegenstandes: Es erscheint nur dann sinnvoll, sich einer Mehrheitsmeinung
anzuschließen, wenn davon auszugehen ist, dass es eine einzige richtige Lösung für eine
Situation gibt (siehe das o.g. Beispiel im Museum).
l (Persönliche) Relevanz eines korrekten Urteils: Je wichtiger ein korrektes Urteil erscheint
(etwa wegen Aussicht auf Belohnung oder Bestrafung oder wegen hoher moralischer Be-
deutsamkeit), desto höher ist der informative Einfluss und desto geringer der normative
Einfluss. Nehmen Sie an, Sie streben eine Beförderung an und befinden sich in einer Team-
sitzung, an der auch Ihr Chef teilnimmt. Es muss eine Entscheidung getroffen werden. Sie
werden sich vermutlich mit Ihrer Entscheidung der Gruppe um Ihren Chef anpassen.
l Bedeutsamkeit der Gruppenzugehörigkeit: Je wichtiger es für eine Person ist einer bestimm-
ten Gruppe anzugehören, desto höher ist deren normativer Einfluss. Denken Sie an Ju-
gendliche und die Zugehörigkeit zu einer Clique. Ist es in dieser Clique üblich viel Alkohol
zu konsumieren, so wird sich der betreffende Jugendliche vermutlich anpassen, um aner-
kannt und nicht ausgeschlossen zu werden.
l Gruppengröße: Je größer eine Gruppe, desto höher ist der normative Einfluss. Das heißt, je
mehr Personen ein Urteil abgeben, desto stärker ist die Tendenz zur Anpassung.
l Einmütigkeit der anderen: Gibt es zumindest eine Person, die eine andere Meinung als die
Gruppe vertritt, so sinken normativer und informativer Einfluss der Gruppe.
Es gibt auch die Möglichkeit, dass Einzelne oder eine Minderheitengruppe einen Einfluss auf die
Mehrheit ausüben können. Dieser Minderheiteneinfluss wird auch Innovation genannt und
kommt häufiger vor, als wir im ersten Moment annehmen würden. Gerade in der Geschichte
sehen wir, dass viele Entwicklungen und Veränderungen auf einen Einfluss von anfänglichen Min-
derheiten zurückgehen. Ein bekanntes Beispiel für Minderheiteneinflüsse aus der Politik sind die
Leipziger Montags-Demonstrationen in der damaligen DDR, bei denen eine zunächst kleine Min-
derheit von Bürgern gegen die politische Führung demonstrierte und schließlich so stark wurde,
dass durch ihren sozialen Einfluss die Staatsführung zu Fall gebracht werden konnte und die an-
gestrebte Veränderung des politischen Systems erreicht wurde.
Damit Minderheiten Einfluss gewinnen können, ist eine Konsequenz und Konsistenz in ihrem Ver-
halten von hoher Bedeutung. Das heißt, Minderheiten müssen klare Stellung beziehen und ihre
Position sowohl über die Zeit wie über verschiedene Situationen hinweg beibehalten. Denken Sie
beispielsweise an die Zunahme beim Kauf von Bioprodukten und das immer häufigere Angebot
entsprechender Produkte in normalen Supermärkten ebenso wie in speziellen Biosupermärkten.
Diese Ausweitung des Angebots war und ist nur möglich, weil eine ursprünglich ganz kleine Gruppe
von ökologisch Interessierten konsequent ihr Bedürfnis nach umwelt- und tiergerecht hergestellten
Produkten anmeldete und solche Produkte selbst zu einem höheren Preis kaufte. Der Einfluss von
Minderheiten geschieht in der Regel langfristig über den Weg des Anregens zum Nachdenken. Das
Persistieren der Minderheit und die ständige Konfrontation mit einer Minderheitenmeinung weckt
Aufmerksamkeit und führt zur Auseinandersetzung mit der Thematik. Informationen werden in der
Folge systematisch analysiert und verarbeitet. Es werden andere Alternativen als die gewohnten in
Betracht gezogen. Diesen Prozess nennt man Validierungsprozess und an dessen Ende steht dann
eine tatsächliche Einstellungsänderung, die sogenannte Konversion, und die tatsächliche Akzep-
tanz.491 Auch der Einfluss von Minderheiten unterliegt dem Einfluss mehrerer Faktoren, die neben
der Konsistenz als unabdingbarer Voraussetzung eine wichtige Rolle spielen:492
l Konsistenz: Die Minderheit muss sich ihrer Position sicher sein, an ihr festhalten und zu
diesem Thema immer dieselbe Reaktion zeigen.
l Größe der Minderheit: Je größer eine Minderheit ist, desto stärker ist auch ihr Einfluss.
Denken Sie wieder an das oben erwähnte Beispiel zur Zunahme des Angebots an Biopro-
dukten. Je mehr Menschen nachfragen, desto größer wird das Angebot und desto schnel-
ler nimmt die Angebotsvielfalt zu.
l Zügiges Gewinnen von Überläufern: Je schneller aus der Mehrheit Personen überzeugt wer-
den können und sich der Minderheitsmeinung anschließen, desto stärker ist der Einfluss
der Minderheit.
l Starke/gute Argumente: Die Argumente der Minderheit müssen einer detaillierten Analyse
standhalten, also stark und gut sein. Minderheiten beschäftigen sich häufig sehr intensiv mit
der Thematik, so dass es ihnen auch gelingt, starke und gute Argumente zu präsentieren.
l Vermeiden von (unnötigen) Widerständen: Je origineller und spannender Argumente prä-
sentiert werden, je weniger rigide und dogmatisch das Auftreten, desto überzeugender
wirkt eine Minderheit.
Maßnahmen zur bewussten und absichtlichen sozialen Einflussnahme493 werden als Judostrate-
gien bezeichnet. Judostrategien deshalb, weil sie symbolisch gesprochen darauf aus sind, eine
andere Person oder mehrere Personen „zu Fall zu bringen“, d.h. zu beeinflussen, von der eigenen
Meinung zu überzeugen, ein Ziel zu erreichen.
Das bekannteste Prinzip ist Belohnung und Bestrafung. Diese Strategie wird in der Erziehung von
klein auf angewendet, um zu erreichen, dass Kinder erwünschtes Verhalten zeigen. Die Maßnah-
men reichen von einem Eis zur Belohnung oder Fleißsternchen oder einer Kinokarte usw. bis zum
Hausarrest, zur Taschengeldkürzung, dem Fernsehverbot und Ähnlichem zur Bestrafung. Das Prin-
zip verfolgt uns durch das ganze Leben. Wir erhalten eine Gehaltserhöhung oder werden entlas-
sen, bekommen Beitragsreduzierung bei unfallfreiem Fahren oder Erhöhung, wenn wir einen Un-
fall haben; Arbeitgeber setzen Bonussysteme ein, um zu motivieren; in der Partnerschaft laden
wir zum Essen ein, schenken einen Blumenstrauß oder strafen mit Liebesentzug oder mangelnder
Präsenz. Sie erkennen die dauernde Präsenz dieser Strategien. Allerdings ist es nicht immer und
überall möglich, darauf zurückzugreifen. Sie können einen Konsumenten kaum bestrafen, weil er
Ihr Produkt nicht kauft oder einen anderen direkt belohnen, wenn er es kauft. Auch können Sie
einen Kollegen nicht von Ihrer Meinung überzeugen, indem Sie ihm damit drohen, ihn in sein
Büro einzusperren. Deshalb sind weitere Strategien zur sozialen Beeinflussung notwendig. Sie
beziehen sich im Wesentlichen auf drei Einflussgrößen: situative Gegebenheiten, Personeneigen-
schaften und Verpflichtungsgefühle. Im Folgenden lernen Sie diese drei verschiedenen Möglich-
keiten im Detail kennen.
Im Rahmen der situativen Einflussfaktoren kommen drei Prinzipien zum Einsatz: das Prinzip sozi-
aler Bewährtheit, das Prinzip der Knappheit und das Kontrastprinzip.
Das Prinzip der sozialen Bewährtheit beruht auf der Überzeugung: „Was (angeblich) alle tun, muss
gut sein.“494 Dieses Prinzip wird häufig eingesetzt und ist auch Ihnen schon häufig begegnet. Denken
Sie an Ihre Jugendzeit. Sicherlich haben Sie versucht Ihre Eltern zu überzeugen, indem Sie mitteilten,
dass alle zur fraglichen Party gehen dürfen, zum Konzert oder bis nach Mitternacht in der Disko
bleiben dürfen. Denken Sie an Produktwerbung, die behauptet, dass es sich um das meistverkaufte
Produkt handelt. Politiker oder Showstars sorgen für Personen, die klatschen, um ihre Meinung zu
unterstreichen. Restaurants stellen Reserviert-Schilder auf die Tische, um die Begehrtheit zu demonst-
rieren, Barbesitzer sorgen für Schlangen, die um Einlass bitten. Diese Beispiele können Sie selbst noch
weiterführen. Sie sehen, wie verbreitet der Einsatz dieser Strategie ist.495
Das Prinzip der Knappheit bezieht sich auf die Tatsache, dass ein Gut umso interessanter wird, je
knapper das Angebot ist.496 Dieses Prinzip folgt der Überzeugung, dass Dinge, die schwer zu
bekommen sind, besonders erstrebenswert sind. Diese Regel beruht auf der Wirkungsweise
zweier grundlegender Mechanismen:
l Seltenes wird extremer beurteilt, das heißt, bei Knappheit wird eine ursprünglich positive
Bewertung noch positiver.
l Knappheit löst Reaktanz aus, das heißt, es besteht keine uneingeschränkte Verfügbarkeit
mehr. Dies widerspricht dem allgemeinen Bedürfnis nach persönlicher Freiheit und es entsteht
ein innerer Widerstand gegen diese Einschränkung. Dieser Widerstand führt zum Bedürfnis
der Überwindung der Widrigkeiten, einem Gefühl von „Jetzt-erst-recht“. So wollen wir das
Ganze jetzt noch viel mehr als zu der Zeit, als das Ganze noch uneingeschränkt verfügbar war.
Auch das Prinzip der Knappheit spielt in einer Vielzahl an Situationen eine Rolle. Denken Sie an
Beziehungen. Sicherlich haben Sie schon einmal bei neuen Bekanntschaften demonstriert, wie
schwer es ist, mit Ihnen einen Termin zu vereinbaren. Sie sind schwer beschäftigt und heiß be-
gehrt. So können Sie Ihre Attraktivität erhöhen. Schon Ihre Mutter oder Großmutter hat Ihnen
vermutlich den Rat gegeben, sich rar zu machen, nicht sofort zur Verfügung zu stehen, nicht
immer Zeit zu haben. Auf Produktebene wird dieses Prinzip angewendet, wenn limitierte Stück-
zahlen angeboten werden, oder es wird ein weiterer wichtiger Interessent eingeführt, z.B. beim
Haus- oder Autokauf, die zeitliche Verfügbarkeit wird beschränkt oder ein Produkt ist nur für
einen bestimmten Kundenkreis erhältlich, z.B. Sonderkonditionen für Reiter, für Kreditkartenbe-
sitzer, für Golfer etc. In der Werbung zeigt sich das Prinzip häufig mit Slogans wie „nur noch
wenige Exemplare verfügbar“ oder „Sammlerstück“. Sehen Sie sich Werbung in Verkaufskanälen
an. Sie werden ständig auf knappe Güter stoßen.497
Das Kontrastprinzip beruht auf der Wirksamkeit von Vergleichen. Bewertungen erfolgen in der Re-
gel kontextabhängig. Das heißt, eine Eins in Deutsch ist umso besser, je weniger Einsen es insgesamt
gab, oder eine schlechte Note ist umso weniger „schlecht“, je mehr schlechte Zensuren es gab.
Auch dieses Prinzip wird im Verkaufsbereich häufig eingesetzt. Zum Beispiel zeigen Immobilien-
makler zunächst unattraktive Produkte und dann das Haus, die Wohnung, die sie dem Kunden
verkaufen wollen. So kann die Attraktivität dieser Objekte steigen. Sie kennen das vermutlich
auch von sich selbst. Denken Sie daran, dass Sie dringend ein Kleidungsstück für einen bestimm-
ten Anlass suchen. Zunächst haben Sie feste Vorstellungen. Sie betreten den ersten Laden, nichts
erfüllt Ihre Erwartungen und so geht das Ganze weiter. Sie werden zunehmend anspruchsloser
und kaufen letztlich ein Kleidungsstück, das Sie wohl nicht gekauft hätten, wenn Sie es zu Beginn
Ihrer Suche angeboten bekommen hätten.
Das Prinzip wirkt nicht nur bei Objekten, sondern auch bei Personen. Eine Person wirkt umso
attraktiver, je mehr weniger attraktive Person in ihrem Umfeld sind. Auch das kennen Sie vermut-
lich aus Ihrem Alltag. Wollen Sie einer Person gefallen, so werden Sie sich wahrscheinlich nicht
von jemandem begleiten lassen, den Sie selbst als wesentlich attraktiver empfinden als sich selbst.
Die Sympathie hat deutlichen Einfluss auf unsere Entscheidungen. Ist beispielsweise ein Verkäufer
sympathisch, ist die Gefahr für uns größer, dass wir etwas kaufen, das gar nicht unseren Bedürf-
nissen entspricht und das wir nicht brauchen, als bei einer Aversion gegen den Verkäufer. Wir
werden auch einer uns sympathischen Person weniger eine Bitte abschlagen können als jeman-
dem, den wir nicht mögen. Denken Sie zum Beispiel an einen Autokauf. Hier erhält man bei der
Frage nach dem Kaufmotiv für ein bestimmtes Modell oft neben Produkteigenschaften auch die
Auskunft, dass man schon jahrelang bei dem Händler kauft, dass der Verkäufer immer so bemüht
ist oder die Werkstatt stets auf einen eingeht.498
Nun kann man zwecks Einflussnahme versuchen, sich einem anderen gegenüber besonders sym-
pathisch zu machen und so gewissermaßen sich selbst, die eigene Persönlichkeit, zu erhöhen.
Hierfür präsentiert man sich möglichst positiv. Denken Sie wieder an eine Person, die Sie näher
kennenlernen möchten. Vermutlich sorgen Sie für gute Kleidung, welche die Stärken Ihrer Er-
scheinung betont und die Schwächen kaschiert und für ein gepflegtes Äußeres. Darüber hinaus
werden Sie versuchen herauszufinden, was die Person interessiert und sich ggf. bzgl. Golf, Tennis,
Reiten oder Autorennen kundig machen, wenn Sie wissen, dass hier Interessen bestehen. Darüber
hinaus können Sie bei Bedarf kleinere Schwächen zu- oder persönliche Informationen preisgeben,
um einen Eindruck von Ehrlichkeit zu erwecken und so das Vertrauen in Ihre Person zu erhöhen.
Denken Sie an Verkaufsprozesse! So werden Sie als guter Verkäufer versuchen, sich auf die Inte-
ressen Ihres Kunden einzustellen, z.B. einem Opernliebhaber knappe Opernkarten als Zugabe zum
Autokauf anbieten oder einen kostenlosen Leihwagen beim Werkstattbesuch für einen Single
zusichern, der zum Abholen in der Werkstatt nicht auf Partner zurückgreifen kann.
Beeinflussung und Überzeugung fällt leichter mit Hilfe der Herstellung von Ähnlichkeiten und
Gemeinsamkeiten. Nehmen Sie das Beispiel Autokauf. Sie wissen, Ihr Kunde besitzt einen Hund.
Outen Sie sich ebenfalls als Hundebesitzer, signalisieren Sie Kompetenz im Hinblick auf seine spe-
ziellen Bedürfnisse bei einem Auto. Denken Sie über eigene Käufe und Vertragsabschlüsse nach.
Vermutlich stoßen Sie auf Verkäufer, die Ihnen auf genau dieser Ebene begegnet sind und die es
so leichter hatten, von ihren Produkten zu überzeugen.499
Das Erzeugen positiver Gefühle ist eine häufig gebrauchte und erfolgreiche Möglichkeit zur Über-
zeugung anderer. Positive Gefühle entstehen beispielsweise, wenn Interesse an der Person gezeigt
wird, wenn Zustimmung erfolgt, Übereinstimmungen gefunden werden, positive nonverbale Sig-
nale wie Lächeln, Blickkontakt, körperliche Nähe oder Spiegelung der Körperhaltung gezeigt wer-
den. Auch diese Strategie kommt im Verkaufsprozess zum Einsatz, indem man lächelt, wenn der
Kunde etwas erzählt, seine Meinung unterstützt oder interessierte Fragen zu seiner familiären
Situation, seinem beruflichen Kontext oder seinen Hobbys stellt. Je positiver die Gefühle eines
potentiellen Kunden oder einer Person, die von einer Meinung überzeugt werden soll, desto leich-
ter erfolgt die gewünschte Beeinflussung.
Auch Autorität hat Einfluss auf die Überzeugungskraft.500 Sie bewirkt Gehorsam und zwar gege-
benenfalls sogar dann, wenn eine Anweisung als fragwürdig erlebt wird. Diese Wirksamkeit er-
klärt sich aus einer Faustregel, die besagt: „Gehorche fachkundigen Autoritätspersonen“.501 Fach-
kunde wird angenommen, wenn jemand einen bestimmten Titel oder eine entsprechende Berufs-
bezeichnung trägt. Auch Kleidung unterstützt Autorität, sei es Berufskleidung wie ein Arztkittel,
eine Uniform oder auch besonders gepflegte Kleidung wie z.B. ein Anzug oder Kostüm in der
Bank, beim Rechtsanwalt oder Steuerberater. Die Kleidung zur Unterstützung der Autorität wird
häufig bewusst eingesetzt. Die Wirksamkeit von Autorität wird besonders illustriert durch das in
Kapitel 1.3.2 bereits besprochene Experiment von Milgram zu Gehorsam, in der die Autorität des
Versuchsleiters eine Schlüsselrolle spielt.
Die Reziprozitätsnorm – „Wie du mir, so ich dir“ ist eine Regel der Gegenseitigkeit und besagt,
dass erhaltene Gefälligkeiten erwidert werden sollten. 502 So haben wir ein schlechtes Gewissen
jemandem unsere Hilfe zu versagen, wenn dieser uns vorher selbst schon geholfen hat. Umge-
kehrt erwarten wir auch Hilfe von jemandem, dem wir bereits geholfen haben. Die meisten Men-
schen sind bestrebt, nicht in der Schuld von anderen zu stehen und erhaltene Gefälligkeiten auch
zu erwidern. Häufig wird sogar mehr gegeben als erhalten wurde. Dies geschieht, um auf jeden
Fall einen Ausgleich zu erzielen vor dem Hintergrund schwer messbarer Werte von Gefälligkeiten.
Was ist die richtige Gegenleistung, wenn jemand während des Urlaubs unser Haustier versorgt
hat? Wie können wir eine Unterstützung in einer Klausurvorbereitung aufwiegen? Mit Umzugs-
hilfe? Solche Fragen führen in der Regel dazu, dass mehr gegeben wird als erhalten wurde, vor
allem dann, wenn keine direkte Revanche möglich ist, weil z.B. der Bekannte kein Haustier hat,
das wir im Gegenzug versorgen könnten.503
l Werbegeschenke werden versendet oder überreicht, verbunden mit der Bitte um Spenden,
Vereinsbeitritt oder sonstige Unterstützung. Kostproben im Supermarkt oder beim Lebens-
mittelhändler verführen zum Kauf der entsprechenden Produkte. Die kostenlose Nutzung
eines Fahrzeugs über ein Wochenende erhöht den Kaufanreiz. Versendet man einen Frage-
bogen, so erhöht sich die Rücklaufquote, wenn man einen Dollar als Dankeschön beilegt.
l Das That’s-not-all-Prinzip besagt, dass vor Fällen einer Entscheidung noch ein Zusatz ange-
boten wird, z.B. beim Autokauf erhalten Sie ohne danach zu fragen und noch bevor Sie
den Kaufvertrag unterschrieben haben vom Verkäufer das Angebot, Fußmatten und einen
Satz Winterreifen zu erhalten. Dies führt zur Erhöhung der Bereitschaft den Vertrag zu
unterschreiben, denn der Verkäufer war nett und schenkt noch etwas dazu. Das Prinzip
wirkt auch in Beziehungen. Stellen Sie sich vor, Ihr Partner bittet Sie darum Erledigungen
abzunehmen und bietet im gleichen Atemzug an, dafür am Abend zu kochen. Dann fällt
das Ablehnen schon deutlich schwerer, oder?
l Das door-in-the-face Prinzip funktioniert, indem zunächst eine große Bitte vorgebracht
wird, bei der Ablehnung einkalkuliert wird.505 Später folgt eine kleinere Bitte nach, die
dann eher angenommen wird. Die Funktionsweise des Prinzips illustriert eine Studie,506 bei
der eine Gruppe von Studierenden gefragt wurde, ob sie bereit wären mit jugendlichen
Delinquenten unentgeltlich einen Zoobesuch zu machen. Nur 17% der Befragten waren
bereit. Die zweite Gruppe wurde zunächst gefragt, ob sie bereit wären für zwei Jahre lang
zwei Stunden wöchentlich als unbezahlte Berater für jugendliche Delinquenten zu arbei-
ten. Keiner war dazu bereit. Im Anschluss wurden sie nach der Bereitschaft zum Zoobesuch
befragt. 50% waren dazu bereit. Die große Bitte mit nachfolgendem Abrücken und Re-
duktion wirkt wie eine Gefälligkeit und erhöht so die Bereitschaft zur Zustimmung. Denken
Sie an Ihren Alltag. Stellen Sie sich vor, Ihr Partner bittet Sie darum die nächsten 4 Wochen
jegliche Hausarbeit zu übernehmen. Sie werden vermutlich ablehnen. Ihr Partner bittet nun
darum, am heutigen Abend die Spülmaschine ein- und auszuräumen. Was werden Sie tun?
Das Streben nach Konsistenz und Commitment – „Wer A sagt, muss auch B sagen“ – ist eine
weitere effektive Beeinflussungsmöglichkeit. Menschen streben im Allgemeinen nach Konsistenz
in ihrem Handeln und suchen sich auch Interaktionspartner, die konsistent handeln. Dies erhöht
die Zuverlässigkeit und Glaubwürdigkeit. Diese innere Bindung an eine geäußerte Meinung wird
als Commitment bezeichnet. Damit diese innere Verpflichtung der konsequenten Beibehaltung
einer inneren Haltung und daraus resultierender Handlungen entsteht, müssen einige Vorausset-
zungen erfüllt sein: Das Commitment muss aktiv geäußert werden, öffentlich sein, mit Anstren-
gung verbunden sein und freiwillig erfolgen507. So können selbst kleine Commitments große Wir-
kungen haben, wie folgende Studie508 belegt: Die Untersucher riefen Einwohner von Dallas an
und fragten, ob sie einen Vertreter einer Hilfsorganisation schicken dürften, der Plätzchen ver-
kaufe. Der Erlös käme dann Betreibern von Armenküchen zugute. Die Einwilligungsquote war
nicht sonderlich hoch (18%). Wurde vorab jedoch die Frage gestellt „Wie geht es Ihnen heute
Abend?“ und die Antwort abgewartet, änderte sich dies deutlich. Von den 120 Angerufenen
gaben 108 an, es gehe ihnen gut und 32% stimmten dem Besuch des Plätzchenverkäufers zu.
Eine Aussage über das eigene Befinden wie „es geht mir gut“, erleichtert es dem Gegenüber eine
505 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 283f.; Vgl. Schönbach (2013), S. 119ff.
506 Vgl. Cialdini (2004), S. 69f.
507 Vgl. Cialdini (2004), S. 89ff.
508 Vgl. Cialdini (2004), S. 103f.
Sozialpsychologie 163
Forderung durchzusetzen, denn es geht ja gut und daher erscheint es sinnvoll etwas für jemanden
zu tun, dem es weniger gut geht.
l Konsistenzstreben: Menschen sind bestrebt sich konsistent zu verhalten – haben Sie bei-
spielsweise das Selbstbild eines hilfsbereiten Spenders, so werden Sie nicht nur SOS-Kin-
derdörfern etwas spenden, sondern auch UNICEF, Tierschutzorganisationen, Brot für die
Welt und Ähnlichem, wenn Sie darauf angesprochen werden.
Commitment spielt auch bei Judostrategien eine Rolle und wird folgendermaßen eingesetzt:509
l Low-ball-Prinzip:511 Das Commitment wird hier mittels eines Anreizes erzeugt, z.B. der Aus-
sicht auf eine Belohnung. Im Lauf der Zeit wird der Anreiz entfernt. Das Verhalten wird
dennoch beibehalten, weil sich mittlerweile Einstellungen geändert haben, sich andere Ar-
gumente für die Aufrechterhaltung des Verhaltens ergeben haben. Das Low-ball-Prinzip
wird gerne eingesetzt beim Verkauf von Konsumgütern, z.B. beim Autokauf. Der Verkäufer
bietet Ihnen einen hohen Rabatt auf den ursprünglichen Kaufpreis an. Daraufhin fahren
Sie das Auto ein Wochenende Probe, sind begeistert vom Fahrverhalten, vom Komfort und
allem was Ihnen das Auto bietet. Sie wollen das Auto kaufen. Kurz vor Vertragsunterzeich-
nung teilt Ihnen Ihr Verkäufer mit, dass bei der Rabattberechnung ein Fehler passiert ist,
für den er nichts kann. Sie sind jedoch mittlerweile so überzeugt von dem Auto, dass Sie
es vermutlich trotzdem kaufen.
7.4 Gruppenentscheidungen
Eine wichtige Funktion in Gruppen ist die Entscheidungsfindung. Weltweit werden heutzutage
wichtige Entscheidungen in Gruppen getroffen: vor Gericht, bei Regierungen oder auch in Unter-
nehmen. Und man geht dabei davon aus, dass dies zu besseren Entscheidungen führt. Meistens
stimmt dieses auch und im Allgemeinen arbeiten Gruppen besser und erfolgreicher als Einzelper-
son, wenn sie sich auf die Person mit dem meisten Fachwissen verlassen und wenn sie motiviert
sind nach der besten Antwort für die gesamte Gruppe zu suchen und nicht den eigenen Vorteil
im Auge haben. Dennoch existieren Einflussfaktoren, die Gruppen schlechtere Entscheidungen
treffen lassen.512 Diese Einflussfaktoren werden nachfolgend dargestellt.
Als erster Gruppen-Einfluss ist der sogenannte Prozessverlust zu sehen. Wie bereits erwähnt, kann
eine optimale Lösung in der Gruppe nur dann stattfinden, wenn das Mitglied mit der meisten
Fachkompetenz alle anderen überzeugt. Sie selber werden aus eigener Erfahrung jedoch wissen,
wie schwierig es ist, andere zu überzeugen und wie schwierig es ist, sich Fehler einzugestehen.
Aus diesem Grund werden häufig nicht die besten Problemlösungen in einer Gruppe getroffen.
Mit Prozessverlust sind nun alle Aspekte der Gruppen-Interaktion gemeint, die ein gutes Problem-
löseverhalten beeinträchtigen:513
Häufig werden in Gruppen auch die einzigartigen Informationen nicht geteilt, also die Informati-
onen, die nur einzelne Gruppenmitglieder besitzen, sondern man konzentriert sich auf Informati-
onen, die allen bekannt sind. Diesem Problem kann man am besten begegnen, wenn Gruppen-
diskussionen beispielsweise lange genug andauern. Anfänglich werden nämlich die allen gemein-
samen Informationen eingebracht und erst viel später die nicht allgemein bekannten. Weiterhin
besteht eine Möglichkeit darin, einzelne Gruppenmitglieder für bestimmte Themen zu Experten
zu erklären, um ihnen bewusst zu machen, dass sie die Verantwortung haben bestimmte Infor-
mation beizusteuern.514
Aufgrund realer Ereignisse entwickelte Irving Janis eine einflussreiche Theorie über das soge-
nannte Gruppendenken (group think), welche Entscheidungsprozesse in der Gruppe fokussiert,
die eine optimale Entscheidung verhinderten. Gruppendenken beschreibt eine Form der Entschei-
dungsfindung, bei der der Erhalt der Gruppenkohäsion und der in der Gruppe bestehenden Soli-
darität wichtiger ist als eine optimale und realistische Berücksichtigung der Tatsachen. Gruppen-
denken tritt insbesondere dann auf, wenn eine Gruppe sehr homogen ist und schon eine sehr
hohe Kohäsion besitzt, von abweichenden Meinungen isoliert ist und einen sehr autoritären An-
führer hat, der klar seine Wünsche und Bedingungen äußert. Die Gruppe fühlt sich zunehmend
unverwundbar und unfehlbar und Einzelne werden ihre anderslautenden Meinungen nicht äu-
ßern, weil sie Kritik und Druck fürchten oder eine positive Gruppenstimmung nicht zerstören
möchten. Tatsächlich üben homogene Gruppen schnell Druck auf Abweichler aus und lassen so
nicht alle Meinungen zu und erörtern demnach nicht alle Alternativen. Letztendlich erliegt die
Gruppe der Illusion der Einstimmigkeit und alle haben das Gefühl sie alle seien derselben Meinung
(siehe Tabelle 7). Solche Entscheidungsprozesse hat man häufig in politischen Entscheidungssitu-
ationen gefunden, wie beispielsweise die Entscheidung von John F. Kennedy und seinen Beratern
eine Invasion in Kuba durchzuführen oder möglicherweise auch die Entscheidung von US Präsi-
dent Bush zur Invasion im Irak 2003. Ebenso wird diskutiert, ob mindestens Elemente des Grup-
pendenkens zur Finanzkrise ab dem Jahr 2007 beigetragen haben können.515
Das Gruppendenken ist eine weitverbreitete und weit untersuchte Theorie und mittlerweile kann
man annehmen, dass diese dysfunktionalen Entscheidungsprozesse weit häufiger auftreten als
ursprünglich gedacht. Aus heutiger Sicht müssen nicht alle der in Tabelle 7 genannten Bedingun-
gen erfüllt sein, damit es zu Gruppendenken kommt. Beispielsweise könnte es bereits ausreichen,
wenn sich Beteiligte stark mit der Gruppe identifizieren, klare Normen darüber haben, was die
Gruppe tun sollte und wenig Vertrauen haben, dass die Gruppe das Problem tatsächlich löst.
Um möglichem Gruppendenken mit seinen fatalen Folgen entgegenzuwirken, kann man Mehre-
res berücksichtigen:
l Der Gruppenführer sollte unparteiisch bleiben und keine direktive Rolle einnehmen.
l Der Anführer der Gruppe sollte sich Fremdmeinungen und Meinungen von außerhalb der
Gruppe stehenden Personen einholen. Diese haben es weniger darauf abgesehen die Ko-
häsion der Gruppe aufrechtzuerhalten.
l Weiterhin kann man Untergruppen bilden, die zunächst separat und später dann gemein-
sam ihre unterschiedlichen Vorschläge diskutieren.
l Hilfreich ist auch eine geheime namenlose Abstimmung, weil man damit gewährleisten
kann, dass jeder seine wirkliche Meinung äußert.
Gedankenwächter: Gruppen-
mitglieder schützen den Leiter
vor gegensätzlichen Meinun-
gen
Neben fehlerhaften Entscheidungen, die Gruppen treffen können, sind auch extreme und riskante
Entscheidungen in den Fokus der Forscher gerückt. Im ersten Moment würden wir vielleicht an-
nehmen, dass eher Einzelpersonen zu riskanten Entscheidungen neigen und dass riskante Einzel-
meinungen in Gruppensituationen eher Mäßigung und Relativierung erfahren. Somit sollte eine
Gruppenentscheidung weniger riskant sein.
hinzu, den anderen geht es ebenso, sodass insgesamt eine noch konservativere Gruppenmeinung
resultiert. Ein anderer Ansatzpunkt ist, dass wir nach einer Phase der Sondierung der anderen
Meinungen uns den Gruppenmeinungen anpassen und, um von den anderen akzeptiert zu wer-
den, diese noch etwas extremer ausfällt. Auf diese Weise stützt jede einzelne Person zum einen
die Gruppenmeinung und radikalisiert diese Stück für Stück.517
Bisher haben wir Effekte auf die Entscheidungsfindung beleuchtet, wenn Gruppenmitglieder die
gleichen Ziele haben. Aus unserer alltäglichen Erfahrung wissen wir jedoch, dass es häufig genug
Gruppensituationen gibt, in denen die Mitglieder unterschiedliche Ziele verfolgen und es daher
zu Konflikten kommt. Dies erleben wir zwischen verschiedenen Nationen, in der Politik, im Ar-
beitsleben, bei der Aufteilung von Tätigkeiten in Teams, aber auch in Zweierbeziehungen wie
Freundschaften oder in Paarbeziehungen. Häufig ist das Thema Konflikte in der Forschung an der
Zweiergruppe (Dyade) orientiert, jedoch ist es insgesamt in den Gruppenkontext einzubetten.518
Daher werden wir uns im Folgenden dem Thema Konflikte und deren Lösungen widmen.
Dabei ist die Einordnung in dieses Kapitel des Studienbriefes aus der Motivation heraus entstanden,
die Wirkungen von Gruppen und typische Gruppenprozesse zusammen darzustellen. In verschiede-
nen Lehrbüchern finden sich verschiedene Einordnungen des Themas Konflikte – es sind also auch
andere Einordnungen denkbar. Ein Teil des Themas Konflikte zwischen Gruppen ist auch unter dem
Aspekt von Vorurteilen zu betrachten und in dem entsprechenden Kapitel nachzulesen.
Häufig ist das Thema Konflikte auch mit dem Thema Macht verbunden. Sicherlich ist Macht oftmals
eine Ursache sozialer Konflikte, jedoch muss Macht nicht zwangsläufig zu Konflikten führen und
Macht kann auch dahingehend wirken, Konflikte abzubauen, Konfliktlösungen zu suchen oder
Konflikte gar nicht erst entstehen zu lassen. Insofern ist eine einseitige Reduzierung von Konflikten
auf Machtfragen nicht sinnvoll und Macht ist nur eine mögliche Ursache von Konflikten.519 Daher
werden wir im Folgenden auch Konflikte betrachten, die ohne Machteinfluss entstehen.
In Abbildung 56 sind verschiedene Konfliktarten dargestellt, wobei die innerhalb der Person lie-
genden Konflikte (auch psychische Konflikte genannt) uns in diesem Rahmen hier nicht interes-
sieren werden, da sie weniger ein sozialpsychologisches Thema darstellen und wir hauptsächlich
an Konflikten im Rahmen von Interaktionsprozessen interessiert sind.
Obwohl es sicherlich Überschneidungen zwischen einzelnen Konfliktarten gibt, haben die Kon-
flikte jedoch unterschiedliche Ursachen:521
Soziale Dilemmas (auch als utilitaristisches Dilemma bekannt) sind Konflikte, bei denen sich eine
Lösung, die für die Einzelperson vorteilhaft ist, schädlich auf die ganze Gruppe auswirkt, wenn
viele sie wählen. Beispiele sind hierzu: Bei einem Schiffbruch versuchen alle in ein Rettungsboot
zu gelangen, auch auf die Gefahr hin, dass es dann kentert und keiner gerettet werden kann.
Oder: Ich trete nicht in die Gewerkschaft ein, bezahle keine Mitgliedsbeiträge, aber ich möchte
dennoch an der gewerkschaftlich ausgehandelten Tariferhöhung partizipieren. Diese Arten von
Dilemmas wachsen mit steigender Gruppengröße und es sind dann immer weniger am Gemein-
wohl orientierte Verhaltensweisen zu erwarten.522
Eine der bekanntesten Situationen, um diese Zusammenhänge im Labor zu untersuchen, ist das
sogenannte Gefangenendilemma. Zwei Verdächtige werden getrennt verhört. Gesteht ein Ver-
dächtiger, so kann er als Kronzeuge auftreten und erhält nur drei Monate Gefängnis, der Kom-
plize hingegen zehn Jahre. Gestehen beide nicht, erhalten beide eine Strafe von einem Jahr. Ge-
stehen beide, so wird die Strafe je acht Jahre betragen (siehe Tabelle 8). Das Dilemma besteht
nun darin, dass ich nicht weiß, ob sich mein Komplize kooperativ verhält. Ich laufe somit Gefahr
übervorteilt zu werden. Bei einer vorsichtigen Strategie werde ich aller Wahrscheinlichkeit nach
gestehen. Da mein Komplize sich mit hoher Wahrscheinlichkeit ebenso verhält, erhalten wir ein
nicht optimales Ergebnis.523
1. Verdächtiger (V1)
2. Verdächtiger (V2)
gesteht nicht gesteht
Tabelle 8: Gefangenendilemma
(Quelle: Fischer & Wiswede (2009), S. 709
Eine abgewandelte Variante ist folgende: Zwei Spieler müssen in nacheinander folgenden Durch-
gängen eine von zwei Optionen wählen, ohne zu wissen was der jeweils andere gewählt hat,
jedoch hängt der Gewinn bzw. Vorteil von der Wahl beider ab (siehe Tabelle 9).524
Die Wahlmöglichkeiten
Meine Wahlmöglichkeiten
meines Gegenübers
Option X Option Y
Wie in der Tabelle 9 ersichtlich, hängen die zu erzielenden Gewinne von meiner eigenen Wahl in
Verbindung mit der Wahl meines Gegenübers ab. Das Dilemma besteht darin, dass ich beim Treffen
meiner Wahl nicht weiß, welche Wahl die andere Person trifft. Die meisten Versuchspersonen ent-
scheiden sich für die Wahl Y, weil sie da im besten Falle sechs Euro gewinnen und im schlechtesten
Falle nur einen Euro verlieren. Da die andere Person genauso denkt, ist die Wahrscheinlichkeit groß,
des jeder der beiden einen Euro verliert. Wähle ich die Option X, vergrößere ich zwar die Wahr-
scheinlichkeit, dass beide Seiten Geld gewinnen, jedoch erhöhe ich auch das Risiko. Mit diesem
recht einfach anmutenden Spiel können viele Konfliktsituationen und Entscheidungen im Alltag
dargestellt werden. Erkennbar ist, dass um zu einem optimalen Ergebnis zu gelangen, beide Seiten
einander vertrauen müssten. Besteht kein Vertrauen, schaukeln sich mit jedem Durchgang der Wett-
bewerb und die Konfrontation auf und am Ende geht keiner als Sieger hervor. Dieses Verhalten ist
uns sicherlich aus Konflikten zwischen zwei Personen im Arbeitsleben, aber auch aus internationalen
Konflikten zwischen zwei Staaten bekannt. Jede Seite hat das Gefühl, gegenüber der anderen nicht
zurückstecken zu können und versucht eine Vormachtstellung zu erreichen bzw. dem anderen zu
schaden. Da beide sich so verhalten (quasi die Option Y wählen) erreicht niemand etwas.525
Die Kooperation kann durch die sogenannte Tit-for-tat-Strategie (wie du mir, so ich dir) gefördert
werden: zunächst wird kooperativ gehandelt, dann passe ich mein Verhalten dem des Gegen-
übers an und handele stets so, wie dieser in der Vorrunde. Dadurch wird Kooperationsbereitschaft
gezeigt und man vermindert, dass der Gegenüber einen ausnutzt, wenn er nicht kooperiert. Wei-
terhin hatte sich als vorteilhaft herausgestellt, wenn eher Einzelpersonen als verfeindete Gruppen
einen Konflikt lösen, da wir eher einer Einzelperson Kooperation und Vertrauenswürdigkeit un-
terstellen, dies jedoch weniger Gruppen.526
Solche Ansätze sind natürlich nur ein Rahmen, in dem eine gewisse Entscheidungslogik dargestellt
werden kann. Eine allzu weitreichende Generalisierung auf Ansätze im realen Leben (bei Politik)
ist daher mit äußerster Vorsicht zu gestalten.
7.5.3 Bedrohungen bei der Konfliktlösung und die Rolle der Kommunikation
Bereits 1960 konnte in einer klassischen Experimentalreihe von Deutsch und Kraus527 gezeigt
werden, dass Drohungen kein wirksames Mittel in der Konfliktlösung sind. Es zeigte sich sehr
deutlich, dass mit einer kooperativen Strategie am besten zu gewinnen war, weniger gut lief es
bei einer einseitigen Bedrohung und am schlechtesten verliefen die Experimentalbedingungen bei
denen eine bilaterale Bedrohung stattfand. Bedrohungen führten dazu, dass die jeweils andere
Seite sich nicht bedrohen lassen wollte und aufgrund dessen rächte und so insgesamt beide Par-
teien weniger ihre Ziele erreichten.528
Abbildung 57: Die Ergebnisse der sogenannten Lastwagen-Studien – die Auswirkungen auf den summierten Gewinn
bei unterschiedlichen Bedrohungsszenarien
(Quelle: Vgl. Deutsch & Kraus, 1960, S. 184ff. sowie Aronson et al., 2014, S. 341)
Ursprüngliche Varianten der Untersuchung verliefen ohne Kommunikation zwischen den beiden
Parteien. Da dies jedoch nicht dem realen Leben und Konfliktgeschehen entspricht, wurde bei
anderen Varianten des Spiels eine Kommunikation zwischen den Parteien ermöglicht. Erstaunli-
cherweise veränderte sich zunächst nichts an den Ergebnissen, da die Kommunikation dazu be-
nutzt wurde, den anderen zu bedrohen. Erst nach einer Schulung, wie die Teilnehmer kommuni-
zieren sollten (Erarbeitung einer Lösung, die für beide Seiten annehmbar ist, eine Lösung, die man
auch selber annehmen würde, wenn der andere sie unterbreitet) konnte der summierte Gewinn
gesteigert werden.529
Aus diesen Untersuchungen und den nachfolgenden lässt sich Folgendes zusammenfassen:530
l Das Vorhandensein von Drohmöglichkeiten erweist sich als nachteilig und beide Seiten ge-
langen zu schlechteren Ergebnissen.
l Die Verfügung von Drohmöglichkeiten weckt die Tendenz sie einzusetzen.
l Dies ruft Abwehrreaktionen bei der anderen Partei hervor: Drohung provoziert Gegendro-
hung.
l Die damit verbundene Einschränkung der Freiheit wird als Reaktanz empfunden.
l Der Konflikt weitet sich aus und verlagert sich auf andere Gebiete.
l Kooperatives Verhalten wird damit zunehmend unwahrscheinlich.
l Negative Emotionen wie Ärger und Aggression treten auf.
l Der Verzicht auf das Drohpotenzial wird als Schwäche ausgelegt.
l Drohungen müssen manchmal auch wahrgemacht werden, auch wenn dies unter Kosten-
gesichtspunkten besser unterlassen werden sollte.
Diese und ähnliche Experimente zeigten ungeachtet ihrer künstlichen Laborsituation immer wie-
der eine überraschende Bereitschaft von Menschen andere auszunutzen, sofern man über die
entsprechenden Möglichkeiten und Ressourcen verfügt und der andere keine Gegenmacht hat.531
Diese Studien bilden natürlich nur einen Ausschnitt der Realität ab, da wir in Wirklichkeit häufiger
vor Konflikten stehen, bei denen wir nicht nur die Wahl zwischen einer Alternative X und eine
Alternative Y haben. Diese Form von Kommunikation mit mehreren Optionen und jederzeitigem
Ausstieg nennt man Verhandlung, bei der Angebote und Gegenangebote erfolgen und es nur
dann zu einer Lösung kommt, wenn beide Parteien sich einig sind. Ein mögliches Hindernis bei
Verhandlungen ist beispielsweise die Annahme, dass man sich in einem Konflikt festgefahren hat
und ein Ausgleich nicht mehr möglich ist. Möglich ist aber durch eine Mediation eine Art integ-
rative Lösung, bei der beide Konfliktparteien je nach ihren verschiedenen Interessen verschmerz-
bare Abstriche machen können. Diese Art der Konfliktlösung ist häufig jedoch nicht ohne externe
Hilfe zu bewerkstelligen. Ursachen sind Misstrauen, das Übersehen gemeinsamer Interessen und
eine verzerrte Wahrnehmung des Gegenübers. Ebenso ist es häufig nicht klar, dass man selbst
die Situation nicht so interpretiert wie die andere Seite.532
Im letzten Abschnitt haben wir erfahren, dass bestimmte Verhaltensweisen eine konstruktive Kon-
fliktlösung verhindern. Mehr noch: es wurde deutlich, dass bestimmte Herangehensweisen einen
Konflikt zusätzlich noch eskalieren lassen. Im Nachfolgenden werden wir uns daher mit Prozessen
und Faktoren beschäftigen, die zu einer Eskalation des Konfliktes führen.
Einhergehend mit einer Konflikteskalation ist häufig eine zunehmende Personalisierung (bestimmte
Personen werden verantwortlich gemacht), eine Generalisierung (der Konflikt weitet sich auf weitere
Gebiete aus), eine zunehmende Polarisierung (die Standpunkte werden extremer) und eine Etikettie-
rung, also Abstempelung des Gegners.533Die Gründe für eine Eskalation sind dabei vielfältig:534
l eine unzureichende Kommunikation bis hin zur autistischen Feindseligkeit (eine Lösung des
Konfliktes erscheint nur noch durch Stärke möglich),
l Fehlurteile und Missverständnisse, die reduzierte Wahrnehmung von Alternativen,
l Stereotypisierung, Polarisierungstendenzen, Anfälligkeit für Gerüchte,
Prozesse der Verpflichtung (Commitment): worauf man sich festgelegt hat, worauf man
sich eingelassen hat, daran muss man festhalten, dies muss man zu Ende führen. Kompro-
missbereitschaft wird als Gesichtsverlust betrachtet und ist deshalb Selbstwert bedrohend.
Daher ist ein hohes Commitment, welches möglicherweise auch noch öffentlich geäußert
wurde, ein hoher Treiber in Konfliktfällen.535
Sind Konflikte ausgebrochen, ist vor allem eine Institutionalisierung des Konfliktes, also eine Ka-
nalisierung der Austragung sowie das Vorhandensein von Normen und Regeln der Konfliktbear-
beitung, notwendig. Ebenso ist es notwendig – betrachten wir das vorige Kapitel – zur Deeskala-
tion von Konflikten beizutragen: hier ist es besonders wichtig sich vor Augen zu führen, dass
gerade emotionale, also gefühlsmäßige Aspekte des Konfliktes die rationalen Konfliktursachen
und Bestandteile überdecken. Daher ist Folgendes wichtig:537
l Reduzierung des Geschehens auf den eigentlichen objektiven Konfliktgrund und damit
Entemotionalisierung,
l das Herausstellen gemeinsamer Interessen, Betonung kooperativer Chancen sowie Darstel-
len einer günstigeren Kosten-Nutzen-Bilanz bei Kooperation,
l Versuch der Betonung einer übergeordneten Gemeinsamkeit (gemeinsame Gruppenzuge-
hörigkeit, Partei, Herkunftsland …),
l Innovative Ideen, um aus dem Teufelskreislauf des Konfliktes herauszukommen sowie
l Anrufung sozialer Normen und Institutionalisierung des Konfliktes über Einschaltung dritter
Parteien (Mediatoren, Gerichte Schiedsstellen usw.)
Übungsaufgaben zu Kapitel 7
031 Erklären Sie die Grundzüge der Theorie der sozialen Identität und deren Beitrag zur Entste-
hung von Gruppen und Gruppenkonflikten.
032 Unter welcher Bedingung führt die Gegenwart anderer jeweils zu den Phänomenen des
sozialen Faulenzens und der sozialen Erleichterung? Was bedeuten diese Erkenntnisse für
die Arbeit im Großraumbüro?
033 In sozialen Gruppen gibt es etablierte Normen. Diskutieren Sie die Frage, unter welchen
Bedingungen ein neues Gruppenmitglied als Minderheit neue Normen in einer Gruppe
durchsetzen kann.
034 Nennen und erläutern Sie drei Personenmerkmale, die sozialen Einfluss fördern.
035 Erläutern Sie auf der Basis der Kenntnisse zum Commitment-Effekt, wie Sie als Vorgesetzter
das Commitment Ihrer Mitarbeiter steigern können.
036 Erklären Sie, ob Drohungen bei der Konfliktlösung helfen und begründen Sie Ihre Antwort.
Lernziele
l wissen Sie, wie man das Konstrukt Aggression definiert und misst;
l kennen Sie verschiedene Erklärungsansätze für die Entstehung von Aggression;
l kennen Sie personen- und situationsbedingte Faktoren, die aggressives Verhalten fördern;
l sind Ihnen Möglichkeiten bekannt, wie man aggressives Verhalten vermindern kann.
Obwohl von den meisten Menschen ein harmonisches und friedliches Leben als einer der wich-
tigsten Faktoren zum Wohlbefinden benannt wird, gehört Aggression zum menschlichen Leben.
Ob auf internationaler, gesellschaftlicher, politischer oder zwischenmenschlicher Ebene – wir wer-
den viele Beispiele finden, in denen aggressives Verhalten eine Rolle spielt: zwischen politischen
Parteien und Ethnien (Kriege in Syrien und der Ukraine, islamistischer Terror), Beziehungen zwi-
schen Gruppen (Fußball-Hooligans, Gewalt gegen Flüchtlinge), am Arbeitsplatz (Mobbing) oder
auch in engen sozialen Beziehungen (Gewalt gegen Kinder oder in Partnerschaften). Laut der
Zeitschrift „Die Zeit“538 gibt es aktuell im Jahr 2017 38 Kriege auf der Welt. Aggressives Verhalten
wurde durch die gesamte Geschichte und Vorgeschichte der Menschheit gefunden.539 Es hat also
nicht nur wissenschaftliche, sondern auch gesellschaftliche und persönliche Relevanz, sich mit
diesem Thema zu beschäftigen. Und – auch wenn die vielen Beispiele im ersten Moment etwas
anderes nahelegen – der Mensch hat in seiner Kulturgeschichte immer mehr aggressives Verhal-
ten verbannt und ist im Laufe der Jahrtausende seiner Entwicklung weniger aggressiv geworden.
Dies legt zumindest die einflussreiche Analyse des amerikanischen Psychologen Steven Pinker540
nahe. In seinem Beitrag „Taming the devil within us“ (Die Bändigung des Teufels in uns) be-
schreibt er, wie sich zumindest die schweren Formen von Aggressionen, wie Kriege, Mord und
Gewalt, in der Menschheitsgeschichte verringert haben (siehe Abbildung 58).
Abbildung 58: Verringerung der Anzahl ermordeter Menschen über die Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte
(Quelle: Pinker, 2011, S. 310)
Aggression ist grundsätzlich eine Form sozialen Verhaltens, das von einem Individuum oder einer
Gruppe gegenüber einem anderen Individuum oder einer anderen Gruppe gezeigt wird. Aggression
lässt sich definieren als „jede Form von Verhalten, das darauf abzielt, einer anderen Person zu scha-
den oder sie zu verletzen, die motiviert ist, diese Behandlung zu vermeiden“541. Das bedeutet, dass
drei wichtige Kriterien erfüllt sein müssen, um von Aggression sprechen zu können542:
Das erste Kriterium ist das nicht versehentliche Handeln: d.h. die Handlung muss absichtlich erfol-
gen, längerfristig geplant sein oder spontan „im Affekt“ geschehen – der Handelnde muss wis-
sen, dass er mit seinem Verhalten potenziell Schaden zufügen kann. Unabsichtliches, versehent-
liches oder fahrlässiges Verletzen kann nicht als aggressiv bezeichnet werden. Wenn Sie sich dafür
entscheiden jemandem einen Stoß zu versetzen, dann handeln Sie absichtlich und damit aggres-
siv. Wenn Sie jemanden im Gedränge anrempeln, handeln Sie versehentlich, also ohne Absicht,
und eben nicht aggressiv.
Als zweites ist das Schädigungsziel von Relevanz: d.h., es muss beabsichtigt sein, mit der Handlung
eine Schädigung herbeizuführen. Die Absicht zur Schädigung ist für Aggression maßgebend,
nicht die tatsächliche Schädigung. Das bedeutet, wenn Sie sich dafür entscheiden, jemandem
weh zu tun, indem Sie ihn schlagen, so ist das Ganze auch dann ein aggressiver Akt, wenn der-
jenige sich wegdreht und Sie ihn verfehlen. Das Schädigungsziel kann unterschiedlich aussehen.
Es kann die Schädigung selbst Ziel der Handlung sein, z.B. jemandem wehtun. Die Schädigung
kann auch Mittel sein, um ein Ziel (materielles Gut, Erfolg, Belohnung o.ä.) zu erreichen, z.B. beim
Konzert Fans zur Seite stoßen, um ein Autogramm zu bekommen. Unter Schaden ist jede von der
Zielperson unerwünschte Behandlung zu verstehen: das Verletzen von Gefühlen, körperliche Ver-
letzungen, das Schädigen sozialer Beziehungen (bspw. Verbreitung von Gerüchten) oder auch
das Zerstören von Dingen, die lieb und teuer sind.
Das dritte wichtige Kriterium ist, dass die Zielperson das Verhalten vermeiden möchte. Demnach
sind mit Einwilligung geschehende medizinische Behandlungen oder gewünschte sadomasochis-
tische Sexualpraktiken kein aggressives Verhalten.
Abzugrenzen ist noch der Begriff Gewalt. Diese ist ein Verhalten mit einer eindeutigen Absicht,
schwere körperliche Schädigungen zuzufügen. Das bedeutet, dass Gewalt eine spezielle Form der
Aggression ist und dass nicht jede Aggression auch Gewalt bedeutet.543 Zusätzlich lässt sich Ag-
gression noch in verschiedene Unterkategorien einteilen:544
Selbstverständlich existieren auch aggressive Verhaltensweisen, die sich gegen eine Person selber
richten, diese sind jedoch nicht Gegenstand der sozialpsychologischen Betrachtung.
Die Messung von Aggressionen und die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Thema ist auf-
grund der potentiellen Schädigungen nicht ganz einfach. Wir haben uns mit diesem Problem schon
im Abschnitt 1.5.3 „Das ethische Dilemma der Sozialpsychologie-Forschung“ beschäftigt. Wie lassen
sich die o.g. Kriterien zu Aggression oder Aggressivität messen und damit auch erforschen?545
l Eine Methode ist die Beobachtung im Laborexperiment. Hier werden Bedingungen geschaf-
fen, die es erlauben, aggressives Verhalten zu untersuchen. Es muss jedoch auf solche Be-
dingungen zurückgegriffen werden, die es Probanden erlauben die Absicht aggressiven
Verhaltens zu zeigen, ohne jedoch tatsächlich eine andere Person zu schädigen. Durch
solche Experimente ist es möglich, Aussagen über aggressives Verhalten durch eine syste-
matische Variation von Bedingungen zu ermöglichen.
l Eine weitere Methode ist die Erfassung von Berichten über aggressives Verhalten. Es gibt
verschiedene Selbstbeurteilungsinstrumente, z.B. Fragebögen, welche die allgemeine Ag-
gressionsbereitschaft erfassen oder Fragebögen, die auf spezielle Arten der Aggressivität
gerichtet sind, wie z.B. sexuelle Aggressivität. Das Problem bei solchen Selbstberichten ist
die Subjektivität der Antworten. Aggressives Verhalten ist sozial unerwünscht und somit
sind Antwortverzerrungen nicht nur möglich, sondern sogar wahrscheinlich und die Ag-
gressivität wird unterschätzt. Dieses Problem kann umgangen werden, wenn man Dritte
nach Einschätzungen fragt, z.B. Eltern, Partner, Lehrer.
l Die dritte Methode ist die Analyse von Archivmaterial, wie z.B. hier in Deutschland die
polizeiliche Kriminalstatistik oder Zeitungsberichte. Hieraus können Informationen abgelei-
tet werden zur Häufigkeit bestimmter Aggressionsformen oder auch Hypothesen überprüft
werden zu Zusammenhängen zwischen äußeren Kriterien und Häufigkeiten, z.B. Vergleich
von verschiedenen Regionen bezüglich des Vorkommens von Gewaltverbrechen.
Die Entstehung von Aggression hat verschiedene Auslöser, wobei grundsätzlich zwei theoretische
Ansätze zu unterscheiden sind, die im Rahmen dieses Kapitels auch dargestellt werden:
l Biologische Ansätze
l Psychologische Ansätze
Die biologischen Ansätze ziehen, um die Entstehung und Ausbildung aggressiven Verhaltens zu
erklären, evolutionäre Gesetzmäßigkeiten, genetische Faktoren und hormonelle Faktoren heran.
Die vergleichende Verhaltensforschung (Ethologie), die vor allem auf den Forschungen von Konrad
Lorenz basiert, sieht aggressives Verhalten in einer inneren Energie begründet, die durch aggres-
sive Reize ausgelöst wird. Lorenz ging von dem sogenannten Dampfkesselmodell aus, welches
besagt, dass in einem Lebewesen fortlaufend aggressive Energie produziert wird, die dann auf
einen äußeren Reiz hin freigesetzt wird. Ein solcher Reiz kann ein Rivale im Paarungsverhalten
sein, bei der Futtersuche, beim Schutz von Nachkommen oder Ähnliches. Diese Theorie geht da-
von aus, dass sich diese Energie kontinuierlich ansammelt und spontan zum Ausbruch kommt,
wenn es keinen äußeren Reiz gibt, der Energieabfuhr ermöglicht. Dieses Modell geht davon aus,
dass Aggression unvermeidlich ist und auch nicht von äußeren Bedingungen abhängt. Es gibt
Zweifel daran, dass diese Ergebnisse aus der Tierforschung direkt auf Menschen übertragbar sind.
Die Theorie impliziert, dass nach der Energieabfuhr wieder Zeit vergehen muss, um erneut ag-
gressiv handeln zu können, denn es muss sich zunächst wieder Energie ansammeln. Menschen
können jedoch auch mehrere aggressive Handlungen in rascher Folge hintereinander ausführen
und eine einmal ausgeführte Aggression zieht häufig die nächste nach sich, statt sie zu hemmen.
Auch scheint sich eine aggressive Handlung nicht unbedingt zu erschöpfen, sondern führt noch
zu weiteren aggressiven Handlungen. Denken Sie an eine Schlägerei, da hört nicht nach ein, zwei
Schlägen die Aggression auf, sondern die Situation eskaliert häufig und es werden immer mehr
gewalttätige Handlungen vorgenommen.546
Ein weiterer biologischer Ansatz ist die Verhaltensgenetik. Sie versucht, Unterschiede in aggressi-
vem Verhalten mittels einer verschiedenen genetischen Ausstattung der betreffenden Personen
zu erklären. So zeigen Metaanalysen von Zwillings- und Adoptionsstudien, dass Ähnlichkeiten in
aggressivem Verhalten sowohl in Selbst- als auch in Fremdbeurteilungen durch gemeinsame ge-
netische Anlagen erklärt werden können. Jedoch gibt es auch Studien, die belegen, dass der
Einfluss einer gemeinsamen Umwelt deutlich stärkeren Einfluss hat als die genetische Ähnlichkeit.
Daraus lässt sich schließen, dass aggressives Verhalten sowohl durch genetische Faktoren beein-
flusst wird als auch durch Umweltbedingungen. Man geht davon aus, dass genetische Faktoren
eine Neigung zu Aggressivität begründen können, dass jedoch die Umgebungsbedingungen da-
für verantwortlich sind, ob und inwieweit diese Neigung sich ausprägt und im Leben der entspre-
chenden Person manifestiert.547
Das dritte biologische Erklärungsmodell bezieht sich auf hormonelle Einflussfaktoren. Besondere
Aufmerksamkeit widmet die Forschung hier den Hormonen Testosteron und Cortisol. Forschun-
gen zeigen einen schwach positiven Zusammenhang zwischen der Höhe des Testosteronspiegels
einer Person und ihrer Aggression, sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Der Zusammenhang
ist allerdings so schwach, dass in Frage zu stellen ist, ob eine direkte Verbindung hergestellt wer-
den kann. Möglich wäre auch, dass Testosteron „nur“ soziales Dominanzgehabe fördert, das sich
dann in aggressivem Verhalten äußern kann, aber eben nicht muss. Außerdem ist dies nur ein
Zusammenhang der noch nichts über die Ursache-Wirkungs-Richtung aussagt. Es ist zum Beispiel
auch nachgewiesen, dass der Testosteronspiegel steigt, wenn man sich in einer aggressiven oder
kompetitiven Situation befindet.548 Ein Zusammenhang zu aggressivem Verhalten gibt es auch für
Cortisol. Es gibt Untersuchungsergebnisse, die belegen, dass ein niedriger Cortisolspiegel parallel
zu Problemverhalten und aggressivem Verhalten auftritt. Ein niedriger Cortisolspiegel ist ein Indi-
kator für eine geringe psychologische Erregbarkeit, weshalb diese Personen möglicherweise we-
niger Angst vor Strafe empfinden und daher weniger von aggressiven Verhalten zurückschrecken.
Die Zusammenhänge zwischen Hormonen und Aggression sind jedoch nicht direkt, sondern wer-
den noch von einer Vielzahl anderer Einflussfaktoren vermittelt.549
Untersucht werden auch kulturelle Einflüsse auf die Tendenz zu aggressivem Verhalten. Hier zeigt
sich, dass aggressives Verhalten grundsätzlich kulturübergreifend auftritt, aber dass es deutliche
Unterschiede im Hinblick auf Aggressionsbereitschaft und die Ausdrucksformen aggressiven Ver-
haltens gibt. Dieses Ergebnis ist neben der im Rahmen der Verhaltensgenetik gefundenen Um-
weltabhängigkeit von aggressivem Verhalten ebenfalls Beleg für die Einflüsse der Sozialisations-
bedingungen neben biologischen Faktoren.550
Letztendlich legt die universelle Verbreitung von Aggression sowohl beim Menschen als auch im
Tierreich zwingend nahe, dass Aggression sich in der Evolution herausgebildet und behauptet
hat, weil sie das Überleben sichert. Gleichzeitig scheinen sich aber auch Hemmmechanismen her-
ausgebildet zu haben, mit deren Hilfe Aggression unterdrückt werden kann, wenn es notwendig
ist. Sogar im Tierreich konnte gezeigt werden, dass Aggressionen auf vorherigen Lernerfahrungen
beruht und durch den aktuellen sozialen Kontext geprägt wird. Aufgrund der Komplexität der
sozialen Beziehungen des Menschen ist die soziale Interaktion und Situation wichtiger als Hor-
mone oder die genetische Veranlagung und Aggression ist nur eine optionale Strategie.552
Die Wahrscheinlichkeit von aggressivem Verhalten steigt an, wenn aggressive Hinweisreize vor-
liegen. Aggressive Hinweisreize sind Merkmale in einer Situation, die die Möglichkeit aggressiver
Reaktionen ins Bewusstsein rufen. Das können Bilder kämpfender Menschen oder Tiere sein, Wer-
bung für einen Boxkampf, Bilder von Waffen und Ähnliches. Solche Hinweisreize fördern aggres-
sives Verhalten und zwar nicht nur bei bereits vorhandener ärgerlicher Grundstimmung, sondern
auch bei neutraler Stimmung, wenn auch schwächer. Dies wurde in mehreren Studien belegt. Im
Falle von Waffen als Hinweisreiz spricht man vom Waffeneffekt.554
Abbildung 59: Waffen oder andere aggressive Hinweisreize erhöhen die Wahrscheinlichkeit aggressiver Reaktionen
(Quelle: Eigene Fotografie)
In Abbildung 60 ist dargestellt, wie sich die beiden unterschiedlichen Reaktionsmöglichkeiten mit-
tels eines schnellen und automatisierten Prozesses aus dem zunächst noch undifferenzierten ne-
gativen Affekt entwickeln. Der Angriffsimpuls wird mit aggressiven Gedanken, Erinnerungen und
Verhalten in Verbindung gebracht (assoziiert) und der Fluchtimpuls mit fluchtbezogenen Reakti-
onen. Dadurch wird der zunächst unspezifische negative Affekt in spezifische emotionale Zu-
stände wie Ärger oder Furcht gebracht. Es erfolgt eine kontrollierte und tiefergehende Verarbei-
tung und Bewertung der Situation anhand der Erinnerung an ähnliche Erfahrungen, der Erwar-
tung möglicher Handlungsergebnisse und anhand sozialer Regeln und Normen einer
angemessenen emotionalen Reaktion. Am Ende steht dann eine verfestigte Emotion mit den ent-
sprechenden Reaktionen. Zusammenfassend betrachtet ist nach dem kognitiv-neo-assoziationis-
tischen Modell aggressives Verhalten das Ergebnis eines negativen Affekts, der kognitiv verarbei-
tet wird und dabei ein Netzwerk aggressiver Gedanken und Gefühle aktiviert.
Stellen Sie sich vor, Sie werden im Supermarkt angerempelt. Jemand fährt Ihnen mit dem Ein-
kaufswagen in Ihre Hacken. Das tut weh. Es sind zwei Grundreaktionen möglich – Ärger verbun-
den mit Kampfimpuls oder Furcht verbunden mit Fluchtimpuls. Je nach Ihren Vorerfahrungen wird
die Ärger- oder Furchtreaktion dominieren. Nehmen wir an, Sie haben bislang immer gute Erfah-
rungen gemacht, wenn Sie sich gewehrt haben, dann werden Sie sich vielleicht umdrehen und
der Person sagen: „Passen Sie doch auf“. Nehmen wir an, Sie haben sich bislang mit Abwehr-
und Ärgerreaktionen immer Ärger, Ablehnung und Ähnliches eingehandelt. Dann werden Sie
dazu tendieren ruhig zu sein, wegzugehen, Abstand zu gewinnen.
Bei der Theorie der Erregungsübertragung556 steht ebenfalls die kognitive Bewertung einer emo-
tionalen Reaktion im Mittelpunkt. Diese Theorie geht davon aus, dass die Wirkung von Frustra-
tion, die in aggressivem Verhalten mündet, durch physiologische Erregung verstärkt werden kann,
die aus neutralen Quellen gespeist wird. Stellen Sie sich folgende Situation vor: Ein Vater beo-
bachtet, wie sein Sohn von einem anderen Jungen geschlagen wird. Er ist noch ein Stück entfernt
und rennt über den Platz, um zu helfen. Bis er bei seinem Sohn und dem Jungen ankommt, hat
sich sein Ärger durch die Bewegung so gesteigert, dass er den Jungen schlägt, anstatt die beiden
Kontrahenten lediglich zu trennen und zu fragen, was passiert ist.
Sowohl kognitiver Neo-Assoziationismus, als auch die Theorie der Erregungsübertragung sehen
das Vorhandensein eines negativen Affekts – also Ärger, Wut, Frustration – als Voraussetzung zur
Entstehung von Aggression.
Lernerfahrungen spielen eine wichtige Rolle bei der Bereitschaft zum Zeigen aggressiver Verhal-
tensweisen. Vor allem zwei lerntheoretische Modelle spielen hier eine wichtige Rolle:557
l Modelllernen (Lernen durch Nachahmung) findet statt, indem aggressives Verhalten bei an-
deren Personen beobachtet wird; insbesondere dann, wenn dieses Verhalten der anderen
Personen auch noch belohnt wird. Reagieren Eltern aggressiv, können Kinder diese Tendenz
übernehmen. Erreicht der bewunderte Schulfreund seine Ziele mit Hilfe aggressiven Verhal-
tens, so werden diese Verhaltensmuster als zielführend und damit als erstrebenswert erlebt.
Sozial-kognitive Modelle558 sind eine Weiterentwicklung der bislang behandelten Modelle. Sie ge-
hen davon aus, dass sich für jegliches Sozialverhalten, so auch für aggressives Verhalten, im Laufe
des Lebens Skripte entwickeln. Skripte sind kognitive Repräsentationen von bestimmten Situationen
und für an diese Situation angepasste Verhaltensweisen. Repräsentationen für aggressives Verhalten
werden als aggressive Skripts bezeichnet. Sie bilden die Entscheidungsgrundlage für das Zeigen
oder Nicht-Zeigen aggressiven Verhaltens in einer Situation. Solche Skripts enthalten nicht nur das
Verhalten betreffende Informationen, sondern auch Normen und Regeln im Kontext aggressiven
Verhaltens. Eine solche Regel könnte sein: Aggressive Reaktionen sind angemessen, wenn man an-
gegriffen wird, nicht jedoch, wenn man „nur“ seinen Willen durchsetzen möchte.
Das allgemeine Aggressionsmodell559 fasst die Erkenntnisse zu Aggression und aggressivem Ver-
halten zu einem integrativen Modell zusammen. Dieses Modell illustriert anschaulich die Komple-
xität der Prozesse, die stattfinden, bis ein aggressives Verhalten entsteht. Es fängt an bei persön-
lichen Dispositionen (ruhiger Charakter, Reizbarkeit, Gewaltbereitschaft) und situativem Kontext,
geht über zur individuellen Verarbeitung der Eingangsreize unter Berücksichtigung des aktuellen
inneren Zustands. Es finden Bewertungsprozesse statt und letztlich wird ein Verhalten gezeigt.
Denken Sie an das o.g. Beispiel im Supermarkt. Der „Rempler“ wird aggressiv angebrüllt oder
höflich gebeten, Abstand zu halten, oder man ergreift die Flucht. Aus der aktuellen Reaktion kann
eine weitere zu verarbeitende Situation entstehen. Z.B. Sie reagieren aggressiv und „der Rempler“
pöbelt Sie an, fährt Ihnen noch einmal in die Hacken. Dann beginnt der Verarbeitungsprozess von
vorne. Das nachfolgende Schaubild illustriert diese Zusammenhänge.
In Tabelle 10 sind noch einmal die unterschiedlichen Theorien zur Aggressionsentstehung zusam-
mengefasst.
Wie aus den bisherigen Ausführungen bereits ersichtlich, spielen persönliche und situative Fakto-
ren bei der Entstehung aggressiven Verhaltens eine wichtige Rolle, indem sie Einfluss auf die Auf-
tretenswahrscheinlichkeit haben. Daher sollen diese hier näher beleuchtet werden.
Es existieren eine Vielzahl von Variablen, die Unterschiede im aggressiven Verhalten zwischen
Personen erklären und vorhersagen. Es kristallisierten sich in der Forschung drei Variablen heraus,
die als besonders einflussreich zu werten sind.
Aggressivität als Persönlichkeitseigenschaft wird auch als Trait-Aggressivität bezeichnet. Sie be-
zieht sich auf eine zeit- und situationsübergreifende Neigung zu aggressivem Verhalten. Diese
Neigung stellt sich als relativ zeitstabil heraus und kann insofern auch zur Prognose verwendet
werden. Dies gilt insbesondere dann, wenn besonders hohe oder besonders niedrige Aggressi-
onswerte gemessen wurden. Mittlere Werte zeigen stärkere Schwankungen im Zeitverlauf. Die
Messwerte werden meist mit Hilfe von Selbstbeurteilungsfragebögen erhoben, die körperliche
und verbale Aggressionsformen ebenso erfassen wie Ärger und Feindseligkeit.560
Feindseliger Attributionsstil meint die Tendenz, mehrdeutiges Verhalten einer Person als Verhal-
ten in feindseliger Absicht zu werten. Denken Sie an das oben benannte Beispiel im Supermarkt.
Eine Person mit feindseligem Attributionsstil würde dazu tendieren, dem „Rempler“ Absicht zu
unterstellen. Versehen, mangelnde Achtsamkeit oder einfach nur Ungeschicklichkeit würden
kaum in Erwägung gezogen.561 Ein feindseliger Attributionsstil wird erhoben mit Hilfe von kurzen
Bild- oder Filmsequenzen mehrdeutiger Situationen, in denen einer Person Schaden zugefügt
wird. Wird konsistent absichtsvolle Schädigung unterstellt, geht man von einem feindseligen At-
tributionsstil aus. Es zeigt sich, dass Personen mit feindseligem Attributionsstil stärker zu aggres-
sivem Verhalten neigen als Personen ohne feindseligen Attributionsstil. Es zeigt sich auch ein Zu-
sammenhang zur Trait-Aggressivität. Personen mit hoher Trait-Aggressivität neigen zu feindseli-
gen Attributionen. Bezüglich der Entstehung eines feindseligen Attributionsstils gibt es Hinweise
darauf, dass Gewalt in Medien einen Einfluss hat. Feindseliger Attributionsstil tritt häufig zusam-
men mit einer Vorliebe für mediale Gewaltdarstellungen auf und er kann zum Teil auch von den
Eltern auf die Kinder übertragen werden: Mütter aggressiver Kinder neigen eher zu einem feind-
seligen Attributionsstil.562
Ein wichtiger Faktor im Kontext aggressiven Verhaltens ist das Geschlecht. Männer zeigen eher
aggressives Verhalten als Frauen. Das belegen länderübergreifend die Kriminalstatistiken. Dies gilt
vor allem für körperliche Gewalt. Hier sind Männer gegenüber Frauen in einem Verhältnis von 8:1
überrepräsentiert. Generell zeigen Männer sowohl mehr körperlich als verbal aggressives Verhal-
ten, jedoch sind die Unterschiede nicht sehr groß. Zudem zeigen sich hier situative Einflüsse: Män-
ner zeigen deutlich mehr Aggressionen auch ohne Provokationen. Bei provozierten Aggressionen
ist der Geschlechtsunterschied deutlich geringer. Relationale Aggression, d.h. Schädigung durch
Störung sozialer Beziehungen einer anderen Person, ist bei Frauen gleichermaßen anzutreffen,
wenn nicht sogar stärker ausgeprägt als bei Männern.563
So wie nicht in jeder Situation alle Menschen aggressiv reagieren, so zeigen sich auch Einflüsse
der Situation auf die Auftretenswahrscheinlichkeit von Aggressionen. Es lassen sich im Wesentli-
chen drei Faktoren festmachen, die Einfluss auf das Auftreten aggressiven Verhaltens haben.
Selbst moderater Alkoholkonsum führt zu einer Erhöhung aggressiven Verhaltens. Alkohol spielt
eine wichtige Rolle im Kontext von Gewaltverbrechen (Mord, sexuelle Gewalt, häusliche Gewalt)
ebenso wie im Kontext von Gewalt zwischen Gruppen und bei Vandalismus. Denken Sie an Es-
kalationen im Fußballstadion. Die beteiligten Fans sind in der Regel nicht nüchtern. Es gibt aller-
dings deutliche individuelle Unterschiede in der Stärke des Zusammenhangs zwischen Alkohol-
konsum und Aggression. Bei manchen Personen ist die Aggressionsneigung deutlich erhöht, wo-
hingegen bei anderen der Alkohol keinen Einfluss hat.564
Die Wirkung des Alkohols auf das Auftreten von Aggressionen wird über eine Verringerung der
Informationsverarbeitungskapazität nach Alkoholgenuss erklärt. Eine detaillierte Analyse aller re-
levanten Situationsbedingungen entfällt und nur besonders auffällige Hinweisreize werden verar-
beitet (so genannte Alkoholkurzsichtigkeit). Legen diese aggressives Verhalten nahe, so zeigt eine
alkoholisierte Person eher entsprechendes Verhalten als eine nüchterne Person. Ebenso wird
durch diese Alkoholkurzsichtigkeit das Bewusstsein für soziale Normen reduziert565. Alkoholisierte
Personen sind sich zudem des normabweichenden Charakters ihrer Handlungen nicht im vollen
Umfang bewusst und sie können die negativen Folgen ihres Handelns weder für sich, noch für
die Opfer der Aggression richtig einschätzen.566
Die Hitzehypothese geht davon aus, dass hohe Temperatur das Auftreten aggressiver Verhaltens-
weisen begünstigt. Man stellte fest, dass in heißeren Regionen die Gewaltdeliktsrate höher ist als
in kühleren Regionen. Hier muss man jedoch berücksichtigen, dass auch weitere Faktoren unter-
schiedlich waren, die Auswirkungen auf die Aggressionsneigung haben könnten, z.B. Arbeitslo-
sigkeit oder soziale Normen im Umgang mit Gewalt. Man untersuchte aber auch den Einfluss von
Temperatur in der gleichen Region zu unterschiedlichen Jahreszeiten und stellte hier fest, dass im
Winter weniger Gewaltdelikte vorlagen als im Sommer oder in kühlen Sommern weniger als in
heißen Sommern. Damit kann die Hitzehypothese bestätigt werden. Der Einfluss der Temperatur
auf die Aggressionsneigung lässt sich dadurch erklären, dass Hitze als unangenehm empfunden
wird. Dies stellt einen negativen Affekt dar, beeinflusst so die kognitive Reizverarbeitung und
führt daher zur Vermehrung aggressiven Verhaltens.567 Der Zusammenhang von steigender Tem-
peratur und Aggressionen ist in Abbildung 62 dargestellt.
Abbildung 63: Schätzung des Einflusses der globalen Erwärmung auf Gewaltdelikte
(Quelle: Anderson et al., 2000, Seite 124, zitiert nach Jonas et al., 2014, S. 336).
Die Forschung zu Gewalt in den Medien569 zeigt deutlich, dass diese die Wahrscheinlichkeit ag-
gressiven und gewaltsamen Verhaltens sowohl kurzfristig als auch langfristig erhöht. Die Unter-
suchungsergebnisse zeigen allerdings keine hohen Zusammenhangswerte, weshalb davon auszu-
gehen ist, dass auch andere Faktoren eine wichtige Rolle spielen. Allerdings ist selbst ein relativ
geringes Maß an Zusammenhang von immenser Bedeutung, wenn man an die große Zahl von
568 Vgl. Anderson, Anderson, Dorr, DeNeve & Flanagan (2000), Seite 124, zitiert nach Jonas et al. (2014), S. 336.
569 Vgl. Jonas et al. (2014), S. 336ff.
Sozialpsychologie 187
Medienkonsumenten denkt. Erklärt wird der Einfluss von Gewalt in Medien durch verschiedene
Wirkfaktoren. Konsum von Gewalt in den Medien570:
Aggressionen können sich in verschieden Formen äußern. Als spezielle Formen werden zum Bei-
spiel die Folgenden unterschieden.571
Unter Partnergewalt werden die Androhung oder Ausführung körperlicher Gewalt gegenüber
einem Partner in einer Beziehung verstanden.
Der Begriff sexuelle Aggression umfasst unterschiedliche Formen erzwungener sexueller Aktivitä-
ten. Sexuelle Aggression wird als Verhalten definiert, bei dem eine andere Person durch Einsatz
oder Androhung von Gewalt, Ausnutzung von Wehrlosigkeit oder durch verbalen Druck zu sexu-
ellen Handlungen gezwungen wird.
Eine weitere Form aggressiven Verhaltens ist das sogenannte Bullying oder Mobbing, bei dem
aggressives Verhalten von einem Stärkeren gegen ein schwächeres Opfer ausgeführt wird, wel-
ches sich nicht wirksam verteidigen kann. Das Bullying umfasst Phänomene am Arbeitsplatz oder
in der Schule, aber auch neuere Formen, wie das Cyberbullying in sozialen Netzwerken oder durch
Bedrohungen via Mail oder durch andere elektronische Kommunikationsformen.
Während die bisherigen Formen interpersonale Aggressionen darstellten, also Aggressionen zwi-
schen einzelnen Personen, werden letztendlich noch verschiedene Formen der Gewalt zwischen
Gruppen unterschieden. Generell meint Gewalt zwischen Gruppen, also kollektive Gewalt, den
instrumentellen Einsatz von Gewalt und Aggressionen durch Personen, welche sich mit einer be-
stimmten Gruppe identifizieren und damit politische, wirtschaftliche oder soziale Ziele durchset-
zen wollen. Dies umfasst zum Beispiel die Gewalt zwischen Fußball-Hooligans, aber auch die Ge-
walt, die von Terroristen ausgeht. Das Thema Gewalt zwischen Gruppen haben wir in diesem
Studienbrief bereits unter 1.3.3 „Der Einfluss von sozialen Rollen: Das Stanford-Gefängnisexperi-
ment“ sowie unter 7.5 „Gruppenkonflikte und Kooperation“ aufgegriffen und es spielen die Be-
griffe Deindividuation (7.3.2) und die Theorie der sozialen Identität, wie unter 7.2 „Die Entste-
hung von Gruppen und die Wahrnehmung der Gruppenzugehörigkeit“ beschrieben, eine Rolle.
Wie eben dargestellt stellen Gewalt im Besonderen und aggressives Verhalten im Allgemeinen große
Probleme für einzelne Personen, für soziale Gemeinschaften und die gesamte Gesellschaft dar. Des-
halb ist es wichtig sich damit zu beschäftigen, wie aggressives Verhalten verhindert werden kann.
Dabei können wir zwischen der Prävention und Reduktion der Aggression auf der gesamtgesell-
schaftlichen Ebene und der gezielten Prävention auf individueller oder Gruppenebene unterscheiden.
8.4.1 Katharsis
Die Katharsishypothese besagt, dass Aggression verringert werden kann, indem aggressive Span-
nungen mittels symbolischer Handlungen abgebaut werden. Solche symbolischen Handlungen
sind etwa Sarkasmus, virtuelles Ausagieren der Aggressivität z.B. im Videospiel, Beobachtung an-
derer bei aggressiven Handlungen oder aggressive Phantasien. Es kann sich auch um Ersatzhand-
lungen wie Fluchen oder Brüllen handeln. Diese Hypothese ist auch im Dampfkesselmodell von
Lorenz enthalten. Leider lässt sich diese Hypothese durch psychologische Forschung nicht bestä-
tigen. Es gibt sogar Befunde, die belegen, dass die gedankliche Auseinandersetzung mit aggres-
siven Handlungen und Phantasien die Tendenz zu aggressivem Verhalten eher verstärkt als sie zu
mindern. Ursache hierfür ist, dass das symbolische aggressive Verhalten als aggressiver Hinweis-
reiz wirkt, der Aggressionen eher den Weg bahnt.572
8.4.2 Bestrafung
Da Lernprozesse bei der Entstehung aggressiven Verhaltes eine Rolle spielen, liegt es nahe, Bestra-
fung zur Verhinderung von Aggressionen einzusetzen. Bestrafung gilt sowohl im Kleinen (in der
Familie) als auch im Großen (in Gesellschaften) als Mittel zur Reduktion aggressiver Verhaltenswei-
sen. In der Familie erhält das Kind z.B. Hausarrest, Computer- oder Fernsehverbot. Im staatlichen
Rahmen erfolgt die Bestrafung mittels Geldstrafen, Verpflichtungen zu sozialer Arbeit oder Inhaf-
tierung. Nun stellt sich die Frage, ob all diese Maßnahmen präventiv wirken können. Forschungen
zeigen, dass dies nur dann der Fall ist, wenn bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind573:
Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, kann Strafe ein wirksames Mittel zur Verhinderung von
Aggression sein. In den seltensten Fällen sind diese Voraussetzungen jedoch in ihrer Gesamtheit
vorhanden. Außerdem ist zu berücksichtigen, dass Bestrafung ebenfalls ein aggressives Verhalten
bedeutet und somit letztlich die Akzeptanz aggressiver Verhaltensweisen im Allgemeinen und als
Mittel zur Konfliktbearbeitung erhöhen kann. Daher ist es erfolgversprechender, wenn integrative
Maßnahmen stattfinden, die eine Belohnung erwünschten Verhaltens zum Ziel haben und ermög-
lichen.
8.4.3 Ärgerbewältigung
Ärger und negative Affekte spielen bei der Entstehung aggressiven Verhaltens eine wichtige Rolle.
Daher erscheint die Hypothese sinnvoll, dass mittels Training im Umgang mit und zur Reduktion von
Ärgeremotionen auch aggressives Verhalten reduziert werden könnte. So wurden Ärgerbewälti-
gungstrainings574 entwickelt, die Kompetenzen im Umgang mit der Emotion vermitteln sollen.
Aktuelle Forschungen in Schulen belegen die Wirksamkeit des Ansatzes, allerdings nur unter be-
stimmten Voraussetzungen bei den entsprechenden Personen:
Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, zeigen Ärgerbewältigungstrainings nur geringen bis gar
keinen Effekt. Dies erklärt, dass gerade die Personen, bei denen diese Trainings sinnvoll wären,
am schwersten zu erreichen sind.
l Übungsphase
l Konfrontation mit Ärger auslösendem Reiz durch mentale Vorstellung oder Rollenspiel
Phase 3
l Einüben kognitiver Techniken und Entspannungstechniken, bis die gedanklichen Reaktionen und Verhal-
tensreaktionen automatisch und auf Abruf erfolgen
Ebenso hat sich das Auslösen positiver Emotionen als hilfreich erweisen.575
8.4.4 Aggressionspräventionsprogramme
3. Des Weiteren gehören psychoedukative Elemente dazu, welche die Unangemessenheit und
Ineffektivität aggressiven Verhaltens vermitteln.
4. Letztendlich ist es entscheidend, das Denken über das Denken – die Metakognition – und
Selbstreflektion zu erlernen.
Wie wir gelernt haben ist die Katharsis von Aggressionen wissenschaftlich wiederlegt und auch
Bestrafungen sind nicht ganz unproblematisch, da sie als Frustration erlebt werden können und
auch im Sinne des Modelllernen erfahrbar machen, dass Gewalt eine Option ist. Selbstverständlich
kann auf eine Bestrafung von Verbrechen und Gewaltdelikten nicht verzichtet werden, aber es
sollten dennoch auf gesellschaftlicher Ebene noch andere Mechanismen gefunden werden.
Betrachten wir die Faktoren, die darüber entscheiden, ob und in welchem Ausmaß Aggressionen
entstehen, so ergibt sich eine mögliche Prävention darin, dass Kinder und Jugendliche keinen Zu-
gang zu gewaltverherrlichenden Medien haben sollten. Zum anderen ist es hilfreich – denken sie
an die Konflikte zwischen Gruppen – gesellschaftliche Ungerechtigkeiten zu reduzieren, da auch
soziale Ungerechtigkeit das Gefühl von Benachteiligungen erzeugt und somit zu mehr Aggression
auf gesamtgesellschaftlicher Ebene führt. Auch die Verteilungsgerechtigkeit (distributive Gerech-
tigkeit) kann im Arbeitskontext helfen, Aggressionen zu verhindern oder zu hemmen. Hier ist
darauf zu achten, dass das Verhältnis zwischen Aufwand und Ergebnis zwischen den Personen
gleich verteilt ist. Wenn andere Kollegen für die gleiche (oder sogar noch weniger!) Arbeit die
gleiche Anerkennung oder den gleichen Lohn bekommen, fördert dies Aggressionen.577
Übungsaufgaben zu Kapitel 8
038 Welche Gemeinsamkeit besteht zwischen biologischen und psychologischen Ansätzen zur
Erklärung aggressiven Verhaltens?
039 Weshalb haben Gewaltdarstellungen in den Medien Einfluss auf die Entwicklung aggressi-
ven Verhaltens?
040 Manche Manager zeigen starkes aggressives Verhalten: Sie kritisieren in massiver Weise,
üben Druck aus, werden ausfällig u.v.m. Erläutern Sie, welche individuellen Faktoren solch
ein Verhalten bedingen kann.
041 Pöbeln, nörgeln, schimpfen: Menschen sind im Alltag und im Job solchen Formen der Ag-
gression ausgesetzt. Diskutieren Sie am Beispiel „tätliche Übergriffe gegen Busfahrer“, in-
wiefern sich die Frustrations-Aggressions-Hypothese zur Erklärung dieses Phänomens eig-
net, wenn z.B. wenn ein Fahrgast zu laute Musik hört und ermahnt wird oder beim
Schwarzfahren erwischt wird.
042 Erläutern Sie, unter welchen Bedingungen Ärgerbewältigungstrainings erfolgreich zur Prä-
vention aggressiven Verhaltens eingesetzt werden können.
Lösungen
Kapitel 1
001 Die Sozialpsychologie befasst sich mit der Frage, wie andere Menschen und bestimmte
Situationen unser Verhalten bestimmen. Sie befasst sich also mit sozialen Einflüssen. Sie
untersucht, wie Menschen übereinander denken, wie sie sich gegenseitig beeinflussen und
wie sie ihre Beziehungen zueinander gestalten. Es geht dabei um Themen wie Macht, Ein-
fluss, Einstellungsbildung und vieles mehr. Die Definition von Gordon Allport lautet: „So-
zialpsychologie ist der Versuch, zu verstehen und zu erklären, wie die Gedanken, Gefühle
und Verhaltensweisen von Personen durch die tatsächliche, vorgestellte oder erschlossene
Anwesenheit anderer Menschen beeinflusst werden.“ Dabei steht der durchschnittliche
Mensch im Mittelpunkt des Interesses. Demgegenüber beschäftigen sich andere Wissen-
schaftszweige entweder mit ganzen Gesellschaftsgruppen, wie die Soziologie, oder einem
einzelnen Individuum, wie die Persönlichkeitspsychologie.
002 Den Einfluss von Normen auf das Leistungsverhalten verdeutlicht folgendes Beispiel: Eine
Mitarbeiterin kam neu in das Team eines öffentlich-rechtlichen Unternehmens. Die junge
Frau arbeitete vorher in einem Dienstleistungsunternehmen und war gewohnt, sich enga-
giert einzubringen und Leistung zu zeigen. Sie bemerkte schnell, dass in dem neuen Team
ganz andere Regeln galten. So passierte es, dass etliche Mitarbeiter sich morgens bei der
Zeiterfassung registrierten und dann erst einmal gemütlich zum Kaffeetrinken in die Kan-
tine gingen. Es gab auch Kennzahlen in dem Team, die zeigten, wie schnell Vorgänge
abgearbeitet wurden. Die neue Mitarbeiterin bekam recht bald den Hinweis aus dem Team,
sie solle nicht so schnell arbeiten, weil sie die bisherigen Durchschnittswerte zu sehr in die
Höhe trieb. Um es sich nicht mit den neuen Kollegen zu verscherzen, passte sie schnell ihr
Verhalten den impliziten Normen in diesem Team an, die offenbar lauteten: „Überarbeite
dich nicht. Mache langsam.“
003 Insgesamt ist das Wissen über die Gesetzmäßigkeiten der Konformität hilfreich, denn
dadurch ist es möglich, eine Gruppe bewusster zu steuern. Konformität ist die Tendenz
von Menschen, das Verhalten und die Meinungen anderer Gruppenmitglieder zu überneh-
men. Um Neuerungen ins Team zu bringen, ist es erforderlich, erst einmal die bestehenden
Normen zu kennen. Wenn es z.B. die bisherige Teamnorm „Offenheit für Neuerungen“
gibt, ist es für mich als Vorgesetzten einfacher, etwas Neues einzuführen, weil ich darauf
vertrauen kann, dass diese bestehende Norm von den Mitgliedern konform gelebt wird. In
dem Fall ist Konformität hilfreich. Gerade aber, wenn es die Norm gibt „bei Neuerungen
gibt es immer Sieger und Verlierer und deshalb hält man sich lieber zurück“, habe ich es
als Vorgesetzter schwerer, etwas Neues einzuführen. In dem Fall ist Konformität hinderlich.
Gerade, weil ich selbst ein neues Teammitglied bin und folglich in der Minderheit, wird die
Konformität in der bestehenden Gruppe dazu beitragen, dass ich nicht einfach etwas
Neues umsetzen kann. Die Mehrheit der Gruppe und die etablierte Norm wiegen in dem
Fall schwerer als die hierarchische Funktion des Vorgesetzten. Denn als Vorgesetzter kann
ich zwar etwas anordnen, doch die angemessene Umsetzung kann aufgrund des Konfor-
192 Sozialpsychologie
mitätszwanges in der Gruppe boykottiert werden. Wenn die Mehrheit der Gruppe der Mei-
nung ist, dass der Vorgesetzte sinnlose Vorhaben durchsetzen will, wird es entsprechenden
aktiven oder passiven Widerstand geben. Als neuer Vorgesetzter muss ich in dem Fall be-
sonders die einflussreichen Mitglieder der Gruppe gewinnen und mir insgesamt eine Mehr-
heit von Mitarbeitern erarbeiten, die die geplanten Neuerungen unterstützt. Denn dann
steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich die anderen anschließen – zum einen, weil die
Gruppengröße der „Anderen“ abnimmt und zum anderen, weil die Einstimmigkeit verlo-
ren geht. Bringe ich also ein, zwei wichtige Stimmen auf meine Seite, sinkt die Wahrschein-
lichkeit von Konformität in der Gruppe. Ebenso kann ich für Einzelne die Bedeutung der
Gruppe im Verhältnis zu einem möglichen Gewinn bei Verhaltensänderung reduzieren. Da
kulturelle Einflüsse eine Rolle spielen, ist auch zu beachten, ob die Mitarbeiter aus kollekti-
vistischen oder individualistischen Kulturen stammen. Bei einer kollektivistischen Kultur be-
steht eine höhere Tendenz dazu, individuelle Ziele den Gruppenzielen unterzuordnen.
004 Menschen können sich Autoritäten leichter widersetzen, wenn sie die Gesetzmäßigkeiten
kennen, die Menschen zu Gehorsam veranlassen. Maßnahmen gegen unkritischen Gehor-
sam und gegen die negativen Auswirkungen von Autorität können sein:
l Betonung der Eigenverantwortung des Handelnden: Wenn klargestellt wird, dass Ver-
antwortung nicht allein bei der Autoritätsperson liegt, können viele Fehler vermieden
werden. Dann würde die Pflegekraft in der oben geschilderten Situation nachdenken
und den Arzt auf die ungewöhnliche Dosierung ansprechen.
l Hinterfragung von Motiven und Expertise einer Autoritätsperson: Nicht immer und in
jeder Situation ist ungefragt zu befolgen, was die Autoritätsperson vorgibt. So könnte
im Beispiel der falschen Medikamentenzuordnung durch die Pflegekraft der Patient
nachfragen, was geändert wurde und aus welchem Grund die Veränderung erfolgte.
l Bei etlichen älteren Studien sind die Ergebnisse bei Wiederholungen nicht gefunden
worden und die damaligen Ergebnisse sind jetzt fraglich. Im gleichen Kontext wurden
noch andere Probleme deutlich:
– Es werden meist nur Studien veröffentlicht, wo ein Ergebnis gefunden wurde, ob-
wohl das Nicht-Finden auch ein Ergebnis wäre).
– Forscher stehen unter dem Druck Ergebnisse zu produzieren, dadurch treten auch
Betrugsfälle auf.
Sozialpsychologie 193
l Es existiert ein ethisches Dilemma dergestalt, dass spannende, lebensnahe Forschung häu-
fig aus Gründen der Ethik nicht angemessen ist. Als Beispiele gelten das Milgram-Experi-
ment und das Stanford-Gefängnis-Experiment. Dieses grundlegende Dilemma der Sozial-
psychologie-Forschung lässt sich nicht grundsätzlich lösen, sondern es muss immer wieder
zwischen dem Forschungsinteresse und der Notwendigkeit einer Täuschung abgewogen
werden. Zur Hilfestellung und zur Gewährleistung einer ethischen und die Menschenwürde
achtenden Forschung existieren von Seiten der Psychologie ethische Richtlinien.
Kapitel 2
006 Das Selbstkonzept ist ein Netzwerk von Überzeugungen über uns und besteht aus Inhalten
unserer Selbsterfahrung. Es enthält alle unsere charakteristischen Merkmale, Werte, Ziele,
sozialen Rollen und Ängste. Die einzelnen Elemente unseres Selbstkonzeptes, durch die wir
uns definieren, sind Selbstschemata, die uns helfen, Informationen über die eigene Person
und die zugehörige Umwelt zu analysieren und zu organisieren. Informationen, die das
Selbst betreffen oder in Verbindung zum Selbst gesehen werden, werden besonders leicht
und gründlicher verarbeitet und man erinnert sich besser an sie. Überprüfen Sie das in
Ihrem Alltag: An welches Ereignis erinnern Sie sich eher? Ein intensives Gespräch mit einer
Person über ein für Sie wichtiges Problem oder ein Gespräch mit jemandem über die Prob-
leme einer für Sie unbekannten Person? Die Tendenz, selbstbezogene Informationen bes-
ser als andere Information zu verarbeiten, nennt man Selbstreferenzeffekt. Dieser Selbstre-
ferenzeffekt führt auch dazu, dass wir zum Beispiel die Leistungen oder die Persönlichkeit
anderer Menschen dadurch beurteilen, indem wir sie mit uns vergleichen und uns als Maß-
stab nehmen. Ebenso sind die Merkmale, die wir an uns am meisten schätzen, auch jene,
die wir bei anderen als wichtig erachten. Halte ich mich selber für fleißig, so ist dies ein
Merkmal, über das andere Leute auch verfügen sollten.
007 Der Selbstwahrnehmungstheorie zufolge erschließen sich Menschen ihre inneren Zustände
(Überzeugungen, Einstellungen, Motive und Gefühle) oder den inneren Sollzustand, indem
sie wahrnehmen, wie sie jetzt handeln und sich erinnern, wie sie in der Vergangenheit in
einer bestimmten Situation gehandelt haben. Sie nutzen dieses Wissen über sich selbst, um
auf die wahrscheinlichsten Ursachen und Determinanten des momentanen Verhaltens zu-
rückzuschließen. Eine wichtige Rolle im Rahmen der Selbstwahrnehmung spielen intrinsi-
sche und extrinsische Motive. Wenn man eine intrinsische Motivation durch eine extrinsische
Motivation ersetzt, dann geht das intrinsische Interesse an der Tätigkeit verloren. Dies nennt
man den Effekt der Überrechtfertigung. Er besagt, dass beim Vorhandensein von extrinsi-
schen Gründen grundsätzlich vorhandene intrinsische Gründe in den Hintergrund treten
und letztlich ganz verschwinden können. Laut der Selbstwahrnehmungstheorie von Bem,
werde ich mir mein Verhalten, wenn ich darüber nachdenke, damit erklären, dass ich eine
Belohnung dafür bekomme. Wird mir für mein Verhalten ein externer Grund geliefert, bin
ich nicht mehr auf der Suche und überlege nicht, warum ich mich so verhalten habe. Wir
attribuieren unser Verhalten also nur dann auf innere Zustände, wenn uns die Situation
nicht auseichend das Verhalten zu erklären scheint. Überträgt man dieses Ergebnis auf Füh-
rungsaufgaben, so könnte man daraus schließen, dass Belohnungen kontraproduktiv seien.
Generell sind die experimentellen Ergebnisse in diesem Bereich eindeutig: je mehr jemand
194 Sozialpsychologie
für eine Aktivität belohnt wird, desto weniger attraktiv bewertet er diese. Allerdings muss
man dies differenziert betrachten und kann nicht verallgemeinern, denn der Effekt der Über-
rechtfertigung tritt nur unter bestimmten Voraussetzungen ein. Intrinsische Motivation kann
grundsätzlich nur zerstört werden, wenn sie überhaupt vorhanden war. Das heißt eine Be-
lohnung ist unproblematisch, wenn ohnehin kein oder nur wenig Interesse an der Aufgabe
vorlag; sie ist besonders problematisch, wenn zuvor die intrinsische Motivation hoch war.
Außerdem ist die Art der Belohnung relevant. Ist die Belohnung direkt an Leistung gekop-
pelt, z.B. Bonuszahlung bei Erreichen eines bestimmten Umsatzzieles, so ist die Auswirkung
seltener negativ als eine aufgabenabhängige und leistungsunabhängige Belohnung, z.B.
gleiche Bonuszahlung für alle unabhängig von der Umsatzleistung. Und letztendlich tritt der
Effekt der Überechtfertigung nicht auf, wenn man den Menschen ihre intrinsische Motiva-
tion als eigentlichen Grund für ihr Verhalten deutlich macht.
008 Die Selbstregulation wird durch drei wichtige Faktoren beeinflusst: Energieverfügbarkeit,
Selbstaufmerksamkeit und Selbstüberwachung. Die Selbstregulationsfähigkeit ist einge-
schränkt, wenn wenig Energie zur Verfügung steht. Das bedeutet, dass sie in Stress-Situa-
tionen eingeschränkt ist. Gleiches gilt für Selbstaufmerksamkeit und Selbstüberwachung,
denn bei Stress steht nicht ausreichend Kapazität für diese Funktionen zur Verfügung. Die
Aufmerksamkeit ist eher nach außen gerichtet. So beginnt ein Teufelskreis, denn gerade
eine Stress-Situation würde ein hohes Maß an Selbstregulation erfordern, um positive Be-
wältigung zu ermöglichen.
009 Wir suchen generell Informationen so, dass sie zu unseren Standpunkten, Wünschen, Er-
wartungen und Entscheidungen passen. Dies nennt man selektive Informationssuche (sel-
ective exposure). So lesen wir beispielsweise bevorzugt Zeitungsartikel, die zu unseren po-
litischen Einstellungen passen. Dies führt zu einem Konfirmationsbias und dieser erhöht
das Risiko von Fehlentscheidungen, da wir Risiken und Warnsignale übersehen und unser
Standpunkt objektiv nicht haltbar ist. Als ein Beispiel hierfür gilt der Krieg der USA gegen
den Irak aufgrund vermuteter Massenvernichtungswaffen – obwohl bereits genügend An-
zeichen da waren, die dieser Sicht widersprachen.
010 Eine Dissonanz entsteht immer dann, wenn sich Gedanken, Meinungen, Erinnerungen o-
der Verhalten einer Person nicht im Einklang befinden bzw. im Widerspruch stehen. Das
passiert z.B. wenn Menschen auf Hinweise stoßen, die ihrem positiven Selbstbild wider-
sprechen. In allen diesen Situationen gibt es eine Art inneren Spannungszustand, der aus
dem Bedürfnis nach innerer Konsistenz und der Wahrung eines stabilen, positiven Selbst-
bildes resultiert. Für die Führungspraxis bedeutet dies, dass ich als Vorgesetzter das Selbst-
bild und die Einstellungen, Gedanken und Motive meiner Mitarbeiter kennen muss. Bei-
spiel: Wenn ein Mitarbeiter das Selbstbild hat, er leiste gute Arbeit und ich muss ihm im
Mitarbeiterbeurteilungsgespräch das Gegenteil vermitteln, dann ist es wichtig, dies vorher
zu wissen. So kann ich eine entsprechende Gesprächsstrategie entwickeln, die
darauf abzielt, dass der Mitarbeiter nicht so sehr mit Abwehr auf die Informationen zu
seinen Schwächen reagiert, die seinem Selbstbild entsprechen. Dazu gehört z.B. die Stra-
tegie, mit Selbstwertbestätigung zu arbeiten, um dem Mitarbeiter die Bereiche bewusst zu
machen, die auf Bestätigung seines positiven Selbstbildes abzielen.
Sozialpsychologie 195
Kapitel 3
011 Internale Faktoren sind Faktoren, die innerhalb einer Person liegen, also Persönlichkeit, Ein-
stellungen, Disposition und Charaktereigenschaften. Externale Faktoren sind Faktoren, die
außerhalb einer Person liegen, die in der Situation zu finden sind und sich der Kontrolle der
Person entziehen.
012 Das Kovariationsmodell von Kelley versucht durch eine systematische Beobachtung Fehlein-
schätzungen und Fehlurteile zu minimieren. Die Betrachtung von Verhalten ist danach ver-
gleichbar mit einem wissenschaftlichen Vorgehen, bei dem es darum geht, die genauen Ur-
sachen für Verhalten dadurch zu bestimmen, dass man möglichst viele Situationen beobach-
tet. Indem man dann alle Beobachtungsdaten zusammenfasst, lässt sich recht objektiv sagen,
ob ein beobachtbares Verhalten durch eine Person oder durch spezielle situative Umstände
bedingt ist. Um Attributionsfehler zu vermeiden, sollte der Vorgesetzte genauso vorgehen,
sich Notizen von Beobachtungen machen und unter Berücksichtigung der drei Informations-
arten Distinktheit, Konsensus und Konsistenz eine Einschätzung des Mitarbeiters vornehmen.
013 Nach der Attributionstheorie von Weiner werden Erfolge oder Misserfolge vor dem Hinter-
grund der folgenden drei Dimensionen attribuiert: Kontrollierbarkeit, Ort der Ursache, Sta-
bilität. Um Menschen zu optimalen Leistungen zu führen, ist es wichtig zu analysieren, wie
ihr Selbstwertgefühl ausgeprägt ist und wie sie Erfolge bzw. Misserfolge attribuieren. Stu-
dien zeigen: Leistungsstarke Menschen mit hohem Selbstwertgefühl glauben, dass ihr Erfolg
von ihren Fähigkeiten und Anstrengungen abhängt, auf die sie vertrauen. Sie schreiben ihre
Leistungserfolge internalen, stabilen und unkontrollierbaren Ursachenfaktoren – sprich Be-
gabung – zu, während sie Misserfolge eher internalen, instabilen und kontrollierbaren Fak-
toren (wie mangelnde Anstrengung) oder externalen, unkontrollierbaren Faktoren (Schwie-
rigkeit einer Aufgabe) zuschreiben. Leistungsschwache Menschen dagegen zweifeln eher
an ihren Fähigkeiten und wenn sie einmal Erfolg haben, schreiben sie es mehr dem Zufall
oder Glück zu als ihrem Können. Sie fühlen sich für ihren Erfolg nicht selbst verantwortlich.
Durch das Wissen über die jeweiligen Attribuierungsstile können wir bewusster steuern, wie
sich Leistung optimieren lässt. Zum Beispiel: Der Mitarbeiter macht weniger Verkaufsab-
schlüsse als die Kollegen. Im Gespräch stellt der Vorgesetzte fest, dass der Mitarbeiter diese
Verkaufsschwäche internal, instabil und kontrollierbar attribuiert. In dem Fall hat er sich zu
wenig angestrengt, genügend Besuchstermine zu vereinbaren. Im Gespräch lässt sich dann
vereinbaren, was zu tun ist, damit der Mitarbeiter die erforderlichen Anstrengungen leistet.
Nicht so einfach stellt sich dagegen die Situation da, wenn der Mitarbeiter seine Verkaufs-
schwäche external, instabil und nicht kontrollierbar einschätzt. Er sieht seine Verkaufserfolge
auf Glück und Zufall beruhend. In dem Fall hätte der Vorgesetzte keine Chance, aktive Maß-
nahmen zu vereinbaren, sondern müsste bei dauerhaft schlechter Leistung erwägen, sich
von dem Mitarbeiter zu trennen, weil sich keine Entwicklungsmaßnahmen anbieten.
014 Laut der attributionstheoretisch reformulierten Theorie der erlernten Hilflosigkeit besteht
ein erhöhtes Depressionsrisiko bei einem Attributionsmuster, bei dem Menschen die Nei-
gung dazu haben, Ereignisse internen, stabilen, unkontrollierbaren und globalen Ursachen
zuzuschreiben. Je stärker die Zuschreibung von Unbeeinflussbarkeit auf externe, spezifi-
sche und instabile Faktoren erfolgt, desto weniger wahrscheinlich wird der Weg in die De-
pression. Eine Depressionsprophylaxe besteht darin, herauszufinden, wer depressionsför-
derliche Attributionsmuster hat, diese bewusst zu machen und in einer Entwicklungsmaß-
nahme alternative Attributionsmuster zu entwickeln und zu stabilisieren. Ein weiterer Punkt
ist, typische Situationen von wahrgenommener Nicht-Kontingenz zu ermitteln und dafür
ggfs. vorhandene Handlungsspielräume aufzuzeigen, die subjektiv nicht erkannt wurden.
196 Sozialpsychologie
Kapitel 4
016 Schemata sind kognitive Strukturen oder mentale Repräsentationen, die vorverarbeitete
Informationen und Vorstellungen oder Erwartungen beinhalten, die sich auf Objekte oder
Menschen bestimmter Kategorien beziehen. Sie definieren diese Objekte oder Gruppen.
Stereotype enthalten Wissen, Überzeugungen und Erwartungen bezüglich einer sozialen
Gruppe. Sie führen dazu, dass bei Feststellen der Passung zu einem Stereotyp zunehmend
selektiver wahrgenommen wird, dass Informationen fokussiert werden, die zur Erwartung,
zum Stereotyp passen. Heuristiken ermöglichen eine Abkürzung in der Informationsverar-
beitung. Sie bilden eine Art kognitive Faustregel, um Urteile zu sozialen Situationen oder
Personen zu bilden. Die Wahrnehmung bereits weniger Informationen führt direkt zur
Schemaaktivierung und zur Einordnung in einen Stereotyp.
Nehmen wir als Beispiel hierfür ein Schema „sportliche Menschen“. Merkmale könnten
hier sein: schlank, durchtrainiert, aktiv, kraftvoll. Das heißt, man sieht jemanden, der diesen
Kriterien entspricht und geht davon aus: dieser Mensch ist sportlich. Ein zugehöriger Ste-
reotyp könnte sein, dass sportliche Menschen diszipliniert sind, sich gesund ernähren, sich
häufig bewegen, Wert auf ihr Äußeres legen, erfolgreich im Beruf sind. Und die zugehörige
Heuristik könnte lauten: „Sportliche Menschen sind erfolgreich“.
Soziale Kognition beschäftigt sich damit, wie wir über andere Menschen denken und wie
die beteiligten Prozesse unsere Urteile und unser Verhalten in sozialen Kontexten beein-
flussen. Anhand der beschriebenen Begriffe und der Beispiele erkennt man, wie diese Pro-
zesse auf unser Denken über andere Menschen einwirken, indem wir aufgrund nur weni-
ger Informationen komplexe Einschätzungen und Urteile über Personen fällen.
017 Das Zweistufenmodell der kognitiven Verarbeitung von Stereotypen beschreibt den Pro-
zess, der in unserem Kopf abläuft, wenn wir mit einer Person zu tun haben, zu der wir ein
Stereotyp abgespeichert haben. Wie der kognitive Prozess abläuft, hängt davon ab, wie
voreingenommen man ist, d.h. wie stark ein bestimmtes Stereotyp zu einer Personen-
gruppe ist. In dem Modell wird zwischen der automatischen und der kontrollierten Verar-
beitung von Informationen unterschieden. Ein automatischer Prozess ist einer, über den
wir keine Kontrolle haben. Er läuft ohne Absicht ab, ohne Aufwand und ohne Bewusstsein.
Sozialpsychologie 197
Ein kontrollierter Prozess unterliegt der willkürlichen Kontrolle einer Person, er findet ab-
sichtlich statt, ist aufwendig und erfordert Bewusstsein. Was passiert beispielsweise, wenn
Sie einen Ostfriesen treffen. Vermutlich kommt Ihnen fast automatisch in den Sinn, dass
Ostfriesen einfältig sind, so wie man es von den Ostfriesenwitzen kennt. Dieser automati-
sche Prozess läuft ab, wenn sie stark voreingenommen sind. Bei Menschen, die nicht so
stark voreingenommen sind, können die kontrollierten Verarbeitungsprozesse dieses Ste-
reotyp korrigieren und auf die automatische Stereotypaktivierung nicht die stereotype Re-
aktion folgen lassen. Solch eine Person denkt zum Beispiel, dass dieses Stereotyp völlig
unzutreffend ist und zu Unrecht die ganzen Bewohner der Region Ostfriesland abwertet.
Sie sagt sich selbst, dass sie dieses Stereotyp ignorieren soll.
018 Das Kontinuummodell der Eindrucksbildung von Fiske und Neuberg beschreibt, wie wir
uns eine Meinung zu einer Person bilden. Das Modell soll am Beispiel eines Vorstellungs-
gesprächs verdeutlicht werden. Der Personalchef des Unternehmens trifft den Bewerber,
der sich für eine Stelle in der Buchhaltung beworben hat. Dieser Bewerber hat ein unge-
bügeltes Hemd an, das etwas aus der Hose hängt und riecht nach altem Schweiß. Gemäß
dem Modell verläuft die Eindrucksbildung auf einem Kontinuum, dessen einer Pol die ka-
tegorisierten Bewertungen und dessen zweiter Pol die individualisierten Reaktionen dar-
stellen. Bei der Wahrnehmung des Bewerbers greift der Personalchef danach als erstes auf
kategoriales Wissen zurück. Er sieht den Bewerber und ordnet ihn in bekannte Kategorien
ein, z.B. männlich, ungepflegt, mittleren Alters. Im Anschluss an diesen ersten Schritt er-
folgt eine Einschätzung der persönlichen Relevanz der entsprechenden Person. Da es ein
Vorstellungsgespräch ist, besteht ein höheres Interesse an der Person. Deshalb ist der Ver-
such, die individuellen Eigenschaften des Bewerbers zu erschließen, umfassender. Die Mo-
tivation zu weiterer Erkenntnis ist auch durch drei weitere Aspekte erhöht:
l Es gibt eine gewisse Abhängigkeit des Wahrnehmenden zur Zielperson. Denn der Per-
sonalchef wird im Falle der Einstellung intensiver mit dem Mann zusammenarbeiten.
l Hinzu kommt die Verantwortlichkeit des Wahrnehmenden. Der Personalchef muss
seine Einschätzungen auch später vor der Buchhaltungsabteilung rechtfertigen.
l Und schließlich ist noch der Punkt Instruktion zu genauer Wahrnehmung zu nennen. Die
Rolle als Personalchef im Vorstellungsgespräch erfordert eine genaue Wahrnehmung.
Je höher das Interesse an der Person, desto umfassender ist nun der Versuch, individuelle
Eigenschaften der betreffenden Person zu erschließen. Dieser Prozess der Detailauseinan-
dersetzung läuft dann solange, bis der Personalchef eine gewisse Zufriedenheit mit den
Eindrücken erreicht hat und keine Motivation mehr für weitere Erkenntnisse besteht.
019 Als Vorurteile werden die typischerweise negativen Bewertungen von Gruppen und deren
Mitgliedern und die damit einhergehenden negativen Gefühle und Verhaltenstendenzen
definiert. Bestimmend für ein Vorurteil ist neben der Stereotypisierung die negative, ableh-
nende, sogar teilweise feindselige Haltung bis hin zur Diskriminierung gegenüber der an-
deren Person oder Personengruppe, die allein auf der Gruppenzugehörigkeit beruht. Vor-
urteile entsprechen einer bestimmten Einstellung. Zum Beispiel: „Hartz-IV-Arbeitslose sind
zu faul, um zu arbeiten“. Vorurteile setzen sich aus drei Komponenten zusammen:
l einer affektiven bzw. emotionalen Komponente, die die Art des mit dieser Einstellung
verbundenen Gefühls repräsentiert (z.B. Ärger, weil Hartz-IV-Arbeitslose den Sozial-
staat ausnutzen),
198 Sozialpsychologie
l einer kognitiven Komponente, bei der es um die Überzeugungen, Annahmen oder Ge-
danken geht, die diese Einstellung ausmachen (z.B. Hartz-IV-Arbeitslose sind nicht be-
reit, jeden Job zu machen, das sieht man daran, dass Erdbeerpflücker, Müllmänner o-
der Spargelstecher eher aus dem Ausland kommen),
l und einer Verhaltenskomponente, die sich auf das Handeln bezieht (z.B. dass eine Per-
son Hartz-IV-Empfänger abweisend, distanziert behandelt oder gar als Faulpelze be-
schimpft).
020 Die Kontakthypothese besagt, dass sich Vorurteile abbauen lassen, wenn die Personen-
gruppen, die gegenseitige Vorurteile haben, in bestimmter Weise in Kontakt treten. Das
soll an einem Beispiel von Vorurteilen zwischen der Marketingabteilung und dem Vertrieb
aufgezeigt werden. Der Vertrieb ist der Meinung, dass im Marketing nur „Besserwisser“
sitzen. Die Marketingleute sitzen in ihrem Elfenbeinturm und kreieren teure Kampagnen,
die an den Kundenbedürfnissen vorbeigehen. Die Marketingabteilung hält den Vertrieb für
veränderungsresistent und innovationsfeindlich, weil er neue Ideen abblockt und beim
Kunden nicht engagiert vorbringt. Durch diese gegenseitigen Vorurteile ist die Zusammen-
arbeit erschwert. Beide haben nicht den Eindruck, am gleichen Strang zu ziehen. Gemäß
der Kontakthypothese lassen sich Vorurteile abbauen, wenn z.B. Vertreter der Marketin-
gabteilung und des Vertriebs gemeinsam eine Kampagne gestalten oder die Produktent-
wicklung erarbeiten. Dabei würden die Vertreter auch immer wieder einmal wechseln. In
dem Fall könnten die sechs erforderlichen Bedingungen für den Kontakt realisiert werden,
wodurch sich Vorurteile und diskriminierendes Verhalten abbauen lassen könnten.
l wechselseitige Abhängigkeit;
l ein gemeinsames wichtiges Ziel;
l gleicher Status;
l zwanglose, freundliche Umgebung, in der die Mitglieder der Eigengruppe mit den
Mitgliedern der Fremdgruppe ungehindert interagieren können;
l Kontakt mit mehreren Mitgliedern der Fremdgruppe – wichtig ist, dass die Mitglieder
der Fremdgruppe als typisch angesehen werden, sonst wird das Stereotyp aufrecht-
erhalten, weil man meint, es sei eine Ausnahme;
l Gleichheit als soziale Norm; in der jeweiligen Situation gelten Spielregeln, die die
Gleichheit unter den Gruppenmitgliedern fördern und unterstützen.
Unter der Bedingung, dass sowohl die Vertreter des Marketings als auch die des Vertriebs
wechselseitig abhängig sind, um das gemeinsame Ziel von Verkaufserfolg zu erreichen,
kann man sich zum Beispiel gemeinsame Workshops und Arbeitsmeetings vorstellen, die
die entsprechende freundliche Umgebung schaffen, wo die Mitarbeiter der beiden Grup-
pen aufgrund der gemeinsamen Arbeit an einem Projekt interagieren. Es gibt den gleichen
Status und auch Spielregeln der Gleichheit, wenn es darum geht, das beste Vorgehen für
ein Projekt zu entwickeln. Ein unabhängiger Moderator könnte diesen Prozess noch unter-
stützen. Indem in solchen Projekten auch immer wieder verschiedene Vertreter beider Ab-
teilungen zusammenarbeiten, ist zu erwarten, dass sich die negativen gegenseitigen Mei-
nungen reduzieren lassen.
Sozialpsychologie 199
Kapitel 5
021 Eine Einstellung ist eine bestimmte Sichtweise auf die Welt. Sie besteht in der Bewertung
von Menschen, Objekten oder Ideen. Bewertungen sind positive oder negative Reaktionen
auf Ereignisse oder sonstige „Dinge“, die uns im Alltag begegnen. Beispiele: „Gesunde
Ernährung verlängert das Leben.“ Oder „Körnerbrot fördert die Verdauung.“ Mit jeder
Einstellung sind bestimmte Emotionen (affektive Komponente), ein bestimmtes Wissen
(kognitive Komponente) und bestimmte beobachtbare Handlungen (Verhaltenskompo-
nente) verbunden.
022 Aufdrucke wie „Rauchen kann tödlich sein“ oder schockierende Bilder wecken Angst und
konfrontieren mit Lebensbedrohlichkeit. Menschen möchten mit diesen Bedrohungen nicht
konfrontiert werden und neigen daher dazu, die Informationen nicht wahrzunehmen. Angst
kann zwar Verhaltensänderung bewirken, jedoch nur, wenn mäßige Angst erzeugt wird und
gleichzeitig Mittel an die Hand gegeben werden, um sie zu reduzieren. Hier müsste also
gleichzeitig Aufklärung über Möglichkeiten zum Ausstieg aus dem Rauchen erfolgen.
023 Bei der Technik der Einstellungsimpfung durchdenkt man die Argumente gegen die eigene
Einstellung im Voraus, bevor ein Angriff dazu erfolgt. Je mehr man im Voraus über Pro-
und Contra Argumente nachdenkt, desto besser kann man gemäß dieser Technik die Ver-
suche anderer abwehren, die darauf abzielen die eigene Einstellung zu verändern. Die Ab-
wehr ist dann mithilfe logischer Argumente möglich. Indem man sich „kleinen Dosen“ an
Argumenten gegen die eigene Position aussetzt, wird man immun gegen spätere vehe-
mentere Versuche der Einstellungsänderung. Menschen, die sich bereits mit den Argumen-
ten befasst haben, werden relativ immun gegen die Effekte späterer Botschaften – genau
wie man durch eine Impfung mit einer kleinen Menge Viren gegen eine richtige Virusin-
fektion immun wird. Im Gegensatz dazu sind Menschen, die sich noch nicht intensiv mit
einer Frage befasst haben, die also ihre Einstellung auf der peripheren Route gebildet ha-
ben, besonders anfällig für einen Angriff mit logischen Argumenten auf diese Einstellung.
024 Eine direkte Messmethode zur Erfassung von Einstellungen ist der Einsatz von Fragebögen
mit Ratingskalen. Ein Beispielitem für einen Fragebogen ist: „Politikern darf man nicht glau-
ben.“ Der Befragte kreuzt dann auf einer Skala von „1“ = „stimmt völlig“ bis „5“ =
„stimmt gar nicht“ an, wie sehr er dieser Aussage zustimmt. Dadurch wird die Ausprägung
der Einstellung einer Person erfasst.
Eine indirekte Messmethode zur Erfassung von Einstellungen stellt die Verhaltensbeobach-
tung dar. Körpersprachliche Signale, Handlungen, die Dauer von Interaktionen sollen Rück-
schluss auf zugrundeliegende Einstellungen liefern. Wenn ich z.B. sehe, wie ein Passant
einem Straßenmusiker Geld in den Hut wirft, dann kann ich die Einstellung unterstellen,
dass dieser Passant „Straßenmusiker mag und gute Leistungen mit Geld honoriert.“
200 Sozialpsychologie
025 Aufgrund unseres Wunsches nach einem positiven Selbstbild und dem damit verbundenen
Bedürfnis, ein relativ hohes Selbstwertgefühl aufrechtzuerhalten, kann man die These ver-
treten, dass ein Vorgesetzter das Leistungsverhalten seines Mitarbeiters vorhersehen kann,
wenn er dessen Einstellung zu seiner Arbeit kennt. Aufgrund von konsistenz-theoretischen
Überlegungen wird sich der Mitarbeiter also im Sinne seiner Einstellungen verhalten, da es
sonst zu Dissonanz kommt. Wenn ein Mitarbeiter eine hohe Leistungsorientierung als Ein-
stellung hat und merkt, dass er in seinen Leistungen nachlässt, ist also zu erwarten, dass der
Mitarbeiter diesen Leistungsnachlass registriert und entsprechend gegensteuert. Es gibt je-
doch andere Punkte, die dagegen sprechen, dass ein Vorgesetzter eine genaue Vorhersage
treffen kann. Zum einen zeigen die Studien zum sozialen Einfluss, dass sich Menschen auf-
grund der Anwesenheit anderer Menschen ganz anders verhalten, als es ihren Einstellungen
entspricht. Außerdem macht die Theorie des überlegten Handelns deutlich, dass aufgrund
von Einstellungszugänglichkeit eine Verhaltensvorhersage am ehesten bei spontanem Ver-
halten möglich ist. Ganz anders ist dies bei überlegtem Verhalten. Hier gilt es nämlich die
Verhaltensintentionen und die darauf einwirkenden drei Faktoren „Einstellung gegenüber
dem Verhalten“, „subjektive Normen“ und „wahrgenommene Verhaltenskontrolle“ zu
kennen. Nur wenn alle diese Informationen zur Verfügung stehen, ist eine vergleichsweise
verlässliche Prognose möglich. In der betrieblichen Praxis hat ein Vorgesetzter jedoch kaum
die Gelegenheit, stets alle diese Faktoren zu erfassen bzw. vom Mitarbeiter ehrlich in Erfah-
rung zu bringen. Fazit: Ein Vorgesetzter kann nicht mit völliger Sicherheit anhand der be-
kannten Einstellungen seines Mitarbeiters Vorhersagen zu dessen Leistungsverhalten tref-
fen, da es keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen Einstellung und Verhalten gibt.
Kapitel 6
026 Die Reziprozitätsnorm geht davon aus, dass eine Balance zwischen Geben und Nehmen
angestrebt wird. Das bedeutet, prosoziales Verhalten wird gezeigt in der Hoffnung, später
selbst auch Nutznießer pro-sozialen Verhaltens zu werden.
027 Positive und negative Stimmung können einen positiven Effekt auf prosoziales Verhalten
haben: Positive Stimmung deshalb, weil
l gute Laune den Fokus auf positive Aspekte des Lebens lenkt und Menschen bestrebt
sind, ihre gute Laune zu erhalten, was mit Hilfe von guten Taten gut möglich ist;
l gute Stimmung die Selbstaufmerksamkeit erhöht und erhöhte Selbstaufmerksamkeit
dazu führt, dass wir mehr darauf achten was in uns vorgeht, wie wir uns verhalten, ob
wir unseren Werten entsprechen;
l Hilfeleistung ein Verhalten ist, das zu unseren Werten passt und den Selbstwert unter-
stützt.
Sozialpsychologie 201
028 Bevor eine Person Hilfe leistet, laufen folgende fünf Entscheidungsschritte ab:
Sie sehen, Hilfeleistung ist nicht so einfach und es sind viele Kriterien zu berücksichtigen.
Für eine breite Aufklärung spricht die Tatsache, dass den meisten Menschen die psycholo-
gischen Mechanismen gar nicht bewusst sind, die in Notsituationen passieren. Menschen
reagieren aufgrund von Unwissenheit intuitiv und damit in der Regel falsch, wie das Phä-
nomen der Verantwortungsdiffusion zeigt. In dem Moment, wo jeder Bürger genau weiß,
unter welchen Bedingungen in Notfällen nicht geholfen wird, kann er bewusster ein zufäl-
liges und intuitives Reagieren vermeiden. Gegen eine Aufklärungskampagne spricht, dass
Menschen – ähnlich wie beim Erlernen von Erste-Hilfe-Maßnahmen – sehr schnell das Ge-
lernte wieder vergessen, da es in der Regel nur sehr selten einen Anwendungsfall gibt.
Schließlich ist noch zu erwähnen, dass Menschen trotz guten Wissens nicht handeln, wenn
sie persönliche Nachteile befürchten. Selbst wenn einer Person die o.g. fünf Entscheidungs-
schritte bewusst sind, wird sie nicht handeln, wenn sie fürchtet, dadurch selbst in ernste
Schwierigkeiten zu kommen. Trotz der Kritikpunkte ist jedoch in der Summe Aufklärung
empfehlenswert, um soziale Einflüsse von unterlassener Hilfeleistung zu vermindern. Eine
Studie zeigt, dass Teilnehmer einer Vorlesung über Zuschauerinterventionsforschung im
Anschluss zu 43% einem anderen Studierenden halfen, der regungslos am Boden lag. Teil-
nehmer einer anderen Gruppe, die nicht diese Vorlesung besucht hatten, halfen nur zu
23%. Damit die Erkenntnisse nicht in Vergessenheit geraten, gilt es, die erforderlichen
Handlungsempfehlungen immer wieder zu kommunizieren.
029 Mit dem Begriff Verantwortungsdiffusion ist gemeint, dass sich mehrere Zeugen eines Un-
glücks die Verantwortung zum Eingreifen teilen, so dass jeder Einzelne weniger Verant-
wortung empfindet, als wenn er allein wäre. Aufgrund der Tatsache, dass jeder andere
auch helfen könnte, hilft am Ende keiner. Diese Verantwortungsdiffusion kann man
dadurch vermindern, dass Personen direkt angesprochen und um Hilfe gebeten werden.
So könnte ein Unfallopfer – sofern es noch in der Lage dazu ist – rufen: „Sie im blauen
Hemd, kommen Sie bitte und helfen mir.“ Durch diese Direktansprache wird die Verant-
wortlichkeit gesteigert und die Beobachter merken, dass Hilfe benötigt wird. Als Beobach-
ter eines Notfalls lässt sich die Verantwortungsdiffusion auch dadurch auflösen, dass man
selbst Leute anspricht.
202 Sozialpsychologie
030 Die prosoziale Persönlichkeit zeichnet sich durch folgende Merkmale aus: Empathie, soziale
Verantwortung, eine internale Kontrollüberzeugung, Glaube an eine gerechte Welt und
positives Selbstwertgefühl. Mit dem Begriff „pluralistische Ignoranz“ wird das Phänomen
beschrieben, dass Zuschauer eines Notfalls deshalb nicht eingreifen, weil alle zu Beginn
passiv sind und sich dadurch der Eindruck erweckt, dass es angemessen ist, nicht zu helfen.
In Notsituationen ist anzunehmen, dass Menschen mit einer prosozialen Persönlichkeit
mehr angeregt werden zu helfen, weil die Situation deren Einstellungen aktiviert. Da die
prosoziale Persönlichkeit eine internale Kontrollüberzeugung und ein positives Selbstwert-
gefühl empfindet, wird sie sich auch eher als kompetent erleben und zur Tat schreiten.
Dazu trägt auch bei, dass für die Person soziale Verantwortung ein besonderer Wert dar-
stellt. In Summe ist anzunehmen, dass die starken persönlichen Eigenschaften dazu beitra-
gen, dass eine Person in einer Notsituation nicht passiv reagiert, sondern schnell in Aktion
tritt und dadurch zu einem Modell von Hilfe leisten wird. Dadurch wird die pluralistische
Ignoranz überwunden, die darin besteht, dass anfangs erst einmal Passivität vorherrscht.
Kapitel 7
031 Die Identität eines Menschen bewegt sich nach der Theorie der sozialen Identität auf einem
Kontinuum von personaler Identität bis hin zur sozialen Identität. Die personale Identität ent-
hält all das Wissen, was ich über die eigene Person habe: Fähigkeiten, Charakter, Persönlich-
keit, Intelligenz usw. Dieses Wissen formt sich aus dem Vergleich mit anderen Personen. Auf
der anderen Seite meiner Identität steht die soziale Identität, als die Wahrnehmung meines
Selbst als ein Teil einer Gruppe. Die Vergleiche finden hier also auf Gruppenebene statt:
meine Bezugsgruppe wird mit der anderen und deren Eigenschaften verglichen. An dieser
Stelle passiert der Aufwertungsprozess der eigenen Gruppe um meinen Selbstwert zu stei-
gern. Je nach situativen Kontext befinden wir uns also in einem Wir-Modus, bei dem wir die
Mitglieder der eigenen und der Fremdgruppe homogener wahrnehmen als sie tatsächlich
sind, und einem Modus, wo die individuellen Merkmale im Vordergrund stehen. Mit der
Theorie der sozialen Identität lassen sich demnach der soziale Wettbewerb zwischen Grup-
pen, grundlegende sozialpsychologische Prozesse wie Vorurteilen, Rassismus und Abwertung
anderer Gruppen, aber auch das Verhalten in Organisationen verstehen. Organisationen sind
große Gruppen von Menschen, welche häufig aus vielen Untergruppen (Abteilungen, Berei-
chen) bestehen und wo es verschiedene wahrgenommene soziale Identitäten gibt. Die Ab-
wertung der Fremdgruppen alleine fördert schon Feindseligkeiten zwischen Gruppen, so dass
hieraus auch schon Konflikte und Aggressionen entstehen können, ohne das ein materieller
Interessenskonflikt zwischen den Gruppen vorliegt.
032 Soziales Faulenzen ergibt sich bei der Gegenwart anderer, wenn die Einzelleistung nicht
identifizierbar ist. Da kein Bewertungsdruck herrscht und man sich entspannen kann, sind
schwierige Aufgaben leichter zu lösen, als wenn man allein ist, bei leichten Aufgaben wird
in der Gruppe jedoch weniger Mühe investiert, als wenn man allein arbeitet. Soziale Er-
leichterung hingegen ist wahrscheinlich, wenn bei Anwesenheit anderer die Einzelleistung
bewertet werden kann. Hier wird man sich in der Gruppe stärker bemühen, so dass leichte
Aufgaben besser gelingen, schwierige Aufgaben jedoch schlechter, da man unter Bewer-
tungsdruck steht. Folglich eignen sich in einem Großraumbüro, bei dem sich die Mitarbeiter
gegenseitig sehen und so stets die Anwesenheit anderer vorliegt, besonders leichte Auf-
gaben, wenn die Einzelleistung messbar ist und komplexe, schwierige Aufgaben, wenn die
Einzelleistung nicht messbar ist.
Sozialpsychologie 203
033 Minderheiten nehmen Einfluss, wenn sie konsistent und beharrlich auftreten. Daher muss
ein neues Gruppenmitglied trotz möglichen Gruppendrucks klar Stellung beziehen und
seine Position über die Zeit und über verschiedene Situationen hinweg beibehalten. Das
neue Gruppenmitglied braucht also die Fähigkeit, seine Impulse immer wieder über längere
Zeit einzubringen. Durch die ständige Konfrontation mit dieser Minderheitenmeinung
kommt es der Theorie zufolge zur Aufmerksamkeit der anderen Gruppenmitglieder und zu
einer Auseinandersetzung mit der Thematik. Die neuen Gedanken werden immer mehr in
Betracht gezogen. Damit das neue Gruppenmitglied in seiner Minderheit überhaupt Ein-
fluss bekommt, braucht es jedoch gute und starke Argumente und muss es schaffen,
schnell Verbündete aus der Mehrheit für sich zu gewinnen. Insgesamt muss es geschickt
agieren, um nicht unnötig Widerstände zu provozieren. Ein rigides oder gar dogmatisches
Auftreten ist eher kontraproduktiv.
l Sympathie. Da wir dem anderen gegenüber ein positives Gefühl hegen, kaufen wir
ihm z.B. eher etwas ab, das wir vielleicht gar nicht brauchen oder schlagen weniger
eine Bitte ab, als wenn wir eine Person unsympathisch finden.
l Beeinflussung und Überzeugung fällt leichter mit Hilfe der Herstellung von Ähnlichkeit
und Gemeinsamkeiten. Nehmen Sie das Beispiel Autokauf. Sie wissen, Ihr Kunde besitzt
einen Hund. In dem Moment, wo Sie sich auch als Hundebesitzer zu erkennen geben,
entwickelt sich gleich eine viel vertrautere Beziehung. Die Gemeinsamkeit signalisiert,
dass Sie ähnlich wie der andere denken und dadurch läuft der Verkauf einfacher.
l Das Erzeugen positiver Gefühle ist eine häufig gebrauchte und erfolgreiche Möglich-
keit zur Überzeugung anderer. Positive Gefühle entstehen beispielsweise, wenn Inte-
resse an der Person gezeigt wird, wenn Zustimmung erfolgt, Übereinstimmungen ge-
funden werden, positive nonverbale Signale wie Lächeln, Blickkontakt, körperliche
Nähe oder Spiegelung der Körperhaltung gezeigt werden. Auch diese Strategie
kommt im Verkaufsprozess zum Einsatz, indem man lächelt, wenn der Kunde etwas
erzählt, seine Meinung unterstützt oder interessierte Fragen zu seiner familiären Situa-
tion, seinem beruflichen Kontext oder seinen Hobbys stellt. Je positiver die Gefühle
eines potentiellen Kunden oder einer Person, die von einer Meinung überzeugt wer-
den soll, desto leichter erfolgt die gewünschte Beeinflussung.
035 Commitment bedeutet, dass sich eine Person an eine geäußerte Meinung oder Zusage
innerlich gebunden fühlt. Dass sich Menschen in dieser Weise persönlich selbst verpflich-
ten, wird konsistenztheoretisch erklärt. Menschen streben danach, dass es keine wider-
sprüchlichen Kognitionen, Gedanken, Meinungen etc. gibt, da es sonst zum unangeneh-
men Zustand der inneren Dissonanz kommt. Vor diesem Hintergrund wird das Commit-
ment einer Person umso ausgeprägter, je mehr folgende Voraussetzungen erfüllt sind:
Wenn eine Person von sich aus, d.h. aktiv, eine Zusage oder ein Versprechen macht, dies
auch noch öffentlich und freiwillig tut, erhöht sich der Selbstverpflichtungscharakter. Das
beliebteste Beispiel dafür ist, wenn eine Person in dieser Weise kundtut, dass sie künftig
nicht mehr rauchen will. Außerdem wird Commitment gesteigert, wenn man viel Mühsal
und viel Anstrengung hatte, um eine Sache zu erreichen, z.B. den Durchlauf eines schwie-
rigen Bewerbungsverfahrens, um einen bestimmten Job zu ergattern. Indem ein Vorge-
setzter sich dieser Mechanismen der Commitment-Steigerung bewusst ist, kann er diese
gezielt einsetzen, wie das nachfolgende Beispiel zum Thema Zielvereinbarung illustrieren
soll: Der Vorgesetzte fragt im Rahmen von Zielvereinbarungsgesprächen den Mitarbeiter,
204 Sozialpsychologie
welches Ziel er selbst im Rahmen der Firmenziele für nützlich hält. Im Gespräch versucht
der Vorgesetzte, alle Details zu erfragen und mit den Mitarbeitern gemeinsam herauszuar-
beiten. Dadurch entsteht der Eindruck, dass der Mitarbeiter selbst aktiv ist und freiwillig
bestimmte Ansprüche formuliert. Wenn es dann noch Firmenkultur ist, dass eigene Ziele
öffentlich gemacht werden, erhöht sich zusätzlich das Commitment, weil die Kollegen
auch wissen, wozu man sich selbst verpflichtet hat.
036 Nein, Drohungen sind kein wirksames Mittel in der Konfliktlösung. Es zeigte sich sehr deut-
lich, dass eine kooperative Strategie am besten war, weniger gut lief es bei einer einseitigen
Bedrohung und am schlechtesten verliefen die Experimentalbedingungen, bei denen eine
bilaterale Bedrohung stattfand. Bedrohungen führten dazu, dass die jeweils andere Seite
sich nicht bedrohen lassen wollte und aufgrund dessen rächte und so insgesamt beide
Parteien weniger ihre Ziele erreichten.
Auch Kommunikation hilft nur nach einer Schulung wie die Teilnehmer kommunizieren
sollten (Erarbeitung einer Lösung, die für beide Seiten annehmbar ist, eine Lösung die man
auch selber annehmen würde, wenn der andere sie unterbreitet). Andernfalls wird die
Kommunikation dazu benutzt, den anderen zu bedrohen. Folgendes gilt:
l Das Vorhandensein von Drohmöglichkeiten erweist sich als nachteilig und beide Sei-
ten gelangen zu schlechteren Ergebnissen.
l Die Verfügung von Drohmöglichkeiten weckt die Tendenz sie einzusetzen.
l Dies ruft Abwehrreaktion bei der anderen Partei hervor: Drohung provoziert Gegen-
drohung.
l Die damit verbundene Einschränkung der Freiheit wird als Reaktanz empfunden.
l Der Konflikt weitet sich aus und verlagert sich auf andere Gebiete.
l Kooperatives Verhalten wird damit zunehmend unwahrscheinlich.
l Negative Emotionen wie Ärger und Aggression treten auf.
l Der Verzicht auf das Drohpotenzial wird als Schwäche ausgelegt.
l Drohungen müssen manchmal auch wahrgemacht werden, auch wenn dies unter
Kostengesichtspunkten besser unterlassen werden sollte.
Sind Konflikte ausgebrochen, ist vor allem eine Institutionalisierung des Konfliktes, also
eine Kanalisierung der Austragung sowie das Vorhandensein von Normen und Regeln der
Konfliktbearbeitung notwendig. Ebenso ist es notwendig zur Deeskalation von Konflikten
beizutragen: hier ist es besonders wichtig sich vor Augen zu führen, dass gerade emotio-
nale, also gefühlsmäßige Aspekte des Konfliktes, die rationalen Konfliktursachen und Be-
standteile überdecken. Daher ist Folgendes wichtig:
l Reduzierung des Geschehens auf den eigentlichen objektiven Konfliktgrund und da-
mit Entemotionalisierung,
l das Herausstellen gemeinsamer Interessen, Betonung kooperativer Chancen sowie
Darstellen einer günstigeren Kosten-Nutzen-Bilanz bei Kooperation,
Sozialpsychologie 205
Kapitel 8
038 Biologischen und psychologischen Ansätzen ist gemeinsam, dass die Wahrscheinlichkeit
für das Auftreten von aggressivem Verhalten durch förderliche und hemmende Faktoren
sowohl in der Person als auch in der Umwelt beeinflusst wird.
039 Gewaltdarstellungen können aus verschiedenen Gründen das Auftreten aggressiver Ver-
haltensweisen verstärken. Konsum von Gewalt in den Medien578:
040 Dass manche Manager starkes aggressives Verhalten zeigen, lässt sich damit erklären, dass
sie eine zeit- und situationsübergreifende Neigung zu aggressivem Verhalten (Trait-Aggres-
sivität) besitzen. Sie haben möglicherweise im Laufe ihrer Lebensgeschichte körperliche und
verbale Aggressionsformen erlernt, um sich durchzusetzen. Aggression gilt dabei als
Machtfaktor. Eng damit verbunden ist ein weiterer Erklärungsansatz, nach dem man sagen
könnte, dass bei diesen Managern ein feindseliger Attributionsstil vorliegt. Es gibt die Ten-
denz, mehrdeutiges Verhalten einer Person als Verhalten in feindseliger Absicht zu werten.
Es zeigt sich, dass Personen mit hoher Trait-Aggressivität stärker zu solchen feindseligen
Attributionen neigen. Ein weiterer wichtiger Faktor im Kontext aggressiven Verhaltens ist
das Geschlecht. Männer zeigen eher aggressives Verhalten als Frauen. Das gilt besonders
in mehrdeutigen Situationen oder in Alltagssituationen.
Wenn z.B. ein Fahrgast beim Schwarzfahren erwischt wird, wird er daran gehindert, sein Ziel
zu erreichen. Genauso, wenn ihm untersagt wird, zu laute Musik über Kopfhörer zu hören.
Es kann aber auch sein, dass nicht der momentane Frust die zentrale Ursache ist, sondern die
vorherrschende Lebenssituation. Kundengewalt resultiert dann aus der Tatsache, dass z.B.
die Person arbeitslos ist, der Strom abgeklemmt wurde u.a. Dieser ganze angesammelte Frust
entlädt sich dann in speziellen Situationen, bei denen aktuelle Ziele unterbunden werden.
Allerdings gilt dies vermutlich besonders für Menschen, die eine Trait-Aggressivität haben,
d.h. eine Neigung, mit Aggression zu reagieren, anstatt mit Rückzug.
Ein anderer Einflussfaktor für aggressives Verhalten kann gerade bei öffentlichen Verkehrs-
mitteln das Auftreten in einer Gruppe sein. Hier kann als Erklärungsansatz sozialer Einfluss
zu Rate gezogen werden. Wenn es die Norm in der Gruppe (von zumeist Jugendlichen) ist,
zu provozieren, unangenehm aufzufallen, rücksichtslos zu sein u.v.m., lässt sich aggressives
Verhalten gegenüber Busfahrern oder anderen Personen als normatives Verhalten werten
und weniger als frustbedingt.
042 Ärgerbewältigungstrainings können bei bestimmten Personen dazu beitragen, ihre Aggres-
sionen besser zu kanalisieren. Es handelt sich dabei um Personen, die ein Verständnis dafür
haben, dass aggressives Verhalten das Ergebnis mangelnder aggressiver Impulskontrolle ist
und die die Motivation zur persönlichen Veränderung im Umgang mit aggressiven Impul-
sen haben. Unter den genannten Voraussetzungen lernen die Teilnehmer solcher Ärgerbe-
wältigungstrainings die Auslöser, die bei ihnen den Ärger auslösen und Möglichkeiten,
entspannter bzw. angemessener damit umzugehen.
Sozialpsychologie 207
Glossar
Aggression
Verhalten, das darauf abzielt ein Lebewesen zu schädigen oder zu verletzen, wobei das Lebewe-
sen motiviert ist, die Schädigung zu vermeiden.
Aggressionsfragebogen
Selbstbeurteilungsfragebogen zur Messung individueller Aggressivität.
Aggressive Hinweisreize
Situative Hinweisreize, die die Zugänglichkeit zu aggressiven Kognitionen erhöhen.
Allgemeines Aggressionsmodell
Integratives Modell über das Zusammenwirken persönlicher und situativer Einflussvariablen, die über
kognitive Verarbeitung und negative affektive Erregung aggressives Verhalten entstehen lassen.
Altruismus
Prosoziales Verhalten, dessen oberstes Ziel die Unterstützung einer anderen Person ist.
Ärgerbewältigungstraining
Präventiver Ansatz zur Verhinderung oder Verminderung aggressiven Verhaltens, indem Men-
schen lernen Ärger zu regulieren und aggressive Impulse nicht auszuleben.
Attribution
Ursachenzuschreibungen, Erklärungen für eigenes und fremdes Verhalten.
Attributionstheorie
Annahmen darüber, wie Erklärungen für eigenes und fremdes Verhalten entstehen.
Automatischer Prozess
Unbewusster Prozess, der ohne Absicht und Anstrengung auftritt und andere kognitive Prozesse
nicht stört.
Buchführungsmodell
Informationen, die nicht mit einem Stereotyp übereinstimmen, können zu einer Veränderung des
Stereotyps führen.
Bumerang-Effekt
Unterdrückungsversuche von Stereotypen scheitern und führen eher zu noch größerem Einfluss
auf die Urteile und Bewertungen anderer Personen oder Gruppen.
Bystander-Effekt
Je größer die Anzahl von Zuschauern, desto geringer die Wahrscheinlichkeit für Hilfeleistung.
Dampfkesselmodell
Teil der Aggressionstheorie von Konrad Lorenz, der besagt, dass innerhalb eines Organismus stän-
dig aggressive Energie produziert wird, die sich spontan entlädt, wenn vorher kein Hinweisreiz für
208 Sozialpsychologie
Entladung sorgt. Nach Entladung braucht es eine Zeit, bis ausreichend Energie vorhanden ist für
erneutes aggressives Verhalten.
Diskriminierung
Ungerechtfertigte negative, ggf. schädigende Haltung gegenüber einer Person nur aufgrund ihrer
Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe.
Dissonanz, kognitive
Intraindividueller Konflikt durch Widerspruch von Handlung, inneren Werten und Überzeugun-
gen. Menschen versuchen den unangenehmen Zustand, die Dissonanz, zu reduzieren, indem sie
Meinungen, Einstellungen oder Verhalten ändern.
Door-in-the-Face-Technik
Zunächst wird eine große, extreme Bitte formuliert, die mit hoher Wahrscheinlichkeit abgewiesen
wird. Danach erfolgt Rückzug auf eine bescheidenere Bitte (die von Anfang an beabsichtigt war),
deren Erfüllung so wahrscheinlicher wird.
Einstellung
Bewertung von Menschen, Objekten oder Ideen.
Einstellungsimpfung
Prozess zur gedanklichen Immunisierung gegen Einstellungsänderungen, indem kleine Dosen von
Gegenargumenten verabreicht werden.
Empathie
Fähigkeit zu Mitgefühl und Mitleid, Möglichkeit das Leiden einer anderen Person nachzuempfin-
den. Man versetzt sich in die Situation des anderen, übernimmt seine Perspektive und versteht so
die Emotionen.
Empathie-Altruismus-Hypothese
Empathie bahnt rein altruistisches Verhalten, d.h. Hilfe ohne Rücksicht darauf, ob der Helfer einen
Gewinn erzielen kann.
Erregungsübertragung
Übertragung einer neutralen physiologischen Erregung auf eine Erregung, die Ergebnis einer
Frustration ist. Die Ärgererregung wird dadurch ebenso verstärkt wie die aggressive Reaktion.
Evolutionspsychologie
Versuch, soziales Verhalten durch genetische Faktoren zu erklären.
Extrinsische Motivation
Äußere Faktoren sind maßgebend für ein Verhalten, dienen als Ziel, z.B. Belohnung, Gehaltser-
höhung, Orden.
Externale Attribution
Verhalten eines Menschen wird als situativ bedingt interpretiert.
Feindselige Aggression
Aggressives Verhalten, das dem Ausdruck von Ärger und Frustration dient.
Sozialpsychologie 209
Feindseliger Attributionsstil
Tendenz feindselige Absichten zu unterstellen, wenn etwas passiert, ein Schaden entsteht. Ver-
sehen wird nicht in Betracht gezogen.
Foot-in-the-Door-Technik
Eine Person äußert zunächst eine kleine Bitte, die in aller Regel erfüllt wird. Danach erfolgt eine
größere Bitte, die in Zusammenhang mit der kleinen Bitte steht in der Hoffnung, dass dann auch
diese erfüllt wird.
Frustrations-Aggressions-Hypothese
Annahme, dass Frustration die Wahrscheinlichkeit des Auftretens aggressiven Verhaltens erhöht.
Gesamtfitness
Gesamter Fortpflanzungserfolg eines Individuums, der sich aus zwei Komponenten zusammen-
setzt: direkte Fitness in Form des Erzeugens von Nachkommen, indirekte Fitness durch Unterstüt-
zung genetisch verwandter Lebewesen.
Gruppenpolarisierung
Phänomen, dass Gruppen extremere Entscheidungen treffen als der Durchschnitt der einzelnen
Positionen, jedoch in der Richtung, in die schon die einzelnen Meinungen der Gruppenmitglieder
gingen.
Heuristik
Kognitive Faustregel, die Abkürzungen im kognitiven Verarbeitungsprozess erlaubt, jedoch nicht
immer zutrifft, weil nicht alle Aspekte berücksichtigt werden.
Heuristisch-systematisches Modell
Einstellungsänderung als Reaktion auf persuasive Kommunikation kann auf zwei Arten der Infor-
mationsverarbeitung erfolgen: heuristisch und systematisch. Bei ausreichender Motivation und
Fähigkeit zur Auseinandersetzung mit Argumenten wird systematische Verarbeitung erfolgen.
Ohne ausreichende Motivation oder Fähigkeit erfolgt die Verarbeitung heuristischer Hinweisreize.
Hitzehypothese
Hypothese, nach der eine höhere Außentemperatur auch ein erhöhtes aggressives Verhalten mit
sich bringt.
Illusorische Korrelation
Sehen von Zusammenhängen zwischen Gegebenheiten, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind.
In-Group
Gruppe zu der sich eine Person zugehörig fühlt.
Instrumentelle Aggression
Aggressives Verhalten, das gezeigt wird, um ein Ziel zu erreichen.
210 Sozialpsychologie
Internale Attribution
Erklärung von Verhalten einer Person durch in seiner Person liegende Gründe wie innere Einstel-
lung, Charakter, Persönlichkeit.
Intrinsische Motivation
Ein Verhalten ist intrinsisch motiviert, wenn es aus Freude und Interesse am Tun erfolgt.
Introspektion
Untersuchung der eigenen Gedanken, Gefühle und Motive.
Katharsishypothese
Hypothese, die davon ausgeht, dass symbolisches aggressives Verhalten für einen Abbau tatsäch-
lich vorhandener aggressiver Spannung sorgen kann. Hypothese ist mittlerweile weitgehend wi-
derlegt.
Klassische Konditionierung
Ein neutraler Reiz, der keine Reaktion hervorruft, begleitet einen Reiz, der Reaktion hervorruft, bis
der neutrale Reiz alleine die Reaktion hervorruft.
kognitiv-neo-assoziationistisches Modell
Das Modell geht davon aus, dass aggressives Verhalten aus einem negativen Affekt entsteht, der
kognitiv verarbeitet wird und so ein Netzwerk an aggressiven Gedanken und Gefühlen aktiviert.
Kognitive Algebra
Aufsummierung und Gewichtung von Informationen über Persönlichkeitsmerkmale, die zu einem
Eindruck über eine Person führen.
Konfigurationsmodell
Annahme, dass Menschen im Rahmen sozialer Wahrnehmung aktiv aus Teilen von Informationen
ein ganzes Bild zusammensetzen und ggf. fehlende Teile aus Erfahrungswissen ergänzen.
Konflikte
Konflikte sind nicht zu vereinbarende Handlungstendenzen bzw. wahrgenommene Interessens-
unterschiede oder der Glaube, dass die aktuell von den Interessensparteien angestrebten Ziele
nicht gleichzeitig zu erreichen sind.
Konformität
Verhaltensanpassung an eine Mehrheitsmeinung.
Konsistenz
Zeit- und situationsübergreifende Beibehaltung einer Position; zentrale Bedeutung für den Einfluss
von Minderheiten.
Kontakthypothese
Hypothese, dass der Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener sozialer Gruppen Vorurteile ab-
bauen kann, wenn günstige Kontaktbedingungen gegeben sind.
Konversion
Meinungs- oder Einstellungsänderung nach Beeinflussung durch andere.
Modelllernen
Lernen durch Nachahmung.
Normativer Einfluss
Einfluss, der auf dem Bedürfnis beruht, mit Regeln und Erwartungen konform zu gehen, um so-
ziale Ablehnung oder Bestrafung zu vermeiden und soziale Anerkennung zu sichern.
Operante Konditionierung
Verhalten nimmt zu oder ab, je nachdem, ob positive Verstärkung erfolgt oder Bestrafung.
Out-Group
Fremdgruppe, eine Gruppe mit der sich die betreffende Person nicht identifiziert.
Periphere Informationsverarbeitung
Nicht Fakten werden analysiert, sondern periphere Hinweisreize sind Auslöser für Entscheidungen,
Urteile und Verhaltensweisen.
Peripheres Persönlichkeitsmerkmal
Persönlichkeitsmerkmal, das bei der Eindrucksbildung im Rahmen der Gesamtinterpretation einer
Persönlichkeit kein großes Gewicht hat.
Primacy-Effekt
Früher dargebotene Informationen beeinflussen im Rahmen sozialer Wahrnehmung stärker als
später dargebotene Informationen.
Prosoziales Verhalten
Hilfeverhalten, das nicht beruflich motiviert ist und nicht durch eine Wohltätigkeitsorganisation er-
folgt.
Reaktanztheorie
Aversiver Zustand, der durch Beschränkung der Freiheit zur Wahl zwischen verschiedenen Alter-
nativen entsteht. Es wird versucht die ursprüngliche Freiheit wiederherzustellen: „Jetzt erst recht“.
Recency-Effekt
Zuletzt aufgenommene Informationen können stärkere Wirkung haben, weil sie nicht mehr durch
nachfolgende Informationen überdeckt werden und so im Kurzzeitgedächtnis leichter abrufbar sind.
Reziproker Altruismus
Menschen unterstützen jemanden dann, wenn sie davon ausgehen, ebenfalls Unterstützung zu
erhalten.
Reziprozitätsnorm
Ausgeglichene Bilanz zwischen Geben und Nehmen wird angestrebt.
212 Sozialpsychologie
Schema
Kognitive Struktur oder mentale Repräsentation, die vorverarbeitete Informationen über Objekte
oder Menschen bestimmter Kategorien umfasst. Sie bestimmt unsere Erwartungen über Gruppen
und Objekte.
Selbst
Gesamtheit psychologischer Erfahrungen, die das Bild einer Person von sich und ihrem Platz in
der Welt beinhalten. Die psychologischen Erfahrungen sind Gedanken, Gefühle, Motive etc.
Selbstaufmerksamkeit
Die eigene Person ist Gegenstand der Aufmerksamkeit.
Selbstbewertung
Bewertung der Eigenschaften und Merkmale der eigenen Person anhand internalisierter Stan-
dards und sozialer Normen.
Selbsterhöhung
Strategieeinsatz, um ein möglichst positives Bild von sich selbst aufzubauen oder aufrechtzuer-
halten.
Selbstkonzept
Kognitive Repräsentation des Selbst, die das eigene Leben und die eigenen Erfahrungen mit Sinn
erfüllt und soziale Beziehungsgestaltung beeinflusst.
Selbstregulation
Prozess der Kontrolle und Lenkung des eigenen Verhaltens, um Ziele zu erreichen.
Selbstüberwachung
Überwachung des eigenen Verhaltens im Vergleich zu anderen, um interindividuelle Unterschiede
festzuhalten. Es erfolgt Abgleich mit den Anforderungen in Situationen oder den Erwartungen
anderer Menschen.
Skripte
Soziale Verhaltensweisen, die implizit von der Kultur erworben, gelernt werden.
Soziale Dilemmas
Soziale Dilemmas (auch utilitaristisches Dilemma) sind Konflikte, bei denen sich eine Lösung, die
für die Einzelperson vorteilhaft ist, schädlich auf die ganze Gruppe auswirkt, wenn viele sie wählen.
Stereotyp
Kognitive Struktur, die Wissen, Überzeugungen und Erwartungen bezüglich einer sozialen
Gruppe enthält.
Überrechtfertigung
Bei der Ursachenzuschreibung für eigenes Verhalten werden extrinsische Gründe über- und intrin-
sische Gründe unterschätzt.
Ultimativer Attributionsfehler
Neigung dispositionale Attributionen über eine ganze Gruppe von Menschen vorzunehmen.
Urban-overload-Hypothese
Menschen in städtischem Umfeld werden fortwährend mit Reizen konfrontiert und ziehen sich,
um Überflutung zu vermeiden, eher in sich selbst zurück.
Verantwortungsdiffusion
Verantwortung wird unter Zuschauern aufgeteilt. Das bedeutet, bei einer Vielzahl von Zuschauern
fühlt sich jeder einzelne weniger verantwortlich zur Hilfeleistung, als wenn nur wenige zuschauen
oder gar nur ein Zuschauer vorhanden ist.
Verwandtenselektion
Theorie, dass diejenigen Individuen in der Evolution begünstigt werden, die ihre Verwandten un-
terstützen.
Vorurteil
Abwertende Einstellung oder Antipathie gegenüber bestimmten sozialen Gruppen oder ihren
Mitgliedern.
Zentrales Persönlichkeitsmerkmal
Dispositionale, hervorstechende Eigenschaft, die in der Einschätzung einer Person großes Gewicht
hat.
Zugänglichkeit
Ausmaß, in dem Informationen im Gedächtnis leicht gefunden und abgerufen werden können.
214 Sozialpsychologie
Sozialpsychologie 215
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Tabellenverzeichnis