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I nhaltsverzeichnis

Georg Pfeffer Engagement, Ethnographie und


Gesellschaftstheorie. Das Vermächtnis von
Lewis Henry Morgan (1818-1881).................................... 7
Sergio Ugalde Quintana Frobenius et les Iles: La réception littéraire et
artistique hispanophone d’un projet ethnologique...........29
Diego BaUestero Indigenous drawings as ‘cultural fossil guides’:
Robert Lehmann-Nitsche and the comparative
archaeological study of the evolution of the
human m ind............................................................................47
Lioba Rossbach de Olmos Orakel-App. Der Einzug des Smartphones
in die afrokubanische Divination........................................67
Volker Heeschen Emergence and transformation: talking about
origins, myths, rituals and cultural change among
the Eipo and Yalenang in the central mountains
of West P a p u a ........................................................................89
Michael Goddard The town in the village and the village in the town:
an examination of a discursive dichotomy
in M elanesia.......................................................................... 113
Bettina Beer The intensification of rural-urban networks in
the Markham Valley, Papua New Guinea: from
gold-prospecting to large-scale capitalist p ro jects........ 137
Fanny Wonu Veys Missionary attitudes towards Tongan
material culture....................................................................159
Susanne Fehlings From chelnoki to global players: encounters
in the context of Caucasian(-Chinese) trade
since the 1990s......................................................................183
Tilman Musch In den Sand geschrieben. Spuren, Brände und
das Suchen von Kamelen bei den Teda (N iger).............207
Philipp Zehmisch Anarchie auf den Andamanen?
Ethnographische Reflexionen zum Spannungsfeld
von autoritärer Staatlichkeit und Strategien der
Herrschaftsvermeidung im indischen O zean .................. 231
FO RU M

Ménage à trois-, when anthropology, art history and


Ursula Helg
art do joint research in the ethnographic museum. 251
Versuchsanordnung. Zur Bedeutung eines
Susanne Lanwerd
Forschungsprozesses für die Produktion
269
einer Ausstellung.......................................................
Markus Schindlbeck Zur Geschichte der Planungen für das
Humboldt Forum. Neue Publikationen................. 291

B U C H B E SP R E C H U N G E N
Diana O rdubadi: Die Billings-Sarycev-Expedition 1785-1795.
G udrun Bucher
Gottingen 2 0 1 6 ...................................................................................
C ora Bender und Martin Zillinger (Hrsg.):
Philipp Budka
H andbuch der Medienethnographie. Berlin 2015 ....................
Gonzalo Iparraguirre: Antropología del tiempo.
Iris Gareis
Buenos Aires 2 0 1 1 ....................................................................
Almut Schneider: Mouvements, échanges et rituels
Jo s D.M . Platenkamp
dans les Hautes-Terres de la Papouasie-Nouvelle-Gumée.
Berlin 2 0 1 7 .................................................................................
Volker Harms: D as Tübinger Poupou. Tübingen 2017. . .
G eorg Schifko
Ralf Burmeister, Michaela Oberhofer und Esther Tisa
Denise Toussaint
Francini (Hrsg.): D ada Afrika. Zürich 2 0 1 6 .......................

321
Adressen der Autoren
325
Information for Authors
Paideuma 63:67—88 (2017)

O R A K E L -A P P
Der Einzug des Smartphones in die afrokubanische Divination*

Lioba Rossbach de Olmos

A BSTRACT. Priests of the Afro-Cuban Ifá-Oracle are increasingly using sm artphones in their
divination sessions. One particular application allows the meanings and recom mendations of
all the 256 existing oracle signs to be accessed. The present article analyses this development
in view o f the canonization o f the Ifá-oracle following its conversion from orality to literacy
in Cuba, where the divination system had been introduced by Yoruba slaves in the nineteenth
century. The Ifá-application will be presented and its m ode of operation explained. The app will
then be discussed in the context o f the ‘digital diaspora (religion)’. The article aim s to contribute
an empirical example to the ongoing debate on the so called ‘media turn’ in anthropology and
religious studies.

E inleitun g

In Kuba sind Smartphones binnen weniger Jahre zu einem Bestandteil der Divination
geworden. Das Ifá-Orakel (vgl. Bascom 1969a, Abimbola 1976), das im 19. Jahrhundert
mit Yoruba-Sklaven aus Westafrika auf die größte Karibikinsel gelangte, hat sich zum
wichtigsten Divinationssystem der afrokubanischen Santería entwickelt.1Es basiert auf
der Ermittlung und Auslegung von Zeichen, für deren Interpretation die Orakelprie­
ster oder babalawo (deutsch: Vater der Geheimnisse) einen umfangreichen Textkorpus
heranziehen. Seit kurzem nun nutzen viele Priester Smartphones mit einer eigens ent­
wickelten Anwendung oder App, die den Namen Tratado de Ifá (deutsch: Ifá-Trak-
tat) trägt. Der Bedeutungshorizont jedes einzelnen Zeichens, das im Orakel ermittelt
werden kann, läßt sich in der App aufrufen. Zwar haben sich in Westafrika und den

Die folgenden Beobachtungen gehen auf eine Feldforschung in Kuba von Oktober 2015 bis Juli 2016
zurück, die im Rahmen des Forschungsprojektes „Jenseits des Naturalismus. Von der Perzeption zur
Rezeption des Klimawandels im Verständnis der Lokalbevölkerung Kubas“ stattfand. Das Projekt
wurde von 2015 bis 2017 von der DFG gefördert (GZ HA 5957/9-1) und unter der Leitung von Ernst
Halbmayer am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Philipps-Universität Marburg durch­
geführt.
Die Yoruba (Yoruba) zählen rund dreißig Millionen Menschen im Südwesten Nigerias sowie in den
Nachbarstaaten Benin, Ghana und Togo (Bascom 1969b, Olupona 2011). Im 19. Jahrhundert stellten
sie Kontingente von Sklaven für die Amerikas, vor allem Kuba und Brasilien. Ihre Religion nahm in
Kuba katholische Einflüsse auf und wurde als „Santería“ (deutsch: Heiligenkult) bekannt. Da dieser
Name die katholischen Einflüsse betont und die afrikanischen Ursprünge ignoriert, wird das Orakel­
system heute vorzugsweise „regia de Ocha“ (0[ri]cha-Regel) und „regia de Ifá“ (Ifä-Regel) genannt.
68 Lioba Rossbach de Olmos

USA ähnliche Entwicklungen zur Digitalisierung des Ifä-Traktates angedeutet,2 doch


sucht man dort die fertigen Produkte vergebens. Die Tratado de Ifä-App hingegen, die
auf dem Android-Betriebssystem basiert, ist im Google Play-Store zu finden und für
89,99 Euro herunterzuladen.3 In Kuba wird sie allerdings durch Zapya,4 Bluetooth und
andere elektronische Datenübertragungstools weitergegeben. Sie gerät mit einigen reli­
giösen Regeln in Konflikt, zum Beispiel weil sie keine Geheimhaltung gegenüber Laien
garantieren kann. Doch selbst Kritiker haben sie auf ihrem Handy installiert, da, wie sie
sagen, einige Innovationen nun einmal nicht aufzuhalten seien.
Der vorliegende Aufsatz erörtert die App im Kontext des kubanischen Ifä-Sy-
stems, rekurriert aber wiederholt auf das westafrikanische Original. Dabei wird die
Digitalisierung als eine neue Etappe der Kanonisierung des Ifä-Textkorpus sichtbar,
die in Kuba mit der Verschriftlichung einsetzte, im Yorubagebiet aber länger auf sich
warten ließ. Dann wird die App selbst vorgestellt und ihre Funktionsweise erläutert. Sie
läßt sich in den Kontext der „digitalen Diaspora“ stellen (Kremser 2003, 2005), die sich
durch die frühe Nutzung digitaler Medien bei afrokaribischen Religionen auszeichnet.5
Die Orakel-App kann als ein empirisches Beispiel für neuere Tendenzen der Digitalisie­
rung von Religion und Kultur gelten (Miller u. Horst 2012, Campbell 2013).

D as I fA-O r a k e l im t r a n s a t l a n t is c h e n V e r g l e ic h

Neben dem Horoskop (von Stuckrad 2003) und dem chinesischen I-Ging (Wilhelm
2008) gehört das Ifä-Orakel zu den bekannteren Divinationssystemen der Gegen­
wart (Peek u. van Beck 2013:10). Das westafrikanische Original wurde 2005 von der
UNESCO als Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit
gewürdigt und 2008 als immaterielles Kulturerbe anerkannt.6 In Westafrika galt es
als ein Beispiel für die regionalen Geomantie-Systeme,7die auf Erde, Staub oder Sand
gezeichnete Zeichen ausdeuten. In Kuba koexistierte es mit anderen afrokubanischen
Divinationsformen und integrierte fremde Elemente, zum Beispiel des Volkskatholizis­
mus. Dabei entstand eine Ausdrucksform mit eigenen Konturen, welche die Anhänger
heute als „criollo“ (kreolisch) bezeichnen. Daneben findet der Begriff „Lucumi“ (Law
1997), unter dem die Yoruba in der Kolonialzeit in Hispanoamerika bekannt waren,
auch weiterhin Verwendung zur Benennung der Ritualsprache und des religiösen Erbes
der afrikanischen Ifä-Priester.

Siehe Folorunso et al. (2010), Olupona und Abiodun (2016:3) und http://www.bu.edu/bostonia/web/
yoruba/.
Siehe https://play.google.com/store/apps/details?id=eha.activity_ti_pro.
Siehe https://en.wikipedia.org/wiki/Zapya.
Vergleiche für ähnliche Entwicklungen in Brasiliens Candomblé Freitas (2010,2015).
Siehe http://www.unesco.org/culture/ich/en/RL/ifa-divination-system-00146.
Morton-Williams, Bascom und McClelland (1966:407), Bascom (1969a:l-12).
ORAKEL-APP 69

Das Ifä-Orakel wird heute auf beiden Seiten des Atlantiks befragt. Der Name Ifä
steht zugleich für das Orakel und die Gottheit Orula oder Orunmila. Der Überliefe­
rung zufolge kennt Orula die Bestimmung jedes einzelnen Menschen und ist in der
Lage, Abweichungen vom Schicksalsweg zu erkennen, die sich mithilfe des Orakels
und empfohlener Opferhandlungen korrigieren lassen. Allerdings kommuniziert Orula
seit seinem Rückzug aus der diesseitigen Welt mit seinen Gefolgsleuten nur noch über
Palmkerne (Lucumi: ikin), die sich zu Zeichen (Yoruba: odü, Lucumi: odu, oddun) mit
seiner Botschaft zusammenfügen lassen. Es ist die Aufgabe der Orakelpriester, diese
Zeichen zu ermitteln, zu verstehen und die Opferzeremonien für die richtigen Adres­
saten, nämlich Oricha-Gottheiten oder Ahnen, zu bestimmen und zu vollziehen. Auf
diesem Wege erhellt das Ifä-Orakel das individuelle Schicksal, ermittelt die persönliche
Schutzgottheit der Menschen und will ihnen zu einem harmonischen Leben verhelfen.
Im Alltag hilft es bei der Entscheidungsfindung, zum Beispiel bei Heiraten oder Reisen,
und bei Krisen, etwa Geldsorgen, zeigt es Wege aus der Misere. Anders als in West­
afrika hat das Ifä-Orakel in Kuba nicht seinen Niedergang als Folge gesellschaftlicher
Modernisierung fürchten müssen (vgl. Staewen u. Schönberg 1982:x), sondern erfreute
sich eines regen Zulaufes von neuen Anhängern. Wenn die Yoruba-Religion jüngst als
Weltreligion (Prothero 2011:239-282) betrachtet wurde, so hat die Diaspora in Kuba
daran großen Anteil. Nicht einmal der hartnäckige Atheismus der sozialistischen Re­
gierung Fidel Castros konnte dem Einhalt gebieten (vgl. Rauhut 2009). Vielmehr brach­
ten Migranten aus Kuba die Ifä- und Ocha-Regel in viele Länder der Alten und Neuen
Welt.8
Vor einigen Jahren haben westafrikanische Priester wieder Kontakt zu ihren ku­
banischen Ifä-Kollegen aufgenommen,9 wobei schnell Gegensätze aufbrachen. So kam
es zu Kontroversen über die Struktur, Funktion und Rezitation des Ifä-Textkorpus und
es zeigten sich Differenzen im Hinblick auf Dauer und Details der Initiationen, der
Einweihung von Frauen zu Ifä-Priestern, der Unterweisung der Neophyten und der
Stellung zentraler Gottheiten sowie ihrer Geschlechtlichkeit.10 Wichtige Studien zum
westafrikanischen Ifä-Orakel lassen dennoch den Schluß zu, daß in Kuba entscheiden­
de Grundlagen erhalten blieben.11Die verwendeten Objekte wie auch der Ablauf haben
ästhetische Details, nicht aber ihren Charakter eingebüßt.
Im Alltag erfolgt die Orakelbefragung, der Gebete und rituelle Handlungen vor­
ausgehen, mit einer Orakelkette (Lucumi: ekuele) aus acht beweglichen Gliedern, das
heißt leicht gewölbten Scheiben aus Palmkernen, Kokosnussschalen, Schildpatt oder
Ähnlichem. Dabei faßt der Orakelpriester die Kette mittig und wirft sie vor sich zu Bo­
den, so daß die beiden Hälften der Kette mit jeweils vier Gliedern einander gegenüber

Vergleiche Rossbach de Olmos (2007, 2014).


Vergleiche zum Beispiel Ayoh’ Omidire (2014:210—229).
Vergleiche zum Beispiel Abimbola und Miller (1997), Rauhut (2012:207-249) und McElwaine Abim-
bola (2016).
Siehe Bascom (1969a:37-59), Abimbola (1977:9-11) und Olupona (2011:177-179).
70 Lioba Rossbach de Olmos

zu liegen kommen. Jedes Glied zeigt mit seiner gewölbten Seite entweder nach oben
oder nach unten. Für jede nach oben zeigende Seite wird ein Strich, für jede andere
werden zwei Striche notiert. Insgesamt kann die Orakelkette eines von 44 möglichen
odu zeigen, so daß es 256 Kombinationsmöglichkeiten gibt.
Eine aufwendigere und höherstehende Orakelbefragung erfolgt mit sechzehn
Palmkernen. Sie wird bei wichtigen Angelegenheiten vollzogen, insbesondere bei In­
itiationen, wenn das ermittelte Zeichen in der Regel lebenslange Gültigkeit besitzt und
Schicksal wie auch Persönlichkeit des Initianden beschreibt. Der Orakelpriester oder
babalawo nimmt die Palmkerne dazu in die rechte Hand, öffnet sie leicht und schlägt
sie gegen die linke Hand, wobei er versucht, möglichst viele Kerne in der rechten Hand
zu behalten. Gelangen dennoch zwei Kerne in die linke Hand, zeichnet er einen Strich
auf ein mit Orakelpulver (Lucumi: irosun) bedecktes Orakelbrett (Spanisch: tablero).
Bei nur einem Kern zeichnet er zwei Striche. Jede andere Zahl in der linken Hand ver­
bleibender Palmkerne ist ungültig. Der babalawo muß acht gültige Operationen durch­
führen, um ein vollständiges Zeichen zu erhalten. Die acht Striche oder Doppelstriche,
die jeweils die Teilzeichen bilden, werden jeweils von rechts nach links und dann auf­
steigend in vier Zeilen notiert.
Die odu sind in eine hierarchische Rangfolge eingeteilt, wobei Name und Stellung
in Kuba nur geringfügig von den westafrikanischen Vorbildern abweichen. Die oberste
Position in der Hierarchie nehmen die ersten sechzehn Zeichen ein, die jeweils unver­
wechselbare Namen tragen und denen der Zusatz „doppelt“ (Yoruba: „meji“; Lucumi:
„meyi“, „melli“) beigefügt ist. Das heißt, daß die beiden Spalten mit den vier rechten
und vier linken Teilzeichen symmetrisch sind (s. Abbildung 1). Neben den sechzehn
Doppelzeichen existieren 240 „Abkömmlinge“ zweier Meyi-Zeichen (Lucumi: omolu):
Kombinationen aus zwei unterschiedlichen Zeichen. Ihr Name ist dementsprechend
eine Verbindung aus den Namen des rechten und des linken Zeichens, kann davon aber
auch abweichen und einen Beinamen führen.
Die Unterschiede zwischen den Ifä-Ausdrucksformen im Yorubagebiet und in
Kuba betreffen sprachliche Besonderheiten sowie die Oralität (vs. Schriftlichkeit): Im
Yorubagebiet folgt auf die rituelle Bestimmung des Orakelzeichens eine Rezitation
von Narrativen in poetischer Form (Yoruba: frf), die von mythischen wie historischen
Begebenheiten berichten. Von diesen hat der babalawo mehrere genau und fehlerfrei
vorzutragen. Dann gilt es, eine Geschichte aus den vorgetragenen Narrativen auszu­
wählen, in der der Ratsuchende sein Problem wiedererkennt. Das Ifä-Orakel gründet
auf der Überzeugung, daß die Erzählung das Problem benennt und auch eine Lösung
angibt, wobei es sich meist um Opferhandlungen für Gottheiten oder Ahnen handelt.
Die wortgetreue Wiedergabe der Narrative ist Teil der mehrjährigen Ausbildung zum
Ifä-Priester. Selbst erfahrene Orakelpriester sind vor Kritik nicht gefeit, wenn sie bei
Ifä-Darbietungen auf gelegentlichen babalawo-Treffen falsch oder unvollständig rezi­
tieren (Abimbola 1973:48-49). Allerdings gibt es eine große Zahl von Erzählungen:
William Rüssel Bascom (1969a:121) nannte 4000 für alle Zeichen und aktuelle Anga-
ORAKEL-APP 71

I I II II II II I I
I I II II I I II II
I I II II I I II II
I I II II II II I 1
1. BABA EYO G BE 2. O Y E K U N M EY I 3. IW ORI M EYI 4. O D I M EY I
MEYI
I I II II I I II II
I I II II II II II II
II II I I II II II II
II II I I II II I I
5. IRO SO M EYI 6. O JU A N I M EY I 7. OBARA M EYI 8. O K A N A M EY I
I I II II II II II II
I I I I I I II II
I I I I II II I I
II II I I II II II II
9. OGUNDA M EYI 10. OSA M EY I 11. IK A M EYI 12. O T R U PO N M EYI
I I I I I I II II
II II I I II II I I
I 1 II II I I II II
I I I I II II I I
13. OTURA M EYI 14. IR E T E M EY I 15. O C H E M EY I 16. O F U N M EY I

Abbildung 1: Die sechzehn wichtigsten Orakelzeichen gemäß ihrer hierarchischen Position

ben sprechen von 800 pro Zeichen.12 Die Narrative sind vermutlich in Variationen im
ganzen Yorubagebiet entstanden und entsprechend tradiert worden. Ihre mündliche
Pflege und Weitergabe folgt der Absicht, alles Erlebte und Erlebbare dieser Welt aufzu­
bewahren, um es in der Divination zur Lösung anstehender Probleme zu mobilisieren.
Seine Mündlichkeit machte den Textkorpus notwendigerweise unvollständig, unvoll­
endet und fragmentarisch. In einer Gesellschaft ohne Schrift, wie der der historischen
Yoruba, konnte nie ein abgestimmtes Gesamtwerk entstehen, sondern es war jeweils
nur der aktuelle Wissensbestand eines oder einiger Priester verfügbar.13 Im oralen
Ifä-Textkorpus fallen zwei Komponenten des kulturellen Gedächtnisses im Sinne von
Jan Assmann (2007) zusammen, und zwar Vergangenheitsbezug und Traditionsbil­
dung. Dem liegt wiederum die Annahme zugrunde, daß sich historische Ereignisse
und mythische Geschehnisse wiederholen. Diese Wiederholungen folgen keiner kos­
mischen Logik, etwa in Form von Kalendersystemen, sondern der sozialen Dynamik
der Reinkarnation der Ahnen, die unaufhörlich die Grenze zwischen der diesseitigen
und der jenseitigen Welt überschreiten. Deshalb bewahren die Problemlösungen aus

12
Siehe https://ich.unesco.org/en/RL/ifa-divination-system-00146.
13
Vergleiche auch Brown (2003:148).
72 Lioba Rossbach de Olmos

mythischer und historischer Zeit in Form von Opferhandlungen auch bei aktuellen
Schwierigkeiten ihre Gültigkeit.
Die Oralität war dem Ifä-Divinationssystem nicht äußerlich, sondern verlieh ihm
seinen besonderen Charakter. Ähnlich wie bei anderen oralen Überlieferungen, etwa
Heldengedichten oder Epen (vgl. Goody, Watt u. Gough 1986), wurden kunstvolle
Wiederholungen eingesetzt, die als mnemotechnisches Hilfsmittel dienten oder dem
Rezitator Verschnaufpausen gewährten. In den Ifä-Versen wechselten Lautmalereien
und poetische Muster mit kurzen Passagen freier Rede. Die Yoruba-Sprache erlaubt es,
bestimmte Silben durch die sogenannte Elision, den Wegfall einzelner oder mehrerer
Laute, zu verschmelzen. Dies führte zu Mehrdeutigkeiten, die nur durch die Kenntnis
des jeweiligen Kontextes aufzulösen waren, so daß Außenstehende die Narrative weder
stilistisch noch semantisch leicht verstehen konnten. Bascom fiel ihr poetischer Cha­
rakter zunächst gar nicht auf (Staewen u. Schönberg 1982:x, Bascom 1978) und selbst
muttersprachigen Yoruba erschloß sich die Sakralsprache nicht ohne Probleme.14
Die Narrative waren selbst Teil der „Geheimnisse“, die sich in den Namen der
Priester eingeschrieben haben. Ein weiterer Aspekt war die Wortmagie. So zeichneten
sich nach dem westafrikanischen Ifä-Verständnis gewisse Gesänge, Verse und Gebete
durch eine Kraft (Yoruba: ä§e, Lucumi: ache) aus, deren Wirkung an die genaue Re­
zitation gebunden war. Die babalawo setzten sie gezielt zur Aktivierung kosmischer
Energien ein, etwa um es regnen zu lassen. Zwar attestierte man auch in Kuba einzelnen
Priestern, Orakelzeichen, Gebeten, Gesängen und religiösen Zeremonien ache, doch
war diese Kraft nicht mehr an die genaue Rezitation gebunden, da die Gottheiten, wie
es hieß, jede Sprache verstünden.

V o n der M ü n d l ic h k e it zur Ve r s c h r i f t l i c h u n g des I f A-Tex t k o r p u s

Die Namen einiger Orakelpriester afrikanischer Herkunft, die als Gründerväter des
Ifä-Komplexes in Kuba gelten (Brown 2003:67-74) und Ausschnitte oder Regionalvari­
anten des oralen Ifä-Korpus aus Afrika mitbrachten, sind überliefert. Sie hatten sicher
großen Anteil an der raschen Verschriftlichung der Ifä-Texte, wobei die Initiative von
der in Kuba geborenen babalawo-Generation ausging, deren Erinnerungsvermögen
nicht den Bedingungen der Oralität entsprach. Frühe Niederschriften tragen noch Na­
men wie Tata Gaitan oder Ramon Fehles und wurden für den Eigenbedarf angefertigt.
Ob die aus Afrika stammenden Orakelpriester bereit waren oder überzeugt werden
mußten, Ifä-Texte aufzuzeichnen oder zu diktieren, ist nicht überliefert. Die alten Ex­
emplare zeigen jedenfalls eine schwer verständliche Zweisprachigkeit.
Verse haben in Kuba praktisch nicht überlebt, während sich Gebete und Gesän­
ge in kreolisiertem Lucumi erhielten. Allerdings ließen viele Narrative, die in Kuba

Vergleiche Apter (1992:117, 236/Fn. 1).


73

„pataki“ hießen, einen den afrikanischen Vorbildern ähnlichen Erzählstrang erkennen:


Ein babalawo befragt das Orakel (Lucumi: osode) für einen Ratsuchenden und dieser
- wie der Priester namentlich genannt - kann sein Problem mithilfe des empfohlenen
Opfers lösen und sich glücklich schätzen oder das Opfer unterlassen und im Unglück
verharren.15
Die Narrative haben in Kuba auch ihre Rolle bei der Interpretation der Zeichen
eingebüßt. Aus einer Zusammenschau der Geschichten entstanden komprimierte Fest­
legungen, die fortan als essentielle Bedeutungen die Interpretation bestimmten und
eine Art Kodifizierung mit sich brachten. Der babalawo Victor Betancourt aus Havan­
na befürwortet zwar die Rückbesinnung auf das religiöse Erbe der kubanischen Ifä-
Gründer,16 glaubt aber, auf die Narrative verzichten zu können. Die Ifä-Weisheiten, so
meinte er, ließen sich in Form von essentiellen Inhalten der Zeichen in einem dünnen
Büchlein zusammenfassen.17 Ein ähnlich deduktives Interpretationsverfahren befür­
worten auch andere babalawo.™ Sie legen Detailfragen dem Orakel erneut vor, wobei sie
sich eines festen Schemas der Befragung mit Ja- und Nein-Antworten bedienen. Dieses
Verfahren war auch im Yorubagebiet gebräuchlich, hat aber die Narrative nicht ver­
drängt. Allerdings bemüht sich eine Gruppe von babalawo um Lazarito Pijuan in H a­
vanna, den Wert der pataki als Quelle divinatorischer Wahrheit wiederzuentdecken.19
Neben der ästhetischen Ausdrucksweise und Wortmagie hatte die Mündlichkeit
noch weitere Implikationen: Sie flankierte einen exklusiv männlichen Zugang zum
Ifä-System. Nur die babalawo als „Väter der Geheimnisse“ hatten Zugang zum Ifä-Wis-
sen und kontrollierten dessen Weitergabe. Zwar wurden in Teilen des Yorubagebietes
Frauen zum Amt des Ifä-Priesters (Lukumi: iyanifä) zugelassen, aber selbst dort blieben
sie von den großen Geheimnissen ausgeschlossen. Trotz heftiger Kontroversen nimmt
ihre Zahl in Kuba zu.
Die babalawo waren dem Gebot der Geheimhaltung des Ifä-Wissens bis in jüng­
ster Zeit auf beiden Seiten des Atlantiks verpflichtet. Im Yorubagebiet drohte 1963 ein
alter Priester, seine Unterweisungen einzustellen, sollte Wände Abimbola, der damals
für die Universität von Ibadan Studien über Ifä durchführte, damit fortfahren, seine
Erklärungen aufnehmen oder aufschreiben. Daraufhin hörte Abimbola nur noch zu
(Abimbola 2016:32-33). In Kuba wurden babalawo noch in jüngster Vergangenheit von
ihren Lehrern daran gehindert, einzelne Bedeutungen von Zeichen oder Bestandteile
von Opfern aufzuschreiben und man zerriß ihre Notizen. Der beste Ort der Geheim­
haltung, so hieß es, sei der Kopf und nicht das Papier. Früher haben sich die babalawo

Vergleiche Bascom (1969a:122—127) und Abimbola (1976:43).


Vergleiche Rauhut (2012:207-249) und Rossbach de Olmos (2014:71-77).
Gespräch mit Victor Betancourt am 23. März 2016. Alle Gespräche wurden auf Spanisch geführt und
als Audiodatei aufgezeichnet.
Zu ihnen zählt zum Beispiel Javier Perellö (Gespräch am 19. Dezember 2015).
Ich habe von November 2015 bis Juli 2016 häufig im Haus von Lazarito Pijuan an wöchentlichen
Treffen zur Analyse von pataki teilgenommen.
74 Lioba Rossbach de Olmos

ihr Wissen nach der Initiation nicht durch Lektüre, sondern durch die Teilnahme an
unzähligen Zeremonien an der Seite eines Meisters angeeignet.211 Der unablässige Ver­
gleich von Menschen, die bei der Initiation dasselbe Zeichen erhalten hatten, diente
der religiösen Gedächtnisschulung. Ifä zeigte, daß diese Menschen zwar nie identisch
waren, aber doch viele Gemeinsamkeiten aufwiesen.21
Schon die ersten Niederschriften brachten jedoch das Geheimhaltungsgebot in
Gefahr. Zunächst sollen Freimaurerlogen Ifá-Traktate vervielfältigt und nur an geweih­
te Orakelpriester abgegeben haben.22 Bald folgte dann der kommerzielle Vertrieb von
Textsammlungen, vor allem von „Dice Ifä“ (deutsch: „Ifä sagt“), den Pedro Arango or­
ganisierte. Die Herkunft dieses Ifä-Traktates ist unklar und um so undurchsichtiger, als
Arango selbst kein babalawo war. Dennoch wurde „Dice Ifä“ Jahre später Pflichtlektüre
jedes jungen Orakelpriesters. In den 1990er Jahren sollen schließlich zwei mehrbändige
Ifä-Enzyklopädien Vorgelegen haben (Brown 2003:147). Mit mehr als 3 000 Seiten stellt
der Tratado enciclopédico de Ifä (o.J.) den vorläufig letzten Versuch einer schriftlichen
Kompilation relevanter Texte zu den Ifä-Zeichen dar, wobei vermutlich mehrere ältere
Fassungen zusammengefügt wurden.23 Vor zwanzig Jahren hätte kaum ein Laie Zugang
zu dem Ifä-Textkorpus erhalten, heute ist er im Internet verfügbar (http://www.oruk.
org).
Die erwähnten Schriften bilden ein Konvolut, das Angaben vom ersten bis zum
letzten Zeichen beinhaltet. Mit der Verschriftlichung hatte Ifä seine orale Fragmentie­
rung hinter sich gelassen und war zu einem zusammenhängenden Traktat geworden.
Ein weiteres Resultat der Verschriftlichung ist das Strukturierungsmuster, dem die Ifä-
Enzyklopädie folgt. Entsprechend der festgelegten Zeichenhierarchie werden für jedes
odu zunächst die einschlägigen Gebete (Spanisch: rezo) und Gesänge (Lucumi: suye-
re) angeführt. Es folgen Dinge, die in dem jeweiligen Zeichen „geboren“ wurden, wie
es heißt, die also erstmalig in dessen Wirkungsbereich in Erscheinung traten. Daran
schließt sich die „Beschreibung des Oddun“ an. Hier werden die Eigenschaften jedes
Zeichens dargelegt und oft danach unterschieden, ob das Zeichen bei einer schlichten
Orakelbefragung oder bei einer Initiation mit lebenslanger Tragweite gefallen ist. Es
folgen die zu dem jeweiligen Zeichen gehörenden „Geheimnisse“, das heißt Pflanzen
und magische Praktiken oder Opferzeremonien, die wiederum eigene Gebete und Ge-

Anders als im Yorubagebiet, wo Novizen vor der Initiation ein mehrjähriges Training in Orakeltech­
nik, Versrezitation und Opferhandlungen absolvierten, gab es in Kuba vor der Einweihung keinerlei
Unterweisung.
Das ergeben zum Beispiel meine Gespräche mit dem mittlerweile verstorbenen babalawo Pedro Or-
tiz Oliveira (Rossbach de Olmos 2014:84).
Entsprechende Hinweise stammen von Nelson Aboy Domingo, einem babalawo, Wissenschaftler
und Autor mehrerer Bücher zur Santería. Siehe zum Beispiel Aboy Domingo (2016).
Zu erwähnen ist auch das „Orunmila-Projekt“, in dessen Rahmen Ernesto Valdés Jane mündliche
und - mittlerweile über Amazon verfügbare - schriftliche Zeugnisse afrokubanischer Religionen
herausgibt. Siehe zum Beispiel Valdés Jane (2011).
O RAKEL-APP
75

sänge beinhalten. Das nächste Teilkapitel „Dice Ifá“,24 beginnt mit typischen Sprich­
wörtern, die der Klient als Ratschläge erhält, und führt schließlich pataki auf, denen
eine erläuternde, illustrierende Funktion zukommt.
Die Verschriftlichung hat sicher dazu beigetragen, schwer verständliche Yoruba-
Konzepte und -Vorstellungen an die örtliche Denkungsart und den kreolischen Ver­
ständnishorizont heranzuführen. Dabei gab es Aufgaben unterschiedlichen Schwierig­
keitsgrades. Der Wechsel von der im Yorubagebiet üblichen Vier-Tage- zu der in Kuba
gebräuchlichen Sieben-Tage-Woche dürfte problemlos gewesen sein und es kann wohl
als eine schlichte Modernisierung gelten, wenn das Orakel bei bevorstehenden Reisen
nicht mehr vor Gefahren beim Pferderitt, sondern vor Auto-, Bus- oder Bahnfahrten
warnt. Es finden sich aber auch Erzählungen, die in Kuba zum Teil oder zur Gänze neu
in den Ifä-Textkorpus integriert worden sein könnten. Bei anderen hat ihre Fremdar­
tigkeit und Metaphorik selbst erfahrene babalawo an die Grenze ihres Interpretations­
vermögens geführt. Ob gerade dies die westafrikanische Herkunft der betreffenden
Erzählungen belegt, wird sich kaum schlüssig nachweisen lassen.
Ein hybrides Narrativ aus Kuba ist meiner Ansicht nach im Zeichen mit dem Na­
men Ofun Otrupon zu finden, das als „Vater der Sprachen“ gilt (Tratado enciclopédico
de Ifá oj.:3036). Es verweist im Kontext der Orakelbefragung auf einen Mangel an ge­
genseitigem Verstehen, der durch unkontrolliertes Durcheinanderreden hervorgerufen
wird. Dabei findet das alttestamentarische Motiv des Turmbaus zu Babel Erwähnung,
nach dem Gott die Menschen strafte, indem er sie unterschiedliche Sprachen sprechen
ließ und sie so entzweite. Es ist anzunehmen, daß solche alttestamentarischen Denk­
figuren erst in Kuba ihren Weg in den Ifá-Traktat gefunden haben. Ein vergleichbares
Beispiel findet sich in dem Zeichen Irete Wori, in dem ein pataki von Verrat und Bos­
heit handelt und dazu den Mord am Baumeister des Salomonischen Tempels anführt
(Tratado enciclopédico de Ifá o.J.:2516 —2517). Hier handelt es sich ganz eindeutig um
eine verbreitete Freimaurer-Legende, die kaum aus dem Yorubagebiet stammen dürfte,
sondern erst in Kuba in den Ifá-Textkorpus eingefügt wurde.
Im Yorubagebiet lagen in schriftlicher Form zunächst allenfalls Fragmente des
Ifá-Korpus vor (Bascom 1969a:120—121, Olupona 1993), und noch in den 1960er Jah­
ren soll es nur „einige wenige hektographierte Kopien einer kleinen Sammlung von
Ifä-Legenden“ aus dem ersten Viertel des 20. Jahrhunderts gegeben haben (Staewen u.
Schönberg 1982:x). Ansonsten finden sich neben den wissenschaftlichen Arbeiten bei­
spielsweise von Bascom (1969a) und Abimbola (1976, 1977) vor allem Schriften christli­
cher Missionare, die Ifá studierten, weil sie dies für eine erfolgreiche Bekehrungsarbeit
unter den Yoruba für wichtig erachteten (Olupona 1993). Spätere Aufzeichnungen ge­
hen auf besorgte babalawo zurück, die die Fortdauer von Ifá in der modernen Welt für

„Dice Ifá“ ist eine feste Redewendung bei der Orakelinterpretation. So hebt der babalawo an, um die
Bedeutung eines odu zu erläutern. Sie hat deshalb Arangos Textsammlung sowie auch dem Teilkapi­
tel des Tratado enciclopédico de Ifá den Namen geliefert.

I
76 Lioba Rossbach de Ol mos

gefährdet hielten und Wissenschaftler dazu bewegten, Teile der Ifä-Verse aufzuzeich­
nen.25 Diese Niederschriften waren jedoch nicht für die religiöse Praxis bestimmt und
so klagte der International Council for Ifa Religion 2014, daß Ifä ein „Heiliges Buch“
fehle. Dabei kündigte man an, binnen zwölf Monaten „the first set of volumes of Odu-
Ifa covering about 50 verses from each of 256 corpuses“ in gedruckter und kopierter
Form zugänglich zu machen (http://ifaagbaye.org/about.html), setzte dies jedoch nicht
in die Tat um. So gibt es in jüngster Zeit zwar eine steigende Zahl von Publikationen
einzelner Orakelpriester, die sich auf Yoruba-Traditionen berufen (Fatunmbi Fasola
2014, Salami 2008), meist handelt es sich aber um komprimierte Darstellungen oder es
wird lediglich eine Auswahl von Zeichen behandelt.26 Auch der weit über Nigeria hin­
aus bekannte Yoruha-babalawo Solagbade Popoola begann mit der Verschriftlichung
des Ifä-Textkorpus, aber ein vollständiges Konvolut legte auch er nicht vor. Sein erster
Band umfaßt Texte zu den sechzehn Meyi-Zeichen und zählt mehr als 1200 Seiten
(Popoola 2008). Der zweite Band zu dem zweitwichtigsten Zeichen Oyekun Meyi und
dessen „Abkömmlingen“ ist mit 1465 Seiten noch umfangreicher (Popoola 2012). Inter­
essant ist gleichwohl die Gliederung, die der babalawo für seine schriftliche Darlegung
der Orakelzeichen wählte, denn in der Divination wurde stets nur auf Ausschnitte des
Ifä-Wissens zugegriffen, ohne daß sich daraus zwingend eine Gliederung oder Struktur
ergab. Popoolas zweiter Band folgt im Aufbau der etablierten Hierarchie der Zeichen.
Bei jedem Zeichen stellt er die Narrative an den Anfang und trägt so ihrer Stellung
in der Divination Rechnung. Es sind jeweils „nur“ zwanzig Erzählungen pro Zeichen
aufgeführt - eine Zahl, die für Kuba als beachtlich, für das Yorubagebiet eher als ge­
ring gelten muß. Die Narrative sind durchgängig in englischer Prosa verfaßt und durch
bestimmte Verse in Yoruba (mit Übersetzung) ergänzt. In einem zweiten kurzen Kapi­
tel werden die Eigenschaften der Menschen skizziert, deren Leben unter dem Einfluß
des jeweiligen Zeichens steht. Es folgt eine Auflistung der Gottheiten, die eine enge
Beziehung zu dem Zeichen unterhalten und von denen Unterstützung zu erwarten ist.
Danach werden die dem jeweiligen Zeichen zugeordneten Ver- und Gebote aufgeführt
und schließlich folgt eine Liste der Rufnamen, die mit dem Zeichen in einer günstigen
Verbindung stehen. Trotz des Umfangs des Buches dürften kaum alle Verse, Gebete,
Beschwörungsformeln und Narrative aufgelistet sein. Popoolas Buch zeigt gleichwohl,
daß die mündliche Überlieferung im Yorubagebiet umfangreicher ist als ihre Ver­
schriftlichung in Kuba.27

Siehe Gleason, Aworinde und Ogundipe (1973:1-8) sowie Staewen und Schönberg (1982:x) für Ifä
und Bascom (1993:11-12) für das mit Ifä verwandte Kaurischneckenorakel.
Siehe zum Beispiel Frisvold (2016). Nicht überblicken kann ich die ausschließlich in Nigeria zirkulie­
renden Publikationen auf Yoruba.
Zu der sich bei einer Verschriftlichung stellenden Frage der Autorenschaft wäre ein eigener Aufsatz
zu verfassen.
ORA KEL-A PP 77

D ie D iv i n a t i o n s -A pp T ratado de I fá

Um das Jahr 2015 ist das Smartphone in Kuba in ein eher untypisches Einsatzgebiet
vorgedrungen: das afrokubanische Ifá-Orakel. Der babalawo Ernesto Herrera Arias aus
Havanna hatte in Venezuela die technischen Fertigkeiten und die erforderliche Logistik
zur Entwicklung und Vermarktung einer digitalen Ifá-Anwendung erworben, die, ihrer
Verbreitung nach zu urteilen, den Bedürfnissen in seinem Heimatland sehr entgegen­
kam. Der Tratado enciclopédico de Ifá, der der App zugrunde liegt, wurde in neuer
Weise systematisiert, so daß ein kompaktes elektronisches Nachschlagewerk entstand.
Die schon bei der Verschriftlichung vollzogene Kodifizierung des Ifá-Textkorpus wur­
de von der Smartphone-App weiter verstärkt. Dies erfüllt den ethnologischen Beob­
achter mit einer Mischung aus Wohlgefallen und Traurigkeit, wobei das Wohlgefallen
dem kreativen Umgang mit dem Tradierten und die Traurigkeit den Eingriffen in eine
gewachsene Textgattung gilt. In jedem Fall läßt die Systematisierung einen souveränen
Umgang mit dem Ifä-Traktat erkennen.
Ungeöffnet zeigt die App auf dem Display ein farbiges Orakelbrett, das von Rot
über Gelb in Grün übergeht. In Kuba sind Grün und Gelb die Farben von Orumila
(Barnet 1998:314). Auf dem Orakelbrett sind rechts (Osten) die Sonne und links (We­
sten) der Mond eingezeichnet (s. Abbildung 2). Oben ist ein Kreuz zu sehen und unten
das stilisierte Gesicht von Elegua,28 dem Trickster unter den Gottheiten, der allgegen­
wärtig ist und für Chaos sorgt, aber auch immer wieder Ausgleich schafft. Bei jeder
Opferzeremonie hat er Anspruch auf einen Anteil der Gaben. Das Kreuz markiert zu­
gleich die obere Mitte einer auf dem Brett ausgelegten Orakelkette. In Strichen und
Kreisen ist Otrupon Bekonwa zu erkennen: das Ifá-Zeichen des App-Entwicklers bei
seiner Initiation zum babalawo. Unter dem Orakelbrett steht „Tratado de Ifá“.
Wer die App per Klick öffnet, sieht einen schmucklosen dunklen Kreis mit gel­
bem Rand, der das vergrößerte Orakelbrett darstellt (s. Abbildung 3). Darauf ist die
Orakelkette mit zwei einander gegenüber liegenden Spalten ausgelegt. Beide Spalten
zeigen jeweils eine Hälfte der Kette mit vier Scheiben. Auf der rechten Seite endet die
Kette in drei Fäden in gelber und grüner Farbe, wobei es sich, wie erwähnt, in Kuba um
die Farben von Orumila handelt. Hier markieren sie die sogenannte Pfote (pata), das
heißt die rechte Seite, von der aus das Zeichen gelesen wird. Auf der linken Seite endet
die Kette in drei Fäden in Rot-Schwarz: den Farben von Elegua. In der Mitte zwischen
den beiden Enden der Kette befindet sich eine Rassel. Das obere Ende der geöffneten
App zeigt ein Banner mit der Schrift „Tratado de Ifá“ und rechts daneben befinden sich
drei Menüpunkte mit privaten und religiösen Informationen zum Entwickler der App,
darunter seine Handy-Nummer und Email-Adresse.
Die eigentliche Funktion der App besteht im Identifizieren und Erklären der 256
Orakelzeichen. Beim Öffnen sind zunächst die beiden Spalten mit jeweils vier weißen

28
Vergleiche auch Bascom (1969a:33—34).
78 Lioba Rossbach de Olmos

Abbildung 2: Das Tratado de Ifá-Icon auf dem


Smartphone-Display
Abbildung 3: Screenshot der geöffneten Smart-
phone-App Tratado de Ifä mit Orakelzeichen

Scheiben zu sehen, was der Orakelkette mit rechts und links jeweils vier nach oben
gewölbten Scheiben entspricht. Dies ist Baba Eyiogbe, das erste und ranghöchste unter
den Meyi- oder Doppelzeichen. Die Scheiben können einzeln angeklickt werden und
verändern so ihre Farbe, das heißt, sie werden dunkelgrau eingefärbt und entsprechen
dann einem Teilzeichen mit gewölbter Seite nach unten. Mit der Veränderung von je­
dem der insgesamt acht Teilzeichen ändert sich das Gesamtzeichen. Der Name des
jeweils neuen Ifä-Zeichens wird stets links oben angezeigt. Auf diese Weise lassen sich
alle odu aufrufen und darstellen.
Sobald man die erwähnte Rassel anklickt, öffnet sich eine neue Seite, die am obe­
ren Display-Rand vier neue Menüpunkte zeigt: „NACE“ (deutsch: „zur Welt kommen“,
„entspringen“), „REFRA N ES“ (deutsch: „Sprichwörter“), „DICE IFÄ“ (deutsch: „Ifä
sagt“) und „PATAKI“ (deutsch: „Geschichten“) (s. Abbildung 4). Diese vier Punkte
enthalten für alle 256 Zeichen einschlägige Informationen, die der Anwender schnell
r
O RAKEL-APP 79

V 11 58 abrufen kann - schneller und unauf­


fälliger jedenfalls als das früher nötige
<- O Tratado de Ifa - Baba Eyiogbe
Nachschlagen in dicken Büchern. Unter
M A CE J DICE l f A PATAKI dem Punkt „NACE“ werden Vorgänge,
Gegenstände und Neuerungen erwähnt,
deren Erscheinen mit dem jeweiligen
* Los vasos sanguíneos y la linfa
* El Ita de Osha. Zeichen in Verbindung steht. Im Ogbe
* El Agba Nfo gede Tua etwa wurde erstmals die Orakelkette
* La gran virtud de la palabra de obi. genutzt, und es wurde das Räuchern von
* El estado de las provincias. Fleisch eingeführt. Die „REFRA NES“
* Es el principio de todas las cosas. sind Sprichwörter, die den Zeichen zuge­
* Aquí fue donde la ceiba se hizo
ordnet werden. Der dritte Menüpunkt,
sagrada.
* Aquí fue donde se formó el agua, las „Dice ifä“, beinhaltet die Eigenschaften
palmas, las espinacas y el kola des jeweiligen Zeichens und gibt dessen
* Aquí habla la voluntad essentielle Bedeutungsinhalte wieder.
* La gran consagración de Ori. Die Titel der gängigen pataki werden im
vierten Menüpunkt aufgeführt und las­
sen sich mit nochmaligem Klick einzeln
aufrufen.
Die 10,42 MB große Applikation
kondensiert Informationen, die den über
3 000 DIN-A4-Seiten der Buchform ent­
sprechen. Sie erweckt den Eindruck von
ö 1
Vollständigkeit, der trügerisch ist. Zum
Abbildung 4: Screenshot der geöffneten Smartpho- einen zirkulieren mehrere Fassungen des
ne-App Tratado de Ifä mit Bedeutungsinhalten der Ifä-Traktates, die offenkundig ineinan­
Zeichen
der gearbeitet wurden, und zum anderen
sind manche Beschreibungen und pataki
in einer Fassung enthalten, fehlen aber in einer anderen. So findet sich zum Beispiel
weder in der App noch in dem zugrundeliegenden Tratado Enciclopédico de Ifä jenes
pataki, das im Zeichen Irete Untelu mythologisch begründet, warum Frauen keine den
babalawo gleichrangige Ifä-Priester werden.29 Dennoch erfolgte im Zuge der App-Ent-
wicklung eine weitere Systematisierung des Ifä-Traktates, wobei die erwähnte vierteilige
Struktur auf alle Orakelzeichen angewendet wird.
Die App ersetzt keine Orakelbefragung, da der Interpretation rituelle Vorberei­
tungen und die eigentliche Ermittlung eines Zeichens vorausgehen, was das Können
und die Geübtheit eines babalawo erfordert. Routiniertheit ist von Nöten, um zu erhel-

Vergleiche den Text „Odu se conviritó en esposa de Orunmila“ in: http://www.orula.org/Orula/


IreteW iki.nsf/Pages/ODU%20SE%20CONVIRTIO%20EN%20LA%20ESPOSA%20DE%20
ORUMILA
80 Lioba Rossbach de Olmos

len, ob ein Zeichen eine günstige oder eine unglückliche Fügung anzeigt, welche Grün­
de dafür den Ausschlag geben und ob Gottheiten oder spirituelle Instanzen durch O p­
fer als religiöse Hilfsinstanzen zu aktivieren sind. Dafür ist wiederum die Kenntnis der
Hierarchie der Zeichen erforderlich, die die App nicht liefert. All dies setzt ein fundier­
tes Wissen voraus, das den versierten vom unerfahrenen Orakelpriester unterscheidet.
Folglich hilft die App einem babalaivo vor allem in den ersten Jahren seiner Tätigkeit,
da sie eine schnelle und unkomplizierte Überprüfung des Bedeutungshorizontes der
einzelnen Orakelzeichen ermöglicht. Sie erlaubt es, die Zeichen und Namen der odu
zu identifizieren, die zu memorieren unter streng oralen Bedingungen einige Monate in
Anspruch nehmen würde. So konnte ich in Havanna bei Orakelbefragungen oder den
öffentlichen Teilen der über weite Strecken geheimen Initiationen erleben, wie teilneh­
mende babalawo abseits des Geschehens die App öffneten und Details eines Zeichens
nachlasen.
Die Schnelligkeit, mit der sich die App verbreitet, beeindruckt. Da sie sich auch
Personen ohne Priesterweihe besorgen, wird das Geheimhaltungsgebot von Ifá über­
treten. Daran üben insbesondere ältere Priester harsche Kritik, was aber der Popularität
der App keinen Abbruch tut. Schon der kommerzielle Vertrieb von Ifä-Traktaten durch
Nichtinitiierte im Stile eines Pedro Arango hat gezeigt, daß hinsichtlich der Geheim­
haltung von Ifä-Wissen Anspruch und Realität seit langem auseinanderklaffen. War
das Ifä-Wissen früher ungleich unter den Orakelpriestern aufgeteilt, so erfuhr es durch
seine Verschriftlichung eine Vereinheitlichung, die durch die Einführung der App
weiter zunahm. Die zu ihrer Entwicklung nötige Standardisierung könnte selbst neue
Standards setzten. Die Interpretation der Zeichen, die den Mittelpunkt der Divination
bildet, läuft Gefahr, einer neuen Zeichennorm(ierung) zum Opfer zu fallen.
Das Ifä-Wissen war stets kollektives Wissen, für das niemand die Urheberschaft
beanspruchen konnte. Vielleicht ist das Bewußtsein dafür, an einem Kollektivwissen
teilzuhaben, der Grund, daß sich in Kuba die wenigsten babalawo dafür interessierten,
wer die hier beschriebene App entwickelt hatte. Dabei macht es Herrera Arias durch
die Angabe seines Namens, seiner Telefonnummer und seiner Email-Adresse auf der
App leicht, mit ihm in Kontakt zu treten. In Kuba ist es wegen des begrenzten und
relativ teuren Internetzuganges nicht leicht, aber auch nicht unmöglich, in Erfahrung
zu bringen, daß Herrera Arias in sozialen Netzwerken wie Twitter und Google+ anzu­
treffen ist und daß er einen eigenen Blog unterhält.30 In den sozialen Netzwerken lassen
sich Hinweise darauf finden, daß Herrera Arias in Venezuela lebt und am dortigen Co­
legio Universitario de Caracas Informatik studiert hat. Er stellt sich auf Twitter als „con­
sultor de sistemas“ (deutsch: „Systemanalytiker“) vor und sagt, daß seine Anwendungen
dem spirituellen Wachstum von religiösen Menschen und allen Personen dienen sollen.
Tatsächlich bietet er im Internet weitere Applikationen an, die alle mit der Ifá- und

30 Siehe https://twitter.com/ernesto_ha, https://play.google.com/store/apps/devPicC77009200667306


14120 und https://tratadodeifa.blogspot.de/.
r

O RA K EL-A PP gl

Ocha-Regel zu tun haben. Angebote finden sich unter anderem auf der Website von
Adalberto Herrera (http://www.adalbertoasoifa.com/), seinem Vater, einem babalawo
mit kubanischen Wurzeln und venezolanischer Staatsbürgerschaft, der die erste Initia­
tion eines babalawo in Venezuela vorgenommen haben will.31 Er war Gründer der „Aso­
ciación Civil Cultural Seguidores de Ifá“ (ASOIFA), die lange Zeit ein international zur
Kenntnis genommenes Jahresorakel für Venezuela befragte.32 Die von ihm unterhaltene
Homepage, die an die Stelle der Homepage des Vereins ASOIFA getreten ist, bietet eine
einzigartige Chronik der Geschichte der Ifá-Regel in Venezuela. Herrera Arias, der sich
selbst einen „babalawo cibernético“ nennt, schrieb mir in einer E-Mail vom August
2016: „Ich bin Kubaner. [...] Ich lebe seit 20 Jahren in Venezuela, weil mich mein Vater
Adalberto Herrera hierher holte, wo ich studierte, Kontakte machte und lernte“.33
Die App knüpft an ältere Bemühungen um Digitalisierung an. Früher lag das Ifá-
Traktat in Form von Audiodateien vor, und ihre wiederholte Wiedergabe sollte helfen,
sich die Zeichen und ihre Bedeutung im Gedächtnis einzuprägen. Diese Art des Ifá-
Studiums hatte jedoch keinen Bestand, während digitale Textdateien weit verbreitet
sind. Die Orakel-App von Herreras Arias stellt jedoch eine neue Qualität der Übermitt­
lung relevanter Wissensbestände dar. Sie überführt eine spezifische Erfahrung kubani­
scher beziehungsweise kreolischer Religiosität in eine digitale Dimension und verstärkt
so deren bereits vorhandene Tendenz zur Kodifizierung.

D ie T ratado de I fä -A pp im K o n t e x t der „ d ig it a l e n
( D i a s p o r a -)R e l i g i o n “

Im Jahr 1995 prägte der Wiener Kulturanthropologe Manfred Kremser den Begriff
der „digitalen Diaspora“. Dabei hatte er im Blick, was man auch die lokale kulturelle
Aneignung des globalen Internets nennen könnte. Er beobachtete, daß afrokaribische
Bevölkerungsgruppen in rasanter Geschwindigkeit begannen, das Internet mit seinen
Foren und Chaträumen zu nutzen. Den entscheidenden Grund dafür sah er in den
Möglichkeiten, die Begrenzungen des jeweils lokalen Settings virtuell zu überwinden,
die sich in der karibischen Inselwelt mit dem Meer als Kommunikationsschranke stark
bemerkbar machten. Das Internet erlaubte es der in Folge der Sklaverei entstandenen
afrikanischen Diaspora, sich zu vernetzen und ihre Vorstellungen und Überzeugun­
gen überregional bekannt zu machen. Daß marginale Gemeinschaften auf diese Weise
auf sich aufmerksam und von sich reden machen sowie sich zu Wort melden konnten,
nährt die Hoffnung auf mehr Partizipation und Demokratie durch das „Netz“ (Miller

Siehe Rossbach de Olmos (2014:80-81) und http://www.adalbertoasoifa.com/hist_intro.php.


Siehe http://proyecto-orunmila.org/letra-del-ano-la-letra-del-ano/venezuela/asociacion-civil-cultu-
ra-seguidores-de-ifa-asoifa/la-letra-del-ano-2013-letra-del-ano-2013.
„Soy cubano [...] Tengo 20 años viviendo en Venezuela, ya que mi padre Adalberto Herrera me trajo
para aquí, donde estudié, me relacioné y aprendí“ (Übersetzung L.R.d.O.).
82 Lioba Rossbach de Olmos

u. Horst 2012). Kremser hätte darin vielleicht auch eine gewisse subversive Energie
gesehen.
Angesichts der Kurzlebigkeit der digitalen Welt, sei daran erinnert, daß bei der
Entstehung des Begriffes der „digitalen Diaspora“ die sozialen Netzwerke noch gar
nicht existiert haben.34 An der „Cybertransformation“ (Kremser 2005:184), die diese
Netzwerke und Plattformen anstießen, konnten die babalawo in Kuba wegen des dort
begrenzten Internetzugangs zwar nicht teilnehmen, aber sie erfuhren davon über ihre
ausländischen oder im Ausland lebenden Gefolgsleute. Sie hörten, daß Facebook über
Länder- und Kontinentgrenzen hinweg zum religiösen Austausch beitrug und auch bei
der Aufnahme von Kontakten zu Priestern aus dem Yorubagebiet half. Von Besuchern
aus dem Ausland hörten sie von über YouTube veranstalteten Videokonferenzen, bei
denen aus Kuba stammende Orakelpriester im Ausland religiöse Dispute austrugen
und sie sahen sich auf geliehenen Smartphones die entsprechende Filme an. Sie hörten,
daß über WhatsApp Gruppen zur Unterweisung in Ifä-Fragen gebildet wurden und
daß es erfolgreiche babalawo gab, die im Ausland eigene Websites mit umfangreichen
Angeboten unterhielten, die Orakelkonsultationen, Initiationen und Unterweisungen
ebenso beinhalteten wie Paraphernalia in angegliederten Online-Shops.
Die direkte Teilnahme am Internet blieb Kubanern freilich aufgrund des für Pri­
vatleute langsamen und unerschwinglichen Zugangs verwehrt. Entwicklungen hin zu
einer „digitalen Religion“ (Campbell 2013), bei der die Menschen das Internet nicht
nur für religiöse Zwecke nutzen, sondern bei der sie dort beispielsweise durch Got­
tesdienstübertragungen, Videoaufzeichnungen oder Blogs neue religiöse Erfahrungen
machen, waren ausgeschlossen. Im Jahre 2010 wurde Kuba jedoch von einem globalen
Trend eingeholt: Die Zahl der Smartphones überstieg die der Festnetzanschlüsse (Mil­
ler u. Horst 2006:2), in nur zwei Jahren wurden 700000 neue Handynutzer registriert
(Valle 2010), und im April 2015 war die Drei-Millionen-Grenze erreicht. Wie in ande­
ren Ländern so zeigte sich nun auch in Kuba, daß der Besitz eines Smartphones den
Eindruck des eigenen Vernetztseins positiv verstärkt, Armutsgefühle kompensiert und
den Wert der Kommunikation unterstreicht. Da die Internet-fähigen Smartphones an
Zahl Zunahmen, dürften sie dem Computer im Hinblick auf den Internetzugang be­
reits den Rang abgelaufen haben. Der ab 2015 begonnene Ausbau des Wi-Fi-Netzes
mit Internetzugangspunkten an öffentlichen Plätzen ist in Kuba auf breite Akzeptanz
gestoßen, obgleich das Surfen pro Stunde rund zehn Prozent eines durchschnittlichen
Monatsgehaltes kostet.
Nun läßt sich nicht mehr ausschließen, daß babalawo mit Hilfe von Instant-Mes-
saging-Diensten wie IMO Orakelkonsultationen durchführen und es ist wahrschein­
lich, daß auch in Kuba Videomitschnitte und Fotos von religiösen Zeremonien ihren
Weg zu Videoportalen und sozialen Netzwerken finden werden. Auch wenn sie eigent­
lich unbezahlbar sind, lassen sich Smartphones nicht mehr aus dem religiösen Alltag

34 Facebook entstand erst 2004, Twitter 2006 und YouTube wurde 2005 ins Leben gerufen.
O RAKEL-APP 83

Kubas wegdenken, zumal die entsprechenden Angebote auf verschlungenen Wegen an


ihre kubanischen Interessenten gelangen. So hat man zum Beispiel die Tratado de Ifä-
App nicht für teures Geld vom Google-Play-Store heruntergeladen, sondern vom Han­
dy eines Freundes überspielt. Ob dies freilich im Sinne von Miller und Horst (2012:7)
für eine anti-kommerzielle Haltung spricht, läßt sich kaum eindeutig klären.

S chlu ss

Die Divinations-App zeigt, daß die globalen Dimensionen der Digitalisierung nicht zu
einer kulturellen Homogenisierung führen, sondern peripheren und marginalisierten
Gruppen ein eigenes Gesicht und eine eigene Stimme verleihen. So wie man sich Fa-
cebook in einzelnen Ländern nicht als eine bloße Kopie des globalen Netzwerkes vor­
stellen sollte, da es stets kulturelle Einflüsse seiner Mitglieder aufnimmt, so darf man
annehmen, daß es bei den Nutzern und Anwendern der neuen Informations- und Kom­
munikationstechnologien immer auch zu Sonderentwicklungen kommt. Während es
bei dem sogenannten koscheren Handy (Rashi 2013) darauf ankam, im Internet Gren­
zen für nicht-genehme Angebote zu schaffen, hat die hier vorgestellte Divinations-App
bestehende Grenzen eingerissen. Die App kann nicht als ein Ergebnis der „digitalen
(Diaspora-)Religion“ gelten, aber sie ist in deren Umkreis entstanden. Sie bewegt sich
ebenso wie ihr Entwickler an einer kulturellen Schnittstelle, die das religiöse Erbe des
Sklavenherkunftslandes mit der Gegenwartsreligion einer ehemaligen Sklavengesell­
schaft verbunden und die das kubanische Digitalisierungsdefizit mit Hilfe „eigener
Leute“ kompensiert hat, welche ihr Land als Migranten verließen.

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