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Israels Siedlungen als lohnendes Geschäft

von Gadi Algazi


Le Monde diplomatique, 11.8.2006
http://www.monde-diplomatique.de/pm/2006/08/11/a0008.text.name,ask5N0Ijo.n,0

Israel könnte den Krieg im Libanon und im Gaza-Streifen glaubhafter als Selbstschutz
begründen, wenn es zum Rückzug auf die Grenzen von 1967 bereit wäre. Mit seiner
Siedlungspolitik hat jedoch Israel bereits große Teile des Westjordanlands in seine
Ökonomie integriert.
Gadi Algazi ist Professor für Geschichte an der Universität Tel Aviv, verweigerte 1979 (als
erster "Refusnik") den Wehrdienst in den besetzten Gebieten und ist Mitbegründer der
jüdisch-arabischen Initiative Taayush.

Modi'in Illit - keine halbe Autostunde von Tel Aviv entfernt - ist eine große Siedlung im
besetzten Westjordanland. Mehr als 30 000 Menschen leben hier. Bis 2020 werden es 150 000
sein, plant das israelische Wohnungsbauministerium. Demnächst soll die Siedlung den Status
einer Stadt erhalten. Früher gehörte das Land zu fünf palästinensischen Dörfern - Ni'lin,
Kharbata, Saffa, Bil'in und Dir Qadis.

Modi'in Illit ist ein typisches Beispiel für die großen Bauprojekte, die alle israelischen
Regierungen als Teil jener "Siedlungsblöcke" betrachten, die man auf keinen Fall
zurückgeben will und letztendlich zu annektieren gedenkt. Diese Siedlung zeigt in aller
Klarheit den Zusammenhang zwischen dem Bau der Teilungsmauer und dem Anwachsen der
Siedlungen. Denn die Expansion von Modi'in Illit ist gleichbedeutend mit dem Ruin der
Bauern von Bil'in. Durch den Sperrzaun zwischen Modi'in Illit und Bil'in verlieren sie etwa
2 000 Dunum (200 Hektar) Land - nahezu die Hälfte der Anbaufläche, die dem Dorf noch
verblieben ist.

Seit Februar 2005 wehren sich die Bewohner von Bil'in in einem gewaltlosen Kampf gegen
den Bau des Sperrzauns. Zusammen mit israelischen und internationalen Friedensaktivisten
stehen sie jeden Freitag Hand in Hand vor den Bulldozern und Soldaten. Ähnliches geschieht
in mehreren palästinensischen Dörfern, die vom Bau des Sperrzauns ebenfalls direkt betroffen
sind. In Jayyous und in Biddu, in Deir Ballut, in Budrus und anderswo demonstrieren die
Bewohner schon seit vier Jahren gegen die Mauer.

Diese außerhalb Palästinas fast unbekannten Aktionen werden in der Regel von einem lokalen
"Volkskomitee gegen den Zaun" koordiniert. Sie haben zwar bescheidene, aber bedeutsame
Erfolge erzielt: In einigen Fällen konnte der Weiterbau des Zauns behindert oder verlangsamt
werden. In anderen Fällen, etwa in Budrus und in Deir Ballut, führte der Widerstand im
Verein mit gerichtlichen Verfahren und Solidaritätskampagnen sogar dazu, dass der Verlauf
des Zauns geändert wurde und die Gemeinden einige ihrer verlorenen Felder, Weingärten und
Wasserquellen zurückgewinnen konnten.

Spezialtruppen im Einsatz gegen Zivilcourage

Die eigentliche Bedeutung dieser kleinen "Sperrzaun-Intifada", wie manche sie nennen, liegt
wahrscheinlich darin, dass sie eine langfristige politische Perspektive bietet. In den ersten
Jahren der zweiten Intifada waren kleinere, zaghafte Versuche eines gewaltlosen Widerstands
nur eine Randerscheinung. Heute scheint diese Kampfform mancherorts zu einer festen
Tradition geworden zu sein. Während die Chancen für einen gerechten Frieden in Palästina
weiter schrumpfen und die Bewohner des Westjordanlands sich immer mehr mit einem Leben
in Enklaven zwischen Straßensperren und Mauern abfinden,1 bieten gewaltlose Aktionen im
Rahmen eines breiten lokalen Widerstands neue Chancen. Für die Bewohner einiger
palästinensischer und israelischer Dörfer ist der gemeinsam geführte Kampf während der
zweiten Intifada eine prägende Erfahrung gewesen, die es vielleicht möglich macht, dass in
Zukunft wieder solidarisch geführte Kampagnen organisiert werden können.

Bei dem gewaltsamen Vorgehen gegen die Demonstrationen von Bil'in wurden bisher etwa
200 Personen verletzt und viele unter diversen Vorwänden verhaftet. Im Einsatz waren
israelische Soldaten, die Grenzpolizei, die örtliche Polizei und private Sicherheitsdienste, die
Holzknüppel, Tränengas, Gummigeschosse und scharfe Munition einsetzten. Die Armee
versuchte außerdem Mitglieder des Organisationskomitees von Bil'in mit nächtlichen Razzien
und Festnahmen einzuschüchtern.(2) Die Behörden gaben sogar offen zu, dass bei den
Demonstrationen auch Mitglieder einer Spezialtruppe, der Massada-Einheit, als Agents
provocateurs auftraten. Als Araber verkleidet, versuchten sie, die Teilnehmer zu
Gewaltaktionen anzustacheln.(3) Nur das entschlossene Eingreifen von Mitgliedern des
Organisationskomitees konnte verhindern, dass diese Provokationen zu unkontrollierter
Gewalt eskalierten, bei der es womöglich Todesopfer gegeben hätte.

Die israelische Besatzung wird häufig in Begriffen beschrieben, die man auf Konflikte
zwischen zwei Staaten anwendet. Die Entstehung der Palästinensischen Autonomiebehörde
(PA) hat diese Tendenz gefördert. Doch im Kern handelt es sich um einen kolonialen
Konflikt. Zwischen Israelis und Palästinensern geht es nur vordergründig um symbolische
Gesten und diplomatische Schachzüge. In Wahrheit geht es um ganz konkrete Fakten, um
Brunnen und Olivenhaine, um Gebäude und Straßen, um Einwanderung und Ansiedlung.

Es ist die Landschaft selbst - als natürliche und als von Menschen gestaltete -, die in diesem
Konflikt radikal umgestaltet wird, und das nicht nur durch Grenzen und Zäune.

Durch die militärische und politische Kontrolle der Israelis, die diese seit 1967 ausüben,
wurden die Rahmenbedingungen für einen tiefgreifenden Kolonisierungsprozess geschaffen.
Es sind vor allem die Siedlungen, die verhindern, dass sich ein unabhängiger und
lebensfähiger Palästinenserstaat etablieren kann. Zwischen 1967 und 2006 hat Israel im
Westjordanland schätzungsweise 40 000 Wohnhäuser errichtet, mit einem Kostenaufwand
von rund 4,3 Milliarden Dollar. Anfang 2006 ist die Zahl der israelischen Siedler in den
besetzten Gebieten - ohne Ostjerusalem, aber einschließlich der Golanhöhen - erstmals auf
über 250 000 gestiegen.(4)

Die israelische Besiedlung der besetzten Gebiete wird zwar häufig kritisiert, aber selten
genauer untersucht. Wer verdient an diesem kolonialen Projekt? Und was bringt ganz normale
Leute dazu, sich an diesem Unternehmen und damit an der Enteignung der palästinensischen
Besitzer zu beteiligen? Betrachten wir die soziale Zusammensetzung und die politische
Ökonomie dieser Siedlungen am Beispiel von Modi'in Illit.

Ein neuer Typ von Siedlungen

Diese Gründung ist kein Projekt von nationalistisch-messiasgläubigen Siedlern und deren
politischen Repräsentanten. Treibende Kraft war vielmehr eine sozial und politisch
heterogene Allianz, die sich aus Immobilienunternehmern, Investoren und Politikern
zusammensetzt. Zweitens ist Modi'in Illit nicht nur eine der am schnellsten wachsenden,
sondern auch eine der wenigen Siedlungen im Westjordanland, die auch während der zweiten
Intifada weiter ausgebaut wurde. Und drittens leben hier nicht nationalistische Hardliner,
sondern vorwiegend arme, kinderreiche ultraorthodoxe Familien, die dem politischen
Zionismus und dem Staat Israel eher distanziert gegenüberstehen.

Ursprünglich wurde das heutige Modi'in Illit (Ober-Modi'in) 1996 unter dem Namen Kiryat
Sefer gegründet. Während die meisten anderen Siedlungsprojekte von einer Koalition aus
staatlichen Behörden, zionistischen Organisationen und radikalen Siedlergruppen ins Leben
gerufen wurden, geht Modi'in Illit auf die Initiative privater Investoren zurück. Die Gründung
fällt in die Periode nach dem Abschluss der Oslo-Abkommen von 1993 und die damalige
Phase ungebremster Privatisierungen in Israel. Damit wurde es zum Musterexemplar eines
neuen Typs von Siedlungen - initiiert von Privatinvestoren und unterstützt von der Regierung.

Im Fall Modi'in Illit gewährte der Gemeinderat diesen mächtigen Investoren spezielle
Vergünstigungen. Wie aus einem Bericht des israelischen Rechnungshofs hervorgeht,
mussten sie nicht die volle Steuer zahlen und durften manche Bauvorschriften umgehen. So
entstanden tausende von Siedlungshäusern unter eindeutigem Verstoß gegen Gesetze - aber
mit späterer Billigung des Gemeinderats, der nachträglich Änderungen an den
Bebauungsplänen vornahm.(5) Die politische Priorität des Kolonisierungsprozesses und der
Drang der Investoren nach schnellen Profiten gingen Hand in Hand.

Nach einem Untersuchungsbericht von 1998 gab es für die gesamte Wohnanlage "Brachfeld
Estate", die auf dem Land von Bil'in entstand, nie eine Baugenehmigung. Doch keines der
illegal errichteten Häuser musste abgerissen werden.(6) Überdies läuft ein Großteil der
Abwässer des Ortsteils Modi'in Illit in das Flüsschen Modi'in und verseucht das Grundwasser
der Gegend.

Dies sind keine Einzelfälle von Korruption oder Misswirtschaft. Es handelt sich vielmehr um
ein strukturelles Merkmal der kolonialen Expansionspolitik, denn ungeregelte
Siedlungstätigkeit bietet nun einmal die Aussicht auf enorme Profite zu Lasten von Mensch
und Umwelt.

Auf dem Land, das man den Palästinensern von Bil'in geraubt hat, entstehen derzeit zwei
weitere Siedlungen. Eines ist das "Green Park"-Projekt. Als Bauträger fungiert die Firma
Dania Cebus, eine Tochter der Africa Israel Corporation. Deren Besitzer Lev Leviev ist einer
der mächtigsten Unternehmer Israels. Er will für die geplanten 5 800 Wohnungen 230
Millionen Dollar investieren.(7 )Der operative Gewinn seines Immobilienunternehmens ist in
den ersten drei Quartalen 2005 um 129 Prozent gestiegen. Andere führende Bauunternehmen
planen ähnliche Projekte. Voraussetzung dafür ist ein entsprechender Verlauf des Sperrzauns,
der die Dorfbewohner von Bil'in von ihren Feldern trennen wird. Auch für viele andere
Siedlungen, die zwischen dem Trennzaun und der "Grünen Linie" (der israelischen Grenze bis
1967) liegen, ist dieser Sperrwall von enormer ökonomischer Bedeutung: Er besiegelt die
Annexion dieses Landstreifens und macht die neuen Siedlungen erst sicher. Damit wird sich
der Wert der baulichen Investitionen deutlich erhöhen.

Interessant ist auch, wer sich als rechtmäßiger Besitzer des Grund und Bodens ausgibt, auf
denen eines der neuen Viertel entsteht: zum einen die israelische Behörde namens Custodian
of Absentee Property sowie der kaum bekannte Land Redemption Fund (LRF), also der
"Landrückkauffonds" der Siedler. Erstere ist eine Regierungsbehörde, die für die Verwaltung
von "absentee property" (verlassenem Grund und Boden) zuständig ist. Sie spielt eine
Schlüsselrolle bei der Konfiskation palästinensischen Landes und besonders der Grundstücke
von Palästinensern, die innerhalb Israels vertrieben wurden, aber auch von Palästinensern in
den besetzten Gebieten. Wie israelische Menschenrechtsorganisationen aufgedeckt haben,
fungiert diese Custodian-Behörde als Strohmann für den LRF der Siedler. Im Einzelfall läuft
das so ab, dass die Siedler ein gekauftes Grundstück "an die Custodian-Behörde übertragen,
die es zu Staatsland erklärt. Das ermöglicht den Beginn des Planungsverfahrens. Danach
überschreibt die Behörde im Rahmen des Planungs- und Genehmigungsvertrags das Land
wieder an den ursprünglichen Käufer [], ohne dass irgendwelche Kosten anfallen."(8)

Der vor etwa zwanzig Jahren gegründete LRF der Siedler koordiniert die Übernahme von
palästinensischen Grundstücken in denjenigen Schlüsselregionen, die für den weiteren
Ausbau der Siedlungen vorgemerkt sind. Zu den Gründern des Fonds gehören nicht nur einige
der ideologischen Führer der Siedlerbewegung, sondern auch ein Mann wie Era Rapaport,
einer der Gründer des terroristischen Netzwerks der Siedler, das um 1980 in den besetzten
Gebieten operierte. Er saß mehrere Jahre im Gefängnis, weil er in den Mordanschlag auf
Bassam al-Shaka'a, den damaligen Bürgermeister von Nablus, verwickelt war.(9)

Mit welchen Methoden der Fonds bei seinen Landkäufen operiert, haben zwei israelische
Journalisten herausgefunden: "Das Informationsnetz des Fonds besteht aus enttarnten
(palästinensischen) Kollaborateuren [], aus pensionierten israelischen
Geheimdienstmitarbeitern, die Informationen gegen Honorar beschaffen, und aus ehemaligen
Militärgouverneuren." Letztere nutzen ihre alten Kontakte in den Dörfern der besetzten
Gebiete. Beim Landerwerb treten in der Regel arabische Strohmänner als Käufer auf,
tatsächlich aber stammt das Geld zumeist von rechtsgerichteten jüdischen Millionären wie
Lev Leviev oder dem Schweizer Milliardär Nissan Khakshouri. Ganz ähnlich sahen die
Methoden aus, mit denen das Bauland von Bil'in erworben wurde.(10)

Dieser Fonds hat also einen politischen und einen ökonomischen Hintergrund. Dem Fonds
spenden Kapitalgeber Geld, die bei anderen Siedlungsprojekten als Bauherren oder Investoren
auftreten. Ihre Freigebigkeit entspringt eben nicht nur politischer Überzeugung. Dasselbe
Interessenbündnis findet sich auch bei anderen Projekten im Westjordanland, zum Beispiel in
Tzufin, wo die bestehende Siedlung derzeit um das Elffache der ursprünglichen Fläche
erweitert wird. Hier fungiert als Bauträger eine Immobilienfirma, die ebenfalls von Lev
Leviev kontrolliert wird.(11)

Der Fonds konzentriert seine Bautätigkeit auf Gebiete nahe der Grünen Linie. Es geht ihm
darum, Siedlungen im Westjordanland und Gemeinden innerhalb der israelischen Grenzen
von 1967 möglichst eng zusammenwachsen zu lassen.(12) Dieser Prozess, die Grüne Linie zu
verwischen, begann schon in den 1980er-Jahren. Seither entstehen knapp jenseits der Grünen
Linie und nicht weit von den Wirtschaftszentren Israels entfernt neue Siedlungen für
Mittelklassefamilien, die ideologisch nicht zur Siedlerbewegung gehören.

Unheilige Allianz für den Trennzaun

Dieses vordergründig pragmatische Projekt wurde zunächst durch die zweite Intifada
gestoppt. Ab 2003 kam es dann aber wieder in Gang, als bestimmte Abschnitte des
Trennzauns fertiggestellt wurden. Jene Teile des Westjordanlands, die zwischen diesem Zaun
und dem Israel von 1967 liegen, wurden damit faktisch annektiert. Jetzt versprachen diese
Siedlungen eine höhere Lebensqualität, denn das Gebiet wurde für Investoren wie Siedler in
dem Maße sicherer, in dem man die palästinensische Gemeinde hinter der Mauer
verschwinden ließ. Ethnische Säuberung geht auf ganz unterschiedliche Weise vonstatten und
muss nicht immer dramatische Formen annehmen.13
Schon vor den letzten Wahlen regierte in Israel eine breite Koalition, die sich um das
Zaunprojekt gebildet hatte, das heute zum politischen Vermächtnis Ariel Scharons geworden
ist. Diese Allianz von Anhängern einer schrittweisen Annexion ("Israel sollte die größeren
Siedlungsblöcke behalten") und einer "vernünftigen" kolonialen Expansion (im Gegensatz zu
den irrationalen Vorstellungen der ideologisch motivierten Siedler) sammelte sich unter
einem gemeinsamen Banner, das ethnische Trennung und ökonomische Privatisierung
propagiert. Diese Allianz verspricht den Israelis jedoch nicht etwa Frieden, sondern eine
einseitige Befriedungspolitik und die Teilannexion des Westjordanlands, das damit
auseinandergerissen und in mehrere umzäunte Enklaven zerfallen würde.

Auf Parteienebene hat sich diese Zaunkoalition erst langsam herausgebildet. Sie reicht heute
über die Kadima-("Vorwärts")-Partei hinaus, die um Scharon und seinen Nachfolger Olmert
entstanden ist. In der Realität jedoch, auf den Hügelrücken des Westjordanlands, zeichnete
sich diese Koalition schon seit einiger Zeit ab, nämlich als unheilige Allianz bestimmter
sozialer und ökonomischer Gruppen: von Siedlern und staatlichen Behörden, die den
Trennzaun vorantreiben, von Immobilienfirmen und Hightechunternehmern, von altem
Kapital und "New Economy".

Das gemeinsame Projekt dieser Allianz - der Bau neuer Siedlungen in der Nähe der
Trennmauer - bedient einen realen gesellschaftlichen Bedarf an Lebensqualität für die obere
Mittelklasse, an Arbeitsplätzen und an subventionierten Wohnraum für die
Unterprivilegierten. Die neuen Siedlungen verschaffen der Siedlerbewegung eine breitere
soziale Basis und verzahnen sie mit anderen Interessengruppen - vor allem mit den größten
Profiteuren des Zauns, den Bauunternehmen, Kapitalanlegern und gutbürgerlichen
Hauskäufern, die in neuen, bewachten Luxusvierteln wohnen wollen, fernab von den Armen
und abgeschirmt von den Palästinensern. Aber für dieses koloniale Projekt lassen sich auch
Menschen gewinnen, die nur aus ihrer Misere herauskommen wollen, wie etwa kinderreiche
Familien, die billige Wohnungen brauchen, oder Neueinwanderer, die von staatlicher
Unterstützung leben und gesellschaftliche Anerkennung suchen. Aber genau diese Gruppen
sind es, die am Ende als die Dummen dastehen werden. Denn sie sind nicht nur völlig von den
Investoren und den Politikern abhängig, am Ende werden sie auch noch den Hass, der durch
den Zaun entsteht, am stärksten zu spüren bekommen.

Auch in den Jahren des Osloer Friedensprozesses wurden die israelischen Siedlungen in den
besetzten Gebieten ständig ausgebaut. Die Zahl der Siedler hat sich in dieser Zeit mehr als
verdoppelt. Der Zuzug konzentrierte sich auf einige große Siedlungen, deren Bewohner keine
ideologischen Motive hatten - Einwanderer aus Russland und Äthiopien, Leute aus ärmeren
Wohnvierteln und kinderreiche Familien, die subventionierten Wohnraum suchten. Diese
Gruppen wurden erst Mitte der 1990er-Jahre in das koloniale Projekt hineingezogen - und
eher wider Willen, wenngleich unter dem Druck der beschleunigten Privatisierung und des
zügigen Abbaus des israelischen Sozialstaats. Die Bewohner der beiden ultraorthodoxen
Siedlungen Modi'in Illit und des 1988 gegründeten Betar Illit stellen ein Viertel aller
jüdischen Siedler im Westjordanland. Diese beiden Orte sind dabei die statistisch ärmsten
jüdischen Gemeinden, die es in Israel und den besetzten Gebieten gibt.(14)

Interessanterweise haben Bewohner von Modi'in Illit im September 2003 auf Fragen eines
Journalisten versichert, dass sie sich nicht als Siedler betrachten. Nur die Wohnungsnot habe
die kinderreichen Familien veranlasst, ins Westjordanland zu ziehen, weil es hier für sie -
anders als innerhalb Israels - staatliche Unterstützung und subventionierte Wohnungen gebe.
In demselben Bericht meinte ein Experte über diese Familien: "Ihre Lage war so verzweifelt,
dass sie gewiss überall hingezogen wären."
Auf diese Verzweiflung setzen die Führer der Siedlerbewegung. Ein Sprecher des Siedlerrats
formulierte es so: "Auch wenn sie nicht aus ideologischen Gründen hierhergezogen sind,
werden sie doch ihre Häuser nicht so leicht aufgeben."(15) Vollkommen offen spricht man
über den Mechanismus, der die Menschen in den kolonialen Prozess einbindet und zu
"Siedlern wider Willen" macht. Vor drei Jahren entblödete sich der Bürgermeister von Betar
Illit nicht, Journalisten gegenüber zu erklären, die Ultraorthodoxen seien gegen ihren Willen
in die besetzten Gebiete verfrachtet worden, damit sie dort als "Kanonenfutter" dienten. Heute
richten die Bewohner von Modi'in Illit und Betar Illit ihre Hoffnungen wahrscheinlich auf die
entstehende Mauer, die auch ihnen Schutz bieten soll. So werden sie zu Nutznießern der
Enteignung der Palästinenser.

Die zunehmende Verarmung in Israel treibt die unteren sozialen Schichten dorthin, wo die
Regierung noch soziale Leistungen anbietet: in die zu kolonisierenden Gebiete. Dies hat die
politische Landschaft verändert und selbst die ultraorthodoxen Parteien weiter nach rechts
getrieben. Dieser Zusammenhang zwischen wachsender sozialer Ungleichheit und dem
kolonialen Projekt fordert gleichzeitig von jedem Gegner der Siedlungspolitik, den Kampf für
soziale Gerechtigkeit in Israel nicht aus den Augen zu verlieren.

Das wird noch deutlicher, wenn wir uns ansehen, wer genau in die Kolonie investiert: nicht
nur der Immobilienunternehmer Lev Leviev, einer der mächtigsten Geschäftsleute Israels,
sondern auch Firmen aus der Hightechbranche. Leviev steht wie kein anderer für die rapide
Globalisierung der israelischen Wirtschaft und Politik und für deren Fähigkeit, nicht nur die
physische Landschaft das Westjordanlands, sondern auch die soziale Landschaft in Israel zu
transformieren. Leviev machte sein Vermögen ursprünglich mit der Ausbeutung afrikanischer
Diamantenvorkommen und afrikanischer Arbeitskräfte.(16) Sein Unternehmen namens
Africa-Israel investiert nicht nur in Siedlungen im Westjordanland, es hat auch als erstes
bewachte Wohnanlagen für die israelische Oberschicht gebaut. Vor kurzem hat Leviev
überdies die erste israelische Lizenz zum Betreiben eines privaten Gefängnisses bekommen.

Noch billiger produzieren als die indische Konkurrenz

In Modi'in Illit trifft die "alte Ökonomie" der Bau- und Immobilienfirmen auf die New
Economy des Hightechsektors - und beide sind eng mit dem Staat verflochten. Mehrere
Softwareunternehmen haben sich dort etabliert. Das erste war Matrix, einer der größten
Softwareentwickler in Israel. Das Unternehmen ist an der Börse von Tel Aviv notiert und hat
etwa 2 300 Beschäftigte. Anfang 2005 eröffnete Matrix ein Entwicklungszentrum mit heute
150 Mitarbeiterinnen, bis Ende 2006 sollen es 500 sein. Um gegen die Konkurrenz billiger
indischer Programmiererinnen anzukommen, beschäftigt Matrix gezielt Frauen aus der
Siedlung. Aber die Firma erpresste auch hohe Subventionen von der israelischen Regierung,
indem sie drohte, andernfalls das Entwicklungszentrum ins Ausland zu verlagern.17 Der
damalige Industrie- und Handelsminister Ehud Olmert beugte sich der Forderung.

Matrix fand die Alternative zu billiger indischer Arbeitskraft also im kolonialen Neuland
Israels. Man kann es auch als den "heimischen Offshore-Sektor" bezeichnen, denn hier findet
sich alles, was man braucht: billiges, gestohlenes Land, staatliche Subventionen und
öffentliche Mittel, Polizisten und Soldaten, die das Investitionsobjekt schützen, und natürlich
ortsgebundene und disziplinierte Arbeitskräfte. Der israelische Kapitalismus surft nicht in
einer digitalen Welt. Er integriert sich weiter in den Weltmarkt und erneuert sich zugleich,
indem er an dem kolonialen Projekt teilhat.
Die Frauen, die für das Matrix-Entwicklungszentrum in Modi'in Illit arbeiten, gelten als
äußerst fleißige und extrem produktive Arbeitskräfte: "Was anderswo ein Monteur in einer
hektischen Arbeitswoche schafft, leisten die Mädchen bei uns glatt in drei Tagen", erklärt der
Leiter des Zentrums. Die Löhne liegen nicht nur im internationalen Vergleich ziemlich
niedrig: Am Anfang verdient eine Arbeiterin nur den Mindestlohn von etwa 4 Dollar pro
Stunde. Im zweiten Jahr kommt sie auf etwa 1 000 Dollar im Monat, von denen die Firma ein
Fünftel vom Staat bekommt. Zudem sind die Beschäftigten für mindestens zwei Jahre an die
Firma gebunden.(18)

Einer der Betriebsleiter hat das Lohnniveau so erklärt: "Die Ultraorthodoxen sind es gewohnt,
von nichts zu leben. Wenn diese Frauen ein bisschen was verdienen, ist es für sie schon
viel."(19 )Und der Pressesprecher der Firma räumte ein, dass die Löhne, die man den
ultraorthodoxen Frauen von Modi'in Illit zahlt, nicht die relative Produktivität oder den Preis
ihrer Leistungen auf dem globalen Markt ausdrücke, sondern "ihre niedrigen
Lebenshaltungskosten".(20) Eine bemerkenswerte Anleihe bei der Marx'schen Werttheorie
aus kapitalistischem Munde.

Das Matrix-Entwicklungszentrum ist streng koscher. Zwei Rabbiner sind ständig präsent,
damit die Lebensweise und die ethischen Werte der Belegschaft eingehalten werden. Obwohl
die Arbeiterinnen nach einem komplizierten religiösen und beruflichen Kodex leben, äußert
sich ein Projektleiter in Modi'in Illit über ihre Arbeitsmoral hochzufrieden: "Selbst wenn sie
sechs Kinder haben, lassen sie weniger Arbeitstage ausfallen als eine Mutter von zwei
Kindern in Tel Aviv. Diese Frauen machen keine Probleme. Sie tun nichts als arbeiten: keine
Rauch- oder Kaffeepausen, kein Telefonieren am Arbeitsplatz, keine Internetrecherchen zu
einem billigen Türkeiurlaub. Pausen machen sie nur, um zu essen oder Muttermilch
abzupumpen, wofür ein besonderer Raum da ist. Einige Frauen gehen kurz zum Stillen nach
Hause und sind gleich wieder zurück."

In diesem Matrix-Entwicklungszentrum herrscht eine außergewöhnliche Stille. Persönliche


Gespräche sind nicht nur zwischen Männern und Frauen, sondern auch unter den Frauen
verboten. Eine Arbeiterin meinte dazu zu einem Journalisten: "Sie bezahlen uns für acht
Stunden Arbeit, also erwarten sie, dass wir arbeiten. Wenn eine von uns zu viel redet oder im
Internet surft, sagt ihr eine andere: ,He, das ist Diebstahl' - als würden wir uns auf Kosten der
Firma bereichern. Einmal baten wir um eine Pause von fünf Minuten zum Beten, aber der
Rabbi meinte, unsere alten Weisen hätten auch keine Pause gemacht, sondern ihr tägliches
Gebet während der Arbeit verrichtet. Und deshalb könnten wir unser Gebet auf die Zeit nach
der Arbeit verschieben." Eine andere Arbeiterin meinte dazu: "Wir sind es gewohnt, keine
verbotenen Dinge zu tun, selbst wenn uns niemand beaufsichtigt, denn es gibt ja jemanden,
der uns von da oben beobachtet."(21)

Das moralisch aufgeladene Wort gezel, das in der religiösen Tradition für "Raub" oder
"gewaltsame Entwendung" steht, wird in Bil'in nicht etwa für den Raub palästinensischen
Bodens gebraucht, sondern nur für den Diebstahl der wertvollen Zeit, die dem Arbeitgeber
durch das Gerede der Frauen verlorengeht. Hier haben die traditionellen Autoritäten und die
New Economy offenbar zu einer faszinierenden Allianz zusammengefunden. Doch die
Realität entspricht wohl nicht immer dieser idealisierten Darstellung. Auch die
ultraorthodoxen Arbeiterinnen bei Unternehmen wie Matrix würden sicher zuweilen gern die
Vorschriften der Betriebsrabbis und die betriebliche Aufsicht unterlaufen. Doch für sie gibt es
handfeste materielle Gründe, sich der strengen Arbeitsdisziplin zu unterwerfen. Denn wo
sonst sollten diese Frauen Arbeit finden? Einer der Manager von Matrix hat es ganz offen
formuliert: "Es gibt keine Arbeit in Modi'in Illit, und Frauen haben keine Autos, mit denen sie
zu anderen Jobs pendeln könnten."

Hier wiederholt sich auf bemerkenswerte Weise, was sich in Israel in den 1950er-Jahren
abgespielt hat. Auch damals wurde der Prozess der inneren Kolonisierung mit Hilfe neuer
jüdischer Einwanderer bewältigt, von denen viele aus der arabischen Welt stammten. Sie
wurden an den Grenzen des jungen Staats angesiedelt, um die territorialen Gewinne aus dem
Krieg von 1948 abzusichern. Aber sie dienten auch als billige Arbeitskräfte in der Frühphase
der israelischen Industrialisierung. Damals wurden die sephardischen Immigranten aus der
arabischen Welt als ungelernte Arbeiter behandelt, die über keinerlei Fertigkeiten verfügten.
So wie man heute von den ultraorthodoxen Frauen behauptet, man helfe ihnen, vom Dunkel
ans Licht zu gelangen, aus der Enge ihres Haushalts in ein modernes kapitalistisches
Unternehmen. Dabei übersieht man ihren tatsächlichen Bildungsgrad ebenso wie die
Tatsache, dass diese Frauen - neben ihrer Hausfrauentätigkeit - schon immer gearbeitet und
zum Familieneinkommen beigetragen haben.

Zuweilen hört man das Argument, der israelische Kapitalismus werde im Zuge seiner
Modernisierung in der Lage - oder sogar gezwungen - sein, die überholten Formen des
Kolonialismus hinter sich zu lassen. Doch am Fall von Modi'in Illit zeigt sich, dass der
israelische Kapitalismus digital und kolonial zugleich sein kann, also zwischen globalen
Märkten und kolonialen Siedlungen hin und her changiert und je nach Bedarf auf
ungehemmte Privatisierung oder auf nachhaltige staatliche Subventionierung setzt. Ein
solches System wird so lange weiter funktionieren, bis das koloniale Projekt für Israel
irgendwann zu einer eindeutigen Belastung wird und der Widerstand der kolonisierten
Bevölkerung - oder der verbündeten Staaten - die Israelis zu einem Kurswechsel zwingt.

Fußnoten:
(1) Siehe die Analysen von Amira Hass in "Ha'aretz, 24. März 2006.
(2) Siehe Meron Rapaport, "Symbol of Struggle"," Ha'aretz, 10. September 2005.
(3) "Ha'aretz, 7. November 2005.
(4) "Ha'aretz, 8. Januar 2006.
(5) Siehe den Bericht des israelischen Rechnungshofs No. 51a (2000), S. 201-218.
(6) Im Dezember 2005 bauten Aktivisten aus Bil'in ebenfalls ein kleines Haus auf einem
palästinensischen Grundstück jenseits des Trennzauns, wobei sie argumentierten, sie hätten
das Recht, auf ihrem Land zu bauen, solange nicht ein einziges der Siedlungshäuser
abgerissen sei. Das Haus bekam den Namen "Zentrum für den gemeinsamen Kampf für den
Frieden". Siehe dazu "Ha'aretz, 23. Dezember 2005.
(7) Sharon Kedmi, "Dania Cebus is to build in Modi'in Illit", "Globes, 15. August 2004.
(8) Siehe www.btselem.org/Download/200512_Under_the_Guise_of_Security_Eng.pdf.
(9) Das Opfer des Anschlags verlor dabei beide Beine. Siehe das Interview mit Era Rapaport
in "Ma'ariv, 5. April 2002.
(10) Siehe "Ha'aretz, 3. und 8. Januar 2006; Shosh Mula und Ofer Petersburg, "The Settler
National Fund", www.peacenow.org/hot.asp?cid=247.
(11) "Haaretz, 16. September 2005.
(12) Siehe Mula und Petersburg (Anm. 10).
(13) Siehe Gadi Algazi, "The Upper-Class Fence", unter
www.kibush.co.il/show_file.asp?num=5086.
(14) The Israel Central Bureau of Statistics, "Characterizing Local Councils and Ranking
them according to the Socio-Economic Position of their Population", Februar 2004.
(15) Alle Zitate aus: Tamar Rotem, "The Price is right" in: "Ha'aretz, 23. September 2003.
(16) Siehe die Artikel in "Ha'aretz, 24. 3. 2005 und "Ma'ariv, 24. 10. 2005; s. a. Rafael
Marques, "Lundas - The Stones of Death: Angola's Deadly Diamonds":
www.niza.nl/docs/200503141357095990.pdf.
(17) Siehe Protokolle des Knesset-Ausschusses für Naturwissenschaft und Technologie vom
29. Juni 2004.
(18) "Ma'ariv, 11. November 2005.
(19) "Ha'aretz, 17. Januar 2005.
(20) "Ha'aretz, 19. September 2005.
(21) "Ma'ariv (Anm. 18).

Aus dem Englischen von Niels Kadritzke

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