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Entstehung: 1909, Briefbelege über die Arbeit ab dem 20. August 1909, rasche Vollendung, Entwurf und
Instrumentation liegen also zeitlich nahe beieinander
Widmung: "Arnold Schönberg/ meinem Lehrer :und Freund in höchster Liebe".
UA: durch Arnold Schönberg im Wiener Skandalkonzert vom 31. März 1913 im Großen Saal des Wiener
Musikvereins, damals noch als op. 4 bezeichnet.
Besetzung: 4 Flöten (3. und 4. Fl. auch 1. und 2. Piccolo und 1 Alt-Flöte in G), 2 Oboen, 2 Englisch Hörner, 3 Klarinetten in B (3. Klar. in Es), 2
Bassklarinetten in B, 2 Fagotte (2. Fag. auch Kontrafagott), 6 Hörner in F, 6 Trompeten in B, 6 Posaunen, Basstuba, 2 Harfen, Celesta, 3 Timpani,
Triangel, Glockenspiel, Rute, Becken, Tamtam, Kleine Trommel, Große Trommel, Tiefes Glockengeläute, Streicher.
Fassungen:
o 2. Fassung für Kammerorchester (Flöte, Oboe, Klarinette, Harmonium, Klavier, Schlagzeug,
Streichquintett) für den 1919 von Schönberg gegründeten "Verein für musikalische
Privataufführungen".
o 3. Fassung im Sommer 1928 (zwischen Anfang August und 4. September), Besetzung: 2 Flöten
(Picc.), 2 Oboen, 3 Klarinetten, 2 Fagotte (Kontrafagott), 4 Hörner, 4 Trompeten, 4 Posaunen,
Tuba, Harfe, Celesta, Schlagzeug, Streicher. Webern äußert sich dazu am 20. August 1928 an
Schönberg brieflich wie folgt: "Nun fällt alles Extravagante (Altflöte), 6 Posaunen für ein paar
Takte usw.). Jetzt kann ich alles viel einfacher darstellen [ ... ]" Am gleichen Tag bezeichnet er
gegenüber Alban Berg die neue Partitur "wie eine alte Haydn-Partitur" (zitiert nach: H. und R.
Moldenhauer, Anton Webern, S. 113)
Kompositionsgeschichtliches Umfeld
Webern informiert Schönberg am 30. August 1909 brieflich über die Arbeit an den Orchesterstücken. Die
Entstehung fallt in die Phase nach dem beruflichen Misserfolg im Frühsommer des Jahres und der 'Flucht'
aus dem Innsbrucker Kapellmeisterengagement ("Es ist schrecklich! Und überhaupt, was habe ich mit so
einem Theater zu tun ... " H. und R. Moldenhauer, Anton Webern, S. 93)
Vorläufer und zugleich Vorbilder für Anton Webern und seine Sechs Stücke für Orchester op. 6 (1909) sind
Mahler und Schönberg gewesen, bei Letzterem insbesondere die im gleichen Jahr erschienen Fünf
Orchesterstücke op. 16, die im Übrigen auch für Bergs Drei Orchesterstücke op. 6 (1914) und für das
dritte der Altenberglieder nach Besetzung und Faktur eine wichtige Rolle spielen.
Auch der Tod der Mutter im September 1906 belastete Webern immer noch. Webern teilt am 13. Januar
1913 Schönberg den Stimmungsgehalt der Orchesterstücke mit (vgl. unten 9. Quellentexte, Zur
Entstehungsgeschichte, 4). Auch der offizielle Programmtext einer 1933 für das Dortmunder
Tonkünstlerfest angesetzten und abgesagten Aufführung bekräftigt diesen Kontext.
Schönberg vollendete am 23. Mai 1909 seine "Fünf Orchesterstücke op. 16", die 1912 auf Wunsch des
Verlegers assoziative Titel erhalten:
1. Vorgefühle, 2. Vergangenes, 3. Farben, 4. Peripetie, 5.Das obligate Rezitativ.
3. Periode (op. 12-19): Die polyphonen Verfahren werden wieder einbezogen. Doch ist darin mit
Adornos Worten "eine Rückkunft ohne Zurückweichen" zu sehen. Ab op. 17 datiert die
Auseinandersetzung mit der Zwölftontechnik.
4. Periode (ab op. 20, 21): Die Reihe wird - oft spiegelsymmetrisch - in Einheiten von 2-4 Tönen
unterteilt, die gewissermaßen als "Mikroreihen" fungieren können und eine besondere strukturelle
Bedeutung gewinnen. Reihentechnische, kanonische, spiegelsymmetrische, variative Prinzipien
koinzidieren in einem äußerst komplexen und zugleich transparenten Satz"
bedeutungsvollen Stelle im Walde pflückte und auf die Bahre legte." "Das vierte Stück habe ich
nachträglich marcia funèbre überschrieben. Nach heute verstehe ich nicht meine Empfindung, als ich
hinter dem Sarge zum Friedhof gieng. Ich weiß nur, dass ich den ganzen Weg hoch aufgerichtet gieng,
vielleicht um in weitem Umkreis alles niedrige zurückzubannen ... " Zum 5. Satz: "Der Abend nach dem
Begräbnis war wunderbar. Ich gieng mit meiner Frau nochmals hinunter am Friedhof und ordnete dort die
Kränze u. Blumen am Grabhügel. Ich hatte immer das Gefühl einer körperlichen Nähe meiner Mutter, ich
sah sie freundlich lächeln, es war auf Augenblicke eine selige Empfindung." Zum 6. Satz: "zwei Sommer
darauf war ich endlich andauernd wieder auf unserem Besitz, damals als ich Ende des Sommers diese
Stücke schrieb. Ich war täglich gegen Abend am Grabe. Oft schon in tiefer Dämmerung." (Webern an
Schönberg in einem Brief vom 13. Januar 1913, wenige Wochen vor der Uraufführung; zitiert nach: H. und
R. Moldenhauer, Anton Webern, S. 112)
"Für das Konzert ist alles in Ordnung. Die Instrumente werden alle beschafft; auch die Alt- Flöte. Die
kommt aus Deutschland, und einer von der Oper wird sie spielen. Ein solcher Aufwand wegen der paar
Takte! Ich habe fast Gewissensbisse, aber ich freue mich doch sehr." (Webern an Schönberg am 17. März
1913; zitiert nach: H. und R. Moldenhauer, Anton Webern, S. 154)
"Weg vom Pathos! Weg von den 24pfündigen Dauermusiken; von den gebauten und konstruierten
Türmen, Felsen und sonstigen gigantischem Kram. Meine Musik muss kurz sein. Knapp! in zwei Noten:
nicht bauen, sondern 'ausdrücken'! ! Und das Resultat, das ich erhoffe: keine stylisierten und sterilisierten
Dauergefühle. Das giebts im Menschen nicht: dem Menschen ist es unmöglich nur ein Gefühl gleichzeitig
zu haben. Man hat tausende auf einmal ... Und diese Buntheit, diese Vielgestaltigkeit, diese Unlogik, die
unsere Empfindungen zeigen, diese Unlogik, die die Associationen aufweisen, die irgend eine
aufsteigende Blutwelle, irgend eine Sinnes- oder Nerven-Reaktion aufzeigt, möchte ich in meiner Musik
haben. Sie soll Ausdruck der Empfindung sein, so wie die Empfindung wirklich ist, die uns mit unserem
Bewusstsein in Verbindung bringt, und nicht ein Wechselbalk aus Empfindung und 'bewußter Logik'."
Schönberg im August 1909 an Ferruccio Busoni mit Blick auf seine Klavierstücke op. 11; zitiert nach: Hans-Heinrich Eggebrecht:
Musik im Abendland, München 1991, S. 788.
" ... meine kleine Sachen ... sind Extrakte! Extrakte des Lebens. Das Leben der Seele und des zufalligen
Tages, in 2-3 Seiten eingedampft, vom Überflüssigen befreit wie das Rind im Liebig-Tigel! Dem Leser
bleibe es überlassen, diese Extrakte aus eigenen Kräften wieder aufzulösen, in genießbare Bouillon zu
verwandeln, aufkochen zu lassen im eigenen Geiste, mit einem Worte sie dünnflüssig und verdaulich zu
machen. Aber es gibt 'geistige Mägen', welche Extrakte nicht vertragen können ... Sie bedürfen 90 Prozent
Brühe, Wässrigkeiten. Womit sollten sie die Extrakte auflösen?! 'Mit eigenen Kräften' vielleicht? So habe
ich viele Gegner, ... ganz einfach! Schwer verdauende! ... Und dann, ich halte dafür: Was man 'weise
verschweigt', ist künstlerischer, als was man 'geschwätzig ausspricht'. Nicht?! Ja, ich liebe das 'abgekürzte
Verfahren', den Telegramm-Stil der Seele!" aus: Peter Altenberg: Was der Tag mir zuträgt (1901); zitiert nach: Hans-
Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland, München 1991, S. 791.
"Alle Werke, die seit dem Verschwinden der Tonalität bis zur Aufstellung des neuen
Zwölftongesetzes geschaffen wurden, waren kurz, auffallend kurz. - Was damals Längeres geschrieben
wurde, hängt mit einem tragenden Text zusammen ... : Mit der Aufgabe der Tonalität war das wichtigste
Mittel zum Aufbau längerer Stücke verloren gegangen. Denn zur Herbeiführung formaler Geschlossenheit
war die Tonalität höchst wichtig. Als ob das Licht erloschen wäre! - so schien es." Anton Webern in seinen
"Vorträgen" bezogen auf die Situation um 1910; zitiert nach: Hans- Heinrich Eggebrecht: Musik im Abendland, München 1991, S.792
"Man hat diese musikalische Kurzprosa mangels
anderer Vergleichsmöglichkeiten öfter der Miniatur oder dem Aphorismus zugeordnet. Aber sie ist von
der einen Gattung soweit entfernt wie von der anderen, weil ihr sowohl der joviale Gestus einer dem
Niedlichen anempfundenen Kunst im -Taschenformat fehlt als auch die erhabene Nonchalance des, je
nachdem, tief- oder hochsinnigen, oft nur begonnenen, nie ganz zu Ende gespielten Puzzlespiels mit
Gedankensplittern. Die Sechs Stücke des Jahres 1909 sind komplexe und durchorganisierte, in sich
geschlossene Gebilde von größter formaler Stringenz. Kein Stückwerk also; aber auch kein amorphes
Gemenge im freien Stil der informellen Kunst. Ihre Kürze ist ein Ergebnis weniger der Aussparung als der
Verdichtung. (Vorwort zur Ausgabe in der Universal-Edition von 1961)
F. Kleinheins Anton Webern Op. 6 / 4
Nach Carl Dahlhaus (Webern, S. 208) wird hier die musikalische Form primär durch den Rhythmus geprägt.
T. 1-3: "Exposition" aus "modifizierten syntaktischen Einheiten" (Vordersatz- Nachsatz);
T.4-7: "komplementär-polyphone Fortspinnung";
T.8-14: Steigerungsabschnitt ("Eindruck eines dichten rhythmisch-klangliches Netz- oder Gitterwerks");
T. 15-19: "Eine Art Reprise mit umgruppierten Elementen". (Schweizer, S.26/27)
Rhythmische Strukturen (Carl Dahlhaus). (Im folgenden finden sich Auszüge aus: Carl Dahlhaus: Rhythmische Strukturen in Weberns
Orchesterstücken op. 6, in: C. Dahlhaus: 20. Jahrhundert. Historik - Ästhetik - Theorie- Oper - Arnold Schönberg (= Carl Dahlhaus:
Gesammelte Schriften, Bd. 8), Laaber 2005, S. 467-474)
Ausgangspunkt: "Die Apologetik der seriellen Musik stützt sich, um die Unterwerfung des Rhythmus - oder des Parameters Tondauer-
unter die Reihentechnik zu rechtfertigen und historisch zu begründen, auf das Argument, dass in der atonalen und dodekaphonischen
Musik der Rhythmus gleichsam, tonal' geblieben sei: Er habe Prinzipien bewahrt, die als Korrelate zur tonalen Harmonik entstanden seien,
so dass eine avancierte Tonhöhenstruktur in Widerspruch zu einer rückwärts gewandten, veralteten Rhythmik geraten sei - in einen
Widerspruch, den erst das serielle Verfahren, die Verallgemeinerung des Reihenprinzips, aufgehoben habe.
Die These von der Unstimmigkeit der Parameter in der atonalen und dodekaphonischen Musik ist jedoch zu grob, um der geschichtlichen
Wirklichkeit gerecht zu werden. So triftig sie für manche Zwölftonkompositionen, etwa das dritte und das vierte Streichquartett von
Schönberg, sein mag, so fragwürdig erscheint sie angesichts der frühen Atonalität, in der die Teilmomente der Komposition noch fast
immer gleich entwickelt waren [ ... ]. Der ,schwebenden' oder 'aufgehobenen' Tonalität, wie sie Schönberg in der Harmonielehre
beschrieben hat, entspricht in Werken wie den Orchesterstücken op. 6 von Webern eine ,schwebende' oder ,aufgehobene' Taktrhythmik,
in der gleichsam der Zerfall der Tradition auskomponiert ist. Und im Einzelnen sind die rhythmischen Strukturen nicht weniger verwickelt
und differenziert als die tonalen. Von einer inneren Ungleichzeitigkeit der Teilmomente des Tonsatzes -der Parameter in der Terminologie
der seriellen Musik- kann schwerlich die Rede sein." (ebd. S. 469)
Analyse von op. 6, Nr. 1 unter dem Aspekt der Verwendung "reiner Farben" (Joachim Kremer)
Ausgangspunkt: Eine Stelle aus Weberns Brief an Schönberg vom 30. August 1909 stellt den
Ausgangspunkt dar: "Ich schreibe einen Zyklus von Orchesterstücken, d. h. es ist halt so
geworden. 6 Stücke werden's. In der Instrumentation fast nur reine Farben. Wie's halt
kommt."
Wie verwendet Webern das Mittel der "Klangfarbe"?
Die Farbverwendung erfolgt in op. 6 blockartig, aber dennoch spielen nie alle Instrumente
zusammen.
Ein sinfonischer Vollklang, der in der Tradition sinfonischer Musik und im
speziellen eines ,Kopfsatzes' begründet sein könnte, ergibt sich kaum.
Insgesamt ist eine bewusste Klangökonomie festzustellen, die trotz der allgemein
festgestellten - im Vergleich zu op. 10 relativ starken- Blockhaftigkeit einen "transparenten
und höchst differenzierte Klangfarbenverteilung" (Fr. Döhl) anstrebt: Das Abwechseln der
Farben ist auch in der ,Klangregie' des gesamten Zyklus zu sehen: Folgende Besonderheiten
der Besetzung weisen auf den bewussten Einsatz von Klangfarben hin:
o Die Celesta spielt nur in Nr. 1, dann wenige Töne ein Nr. 2 und ebenso in Nr. 3, tritt
danach erst wieder in Nr. 5 hinzu, ebenso im Verlauf der Nr. 6. Ähnlich tritt das
Schlagzeug (Becken, Große Trommel, Rute) erst im Verlauf des Stücks Nr. 2 (nach
Ziffer 5) hinzu.
o Die Streicher spielen in der gesamten Nr. 4 nicht, statt dessen nur Bläser mit Schlagzeug, im
Verlauf des Stückes entsteht eine sukzessive Steigerung, die im reinen Schlagzeugklang, einem
Triller in den Pauken, der großen und kleinen Trommel und im dreifachen forte endet.
o Instrumente werden oft solistisch eingesetzt – dass Nr. 2 oft blockartig gesetzt ist, stellt keinen
Widerspruch dar, weil dort die blockhafte Verwendung im Sinne der Steigerungsform zu sehen ist
- , in besonderen Lagen und damit unter besonderen klanglichen Bedingungen und zudem oft mit
F. Kleinheins Anton Webern Op. 6 / 5
Spielanweisungen, die den Klang verändern (mit und ohne Dämpfer, pizz. und arco, am Steg, col
legno, Flageolett, Tremolo u.ä.)
Auch in einzelnen Sätzen ist diese durchdachte Klangsetzung zu sehen, die zugleich Zusammenhang stiftet und
damit auch formbildend wirkt:
Im ersten Satz wird zu Beginn in Takt 1 und 2 der Flötenklang durch die Celesta unterbrochen und vom
Klang der geteilten Violen und Celli weitergeführt, letztere gedämpft. Dies vermeidet jede orchestrale
Opulenz, jeden sinfonischen "Sound".
Zudem wird eine zweitaktige Geschlossenheit erreicht, die - wie aus der Ferne - an eine thematische
Figur erinnert, indem eine steigend - eröffnende Bewegung der Flöte durch eine fallende, beantwortet
wird, was Dahlhaus veranlasste, vom Andeuten eines Vorder- und Nachsatzes zu sprechen. Diese Figur
bewegt sich - unabhängig von dem Einwurf der Celesta - über einem liegenden Einzelton in der
gedämpften Trompete und dem ebenfalls gedämpften dritten Horn. Der durch beide Instrumente
gebildete Terzfall wirkt gemeinsam mit dem fallenden Bewegungsduktus der Flöte fast wie eine in sich
geschlossene und zugleich eröffnende Geste.
Solche eingangs gesetzten Farbwerte dienen auch Bildung einer Großform (sofern dieser Begriff
überhaupt trifft): Ab dem viertletzten Takt vollzieht sich nämlich ein ähnlicher Vorgang wie zu Beginn,
indem hier die zweimalige Triolenbewegung der gedämpften Trompete durch die Violen und Celli
unterbrochen werden. Dass dabei nicht exakt dieselben Farben quasi reprisenhaft - die Kürze dieser
Gesten weist darauf hin, wie unangebracht der Ausdruck hier wäre - gesetzt werden, zeigt, dass hier
nicht im Sinne einer Reprise gedacht wird, auch nicht im Sinne einer Entwicklungslogik. Nur Andeutungen
und keine exakte Analogie bilden hier den Zusammenhang, hier also gewissermaßen das Prinzip der
farblichen, komplementären Verschachtelung.
Und doch weist die unveränderte Wiederholung der Triolenbewegung, die im zweiten Fall durch einen um eine
Oktave nach unten versetzten Ton B abgeschlossen wird, auf den nun schlussbildenden Vorgang hin. Dieser ist
hier grundsätzlich verschieden vom eröffnenden Beginn, wo vor dem drängenden und raschen Klangaufbau, der
fast eine Art sinfonischer Steigerung suggeriert, ein klanglich extrem filigraner Ausgangspunkt gesetzt worden
war. Die bei unterschiedlichem Bewegungsgestus festzustellende klangliche Korrespondenz weist auf die
formbildende Klangdramaturgie des Stückes hin:
In dem insgesamt 19 Takte umfassenden Stück spielen in Takt 8-13 relativ viele Instrumente zusammen,
der Beginn und das Ende ist demgegenüber dünner besetzt, baut den Klang auf, bzw. ab.
Das Aufbauen ab Takt 4 erfolgt über eine solistische Verwendung der Klarinette, der Trompete, der tiefen
Harfe und des Violoncellos. Aus diesem vierstimmigen Band erwächst weniger die Klangsteigerung, als
dass sie durch den sukzessiven crescendo-Einsatz von Viola und 2. Violinen ab Takt 6 und 7 überwuchert
wird. Von Überwucherung zu sprechen, ist sinnvoll, weil jeder neue Einsatz in einer höheren Lage erfolgt
und im nun ohne Dämpfer zu spielenden Einsatz der 1. Violinen in Takt 9 gipfelt.
Trotz des vollen Klangs in Takt 8, ist aber Takt 9 der Höhepunkt, wo die 1. Violinen mit g''' einsetzen. Der
verhältnismäßig volle forte - Klang ab Takt 8 übertönt zwar das noch bis Takt 9 seine Linie fortsetzende
solistische Cello, das in diesen neuen Klangkomplex hineinragt. Demgegenüber hatten aber die anderen
drei Instrumente in dem Moment geendet, wo der sukzessive Einsatz beginnt.
Ab diesem Moment ist auch eine gänzlich andere Klangstrukturierung des Satzes zu finden: Parallele-,
bzw. colla-parte-Führung von Flöten und Oboen, Bassklarinette und Fagott, 1./2. und 3./4. Hörner, 2.
Violinen, die geteilt sind und Celli und Kontrabass.
Ab Ziffer drei wird diese Parallelführung von Instrumenten wieder aufgelöst. Die mit dem Aufbau des
Vollklangs zurückgedrängten Instrumente treten aber nicht wieder hinzu: Trotz Auflockerung des
Klangraums und des Klangspektrums tritt einen Takt nach Ziffer drei nur die Klarinette hinzu, das Cello
erlangt nicht wieder seine ehemalige Eigenständigkeit wie in Takt 4ff.. Harfe und Trompete erscheinen
erst verspätet bei Ziffer 4, und zwar klanglich extrem verändert, nämlich als glissando und die Trompete
gedämpft, wobei hier Harfe und Trompete den Part der Flöte von T. 1+2 übernehmen
Keine Symmetrie oder Rahmung ist deshalb festzustellen, und dennoch wirkt das Stück in sich gerundet,
die schlussbildende Triolenfigur der Trompete mit folgendem Harfenton leisten dies gerade über die im
Rückblick auf den Beginn entstehende Ambivalenz von Korrespondenz und Abweichung.
F. Kleinheins Anton Webern Op. 6 / 6
Aber es wird auch deutlich, wie Gestaltungsprinzipien der Themen- und Formbildung tradierter Symphonik in
äußerst andeutungsvoller Weise dem Hörer präsent sein müssen, um Korrespondenzen in diesem op. 6 Nr. 1 zu
entdecken, die selbst aber nicht Gegenstand des kompositorischen Anliegens sind. Friedhelm Döhls Aussage,
dass die "Komposition nicht mehr diskursiv (über logisches Denken zur Erfassung eines Sachverhalts gelangend) , sondern
konstellativ aus den reduzierten Elementen" entstünde, gewichtet dieses stete Rekurrieren (auf etwas zurückgreifen;
Bezug auf bereits Gelerntes nehmen) auf den im Hörer latent oder bewusst wirkenden Traditionshintergrund nur
schwach. . .
Motivisch-Thematische Struktur
Im Sinne einer entwickelnden Variation entsteht aus dem Anfangsgestus der Trompete (VS), welcher von
Trompete+Celesta (wenn man diese Instrumente als eine Einheit betrachtet) beantwortet wird ein "neuer"
klassischer Halbsatz, die beiden Phrasen sind in vielfältiger Hinsicht kontrastiv (Bewegungsrichtung, Tempo,
einstimmig-mehrstimmig usw.)
Takt 2+3 quasi als Nachsatz variiert die Trompete ihr Anfangsmotiv durch Intervallspreizung und
Richtungswechsel, die Celesta/Tr-Antwort wird nun von den geteilten Va/Vc übernommen, jedoch – wie bei
Brahms – hat sich das Motiv schon "entwickelt" es nimmt in sich die Auf- und Abbewegung auf.
Wir haben nun 4 Motive:
o (rasche) Auf- oder Abbewegung der Trompete
o Orgelpunkt (Tr)
o Zweitonmotiv der Celesta (Sekunde oder/und Terz)
o gedehnte Zick-Zack-Figur der Va/Vc
Diese vier Strukturen lassen sich sehr gut in den folgenden Takten in ihrer Entwicklung nachvollziehen.
Die Technik ist durchaus konventionell, das klangliche Ergebnis und die angestrebte klangliche Wirkung neu.
II. [bewegt]
"Es war ein schöner Tag, eine Minute lang glaubte ich ganz sicher, es sei nichts geschehn. Erst auf der Fahrt nach
Kärnten, es war der nämliche Tag, am nachmittag, erfuhr ich die Tatsache."
(zit. nach Maidenhauer, S. 112)
T. 1-2: "Zwei kreisende melodische Linien" in "rhythmisch
unruhigem Kontext" (Fagott), T. 6-9 (Flöten);
T. 9-12: Das Figurenwerk verselbständigt sich und fährt sich fest;
T.13-14: Klagefigur der Oboen;
T. 17, 19-21: Figur "entwickelt sich in den hohen Holzbläsern drängend weiter", bildet in T. 15/16 "scharf
abgehobene Kontrastgruppen" aus;
T. 22-27: Erstarrung "in extrem dissonanten Klangblöcken", abruptes
Abreißen am Schluss. (Schweizer, S. 27)
Die drei Sätze Weberns sind prinzipiell mit analogen Vorgehensweisen wie im 1. Satz beschrieben komponiert,
betonen jedoch jeweils andere Schwerpunkte
auch hier bestimmen wenige Motive, aus denen verwandte Motive mutieren das Satzbild:
o Legato-Bassklarinettenmelodie versus zufälliger,
o gesprenkelter Einwürfe der Bläser und Harfe, die eine aleatorisch anmutende Rhythmik ergeben
o Mini-Arpeggio des Fagotts, welche gleich in T. 2 von der 1. Posaune übernommen wird
T. 1 – 4 eine zweiteilige "Devise" (VS-NS) mit amorphem Vordersatz, gehalten von einer Melodie und
einem geschlossenem Nachsatz
prägend für den gesamten Verlauf ist die Dialektik "amorph"-"geschlossen", diese Gegenüberstellung
wird immer konturierter, T.11/12 frisst sich dieser Prozess fest, wird in T. 13 neu
aufgebaut und verhärtet in eine blockhafte Spaltung, die Gegensätze werden in
Besetzung, Länge der Abschnitte, Lautstärke extrem: Am Schluss ppp von Großer
Trommel und Peitsch als Gegensatz zu fff des Tuttis.
Die Unstetigkeit wird durch die Tempovorgaben plastischer
Nimmt man das Stück programmatisch, dann ist der Schock Weberns mehr als deutlich vertont.
III. [mäßig]
Das 3. Stück ist der Eindruck des Duftes der Eriken, die ich an einer für mich sehr bedeutungsvollen Stelle im
Walde pflückte und auf die Bahre legte."
Das kurze Stück ist von "kammermusikalischer Durchsichtigkeit" geprägt "als Folge einer durchbrochenen,
überwiegend solistischen Setzweise"; "Nirgends erhebt sich das Geschehen mit seinen lose gereihten ein- bis
zweitaktigen Melodiephrasen übers Piano"; "fortwährendes Changieren zwischen den Grundeinheiten Viertel und
punktiertes Viertel. "Man könnte von 'schwebender' Taktrhythmik, einem metrischen Analogon zur
,schwebenden' Tonalität sprechen." (Dahlhaus, Webern, S. 206)
Die Analyse zu III entspricht in wesentlichen Punkten Nr. I, wenn auch neue Klangstrukturen erreicht werden.
Taktes, weil er nicht pointiert, sondern zögernd gespielt werden soll. Der zurückhaltende Tonansatz entspricht
dem Ritardando. Nicht der Taktwechsel als Austausch des metrischen Grundmusters, sondern die Artikulation, die
er zur Folge hat, macht den Sinn der scheinbar sinnwidrigen Notation aus." (ebd. S. 471f.)
7. Rezeptionsgeschichtliche Dimensionen
a) Die Uraufführung erfolgte im berühmten Wiener Skandalkonzert von 1913. Dazu ein Augenzeugenbericht:
"Heute abend war ich bei dem Konzert, das Schönberg dirigierte. Gleich zu Anfang begannen die Leute, heißt ein
paar Leute, gröhlend zu lachen und zu schreien. Gesprochen und gerufen und herumgetrampelt wurde fort ohne
Pause. Die Canaillen hatten eben das Gefühl, dass es da jemand auf billige Weise zu schlachten gab, jemand
vogelfreien. Es war alles ganz natürlich, aber über die Maßen empörend zuzusehen. Leute, die mit Kunst so viel
zu tun haben, wie ich mit Kartenspiel, machten fortwährend Witze, die von den dazugehörigen Nachbarinnen für
glänzend gehalten wurden. Stellenweise glaubte ich aus der Haut zu fahren. Nach der Schönberg-Symphonie, die
mir trotz allem noch einen Eindruck von Macht und Kunstwerk machte, ging ein höllischer Lärm los, auf der 2.
Galerie wurden ein paar Leute nach harter Rauferei hinausgeworfen. Die Lieder von Berg wurden aus
unerfindlichem Grund durch schallendes Gewieher unterbrochen. Schon vorher hatte sich der Loos fast bis zu
Tätlichkeiten eingelassen. Schönberg schrie ins Auditorium Drohungen hinein. Man brachte die Lieder noch zu
Ende. Dann waren alle Grenzen offen. Leute forderten sich, wurden auseinander gerissen, brüllten, lachten,
pfiffen. Der Arthur Schnitzlerist mir gegenüber ruhig in der Loge 2 gesessen. jemand rief dem Publikum zu, sich
gesittet zu benehmen oder zu gehen. Einer schrie 'Lausbub' zurück. Der erstere sprang hinunter und in den
Haufen und haute dem vermeintlichen Schimpfer eine mächtige Ohrfeige herunter. Der ganze Saal verfolgte
diese Handlung gespannt. dann wieder Gejohle. Ein uniformierter Kommissär schrie irgend etwas. Jetzt erscheint
mir alles komisch, aber dort zitterte ich am ganzen Leib vor Wut. - Die Musiker verließen den Saal, dem Pöbel war
es gelungen, das Konzert zu sprengen. Unten wurde über irgend ein Ding gestritten. Oskar Strauss spielte den
Vermittler. - Das Publikum ist eine feige, kunstfremde und kunstfeindliche Bestie, die sich das ihr auferlegte
Kuschen vor dem Anerkannten, durch dieses Niederbrüllen, durch diese Hetze des Vogelfreien entschädigt."
(Augenzeugenbericht des Architekten Richard Neura; zitiert nach: H. und R. Moldenhauer, Anton Webern, S. 602,
Am. 8) .