Sebastian Gardner*
Replik auf Dews und ein Plädoyer für
Schelling
DOI 10.1515/dzph-2017-0017
1 Dews (2016).
zu, dass die Freiheitsschrift dadurch überschattet wird, dass in Schellings Denken
eine höherstufige Integration verschiedener Aspekte fehlt. Jedoch ist der Schluss,
den ich daraus ziehe, dass Schelling, gerade, weil er im Jahr 1809 immer noch
keine feste und letztgültige Darstellung einer einzigen philosophischen Methode
hat, die die Aspekte der Freiheit und der Natur und ihre A-priori- und A-posteri-
ori-Aspekte vereinigt, eine metaphysische Ableitung vom praktischen Selbstbe-
wusstsein nicht ausschließt, sondern viel eher Raum für sie lässt, selbst wenn
die Ergebnisse dessen wiederum eine neue Bestätigung von einem Standpunkt
aus benötigen, der theoretisch und nicht praktisch ist und sich nicht selbst auf
die transzendentale Methode beschränkt.2 Kurz gesagt: Schellings Anforderung,
dass Freiheit in einem System der Begriffe verortet sein müsse, macht ein Argu-
ment, das Metaphysik aus dem moralischen Bewusstsein extrapoliert – selbst
wenn er nicht zulassen kann, dass das schon die ganze Geschichte sein soll –,
nicht unmöglich.
Dews’ Einwand ist jedoch genauer fokussiert. Sein Einwand besagt, dass
Schelling im Jahr 1809 „nicht länger glaubt, dass es so etwas gibt wie die Norma-
tivität des reinen praktischen Verstandes“ und die damit verbundene Überlegung
ab der „moralischen Person als geteilt zwischen transzendentaler Freiheit und
dem Einfluss der empirischen Anreize“;3 daher könne er nicht beabsichtigen,
auf die Weise zu argumentieren, die ich vermute. Ich möchte nun ausbauen, was
ich in meinem Artikel kurz und unklar in Bezug auf Schellings Transformation
von Kants Faktum der Vernunft gesagt habe, und zwar auf eine Weise, die darauf
abzielt, die wichtigen Gesichtspunkte, die Dews gegen meine Interpretation stark
macht, zu berücksichtigen.
Es ist unbestreitbar, dass Schelling sich in der Freiheitsschrift gegen Kants
These der Wirksamkeit reiner praktischer Vernunft und seine Identifikation des
moralischen Gesetzes mit dem Prinzip der Autonomie wendet, woraus folgt,
dass Schelling nicht das Faktum der Vernunft befürworten kann, wie es in der
zweiten Kritik steht, weil das Argument gezielt konzipiert ist, um die Erkenntnis
der intelligiblen Grundlage der transzendentalen Freiheit zu etablieren, die vom
moralischen Gesetz, gedacht als Prinzip der Autonomie, vorausgesetzt wird. Es
ist auch unbezweifelbar – was in enger Verbindung mit dem Vorherigen steht –,
dass Schellings Konzeption der moralischen Gutheit nicht die von Kant ist: Die
moralische Gutheit einer Handelnden ist nach Schelling nicht der moralischen
2 Daher führt Schelling die Grund/Existenz*-Unterscheidung so ein, dass sie schon von der Na-
turphilosophie etabliert wurde (Schelling 2001, 357), und im Weltalter wird sie durch die Reflek-
tion auf die Natur Gottes eingeführt. (A. d. Ü.: Mit * markierte Wörter sind im Original deutsch.)
3 Dews (2016), 14 u. 15.
vergleichen. Ein fundamentaler Aspekt von Kants Argument liegt darin, dass wir
es vermeiden müssen, Menschen ein A-priori-Interesse am Bösen um seiner selbst
willen zuzuschreiben: Dem Menschen einen solchen Willen zuzuschreiben, heißt,
ihn entweder (i) zu einem „teuflischen Wesen“ zu machen, was seine Fähigkeit
zum guten Willen ausschließt, oder ihn (ii) „moralisch gut und böse zugleich“ zu
machen, was widersprüchlich ist.6 Ein böser Wille darf daher nicht so verstanden
werden, dass er auf seinen Gegenstand qua Bösem gerichtet ist. Daher kommt
Kants Behauptung, dass die Gegenüberstellung von Gut und Böse nur als Art
Priorisierung von einem von zwei Prinzipien über das andere dargestellt werden
könne, nämlich des moralischen Gesetzes einerseits und des Prinzips der Selbst-
liebe andererseits.7 Obwohl die Prinzipien auf derselben Ebene stehen müssen,
insofern als eine nachvollziehbare Wahl zwischen ihnen getroffen wird, sind sie
beide in einer zentralen Hinsicht ungleich: Das moralische Gesetz drückt die
Grundlage seiner eigenen Notwendigkeit aus (die reine Vernunft), während die
Priorisierung des Prinzips der Selbstliebe durch den Handelnden keine Begrün-
dung hat oder es aber gilt, dass, was auch immer sie als Grundlage haben mag,
„unergründlich“ ist. Die von Kant beschriebene Struktur kombiniert so Symme-
trie (die Prinzipien sind beide gleichwertige praktische Alternativen) mit Asym-
metrie (hinsichtlich ihrer vernünftigen Modalität), und sie ist so entworfen, dass
die Wirklichkeit des Bösen eingeholt werden kann, ohne dabei einen teuflischen
Willen zu unterstellen. Was sie aber gemäß Schellings Bedingungen nicht liefert,
und damit Kants Lösung „bloß formal“ werden lässt, ist eine Grundlage für die
Möglichkeit einer wirklichen Gegenüberstellung von Gut und Böse: Ohne ein Ver-
ständnis davon, was für eine Handelnde in ihrer Wahl entweder des Guten oder
Bösen auf dem Spiel steht, ist es unmöglich zu verstehen, wie die beiden Prin-
zipien überhaupt in Konflikt stehen, wie die Unterordnung des einen Prinzips
unter das andere überhaupt ein Thema für den Willen der Handelnden sein kann,
wohingegen sie im anderen Bild als bloß logische Alternativen bestehen. Kant
ist sich natürlich vollkommen darüber im Klaren, dass ein moralischer Konflikt
nicht als eine Konfrontation des normativen Bewusstseins mit dem, was außer-
halb von ihm liegt, verstanden werden kann, aber er hat nicht gezeigt, so behaup-
tet Schelling, wie sie als eine Entzweiung innerhalb des normativen Bewusstsein
verstanden werden kann. Die kantische Gegenbehauptung besagt, dass jeglicher
Versuch, die angeblich fehlende Einsicht zu liefern – jeglicher höhere Grad an
„Wirklichkeit“ des Bösen –, sich die Absurdität einhandeln wird, einen teufli-
schen Willen anzunehmen; Kants These vom Unwissen um das Noumenale ist
folglich unabdingbar für die Zurechenbarkeit böser Taten, genauso wie seine
These der transzendentalen Idealität der empirischen Wirklichkeit unabdingbar
ist für die Zuschreibung von Freiheit.
Schelling stellt sich der Herausforderung, indem er Kants eigene Struktur
anwendet, ihr aber eine ontologische Färbung verleiht. Kant folgend stellt er die
Beziehung von Gut und Böse anhand von zwei Dimensionen dar: In der einen
(ontologische Fundierung) sind sie beide symmetrisch, in der anderen (vernünf-
tige Rechtfertigung) sind sie es nicht. Diese Kombination von Symmetrie und
Asymmetrie wird nicht, wie bei Kant, in der Luft hängen gelassen, sondern liefert
die epistemische Grundlage für (und wird verstanden als metaphysisch abgeleitet
von) eine(r) korrespondierende(n) Kombination ihrer ontologischen Fundierung.
Jeder ist eine unterschiedliche Beziehung von Grund* und Existenz* zugewiesen:
Beim Guten hat die Existenz Vorrang vor dem Grund, beim Bösen hat der Grund
Vorrang vor der Existenz. Diese Strukturen leiten sich selbst wiederum von den
Unterschieden ab, die Grund und Existenz innewohnen, und von der Symmetrie-
und-Asymmetrie ihrer Beziehung: Jede der beiden fundiert die andere gemäß
Schellings Theorie von Gott und Natur, aber auf entgegengesetzte Weisen. Die
Konfiguration Grund–Existenz* verhindert alle mögliche weitere Erklärung, da
sie metaphysisch endgültig ist. Auf diese Art wird erklärt, wie es möglich ist, dass
das Böse auf positive Weise im normativen Bewusstsein vorkommt, ohne einen
teuflischen Willen zu unterstellen.
Eine entscheidende Bedingung dafür, dass Schelling all dies behaupten
kann, liegt in seiner Ablehnung einer grundlegenden Annahme Kants, die die
Form betrifft, die das normative Bewusstsein notwendigerweise annimmt. Kant
nimmt an, dass Normativität nur eine Form annehmen könne, nämlich die eines
Prinzips praktischer Vernunft;8 seine Begründung dafür ist natürlich, dass alles
andere notwendigerweise auf bloß empirische Ursachen hinauslaufe. Wenn
seine Annahme der beiderseitigen Unvereinbarkeit von Freiheit und Natur beste-
hen bleibt, dann ist Schellings Behauptung, Kants Theorie verbessert zu haben,
hinfällig: da gemäß dieser Annahme alle ontologischen Begründungen, die
Schelling anbringen mag, nur für die Handelnde gelten und in der Lage sind, Ein-
fluss auf ihren Willen zu nehmen, sobald (und insofern) sie dargestellt worden
sind, d. h. in Prinzipien der Vernunft übersetzt. Dies würfe uns zurück auf Kants
Theorie des Bösen und stellte uns wieder der unbeantwortbaren Frage gegen-
über, die die (prinzipielle?) Grundlage betrifft, auf der die böse Handelnde das
8 Kant sagt explizit, dass der Hang zum Bösen in gesetzwidrigen Maximen bestehen muss (ebd.,
32), und dass der „Grund des Bösen“ „nur in einer Regel“ liegen kann (ebd., 21).
Prinzip der Selbstliebe dem moralischen Gesetz vorzieht.9 Schelling lehnt aber
Kants Dualismus von Freiheit und Natur natürlich ab, was es der Normativität
bei ihm erlaubt, in der Natur ansässig zu sein. Es ist ein eigenes Thema, worauf
genau die These von der Normativität in der Natur hinausläuft, aber für die der-
zeitigen Zwecke soll sie besagen, dass das Prinzip des Bösen, das im Menschen
wirksam ist, nicht als ein Prinzip der Vernunft begriffen werden darf, ohne dar-
aufhin auf eine nicht-normative, kantianische empirische Ursache reduziert zu
werden. Dies ermöglicht es dem Einfluss des Bösen, genuin normativ zu sein,
ohne dass seine Anziehungskraft mit der Befürwortung eines Prinzips vernünf-
tiger Gültigkeit identifiziert würde. Schellings Annahme der Anwesenheit der
Natur im normativen Bewusstsein oder zumindest seine Ablehnung von Kants
Ausschluss derselben ist daher unabdingbar für seine Konstruktion einer Theorie
des Bösen, die bereitstellt, was Kants Theorie des Bösen fehlt. Um zum früheren
Thema, Schellings Methodologie, zurückzukehren: Die Ableitung der Metaphysik
vom normativen Bewusstsein, die er gemäß meiner Lesart vorschlägt, kann nicht
direkt als naturphilosophischer* Transzendentalismus (da keine speziellen Lehr-
sätze von der Natur Schellings Argument vorantreiben), beschrieben werden,
sondern einfach als transzendentales Argument, das von Kants restriktiver
Annahme der beiderseitigen Ausschließlichkeit von Freiheit und Natur befreit ist.
Eine letzte Anmerkung: Es gibt einen wichtigen Aspekt, nach dem Schel-
ling, auch angesichts all seiner Verunglimpfung der kantianisch-fichteanischen
Ethik, in seinem Denken über Moral doch kantisch, ja sogar formalistisch bleibt.
Kants Darstellung seiner Moraltheorie beginnt mit einer Analytik, die die sich
ergebende Metaphysik der Moral weitreichend festlegt: Dies liegt daran, dass
der gewöhnliche Begriff des guten Willens zum Begriff eines Prinzips führt, das
durch seine formale Eigenschaft der Allgemeinheit motivational wirkt, so dass
das moralische Gesetz letztendlich mit Autonomie identifiziert wird. Schelling
liefert keine solche Analytik, aber er lässt keinen Zweifel daran, was die korrekte
Analyse des Begriffs des Guten sei: Indem sie Kants Identifikation der Moralität
mit dem allgemeinen Gesetz vertauscht, ordnet die Freiheitsschrift Gutheit und
Liebe der Allgemeinheit zu, und das Böse der Partikularität. Allgemeinheit nimmt
bei Schelling eine andere Form an – für ihn ist sie, wie oben gesagt, nicht zual-
lererst eine Eigenschaft eines Prinzips, sondern vielmehr Bestandteil der Form
der Selbstheit einer Handelnden –, aber er erhält die formalistische Zuordnung
moralischer Unterschiede zu metaphysischen Kategorien aufrecht, und dies ist
entscheidend für seinen Schluss vom normativen Bewusstsein zu seiner Ratio
essendi.
9 Ebd.: „Von dieser muss nun nicht weiter gefragt werden können“.
Falls, was ich gesagt habe, richtig ist, dann folgt daraus nicht, dass die Inter-
pretation selbst fehlerhaft wäre, wenn auch die Behauptungen zur Stützung der
praktisch-kantianischen Interpretation der Freiheitsschrift weiter qualifiziert und
geklärt werden müssen – hinsichtlich dessen, was Dews als notwendig erweist –;
die Arbeit muss zudem im Lichte Schellings späterer Entwicklungen neu beurteilt
werden, wie Dews ebenfalls aufzeigt.
2. Der Unterschied von Dews’ und meiner Beurteilung der Freiheitsschrift sollte
vor dem Hintergrund betrachtet werden, dass wir grundlegend darin überein-
stimmen, dass das Werk nicht nur einfach als Moment in Schellings Entwicklung
von Interesse ist, sondern als eine Beschäftigung mit dem Thema der mensch-
lichen Freiheit. Weil dies wohl kaum eine Mehrheitssicht widerspiegelt, lohnt
es sich, etwas über ihre Grundlage, so wie ich sie verstehe, auszuführen. Was
hier folgt, soll als Ergänzung zum Argument verstanden sein, das Dews in Teil III
seines Artikels konstruiert, die Notwendigkeit einer spekulativen Theorie der
Freiheit betreffend.
Die Freiheitsschrift ist offensichtlich keine Ressource, die von Philosophin-
nen (zumindest in der analytischen Tradition) aktuell herangezogen wird, um
auf das Problem des freien Willens zu reflektieren. Ihre heutigen Leser sind
solche, deren Interesse an klassischer deutscher Philosophie sich jenseits der
typischen Grenzsteine von Kant und Hegel erstreckt, wie beispielsweise Žižek,
solche, die allgemeine philosophische Positionen aus ihrem eigenen Dialog mit
Gedankengut klassischer deutscher Philosophie erarbeiten. In dieser Hinsicht
steht sie jedoch nicht alleine da. Die gegenwärtige Debatte über Freiheit in der
analytisch-anglophonen Sphäre ist beinahe vollkommen getrennt von ihrem
klassischen deutschen Vermächtnis.10 Wie Dews andeutet, ist ihr einziges über-
lebendes Element, größtenteils dank Strawson, die Vorstellung des „praktischen
Blickpunkts“, von dem weithin angenommen wird, dass Kant gezeigt habe, dass
er auf eine wichtige Weise selbstbegründend sei. Kants intelligible Kausalität hat
keinen Platz und wird, wie Schopenhauers Variante dieser Theorie, nur als eine
Absurdität, die es zu vermeiden gelte, erwähnt. Fichtes und Hegels Darstellungen
der Freiheit treten, falls sie überhaupt auftauchen, nur im Kontext des Rechts und
10 Ich behandle Kane (2002) als repräsentativ. Er erklärt in seiner Einleitung (ebd., 73, Fn. 2),
dass die Abdeckung der Geschichte der Debatten um den freien Willen einen eigenen Band be-
nötige, und die Beiträge zum Handbook seine Sicht bekräftigten, dass die Debatte mit bloß ge-
legentlichem Verweis auf historische Quellen fortschreiten könne. Der einzige Mitwirkende, der
Kant ausführlicher diskutiert, ist Galen Strawson, in einem Kapitel in der Rubrik „Non-Standard
Views“. Abgesehen von P. F. Strawson finden neuere kantianische Autorinnen wie Christine
Korsgaard keinen Platz.
der politischen Theorie zutage. Dass mehr als ein halbes Jahrhundert intensiver
philosophischer Aktivität, die dem Nachweis der Möglichkeit und Wirklichkeit
menschlicher Freiheit gewidmet ist, so behandelt wird, dass sie auf eine fragmen-
tarische Fußnote herunterkocht, in der Kant einen provisorischen Schritt eines
Arguments anmelde, das noch zu vervollständigen sei – das verlangt dringend
nach einer Erklärung: Wie ist es dazu gekommen, dass eine der großen Entwick-
lungen der modernen Philosophie, die sich selbst um den Begriff der Freiheit
herum geeint hat und Seite um Seite dem Vorhaben widmet, die Implikationen
eines Begriffs herauszuarbeiten, der nichts von seiner Wichtigkeit eingebüßt hat
und in Bezug auf den keine spätere philosophische Ausarbeitung behaupten
kann, substantiellen Fortschritt erzielt zu haben, absolut keine Bedeutung im
aktuellen Denken über dieses Thema hat?
Auf einen Punkt sollte sofort hingewiesen werden, um auszuschließen, was
wie eine offensichtliche Antwort erscheinen mag: Es kann nicht die „Metaphy-
sizität“ der klassischen deutschen Freiheitstheorien als solche sein, die ihre
derzeitige Irrelevanz erklärt, da metaphysisches Denken in den Theorien his-
torischer Autoren, die einen Platz in gegenwärtigen Debatten haben, reichlich
vorhanden ist; und auch viele aktuelle Willensfreiheitstheoretiker, denen his-
torische Texte egal sind, setzen sich großflächig mit allgemeiner Metaphysik
auseinander. (Außerdem kann es in Anbetracht der riesigen Diversität all ihrer
Dimensionen auch nicht dem nominell „idealistischen“ Charakter klassischer
deutscher Metaphysik zugeschrieben werden.) Eine andere Erklärung ist von-
nöten, und es ist vernünftig anzunehmen, dass sie etwas mit der Art und Weise
zu tun hat, auf die das Problem der Freiheit in der klassischen deutschen Phi-
losophie gedacht wird. Mein Vorschlag ist, dass dies ein Resultat von dem ist,
was man in der postkantischen Konzeption den Alles-oder-nichts-Charakter der
Freiheit und der Aufgabe, die sie stellt, nennen könnte.11 Damit ist gemeint,
dass (1) Freiheit und Werte im allgemeinen als wesentlich verknüpft betrachtet
werden, so dass (a) Freiheit notwendig und hinreichend für die Möglichkeit von
Werten ist, und (b) kein methodologischer Fehler bei dem Versuch involviert ist,
Freiheit durch axiologische Reflektion zu erhellen oder zu verteidigen; (2) Frei-
heit, obwohl sie notwendigerweise empirisch ausgedrückt wird, unabhängig
von und immunisiert gegen empirische Kontingenz ist – dem Jargon nach gehört
sie zum Unbedingten; (3) Freiheit sich über die Gesamtheit der menschlichen
Personalität oder zu seinen tiefsten Wurzeln erstrecken muss, so dass (a) die
Unterscheidung zwischen Subjektivität und Freiheit eine begriffliche und keine
wirkliche Unterscheidung ist, und (b) wenn das Attribut der Freiheit erst spät
Die ganze Sache besteht darin, dass ich aus dem Fatalismus unmittelbar gegen den Fata-
lismus, und gegen alles, was mit ihm verknüpft ist, schliesse. – Wenn es lauter wirkende
und keine Endursachen gibt, so hat das denkende Vermögen in der ganzen Natur bloss
das Zusehen; sein einziges Geschäft ist, den Mechanismus der wirkenden Kräfte zu beglei-
ten. Die Unterredung, die wir gegenwärtig miteinander haben, ist nur ein Anliegen unserer
Leiber; und der ganze Inhalt dieser Unterredung, in seine Elemente aufgelöst: Ausdehnung,
Bewegung, Grade der Geschwindigkeit, nebst den Begriffen davon, und den Begriffen von
diesen Begriffen. Der Erfinder der Uhr erfand sie im Grunde nicht; er sah nur ihrer Entste-
hung aus blindlings sich entwickelnden Kräften zu. Ebenso Raffael, da er die Schule von
Athen entwarf; und Lessing, da er seinen Nathan dichtete. Dasselbe gilt von allen Philo-
sophien, Künsten, Regierungsformen, Kriegen zu Wasser und zu Lande: kurz, von allem
möglichen. Denn auch die Affekten und Leidenschaften wirken nicht, insofern sie Empfin-
dungen und Gedanken sind; oder richtiger: – insofern sie Empfindungen und Gedanken
mit sich führen. Wir glauben nur, dass wir aus Zorn, Liebe, Grossmut, oder aus vernünfti-
gem Entschlusse handeln. Lauter Wahn! In allen diesen Fällen ist im Grunde das, was uns
bewegt, ein Etwas, das von allem dem nichts weiss, und das, insofern, von Empfindung
und Gedanke schlechterdings entblösst ist. Diese aber, Empfindung und Gedanke, sind nur
Begriffe von Ausdehnung, Bewegung, Graden der Geschwindigkeit usw. – Wer nun dieses
annehmen kann, dessen Meinung weiss ich nicht zu widerlegen. Wer es aber nicht anneh-
men kann, der muss der Antipode von Spinoza werden.12
müsste, ist ungewiss, aber in jedem Fall finden wir bei Kant keine ähnlich deut-
liche Bekräftigung des fundamentalen Status und der umfassenden Reichweite
der Freiheit.
Die Analyse, die ich von der Alles-oder-nichts-Konzeption der menschlichen
Freiheit gegeben habe, ist bloß eine Annäherung,13 und eine längere Behandlung
verlangte es, die Behauptung zu untermauern, dass diese Konzeption in der klas-
sischen deutschen Philosophie das erste Mal auftrete und eines ihrer Alleinstel-
lungsmerkmal darstelle.14 Dennoch liefert diese Analyse zwei benötigte Dinge:
Eine direkte Erklärung für die Nicht-Relevanz der klassischen deutschen Theo-
rien in der kontemporären Debatte, und eine Grundlage, auf der wir identifizie-
ren können, was der Art eigen ist, auf die Schelling Freiheit in der Freiheitsschrift
konzipiert. Um mit dem ersten zu beginnen: Obwohl die Alles-oder-nichts-Kon-
zeption keine Festlegung auf einen Indeterminismus zur Folge hat, schließt sie
doch ab initio alle Formen eines empirischen Kompatibilismus aus – die Art von
Position, von der weithin angenommen wird, dass sie die besten Aussichten auf
eine Verteidigung menschlicher Freiheit abgebe.15 Zusätzlich bedeutet dies, dass
eine konstruktive spekulative Methode – eine, die metaphysische Behauptungen
einer sehr allgemeinen und wahrscheinlich revisionären Art abgibt –, benötigt
wird, wenn menschliche Freiheit angemessen begriffen werden soll. Von einer
solchen Perspektive aus scheinen kontemporäre Debatten zur menschlichen Frei-
13 Im Besonderen kann man dafür argumentieren, dass Autonomie als vierte Komponente auf-
genommen werden sollte.
14 Und um ihre spätere Entwicklung bei Kierkegaard, Bergson, Sartre, Heidegger, Merleau-Pon-
ty, Adorno u. a. zu verfolgen, die sich an der klassischen deutschen Konzeption orientieren. Hei-
deggers Vom Wesen der menschlichen Freiheit liefert eine besonders klare und explizite Reformu-
lierung der Position, dass menschliche Freiheit nicht als bloß ein „besonderes“ philosophisches
Problem unter anderen verstanden werden könne.
15 Anders gesagt folgt daraus, dass etwas Wahrheit im Indeterminismus auf der empirischen
Ebene steckt, unabhängig davon, ob Unbestimmtheit per se zum Wesen der Freiheit gehört. Eine
interessante Implikation der Alles-oder-nichts-Konzeption ist, dass (einige) unserer Ausdrücke,
die vom natürlichen Bewusstsein zum Ausdruck natürlicher Freiheit benutzt werden – beson-
ders und am offensichtlichsten die „hätte anders handeln können“-Klausel und die modale Of-
fenheit der Zukunft –, möglicherweise legitime Ausdrücke des Bewusstseins der Freiheit sind,
ohne strenge Bedingungen ihrer Wirklichkeit zu sein: Wenn Freiheit für das natürliche Bewusst-
sein nicht transparent ist, dann fehlt den begrifflichen Mitteln, die wir normalerweise zum Sig-
nalisieren ihrer Wirklichkeit verwenden – obwohl diese, zumindest in einem indirekten Sinne,
validiert werden müssen – möglicherweise strenge Wahrheit, und dennoch sind sie nicht falsch
oder leer. Daraus folgt entgegen der Methodologie der aktuellen Debatte, dass die Problemlage
von Wesen und Wirklichkeit der Freiheit nicht einfach durch eine Begriffsanalyse der Ausdrücke
entschieden werden kann, in denen wir normalerweise das Überzeugtsein von unserer Freiheit
artikulieren.
16 Obwohl man auf keinen Fall sagen kann, dass der Naturalismus eine geteilte Prämisse der
kontemporären Freiheitstheoretiker darstelle, ist es dennoch wahr, dass kraft dessen, was er
implizit ablehnt, als überhaupt der Erwägung wert zu billigen, die Debatte effektiv doch unter
dem Druck des Naturalismus geführt wird. Hier muss festgehalten werden, dass in Bezug auf die
Frage, inwiefern die metaphysischen Implikationen der Naturwissenschaften ernstgenommen
werden, die Lage nicht anders als in den 1780ern, wie der Absatz von Jacobi zeigt; was sich ge-
ändert hat, ist die Wahrnehmung der philosophischen Möglichkeiten, die zur Verteidigung der
menschlichen Freiheit zur Verfügung stehen: So wie diese Möglichkeiten sich verengten, so hat
sich auch der Begriff der Freiheit zusammengezogen.
17 Dieses Merkmal des Begriff, die Tatsache, dass wir instinktiv die Freiheit auf der einen Seite
als bedingungslosen Zweck begreifen, und daher als etwas vollkommen Positives, und sie aber
auf der anderen Seite in Form einer Negation darstellen, Abwesenheit von Einschränkungen
Die Aufgabe, die sich die klassische deutsche Philosophie selbst stellt,
besteht darin, zu zeigen, dass dieser Anschein von Tiefe nicht täuscht, nicht ein
optischer Effekt unseres Unwissens um verborgene Ursachen ist. Eine Form, die
dieses Projekt annimmt, ist der Versuch Fichtes (und Hegels), die Undurchsich-
tigkeit der Freiheit in Transparenz zu transformieren – sie durch und durch zu
erhellen. Dementsprechend zielt die Wissenschaftslehre* darauf ab, nachzuwei-
sen, dass die Tiefe der Tatsache der Freiheit darin besteht, dass es sich um eine
außergewöhnliche „Tatsache“ handelt, zu der es nichts Vergleichbares gibt, eine,
die das Selbst und die Welt möglich macht; aber die dennoch vollkommen erhellt
werden kann, weil die Tatsache dem Selbstbewusstsein selbst innewohnt.18
Unabhängig davon, ob er jemals das Ziel, die Freiheit vollständig zu erhellen,
geteilt hat, gilt, dass sich Schelling diesem Ziel bis 1804 nicht entgegenstellt hat.
Um 1809 hatte er jedoch das Böse als entscheidendes Hindernis jeglicher Ansätze
dieser Art identifiziert. Dies veranlasste ihn, zur anderen Strategie der klassi-
schen deutschen Philosophie zurückzukehren, die vorher von Kant und Jacobi
entwickelt worden war und darauf abzielt, die Wirklichkeit der Freiheit genau
dadurch aufrechtzuerhalten, dass man ihr erlaubt, in einer bestimmten Hinsicht
kognitiv unassimiliert zu bleiben – woher auch Kants These der Unbegreifbar-
keit der Freiheit stammt und Jacobis Theorie vom unmittelbar affektiv-intuitiven
Glaube/Vernunft*-Paar, das keine wissenschaftliche* Reflektion einholen kann.
Die Freiheitsschrift folgt jedoch nicht geradlinig deren Muster: Stattdessen bietet
Schelling eine Synthese verschiedener Strategien an, eine Kombination kan-
tischer Ignoranz mit fichteschem Erhellen. Die wahre Undurchsichtigkeit der
Freiheit, der wirkliche Ursprung ihres Widerstands gegen rationale Greifbarkeit,
so behauptet Schelling, ist unsere Fähigkeit zu Bösem, aber von diesem Tatbe-
stand – und indem wir unsere Aufmerksamkeit weg vom Selbstbewusstsein und
hin zu Gott sive Natur richten – können wir eine Metaphysik ableiten, die uns das-
selbe Niveau vernünftiger Einsicht in unsere Existenz als freie Wesen verschafft,
von der die Wissenschaftslehre behauptet, sie zu leisten. Daher kann ebenso
gesagt werden, dass die Freiheitsschrift die kantische „verstandene Unversteh-
barkeit“ der Freiheit zu einer höheren Kraft erhebt, wie dass die Freiheitsschrift
usw., ohne dabei eine klare Vorstellung zu haben, wie die beiden Dimensionen verknüpft sind –
eine Dualität, die die Geschichte des politischen Denkens großflächig zur Schau stellt – ist cha-
rakteristisch und sollte als rätselhafter empfunden werden, als es derzeit empfunden wird.
18 Für eine prägnante Formulierung von Fichtes Verpflichtung zur Transparenz vgl. „Zu ‚Jacobi
an Fichte‘“ in Fichte (1845–1846), 390. Ebenfalls relevant ist sein Brief an Jacobi in ders. (1862),
179–184, der mit einer Passage beginnt, die ein Angriff auf die Freiheitsschrift zu sein scheint.
eine Illumination der Freiheit liefert, die so vollständig ist, wie es das Phänomen
eben erlaubt.
Schellings Vorgehensweise ist daher auf der einen Seite unterschieden von
der fichte-hegelschen Behauptung, dass spekulative Reflektion die Freiheit voll-
kommen transparent der philosophischen Reflektion hinüberreichen könne,
und auf der anderen Seite von der gegenwärtigen Annahme, dass Freiheit, um
Wirklichkeit zu haben, einer Analyse zugänglich sein muss, die sie in anderen
und schlichteren Begriffen erklärt, die schon in Umlauf sind. Seine Uneinigkeit
mit unseren Zeitgenossen ist jedoch viel größer als die mit seinen eigenen. Von
seinem Standpunkt aus ist die Tendenz der aktuellen Verteidigungen von Frei-
heit, eingedenk der anti-spekulativen philosophischen Perspektiven, die ihnen
vorausgehen, die Freiheit oberflächlich zu machen: Da uns aller Glaube und
Überzeugung in die Möglichkeit metaphysischen Tiefgangs fehlt, halten wir es
für notwendig anzunehmen, dass Freiheit, damit es sie geben kann, direkt an der
Oberfläche verortet sein muss. Dementsprechend sind wir darauf bedacht, sie so
eng wie möglich an ein bereits anerkanntes, unangefochtenes und relativ unpro-
blematisches Merkmal unseres vernünftigen Lebens anzugleichen, von dem wir
glauben, dass wir auf es schon einen festen kriteriologischen Zugriff haben –
Empfänglichkeit für Gründe, die Fähigkeit zur Selbstkontrolle, das Geleitetsein
durch Wünsche zweiter Stufe und weitere solche Dinge. Was von der Perspek-
tive klassischer deutscher Philosophie an diesem Vorhaben rätselhaft erscheint,
ist die Erwartung, dass ein Begriff, der solch außerordentliche Gewichtigkeit
birgt, es von sich aus erlaubte, mit einer spezifischen Architektur propositiona-
ler Einstellungen oder anderen psychologischen Konfigurationen identifiziert zu
werden. Der damit zusammenhängende Einwand ist: Um Tatsachen des geisti-
gen Lebens als Träger der speziellen Signifikanz, Freiheit zu manifestieren, zu
erkennen, müssen wir bereits im Besitz eines Begriffs sein, der nicht der Begriff
von einem bloß psychologischen Zustand ist. Freiheit muss schon als „Idee“ oder
etwas einer ähnlichen nicht-empirischen Größenordnung verfügbar sein, damit
wir einen bestimmten Typus psychologischen Lebens als den eines Wesens, das
mit Freiheit ausgestattet ist, verstehen und erleben können. Was auch immer die
Unzulänglichkeiten klassischer deutscher Philosophie sein mögen – es gibt gute
Gründe, ihre Behauptung, dass menschliche Freiheit keine Tatsache wie jede
andere sein kann, als eine Lehre zu verstehen, die wieder neu gelernt werden
muss.
Literatur
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in: Rauch, E. (Hg.), Jacobi – Lessing – Mendelssohn. Texte zum sog. „Spinoza-Streit“, URL:
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Zuerst erschienen als: Sebastian Gardner, A Reply to Dews and a Plea for Schelling, in: British
Journal for the History of Philosophy 25.1 (2017), 179–191. Copyright © BSHP, reprinted by
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