Mein Glaube,
meine Welt
Johannis
D a v i d Jaffin · M e i n Glaube, meine Welt
David Jaffin
Mein Glaube,
meine Welt
^ johannis
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme
Jaffin, David:
Mein Glaube, meine Welt / David Jaffin. - Lahr : Johannis, 1997
(Edition C ; 496 : Paperback)
ISBN 3-501-01322-2
Einleitung 7
I. M e i n Glaube 9
IL D i e Liebe 28
IX. Nachwort 86
X . Bibliographie 88
5
Einleitung
7
I. Mein Glaube
9
Ohne diese D i m e n s i o n bleibt der M e n s c h v e r f ü h r b a r
durch jede zeitliche Ideologie u n d durch jede zeitgebun
dene Irrlehre. Der lebendige Gott ist da, w o sein Wort z u
uns i n Vollmacht spricht aus unserer Stille ausgerichtet
auf i h n .
10
che z u einem rationalistischen Gott geführt haben, z u ei
nem Gott unseres Gefühles, z u einem nationalistischen
Gott u n d einem sozialistischen Gott, z u einem Gott der
Friedensbewegung u n d einem feministischen Gott, u m
nur ein paar dieser ungöttlichen Gottesbilder z u nennen.
Aber hinter dieser Entwicklung steht ein anderes Pro
blem, n ä m l i c h unser Gottesbild nur dem N e u e n Testa
ment z u entnehmen, auf Kosten der Trinität, u n d ein Je
susbild ohne den Ernst der Offenbarung, ohne den Ernst
Jesu selbst, der Weherufe, Fluchworte gerufen hat, sogar
ü b e r Kapernaum, die Stadt seines Wirkens. Gott Vater,
Gott Sohn u n d Gott Heiliger Geist sind eins. Jahwe, die
Deutung für Gott i m A l t e n Testament, für die Juden, ein
unaussprechbarer N a m e , der kein persönlicher N a m e
ist, meint den seienden, wirkenden Gott. Das ist das We
sen Gottes. Denn die Bibel ist nichts anderes als ein Zeug
nis v o n Gottes S c h ö p f u n g u n d seiner heilsgeschicht
lichen Wege für Israel, für die Gemeinde Jesu, u n d für
jeden v o n uns p e r s ö n l i c h . Eingebettet i n diesen
heilsgeschichtlichen Weg sind Gottes Liebe u n d Barm
herzigkeit, w i e auch Gottes Gericht u n d Gerechtigkeit,
wie seine Weisheit u n d viel, viel mehr. Was die M e n
schen a m biblischen G o t t e s v e r s t ä n d n i s stört, ist seine
Vollmacht ü b e r uns, i m Klartext: sein Gericht. Daher
w i r d jeder Versuch gemacht, gerade diesen richtenden
Gott z u nivellieren u n d abzuschaffen. Warum? Weil w i r
einen haben wollen, w i e w i r i h n haben wollen. U n d die
ser Versuch den H e r r n z u verharmlosen, damit w i r ihn
i m Griff haben, nicht er uns i m Griff hat, ist nichts ande
res als die E r b s ü n d e , die Ursache für das Gericht z u
Noahs Zeit, u n d auf kulturellem Gebiet ist der Babel
turm ihre A u s w i r k u n g . Ja, w i r sind die Herren der Welt.
W i r werden ü b e r Gott entscheiden, letzten Endes ü b e r
i h n richten. Das ist der Ruf der Urmenschen i n der U r
li
geschiente, 1. M o s e 3 bis 11, u n d das ist der Ruf der mo
dernen Menschen seit der Aufklärung. A b e r die Urge
schichte der Menschen endet i m Gericht wegen unserer
Entfernung v o m H e r r n , wegen unserer Überheblichkeit,
w e i l w i r nicht wissen oder wahrhaben w o l l e n , d a ß
»Frömmigkeit der E n t s c h l u ß ist, die A b h ä n g i g k e i t v o n
Gott als Glück z u bezeichnen« (Hermann Bezzel). Der
Mensch w e i ß nicht, was gut für i h n ist, u n d anscheinend
auch die meisten Theologen nicht. Ist nicht die schärfste
Kritik i m A l t e n Testament gegen die Priester gerichtet
(Jeremía 23, Hesekiel 34, Sacharja 11 u n d viele andere
Stellen)? U n d waren nicht gerade die Priester Jesu
Hauptfeinde? U n d waren es nicht die Priester, welche
Luther z u seinem entschiedenen biblischen Stand gegen
sie führten? U n d ist unsere Evangelische Kirche heute
besser, unsere Pfarrer mit ihrer Politisierung der Theolo
gie, mit ihrer Psychologisierung der Theologie, mit ihrer
Verharmlosung u n d Verdrehung v o n Gottes Wort u n d
dem biblischen Gottesbild, gerade gegen die reformato
rischen G r u n d s ä t z e : »Allein Jesus Christus, allein die
Heilige Schrift, allein aus Glauben durch G n a d e « .
Wie Luther uns so deutlich zeigte, sind Gottes Gericht
u n d Gottes Gnade immer eine biblische Einheit, Gottes
Z o r n u n d Gottes Liebe. Ich w i l l nur ein zentrales Beispiel
bringen. Durch das K r e u z unseres H e r r n liegt eine Ver
fluchung ü b e r der Welt u n d uns Menschen als Gottes
m ö r d e r . A b e r i n dieses Gericht, gezeichnet durch F i n
sternis u n d das Fluchwort: »Verflucht ist der, der am
Holze hing« (5. Mose 21,23) antwortet Jesus mit dem A n
gebot der Gnade seiner segnenden H ä n d e . E i n wahres
biblisches Gottesbild kann den H e r r n nie verharmlosen,
weder sein Gericht noch seine Wiederkunft, u m sein
Werk z u vollenden. A b e r ein wahres biblisches Gottes
b i l d darf nie an Jesu Liebe für die Sünder, seiner Gnade
12
u n d Barmherzigkeit vorbeireden. Ist es nicht so, d a ß die
meisten Menschen z u m lebendigen Glauben durchs
Gericht kommen, nicht durch die Schöpfung, durch
menschliche Liebe? Sie werden sehr krank, sie verlieren
ihren Ehegatten oder ihr K i n d . Sie erleben das Tragische
u n d dann besinnen sie sich auf den Herrn. Denn »das
Dichten u n d Trachten des menschlichen Herzens ist
b ö s e v o n Jugend a n « . Oder, wie Luther sagte: »Der
natürliche Mensch ist gegen Gott u n d sein Heil.« Gottes
Gerichte l ä u t e r n uns, zeigen uns den Weg zur Buße, z u m
H e i l , z u r V e r s ö h n u n g i n Christus. Das verharmloste, un
biblische Gottesbild unserer Zeit hat seine Entsprechung
i n unserer Anthropologie, unserem M e n s c h e n v e r s t ä n d
nis. H ö r e n w i r nicht s t ä n d i g , d a ß der Mensch letzten E n
des gut, i n O r d n u n g sei, u n d das gerade i n einer Zeit des
Massenmords durch Abtreibung, des Ehebruchs u n d der
Verharmlosung dieses Gebotes, u n d zügellosen Dieb
stahls i n g r o ß e n Kaufhäusern. Das ist die Gesetzlosigkeit
am Ende der Tage. Das ist der Lügengeist a m Ende der
Tage, w e n n »fromm« ein schlechtes Wort w i r d u n d wenn
der natürliche b ö s e Mensch als gut u n d gerecht betrach
tet w i r d .
Gottes Allmacht ist nicht gegen uns, sondern für uns.
Er w i l l , d a ß w i r z u m H e i l kommen, deswegen läßt er uns
oft i n Leiden u n d N o t kommen, damit unsere Bequem
lichkeit, unsere Sehnsucht u n d Selbstbestätigung i n Fra
ge gestellt w i r d . Er w i l l uns rufen, damit w i r Frieden u n d
Geborgenheit erleben, damit unser Leben ein wahres
Fundament hat, damit w i r Zukunft i n i h m haben. Der
richtende u n d der liebende Gott sind eins, i m gesamt
biblischen, trinitarischen Sinne.
13
c) Jesus Christus
14
dann w ü r d e ich zutiefst erschrecken. Sie waren alle er
staunt ü b e r diese Aussage. Die Anwesenheit eines s ü n d
losen Menschen mitten unter uns offenbart die schreck
liche Diskrepanz zwischen dem s ü n d i g e n Menschen, der
w i r sind u n d , d e m Menschen, den Gott haben w i l l . Das
ist der H a u p t g r u n d , w a r u m Jesus gekreuzigt wurde:
Weil er viel z u gut für uns ist, weil seine Anwesenheit
eine schreckliche Herausforderung für uns ist, indem al
les, was dunkel i n uns selbst ist, offenbar w i r d , ans Licht
kommt. Sicherlich wurde Jesus auch gekreuzigt, w e i l er
sich s t ä n d i g an Gottes Stelle gesetzt hat. H a t er nicht
Vollkommenheit i n der Bergpredigt verlangt? E i n Pro
phet kann v o m Volk nur verlangen, was er selbst erfül
len kann. Niemals hat ein Prophet Vollkommenheit ver
langt. D a r ü b e r hinaus hat Jesus einen Gichtbrüchigen
von seinen S ü n d e n freigesprochen, ohne Gott Vater die
Ehre z u geben, u n d er hat das Sabbatgesetz wiederholt
gebrochen. N e i n , entweder ist Jesus Gott selber, oder der
schlimmste Gotteslästerer i n der Geschichte Israels. In
diesem Sinne haben die Schriftgelehrten u n d Pharisäer
ihn besser verstanden als die modernen Menschen, die
i h n sich als einen guten Menschen unter anderen vor
stellen. N e i n , entweder ist er Gott, u n d das ist er, oder der
schlimmste Gotteslästerer i n Israels Geschichte.
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es Testament, sondern nur ein Wort, eine einzige Bibel
mit Jesus Christus als Zentrum. Immer w e n n das Alte
Testament i n Frage gestellt w i r d w i e v o n Marcion, dem
Irrlehrer, dem ersten Herausgeber des N e u e n Testa
ments, oder z u Hitlers Zeit, immer dann w i r d Jesus nicht
richtig verstanden u n d w i r d das Christentum Irrlehren
ausgesetzt. Das Alte Testament ist nicht ein Judenbuch,
sondern die Offenbarung des Weges des allmächtigen
Gottes, des Vaters Jesu Christi, der Jesus für uns auf die
se Welt sandte. U n d dieser Vater ist auch der gute, lie
bende Vater: »Also hat Gott Vater die Welt geliebt, d a ß er
seinen eingeborenen Sohn gab, damit alle, die an i h n
glauben, nicht verloren werden, sondern das ewige Le
ben haben.« Das Alte Testament gibt Zeugnis v o n der Er
schaffung aller Völker auf Erden. Die Propheten reden
z u allen m ö g l i c h e n Völkern, nicht nur z u Israel, z u allen
Menschen. Menschen aus verschiedenen V ö l k e r n
schließen sich d e m Gottesvolk an, Ä g y p t e r z.B., w i e
beim A u s z u g aus Ä g y p t e n , oder Rahab, oder ein ganzer
Stamm, die Gibeoniter, bis h i n z u den Gottesfürchtigen
i m N e u e n Testament. Das Alte Testament ist die Bibel
Jesu u n d innerhalb dieses Buches w i r d Schritt für Schritt
der Weg z u seinem K o m m e n offenbart. Dieses Alte Te
stament ist wie ein Berg i m Nebel, den die Sonne Schritt
für Schritt durchstrahlt.
Zuerst w i r d gesagt, einer w i r d kommen, der Schlange,
(dem Bösen) den K o p f z u zertreten (1. M o s e 3). D a n n
w i r d gesagt, aus welchem Volk er k o m m e n w i r d - »Ab
raham, durch dich werden gesegnet alle Völker auf Er
den.« A n anderen Stellen (Römer 9 oder viele Stellen des
A l t e n Testaments) beginnt die Segenslinie bei A b r a h a m
u n d Isaak bzw. bei A b r a h a m , Isaak u n d Jakob (Israel). 1.
M o s e 49 zeigt uns, aus welchem Stamm der Messias
k o m m e n w i r d : »Juda, d u bist der H e l d für die H e i d e n « .
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U n d i m gleichen Abschnitt werden sogar Palmsonntag
u n d Karfreitag vorgedeutet. »Er w i r d auf einem Esel ge
ritten k o m m e n , mit einem mit Wein beschmierten
Kleid.« 2. Samuel 7 zeigt uns, aus welchem Hause u n d
Geschlecht er kommen w i r d : »David wollte dem H e r r n
ein H a u s (einen Tempel) bauen, aber der Herr w i r d i h m
eine Dynastie bauen, die i n Ewigkeit bleiben wird.« Und
dann im Jesaja-Evangelium wird im 8. Jahrhundert vor Chri-
stus alles bekannt. Er w i r d v o n einer Jungfrau geboren
werden - Jesaja 7 - denn der Herr herrscht nicht nur ü b e r
die Gesetze Mose, sondern auch ü b e r die biologischen
Gesetze. Waren nicht Sarah, Rahel, H a n n a h u n d Elisa
beth entweder z u alt, u m ein K i n d bekommen z u k ö n n e n
oder unfruchtbar? Dieses Thema erreicht seine Zielset
z u n g i n der Jungfrauengeburt. Jesaja 9 ist uns wohlbe
kannt, besonders durch die messianischen Titel, E w i g -
Vater, Friede-Fürst, ... aber Mittelpunkt dieses Textes,
sehr verschlüsselt, ist Jesu Kreuz, sein blutverschmiertes
K l e i d , das dem Feuer (des Gerichts) ü b e r g e b e n w i r d .
Jesaja 11 hat mit dem tausendjährigen Friedensreich z u
tun, auch ein gesamtbiblisches Thema: ein Reich auf die
ser Erde, w o Menschen u n d w i l d e u n d zahme Tiere z u
sammen i n Frieden leben werden, w o die Erde erneuert
u n d Gerechtigkeit herrschen w i r d . In diesem Sinne ist
Psalm 72 v o n Salomo zentral, aber auch das Paradies,
Noahs Arche u n d mehrere Jesaja-Texte, Jesus i n der W ü
ste nach seiner Taufe unter w i l d e n Tieren u n d Offenba
rung 20. Jesaja 25 u n d die Auferstehung, kollektiv ver
standen wie i n Daniel 12 u n d Hesekiel 37, aber auch i n
dividuell verstanden, vorgedeutet i n mehreren Psalmen,
wie Psalm 49. Jesaja 53 Kreuz, Jesaja 61 u n d das Halleljahr,
das Friedensjahr, ein Text, welcher Jesus i n Bezeichnung
z u sich selbst i n Nazareth auslegte. Z u r selben Zeit wie
Jesaja zeigt uns M i c h a i m Kapitel 5, d a ß der Messias i n
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Betlehem geboren w i r d . Der einzige Weg ein tiefes u n d
vor allem neues Verständnis des N e u e n Testaments z u
gewinnen führt ü b e r das Alte.
Das Neue Testament selbst ist die Erfüllung aller Pro
phezeiungen, u n d diese Erfüllung ist persönlich i n Jesus
z u verstehen. Es gibt keinen Satz i m N e u e n Testament,
der nicht einen vielschichtigen alttestamentlichen H i n
tergrund besitzt. So sollte das Neue Testament gelesen
werden. Ich lese es mit jüdischen, alttestamentlichen A u
gen u n d das A l t e Testament ganz u n d gar mit neutesta-
mentlichen A u g e n , u n d dann sind beide Testamente eins
i n Jesus Christus. D a z u ist die Bildersprache beider Te
stamente die gleiche. Fließendes Wasser, z u m Beispiel,
bedeutet Leben, Tod u n d Reinheit durch die ganze Bibel,
angefangen mit der Sintflut - die bedeutet Leben für
N o a h u n d die Seinen, aber Tod für die gerichtete Welt
u n d durch sie ist N o a h u n d seine Familie kultisch gerei
nigt. So ist auch das Schilfmeerwunder z u verstehen,
oder die Begegnung mit der Samariterin a m Brunnen
oder mit dem G e l ä h m t e n a m Teich Bethesda. Dieses b i
blisch so umfassende Thema erreicht sein Z i e l am Kreuz.
Jesus w i r d durchbohrt u n d Blut u n d Wasser quillt aus
seinem Leib heraus, u n d damit ist der Weg z u m ewigen
Leben geöffnet durch seinen Tod u n d seine Reinheit.
Altes u n d Neues Testament sind eins i n Jesus Christus,
aber auch i n ihrer grundlegenden Bildersprache.
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D a v i d , M ö r d e r w i e Saulus/Paulus. Dieses durchgehen
de Thema erreicht sein Telos, seine Zielsetzung i n Jesu
Passionsgeschehen. Seine J ü n g e r versagen ständig, sie
verleugnen ihn, schlafen ein, wenn sie die Wache halten
sollen, verlassen i h n a m Kreuz. A b e r trotz ihres Versa
gens geht Jesus den schmalen Weg des Kreuzes z u sei
nem Z i e l für uns. Jeder Versuch, eine Jüngertheologie z u
entfalten, ist deswegen v o n vorneherein unbiblisch. U n
ser Glaube, mein Glaube ist nicht auf die Kirche, auf die
J ü n g e r Jesu, sondern allein auf Christus selbst bezogen.
Schließlich haben die Kirchen mein Volk Israel jahrhun
dertelang gekreuzigt. A l l e i n Jesus Christus, allein die
Heilige Schrift, allein aus Glauben durch Gottes Gnade.
A u c h der neugeborene Christ ist kein Engel. A u c h er ist
verführbar u n d sehr fehlerhaft. W i r leben allein aus der
Vergebung, aus Christi Kreuz.
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für uns - aber nicht mehr als das. Ich b i n gegen jede A r t
v o n fleischlicher Ö k u m e n e ob v o n Genf oder R o m . Aber,
u n d dieses aber m u ß auch großgeschrieben werden, ich
halte sehr viel v o n der Kirche i m Geist, w i e A u g u s t i n
u n d Luther diese Kirche nannten, n ä m l i c h fromme C h r i
sten aller Konfessionen, die Jesu Kreuz u n d Auferste
hung i n den Mittelpunkt ihres Glaubens stellen. Es gibt
k a u m Unterschiede zwischen dem katholischen Jesus
u n d dem evangelischen Jesus. Unser Glaubensbekennt
nis haben w i r gemeinsam. W i r k ö n n t e n beten u n d i n der
Heiligen Schrift miteinander lesen. Ich definiere es so:
Christusbetonte katholische Christen sind meine Brüder
u n d Schwestern, die kirchlich gesehen einen anderen
Weg hier auf Erden gehen, aber z u einem gemeinsamen
Ziel. Viele katholische Christen heute sind ganz anders
als vor 400 Jahren. Manche lesen gerne i n der Bibel. Sie
k ä m p f e n u m ihr Kreuz, wohingegen viele unserer K i r
chenfürsten das nicht tun, ihre Andachten i m Radio sind
oft biblischer als die unserer Kirche. Sie k ä m p f e n für das
Leben, gegen Abtreibung.
Viele wissen ü b e r Israels bleibende E r w ä h l u n g u n d
endzeitliche Bedeutung Bescheid. Predigten v o n m i r w a
ren z w e i Jahre lang die Grundlage für einen katholischen
Gottesdienst i n einem Kloster - ohne d a ß ich das damals
w u ß t e , u n d meine Predigten sind so christuszentriert
w i e möglich. N e i n , i c h b i n nicht antikatholisch, auch
w e n n manches i n der katholischen Lehre nicht meiner
biblischen Auffassung entspricht.
A l s jüdischer, lutherischer Pietist habe ich k a u m mei
ne eigene Konfession hier z u betreuen. Ich gehe gerne i n
baptistische, methodistische, freie evangelische Gemein
den w i e i n andere n ü c h t e r n e freie Gemeinden. H i e r sind
auch B r ü d e r u n d Schwestern, die einen gemeinsamen
Weg mit mir gehen hier auf Erden, auch w e n n unsere
20
Auffassung ü b e r manche Randthemen nicht immer die
gleiche ist. W i r sollen, w i r m ü s s e n lernen, das Wichtige
v o m Unwichtigen z u unterscheiden, denn letzten Endes
bedeutet Bruderstreit a m Ende der Tage i n einer Welt
voller antichristlicher Erhebung u n d christlicher Irrleh
re Selbstzerfleischung. Ich stehe z u der Ö k u m e n e der
Evangelischen A l l i a n z .
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Tod durch die Auferstehung z u entmächtigen. Israel be
fand sich i n einer W ü s t e ohne Orientierung, ohne Essen
u n d Trinken, ohne geistige u n d geistliche Orientierung,
u n d so befinden w i r Christen uns, vor allem am Ende der
Tage i n einer geistigen u n d geistlichen W ü s t e , dieser ver
dorbenen endzeitlichen Welt, u n d w i r bekommen O r i
entierung nur durch Gottes Wort, das Fleisch geworden
ist i n Jesus Christus. Israel kann das L a n d weder durch
Stärke noch durch eigene Schwäche einnehmen, sondern
nur durch die Herrschaft des Herrn. U n d so ist es auch
bei uns Christen: W i r k ö n n e n Gottes Reich nicht durch
unser Tun für uns i n A n s p r u c h nehmen, sondern C h r i
stus hat dieses Reich für uns geöffnet durch sein Kreuz
u n d seine Auferstehung. So läuft es durch die ganze Ge
schichte Israels. A b e r Israel versagt immer wieder, am
Schilfmeer, bei der Landnahme, bei den Propheten, z u
letzt u n d zutiefst gegen ihren eigenen Herrn, Jesus C h r i
stus, den K ö n i g der Juden. U n d deswegen haben die
Kirchen entschieden, w i r sind an Israels Stelle, die riefen:
»Sein Blut komme ü b e r uns u n d unsere Kinder«. W i r
sind die Erben i n Christus, die einzigen E r w ä h l t e n . Aber
Paulus sagt uns deutlich i m R ö m e r 11, d a ß Gott seine Er
w ä h l u n g Israels nicht bereuen kann. Es geht hier u m
Gottes Treue z u seinem erstgeliebten Volk. Gottes Bün
de, ob mit N o a h , mit Israel oder i m N e u e n Bunde sind
nicht demokratische Kompromisse. N e i n , er gibt, u n d er
b ü r g t dafür. Z w a r kann er drohen, z w a r kann er richten,
aber jeder B u n d bleibt so ewig, w i e der H e r r selbst, oder
bis z u m Ende der Tage. Jesu Blut ist nicht das Blut der Ra
che, wie die Juden u n d die Kirche meinten, sondern das
Blut der V e r s ö h n u n g , u n d dieses Blut w i r d ü b e r Israel
k o m m e n a m Ende der Tage, denn Israel ist der Feigen
b a u m , der damals, w i e Jesus sagte, d ü r r war, keine
F r ü c h t e brachte, aber jetzt a m Ende der Tage b l ü h t der
22
Baum (Israel). A b e r w i e sieht die E r w ä h l u n g Israels aus
zwischen Golgatha u n d Auschwitz, als der Neue B u n d
ins Zentrum der E r w ä h l u n g u n d des Heilsplans Gottes
gerückt ist? Abelard beantwortet das schon i m 12. Jahr
hundert: »Kein Volk hat so gelitten für seinen Gott wie
die J u d e n « . Einfach gesagt: Ohne ihr Wissen, Wollen
oder Verdienst hat Jesus Christus dieses Volk i n sein
Kreuzesleiden hineingezogen. Rembrandt, der g r o ß e
Schriftausleger, malte als reifer Maler s t ä n d i g leidende
Juden. In ihnen sah er auch das leidende Antlitz ihres ge
kreuzigten Herrn. Ich wurde s t ä n d i g gefragt, was pas
siert mit Juden, die nicht an Jesus glauben, zwischen
Golgatha u n d der Zeit, w e n n Jesus wiederkommt, u m
Israel z u taufen (Sacharja 12,10)? Zuerst: Der Weg z u m
H i m m e l r e i c h ist nur geöffnet durch den Glauben an
Christi Kreuzesblut, nicht durch das Gesetz. Selbstver
ständlich werden Namensjuden wie Namenschristen ins
Gericht kommen. Was geschieht mit frommen Juden,
entweder orthodoxen Juden oder solchen wie M a r t i n
Buber, die an Gottes Verheißungen u n d Wege mit Israel
glauben? Jesus ging a m Karsamstag i n das Totenreich,
u m das Evangelium den H e i d e n z u predigen, welche vor
Zeiten gestorben sind. Ich glaube, wenn er das für die
Völker tat, welche damals eine Decke vor den A u g e n
hatten, d a ß er das auch für sein erstgeliebtes Volk, für ih
re G l ä u b i g e n tun w i r d i m Gericht, nicht als Z w a n g , son
dern als Angebot. W a r u m haben sich die frommen Juden
nach der Urgemeinde dem Evangelium fast total ver
schlossen, w ä h r e n d nicht so fromme Juden w i e ich z u m
Beispiel der Weg z u m Evangelium geöffnet wurde. Jesus
sagte i n seinem ersten Missionbefehl, Matth. 10, d a ß die
J ü n g e r nicht z u den H e i d e n oder Samaritern gehen sol
len, sondern allein z u den verlorenen Schafen des H a u
ses Israel. Sicherlich sind alle Menschen ohne Jesus ver-
23
loren, aber diese Aussage, meine ich, hat eine doppelte
Bedeutung. Sie bezieht sich auch auf die nicht gläubigen
Juden, die auch i m alten B u n d verloren sind. Gerade hier
unter nicht frommen Juden ist der fruchtbarste Weg der
Judenmission. Judenmission ist i n vieler Hinsicht die
schwerste Mission, wegen unserer Verfehlungen an die
sem Volk. A l s ich j ü n g e r war, bedeutete ein Kreuz für
mich: Die Christen gehen nochmals gegen uns vor, denn
soviel Schreckliches haben w i r Juden unter d e m Kreuz
gelitten. W i r Christen m ü s s e n , w i e Paulus sagte, die Ju
den durch unsere Liebe u n d unseren Lebenswandel ein
laden, damit sie wie ich auch den Weg z u m Evangelium
finden k ö n n e n .
24
i) Gottes Beziehung zu mir
25
Selbstbetrug, indem w i r versuchen, den Segen für uns z u
gewinnen, durch unsere Wege u n d i n unserem Sinne.
Der moderne M e n s c h nennt das Selbstfindung. A b e r
Selbstfindung ist Selbstbetrug, denn w i r finden uns z u
unserem s ü n d i g e n Selbst e n d g ü l t i g (ohne Gott) i m ewi
gen Tod u n d Gericht. N i e m a n d k a n n seine Identität
selbst finden ohne Gott, denn w i r ä n d e r n uns (aus unse
rer Sicht der Dinge) v o n Tag z u Tag, v o n Jahr z u Jahr. U m
w i r k l i c h e n d g ü l t i g z u wissen, wer w i r sind, brauchen
w i r jemanden, der total objektiv ist, der unsere Gedan
ken u n d Gefühle v o m Mutterleibe bis z u unserem Tod
kennt, der uns mehr liebt, als w i r uns selbst lieben. Das
kann nur Gott sein. Ich finde m i c h selbst nur, i n d e m ich
i n Christus sterbe, u n d er durch m i c h lebt. Das bedeutet
nicht, d a ß ich ein Engel werde, denn der alte, s ü n d i g e
Mensch meldet sich immer wieder z u Wort. A l s der auf
erstandene Jesus dem Petrus begegnete, war dieser i n
seinen alten Fischerberuf z u r ü c k g e k e h r t u n d erkannte
Jesus nicht mehr, konnte auch keinen Fang machen oh
ne den Herrn. U n d so ist es mit jedem v o n uns. Verloren
sind w i r wie Jakob, wie Petrus i n uns selbst, aber geret
tet i m H e r r n : »Ich lasse d i c h nicht, D u segnest m i c h
d e n n « . Meine Beziehung z u m H e r r n ist g e g r ü n d e t auf
seine Beziehung z u mir durch das Wort, i m Gebet. U n d
diese Beziehung z u m i r soll deutliche aktive Gestalt an
nehmen. Ich b i n nicht nur da für m i c h selbst, sondern als
Gottes Bote für andere. Glaube vollzieht sich i m Tun aus
Gottes Kraft. Nächstenliebe - sagt uns Augustinus - ist
M i s s i o n , i n d e m w i r die Liebe Gottes, welche w i r i n C h r i
stus erfahren haben, weitergeben. A b e r d a z u g e h ö r t die
H i n w e n d u n g z u r ganzen Person meines N ä c h s t e n ,
d u r c h tägliche N ä c h s t e n l i e b e , Diakonie. » A b e r ohne
m i c h k ö n n t ihr nichts t u n « , sagt Jesus. N ä c h s t e n l i e b e
k o m m t aus der Gottesliebe, wie die erste Tafel M o s e die
26
Grundlage ist für die zweite Tafel. Es gibt wenige M e n
schen, die w i r v o n Natur aus lieben. Aber w e i l Christi
Angebot der Liebe für alle Menschen gilt, g r ü n d e n w i r
uns immer tiefer i n die Kraft seiner Liebe, so d a ß w i r die
se Liebe unserem N ä c h s t e n bezeugen k ö n n e n .
k) Schlußfolgerung
27
IL Die Liebe
a) Kinder-Eltern-Liebe
28
sehr liebende u n d s c h ü t z e n d e Mutter. Ich lernte von ihr,
was Liebe bedeutet, sowohl die gebende Liebe, als auch
die empfangende Liebe.
Aber das war keine Liebe zwischen z w e i ebenbürtigen
Menschen, auch w e n n ich mich i n meiner späteren B i l
dung sicherlich nicht mehr untergeordnet gefühlt habe.
Eine Mutter bleibt immer Mutter. Aber die Liebe, die ich
v o n ihr empfangen habe, empfinde ich starke Ähnlich
keit z u meiner jetzigen Liebe z u m Herrn. M i t der Zeit
merkte ich jedoch, d a ß meine Mutter alles andere als un
fehlbar ist, d a ß sie auch Ä n g s t e u n d Grenzen hat, einfach
gesagt, d a ß sie nur ein Mensch wie jeder andere ist. U n d
deshalb empfehle ich jeder Mutter u n d auch jedem Va
ter, so früh w i e möglich ihren K i n d e r n z u zeigen, d a ß sie
selbst sehr begrenzt u n d fehlbar sind, auch d a ß sie selbst
unter d e m Schutz u n d der Geborgenheit des allmächti
gen u n d liebenden H e r r n stehen. Gehen sie einfach auf
ihre Knie, so d a ß das K i n d es sehen kann u n d beten sie
mit ihm. D i e Liebe v o n Eltern z u K i n d e r n soll nicht eine
bindende sein, i n d e m das K i n d i n seinen eigenen Wegen
behindert w i r d . A l s Teenager wollte ich w i e die meisten
meinen eigenen Weg gehen, i n Bezug auf Beruf, Freund
schaft u n d Lebensziele, u n d diese so tiefe Liebe z u mei
nen Eltern, vor allem z u meiner Mutter, entwickelte sich
z u einer Phase der Rebellion, einer notwendigen L ö s u n g
dieses Macht- u n d Schutzverhältnisses, u m selbst reif z u
werden. Das bedeutet nicht, d a ß die Liebe erlischt, son
dern d a ß manche Aspekte dieser Liebe aufhören, die Lie
be mit anderer Intensität weitergeführt w i r d , u n d zwar
als eine vor allem historische Beziehung: D u hast mich
geboren, d u hast mich i n Liebe erzogen, u n d dafür ist
meine Liebe z u d i r eine Liebe aus Dank, nicht mehr we
gen der s c h ü t z e n d e n u n d bergenden Beziehung z u mir.
Zuerst m ü s s e n K i n d e r sich v o n ihren Eltern emanzipie-
29
ren, u n d mit der Zeit - das w e i ß ich w o h l als Vater - m ü s
sen die Eltern das gleiche tun.
30
gute Ehe haben. A b e r jetzt ü b e r s p r i n g e ich das wichtig
ste.
31
à) Wie die Liebe mein Leben und meine Persönlichkeit geän-
dert hat
32
Dichter u n d Künstler, kein geselliger Mensch. F ü r mich
wie für Tolstoi sind die wesentlichen Momente des Le
bens, w e n n man betet u n d glaubt, w e n n man liebt u n d
geliebt w i r d u n d die Liebe z u großer Kunst. Das ist i m
mer noch das Zentrum meines Lebens, aber Rosemarie
hat i n m i r die soziale Dimension vertieft. Ehe als K o m
p r o m i ß : Ich wollte w i e meine Eltern eine sehr tiefe u n d
persönliche Ehe, die vielleicht die Freiheit des Partners
beeinträchtigen konnte. Rosemarie wollte eine gute Ehe
gattin, Mutter u n d Lehrerin sein, u n d diese Kombination
war nicht ganz das, was ich haben wollte. Hier machte
ich einen K o m p r o m i ß , w i e Rosemarie jetzt für m i c h
einen K o m p r o m i ß macht, u n d unsere Ehe ist jetzt noch
tiefer, noch enger, noch erfüllter. O b w o h l ich mit z w e i äl
teren Schwestern i n der »Frauenschule« erzogen worden
war, hat meine Liebe z u Rosemarie m i r ein viel größeres
Verständnis für das Weibliche gebracht, so d a ß meine Ly
rik, wie Kritiker sagten, z u m Wesen der Erkenntnis des
Weiblichen durchdringt. Liebe bedeutet w i e Glaube
auch, mich selbst z u finden, i n der Aufgabe der eigenen
Person mehr u n d mehr für das Wir.
33
III. Beruf und Berufung
a) Historiker
34
K ü n s t e n jeder A r t . Vielleicht spiegelt sich hier ein tiefes
Gefühl, das bis heute anhält, d a ß meine Lyrik, trotz aller
Buchproduktionen u n d kritischer Anerkennung, nicht
so geschätzt w i r d oder bekannt ist, wie ich es m i r w ü n
schen w ü r d e . W a r u m aber hat mich Geschichte so faszi
niert? Zuerst u n d vor allem war es eine tiefe poetische
Sehnsucht nach der »verlorenen Zeit«, ein Gefühl für die
Vergänglichkeit aller Dinge, ein inneres Wissen, damals
wie heute: »Ja, D a v i d , d u wirst auch sterben müssen.«
Die Einstellung z u diesem Fach aber ä n d e r t e sich, als ich
die Entscheidung traf, Historiker z u werden. H i e r m u ß
te ich meinen Willen u n d meine Werte durchsetzen ge
gen den starken Willen u n d die Vorstellungen meines
Vaters. Hatte er nicht eine renommierte Anwaltskanzlei
g e g r ü n d e t u n d aufgebaut? War ich nicht sein logischer
Nachfolger? Geschichte w a r gut u n d schön, aber U n i
versitätsprofessoren verdienen i n A m e r i k a viel weniger
als erfolgreiche Juristen w i e mein Vater einer war. Ich
kann m i c h gut an diesen Nachmittag i n O n k e l Irvings
Garten erinnern; O n k e l Irving war auch Jurist u n d ein
kluger Partner i n der Firma meines Vaters. Stundenlang
versuchte er m i c h z u ü b e r r e d e n , d a ß durch Jura alle
möglichen T ü r e n geöffnet werden, u n d nicht nur die, die
zur Firma meines Vaters führen w ü r d e n - aber verge
bens. Ich begann Geschichte z u studieren, u n d zwar mit
dem Schwerpunkt e u r o p ä i s c h e Geschichte, welche als
anspruchsvoll angesehen wurde, u n d mehr u n d mehr
mit dem A k z e n t auf Geistes- u n d Kulturgeschichte. Ich
legte mein Geschichtsstudium zweigleisig an - techni
sche Geschichte i n England als Fachgebiet, vor allem 16.
u n d 17. Jahrhundert sowie Verfassungsgeschichte bei
meinem z u k ü n f t i g e n Doktorvater H a r o l d H u l m e u n d
Geistes- u n d Kulturgeschichte. Ich habe mich nicht i m
mer sehr beliebt gemacht unter meinen Mitstudenten.
35
Bei einem Kurs ü b e r die griechische Tragödie habe ich i m
Dialog mit meinem Professor - eine (wie er sagte) neue
Auslegung eines Werks v o n Sophokles erarbeitet. U n d
ich kann m i c h gut erinnern, wie w ä h r e n d eines Kurses
ü b e r Kultur- u n d Geistesgeschichte des s p ä t e n 19. u n d
frühen 20. Jahrhunderts mein Professor - er war kein
großer Kenner der Malerei - ü b e r meinen Lieblingsma
ler G a u g u i n sprach. Ich sprang sofort auf u n d wider
sprach i h m mit einem kurzen Referat, u n d er sagte:
» H ö r e n Sie, was H e r r Jaffin z u diesem Thema z u bieten
hat.« Dieser Professor rächte sich aber bei meiner Dok
t o r p r ü f u n g . E r prüfte m i c h ü b e r die Balkankrise des spä
ten 19. u n d frühen 20. Jahrhunderts, dieses Gebiet war
immer sehr problemreich, nicht nur heute.
Ich kann mich erinnern, d a ß ich einmal z u meinem
Schwager Lee sagte: »Ich w i l l die Zeit eines bestimmten
Königs, hier Heinrichs des Siebten v o n England, besser
als jeder andere kennenlernen. Das w i r d meine Lebens
arbeit.« U n d Lee antwortete z u Recht i n seiner gewohn
ten Art: »Unsinn, David.«
Endlich aber fand ich m i c h zurecht i n diesem meinem
Fach mit meiner Doktorarbeit ü b e r die Entwicklung un
seres historischen B e w u ß t s e i n s ü b e r die Zeit Jakobs I.
(1603 bis 1624) bei Historikern v o m 17. bis Ende des 19.
Jahrhunderts. H i e r war die richtige M i s c h u n g v o n Gei
stes- u n d Politikgeschichte für mich. Dieses Thema fas
zinierte mich, u n d meine 600 Seiten Doktorarbeit hatte
ich i n z w e i Jahren fertiggestellt - wie immer, w e n n ich
sehr schnell arbeite, geht es am besten. Der Gastprofes
sor M a n u e l v o n Brandeis; der diese Schrift las, sagte z u
meinem Doktorvater: »Ich habe nie so eine originelle
Doktorarbeit gesehen, aber ich kann seiner These nicht
z u s t i m m e n . « Sie k ö n n e n sich gut vorstellen, d a ß die Ver
teidigung meiner Schrift sehr spannend war. Ja, fertig
36
mit meinem Studium, auf dem Weg, Professor z u wer
den, mit sehr guten Noten u n d Referenzen ausgerüstet -
aber nein, Geschichte wurde nicht mein Weg, u n d das
habe ich mindestens z w e i Jahre vor der Verteidigung
meiner Doktorarbeit g e w u ß t . Professor Salomone hatte
mich u n d ein oder z w e i andere seiner Studenten einge
laden z u einem Vortrag, den er i n Anwesenheit des itali
enischen Botschafters hielt. Brillant war er, w i e immer.
Aber nachher sagte er: »Dieses Thema werde ich viel
leicht nächstesmal total anders auslegen.« Er meinte letz
ten Endes, was Pilatus sagte: »Was ist Wahrheit?« M a n
kann es so oder so sehen. Das nennen w i r Relativismus.
So etwas hat nichts mit Wahrheit z u tun, sondern meint,
die Wahrheit ist letztlich relativ, a b h ä n g i g v o n dem, der
sie sieht u n d wie er sie sieht. Sicherlich kann man Bis
marck, z u m Beispiel, aus evangelischer oder katholi
scher Sicht sehen; aus konservativ-preußischer oder so
zialdemokratischer oder liberaler Sicht; aus norddeut
scher oder s ü d d e u t s c h e r Sicht, oder eine Kombination
von diesen. M a n kann dieses oder jenes betonen, so d a ß
Bismarck Hunderte v o n Bismarcks sein k ö n n t e . A b e r
dieser Relativismus stößt m i c h ab. Es m u ß Wahrheit ge
ben, u n d deswegen sagte ich z u Professor H u l m e nach
der Verteidigung meiner Doktorarbeit: »Ich werde m i c h
nie mehr wissenschaftlich betätigen. Hier ist die Wahr
heit nicht z u finden.«
b) Pfarrer
Wenn jemand mir, als ich 16 oder 18 Jahre alt war, gesagt
hätte: »David, d u wirst lutherischer Pfarrer i n Deutsch
land«, hätte ich gedacht, d a ß er v o n Sinnen sei. Was, ich,
der Baseball-Amerikaner, was, ich, der angehende Poet
u n d Intellektuelle jüdisch-amerikanischer P r ä g u n g , ich
37
soll christlicher Pfarrer i m Nach-Auschwitz-Deutsch
land werden? Niemals, h ä t t e ich geantwortet. D a r ü b e r
hinaus ist Pfarrer ein ganz u n d gar sozialer Beruf. M a n
ist s t ä n d i g mit den Problemen anderer konfrontiert. M a n
hat wenig Zeit, ü b e r sich selbst nachzudenken. M a n m u ß
s t ä n d i g auf Draht sein. U n d ich, Poet v o n Natur u n d Ge
sinnung. U n d ich, so innerlich beschäftigt mit dem, was
ich empfinde i n der inneren Welt der poetischen, musi
kalischen Wirklichkeit. Ich habe immer mit Tolstoi ge
sagt u n d gemeint, d a ß die tiefste menschliche W i r k
lichkeit nicht d e m sozialen u n d politischen, dem
mitmenschlichen Bereich a n g e h ö r t , sondern dem inner
lichen, poetischen, reflektiven. F ü r m i c h war u n d ist i m
mer noch nicht was geschieht das zentrale i m Leben,
sondern die Vorahnung, der Nachklang, die persönliche
Bearbeitung. F ü r m i c h hat Wirklichkeit mit Gefühlen,
Nachdenken, Reflektieren z u tun, u n d nicht mit ä u ß e r e n
Tatsachen. Die Trauung selbst war u n d ist für m i c h nicht
das Zentrale, sondern die Liebe als Grundlage dafür,
u n d dann das Leben i n der Ehe aus der Tiefe dieser Lie
be. U n d so war nicht meine Taufe für m i c h v o n zentraler
Bedeutung, sondern meine innere Bekehrung z u Jesus
Christus, u n d dann das Leben i n der Nachfolge. U n d so
einer w i e ich sollte Pfarrer werden?
Ich b i n nicht Christ geworden, w e i l ich ins H i m m e l
reich kommen wollte - dieses Thema spielte damals für
m i c h ü b e r h a u p t keine Rolle (aber jetzt, da ich älter wer
de, da mehr als die Hälfte meines Lebens hinter m i r liegt,
w i r d das Thema der Zukunft immer wichtiger für mich).
N e i n , ich fand i n Jesus Christus die Wahrheit selbst, den
M a ß s t a b für alle Dinge durch sein Wort. Ich fand i n i h m
das Zentrum u n d das Wesen j ü d i s c h e n Leidens. Ich fand
i n u n d durch i h n den Sinn der Geschichte. Ich fand i n
i h m meinen Weg, meine Wirklichkeit, mein Leben. M e i -
38
ne Bekehrung war keine Damaskuserfahrung, sondern
trotz meiner Intensität u n d meines Temperaments ging
es Schritt für Schritt. Zuerst war Jesus für mich das INRI
- Jesus v o n Nazareth, K ö n i g der Juden. D a n n sah ich
deutlich, d a ß Israels E r w ä h l u n g nicht nur sich selbst galt,
sondern auch der Welt u n d d a ß es biblisch gesehen nur
einen Messias gibt. D a n n wurde Jesus für mich der H e i
den Heiland - das z u bekennen i m Angesicht des A n t i
semitismus der Kirche war ein sehr großer Schritt. Aber
der Weg d a z u war die Erkenntnis, d a ß die Kirchen ge
nauso versagt haben an i h m w i e auch mein Volk. U n d
dann war der Weg frei z u dem Bekenntnis: »Ich glaube
an die Heilige Christliche Kirche«, u n d damit der Weg
z u m Dienst i n seiner Kirche.
Z u d e m war ich i n Deutschland nach meiner Promoti
on z u m Dr. phil. mit einer u n g e l ö s t e n Frage konfrontiert.
Sollte ich versuchen, hier i n Deutschland meine Lauf
bahn als Historiker fortzusetzen, oder gab es möglicher
weise einen anderen Weg für mich? Ich unterrichtete an
der amerikanischen U n i v e r s i t ä t M a r y l a n d hier i n
Deutschland, vor allem Offiziere. A b e r dies war keine
volle Stelle. Sollte ich versuchen, an einer deutschen U n i
versität eine Stelle z u bekommen? M e i n Professor für po
litische Philosophie, Flanz, ein nichtjüdischer gebürtiger
Österreicher, hatte nach meiner D o k t o r p r ü f u n g z u m i r
gesagt: » G e h e n Sie, wenn Sie wollen, nach Deutschland,
zeigen Sie, was Sie wissen, u n d sie werden bald Profes
sor w e r d e n . « So sagte er, aber was sollte ich tun? Mitten
i n diesen Ü b e r l e g u n g e n k a m der Telefonanruf meiner
Tante N i c k i , d a ß ihr Sohn, mein C o u s i n u n d guter
Freund Moss Andrew, an Rauschgift gestorben war. Das
war Gottes Zeichen. Ich ging z u Pfarrer Wendler, mei
nem Geistlichen, u n d sagte: Ich w i l l Pfarrer werden, i n
dieser Welt brauchen w i r nicht Geschichtsprofessoren,
39
sondern Geistliche, die aus der Kraft u n d F ü h r u n g C h r i
sti leben. Ich bekam nach meiner Taufe ein Sonder
stipendium v o n der w ü r t t e m b e r g i s c h e n Landeskirche.
Jetzt war der Weg frei z u einem sozialen Beruf für einen
ganz u n d gar individualistischen Poeten.
M e i n Weg, Pfarrer z u werden, war s t ä n d i g begleitet
v o n Konfrontation. Ich sah sehr deutlich durch Gottes
Wort, d a ß die schlimmsten Feinde Jesu die Priester w a
ren. Ich sah sehr deutlich durch die g r o ß a r t i g e n frühen
Schriften M a r t i n Luthers, d a ß sein Weg auch begleitet
war v o n Konfrontation mit den Priestern seiner Zeit, die
durch die Tradition für viele den Weg einer biblischen,
christus-zentrierten Theologie verbaut haben. U n d ich
erlebte n u n selbst die gleiche Konfrontation, auch wenn
meine Professoren i n T ü b i n g e n eher g e m ä ß i g t waren i n
der A n w e n d u n g der historisch-kritischen Methode.
Oder anders, i m Rückblick besser gesagt: Der Weg z u
diesen zentralen R e f o r m a t i o n s g r u n d s ä t z e n , die das Zen
trum meines eigenen Glauben sind, - allein Jesus C h r i
stus, allein die Heilige Schrift, allein durch Gnade aus
Glauben - , dieser Weg war s t ä n d i g i n der ein oder ande
ren A r t u n d Weise blockiert. In der katholischen Traditi
on wie durch den Talmud durch die Tradition u n d eine
»traditionelle Schriftauslegung«; i n der modernen Theo
logie durch eine noch gefährlichere Versuchung, n ä m l i c h
durch den »Zeitgeist« u n d die »kritische M e t h o d e « ü b e r
Gottes Wort verfügen z u wollen. Luthers Weg z u m re
formatorischen Durchbruch i n seinen theologischen
Auslegungen ist heute so aktuell wie eh u n d je, aber heu
te vor dem Hintergrund der sogenannten aufgeklärten
Theologie seit d e m 18. Jahrhundert. D i e Schrift w i r d
nicht direkt wahrgenommen, sondern wie z u Luthers
Zeit w i r d der Zugang z u ihr erschwert durch Vorüberle
gungen u n d Vorurteile, welche diese Schrift, welche
40
Christus selbst relativieren. Ja, mein Weg als Theologe
war v o n Anfang an als wahrer lutherischer Theologe
v o n Konfrontation g e p r ä g t . Aber wie kann ein Dichter,
ein Poet mit tiefer innerer Empfindung auch ein aktiver,
engagierter Pfarrer u n d Seelsorger sein? Die A n t w o r t
liegt i n meinem Verständnis v o n Christus u n d seinem
Wort, daß das Zentrum der Welt nicht unser Empfinden, un-
sere Wahrnehmung ist, sondern Christus, sein Wort und sein
Heil. H i e r m ü s s e n Prioritäten gesetzt werden. Diener
Gottes z u sein wurde für m i c h z u m Zentrum meines We
sens, nicht poetisches Empfinden oder historische Wis
senschaft. Weder Kunst noch Wissenschaft k ö n n e n die
zentralen Fragen des Lebens beantworten. N u r Christus
u n d Christus allein kann hier Antworten bieten! Deswe
gen m u ß t e ich m i c h als Diener Gottes ganz u n d gar i n
seinen Dienst stellen, nicht i n meinen eigenen. Das war
der Schlüssel z u m Vollzug meiner Bekehrung. Der Herr
hat auch diesen Weg erleichtert durch meine lange Stu
dienzeit, welche m i r sehr zugute k a m i m Pfarramt. Ich
konnte viel schneller arbeiten als die meisten meiner K o l
legen, was Predigt, Andacht u n d Bibelabende anbelangt.
Z u d e m ist der Pfarrerberuf so vielseitig, d a ß jeder Pfar
rer seine eigenen Prioritäten setzen m u ß . Die Prioritäten,
die w i r setzen, sollten immer i n Beziehung stehen a) z u
der Frage, wie u n d w o w i r a m meisten u n d a m besten
Menschen mit dem Evangelium erreichen k ö n n e n u n d
b) z u unseren Gaben u n d Schwächen. D i e Akzente, wel
che ich immer gesetzt habe, waren V e r k ü n d i g u n g u n d
Seelsorge. Finanzen u n d Verwaltungsarbeit waren nie
meine Sache, aber dafür hatte ich i n M a l m s h e i m ausge
zeichnete Mitarbeiter.
Was ist das Fazit meiner Jahre als Seelsorger?
1. E i n Pfarrer sollte nie sagen, was die gesellschaftliche
Konvention i n einem bestimmten Zusammenhang vor-
41
schreibt, das Richtige i m menschlichen Sinne. Wir sollten
uns immer v o n d e m Gebet leiten lassen: »Herr, gib mir
die richtigen Worte zur richtigen Zeit.« Soviel kann ver
baut werden, auch u n d gerade v o n eifernden Christen,
die mit der T ü r e ins Haus fallen. Der Weg z u m Glauben
ist meistens ein Reifungsprozeß, nicht ein plötzlicher
Ruf: »Jetzt m u ß t d u d i c h bekehren.« G e d u l d ist eine zen
trale christliche Gabe u n d nirgends so wichtig wie i n der
Seelsorge. W i r beten u m die richtigen Worte zur richti
gen Zeit. M a n c h m a l zwingt uns der H e r r vielleicht z u
unbequemen Aussagen, menschlich gesehen harten
Aussagen, wenn es u m das H e i l u n d Wohl eines anderen
i m Sinne Jesu geht. Luther ist hier unser leuchtendes Bei
spiel i n seinem Harren auf Christus u n d sein Wort statt
einer mitmenschlichen Geschliffenheit.
2. Das Evangelium ist nicht i n erster Linie eine A n
weisung, wie man leben soll oder eine Schulung i n der
Jüngerschaft. Das alles hat (am Rande) seinen Platz.
Evangelium bedeutet, Christi K r e u z aufleuchten z u las
sen, u n d zwar i n Bezug z u unserer Verlorenheit. W i r
alle, ohne Ausnahme, leben s t ä n d i g unseren eigenen
Weg, unsere eigenen Gedanken, i n unserem eigenen Sin
ne. W i r brauchen s t ä n d i g den R u f z u r ü c k z u m Kreuz,
w e g v o n uns selbst, i n die befreiende Buße, z u r ü c k z u m
Ort der Vergebung u n d Erneuerung.
3. Gebet sollte nicht zur F o r m werden, denn als F o r m
ist es nicht mehr Gebet. Es gilt, dem Wort Gottes R a u m
z u geben, einem Wort, welches uns richtet u n d aufrich
tet. E r soll uns immer mehr i n die K n i e zwingen, uns er
leuchten u n d erneuern. F o r m hat nur Sinn, w e n n diese
F o r m den Inhalt durchleuchten läßt, aber nie als Forma
lismus.
4. W i r sind als Christen v o n uns aus nicht besser als die
Welt. Leiden ist vor allem Leiden an uns selbst, an unse-
42
rer Unvollkommenheit. Wer wirklich Christ ist, weiß,
ich bin mein schlimmster Feind, Christus ist mein bester
Freund.
5. Der einzige Weg, unsere Selbstbestimmung, unse
ren Versuch, ü b e r den H e r r n z u verfügen durch Traditi
on, durch Zeitgeist u n d kritischen Geist, durch erstarrte
gesetzliche Frömmigkeit, durch unsere eigenen Gefühle
u n d gruppendynamischen Prozesse z u ü b e r w i n d e n , ist:
Laß Christus walten, i h n u n d i h n allein. E r ist groß, u n d
w i r sind klein. Aber groß sind w i r i n seinen Augen, wenn
w i r i h m z u F ü ß e n bekennen: »Er m u ß wachsen, ich aber
m u ß abnehmen.«
c) Als Vortragsredner
43
deren Teil meiner Persönlichkeit. Ich w i l l etwas vermit
teln. Ich w i l l alle Mittel, welche mir z u r Verfügung ste
hen, einsetzen, u m andere Menschen z u erreichen mit
dem, was ich denke, empfinde. Z u behaupten, d a ß ich i m
Grunde genommen kein sozialer Mensch sei, entspricht
dann nicht der Wahrheit, denn das Wesen eines sozialen
Menschen ist gerade das: die Vermittlung dessen, was er
w i r k l i c h z u sagen hat. Ich habe hier vielleicht eine Affi
nität mit einem meiner Lieblingsdichter, Joseph Roth.
Seine Stärke liegt i n der Empfindung der inneren Welt,
der Einsamkeit, dem innigen Verhältnis v o n Personen z u
ihrer Umgebung, vor allem der nicht menschlichen U m
gebung. In diesem Sinne ist er verwandt mit Adalbert
Stifter, dem großen poetischen Romancier der deutschen
Sprache. U n d gerade dieser Joseph Roth konnte reden
wie kein anderer. E r sammelte s t ä n d i g Menschen u m
sich, u m sie brillant z u unterhalten ü b e r alle möglichen
Themen bis tief in die Nacht. U n d gerade der innige, poe
tische Joseph Roth war zugleich einer der tiefsten Beob
achter der politischen u n d sozialen Szene seiner so be
wegten Zeit, der 20er u n d 30er Jahre.
Ich b i n kein Joseph Roth, aber trotzdem haben w i r viel
gemeinsam, vor allem diesen scheinbaren inneren W i
derspruch v o m i n sich gekehrten Dichter, der aber u m
jeden Preis vermitteln w i l l .
Reden w a r immer mein Metier. U n d so wurde v o n mir
i n einem Sport- u n d F i t n e ß - S o m m e r c a m p , als ich noch
nicht die g r o ß e Wende (Bar M i z w a ) i n meinem Leben er
reicht hatte, überliefert: »Als w i r einschliefen, redete Jaf
fin, u n d als w i r aufwachten, redete Jaffin, u n d niemand
w e i ß , ob er dazwischen* aufgehört hat.« Damals wollte
ich vor allem meine M e i n u n g ü b e r Sportler u n d ihre L e i
stungen ä u ß e r n . Aber nach meiner g r o ß e n Wende v o m
Baseball-Amerikaner z u m Poeten hatte ich etwas total
44
anderes z u vermitteln, i n meiner Lyrik u n d später dann
als ü b e r z e u g t e r , bekehrter Christ den Inhalt meines
Glaubens.
Diese Vermittlung lief zuerst ü b e r G e s p r ä c h e , aber
dann auch ü b e r Predigten u n d Vorträge. Zwischen Pre
digten u n d biblischen Vorträgen gibt es leichte Unter
schiede. Meine Predigten sind ä u ß e r s t knapp, reduziert
auf das Wesentliche, ohne H u m o r ; es sind grundsätzli
che Predigten, auch w e n n Beispiele hier u n d da vor
kommen. Oft wurden sie Wochen oder gar Monate vor
her geschrieben u n d v o n meiner Sekretärin vervielfältigt
für die Gemeindemitglieder, die sich i n dieser Thematik
vertiefen wollten.
Aber meine Vorträge sind ganz anders. Eine Predigt
dauert 15 oder 20 M i n u t e n , ein Vortrag aber 45 oder 60
Minuten. Es w ä r e für meine Z u h ö r e r sehr schwierig, die
se lange Zeit ernst u n d konzentriert durchzuhalten. Des
wegen werden meine Vorträge ständig durch Anekdoten
aus meinem Leben oder lustigen Einfällen aufgelockert.
Nichts ist schlimmer als gekünstelter H u m o r , wenn man
merkt, d a ß der Redner h u m o r v o l l sein, Witze erzählen
w i l l - das kann sehr peinlich wirken. Aber bei mir w i e bei
vielen Juden ist der H u m o r ein Teil meines Naturells.
Wir k ö n n e n einfach nicht s t ä n d i g ernst bleiben. W i r m ü s
sen lachen, Selbstironie durchleuchtet unsere ganze Per
son u n d w i r k t der Tendenz entgegen, sich selbst z u ernst
z u nehmen.
M a n c h m a l frage ich mich, ob ich w i r k l i c h vermittelt
habe, was ich vermitteln wollte. Z u m Beispiel k a m ich
einmal z u einer Hochzeit, nicht weit w e g v o n meiner
Malmsheimer Gemeinde. Dort hatte ich vielleicht z w e i
Jahre z u v o r einen Vortrag gehalten. A l s ich i n die Sakri
stei kam, sagte die Mesnerin z u mir: »Wir kennen Sie. Sie
haben vor z w e i Jahren einen Vortrag gehalten.« Ich frag-
45
te: »Was war mein Thema?« U n d sie antwortete ohne
lange nachzudenken: »Sie haben ü b e r ihren Dackel ge
sprochen.«
Reden vor einem P u b l i k u m macht vielen Menschen
Angst, u n d offen gesagt, ohne innere Aufregung geht es
auch bei mir nicht ab.
Jeder, auch der erfahrenste Redner erlebt diese innere
Spannung vor jedem Dienst. Warum? Weil w i r vermit
teln wollen, weil w i r unsere ganze Person einsetzen, da
mit unser P u b l i k u m erreicht w i r d mit dem, was w i r z u
sagen haben, u n d dies ohne z u langweilen. Diese innere
Erregung gibt jedem guten Redner die Kraft, das z u sa
gen, was er vermitteln w i l l . U n d ich glaube, hier haben
w i r die Beziehung zwischen dem inneren, empfindsa
men Menschen u n d d e m aktiv Vermittelnden. - W i r
m ü s s e n i n der Tiefe i n uns selbst suchen, u m dann aus
dieser Tiefe z u anderen z u sprechen. Das läßt sich auch
auf unseren Glauben ü b e r t r a g e n : N u r wenn w i r uns ver
tiefen i n die Heilige Schrift oder ins Gebet, nur dann be
kommen w i r die Kraft z u missionarischem Christsein.
Diese beiden Dinge g e h ö r e n ganz eng zusammen. Denn
nur w e n n w i r »stille z u Gott w e r d e n « , nur dann gibt er
uns die Kraft, aus seiner Stille durch das Wort z u ver
mitteln.
d) Als Autor
46
(nur i n der Theorie, aber nicht i n der Praxis). In den Auf
sätzen i n der H i g h School w a r ich so mit dem Inhalt be
schäftigt, d a ß meine Grammatik, die nie meine Stärke
war, sehr z u w ü n s c h e n ü b r i g ließ. Schreiben war für
mich eigentlich nicht natürlich, da ich immer viel gere
det habe, u n d ich meine Gedanken dadurch viel besser
a u s d r ü c k e n konnte. Sicherlich war die Schule mitschul
dig an meiner Unfähigkeit, meine Gedanken z u Papier
z u bringen, denn Aufsätze w u r d e n auch nach bestimm
ten formalen Kriterien beurteilt, u n d gerade diese Krite
rien standen einer » n a t ü r l i c h e n A u s d r u c k s w e i s e « i m
Wege. Ich war ein Redner, der noch nicht gelernt hatte,
d a ß schreiben genauso »natürlich« sein konnte, wie re
den.
Lassen w i r die L y r i k beiseite, denn ihr g e h ö r t ein be
sonderes u n d sehr wichtiges Kapitel i n diesem Buch.
M e i n Prosastil entwickelte sich sicherlich nicht w ä h r e n d
meiner Studienzeit, da wissenschaftliche Arbeit eine ei
gene Sprache, einen eigenen Wortschatz u n d eigene
Wege hat. Aber w ä h r e n d meines Studiums lernte ich z u
mindest, meine Gedanken z u Papier z u bringen, auch
wenn diese Gedanken meistens nicht meine eigenen wa
ren, u n d der Stil alles andere als korrekt war. Aber mit
Vollendung meiner sehr umfangreichen Doktorarbeit,
bekam ich große Freude an einem vollendeten Werk. E i n
Buch begann damals für m i c h so etwas wie ein kleines
K i n d z u werden. Etwas, was man i n die H a n d nehmen
kann, v o n allen Seiten, etwas, mit einer eigenen A n z i e
hungskraft, etwas, w o v o n ich sagen konnte: D u gehörst
mir, d u bist mein. Vielleicht spielte auch etwas anderes
mit, n ä m l i c h der Versuch, gegen die Vergänglichkeit z u
k ä m p f e n , i n der Hoffnung, d a ß das, was geschrieben
w i r d , bleiben w i r d , selbständig w i r d , u n a b h ä n g i g von
m i r selbst. Ja, alle Kunst, auch die literarische, ist ein
47
K a m p f gegen die Vergänglichkeit, u n d diese Vergäng
lichkeit ist die Grunddimension menschlichen Lebens.
Meine ersten Predigten i n M a l m s h e i m erweckten Inter
esse nicht nur an dem gesprochenen Wort, sondern auch
an biblischer Vertiefung. Ich packte, als Jude, als Histo
riker, als jemand, der die Vielschichtigkeit v o n Gottes
Wort i m gesamten biblischen Rahmen i n den M i t t e l
punkt stellt, so viel i n jede Predigt, d a ß i n der Gemeinde
bald der Wunsch laut wurde, diese Predigt nachzulesen.
Ich glaube, diese schriftliche Fixierung meiner Predigten
war der natürliche Weg z u meinen ersten Büchern i n
deutscher Sprache. Traugott Thoma, Prediger der Lie
benzeller M i s s i o n u n d ein eifriger A u t o r u n d Heraus
geber v o n Büchern, war unser Prediger a m Ort. Ich sah
seine Bücher u n d fragte i h n eines Tages, vielleicht nach
dem ich ein Jahr i n Malsheim war:
» K a n n der Verlag der Liebenzeller M i s s i o n auch
Bücher v o n m i r verlegen?« U n d ich gab i h m eine G r u p
pe v o n ca. 15 Predigten mit dem Titel »INRI«. Sie wur
den gedruckt u n d gut verkauft. Z w e i weitere Predigt
b ä n d e folgten, u n d gleichzeitig fing ich an, Vorträge z u
halten. M e i n viertes Buch »Die Heiligkeit Gottes i n Jesus
Christus« war meine erste Sammlung v o n Vorträgen i n
schriftlicher Form. Dekan Tlach beurteilte dieses Buch
sehr positiv u n d schrieb eine gute Einleitung dazu. Von
da an erschienen P r e d i g t b ä n d e u n d besonders Vortrags
b ä n d e mindestens jährlich.
48
IV. Musik, Nahrung für die Seele
Renaissance-Musik
49
bereits tief religiös g e p r ä g t war. In dieser Zeit ist das
Streben nach Reinheit vorherrschend. Die große frühe
Renaissance, die flämische Schule v o n Dufay, Ockge-
hem, Isaak u n d vor allem Josquin des Prés bleiben bis
heute sehr wichtig für mich, wie ihre malenden, geogra
phischen Zeitgenossen V a n Eyck, Van der Weyden,
M e m l i n g , Gerard D a v i d . A b e r diese frühe Renaissance
komponisten leiden, empfinde ich, trotz ihrer tiefen Re
ligiosität u n d trotz ihres Strebens nach linearer/poly-
phoner Reinheit, z u m Teil an viel z u komplizierten kon
trapunktischen Methoden. Oft s p ü r t man ihre Methode
stärker als den Inhalt. A b e r mit den g r o ß e n Meistern der
Hochrenaissance, Palestrina, Byrd, Vittoria, auch Orlan
do d i Lasso ist diese Problematik ü b e r w u n d e n . H i e r sind
Polyphonie u n d Homophonie z u s a m m e n g e f ü g t i n eine
vollkommene Einheit. U n d hier ist der größte religiöse
Tiefgang der Renaissance erreicht. Diese sogenannte
»goldene Zeit« der M u s i k kann sich sicherlich messen
mit jeder anderen großen Epoche, ob Hochbarock, Wie
ner Klassik oder den f r ü h e n romantischen Meistern.
Vielleicht aber fehlt bei diesen g r o ß e n Meistern der Re
naissance die I n d i v i d u a l i t ä t . Wenn m a n m i c h fragen
w ü r d e , welche Messe das w ä r e v o n Palestrina - ich ken
ne vielleicht 20 - w ü r d e ich es sehr schwierig finden, z u
antworten.
50
nicht D o w l a n d s unvergleichliche Lautenmusik, u n d
Henry Purcell der k r ö n e n d e A b s c h l u ß der großen Epo
che englischer M u s i k ü b e r h a u p t , Purcells früher Genie
streich, seine Fantasien für Gambe, g e h ö r t z u der aller
g r ö ß t e n barocken Instrumentalmusik. Manche seiner
» A n t h e m s « haben eine wahre u n d tiefe evangelische
Aussage. U n d vergessen w i r nicht seine hervorragende
Trauermusik auf den Tod der Königin M a r y u n d seinen
»Dido u n d Aeneas«.
51
wunderbares Beispiel für die Lebensphasen u n d die
Schaffenszeit eines g r o ß e n Meisters. Seine frühen Werke
wie die unvergleichlichen Madrigale op. 1 u n d die noch
Venezianischen Psalmen Davids op. 2 sind Geniestrei
che. A b e r Schütz erlebt i n den zwanziger Jahren seine
Sturm u n d Drang-Phase mit viel Chromatik u n d tiefer
innerer Spannung. Seine C h o r m u s i k erreicht ihren
H ö h e p u n k t i n den g r o ß e n 29 Motetten, die er i n seiner
reifen Lebensphase Ende des Dreißigjährigen Krieges,
komponierte. A b e r dann am Ende seines langen Lebens
komponierte Schütz drei Passionen, die i n schlichter E i n
fachheit (Worttheologie) nicht ihresgleichen haben. Den
letzten Satz der Johannespassion » O hilf Christe, Gottes
Sohn« hat kein Komponist, weder Bach noch H a y d n
übertroffen i n Tiefgang, i n echter F r ö m m i g k e i t .
E i n wahres Entdeckungsfeld für die, welche M u s i k
suchen, nicht Virtuosität, sondern Innerlichkeit, K o m
primiertheit u n d F o r m b e w u ß t s e i n , ist die Tastenmusik
des 17. Jahrhunderts, vor allem Sweelinck (auch ein M e i
ster des Psalmenvertonung), Froberger u n d der H a m
burger Weckmann.
CorelU/Bach/Händel
Wenn w i r bei w i r k l i c h g r o ß e n u n d u n t e r s c h ä t z t e n K o m
ponisten, die wenig z u h ö r e n sind, bleiben, m ü s s e n w i r
k u r z ü b e r Archangelo Corelli sprechen, den g r o ß e n
Formgestalter, den H a y d n des Hochbarock. Coreliis
sechs Opern (72 Werke i m Ganzen) sind wie die Haydns
viel mehr als nur formgestalterisch, sondern sie weisen
eine g r o ß e Reinheit i n F o r m u n d Inhalt auf. H i e r ist der
G r ü n d e r u n d edle Vollender des italienischen Barock.
Ich brauche nicht viel ü b e r Bach u n d H ä n d e l z u schrei
ben, denn ihre G r ö ß e ist wohlbekannt. Wenige zweifeln
52
daran, d a ß Bachs »h-Moll-Messe« z u der größten M u s i k
gehört, die je geschrieben wurde. Wenige bezweifeln
auch die durchgehende u n d tiefe Q u a l i t ä t seiner
Choräle, die ähnliche Werke, sogar v o n Schütz u n d M e n
delssohn, i n den Schatten stellen. Wenige zweifeln an
Bachs P r o d u k t i v i t ä t u n d umfassender, gestalterischer
Kunst, einer Produktivität, die vielleicht nur mit Orlan
do d i Lasso u n d H a y d n z u vergleichen ist. Wenige zwei
feln am strahlenden Glanz u n d Ήefgang v o n Werken wie
dem Weihnachtsoratorium, den Passionen u n d manchen
Kantaten. Wenige zweifeln an seiner ü b e r r a g e n d e n Be
deutung für die Orgelmusik. Aber Bach ist z u einer A r t
evangelischem Heiligen geworden, u n d wehe dem M e n
schen, der die L ä n g e vieler seiner ritornellen A r i e n i n
Frage stellt, u n d wehe dem Menschen, vor allem dem
evangelischen Pfarrer, der die alte Kritik ü b e r Motorik
u n d Mathematik i n Bachs M u s i k noch einmal äußert.
M a n kann sicher sein, d a ß er i n Kreisen seiner Verehrer
wenig G e h ö r finden w i r d .
53
unbestritten. Das Jahr 1714 ist ein zentrales D a t u m i n der
Geschichte der a b e n d l ä n d i s c h e n M u s i k , denn i n diesem
Jahr wurden Gluck, C a r l Philip Emanuel Bach u n d H o -
milius geboren, ein Trio v o n sehr interessanten K o m p o
nisten, die w i r als Frühklassik bezeichnen. Christoph
Willibald Gluck ist zweifellos ein großer Meister i n sei
ner Opernreform, u n d seine » O r p h e u s « u n d »Iphigenie«
g e h ö r e n unter anderen z u dieser Reform. Gluck hat auch
einen g r o ß e n Einfluß auf den H a y d n der Sturm u n d
Drang-Zeit (1768 -1774) u n d auf den vergessenen Sturm
u n d Drang-Meister der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts,
Josef M a r t i n Kraus, dem »Sturm u n d Drang«-Bindeglied
zwischen Gluck u n d Beethoven. C a r l P h i l i p Emanuel
Bach ist eine faszinierende Gestalt, i n seiner eigenwilli
gen u n d z u m Teil tiefsinnigen Hammerklaviermusik,
auch i n manchen Sinfonien u n d Konzerten. E r ist ein
wahres Original, wie es Gesualdo ein Jahrhundert früher
war. U n d vergessen w i r nicht, d a ß gerade diese M u s i k
v o n Bach Wegweisung für keinen anderen als Joseph
H a y d n war, vor allem für den jungen H a y d n , aber auch
den Sturm u n d Drang-Haydn. Ü b e r H o m i l i u s k ö n n e n
w i r erst mehr sagen, w e n n seine Kantaten u n d andere
geistliche Werke gedruckt u n d bekannt werden. Die M o
tetten, die w i r kennen, weisen eine individuelle Reinheit
auf; i n ihrer Eigenwilligkeit erinnern sie m i c h an den
s p ä t e r e n M a x Reger.
54
primieri. M a n kann vieleicht sagen, d a ß ich i n meinem
Kunstempfinden ein Klassiker bin, u n d das bestimmt
auch mein sehr subjektives Urteilsvermögen. Wenn w i r
ü b e r die g r ö ß t e n Komponisten der modernen Zeit Bach,
H ä n d e l , H a y d n , Mozart, Beethoven, Schubert urteilen,
sind w i r alle sehr subjektiv, nach unserem Naturell und
unseren E m p f i n d u n g s m ö g l i c h k e i t e n . Jemand, der die
Komprimiertheit i n den Mittelpunkt stellt, der alles auf
das Wesentliche beziehen w i l l , m u ß sich hingezogen
fühlen z u Heinrich Schütz und z u Joseph H a y d n und
Mozart.
55
u n d seinen Messen. H a y d n ist ein sehr intelligenter
Komponist, bei dem w i r viele Ü b e r r a s c h u n g e n erleben.
Er ist zugleich spontan u n d formgestalterisch, tiefsinnig
u n d humorvoll. Wer Haydns ganzes Œ u v r e kennt, erlebt
eine Vielseitigkeit, welche v o n keinem anderen K o m p o
nisten übertroffen wurde. M o z a r t ehrte i h n i n diesem
Sinne. H a y d n hat meine Lyrik durch Jahrzehnte beglei
tet. Ich verdanke i h m das F o r m v e r s t ä n d n i s , das die K r i
tiker an meiner Lyrik schätzen. H a y d n war u n d blieb ein
tief religiöser Komponist. E r betete immer, bevor er
schrieb, u n d unterschrieb alle seine Meisterwerke mit
»In N o m i n e Domini« - »Im N a m e n Gottes«. H a y d n ist
neben meiner Frau Rosemarie mein bester Freund, ein
Begleiter durchs Leben.
56
Liedern u n d Kammermusikwerken, die ihre höchsten
Gipfel erreichen i n der »Winterreise« u n d i n seinem
Streichquintett. A b e r Schubert fiel es schwer, seine Wer
ke z u beenden. Schubert war der liebevollste aller K o m
ponisten, der lyrischste, der so viel große M u s i k am En
de seines kurzen Lebens schrieb. Aber Schubert ist z u
jung gestorben, u m seine Formgestaltung, vor allem sei
ne kontrapunktische Kunst, die so wichtig in der geistli
chen Chormusik ist, z u vertiefen.
Die frühe Romantik ist eine erfrischende Zeit. Wer
liebt nicht die wunderbaren Liederzyklen v o n Robert
Schumann wie auch seine frühen Klavierwerke? Aber i n
der christlichen M u s i k v o n Mendelssohn ist ihr geistli
cher H ö h e p u n k t z u finden, i n seinen Oratorien »Paulus«
u n d »Elias«, i n seinen wunderbaren Psalmvertonungen.
A u c h manche seiner Instrumentalmusik ist auf dieser
H ö h e wie das bekannte Violinkonzert, seine italienische
Symphonie, das d-Moll-Klaviertrio, seine Sommer
n a c h t s o u v e r t ü r e u n d sein wunderbares Oktett. Brahms
u n d Bruckner sind beide g r o ß e Symphoniker u n d haben
beide g r o ß e geistliche M u s i k geschrieben - Bruckner,
w e n n er nicht p o m p ö s , beethovenartig w i r d - ich liebe
seine 2. Messe i n e - M o l l u n d viele seiner a capella-
Werke. D i e Motetten v o n Brahms sind erstklassig, eben
so sein Schwanengesang: D i e »Vier ernsten Gesänge«.
Sein Requiem g e h ö r t z u den großen geistlichen Werken
des 19. Jahrhunderts. Ich liebe vor allem den frühen,
romantischen Brahms, z.B. das 1. Sextett op. 18, das
1. Klavierkonzert, das 1. Klaviertrio, die 1. Symphonie
(1. Satz).
A n t o n i n Dvorak u n d M a x Reger haben beide bedeu
tungsvolle Werke geschrieben, auch religóse Werke,
auch w e n n Dvoraks Stärke mehr i n seiner K a m m e r m u
sik u n d den Symphonien liegt. In der modernen M u s i k
57
ist Jean Sibelius ohne Zweifel ein g r o ß e r symphonischer
Komponist mit wahrem innerlichen u n d dunklen Tief
gang. F ü r m i c h sind die Werke Leos Janaceks, auch sei
ne geistlichen Werke, v o n Bedeutung. U n d vergessen
w i r H u g o Distler nicht, der uns mehrere erstklassige re
ligiöse Werke gegeben hat. Vielleicht w e i l meine Lyrik
einmal mit A n t o n Weberns so kurzen u n d p r ä g n a n t e n
Werken verglichen wurde, ist dieser Avantgarde-Kom
ponist ein besonderer Liebling v o n mir.
Carl Nielsen
58
sehen Sibelius i m gleichen A t e m z u g z u nennen. Leider
ist die Nielsen-Renaissance, die 1950 auf den Edinburgh-
Festspielen begann u n d A m e r i k a wie England eroberte,
etwas abgeklungen.
Franz Berwald
59
lag, der diese M u s i k druckte, druckte auch einen Ba
rockkomponisten, der mir bis dahin unbekannt war: Jan
Dismas Zelenka. Wie immer auf der Suche nach neuen
Entdeckungen, kaufte ich seine Missa D e i Patris, diri
giert v o n Wolfram Wehnert, dem Uraufführer der M u s i k
Zelenkas. Zuerst blieb m i r diese M u s i k mit ihrer ei
g e n t ü m l i c h e n M i s c h u n g aus b ö h m i s c h e r Volksmusik,
langen Orchesterritornellen, mit ihren sehr schwierigen,
»vertrackten R h y t h m e n « fast fremd, bis ich eines som
merlichen Nachmittags die Doppelfuge Crucifixus die
ses Werkes hörte. Ich traute meinen Ohren nicht. Ich
schrieb sofort meinem alten Freund E d Murray, Profes
sor für M u s i k an der Cornell University: »Zelenka ist
einer der ganz Großen«. U n d dieses Urteil hat sich be
stätigt u n d vertieft durch eine breite Kenntnis seiner so
originalen M u s i k . Dies ist ein Meister, den man i m glei
chen A t e m z u g mit Bach, H ä n d e l u n d Corelli nennen
kann.
60
V. Malerei und die Gestaltung
der Wirklichkeit
61
kern vor allem am Ende des 19. Jahrhunderts u n d i n der
ersten Hälfte unseres Jahrhunderts g e p r ä g t ist. Ihr Inter
esse, ihre existenzielle Beziehung zur Kunst war nicht re
ligiös oder lyrisch orientiert, sondern ging v o n d e m
Standpunkt aus, d a ß der M e n s c h M a ß s t a b aller Dinge
sei, d a ß die malerische Eroberung eine tiefe Kenntnis
des eigenen K ö r p e r s u n d seine Umgebung (Perspektive)
zentral sei für die E n t w i c k l u n g der Kunst. D i e soge
nannte Hochrenaissance - Raphael, da Vinci u n d M i
chelangelos frühe Werke - werden als die K r ö n u n g einer
ganzen historischen Entwicklung gesehen. In der M u s i k
gab es u n d gibt es noch diese Auffassung, d a ß Mozart
u n d H a y d n letzten Endes nur Vorläufer v o n L u d w i g van
Beethoven sind. Beethoven schuf neue Formen, drama
tischen Inhalt, richtige L ä n g e - seine Eroica-Symphonie
ist doppelt so lang w i e die Symphonien H a y d n s oder
Mozarts, u n d äußerlich dreifach so dramatisch. Aber wie
Haydns M u s i k , so kann m a n auch Kunstgeschichte mit
anderen A u g e n u n d anderen Werten betrachten als mit
humanistischen.
Ich lernte durch mein Studium neu z u sehen, u n d ich
m u ß sagen, d a ß dieses neu sehen lernen sowohl sehr po
sitiv als auch sehr negativ für m i c h war. Ich lernte h u
manistische Werte u n d Beobachtungsart, u n d das hat
mir geholfen, die Maltechniken, die historische Ent
w i c k l u n g i n der Kunst besser wahrzunehmen. Aber ich
lernte durch die A u g e n v o n anderen u n d vielleicht ohne
ihr Wissen, dadurch Werte, Beobachtungsweisen, die sie
b e w u ß t oder u n b e w u ß t v e r k ö r p e r t e n . Velazquez, R u
bens, Tizian, großartige weltliche Maler, lernte ich rich
tig z u schätzen, u n d das w a r nicht schlecht, aber das re
ligiöse Anliegen so vieler g r o ß e r Maler blieb weitgehend
im Dunkeln.
62
Kunst als Verkündigung
Ikonenkunst/Byzanz
63
Darstellungen v o n Jesus, die uns seine Macht, seine
Herrlichkeit direkt vermitteln. Sie zeigen zugleich seine
unbegrenzte Hoheit u n d seine H i n w e n d u n g z u uns, oft
durch Augen, die uns total i n ihrem Bann halten. U m die
se Majestät so z u gestalten, wie auch i n der geistlich ver
wandten religiösen Mosaikkunst, i n Monreale, i n Vene
dig u n d anderswo braucht der Künstler nicht nur einen
tiefen Glauben u n d Glaubensvorbereitung, sondern
auch die künstlerischen Mittel dazu. F o r m u n d Inhalt
sind dann eins.
Siena/Florenz/Venedig
64
vanni Bellinis z u sehen? E r steht immer i m Schatten sei
nes g r o ß e n Schülers Tizian, oder des »romantischen«
Giorgione, oder des äußerlich dramatischen Tintoretto.
Aber Giovanni Bellinis Kunst enthält die tiefste Verkün
digung verbunden mit einer großartigen Beherrschung
seiner malerischen Fähigkeiten. D ü r e r hat diesen großen
Meister kennengelernt als Bellini schon sehr alt war, aber
er fand i h n immer noch unübertroffen. Bellinis frühere
Kunst bis z u r Mitte der 70er Jahre des 15. Jahrhunderts
war sehr christlich geprägt, aber eher pathetisch: äußer
liche Darstellung v o n Jesu L e i d e n u n d der Heilsge
schichte. D a n n fing Bellini an, i n zweifacher Weise tiefer
z u werden: 1. Begann er i n die Stille des Gebets einzu
dringen i n seinen u n v e r g e ß l i c h e n Darstellungen v o n
Jesus u n d seiner Mutter.
D a r ü b e r hinaus entwickelte er 2. einen so feinen, poe
tischen Sinn für Farbe, für Landschaft, für die Einheit
v o n Person u n d Umgebung. Bellini war der erste wirk
liche Hochrenaissancemaler, wie manche Kunsthistori
ker sagen, mit seiner u n ü b e r t r o f f e n e n Einheit v o n
Mensch u n d Landschaft, seiner tiefen Poesie, seinen
leuchtenden Farben, die z u d e m klassische Klarheit aus
strahlen; aber Bellini war u n d blieb zutiefst ein religiöser
Maler, der i n immer neuer A r t das Heilsgeschehen i n
Christus darstellte. In einer seiner tiefsten Darstellungen
v o n Jesus auf dem Schoß seiner Mutter, sieht das Jesus
k i n d fast aus, als ob es tot w ä r e : geboren u m z u sterben.
65
mit eine Einheit z u schaffen. Die italienische Renaissance
tut das Gegenteil. Sie arbeitet v o n einer abstrakt geome
trischen Kunstvorstellung u n d fügt die Details i n diese
Gesamtauffassung ein. Jan v a n Eycks Meisterwerk i n
Saint-Bavo i n Gent beinhaltet eine tiefe, sehr vielsagen
de V e r k ü n d i g u n g aus der Offenbarung des Johannes.
A b e r die wichtigsten u n d zentralen christlichen Maler
dieser Epoche sind Rogier v a n der Weyden u n d Hans
M e m l i n g . Ich persönlich schätze Van der Weyden als ei
nen der g r ö ß t e n christlichen Maler. Die Plastizität seiner
Formen, die lyrische Gestaltung seiner Kompositionen
u n d die A r t u n d Weise, wie die Falten des Kleides die Ge
fühle der Menschen a u s d r ü c k e n , zeigen die H a n d eines
g r o ß e n Meisters. D a z u ist Rogier v a n der Weyden ein
tiefgläubiger Christ, der sowohl biblisches Geschehen
als auch christliche F r ö m m i g k e i t u n d Symbolik gestaltet.
A m Ende dieses Jahrhunderts steht Gerard D a v i d , der
zur flämischen Kunst wie L i p p o M e m m i zur Kunst i n
Siena steht, er stellt n ä m l i c h ihre letzte Blüte u n d den
A u s g a n g dar. Davids beste Bilder weisen eine g r o ß e E i n
heit der Komposition u n d eine Innerlichkeit der Aussage
auf. Pieter Bruegel der Ältere erweist sich, wie sein Vor
läufer Hieronymus Bosch, als ein großartiger Einzelgän
ger zwischen der christlichen Renaissance des 15. Jahr
hunderts u n d der weltlichen Renaissance i m Flandern
des 17. Jahrhunderts (Rubens, v a n D y c k u n d Jordaens).
Bruegel ist ein großartiger Prediger der menschlichen
S c h w ä c h e n u n d U n z u l ä n g l i c h k e i t e n ( Turmbau v o n Ba
bel, Schlaraffenland). Bruegels V e r k ü n d i g u n g ist zentral
biblisch, indem er n ä m l i c h das Heilsgeschehen fast i m
mer a m Rande seiner Bilder darstellt, u m z u zeigen, d a ß
der Mensch letzten Endes mit allem anderen beschäftigt
ist als mit seinem eigenen H e i l .
Die deutsche Schule erreicht ihre erste Blütezeit i n der
66
so lieblichen V e r k ü n d i g u n g Stefan Lochners v o n Köln.
Die ü b e r r a g e n d e Gestalt deutscher religiöser Kunst u n d
einer der g r ö ß t e n religiösen Maler aller Zeiten aber ist
Matthias genannt G r ü n e w a l d . Sein Isenheimer Altar ist
durch eine direkte u n d realistische A u s p r ä g u n g religiö
ser Gestaltung u n d ein fast überirdisches Verständnis
des Geheimnisses v o n Jesu Auferstehung charakteri
siert. G r ü n e w a l d s Benutzung der Farben zeigt die H a n d
eines erstklassigen Meisters. Immer wieder neu s p ü r e n
w i r die N ä h e u n d Echtheit des religiösen Geschehens.
Lukas Cranach der Ältere, Luthers Freund u n d Maler,
ist mit Altdorf er G r ü n d e r der sogenannten Donauschule,
der ersten Landschaftsschule der Malerei. Cranachs un-
bezweif elte Stärke liegt i n der poetischen, schimmernden
Gestaltung des deutschen Waldes u n d der Freiheit, mit
der er Farben, besonders von Haaren, malt. Cranach m u ß ,
anders als Bellini u n d Raphael, u m die Einheit seiner Dar
stellungen k ä m p f e n . Das gelingt i h m am besten i n der
Zeit v o n Luthers g r o ß e n reformatorischen Schriften
w ä h r e n d der 20er Jahre des 16. Jahrhunderts.
Albrecht D ü r e r ist mit Recht b e r ü h m t , erstens, w e i l er
sich die vollendete Darstellungskunst der italienischen
Renaissance z u eigen gemacht hat; vor allem i n seinen
b e r ü h m t e n 4 Aposteln. Zweitens war D ü r e r mit Rem
brandt der größte graphische Künstler; beide waren z u
tiefst reformatorisch geprägt. Drittens ist D ü r e r einer der
g r ö ß t e n Porträtmaler. Viertens ist D ü r e r wie der strenge
Poussin ein Meister der Wasserfarben, u n d zwar i n nicht
so strenger, sondern poetischer Gestaltung.
67
dieser g r o ß e n Maler, zeigt einen so spontanen u n d erfri
schenden Pinselstrich, d a ß seine Methode sogar die er
sten modernen M a l e r i n A m e r i k a i m 20. Jahrhundert
beeinflußt hat. Rembrandt ist sicherlich nicht nur der
zentrale Maler dieser Zeit, sondern viele w ü r d e n sagen,
der wichtigste christliche M a l e r aller Zeiten. M i t seiner
Hell-dunkel-Methode weist er auf die Dunkelheit der
menschlichen S ü n d e hin u n d das helle Licht Jesu, das
diese Dunkelheit erleuchtet. Rembrandt ist der größte
psychologische M a l e r i n seiner Darstellung biblischer
Szenen. Seine reifen Werke bezeugen wie die Kunst G r ü
newalds die Geheimnisse v o n Gottes Wegen. A l l e seine
Darstellungen, auch nicht a u s d r ü c k l i c h religiöse, haben
eine tiefe religiöse Aussage. Seine b e r ü h m t e n Selbstbild
nisse bezeugen sehr selten eine V e r s c h ö n e r u n g seines
Gesichts, sondern sie offenbaren seine innerliche, geist
liche Welt u n d entblößen zugleich sein eigenes Ausse
hen. Das Licht, welches hier immer durchschimmert,
w i l l die Gnade Gottes an i h m als verlorenen Menschen
bezeichnen.
Es gibt nicht nur bei Rembrandt religiöse Kunst, die
keine religiösen Szenen darstellt. Ich denke hier auch an
Pieter de H o o c h u n d an Jakob v a n Ruisdael. De H o o c h
malte mit dem g r o ß e n Jan Vermeer z u r gleichen Zeit i n
Delft. Ihre Darstellungen zeigen oft eine Frau i n ihrem
Zimmer. Bei Vermeer, d e m g r o ß e n psychologischen
weltlichen Maler sieht man das Gesicht dieser Frau fast
nie frontal, sondern ein k ü h l e s Licht beleuchtet die Ge
g e n s t ä n d e ihre Z i m m e r s i n einem abgeschlossenen
Raum. H i e r ist Porträtmalerei auf ihrem h ö c h s t e n u n d
subtilsten N i v e a u . Denn durch die Darstellung der Ge
g e n s t ä n d e ihres Zimmers zeigt uns Vermeer die innere
Welt u n d damit das wahre Gesicht dieser Frau. Peter de
Hooch, ein gleichwertiger Meister i n seinen besten Wer-
68
ken, behandelt die gleiche Szene aus einer total anderen
Perspektive:
R a u m ist bei i h m fast immer unbegrenzt, u n d das
Licht sättigt i n einer geheimnisvollen A r t die ganze Sze
ne. D a z u atmen seine besten Bilder eine tiefe, innere Stil
le, u n d zwar die Stille, welche w i r Christen i m Gebet
erfahren. De Hoochs Religiosität zeigt sich auch i n dem
unendlichen R a u m w i e das G o l d i n früher christlicher
Kunst als H i n w e n d u n g z u Gottes unendlichem Reich
u n d durch das Licht, welches wie bei Rembrandt i n be-
z u g z u » d e m Licht« der Welt z u sehen ist. Jakob van
Ruisdael, sicherlich einer der größten Landschaftsmaler,
bringt eine tiefe u n d dunkle Stimmung i n seine Bilder.
Wer seine Kunst gut kennt, bemerkt fast immer an der
Seite einen a b g e s ä g t e n Baum, fast stellvertretend für sei
ne Unterschrift. Ich denke sofort an die großartige Ver
k ü n d i g u n g unseres Todespsalms 39: »Herr, lehre mich
bedenken, d a ß ich sterben m u ß , auf d a ß ich klug werde«.
Im Zusammenhang mit den Errungenschaften der
holländischen Kunst des 17. Jahrhunderts u n d ihrer tie
fen religiösen Aussage wollen w i r hier Frankreichs größ
ten religiösen Maler, George de la Tour, nennen. Erst 1913
w u r d e n die Werke dieses französischen pietistischen
Bauernmalers wiederentdeckt. E r ist ein Zeitgenosse
Rembrandts. Diese g r o ß e Kunst des 17. Jahrhunderts, ob
weltlich oder christlich, speist sich letzten Endes aus der
gleichen Quelle, n ä m l i c h aus Caravaggio, dem G r ü n d e r
einer realistischen Kunst u m 1600. Niemals i n der Ge
schichte der Kunst hat jemand so nah, so realistisch u n d
so treffend das biblische Geschehen dargestellt wie C a -
ravaggios. Bei seinem »Zweifelnden T h o m a s « kann man
Jesu Leib fast mitfühlen. Caravaggios » L i c h t / D u n k e l « -
Kontraste finden aber i n de la Tours Kunst vollständig
andere christliche Aussagen. Seine reifen Bilder sind fast
69
immer g e p r ä g t v o n Gebetsstimmung, v o n Licht u n d
Dunkel wie bei Rembrandt. A b e r durch ein Licht, das
meistens überschattet w i r d v o n einer H a n d (hier ist ein
weiterer Hinweis auf die stille, verhaltene Welt des Ge
bets) oder dieses Licht kommt wie manchmal i n der re
ligiösen Kunst des 17. Jahrhunderts direkt aus Jesus
selbst, als d e m Licht der Welt.
70
herrn i n den tropischen U r w ä l d e r n . Gauguin bezeugt:
Ich w i l l nicht nur das, was Gott geschaffen hat malen,
sondern mich selbst i n das Geheimnis des Schöpfungs
prozesses hineinmalen. D i e letzten Bilder dieses einma
ligen, modernen Meisters seit 1895, sind trotz seines to
tal verkehrten Lebensstils Beweise einer unvergleichlich
tiefen Einfühlung i n die Stille des Geheimnises der Welt
Gottes. Unter den modernen M a l e r n hat vielleicht nur
Caspar D a v i d Friedrich, ein b e w u ß t e r lutherisch-christ
licher Maler, diese Tiefe erreicht.
71
Israel mit durch das Meer zur Befreiung zieht u n d i n sei
ner w e i ß e n K r e u z i g u n g 1938, i n d e m der gekreuzigte
Jesus als »Judenkönig« seine s c h ü t z e n d e n H ä n d e ü b e r
ein i n Flammen stehendes jüdisches Dorf hält. Aber trotz
seines christologischen Tiefgangs u n d seines Mitgefühls
für alttestamentarische Gestalten wie Jeremía bleibt Cha
galls Kunst für mich z u stark i m Sinnlichen verhaftet, u m
die tiefsten Dimensionen des biblisch religiösen Gesche
hens z u durchleuchten. Vielleicht ist i n diesem Sinne
mein (jetzt toter Freund) Mordecai A r d o n als tiefsinniger
jüdischer Maler noch bedeutender.
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VI. Lyrik - die innere Stimme
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originale Bildersprache, eine innere u n d bewegte M u s i
kalität. A u ß e r d e m hatte dieser Dichter einen erstklassi
gen Kopf. K u r z nach dieser Lesung schickte ich i h m ei
nige meiner Gedichte, u n d was er zurückschrieb, blieb
zentral für mich, für mein ganzes Leben. Der Brief ist lei
der verloren gegangen, aber der Inhalt war: »... ich k ö n n
te Ihnen Komplimente geben, aber wichtiger ist: Sie soll
ten lernen, ihr eigener härtester Kritiker z u w e r d e n . «
Sehr viele meiner Gedichte habe ich weggeworfen, u n d
andere habe ich auf ihren wesentlichen K e r n reduziert.
Das zentrale M e r k m a l meiner L y r i k ist sicherlich K o m
primiertheit; ich m ö c h t e möglichst alles auf das Wesent
liche reduzieren. W ä h r e n d ich mich formal am klassi
schen Ideal orientierte, w a r der Inhalt meiner L y r i k
immer geheimnisvoll. Ich schrieb nicht ü b e r etwas, son
dern Seinsgedichte, innere Epiphanien, w i e Yeats solche
Gedichte nannte.
M e i n e L y r i k durchlief verschiedene Phasen, auch
w e n n die Komprimiertheit, der Versuch, B i l d , M u s i k
u n d Gedanken einheitlich a u s z u d r ü c k e n , i m m e r das
Zentrum blieb. V o n meinen ersten Gedichten bis 1958,
bis z u meinem 21. Lebensjahr, blieb nur eine Gruppe v o n
Gedichten, mit denen ich an der Universität Michigan ei
nen H o p w o o d Preis gewonnen hatte. Wenige v o n diesen
Gedichten habe ich s p ä t e r i n meinen Büchern veröffent
licht, aber Teile v o n verschiedenen i n neuen Z u s a m
m e n h ä n g e n . Diese Gedichte erstrebten Einfachheit, Klar
heit i n einer dunklen Zeit i n meinem Leben. Bei mir, u n d
ich glaube bei vielen K ü n s t l e r n , strebt die Kunst i n die
entgegengesetzte Richtung v o n ihren derzeitigen Erleb
nissen. So suchte ich i n der dunklen, schweren Zeit mei
nes Lebens Klarheit, Reinheit a u s z u d r ü c k e n , u n d i n den
s c h ö n s t e n Jahren, i n meiner jungen u n d glücklichen Ehe,
schrieb ich dunkle, expressionistische Gedichte, die Ge-
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fühle vor allem dieser dunklen Jahre a u s d r ü c k t e n . M e i n
erstes Buch »Conf ormed to Stone« u n d mein drittes Buch
»In The Glass of Winter« bezeugen diese dunkle expres
sionistische Phase i n einer Zeit, als ich u . a. N e l l y Sachs
u n d Paul Celan las. Sicherlich spielt i n meinem Bewußt
sein als Jude das Dritte Reich auch eine gewisse Rolle.
Meine reifen Gedichte habe ich 1966 angefangen z u
schreiben, nachdem meine Doktorarbeit u n d Doktor
p r ü f u n g vorbei waren, u n d diese zentrale Phase i n mei
ner Lyrik, i n der die meisten meiner Bücher entstanden,
dauerte bis ca. 1980. D a n n h ö r t e ich fast ein Jahrzehnt
lang auf, Lyrik z u schreiben. Meine Gemeinde, meine
theologischen Bücher waren i n dieser Zeitspanne i m
Zentrum meiner Tätigkeit. Allerdings war diese Pause
verhängnisvoll für die Rezeption meiner Lyrik. Bis 1980
war ich i n England u n d A m e r i k a als Lyriker ziemlich be
kannt. Aber meine z w e i Verlage h ö r t e n i n dieser Zeit auf,
u n d als ich 1989/90 nochmals anfing, Lyrik z u schreiben,
hatte ich mit wenigen Ausnahmen weder Verlage noch
Zeitschriften zur Verfügung. A u ß e r einer kleinen Zeit
schrift, die meiner Lyrik eine N u m m e r widmete, gibt es
bis jetzt k a u m M ö g l i c h k e i t e n , meine Gedichte z u
drucken. Ich hoffe, d a ß sich mit der Zeit i n dieser Rich
tung etwas Neues ergeben w i r d , denn Lyrik war u n d ist
das Zentrum meiner schöpferischen Tätigkeit. Ich hoffe
u n d glaube auch, d a ß meine poetische Begabung genug
zur Geltung kommt i n meinen deutschen Gebeten.
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des Bewußtseins. Ich fange an, die Dinge u m mich her
genauer, tiefer z u bemerken. Alles was ich dann sehe,
w i r d z u m Gleichnis. E i n Beispiel: Ich sah i m Spätherbst
am Fenster Beeren v o n 2 Farben, rot u n d w e i ß , u n d so
fort k a m der Gedanke an Kreuzesblut (rot), welches z u m
gereinigten K l e i d (weiß) i n seinem Reich führen w i r d .
Meine Gedichte haben wie die Bilder v o n Vermeer u n d
de H o o c h sehr viel mit den G e g e n s t ä n d e n i n meinem
Z i m m e r z u tun, oder besser gesagt, mit der Stille, welche
diese G e g e n s t ä n d e u m h ü l l t . Zentrale Begriffe, die i n der
L y r i k durch die Jahrhunderte benutzt werden, k o m m e n
auch i n meiner Lyrik vor, aber i n total anderen Z u s a m
m e n h ä n g e n . Meine Lyrik ist wie meine ganze Person i n
allem, was ich tue u n d denke, ein K a m p f gegen das K l i
schee, gegen die A r t u n d Weise, wie man gelernt hat z u
sehen u n d sich a u s z u d r ü c k e n . E i n Kritiker hat m i c h ei
nen neuen metaphysischen Dichter genannt. E i n anderer
sah mich als einen originalen Erneuerer der englischen
Sprache. E i n anderer betonte, d a ß meine Lyrik nach ei
nem inneren, vollkommenen Paradies sucht, aber einer
eigenen Welt, die i n sich selbst geschlossen ist. Meine B i l
der, ihre Z u s a m m e n h ä n g e dringen, hoffe ich, i n die ge
heimnisvolle Welt der Schöpfung ein, w i e G a u g u i n u n d
Klee es i n ihrer Malerei versuchten. Ich b i n nie zufrieden
mit einem Gedicht, bis alles, w i r k l i c h alles reduziert ist
auf das Wesentliche, so d a ß die Pausen zwischen den
W ö r t e r n auch sprechen, wie die Stille zwischen den Tö
nen i n Joseph H a y d n s langsamen Sätzen. A l l e meine Ge
dichte spiegeln die geheimnisvolle Gegenwart Gottes,
wie die G e m ä l d e Caspar D a v i d Friedrichs oder die Ge
dichte meines deutschen Lieblingsdichters Eichendorff.
Weil i c h Lyriker bin, ist das lyrische (wie natürlich auch
das christliche) zentral für m i c h auch i n anderen K ü n
sten. G u a r d i u n d Corot g e h ö r e n z u den poetischen M a -
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lern, u n d die beiden g e h ö r e n z u meinen Lieblings
malern. M e i n Geschmack i m Roman ist nicht g e p r ä g t
v o n sozialer u n d politischer Relevanz, sondern ebenso
v o m Poetischen, i n diesem Sinne v o n der inneren Bezie
hung zwischen Menschen u n d ihrer nichtmenschlichen
Umgebung. Turgenjew, Adalbert Stifter, Willa Cather,
Joseph Roth, Thomas Hardy, Herman Melville u n d vor
allem Leo Tolstoi sprechen m i c h i n diesem Sinne beson
ders an.
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VIL Menschenkenntnis -
moderne Psychologie - die Bibel
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5. Eine wahre Quelle psychologischer Kenntnisse ist
die Porträt- u n d Selbstporträt-Malerei.
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halten wie die Naturwissenschaft strengen Gesetzen un
terworfen ist. W i r wissen aber jetzt, durch das Werk v o n
Werner Heisenberg u.a., d a ß sogar naturwissenschaftli
che Beobachtungsweisen nicht völlig objektiv sind. Jeder
Psychologe ist selbst ein sehr begrenztes u n d subjektives
Produkt seiner Zeit, seiner Erziehung u n d vor allem sei
ner Vererbung. Unsere Sicht v o n anderen w i r d deswe
gen immer subjektiv sein. U n d das wissen w i r Histori
ker zumindest seit der Zeit v o n Croce u n d Dilthey.
Zweitens hat Freud i n gewisser Weise das umfas
sendste totalitäre System des 20. Jahrhunderts ent
wickelt. Denn sein fast göttlicher Therapeut hat absolu
te Vollmacht ü b e r seine Patienten, sogar bis i n ihre Träu
me u n d Sprachfehler hinein. Die Versuchung der Macht
ist hier nicht v o n der H a n d z u weisen. Die Psychologie
Adlers u n d vor allem Viktor Frankls erscheint m i r posi
tiver, w e i l A d l e r auf soziale Relevanz wertlegt u n d
Frankl die Sinnfrage i n den Mittelpunkt stellt.
Gute Psychologie sollte folgendes enthalten:
1. E i n Wissen, d a ß jeder Mensch, jede Zeit, jede Klas
se u n d sogar jedes Volk eine andere Psychologie hat. Das
bedeutet, d a ß es keine allgemein menschliche N a t u r gibt
oder geben kann.
2. In dieser Bescheidenheit sollte man versuchen, nicht
W u n d e n der Vergangenheit aufzureißen, welche viel
leicht nicht z u schließen sind. Freud selbst war - i n der
Nachuntersuchung seiner »erfolgreichen Therapie«
(1937) erschrocken, als er feststellen m u ß t e , d a ß viele sei
ner Patienten i n Nervenanstalten waren. Seine Schluß
folgerung war: Ich habe es u n m ö g l i c h gemacht, für die
se Patienten neurotisch z u bleiben u n d sie waren leider
unfähig, normal z u werden. In diesem Sinne sind Adlers
u n d Frankls Ansatz viel besser, positiv, g e g e n w ä r t i g u n d
zukunftsbezogen.
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3. Eine gute Psychologie sollte gegenwarts- u n d z u -
kunftsbezogen u n d sehr praktisch orientiert sein. Die
positiven Eigenschaften des Patienten sollten s t ä n d i g
gefördert werden. So rief mich z.B. ein Glaubensbruder
an u n d sagte: »Herr Pfarrer, ich merke, d a ß ich manch
m a l z u v i e l trinke«. E i n Alarmzeichen, das ernst ge
nommen werden m u ß . E i n Aspekt der Hilfe k ö n n t e die
Frage sein: »Was tun Sie i n Ihrer Gemeinde i m Sinne
Jesu? Wie k ö n n e n Sie anderen mehr helfen?« Es ist eine
uralte menschliche Weisheit, d a ß , w e n n w i r mit den
Problemen anderer konfrontiert werden u n d helfen,
d a ß dann unsere eigenen Probleme mehr u n d mehr i n
den Hintergrund treten. D a z u ist es eine uralte christli
che Erkenntnis, d a ß es drei Machtbereiche i n dieser Welt
gibt:
a) A m niedrigsten stehen wir.
b) Ü b e r uns u n d i n uns sind die stärkeren satanischen
Kräfte des Bösen.
c) Aber ü b e r diesen M ä c h t e n herrscht der allmächtige
Gott.
Deswegen wollen w i r lernen v o n solch klassischen
Werken w i e Kleists »Michael Kohlhaas« u n d Melvilles
»Moby Dick«, d a ß , wer frontal gegen das Böse kämpft,
der w i r d selbst v o m Bösen vereinnahmt werden. N e i n ,
w i r m ü s s e n auf Christus bauen i m Gebet, durch sein
Wort, durch Buße, i n Liebeswerken; nur dann w i r d das
Böse ü b e r w u n d e n .
4. Wahre Psychologie g r ü n d e t sich nicht nur auf eine
Objektivität, die letzten Endes unerreichbar ist; w i r
k ö n n e n anderen nur helfen, w e n n w i r uns für diese
Menschen m i t f ü h l e n d engagieren. M a n kann das mit
Begriffen w i e Empathie u n d E i n f ü h l u n g s v e r m ö g e n be
schreiben. Ich kenne Menschen, denen sogar durch
falsche psychologische A n s ä t z e geholfen worden ist,
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w e i l ihr Therapeut w i r k l i c h mitfühlend u n d engagiert
für diese Person war.
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VIII. Zeit, Vergänglichkeit, Ewigkeit
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le meine Freunde sind weggezogen. Die s c h ö n e n H ä u
ser sind die gleichen. Die B ä u m e auch, aber wesentlich
höher.
Aber dieser altbekannte Ort, dieser Ort meiner K i n d
heitserinnerungen, die so wichtig sind für unsere Wahr
nehmung, für unsere innere Empfindung, ist m i r fremd
geworden. Die Menschen sind weggezogen. Diese Zeit
ist e n d g ü l t i g vorbei. U n d so ist der wahre Stoff unserer
Untersuchungen als Historiker nichts anderes als die
Vergänglichkeit, das, was war u n d was nicht mehr ist:
Menschen, Zeiten, Völker. U n d als Pfarrer ist die Ver
gänglichkeit Mittelpunkt unserer Tätigkeit. W i r taufen,
w i r trauen, w i r beerdigen. W i r sind a m Puls des Lebens,
aber damit am Puls der Vergänglichkeit. U n d der Tod ist
letzten Endes der g r ö ß t e Verkündiger. »Herr lehre mich
bedenken, d a ß ich sterben m u ß , auf d a ß ich k l u g werde.«
Durch den Tod geliebter Menschen kommen mehr M e n
schen z u m Glauben an den lebendigen Gott Israels Jesus
Christus, als durch die Erkenntnis des Geheimnisses des
Lebens oder des Geheimnisses der Liebe, welche auch
beide Jesus Christus heißen.
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die Liebe, die Gerechtigkeit, den Sinn u n d das Z i e l jüdi
schen Leidens.
Ja, ich merke nun: Jaffin, mehr als die Hälfte deines Le
bens ist vorbei u n d i n so einer verwirrten Welt u n d auch
durch die Erkenntnis meiner eigenen Unzulänglichkeit
u n d trotz meiner sehr guten Ehe u n d meiner so aktiven
Berufung i m H e r r n erlebe ich manchmal Sehnsucht nach
einer besseren Zeit, einer besseren u n d gerechten Welt.
Damit lernen w i r Christen, nicht z u r ü c k z u s c h a u e n , son
dern v o r w ä r t s z u blicken, z u Christus unserem gekreu
zigten, e r l ö s e n d e n u n d auferstandenen H e r r n u n d z u
seinem Reich.
Ich stelle mir jetzt die Zeit meines Sterbens vor. Ich
m u ß schweigen u n d für einen Jaffin ist das das Schwie
rigste, denn ich habe dem H e r r n nichts vorzubringen.
Keine Werke, kein Verdienst. Alles, was gut i n m i r war
u n d ist, kommt v o n i h m u n d das Schlechte, das ist der
verlorene Mensch, der A d a m , der Jakob i n m i r selbst.
U n d so heiße ich, D a v i d (der Liebling), Jakob (der Be
trüger), denn ich lebe wie jeder mit Selbstbetrug, indem
ich immer wieder versuche, meinen Willen durchzuset
zen, meine Wege z u gestalten. Aber z u Jakob gehört Is
rael: »Ich lasse dich nicht, d u segnest mich d e n n « . U n d
ich bete, d a ß der H e r r m i r die Kraft geben w i r d , immer
wieder neu stille z u i h m z u werden i m Gebet, durch sein
Wort, es führt mich z u der Stille Gottes, z u seiner Zeitlo-
sigkeit u n d w i r d m i r die Kraft geben, m i r sein Reich, die
Zukunft, die zeitlose Zukunft als mein Z i e l immer wie
der neu vor A u g e n z u halten.
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IX. Nachwort
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zen, hat, wer ein A u g e u n d ein O h r hat für das Schöne i n
der Natur u n d i n der Kunst, wer ü b e r sich selbst immer
wieder neu humorvoll lachen kann, der m u ß glücklich
sein, u n d so ende ich dieses Buch mit einem einfachen
Gebet: » H e r r Jesus Christus, ich danke dir dafür. Amen.«
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X . Bibliographie
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11. For The Finger's Want of Sound, Shearsman Interna
tional Poetry Magazine, Plymouth, England, 1982 - L y
rik.
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21. Josua, Verlag der Liebenzeller Mission, Bad Lieben
zell, 1989 - Biblische Vorträge.
90
31. Was erwartet uns, herausg. v o n D a v i d Jaffin, Verlag
der Liebenzeller M i s s i o n , Bad Liebenzell, 1991 - Bibli
sche Vorträge.
91
Johannis, Lahr, 1993 - Psalmen - Auslegun
gen II.
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52. Sei nur stille z u Gott, meine Seele, Verlag Johannis,
Lahr, 1996 - Psalmen - Auslegungen III.
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David Jeffin
D a v i d Jaffin
»... und geh in ein Land,
das ich dir zeigen werde«
». ..undgeh TELOS-Paperback 72 371
in ein Land, 104 Seiten
das ich dir
zeigen will« D M 14.80/öS 116.-/sFr 15.60
Autnhingraphixthf Anmerkungen
I S B N 3-501-01250-0
ISBN 3-501-01322-1