Sie sind auf Seite 1von 140

2

3
EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 2
19
ENTEIGNUNG ALS GESCHÄFTSMODELL
SOZIALEN WOHNUNGSBAU ANDERS MACHEN GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019
2015
KLEINGÄRTEN UND KLASSENKAMPF
WIE LEBEN IN RECHTEN RÄUMEN?

LUXEMBURG
MIETER*INNEN GEGEN IMMOBILIENKONZERNE
SCHÖNER WOHNEN  MARGIT MAYER | ANDREJ HOLM | INGO SCHULZE
SCIENCE FICTION UND URBANE REALITÄT
KATALIN GENNBURG | KNUT UNGER | GRETA PALLAVER | ARMIN KUHN
WENDEZEIT – WER SCHREIBT GESCHICHTE?
ULRIKE HAMANN | REMZI UYGUNER | BEA FÜNFROCKEN | CHRISTOPH
ISSN 1869-0424 TRAUTVETTER | ERASMUS SCHÖFER | MARIEKE PREY | JAN SAHLE U.A.
1/2019 EUROPA – TROTZ ALLEDEM
Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Fliehkräfte und Gegensätze nehmen zu, ein
13
EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung 1
das LinkE diLEmma mit Europa
autoritärEr konsEns: das Eu-sichErhEitsrEgimE
19

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019


2015
Fortbestehen der Union ist nicht gesichert. Zugleich festigen und vertiefen die Politiken der EU
globale Ungleichheiten. Die real existierende EU repräsentiert nicht in Ansätzen das Europa,
monstEr und gEspEnstEr
momEntum für Ein Europa dEr ViELEn

LUXEmbURG
EinE fEministischE intErnationaLE im WErdEn
Europa – trotZ aLLEdEm stuart haLL | kathrin röggLa | Lukas

das wir uns wünschen. Doch wie lässt sich der europäische Horizont im Blick behalten, ohne
Was ist dEmokratischEs charisma?
obErndorfEr | fLorian WEis | kErstin WoLtEr | max LiLL | aLEx
rEproduktiVE gErEchtigkEit
WischneWski | hannah schurian | andrej hunko | Beppe caccia |
issn 1869-0424 WEnkE christoph | stEfaniE krohn | sandro mEZZadra u.a.

die neoliberalen Institutionen der EU als Geschäftsgrundlage zu akzeptieren? Wie lassen sich
solidarische Antworten finden auf transnationale Herausforderungen? Wie lässt sich Europa
anders machen: solidarisch und demokratisch und im Interesse der Vielen?

BEITRÄGE VON Beiträge von Stuart Hall, Kathrin Röggla, Lukas Oberndorfer, Florian Weis, Kerstin
Wolter, Max Lill, Alex Wischnewski, Hannah Schurian, Andrej Hunko, Beppe Caccia, Wenke
Christoph, Stefanie Kron, Sandro Mezzadra u.a.

April 2019, 136 S.

3/2018 ICH WERDE SEIN


Rosa Luxemburg steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weit-
3
eine Zeitschrift der rosa-luxemburg-stiftung 3
18

herzigste Menschlichkeit« ein Ganzes bilden. 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist sie zur Ikone
»wer weitergeht, wird erschossen!«
luxemburg als soZialistische feministin GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018
2015
wie kritisiert man revolutionen?

geworden, doch die Beschäftigung mit ihrem Werk bleibt oft oberflächlich. Die Jubiläumsausgabe
care als feld neuer landnahme

LUXEmbURG
lehren und lernen mit luxemburg
ich werde sein  Drucilla cornell | Gal Hertz | tove SoilanD | 
15 tage, die die welt erschütterten
Jörn schütrumpf | uwe sonnenberg | walter baier | miriam

fragt nach der Bedeutung ihres Denkens und Tuns für heute: Wie dachte Luxemburg das Verhält-
ernst bloch mit gramsci lesen
pieschke | Judith dellheim | michael löwy | Janis ehling |
issn 1869-0424 Kate evanS | Jan reHmann | HolGer Politt u.a.

nis von Partei und Bewegung? Wie hielt sie es mit dem Internationalismus? Wie können wir uns
als Feminist*innen auf sie beziehen? Wie ging sie mit dem Widerspruch zwischen Reform und
Revolution um? Und was können wir von ihr über Strategien der Organisierung lernen?

BEITRÄGE VON Drucilla Cornell | Michael Brie | Alex Demirović | Judith Dellheim | Janis Ehling |
Gal Hertz | Michael Löwy | Miriam Pieschke | Holger Politt | Ingo Schmidt | Tove Soiland | Jörn
Schütrumpf, Ingar Solty & Uwe Sonnenberg u.a.

Januar 2019, 176 Seiten

2/2018 AM FRÖHLICHSTEN IM STURM: FEMINISMUS


Der Wind weht scharf. Autoritarismus und Rechtsradikalismus gewinnen an Zustimmung.
2
3
eine zeitsChrift der rosa-luxeMBurg-stiftung 2
von #Metoo zu #WestriKe
einstiege in eine feministische trAnsformAtion
18

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018


2015
Aber auch der Feminismus ist zurück. Er bildet die einzige transnationale Bewegung, die
einen sicht­baren Gegenpol zur Rechten und zum Neoliberalismus markiert und den Aufbruch
gender als syMBolisCher Kitt
transfeMinisMus und neue KlassenpolitiK

LUXEmbURG
faMilien- und gesChleChterpolitiK á la afd
Am fröhlichsten im sturm: feminismus Margarita tsoMou |

in eine bessere Zukunft verkörpert. Sie ist sozial heterogen und thematisch vielfältig – AM
Kinder, KüChe, KlassenKaMpf
Kate Cahoon | atlanta ina Beyer | WeroniKa grzeBalsKa | lia
leBensWeise als frage gloBaler gereChtigKeit
BeCKer | Melinda Cooper | liz Mason-deese | eszter Kováts |
issn 1869-0424 andrea pető | alex WisChneWsKi | stefanie hürtgen u.a.

­FRÖHLICHSTEN IM STURM! Wie kann ein inklusiver Feminismus aussehen? Wie lässt er sich
von den Rändern her entwickeln? Und wie kann eine feministische Klassenpolitik entstehen,
die auch die Klassenanalyse auf die Höhe der Zeit bringt?

BEITRÄGE VON Margarita Tsomou | Kate Cahoon | Atlanta Ina Beyer | Weronika Grzebalska | Lia
Becker | Melinda Cooper | Liz Mason-Deese | Eszter Kováts | Andrea Pető | Alex Wischnewski |
Stefanie Hürtgen u.a.

Demonstration »Stoppt den Mietenwahnsinn« in Berlin, April 2019 September 2018, 144 Seiten
Foto: Umbruch Bildarchiv
1/2018 ERST KOMMT DAS FRESSEN
Das globale Ernährungssystem scheitert nicht nur an dem Anspruch, die Welt satt zu machen.
1
3
EiNE ZEiTSchRiFT DER ROSA-luxEMBuRg-STiFTuNg 1
hARTZ-iV-MENü uND FEiNKOSTThEKE
AuFSTAND iN DER liEFERKETTE
18

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018


2015
Es schafft auch neue Abhängigkeiten und untergräbt die Selbstbestimmung von Staaten und
lokalen Gemeinschaften. Es sind die Bewegungen von Landlosen und Kleinbäuer*innen im
AlTERNATiVEN jENSEiTS DER NiSchE
POPuliSMuS FüR DEN läNDlichEN RAuM?

LUXEmbURG
DEN BODEN NEu VERTEilEN
ERST KOMMT DAS FRESSEN PhiliP McMichAEl | STEPhANiE WilD |

globalen Süden, die sich seit Jahrzehnten für »Ernährungssouveränität« stark machen. Für sie
iMPERiAlE lEBENSWEiSE MEETS KlASSE
chRiSTA WichTERich | KAlyANi MENON-SEN | KiRSTEN TAcKMANN |
WAS BlEiBT VON 68?
SATuRNiNO M. BORRAS | liNDA REhMER | BENjAMiN luig | STEFFEN
iSSN 1869-0424 KühNE | ulRich BRAND | MARKuS WiSSEN | RhONDA KOch u.A.

ist der Kampf gegen das Ernährungsregime der Konzerne ein Kampf um Demokratie. Auch
hierzulande regt sich Widerstand gegen die Nahrungsmittelindustrie, nicht erst seit den »Wir
haben es satt«-Demonstrationen. Wie lässt sich diese Kritik von links aufgreifen und zuspitzen?

BEITRÄGE VON Philip McMichael | Stephanie Wild | Christa Wichterich | Kalyani Menon-Sen |
­ irsten Tackmann | Saturrnino M. Borras | Linda Rehmer | Benjamin Luig | Steffen Kühne |
K
Markus Wissen | Ulrich Brand | Rhonda Koch | Michael Bättig u.a.

Juni 2018, 132 Seiten


»Wir brauchen eine
neue Art Politik zu machen. [...] »Die Einkommen

Dabei müssen wir wachsen nicht so stark wie

konkrete Lösungen anbieten, die Gewinne und Mieten.

und diese so durchsetzen, dass sie Früher oder später

das Leben der Leute verändern. muss dieser Widerspruch

Die Demokratie lässt sich zum Knall führen,

am besten auf der lokalen politisch oder wirtschaftlich. [...]

Ebene verwirklichen. Die Geschäftsmodelle der

Dort leben wir unseren Alltag Immobilienkonzerne basieren

und dort ist die Regierung auf der alltäglichen Enteignung

nahe an den Menschen.« der Mieter*innen.

Ada Colau, Bürgermeisterin von Barcelona


Der nicht ganz neue Gedanke,
die Enteigner zu enteignen und
Wohnungen unter gesellschaftliche
Kontrolle zu bringen,
ist deshalb naheliegend.«
Knut Unger in diesem Heft

MIETE UND RENDITE BAUSTELLEN UND HEBEL STADT UND RAND


Gespräch über Enteignungsstrate- Warum der Soziale Woh- Warum Klimaschutz und
gien von Deutsche Wohnen & Co. nungsbau seinen Namen soziale Wohnungspolitik
und Möglichkeiten der Gegenwehr nicht verdient zusammengehören
Mit Knut Unger Von Andrej Holm Von Greta Pallaver
SCHWERPUNKT: SCHÖNER WOHNEN

RENDITE UND MIETE


12 Bewegung in der 34 INTERVIEW:
unternehmerischen Stadt »Enteignung ist inzwischen
Wie sich das Terrain mehrheitsfähig«
verändert hat Gespräch über Mieter*innen-
Von Margit Mayer Organisierung und die
Erneuerung linker Politik
10  BILDSTRECKE: 20 INTERVIEW: Mit Marieke Prey und
Im Namen des Bauherrn »Das Geschäftsmodell ­basiert Jan Sahle
Von Dimitrij Leltschuk auf der Enteignung der
Mieter*innen« LUXEMBURG ONLINE:
Gespräch über die Praktiken Vergesellschaftung statt
von Immobilienkonzernen Eigentum
und die Möglichkeit der Von Caren Lay und Hanno
Gegenwehr Bruchmann
Mit Knut Unger
LUXEMBURG ONLINE:
26 Die Absahner Hilfe, die Berater kommen!
Wie Investmentfonds Gespräch über Beraterfirmen
die Finanzialisierung des in der Stadtpolitik
Wohnens vorantreiben Mit Anne Vogelpohl
Von Christoph Trautvetter
LUXEMBURG ONLINE:
HKWM-Stichwort »Miete«
Von Bernd Belina
EDITORIAL

BAUSTELLEN UND HEBEL Die Wohnungsfrage ist mit Wucht zurückgekehrt. Nicht nur in
40 Geschäftsmodell mit der Linken, auch in der breiten Öffentlichkeit wird über Wohnen
beschränkter Wirkung und Bauen, Miete und Rendite, Besitzen und Besetzen diskutiert.
Warum der soziale Dass es problematische Folgen hat, Wohnraum marktförmig
­Wohnungsbau seinen zu organisieren, ist eine alte linke Erkenntnis. Die aktuelle
­Namen nicht verdient Wohnungskrise hat sie vielen neu bewusst gemacht. Privatisie-
Von Andrej Holm rung und Finanzialisierung des Immobiliensektors haben den
Verwertungsdruck erhöht. In den großen Städten explodieren
46 Kommunal und die Mieten, bezahlbare Wohnungen sind Mangelware. Das birgt
selbstverwaltet sozialen Sprengstoff, vertieft Abstiegsängste und setzt insbeson-
Warum städtisches Eigen- dere die, die wenig haben, in verschärfte Konkurrenz.
tum ohne Mitbestimmung Stadtpolitik ist aber auch ein Feld der politischen Hoffnung
nur halb so schön ist und des solidarischen Widerstands. In Hausgemeinschaften
Von Jannis Willim und Nachbarschaften, mit Kampagnen und Demonstrationen
machen immer mehr Menschen gegen den Mietenwahnsinn
54 Spielräume nutzen mobil. Die Forderung nach Enteignung großer Immobilien-
Wo linke Wohnungspolitik konzerne gewinnt ungeahnte Zustimmung. Diese Proteste
auf Bundesebene ansetzen haben die Wohnungsfrage wieder auf die politische Agenda
kann gesetzt. Linke Landesregierungen wie der rot-rot-grüne Senat
Von Armin Kuhn in Berlin vollziehen nun einen Kurswechsel. Doch es ist erst
ein Anfang – vieles muss weitergetrieben oder erst entwickelt
werden. Wie kann eine linke Wohnungspolitik aussehen, die
sich am Gemeinwohl orientiert, die Ökologie und Soziales nicht
gegeneinander ausspielt, die inklusiv und zugänglich für alle
ist? Wie lassen sich Strukturen schaffen, die politische Macht
und Entscheidungskompetenzen umverteilen? Wo müssen die
Hebel dafür jetzt ansetzen?
LuXemburg 2/2019 schließt an die neuen Kämpfe um Wohn-
raum an und fragt, wie SCHÖNER WOHNEN für alle geht. Wie
lässt sich das Wohnen dem Markt entreißen, wie können der
Immobilienindustrie reale Gewinne abgetrotzt werden? Wie
sehen Alternativen aus, die nicht nur sozialer, sondern auch
demokratischer sind? Und mit welchen Strategien können sich
auch diejenigen organisieren, die über wenig Ressourcen der
Gegenwehr verfügen?
STADT UND RAND
LUXEMBURG ONLINE: 74 Wohnen, wohnen, wohnen
INTERVIEW: Warum es eine rebellische,
Der Berliner Mietendeckel – linke und solidarische Stadt-
ein Leuchtturmprojekt!?! politik braucht
Mit Gaby Gottwald Von Stefan Thimmel

60 Kurswechsel statt Kosmetik 80 Dämmung ohne


Warum wir Wohnen anders Verdrängung
organisieren müssen Warum Klimaschutz und
Von Bernd Riexinger soziale Wohnungspolitik
zusammengehören
64 Boden gutmachen Von Greta Pallaver
Was kann linke Bodenpolitik?
Von Werner Heinz 86 Friede den Hütten
Warum Kleingärten­bebauung
70 INTERVIEW: Klassenkampf von oben ist
»Wohnraum muss Von Katalin Gennburg
für alle da sein«
Gespräch über Hindernisse 92 … da, wo es brennt
und Zugänge für Geflüchtete Wo die LINKE als organisie-
auf dem Wohnungsmarkt rende Partei vor Ort ist.
Mit Bea Fünfrocken und Von Christina Kaindl und
Remzi Uyguner Sarah Nagel

© Oliver Feldhaus
RUBRIKEN
98 INTERVIEW: 6 Was kommt
»Wenn wir mehr werden, 8 Wer schreibt
bringt es was« 130 Was war
Gespräch über Mieten­ 132 Mit wem
wahnsinn und die Gründe,
sich zu wehren 120 WER SCHREIBT GESCHICHTE?
Mit Ilona Vater Neunundachtzig Neunzig
Von Ingo Schulze
LUXEMBURG ONLINE: Die zerfetzte Fahne
»Rein in die Stadtteile« Von Erasmus Schöfer
Gespräch über Vergeigt
Organisierungserfahrungen Von Reinhold Andert
an der Haustür
Mit Susanne Steinborn LUXEMBURG ONLINE:
Feminismus für die
100 Stadtpolitiken des 99 Prozent
Willkommens Ein Manifest (Auszug)
Konflikte um Von Cinzia Arruzza,
neuen Wohnraum für Tithi Bhattacharya und
Geflüchtete Nancy Fraser
Von Ulrike Hamann
LUXEMBURG ONLINE:
108 Blühende Landschaften und ABC DER TRANSFORMATION
Wolfserwartungsgebiete Vergesellschaftung
Was es heißt, in rechten Von Frank Deppe
Räumen zu leben
Von Kerstin Köditz LUXEMBURG ONLINE:
WIEDERGELESEN
114 Die Sehnsucht nach Hausarbeit neu gedacht
der Stadt und die Furcht Von Lise Vogel
vor der Nicht-Stadt
Was Science-Fiction mit
urbaner Realität zu tun hat
Von Christoph Spehr
Foto: James McNellis/flickr

FEMINIST FUTURES FESTIVAL hier weiterzukommen, die Bewegungen zu stärken


12.–15. SEPTEMBER IN ESSEN und zu konsolidieren, braucht es Orte für Debatten
Weltweit gewinnen feministische Bewegungen und um voneinander zu lernen. Einen solchen Raum
an Stärke und schlagen einen radikaleren Kurs bietet die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Koopera-
ein: Lautstark und vielfältig stellen sie sich dem tion mit dem Netzwerk Care Revolution und dem
neoliberalen Ausverkauf des Gesundheitswesens Konzeptwerk Neue Ökonomie: das internationale
und schlechten Arbeitsbedingungen entgegen. Feminist Futures Festival. Dort wird es Podien
Sie kämpfen gegen sexuelle Gewalt, rassistische und Workshops zu theoretischen wie praktischen
Ausgrenzungen und die Zerstörung der natürlichen Fragen und Zeit für Trainings und Gesprächsrunden
Umwelt. Und sie treten für soziale Gerechtigkeit als geben. Es soll an ältere feministische Praxen der
Grundlage für Selbstbestimmung über ihre Körper ›Selbsterfahrung‹ angeschlossen werden und über
und ihr Leben ein. Damit gehören sie zu den wich- feministische Gesundheit genauso gelernt werden
tigsten Gegner*innen eines globalen Rechtspopulis- wie über transformatives Organizing. Unterschiedli-
mus und bauen an einer besseren Zukunft für alle! che Formen künstlerischer und kultureller Beiträge
Vieles ist in Bewegung: Feminist*innen mit verschie- werden zentraler Bestandteil des Programms sein.
denen Erfahrungen und Hintergründen kommen Es wird Filme, Bühnen für Musik und gesprochenes
wieder oder das erste Mal zusammen. Es entstehen Wort, Theater und Performances geben. Und es soll
Praxen, die auf ein Gemeinsames orientieren, ohne zusammen getanzt werden! Das Festival ist offen für
Unterschiede zu negieren. Sie verbinden feministi- alle Interessierten.
sche und queer-feministische Anliegen mit konse-
quenter Kapitalismuskritik und Klassenpolitik. Um Info: www.feministfutures.de

6      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


WAS KOMMT
NEOSOZIALISTISCHE KLASSENPOLITIK wie eine kostenfreie Gesundheitsversorgung und
TAGUNG, 1. UND 2. NOVEMBER 2019 IN BERLIN Bildung sowie bezahlbares Wohnen für alle; entgelt-
Die globale Ungleichheit hat ein nie gekanntes Aus- freie öffentlichen Dienste von Bibliotheken bis zum
maß erreicht, mit dramatischen Folgen für den öffentlichen Nahverkehr; demokratische Mitsprache,
sozialen Zusammenhalt und die Demokratie aber die etwas bewegt; mehr Zeit füreinander; Mitbestim-
auch für die ökonomische Entwicklung. Dazu treten mung und wirkliche Demokratie sowie ein ökologi-
die Folgen kapitalistischen Wachstums, die zu einer scher Umbau der Städte, des Verkehrs, der Energie-
planetarischen ökologischen Krise geführt haben, die versorgung und der Landwirtschaft. Klaus Dörre hat
weitere soziale Verwerfungen und immer größere jüngst eine Debatte um den »Neosozialismus« ent-
wirtschaftliche Schäden mit sich bringt. Es han- facht. Das Institut für Gesellschaftsanalyse (IfG) der
delt sich um Menschheitsprobleme, die auch ein Rosa-Luxemburg-Stiftung wiederum verfolgt eine
Scheitern des Kapitalismus signalisieren. In Zeiten Theorie eingreifender sozialistischer Transformations-
großer Krise und gesellschaftlicher Polarisierung forschung. Wie also kritisch an die Geschichte für
ist eine radikale Perspektive entscheidend. Es geht eine Zukunft des Sozialismus anknüpfen? Wie sehen
nicht einfach um die Verteidigung des Sozialstaates, Konturen einer Strategie neosozialistischer Klassen-
die Rückkehr zu einem nationalstaatlich regulierten politik aus? Um diese Fragen wird sich die Tagung
Kapitalismus und dessen ökologische Einhegung. Es des IfG und des Instituts für Soziologie der Friedrich-
geht um eine Perspektive, die Bernie Sanders unbe- Schiller-Universität Jena im November drehen.
kümmert Sozialismus nennt. Dazu gehören Dinge Info: www.rosalux.de/neosozialismus/

CAMPUS FÜR WELTVERÄNDERNDE PRAXIS an: zum einen den Kurs »Bildung fürs Weltver-
KURSE VON SEPTEMBER 2019 BIS JUNI 2020 ändern« mit einem Fokus auf emanzipatorischer
IN BERLIN Bildung als Quelle und Werkzeug gesellschaftlicher
Der neoliberale Kapitalismus ist in eine Phase des Veränderung, zum anderen den Kurs »Strategien fürs
Umbruchs eingetreten. Er befindet sich in einer Weltverändern«, der sich hauptsächlich mit Ansätzen
handfesten »Vielfachkrise«, die sich von der Wirt- der Transformation und politischer Strategieent-
schafts- und Finanzkrise über die Klimakrise bis wicklung befasst. Der CAMPUS will einen Beitrag
zur Krise der politischen Repräsentation erstreckt. zu dieser Veränderung leisten, indem er Räume für
Neben die neoliberalen Kräfte ist eine neue Rech- gemeinsame Fort- und Bündnisbildung bietet. Ziel ist
te getreten, die global wie regional die politische es, im Sinne eines »linken Mosaiks« unterschiedliche
Agenda wesentlich mitbestimmt. Die politische linke Traditionen, Kulturen und Organisationsweisen
Linke – parteiförmig organisiert, in Gewerkschaften sowie Akteure in einen produktiven Austausch zu
oder in sozialen Bewegungen versammelt – reagiert bringen. Der CAMPUS ist ein Projekt und eine Platt-
auf diese Herausforderungen bisher mehr oder form verschiedener Bildungsträger mit Angeboten
weniger hilflos. Klar ist, dass es großer und gemein- zu Themen wie Organisierung, Strategieentwicklung
samer Anstrengungen bedarf, damit echte positive und linke Bildung zur Stärkung der kollektiven politi-
Veränderungen möglich werden. schen Handlungsfähigkeit der Linken.
Der »CAMPUS für weltverändernde Praxis« der Rosa-
Luxemburg-Stiftung bietet 2019 zwei Fortbildungen Info: www.rosalux.de/news/id/40258/

WAS KOMMT | LUXEMBURG 2/2019     7


Der »Atlas der Migration« ist zum Weltflüchlingstag
am 20. Juni 2019 erschienen.
Abbildung: Titelillustration

EIN UMKÄMPFTES MENSCHENRECHT batte beitragen. Selbst innerhalb der europäischen


»ATLAS DER MIGRATION« Linken reichen die Haltungen von der Forderung
Migration ist kein gesellschaftlicher Sonderfall. Jede nach offenen Grenzen bis zur Ablehnung von
moderne Gesellschaft und jeder Staat der Welt ist unkontrollierter Migration. Diese Ablehnung beruht
auch ein Ergebnis menschlicher Mobilität. Dennoch oft auf der Annahme, Zuwanderung verschärfe
erhitzt das Thema rund um den Globus politische in den Aufnahmegesellschaften die Konkurrenz
Debatten, und nicht selten verläuft die Meinungs- zwischen den besonders Schwachen. Die im Atlas
bildung von Bürger*innen, Politiker*innen, Parteien zusammengetragenen Zahlen und Fakten zeigen
und Bewegungen entlang der Frage der Migration jedoch, dass Migration, die in allen Teilen der Welt
und der Politiken des Umgangs mit ihr. Entspre- stattfindet, viele positive Auswirkungen sowohl auf
chend wirkmächtig sind die Mythen, Metaphern die Gesellschaften der Zielländer als auch auf die
und Bilder, die dieses soziale Phänomen begleiten. der Herkunftsländer haben kann.
Zu den bekanntesten gehören Ströme, Wellen und Dennoch hat Migration etwas Bedrohliches, und
Fluten. Sie lassen Migration­als etwas Bedrohliches zwar für die Migrierenden selbst, vor allem für Ge-
erscheinen und machen die Menschen, die sich flüchtete und Menschen ohne gültige Papiere. Dies
aus verschiedenen Gründen auf den Weg machen machen die Beiträge im Atlas deutlich, die über die
(müssen), unsichtbar. zunehmende Zahl von Menschen berichten, die
Die Rosa-Luxemburg-Stiftung hat nun einen »Atlas an den Grenzen und auf den immer gefährlicher
der Migration« herausgegeben. Mit ihm möchten werdenden Flucht- und Migrationsrouten Gewalt
die Verfasserinnen den Blick auf Migration und ihre erleben oder gar ihr Leben lassen. Alltagsrassismus
Akteure verändern, zu einer Versachlichung der De- und rassistischer Terror, aber auch Xenophobie

8      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


WER SCHREIBT
in den Institutionen und der Politik erschweren angemessenen Wohnraum, Bildung und Gesundheit
Migrant*innen und Flüchtlingen zudem ihre »Rei- entstanden. Sie tragen dazu bei, die »Gesellschaft
se«, bedrohen ihre gesellschaftliche Teilhabe oder der Vielen« Wirklichkeit werden zu lassen.
sogar ihr Leben in den Zielländern – und damit ihr Migration hat viele Realitäten und Facetten. Im
Menschenrecht auf Migration. derzeitigen gesellschaftlichen Klima bedarf es Mut,
Doch immer mehr Menschen nehmen ihr Schick- sich diesem Thema unaufgeregt zuzuwenden und
sal selbst in die Hand. Dies zeigen die Beiträge zu anzuerkennen, dass Einwanderung unsere Gesell-
Kämpfen der Migration – gegen Rassismus und schaften im demokratischen Sinne pluralisiert. Der
für die Rechte von Einwander*innen und Geflüch- »Atlas der Migration« wirbt für einen differenzierten
teten. So sind in Europa und der Welt unzählige Umgang mit ihr.
Bewegungen der Solidarität gegen Abschiebungen, Stefanie Kron
Xenophobie und Rechtspopulismus sowie für das
Recht auf gesellschaftliche Teilhabe, würdige Arbeit, Download: www.rosalux.de/atlasdermigration

ERFAHRUNGEN, WIRKUNGEN, WIDERSTAND WIE AUS DER DEFENSIVE KOMMEN?


STUDIE ZU »RACIAL PROFILING« BROSCHÜRE ZUR FINANZIALISIERUNG
Überall und jederzeit in eine Polizeikontrolle gera- DES WOHNENS
ten zu können, peinliche Befragungen, Durchsu- Mehr als zehn Jahre sind seit dem Platzen der
chungen und Festnahme über sich ergehen lassen Immobilienblase vergangen. Heute kaufen Invest-
zu müssen, wie ein Schwerverbrecher behandelt mentfonds und Banken wieder ganze Stadtteile
zu werden – und das mitten in der Öffentlichkeit. auf und treiben dabei mit Unterstützung nationaler
Für viele Schwarze Menschen und People of und europäischer Institutionen spekulative Inves-
Color gehört dies zum Alltag. »Racial Profiling« als titionen voran. Dies verschärft den Konflikt um
verbreitete polizeiliche Strategie ist zur alltäglichen bezahlbares Wohnen und verstärkt Räumungen
Schikane für viele geworden, die als ethnisch oder und Vertreibungen.
religiös »anders« wahrgenommen werden. Dies Die Broschüre »Housing Financialization«, die vom
zeigt eine aktuelle Studie der »Kollaborativen For- Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung zu-
schungsgruppe Racial Profiling« auf. Für die Studie sammen mit der »Europäischen Aktionskoalition­für
wurden in der Schweiz Personen interviewt, die das Recht auf Wohnung und auf Stadt« (ACRHC)­
mit diskriminierenden Polizeikontrollen konfrontiert herausgegeben wurde, behandelt genau diese
worden waren. Zur Sprache kommen neben den Dynamiken. Es ist nach »Resisting Evictions Across
kon­kreten Erlebnissen die Gefühle, die Auswirkun- Europe« bereits die zweite Broschüre beider Ko-
gen der Kontrollen, die Taktiken im Umgang mit operationspartner. Untersucht werden die jüngsten
der ständigen Gefahr, ins Visier der Polizei zu ge- Wechselbeziehungen zwischen Kapital und Woh-
raten, und die Art und Weise, wie sich Menschen nungswesen, aber auch die Möglichkeiten politi-
gegen diese rassistische Praxis individuell und scher Intervention.
kollektiv zur Wehr setzen.
Download (Englisch): www.rosalux.eu/publications/housing-
Download: www.rosalux.de/publikation/id/40493/ financialization/

WER SCHREIBT | LUXEMBURG 2/2019    9


IM NAMEN DES
Von Dmitrij Leltschuk
BAUHERRN

Überall in St. Petersburg wird gebaut, das Graue und Rostige mit fri-
schem Weiß überdeckt. Dafür sorgen vor allem so genannte Gastar-
beiter aus den ehemaligen Sowjetrepubliken, die auf den unzähligen
Baustellen der russischen Metropole arbeiten. Auf dem Bau lassen sich
ein paar Rubel verdienen, um die Existenz zu sichern, die eigene und die
der Familie daheim. »Gastarbeiter« ist eines der deutschen Wörter, die
ins Russische eingegangen sind. Es bezeichnet dort ganz allgemein Ar-
beitskräfte aus dem Ausland, ohne dass damit ein Rechtsstatus verbun-
den wäre. Die weitaus meisten sind ohne Papiere in Russland. Für die
Aufenthaltsgenehmigung bräuchten sie einen Arbeitsvertrag, doch den
bekommen die wenigsten von ihren Arbeitgebern. So sind sie mündli-
chen Zusagen und schlechter Zahlungsmoral der Bauherren ausgeliefert
und arbeiten unter prekären, teils elenden Bedingungen.

Alle Bilder bis S. 63:


© Dimitrij Leltschuk
Dmitrij Leltschuk, 1975 in Minsk geboren, arbeitete in Weißrussland als
freier Journalist, bis er nach Deutschland ging. Von 2002 bis 2007 stu-
dierte er an der Hamburger Hoch­schule für Angewandte Wissenschaf-
ten Medientechnik/Audiovisuelle Medien. Seitdem arbeitet er als freier
Fotograf. Für seine Fotoarbeit »Im Namen des Bauherrn«, aus der hier
einige Bilder zu sehen sind, besuchte er »Gastarbeiter« auf verschiede-
nen Baustellen Sankt Petersburgs und begleitete ihre Arbeit und ihren
Alltag über mehrere Wochen mit der Kamera.
BEWEGUNG IN DER
UNTERNEHMERISCHEN
STADT
WIE SICH DAS TERRAIN VERÄNDERT HAT

MARGIT MAYER

Die Auseinandersetzungen, die heute im und um den städtischen Raum ausgetra-


gen werden, unterscheiden sich in wichtigen Dimensionen von früheren. Urbane
Proteste und Bewegungen manifestieren sich spätestens seit der Französischen
Revolution, als solche wahrgenommen wurden sie erst ab den 1960er und vor
allem 1970er Jahren, als Sozialwissenschaftler wie Manuel Castells und Henri
Lefebvre sie zu Forschungsgegenständen machten und als politische Subjekte
analysierten. Konzepte und Theorien über städtische Bewegungen wurden vor-
nehmlich an den – heute würden wir sagen: fordistisch geprägten – Kontexten und
Konflikten dieser Zeit entwickelt. Der fordistische Urbanismus war allerdings ein
sehr spezifischer historischer Moment. Er prägte das Aufbegehren der Bewegun-
gen gegen die technokratische Zurichtung und die daraus resultierende »Unwirt-
lichkeit unserer Städte« (Mitscherlich 1965).
Die städtischen Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre waren Teil eines
Protestzyklus, der sich aus der Kritik am Fordismus und den ihm eigenen Produk-
tions-, Regierungs- und Lebensweisen entwickelte. Die Funktion der Städte und die
Bedingungen städtischen Lebens spielten dabei zentrale Rollen. Der Angelpunkt der
Kämpfe hatte sich von der »produktiven« hin zur »reproduktiven Sphäre« mit ihren
öffentlichen Infrastrukturen und Dienstleistungen verschoben, deren kulturelle Nor-
men genauso hinterfragt wurden wie ihr Preis und ihre Qualität. Die Bewegungen
forderten nicht nur eine Verbesserung dieser Einrichtungen des kollektiven Konsums,
sondern auch eine stärkere Beteiligung an deren Gestaltung. Während sie so auf eine
am Gebrauchswert orientierte Stadt drängten, entwickelten sie selbst autonome lokale
Szenen und Projekte gegen die Standardisierung und einseitige Planung von Lebens-,
Kultur- und Arbeitsweisen. In vielen Städten entstand eine dynamische Bewegungsin-
frastruktur von Stadtteil- und Jugendzentren, Kinderläden, Gesundheitszentren und

12      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


anderen selbstverwalteten Projekten. Die Bewegungen richteten sich also gegen die
»keynesianische Stadt«, in der ein Großteil der sozialen Reproduktion vom (lokalen)
Staat übernommen wird, weshalb zeitgenössische Autor*innen das Städtische explizit
in Kategorien kollektiven Konsums definierten (vgl. Castells 1983).
Heute, nach mehreren Runden neoliberaler Umstrukturierung, agieren die
städtischen Bewegungen in einem völlig anderen Setting. Sie konfrontieren ­keine
»keynesianische« Stadt mehr. Auf die Rollback-Phase der 1980er Jahre, in der der
keynesianische Wohlfahrtsstaat geschliffen wur­
de, und die Rollout-Phase der 1990er Jahre, in
der die Folgen dieser Sparpolitik durch flankie- MARGIT MAYER ist Politikwissenschaftlerin und
rende Maßnahmen abgemildert werden sollten, Professorin a. D. an der Freien Universität Berlin
und Senior Fellow am Center for Metropolitan
folgte die durch die Finanz- und Wirtschafts-
Studies Berlin. Sie forscht seit Langem zu städti-
krise geprägte Phase der Austerität. Entschei- schen Themen und sozialen Bewegungen in den
dende Dimensionen der Stadtpolitik werden USA und Deutschland.
heute weniger von kommunalpolitischen Insti­
tu­
tionen als von zunehmend globalen Wirt-
schafts-, Finanz- und Immobilieninteressen bestimmt. Statt zentral regulierter
wohlfahrtsstaatlicher Politik sehen sich die Bewegungen multi-skalaren Aktivie-
rungsstrategien – und machtvollen privaten Developern und Investoren gegenüber.
Die Aufgabe von Stadtpolitik hat sich darauf verengt, das (ungezügelte) Wirken
»des Markts« zu ermöglichen – was inzwischen aber auch Gegenwehr hervorruft.

VIER MERKMALE KENNZEICHNEN DIE HEUTIGE NEOLIBERALISIERUNG


DES STÄDTISCHEN BZW. DER STADTPOLITIK
1 | Nach wie vor ist der neoliberale Urbanismus bestimmt vom obersten Ziel,
Wachstum zu befördern. Um sich in der verschärften interurbanen Konkurrenz
gut zu platzieren, bemühen sich Lokalpolitiker*innen, Investitionsströme in i­hre
Stadt zu schleusen. In dieser Konkurrenz können nicht alle Städte gewinnen,
doch sie hat überall Bodennutzungsentscheidungen hervorgebracht, die auf die
größtmögliche Renditeerwartung setzen und somit für die Ausbreitung von Gen-
trifizierung, neuer privatisierter Enklaven für den Elitenkonsum und desinfizierter
Räume sozialer Reproduktion sorgen. Diese Wachstumspolitik (häufig angeheizt
durch internationale Boden- und Immobilienspekulation) hat nicht nur die
gebaute Umwelt transformiert, sondern auch die Boden- und Immobilienpreise
explodieren lassen, was Verdrängungsprozesse, vermehrte Räumungen und eine
neue Wohnungs- und Obdachlosigkeitskrise zur Folge hat.
Im Gegensatz zu den führenden Global Cities sehen sich die meisten »norma-
len« Städte schrumpfenden Haushalten gegenüber. Sie können das Wachstum also

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     13


kaum noch mithilfe der in den 1980er Jahren gängigen Standortpolitik beflügeln,
die auf teure Groß-Events wie Gartenshows oder Bauausstellungen setzte. Stattdes-
sen haben sie sich eher symbolischen, preisgünstigen Formen der Standortpolitik
zugewandt, um ihr lokales Flair aufzumöbeln und »kreative Klassen« und in der
Folge auch Investoren anzuziehen, darunter so simple Maßnahmen wie erleichterte
Vorschriften für die Gründung von Internetcafés. Solche innovativen, zunehmend
kulturellen Branding-Strategien kommen unter anderem alternativen und subkul-
turellen Bewegungen zugute. Stadtmanager*innen haben festgestellt, dass sich
solche Bewegungen als nützlich für Vermarktungsstrategien erweisen und leicht in
»Kreative-Stadt-Projekte« eingepasst werden können.
2 | Städte haben in mehr und mehr Bereichen ihres Regierungshandelns unter-
nehmerische Formen von Governance eingeführt. Sie nutzen dabei nicht nur angeb-
lich effizientere betriebswirtschaftliche Modelle, sondern vergeben immer mehr
Aufgaben an private Akteure (in Form von Sub- und Out-Contracting), etwa bei
Ausschreibungen für (spekulative) Investitionsprojekte oder die Entwicklung
bestimmter Stadtteile. Indem Bürgermeister*innen zusammen mit ihren Part-
nern aus der Wirtschaft für einzelne Projekte spezielle Träger beauftragen oder
Public-Private-Partnerships einrichten, werden Stadträte zunehmend umgangen.
Hegemonie wird hier, wenn überhaupt, nur über kleinteilige Einbindungen herge-
stellt. An die Stelle von langfristigen, tripartistisch angelegten Regulierungsmodi
treten flexible, ständig wechselnde Zugeständnisse an verschiedene Gruppen.
Dieser Trend einer »Projektepolitik« hat die kommunale Planung deutlich verän-
dert und informelle und kooperative Prozesse verankert. Die von der Kommune
orchestrierten kooperativen Planungsverfahren beteiligen neben (globalen) Deve-
lopern und allerlei Experten für technologische, logistische und algorithmische
Lösungen vermehrt auch zivilgesellschaftliche Gruppen.
Diese Praxis von »Adhocismus« und Informalisierung der Politik verschafft exter-
nen und internationalen Akteuren wie Developern und Investoren einen wachsenden
Einfluss, eröffnet aber auch neue Zugänge für artikulationsstarke Bewegungsakteure.
Die fehlende öffentliche Transparenz dieser Strategie ruft aber auch neue Proteste auf
den Plan, weil unberücksichtigte Gruppen sich von der Gestaltung der Stadt ausge-
schlossen sehen und gegen die Erosion repräsentativer Demokratie zur Wehr setzen.
3 | Intensivierte Privatisierungsprozesse – sei es von kommunalem Vermögen oder
öffentlichen Diensten – nehmen immer extremere Formen an und haben die tra-
ditionelle Beziehung und Abgrenzung von öffentlicher und privater Sphäre trans-
formiert. Soziale Einrichtungen wurden abgebaut bzw. reorganisiert und kollektive
Dienstleistungen und Infrastrukturen wie Versorgungsunternehmen dem Markt
ausgesetzt. Zunehmend wird aus Privatisierung sogar Finanzialisierung, indem

14      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


kommunale Verkehrssysteme oder Sozialwohnblöcke auf den Finanzmärkten ver-
hökert werden. Bei dieser Plünderung öffentlicher Haushalte werden städtische
Ressourcen und öffentliche Dienstleistungen zu Optionen für eine erweiterte Kapi-
talakkumulation durch Enteignung.
Besonders gern haben Städte die Privatisierung öffentlicher Räume vorange-
trieben. Je mehr private Räume dem Elitenkonsum gewidmet werden, umso besser
kann eine maximale Bodenrente realisiert werden. Dies hat spürbare Effekte auf die
Stadtlandschaft: Die Privatisierung von Plätzen, Bahnhöfen und quasi-öffentlichen
Einkaufszentren hat den Zugang zu kollektiven Infrastrukturen beschränkt oder
verteuert. Längst sind ganze Stadtzentren, von Paris, New York und London bis
Hongkong oder Singapur, zu exklusiven »Zitadellen der Eliten« geworden. Gegen
diese Einhegungen regt sich vielfältiger Protest, etwa gegen die Umwandlung von
Miet- in Eigentumswohnungen oder für Rekommunalisierungen.
4 | Ein weiteres wichtiges Merkmal ist eine neue Doppelstrategie im Umgang mit der
wachsenden sozialräumlichen Polarisierung. In den frühen Phasen der Neoliberali-
sierung in den 1980er und 1990er Jahren bestanden die einschlägigen Instrumente
vor allem aus quartiersbezogenen Revitalisierungs- und Aktivierungsprogrammen,
die eine unterstellte Abwärtsspirale in sogenannten Problembezirken aufhalten
sollten. Solche Programme sind inzwischen zurückgefahren worden oder werden
ersetzt durch eine neue zweigleisige Politik: Sie koppelt einerseits unverblümte Ver-
drängungsstrategien mit repressiven Maßnahmen und zielt andererseits darauf, mit

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     15


scheinbar wohlmeinenden Programmen bestimmte ausgewählte verarmte Gebiete
und soziale Gruppen in Aufwertungsprozesse einzubeziehen.
Die repressiven Instrumente beinhalten Strategien, die unerwünschtes Verhalten
sowie unerwünschte Gruppen (wie Obdachlose oder Bettelnde) bestrafen, ebenso wie
die Verdrängung unterer Einkommensgruppen in immer entferntere Peripherien oder
versteckte Elendsnischen innerhalb der Stadt. Diese punitive Seite der neoliberalen
Stadt – mit ihren verschärften Gesetzen, härteren Polizeimaßnahmen, zunehmender
Entrechtung – trifft insbesondere Obdachlose, papierlose Migrant*innen, informelle
Arbeiter*innen, aber zunehmend auch neue Opfer von Austeritätspolitiken.
Die »gutartigen« Instrumente dagegen kommen in Gebieten zum Einsatz, wo
sich ein neues Entwicklungspotenzial abzeichnet: alte Industriegebiete oder verfal-
lende Sozialwohnungsbezirke, also eigentlich stigmatisierte Gegenden. Wenn sie
günstig gelegen sind, werden sie zu Standorten von Entwicklungsprojekten, die laut
Versprechen des Stadtmanagements auch den Anwohner*innen zugutekommen
sollen. Diese Strategien greifen nur dort, wo erfolgreiche Verwertungsprozesse, also
ein Ansteigen von Immobilienpreisen und Investitionen, winken. Sobald es gelingt,
die erwünschte hochpreisige Klientel anzuziehen – häufig durch Vermarktung des
vorgefundenen »wilden Urbanismus«, des authentischen Arbeiterklassenmilieus
oder der hippen »kulturellen Authentizität« – werden die ärmeren Bewohner*innen
verdrängt. Häufig sind begleitende partizipatorische Verfahren vorgesehen, um die
antizipierten Konflikte um die gegensätzlichen Interessen kleinzuarbeiten.

AKTUELLE KONFLIKTE UND KÄMPFE UM DIE NEOLIBERALE STADT


Die vielfältigen und vielschichtigen, mit der neoliberalen Stadtentwicklung einher-
gehenden Ausgrenzungs-, Verdrängungs-, Enteignungs- und Entrechtungsprozesse
haben der Bewegungslandschaft neue unkonventionelle Akteure zugeführt und sie
zugleich heterogenisiert und fragmentiert. Während die Folgen der intensivierten
Wachstumspolitik Proteste von Anwohner*innen und unterschiedlichsten Betroffe-
nen hervorbrachten – gegen Aufwertung und Verdrängung, gegen Touristifizierung
oder Zweckentfremdung –, haben die neuen Wachstumsstrategien der »Kreative-
Stadt-Politik« neue Spaltungslinien innerhalb der Bewegungslandschaft produziert.
Prekäre, aber in diesem Kontext über »symbolisches Kapital« verfügende Kultur-
schaffende und Künstler*innen konnten hier zumindest temporär zu potenziellen
»Profiteuren« der neoliberalen Stadtpolitik werden. Auch besetzte Häuser oder
selbstverwaltete soziale Zentren konnten mancherorts über Jahre überleben, weil
sie als Attraktivitätsmarker fungierten in einem Prozess, der über kurz oder lang
von Investoren in lukratives Development überführt wird – womit meist eine neue
Runde (nun defensiver) Kämpfe beginnt.

16      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Bewegungen, die sich nicht so zweckdienlich in lokale Standortpolitik und Ver-
marktungsstrategien einbinden lassen, haben weniger Entgegenkommen von
staatlicher Seite zu erwarten. Dennoch erstarken neben Protesten gegen Aufwer-
tung und Verdrängung auch unter ressourcenarmen Gruppen diejenigen, die sich
gegen Austeritätspolitik und Sozialkürzungen sowie gegen Privatisierung und
überhaupt gegen das Vordringen globaler (Finanz-)Markt-Akteure in die Stadtent-
wicklung und die damit verbundene Erosion lokaler Demokratie richten. So hat
sich vielerorts eine öffentlichkeitswirksame Bewegungsszene herausgebildet, wel-
che die politischen Eliten massiv unter Druck setzt.
Viele dieser – seit Kurzem und seit Langem – Bewegten kommen unter dem
Dach des Protests gegen »Mietenwahnsinn« zusammen.1 Die großen Demonstra-
tionen im April 2019 in Berlin, München, Leipzig, Stuttgart, Frankfurt am Main
und weiteren Städten markierten einen vorläufigen Höhepunkt. Dahinter stehen
rasante Selbstorganisationsprozesse unterschiedlichster Mietergruppen, die sich
mit kreativen Aktionen gegen exorbitante Mietsteigerungen zur Wehr setzen und
zunehmend mit anderen Protestgruppen verbünden – etwa jenen gegen Gentrifi-
zierung, Zwangsräumungen und Zweckentfremdung; für Rekommunalisierung,
gemeinwirtschaftlichen Wohnungsbau und Enteignung großer Wohnungsunter-
nehmen. Allein in Berlin hatten 280 Initiativen zu dem bundesweiten Protesttag
am 6. April aufgerufen. Dahinter stehen auch lokale Aktivistengruppen, die sich seit
Jahren unter dem Banner »Recht auf Stadt«2 über Landesgrenzen hinweg vernet-
zen, um ihren Kampf um bezahlbaren Wohnraum oder gegen Zwangsräumungen3
multi-skalar zu führen. Den derart erstarkten Bewegungen neuer und alter urban
outcasts gelingt es zunehmend, ihre Themen auf die mediale und politische Agenda
zu setzen, gewisse Konzessionen zu erstreiten und mancherorts auch bewegungs-
nahe Politiker*innen in kommunale Ämter zu hieven.
Da die eigentlichen Adressaten der Proteste, die global agierenden Investmentfir-
men und Developer, schwer greifbar sind und die Kommune oft nicht mehr als Feind
der Bewegungen wahrgenommen wird, kommt es zu Annäherung und Kooperatio-
nen »zwischen Zivilgesellschaft und Politik«, vor allem dort, wo Letztere zugänglich
erscheint. Unter dem Label des »neuen Munizipalismus« finden Bewegungsforde-
rungen Fürsprache bei Stadträten und/oder Bürgermeister*innen – von Barcelona
über Zagreb, Warschau, Bologna und Berlin bis nach Jackson (Mississippi) und jüngst
auch in Chicago. Die Versuche, nicht nur Forderungen, sondern auch Akteure der
Bewegung in lokale Institutionen und Regierungen hineinzuheben, rufen erheblichen
Widerstand der etablierten Parteien und vor allem des Immobilien- und Finanzkapi-
tals hervor. Gleichzeitig generieren sie Friktionen aufseiten von Bewegungsgruppen,
deren Erwartungen über das »realpolitisch Durchsetzbare« oft hinausgehen. Oder

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     17


sie verstärken vorhandene Spaltungslinien, weil die bereitgestellten Partizipations-
formate eher von »Bewegungseliten« genutzt werden (Balcerowiak 2018).
Meist sind es langwierige und mühsame Kämpfe, in denen Initiativen wie »Stadt
von unten« darauf drängen, gerade NICHT »ein paar Projektorchideen für ein paar
Glückliche zu schaffen« (Stadt von unten 2018). »Stadt von unten« wurde 2014 in
Berlin gegründet, um ein Modellprojekt in kommunalem Eigentum am Dragoner-
Areal, einem größeren, von der Bundesanstalt für Immobilien (BIMA) zum Verkauf
bestimmten bebauten Gebiet in Berlin-Kreuzberg durchzusetzen. Gemeinsam mit
anderen Initiativen gelang es ihnen 2016, eine Privatisierung des Areals zu verhin-
dern und es zum Sanierungsgebiet erklären zu lassen.4 Mit der Kommunalisierung
verknüpfen sie als Hauptziel die Demokratisierung der Wohnungsunternehmen und
substanzielle Mitbestimmungsrechte der Mieter*innen, die eine langfristige soziale
Ausrichtung und bezahlbare Mieten gewährleisten sollen. 2018 gelang es ihnen, einen
paritätisch besetzten »Gründungsrat« zu etablieren und dort gemeinsam mit allen
Projektbeteiligten Leitlinien für eine Kooperation zu entwerfen. Es zeichnete sich aber
ab, dass Senat und Bezirk sich nicht auf inhaltliche Vorgaben einlassen wollten, die
über die üblichen Auflagen für Sanierungsgebiete hinausgehen, wie zum Beispiel das
Erbbaurecht. Noch bevor die Kooperationsvereinbarung unterzeichnet war, berief die
Kreuzberger Bezirksverwaltung eine eher exklusive (da tagsüber im Rathaus tagende)
»Beteiligungswerkstatt« ein, um Bau- und Nutzungsanforderungen zu klären – wor-
auf die Initiativen mit Boykott reagierten (Stadt von unten 2019).
Während die Initiativen beim Tauziehen mit politischen Entscheidungsträger*innen
in Gremien wie dem Gründungsrat kaum Zugeständnisse bei inhaltlichen Vorga-
ben und Leitlinien der Kooperationsvereinbarung erreichen können, konzediert
die Politik auf Bezirks- wie übergeordneter Ebene neue, informelle wie formelle
Arbeits- und Koordinierungsstellen, die es ermöglichen, bislang ehrenamtliche
und deshalb oft prekäre aktivistische Arbeit auf solidere Beine zu stellen. Dadurch
werden Teile der Initiativen professionalisiert und in eine »gemeinwohlorientierte
Stadtentwicklung« eingebunden. Derartige Stellen steigern allerdings, genauso wie
die oft umkämpften Kooperationsverfahren (vgl. Ziehl 2018), ohne aufmerksame
Begleitung das Risiko von Intransparenz und Demokratiemangel in den Planungs-
und Entscheidungsprozessen (vgl. Mayer 2019).
Wo es also um die Umsetzung von Bewegungszielen geht, bewirken sowohl
die unter »neuen munizipalistischen« Vorzeichen eröffneten Verhandlungs- und
Kooperationsrunden als auch die Projektplanungen im Rahmen einer unter-
nehmerischen Governance ein Auseinanderdividieren von Bewegungsakteuren:
ein Teil entscheidet sich für eine Mitwirkung in diesen Gremien, ein anderer
kritisiert deren fehlende öffentliche Transparenz.

18      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Erfolg oder Scheitern heutiger städtischer Bewegungen lässt sich nicht bestimmen,
indem man sie mit früheren fordistischen Bewegungen vergleicht. Aber so wie die
damaligen Bewegungen die fordistische Stadt widerspiegelten und schließlich zu
ihrer Krise beitrugen, so lassen sich auch die heutigen erst in ihrer Relation zum
neoliberalen Urbanismus begreifen. Ihr Erfolg wird nur an dessen Demontage zu
messen sein. Daraus folgt, dass Linke bei der Wahl ihrer stadtpolitischen Aktionen
und Kampagnen die Dynamik der neoliberalen Stadtpolitik und deren Auswir-
kungen auf die Bewegungslandschaft beachten sollten. Die Wohnraumfrage etwa
bietet Mobilisierungs- und Politisierungschancen, allerdings nur, wenn es gelingt,
auf die große Masse der Betroffenen und auf Solidarität zwischen ressourcenar-
men und mehr oder weniger privilegierten Gruppen hin zu orientieren und so den
inhärenten Spaltungstendenzen entgegenzuwirken. Eine Vereinnahmung und
Kooptierung von Akteuren, die über Artikulationsstärke, kulturelles Kapital oder
sonstige für die »kreative Stadt« nützliche Kompetenzen verfügen, torpediert das
cross-movement building, das so nötig ist. Nur wenn viele verschiedene Bewegungen
sich hinter eine Forderung wie etwa die von »Deutsche Wohnen & Co. enteignen!«
stellen, besteht die Chance, über kosmetische Veränderungen hinauszukommen.

LITERATUR
Balcerowiak, Rainer, 2018: Gegenteil einer sozialen Bewegung. In Großstädten tritt immer häufiger ein
links-alternatives Bürgertum auf, das ein Recht auf Stadt einfordert – für sich und nicht für Wohnungs­
lose, in: die tageszeitung, 15.11.2018
Castells, Manuel, 1983: The City and the Grassroots, Berkeley
Mayer, Margit, 2019: The Promise and Limits of Participatory Discourses and Practices,
in: Ülker, Bariş/Mar Castro, Maria do (Hg.), Doing Tolerance. Democracy, Citizenship and Social
Protests, Leverkusen (im Erscheinen)
Mitscherlich, Alexander, 1965: Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Frankfurt a.M.
Stadt von unten, 2018: Kommunal ist nicht genug! Übertragungsvertrag zum Dragonerareal frisst Modell-
projekt, 9.10.2018, https://stadtvonunten.de/kommunal-ist-nicht-genug-uebertragungsvertrag-zum-­
dragonerareal-frisst-modellprojekt/
Stadt von unten, 2019: Rathausblock/Dragonerareal: Stadtpolitische Initiative verweigert Mitarbeit an Werk-
statt zur »Beteiligung«, 4.4.2019, https://stadtvonunten.de/pressemitteilung-rathausblockdragonerareal-
stadt­politische-initiative-verweigert-mitarbeit-an-werkstatt-zur-beteiligung/
Ziehl, Michael, 2018: Zukunftsfähigkeit durch Kooperation. Ein Laborbericht, http://urban-upcycling.de/
laborbericht/

1 Vgl. die Pressemitteilung von Bundesweites Bündnis #Mietenwahnsinn vom 22.3.2019 unter
https://mietenwahnsinn.info/­demo-april-2019/wp-content/uploads/sites/4/2019/03/pm3-bundes-weites-­
buendnis-mietenwahnsinn.pdf.
2 Siehe z. B. www.realize-ruhrgebiet.de/2018/05/14/recht-auf-stadt-zwischen-abwehr-kaempfen-radikaler-
realpolitik-und-alternativen/.
3 Siehe z. B. European Action Coalition for the Right to Housing and to the City aus Anti-Zwangs­räu­mungs­
initiativen aus 13 europäischen Ländern: www.rosalux.eu/publications/resisting-evictions-across-europe/.
4 Das Areal ist seither im Besitz des Landes Berlin. Die BIMA regelte, dass 90 Prozent der Fläche kommu-
nal (also von einer Berliner Wohnungsbaugesellschaft) bewirtschaftet werden müssen, das heißt, maximal
zehn Prozent könnten selbstverwaltet bzw. in Erbbaurecht gemanagt werden.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     19


»DAS GESCHÄFTSMODELL
BASIERT AUF DER ENTEIG-
NUNG DER MIETER*INNEN«
GESPRÄCH ÜBER DIE PRAKTIKEN DER IMMOBILIEN-KONZERNE
UND DIE MÖGLICHKEIT DER GEGENWEHR

MIT KNUT UNGER sind selbst Kapitalsammelstellen, die für die


Finanzinteressen von Dritten agieren, zum
Immobilienriesen wie Vonovia und Deutsche Beispiel der berüchtigte Fondsverwalter Black-
Wohnen sind in aller Munde. Warum sind rock, der norwegische Staatsfonds oder große
sie eigentlich schlimmer als andere private Privatstiftungen und Versicherungen. Um
Wohnungsunternehmen und warum sollten ihre Kund*innen bei der Stange zu halten und
wir uns gerade mit ihnen anlegen? neue Anleger*innen zu gewinnen, müssen
Der Unterschied ist, dass die börsennotierten die gebotenen Renditen und Sicherheiten
Immobilienkonzerne kapitalmarktorientiert ständig verbessert werden. Und wie geht das?
sind. Sie sind also nicht nur damit beschäftigt, Indem die Mieteinnahmen gesteigert werden,
das eigene Vermögen zu bewahren oder zu die Bewirtschaftungskosten gesenkt, Risiken
mehren. Ihr Hauptgeschäft besteht darin, gestreut und die eigenen Geschäfte permanent
einer internationalen Kundschaft von Finanz- ausgeweitet und profitabler gemacht werden.
investoren Aktien und Anleihen anzubieten, Doch wir sollten diese Unternehmen
die lukrativer oder sicherer erscheinen als nicht nur mit anderen privaten Vermietern
die Anlagen der Konkurrenz, zum Beispiel vergleichen, sondern mit den früher gemein-
Staatsanleihen. Aus den Zahlungsströmen nützigen Wohnungsunternehmen. Fast alle
der Mieten und der Kreditsicherheit, die das Wohnungen der Immobilien-AGs wurden
Immobilieneigentum bietet, lassen sich zahl- einst mit öffentlichem Geld errichtet und
reiche Finanzprodukte konstruieren. Diese gehörten zu gemeinnützigen oder staatlichen
Produkte können global bewertet, permanent Organisationen. Ihr Zweck war nicht Rendite,
gehandelt und in weitere abgeleitete Finanz- sondern die Versorgung breiter Schichten der
produkte verpackt werden. Viele der Aktionäre Bevölkerung mit bezahlbarem Wohnraum.

20      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Dieses Erbe wurde mit der Abwicklung der
KNUT UNGER ist Sprecher des MieterInnenvereins
westdeutschen Wohnungsgemeinnützigkeit
Witten. Er ist seit vielen Jahren mit der Beratung,
und der DDR-Wohnungswirtschaft ab 1990 Organisierung und Interessenvertretung von
der hemmungslosen Verwertung ausgeliefert. Mieter*innen großer Wohnungsunternehmen
Ab Ende der 1990er Jahre wurden zahlreiche befasst. Zudem ist er Mitglied der Plattform
kritischer Immobilienaktionär*innen.
kommunale, werksverbundene und staatlich
kontrollierte Wohnungsunternehmen an Fi-
nanzinvestoren verkauft, umstrukturiert und
mit Profit an die Börse gebracht. Die Finanz- gen in externe Unternehmen ausgegliedert,
marktlogik begann alle Poren des Immobilien- um Kosten zu sparen. Seit etwa zehn Jahren
geschäftes zu durchdringen. Diesen Prozess, wird die entgegengesetzte Tendenz verfolgt:
der weder abgeschlossen noch widerspruchs- Die Branchenführer versuchen, immer mehr
frei ist, können wir als Finanzialisierung Tätigkeitszweige über Tochterunternehmen in
der Wohnungswirtschaft bezeichnen – ein ihre Konzernhierarchie zu integrieren – nicht
strukturell wichtiger Bestandteil der finanzdo- nur die Verwaltung, sondern auch Reparatu-
minierten kapitalistischen Formation. ren und Modernisierungen.
Insgesamt kontrollieren solche Vermieter Die Vonovia beschäftigt heute fast 10 000
etwa fünf Prozent der deutschen Mietwoh- Menschen, fast alle übrigens zu schlechteren
nungen. Das erscheint auf den ersten Blick Bedingungen als in der Immobilienwirtschaft
überschaubar. Doch sie sind die Vorreiter mit ihren entsprechenden Tarifverträgen
der Finanzialisierung aller Sparten des üblich. Sie lässt Fenster im Ausland fertigen
Wohnungswesens. Ihre Methoden setzen die oder kauft Heizkessel massenhaft und billig
Trends der ganzen Branche. Wenn wir diese ein. Wer heute einen Mietvertrag abschließt,
Entwicklung nicht stoppen, wird die Woh- bindet sich oft zugleich an einen Multimedia-
nungskrise niemals zu lösen sein. und Energieversorger, an dem der Vermieter
beteiligt ist. Von der Kalkulation möglicher
Du hast die Geschäftspraktiken von Firmen Mieterhöhungen über das Reparaturma-
wie Vonovia untersucht und sprichst von nagement bis zur Planung und Abrechnung
einer »finanzialisierten Industrialisierung« von Modernisierungsmaßnahmen wird die
der Wohnungswirtschaft. Was verbirgt sich gesamte Wohnungsbewirtschaftung immer
dahinter? mehr automatisiert. Der persönlich bekannte
Um ihre großen Wohnanlagen zu bewirt- lokale Vermieter wird durch eine digitale Si-
schaften, setzen Vonovia, Deutsche Wohnen, mulation ersetzt, die zum Teil autistische Züge
LEG und Co. immer stärker auf IT-gestützte annimmt: Direkte Kommunikation ist nicht
standardisierte Verfahren. Immer größere möglich, Ansprechpartner*innen sind nicht
Bereiche rund um das Wohnen unterwerfen erreichbar. Es werden unsinnige Baumaßnah-
sie einer digitalisierten Logik anonymisierter men ausgeführt und maschinell Phantom-
Finanzanlagen. Früher wurden Dienstleistun- rechnungen erstellt. Es werden massenhaft

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     21


willkürliche Mahnschreiben verschickt, die Aufwertung der Verkehrswerte der Immobili-
tatsächlich einen großen Teil der Mieter*innen en nicht mehr möglich. Denn diese basieren
einschüchtern. Viele sprechen von einem auch auf den geschätzten Mieteinnahmen der
»System Vonovia«, dessen Vorgänge für die nächsten zehn Jahre.
Mieter*innen undurchschaubar sind und
das jenseits der üblichen Marktgesetze und Können die Gewinne der Konzerne ewig wei-
mietrechtlichen Standards funktioniert. ter wachsen? Und wenn es einen Crash gibt,
ist das gut oder schlecht für die Mieter*innen?
Viele Proteste von Mieter*innen entzünden Das ist keine abstrakte ökonomische Frage. Das
sich an Modernisierungen. Welche Rolle hängt stark von den sozialen und politischen
spielen sie in diesem System? Kräfteverhältnissen ab. So stark wie die Gewin-
Die massenhaften Instand-Modernisierungen ne und Mieten wachsen die Einkommen nicht.
sind der extremste Ausdruck des Systems der Früher oder später muss dieser Widerspruch
finanzdominierten Industrialisierung. Ange- zum Knall führen, politisch oder wirtschaft-
sichts niedriger Zinsen von zurzeit acht Prozent lich. Der Job der Manager ist es, diesen Crash
der Baukosten auf die jährliche Miete der aufzuschieben und den Widerspruch zum
Renditetreiber Nummer eins. Das gilt beson- Wohl der Finanzrendite zu beherrschen. Dafür
ders für die Konzerne mit ihren standardisier- verfügen sie über mehrere Methoden. Unter
ten Massenmodernisierungen. Die jüngste der Bezeichnung »Portfoliomanagement« ver-
Änderung des Modernisierungsrechts mit ändern sie ständig die Zusammensetzung ihrer
zeitlich begrenzten Mieterhöhungsdeckeln stellt Wohnungsbestände und damit ihrer Mieter-
für sie kein Problem dar. Vonovia-Chef Rolf schaften. Wohnviertel mit schlechter Miethö-
Buch rühmte sich in einem Analystengespräch hungsprognose werden an andere Spekulanten
sogar, diese Regelung bei Politikern angeregt zu verkauft. Viertel mit besserem Erhöhungspo-
haben. Wenn es zu größeren Protesten kommt, tenzial werden zugekauft. Ähnliche Folgen hat
die den Ruf der Konzerne schädigen und die Verdrängung durch Modernisierung.
politische Konsequenzen oder das Misstrauen Oft haben die Bewohner*innen aber gar
der Anleger hervorrufen, können die Konzerne keine Möglichkeit auszuweichen und zahlen
flexibel nachsteuern. Im Dezember 2018 hat die dann eben mehr, als sie sich leisten können.
Vonovia verkündet, freiwillig auf neue Moder- Man spart sich die erhöhte Miete vom Munde
nisierungen, die zu Miethöhungen von über 2 ab, nimmt noch einen weiteren prekären Job
Euro pro qm führen würden, zu verzichten, um an oder arbeitet schwarz. Das Fast-Monopol,
Konflikte mit den Mieter*innen zu vermeiden. das die Konzerne an manchen Orten bei den
Trotzdem geben sie das Ziel, die Mieten Angeboten von Wohnungen für Menschen mit
weiter zu steigern, natürlich nicht auf: Es ist begrenztem Einkommen und Migrationshin-
für die finanzindustriellen Vermietungskon- tergrund haben, sorgt dafür, dass die Mieten
zerne existenziell. Ohne steigende Mietein- auch bei stagnierenden Löhnen weiter steigen.
nahmen wäre die jährliche milliardenschwere Aber natürlich spitzt sich durch diese Abpres-

22      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


sung von Rendite der Konflikt gesellschaftlich
auch immer mehr zu.
Die Vonovia reagiert darauf mit einer fle-
xibleren Taktik. Fassadendämmungen ganzer
Wohnviertel lösen kollektive Betroffenheit
und damit Proteste aus. Mit kleinteiligeren
Modernisierungen einzelner Wohnungen
verhindert man diesen Effekt. Allerdings kann
man ohne Massenmodernisierungen nicht
unbedingt die Wachstumssprünge machen,
die man als Marktführer benötigt. Das gelingt
nur mit dem Zukauf von Wohnungspaketen
mit hohem Mietsteigerungspotenzial. In
Deutschland sind günstige privatisierte
Sozialwohnungen ausverkauft, einen Ausweg
bietet das Ausland. Die Vonovia ist der größte
private Vermieter in Österreich und baut
ihre Position in Schweden aus, wo sie auf
Modernisierungen setzt. Sie hat bereits eine
Beteiligung in Frankreich, dessen immer noch
riesiger Bestand an öffentlichen Wohnungen
gerade durch die Regierung Macron für
Privatisierungen geöffnet wird.
Eine weitere Wachstumsstrategie ist es, Die riskanten Verbriefungen des letzten Jahr-
die Kontrolle über die Zulieferketten und woh- zehnts wurden durch Unternehmensanleihen
nungsnahen Dienstleistungen auszuweiten, mit stärker differenzierter Laufzeit ersetzt.
zum Beispiel im Energiebereich, aber vor al- Aktienkapital spielt eine größere Rolle. Trotz-
lem mit der Digitalisierung des Wohnens und dem könnten die Konzerne auch wieder von
dem Internet der Dinge. Die LEG hat bereits einem Finanzcrash betroffen sein, etwa wenn
die »Industrialisierung 4.0« der Wohnungs- die Zinsen sprunghaft steigen. Ich glaube aber
wirtschaft ausgerufen. Die Mieter*innen nicht, dass so ein Crash von ihnen ausgehen
können mit diesem Vermieter inzwischen wird. Und es werden zunächst eher die kleine-
besser mit einer App kommunizieren als per ren Fonds sein, die dann pleitegehen.
Telefon. Der Konzernvermieter der Zukunft Ein ungeregelter Crash eines Wohnungs-
könnte viele Züge des »Großen Bruders« aus unternehmens ist in der Regel schlecht für die
Orwells Dystopie »1984« tragen. Mieter*innen. Es kommt zu jahrelangen Ab-
Natürlich beschäftigen sich die Konzerne auch wicklungsketten, bei denen sich undurchsich-
intensiv mit der Optimierung ihrer Schulden. tige Geierfonds spekulativ bereichern und die

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     23


Wohnungen verfallen lassen, bevor dann die eigene Wohnungsunternehmen, die sich in
nächste extraktive Investitionswelle einsetzt. eine Anstalt öffentlichen Rechts umwandeln
Anders liefe es nur, wenn sich der Staat oder ließen. Die Berliner*innen allein werden eine
eine besonders gute Mieterorganisation darauf öffentlich bezahlbare Enteignung grenzüber-
einstellen und die Initiative ergreifen würde, greifend agierender Wohnungskonzerne
die Wohnungen der Bankrotteure günstig in wahrscheinlich aber nicht isoliert durchsetzen
gesellschaftlich kontrolliertes Eigentum zu können. Wir brauchen eine bundesweite
überführen. Bewegung, um die Kontrolle über die Woh-
nungswirtschaft zurückzugewinnen. Bei aller
Die Kampagne »Deutsche Wohnen & Co. Begeisterung für den Gedanken einer grund-
enteignen« in Berlin erzielt gerade enorme legenden Alternative sollten wir dabei nicht
Aufmerksamkeit. Ist das die richtige Initiative die notwendigen Etappenziele und die vielen
in der jetzigen Situation? möglichen Verbesserungen des bestehenden
Die Geschäftsmodelle dieser Konzerne Rechts vergessen. Es gibt weder auf Bundes-
basieren auf der alltäglichen Enteignung der noch Länderebene ein Gesetz, das Verwer-
Mieter*innen. Der nicht ganz neue Gedanke, tungsstrategien Grenzen setzt. Es wäre zum
die Enteigner zu enteignen und Wohnungen Beispiel nötig und möglich, die Transparenz
unter gesellschaftliche Kontrolle zu bringen, der Eigentümerstrukturen und die Kontrolle
ist deshalb naheliegend. Viele betroffene der Mieterschaft bei der Berechnung von
Mieter*innen nicht nur in Berlin, auch bei Mieterhöhungen und Nebenkosten viel besser
uns im Ruhrgebiet oder zum Beispiel in zu regeln. Eine effiziente Besteuerung von
Stuttgart stimmen dem Slogan der Enteig- Anteilsverkäufen würde das Geschäftsmodell
nung spontan zu. Es ist erstaunlich, was die auf einen Schlag unattraktiver machen.
Berliner Kampagne alles ausgelöst hat. Aber Um bundesweit aus der finanzdominierten
die Gegenseite reagiert natürlich mit ihrer Wohnungswirtschaft auszusteigen, bräuchten
eigenen Propagandamaschine und hat bereits wir den gesetzlichen Rahmen einer dauerhaft
erreicht, dass die Zustimmung im Bundesge- sozial gebundenen, demokratisch organisier-
biet begrenzt ist. Trotzdem ist gesellschaftlich ten neuen Wohnungsgemeinnützigkeit – und
die richtige Frage gestellt, die neue Hand- eine ganze Landschaft an Akteuren, die sich
lungsspielräume eröffnen kann. Aber dazu ihren Regeln unterwerfen. Die Übertragung
braucht es nicht nur Slogans, sondern auch der Immobilien an diese Akteure könnte man
eine realistische Strategie. mit einer niedrigen »Exit-Tax« begünstigen.
Die Berliner*innen sind in der glück- Die Vergesellschaftung wäre so auch ohne den
lichen Lage, dass sie eine Landesregierung Enteignungshammer möglich. Ein Enteig-
haben, die sie mit der Kampagne zu radika- nungs- und Sozialisierungsgesetz muss es
leren Konsequenzen treiben können. In den aber trotzdem geben, um rechtzeitig auf eine
Flächenländern sind wir weit davon entfernt. mögliche Kapitalflucht und die Ausplünde-
Hier haben wir oft nicht einmal mehr landes- rung der Immobilien reagieren zu können.

24      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Ein rein der Finanzrendite verpflichteter bräuchten wir in der Tat ein Vergesellschaf-
Wohnungssektor ist weder mit dem Men- tungsgesetz, um eine ungeregelte spekulative
schenrecht auf Wohnraum noch mit der Abwicklung zu verhindern. In jedem Fall
grundgesetzlichen Sozialverpflichtung des brauchen wir also sowohl eine strikte Regulati-
Eigentums vereinbar. In diesem Sinne ist die on der Wohnungsunternehmen als auch eine
Sozialisierung des Wohnungswesens tatsäch- konkrete Vergesellschaftungsperspektive.
lich eine wesentliche Herausforderung, der
sich diese Gesellschaft heute stellen muss. Immer mehr Mieter*innen der großen Kon-
zerne schließen sich zusammen. Inwiefern
Könnte eine entschlossene Politik gegen diese entstehen mit dem Aufstieg der neuen Player
Industrie, etwa eine Enteignung, zu einem auch neue Möglichkeiten der Organisierung?
Crash führen? Wie reagieren die Konzerne auf Bei diesem massenhaften Angriff auf die
den Versuch, ihr Geschäftsmodell zu zerstören? Einkommen und Lebensbedingungen der
Wenn es zu einer realistischen Option wird, Menschen ist es nicht verwunderlich, dass
dass Wohnungskonzerne zum Beispiel in Ber- es zu Gegenwehr und Protesten kommt. Die
lin enteignet werden, wird das natürlich Ein- Organisierung über die einzelnen betroffenen
fluss auf die Geschäftsmodelle haben. Da sich Standorte oder über einzelne Städte wie Berlin
die Gesetzgebung und die verfassungsrecht- hinaus steckt aber noch in den Anfängen. Das
liche Auseinandersetzung länger hinziehen Potenzial ist groß: Das standardisierte Vorge-
werden, haben die Konzerne genügend Zeit, hen der Konzerne könnte mit standardisierten
sich andere Investitionsziele zu suchen oder und weit verbreiteten Gegenmaßnahmen
auf eine gute Entschädigung zu spekulieren. beantwortet werden – vielleicht sogar in einer
Je nach der Marktsituation könnte die Aussicht standortübergreifenden, quasi syndikalis-
auf Entschädigung die Kurse sogar stützen. tischen Organisation. Die auf individuelle
Kurzfristig könnte es ihnen mehr wehtun, Rechtsberatungen ausgerichteten Strukturen
wenn es zu einem wirksamen Mietendeckel der Mietervereine tun sich aber schwer, eine
und zur Abschaffung der Modernisierungs- entsprechende Praxis zu entwickeln. Und
erhöhung käme. Vor allem wenn ein Mieten- die meisten Mieterinitiativen verschwinden,
deckel auf einzelne Bundesländer beschränkt wenn der unmittelbare Anlass ihrer Aktionen
bliebe, könnten die Konzerne aber reagieren, nicht mehr besteht. Ich denke, es müssen sich
indem sie den betroffenen Beständen Kapital zunächst die offensiven und basisorientierten
entziehen und – wie vor zehn Jahren – viel zu Kräfte in den traditionellen Mieterorgani-
wenig in die Instandhaltung investieren. Um sationen, den Initiativen und den linken
das zu verhindern, muss man sie unbedingt Bewegungen zusammentun. Sie könnten
gesetzlich zwingen, liquide Bauerneuerungs- handlungsfähige Plattformen bilden und sich
rücklagen zu bilden und zu verwenden. Wenn in der Fläche verankern.
es dann tatsächlich steil abwärts ginge mit
den Renditen von Deutsche Wohnen & Co., Das Gespräch führte Hannah Schurian.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     25


DIE ABSAHNER
WIE INVESTMENTFONDS DIE FINANZIALISIERUNG
DES WOHNENS VORANTREIBEN

CHRISTOPH TRAUTVETTER Wenn im Immobilienbereich über gnaden­


lose Profitmaximierung, hohe Managerge­
hälter und überhöhte Renditen gesprochen
wird, liegt der Fokus meistens auf den
börsen­notierten Wohnungsunternehmen.
Share Deals zur Vermeidung von Grund­
erwerbssteuer werden immer wieder als
Symbol für ein ungerechtes Steuersystem
genannt. Und bei Geldwäsche denken
viele Politiker*innen, Journalist*innen und
ihre Leser*innen an die Geldkoffer der
italienischen Mafia. Ein Akteur wird dabei
oft übersehen: die Immobilienfonds und
Vermögensverwalter. Sie zahlen teilweise
noch sehr viel höhere Gehälter und erzielen
mit hochspekulativen Anlagestrategien die
höchsten Profite. Durch die ­Registrierung
in Steueroasen umgehen sie nicht nur die
Grunderwerbssteuer, sondern zusätzlich die
Kapitalertrags-, die Gewerbe- und die Körper­
schaftsteuer. Dadurch, dass ihre Investoren
völlig anonym bleiben, sind sie ein perfektes
Vehikel für die Hinterziehung der Einkom­

26      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


mensteuer und dafür, schmutziges Geld in kauften angelsächsische »Heuschrecken«‚ in
den legalen Markt zu schleusen. großem Umfang kommunale Wohnbestände
und dominierten den deutschen Wohnimmo­
DIE GROSSEN IMMOBILIENFONDS bilienmarkt.2 Diese Rolle haben sie zwischen­
AUF DEM DEUTSCHEN WOHNUNGSMARKT zeitlich an die großen Immobilien-AGs und
Investmentfonds sammeln Kapital von Inves­ deren Anteilseigner abgegeben.3
toren ein und verwalten es mit einer vorher Einer der größten Immobilieninvestoren
vereinbarten Anlagestrategie in deren Namen. der Welt ist der US-amerikanische Vermögens­
Es gibt Fonds für professionelle Investoren verwalter Blackstone, der weltweit Immobi­
wie Versicherungen mit Mindestbeteiligungen lien im Wert von 250 Milliarden US-Dollar
von zehn Millionen Euro und mehr sowie besitzt.4 Anfang 2018 kaufte Blackstone auch
sogenannte Publikumsfonds. Die meisten von knapp 60 Mietshäuser in Berlin – von Talie­
ihnen investieren in Aktien, unter anderem von sin, einem auf Jersey beheimateten Invest­
börsennotierten Immobiliengesellschaften, ein mentfonds. Blackstone war bereits früher in
Teil aber auch direkt in Immobilien. Invest­
mentfonds aus Deutschland verwalten insge­
samt knapp 3 Billionen Euro, davon sind knapp CHRISTOPH TRAUTVETTER ist Politikwissenschaftler,
200 Milliarden Euro zu ungefähr gleichen Public-Policy-Experte und Unterstützer des
Netzwerks Steuergerechtigkeit. Er ist Mitautor des
Teilen auf professionelle und publikumsoffene
von der Rosa-Luxemburg-Stiftung 2019 herausge-
Immobilienfonds (Gewerbe und Wohnen) gebenen Buchs »Wem zahle ich eigentlich Miete?«.
verteilt. Zu den größten deutschen und für
die Allgemeinheit offenen Immobilienfonds
gehören Wertgrund Wohnselect D (mit circa Berlin und Deutschland aktiv, verkaufte aber
2 000 Wohnungen), Fokus Wohnen Deutsch­ beispielsweise 2013 ein größeres Paket an die
land (circa 1 700 Wohnungen) und UniImmo: Deutsche Wohnen.
Wohnen ZBI. Darüber hinaus gibt es eine Reihe
professioneller und ausländischer Investment­ WIE VIEL VERDIENT DER INVESTMENT-
fonds, zu denen aber kaum Daten vorliegen. MANAGER EINES IMMOBILIENFONDS?
Laut Gebäude- und Wohnungszählung Die deutschen Publikumsfonds brachten
des Statistischen Bundesamtes waren 2011 ihren Anlegern in den letzten Jahren im
deutschlandweit ungefähr 700 000 und in Schnitt zwischen 2,5 und 3 Prozent Rendite
Berlin immerhin 130 000 Wohnungen im (Scope Investor Services 2018a) und damit
Besitz von »anderen privatwirtschaftlichen deutlich mehr als ein Sparkonto. Institutio­
Unternehmen«, also Banken, Versicherungen nelle Investoren erwarten von professionellen
und Fonds.¹ Mit einem Gesamtanteil von rund Fonds immerhin sechs bis acht Prozent
zwei beziehungsweise sieben Prozent sind sie Rendite (Scope Investor Services 2018b) und
eine der kleinsten Eigentümergruppen, aber Blackstone wirbt bei seinen Anlegern sogar
dafür eine der aktivsten. Vor der Finanzkrise mit einer Rendite von 16 Prozent.

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019    27


Doch bevor diese Renditen bei den Anlegern Dollar rangiert er auf Platz 34 der Forbes-Liste
ankommen, werden hohe Management­ der Milliardäre.
gebühren fällig. Die Investmentmanager
erhalten in der Regel ein Honorar von ein bis WIE SCHAFFEN ES IMMOBILIENFONDS,
zwei Prozent des verwalteten Immobilienvo­ SO GUT WIE KEINE STEUERN ZU ZAHLEN?
lumens, zuzüglich einer Erfolgsbeteiligung Das Ziel maximaler Renditen erreichen inter­
an der Wertsteigerung von 20 Prozent – eine nationale Immobilienfonds zum einen über
Strafe für Wertverminderung ist meistens professionell gemanagte Mietsteigerungen
nicht vorgesehen. Was das im Einzelfall und gut getimte Spekulationen, zum anderen
bedeuten kann, zeigt der Fall der Berliner über aggressive Steuervermeidung. Kauft man
Häuser von Taliesin und Blackstone. als Privatperson ein deutsches Mietshaus,
In einem aus Investorensicht großartigen zahlt man auf die Mietüberschüsse – also
Jahr wie 2017, in dem die Immobilienpreise die Einnahmen nach Abzug der Kosten – in
explodierten, erhielt der Investmentmanager Deutschland Einkommensteuer, je nach Höhe
von Taliesin laut Jahresabschluss knapp des Einkommens bis zu 47,5 Prozent (ein­
17 Millionen Euro Honorar und Boni – schließlich Reichensteuer und Solidaritätszu­
bei Mieteinnahmen von lediglich knapp 11 schlag). Und zwar ganz egal, in welchem Land
Millionen Euro. Er beanspruchte nicht nur man geboren ist oder wo man wohnt. Das Be­
die kompletten Mieteinnahmen des Jahres, steuerungsrecht für Mieteinnahmen liegt fast
sondern auch einen Teil der zukünftigen immer bei dem Land, in dem das Haus steht.
Einnahmen und Mietsteigerungen für sich. Verpackt man das Haus in ein Unternehmen,
Pro Mietpartei kostete er 2017 grob überschla­ dann verteilt sich die Steuerzahlung auf zwei
gen 13 000 Euro – ohne dafür, abgesehen Stufen, verändert sich aber im Effekt kaum. Auf
von ein paar gezielten Luxussanierungen und Stufe eins bezahlt das Unternehmen auf seine
aus Anlegersicht gut gemanagten Mietstei­ Gewinne Körperschaft- und Gewerbesteuer von
gerungen, eine Gegenleistung erbracht zu zusammen knapp 30 Prozent. Auf Stufe zwei
haben. Der Chef und Gründer von Blackstone, zahlt der Anteilseigner noch einmal zusätzli­
Stephen A. Schwarzmann, genehmigte sich che Steuern, wenn er die Gewinne ausbezahlt
im selben Jahr ausweislich des Jahresabschlus­ bekommt. Zusätzlich zur Einkommensteuer
ses Gehalt und Prämien von insgesamt 132 werden beim Kauf einmalig bis zu 6,5 Prozent
Millionen US-Dollar, zuzüglich einer Dividen­ vom Kaufpreis als Grunderwerbsteuer fällig.
de auf seine Anteile von knapp 661 Millionen Wertsteigerungen werden beim Verkauf
US-Dollar. Auf das gesamte durch Blackstone pauschal, also unabhängig von der Höhe
verwaltete Vermögen runtergerechnet – mit des Einkommens, mit 25 Prozent besteuert.
über 400 Milliarden US-Dollar deutlich mehr Mit der richtigen Strategie lassen sich fast
als bei Taliesin –, hätte Herr Schwarzmann alle diese Steuern umgehen. Taliesin und
jede Mietpartei nur rund 350 Euro gekostet. Blackstone zeigen wieder beispielhaft, wie das
Mit einem Vermögen von 13,3 Milliarden US- funktioniert.

30      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Fangen wir mit den Steuern auf Einkommen Share Deal werden nicht Häuser verkauft, son­
und Unternehmensgewinne an. Immobi­ dern Firmenanteile, und der Eigentümer im
lienfonds zählen in Deutschland meistens Grundbuch ändert sich nicht. Werden weniger
nicht als Gewerbebetriebe, sondern als als 95 Prozent der Firmenanteile übertragen,
vermögensverwaltende Gesellschaften. Mit der entfällt die Grunderwerbsteuer. Und wenn
richtigen Gestaltung und ein paar Vorsichts­ der Share Deal im Ausland stattfindet, entfällt
maßnahmen sparen sie sich so die Gewer­ wegen einer Gesetzeslücke auch die Steuer
besteuer und zahlen lediglich 15,8 Prozent auf die Wertsteigerung. Um trotzdem 100 Pro­
Körperschaftsteuer und Solidaritätszuschlag zent der Immobilien übernehmen zu können,
auf ihre Gewinne. Mit einem firmeninternen hat Taliesin eine Konstruktion gewählt, bei der
Kredit aus Luxemburg oder einer anderen ein kleiner Teil der Anteile auf eine auf dem
Steueroase sowie mit dem geschickten Hin- Papier unabhängige Treuhandgesellschaft
und Herschieben von Verlusten und anderen ausgelagert wurde. Beim Verkauf an Black-
Tricks lässt sich der zu versteuernde Gewinn stone wurde diese Gesellschaft für einen Euro
noch kleinrechnen, sodass nur sehr geringe mit verkauft. Blackstone war anscheinend
Steuerbelastungen übrigbleiben. Anstatt die weniger kreativ und griff auf zwei in Jersey
Gewinne in Deutschland auszuschütten und eigens für den Deal gegründete Gesellschaften
zu versteuern, werden sie über Luxemburg in (Canary und Wren) zurück. Zumindest die
eine Steueroase wie Jersey oder die Cayman Gesetzeslücke bei den Wertsteigerungen ist
Islands geschleust, wo die Steuerlast null seit dem 1. Januar 2019 und damit pünktlich
Prozent beträgt. Wenn sich dann der Anteils­ zum Ende des Immobilienbooms und den
eigner dort hinter anonymen Firmenkonstruk­ damit verbundenen Preissteigerungen und zu
tionen vor den heimischen Steuerbehörden spät für Blackstone gestopft. Auch die Schlie­
versteckt oder seinen steuerlichen Wohnsitz ßung der Lücke bei der Grunderwerbsteuer
durch ein paar Tricks dorthin verlagert, wo wird seit mehreren Jahren vorbereitet. 2018
keine Steuern auf ausländisches Einkommen einigten sich die Finanzminister der Länder
fällig werden, entfällt Stufe zwei der Besteue­ darauf, die Grenze für den Share Deal auf
rung nicht nur für Deutschland, sondern kom­ 90 Prozent abzusenken. Aber während das
plett. Wem die Anteile an Blackstones Fonds Gesetz aktuell im Bundestag verhandelt wird,
gehören, ist für die Öffentlichkeit – anders als ist Blackstone schon einen Schritt weiter und
bei normalen Unternehmen – nicht nachvoll­ hat laut Eintrag im deutschen Handelsregister
ziehbar und auch für die Steuerbehörden oft vorsorglich die Anteile seiner zwei Firmen
nicht zu erkennen. entsprechend angepasst.
Auch die Grunderwerbsteuer und die
Steuer auf Wertsteigerungen – für Spekulan­ WER KONTROLLIERT DIE HERKUNFT
ten mit hohen Renditeerwartungen mindes­ DES GELDES?
tens genauso wichtig – lassen sich mit einem Dass die Investoren von Immobilienfonds
einfachen Trick umgehen. Beim sogenannten fast immer anonym bleiben, ist nicht nur für

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019    31


die Besteuerung problematisch. Expert*innen Geldes« jemals entdeckt wird. Besonders groß
gehen davon aus, dass knapp zehn Prozent sind diese Löcher bei den Investmentfonds.
des weltweiten Vermögens – je nach Schät­ So sind etwa US-amerikanische Investment­
zung zwischen sieben und 25 Billionen Euro manager von der Verpflichtung ausgenom­
– völlig anonym ist (Henry 2012; Zucman men, ihre Kunden auf Geldwäscheverdachts­
2015). Das sieht man beispielsweise an den momente zu überprüfen und gegebenenfalls
Lücken in den internationalen Investmentsta­ anzuzeigen. Bei den Registern für die
tistiken. Dort melden Länder die Guthaben wirtschaftlichen Berechtigten gelten wieder­
und Schulden ihrer Bürger*innen gegenüber um Grenzen: Anteilseigner, die weniger als
dem Ausland. Lücken entstehen dabei, wenn 25 Prozent besitzen, müssen nicht gemeldet
beispielsweise ein deutscher Arzt von seinem werden, was bei Investmentfonds meistens
anonymen Konto in der Schweiz in einen in für alle Anleger zutrifft.
Luxemburg beheimateten Immobilienfonds Auch hierzu ein Beispiel: Trockland ist
investiert. Dann meldet Luxemburg Schulden ein Berliner Immobilienprojektentwickler, der
gegenüber der Schweiz, die Schweiz meldet auch an einem Wohnprojekt in der Nähe vom
aber kein Guthaben gegenüber Luxemburg, Checkpoint Charlie und der Neubebauung
weil sie weiß, dass es Deutschland zuzuord­ des Checkpoint Charlie selbst beteiligt ist.
nen ist. Aber weil Deutschland das nicht weiß, Zu den Investoren des Wohnprojekts gehö­
meldet auch Deutschland kein Guthaben. ren laut Presseinformationen (vgl. Keller/
Das heißt nicht nur, dass die Steuerbe­ Schlieter 2018) auch Familienmitglieder des
hörden leer ausgehen, auch Nachforschungen ehemaligen und mittlerweile verstorbenen
von Ehepartner*innen im Scheidungsfall turkmenischen Präsidenten Nijazov. Ihm
genauso wie polizeiliche und nachrichten­ und seiner Familie wird vorgeworfen, in
dienstliche Ermittlungen zu Profiten aus Dro­ seiner Amtszeit mehrere Milliarden Euro
genhandel, Waffenschmuggel und Korruption aus staatlichen Gasgeschäften auf private
oder zur Finanzierung von terroristischen Konten abgezweigt zu haben. Von den
Organisationen verlaufen oft im Sande. Um Geldern fehlt bis heute jede Spur. Im Fall von
das zu vermeiden, gibt es eigentlich ein Trockland tauchen die Familienmitglieder
internationales System aus Geldwäschegeset­ im deutschen Handelsregister als Anteils­
zen, das Banken, Makler- und Berater*innen eigner der für das Wohnprojekt zuständigen
und viele andere Beteiligte dazu verpflichtet, Objektgesellschaft für jeden sichtbar auf.
verdächtige Transaktionen zu melden. Wie viel Geld sie investiert haben und woher
Außerdem verpflichten immer mehr Länder das Geld kommt, ist nicht ersichtlich. Es gilt
Firmen dazu, ihre endgültigen Eigentümer zunächst die Unschuldsvermutung. Sehr
– die sogenannten wirtschaftlichen Berech­ viel undurchsichtiger wird es, wenn man
tigten – in Registern offenzulegen. Allerdings sich die Kreditgeber von Trockland anschaut.
ist dieses System so löchrig, dass nur ein Dabei handelt es sich um einen anonymen
verschwindend kleiner Teil des »schmutzigen Spezialfonds aus Luxemburg. Mit Geldwä­

32      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


schevorwürfen konfrontiert, hat Trockland der Wurzel zu packen, müssten die finalen
auf seiner Internetseite erklärt, dass es sich Nutznießer von Immobilieninvestments
bei den Anteilseignern dieser Fonds unter registriert und leistungsloses Einkommen
anderem um »institutionelle Investoren aus etwa in Form von spekulativen Gewinnen
Europa, darunter Pensionskassen, Versiche­ aus Bodenwertsteigerungen angemessen
rungsunternehmen sowie Investmentfonds besteuert werden. Auch dafür gibt es eine
aus Großbritannien, Niederlande, Luxemburg Vielzahl konkreter Vorschläge: angefangen
und Schweiz« handele. Wer sich hinter diesen von einer Erfassung von Immobilienwerten
Fonds verbirgt, bleibt ein Geheimnis. für eine wertabhängige Grundsteuer über die
Einführung eines Immobilienregisters, das
WAS DAS FÜR BEZAHLBARE MIETEN BEDEUTET die wirtschaftlich Berechtigten erfasst, bis hin
In einem angespannten Marktumfeld sorgen zur Wiederbelebung der Vermögensteuer.5
Spekulanten, darunter viele Investmentfonds, ZUM WEITERLESEN
dafür, dass sich die gestiegenen Preise Bonczyk, Sopie/Trautvetter, Christoph, 2019: Profitmaxi­
mierer oder verantwortungsvolle Vermieter? Hg v.d. Rosa-
schneller und auf einen viel größeren Teil Luxemburg-Stiftung
des Immobilienbestands übertragen. Ihre
Spekulationsgewinne sind für Kommunen LITERATUR
und Mieter*innen für immer verloren und Global Witness, 2006: It’s a gas. Funny Business in the
Turkmen-Ukraine Gas Trade, 25.6.2006,
müssen in Zukunft über Verluste neuer www.globalwitness.org/en/reports/its-gas/
Investoren oder höhere Mieten getragen Henry, James Stuart, 2012: The Price of Offshore Revisited,
Tax Justice Network
werden. Durch aggressive Steuervermeidung Keller, Gabriele/Schlieter, Kai, 2018: Investoren am Check­
und möglicherweise mit ›schmutzigem Geld‹ point Charlie, in: Berliner Zeitung, 4.12.2018
Peters, Rolf Herbert, 2005: Heuschrecken spielen Monopoly,
erhöhen die Investoren dabei ihre Renditen in: Der Stern, 29.10.2005
Scope Investor Services, 2018a: Renditen offener Immo-
auf Kosten der Allgemeinheit. Wenige
bilienfonds, 11.9.2018
Einzelpersonen schöpfen so riesige Gewinne Dies., 2018b: Institutionelle Immobilienfonds: ein
Marktüberblick, 9.4.2018
ab. Würde man sowohl den Kauf als auch Zucman, Gabriel, 2015: The hidden wealth of nations – the
die Wertsteigerung bei Verkauf ordentlich scourge of tax havens, Chicago University Press
besteuern und dafür die Option von Share
Deals ausschließen, würde Spekulation teurer 1 Vgl. www.zensus2011.de/DE/Zensus2011/Methode/
Methode_GWZ_node.html.
und damit unattraktiver. Darüber, dass diese 2 Vgl. z. B. Peters (2005); http://spiegelkabinett-blog.
Gesetzeslücke geschlossen werden soll, be­ blogspot.com/2013/01/heuschrecken-saugen-wohnungs­
markt-aus.html.
steht weitestgehend Einigkeit, auch wenn sich 3 Vgl. die BBSR-Datenbank Wohnungstransaktionen
die Immobilienlobby und Teile der CDU/CSU unter www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/WohnenImmobilien/
Marktakteure/ProjekteFachbeitraege/DatenbankWohnungs­
noch dagegen wehren. Der aktuelle Gesetzes­ transaktionen/Veroeffentlichungen.html.
vorschlag zur Grunderwerbsteuer muss aber 4 Vgl. www.blackstone.com/the-firm/asset-management/
real-estate.
dringend verschärft werden. Um die Proble­ 5 Vermögensteuer wurde in Deutschland zuletzt 1996
erhoben. Vgl. dazu auch: https://netzwerksteuergerech­
me unfairer Vermögensverteilung, ungleicher
tigkeit.files.wordpress.com/2018/09/2018_09_11_info-
Besteuerung und Geldwäsche wirklich an steuergerechtigkeit-zu-immobilien1.pdf.

MIETE UND RENDITE | LUXEMBURG 2/2019     33


»ENTEIGNUNG IST
INZWISCHEN
MEHRHEITSFÄHIG«
GESPRÄCH ÜBER MIETER*INNEN-ORGANISIERUNG
UND DIE ERNEUERUNG LINKER POLITIK

MIT MARIEKE PREY UND JAN SAHLE Solange ein Großteil des Wohnsektors waren­
(INTERVENTIONISTISCHE LINKE BERLIN) förmig organisiert ist und profitorientierte
Konzerne damit die Renditeansprüche ihrer
Ihr seid Teil der Berliner Kampagne »Deut­ Anleger*innen bedienen müssen, sind soziale
sche Wohnen & Co. enteignen«, die bundes­ Mietverhältnisse unrealistisch.
weit in aller Munde ist. Die Initiative will per Langfristig wollen wir aber mehr errei­
Volksentscheid Druck machen, große private chen als soziale Mieten. Die Vergesellschaf­
Wohnungsunternehmen zu enteignen. Wieso tung ist der entscheidende Schritt, damit wir,
ist das im Moment die richtige Forderung? die Bewohner*innen Berlins, die demokrati­
Reicht es nicht, andere mietenpolitische Hebel sche Gestaltungsmacht über unsere schöne
anzusetzen? Stadt zurückgewinnen. Auf diese Weise wollen
Mit der Kampagne wollen wir mehr als nur wir auch zeigen, dass es konkrete linke Ant­
die Mietpreisentwicklung ein bisschen zu ver­ worten auf drängende soziale Probleme gibt.
langsamen. Unser Ziel ist es, Wohnungen zu Beim Thema Mieten spürt die Mehrheit der
vergesellschaften, Wohnen also als ­Gemeingut Berliner*innen, dass das Dogma »der Markt
und nicht als Ware zu organisieren. Dazu regelt alles« nicht stimmt. Die Enteignungs­
müssen wir die Wohnungen wirklich de­ kampagne greift ein sehr alltägliches und
mokratisieren und unter die Kontrolle der existenzielles Problem auf und zeigt, wie un­
Bewohner*innen und der ­Stadtgesellschaft gerecht die kapitalistische Vergesellschaftung
stellen. Dies ist der nach­haltigere Ansatz, ist. Hier die Eigentumsfrage zu stellen, macht
denn andere Hebel tasten die Ursache von eine solidarische Perspektive auf und deutlich,
Mietenwahnsinn und Verdrängung nicht wie wir gemeinsam gegen die Neoliberalisie­
an und bringen keine echte Veränderung. rung und ihre Folgen kämpfen können. Das

34      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


ist auch für Leute anschlussfähig, die noch
MARIEKE PREY UND JAN SAHLE sind in der Stadt AG
keine Antikapitalist*innen sind.
der Interventionistischen Linken Berlin aktiv, die
sich aktuell in der Kampagne »Deutsche Wohnen
Enteignungen waren bis vor Kurzem ein & Co. enteignen« engagiert.
Tabuthema oder galten als »linksextreme«
Forderung. Wie kommt es, dass eure Kampa­
gne jetzt so breite Akzeptanz genießt? sich linker oder gar linksradikaler Politik
Das Wichtigste ist, dass in den letzten Jahren eher fern fühlen, ob die von Verdrängung
eine sehr starke und vielseitige mietenpoliti­ bedrohten Menschen mit wenig Einkommen
sche Bewegung in der Stadt entstanden ist, die oder die bürgerlichen Kreise, die ebenfalls den
auch wirklich handlungsfähig ist. An dieser Mietenwahnsinn spüren.
Bewegung kommt niemand mehr vorbei. Den Es gab zudem ganz konkrete Schritte, um
Lösungsvorschlägen der Immobilienwirtschaft die Enteignungsforderung zu verbreiten und
und der politischen Verursacher der Woh­ anschlussfähig zu machen. Hier in Berlin gibt
nungskrise wird nicht mehr getraut. Dadurch es mehrere beispielhafte Kämpfe, etwa von
gilt eine radikale Kritik am Wohnungsmarkt Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor, die für
inzwischen vielen Menschen als legitim, die die Rekommunalisierung ihrer privatisierten

DEUTSCHE WOHNEN & CO. ENTEIGNEN – WORUM GEHT'S? Wohnen als börsennotierter Immobilienkonzern
Die Initiative »Deutsche Wohnen & Co. enteignen« war auch deshalb namensgebend, weil sie mit
will Unternehmen mit mehr als 3 000 Wohnungen 111 500 Wohnungen der größte Fisch ist. An
in Berlin enteignen. Die Wohnungen sollen nach zweiter Stelle folgt die ebenfalls börsennotierte
Art. 15 Grundgesetz vergesellschaftet werden Vonovia mit etwa 45 000 Wohnungen in Berlin.
und würden in kommunalen Besitz übergehen. Außerdem geht es um ADO Properties (22 200),
Über diesen Vorschlag sollen die Berliner*innen in Covivio (15 700), Akelius (14 000), TAG Immobi-
einem Volksentscheid abstimmen. lien (9 900), Grand City Properties (8 000), BGP
Group (8 000) und die Deutsche Vermögens- und
Was wird enteignet? Immobilienverwaltungs GmbH (3 800). Hinter
Die Vergesellschaftung beträfe etwa 243 000 diesen Unternehmen stehen meist internationale
Berliner Wohnungen. Das sind ca. 15 Prozent al- Investoren.
ler Wohnungen in Berlin, in denen etwa 500 000 Hinzu kommt die evangelische Hilfswerk
Berliner*innen wohnen. Formal sollen nicht die Siedlung GmbH mit etwa 6 000 Wohnungen.
Unternehmen enteignet werden, sondern der Deren Enteignung könnte allerdings durch eine
Grund und Boden, auf dem die entsprechenden Änderung des Unternehmenszwecks und eine Ver-
Wohnungen stehen. Damit würden auch die pflichtung aufs Gemeinwohl vermieden werden.
Wohnungen in kommunalen Besitz übergehen. Eine Studie der Rosa-Luxemburg-Stiftung fügt
der Liste ein weiteres Unternehmen hinzu: Pears
Wer wird enteignet? Global Real Estate mit rund 6 000 Wohnungen.
Auf der vom Senat erstellten Liste stehen zehn Es ist davon auszugehen, dass nach einem
Unternehmen, die betroffen wären. Die Deutsche genauen Blick in die Grundbücher noch weitere

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     35


Wohnungen kämpfen, oder die Deutsche- Hinzukommt, dass immer mehr Initiativen
Wohnen-Mieter*innen der angrenzenden Otto- von Mieter*innen, deren Häuser verkauft
Suhr-Siedlung, die sich gegen Verdrängung werden sollen, die Bezirke zur Wahrnehmung
durch energetische Modernisierung wehren. ihres Vorkaufsrechts drängen. Auch hier wird
Den Erfolgen dieser Kämpfe gingen jahrelange gefragt: »Wem gehört die Stadt?« All diese
Prozesse der Selbstorganisierung voraus. In Prozesse sind eingebettet in eine Krise neoli­
den Siedlungen wissen die Leute aus eigener beraler Hegemonie. Die Idee, dass renditege­
Erfahrung, dass es die heutigen Missstände triebene Investoren gesellschaftliche Aufgaben
– Mieterhöhungen, Verdrängung, Verwahr­ übernehmen, ist ja offensichtlich absurd, wie
losung von Wohnungen – so nicht gab, als alle diese Beispiele zeigen. Neu ist, dass das
sie noch unter der Verwaltung der landesei­ immer mehr Betroffene auch so benennen
genen Wohnungsgesellschaften standen. Die und sich dagegen zur Wehr setzen.
Deutsche Wohnen hat den Bogen zusätzlich
überspannt durch Angriffe auf den Mietspie­ Ihr seid eine linksradikale Organisation, die
gel, die alle Mieter*innen bedrohen. Sie hat gesellschaftlich wesentlich mehr verändern
sich so in der gesamten Stadt als »Unsympath will als steigende Mieten zu stoppen. Wie seht
Nummer eins« einen Namen gemacht. ihr eure Rolle in der Mietenbewegung der

Unternehmen dazukommen. Ausgenommen Werden die Unternehmen entschädigt?


werden sollen die rund 80 Genossenschaften mit Ja, jedoch nicht zum Marktwert - darin stimmen
ihren etwa 200 000 Wohnungen und die landes- alle bisherigen rechtlichen Einschätzungen überein.
eigenen Wohnungsunternehmen, die 308 862 Zur genauen Höhe der Entschädigung gibt es
Wohnungen verwalten. allerdings unterschiedliche Berechnungsmodelle.
Die Kostenschätzung der Initiative liegt derzeit bei
Ist eine Enteignung rechtlich möglich? 7 bis 14 Milliarden Euro, die des Senats bei 26 bis
Grundsätzlich ja. Enteignung nach Art. 14 Grund- 34 Milliarden Euro. Während der Senat zunächst
gesetz gehört zur regelmäßigen Verwaltungspraxis den Marktwert zugrunde gelegt hat, und davon
und ist beispielsweise beim Bau von Autobahnen dann – wegen der spekulativen Immobilienwer-
ein Standardeingriff. Mit einer Vergesellschaftung tentwicklung der letzten vier Jahre – 20 Prozent
nach Art. 15 Grundgesetz würde allerdings juristi- abgezogen hat, ist die Initiative einen anderen Weg
sches Neuland betreten: Eine solche wurde in der gegangen. Statt vom Marktwert auszugehen, legt
Geschichte der BRD bisher noch nicht vollzogen. sie den sogenannten Ertragswert der Immobilien
Um zu klären, was mit Blick auf das Volksbegehren zugrunde. Das heißt, dass die mit einer Immobilie
möglich wäre, hat die von der LINKEN geführte erzielte Jahresnettokaltmiete unter Einbeziehung
Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Woh- aller Instandhaltungs- und Bewirtschaftungskosten
nen drei Rechtsgutachten in Auftrag gegeben, die zur Grundlage genommen und dann über einen
mittlerweile veröffentlicht sind. Alle drei kommen bestimmten Zeitraum hochgerechnet wird. Die
zu dem Ergebnis, dass eine Vergesellschaftung städtischen Wohnungsbaugesellschaften bewerten
nach Art. 15 Grundgesetz möglich ist. Die Gutach- ihre Immobilien nach diesem Modell und legen die
ten finden sich hier: http://gleft.de/2Uc Jahresnettokaltmieten für 14 Jahre zugrunde. Da-

36      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


letzten Jahre und in der Kampagne »Deutsche aufzuzeigen, wie eine solidarische Umstruk­
Wohnen & Co. enteignen«? turierung der Wohnraumversorgung konkret
Seit knapp zehn Jahren sind wir in Berlin aussehen könnte. Damit wollen wir eine neue
mietenpolitisch aktiv. In den Anfangsjahren Diskussion anstoßen, die die Verantwortlichen
haben wir versucht, ein berlinweites Mieten­ unter Druck setzt. Zweitens setzen wir auf die
bündnis aufzubauen, allerdings ohne größere Organisierung gemeinsam mit Betroffenen
Erfolge. Daraus haben wir gelernt, zum Glück, und den Aufbau von Initiativen. Darin sehen
und unsere Praxis weiterentwickelt. Heute wir einen wichtigen Beitrag zur Erneuerung
ist es uns wichtig, nicht allein auf ein großes und besseren Verankerung der gesellschaftli­
Bündnis oder eine große Demo zu orientie­ chen Linken und einen Weg, um aus eventori­
ren, sondern unsere außerparlamentarische entierten Politikformen und den Szenenischen
Praxis auf vier Elementen aufzubauen, die rauszukommen. So unterstützen wir schon
eng verzahnt sind. Zunächst ist da die Arbeit seit einigen Jahren Mieterinitiativen und sind
an einer sozialistischen Programmatik für aktuell in der Starthilfe-AG der Enteignungs­
Mieten- und Stadtpolitik. In unserer Broschüre kampagne aktiv. Das Ziel dieser AG ist es, Be­
»Das Rote Berlin« haben wir Forderungen aus troffenen konkrete Hilfestellung zu geben, wie
den Bewegungen aufgegriffen und versucht sie sich organisieren können. Drittens suchen

mit käme man laut der Innitiative auf etwa 14 Mil- erzielbaren Mieten zur Grundlage genommen wer-
liarden Euro - die obere Grenze ihrer Kostenschät- den, etwa nach einer Modernisierung oder anderen
zung. Für die untere Grenze von 7 Millarden hat die Instrumenten der Mieterhöhung.
Initiative als zentrale Bezugsgröße die Einkommen
der Mieter*innen genommen und den zu erzielen- Wer soll das bezahlen?
den Ertragswert so berechnet, dass niemand mehr Wie am Immobilienmarkt üblich, würden 80 Pro-
als 30 Prozent des Haushaltseinkommens für die zent der Kosten über Kredite finanziert. Lediglich
Miete ausgeben muss. Die Mieten müssten dafür 20 Prozent der Entschädigungssumme müssten
teilweise deutlich gesenkt werden. Das Bundes- vom Senat als Eigenkapital eingebracht werden.
bewertungsgesetz, das eine wichtige Orientierung Bei einer Entschädigungssumme von rund 20
für anstehende Gerichtsprozesse sein kann, legt als Milliarden Euro wären dies also etwa 4 Milliarden
Wert einer Immobilie die bestehende Jahresnetto- Euro, die bei einem schrittweisen Vorgehen über
kaltmiete nach Abzug aller Instandhaltungs- und mehrere Haushaltsjahre gestreckt werden könnten.
Bewirtschaftungskosten zu Grunde. Diese wird Zum Vergleich: Nach Abzug aller Ausgaben erwirt-
nach einem bestimmten Modell so hochgerechnet, schaftete das Land Berlin 2018 einen Haushalts-
dass der angenommene Immobilienwert bei den in überschuss von 2,4 Milliarden Euro. Die Kredite
Frage stehenden Beständen dann etwa beim 15 fa- sollen über die Mieteinnahmen aus den betroffenen
chen der Jahresnettokaltmiete liegt. Die Deutsche Wohnungen getilgt werden. Nach Rechnung der
Wohnen bewertet ihre Immobilien in der eigenen Initiative wären diese, inklusive aller Instandhal-
Bilanz mit einem Ertragswert, der über 30 Jahre tungskosten, nach 30 bis 40 Jahren abbezahlt und
gerechnet wird. Der Marktpreis liegt teilweise noch die Mieten könnten dabei sogar noch um 0,97
deutlich darüber, weil in der Regel die in Zukunft Euro/m2 gesenkt werden. Derzeit erwirtschaften

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     37


wir nach echten politischen Hebeln: Was sind Ressourcen einbringen können: vom einmali­
konkrete Forderungen, mit denen wir Kämpfe gen Unterschriftensammeln bis zur langfristi­
führen können, die breit verankert sind, die gen Mitarbeit im koordinierenden Kreis.
gewinnbar sind, die die Beteiligten ermächti­
gen und die langfristig zu einer Stärkung der Einerseits gibt eure Kampagne den organisier­
Bewegung beitragen? Genau deshalb halten ten Mieter*innen eine politische Perspektive
wir den Volksentscheid zur Enteignung für und enorme mediale Sichtbarkeit. Anderer­
ein so wichtiges Instrument und haben selbst seits lasten auf ihr große Erwartungen. Was ist
intensiv an der Formulierung mitgeschrieben. aus eurer Sicht wichtig, damit sie langfristig
Viertens geht es uns darum, unsere Ziele die Bewegungen stärkt?
und Projekte in partizipativen Kampagnen Die Nachhaltigkeit der Organisierung ist für
umzusetzen und Zugänge für unterschiedliche uns ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste
Leute zu schaffen. Unser Ziel ist eine einladen­ Punkt. In diesem Zusammenhang ist die
de und demokratische »Mitmach-Kampagne«, schon erwähnte Arbeit in der Starthilfe-AG
in die sich Menschen mit unterschiedlichem so relevant. Wir unterstützen den Aufbau
Vorwissen und unterschiedlichen zeitlichen von Mieterinitiativen zum Beispiel durch

die Immobilienkonzerne Milliardengewinne mit den auch wegen der Überlastung der Bauwirtschaft zu
Beständen. Die Wohnungsbestände sind also ein Verzögerungen. Die 30 000 Wohnungen werden
gutes Geschäft. Nach Ablauf von 30 Jahren wären 2021 voraussichtlich zwar alle im Bau, aber nicht
die Kredite getilgt und Berlin hätte sein Vermögen alle fertiggestellt sein. Bei den derzeitigen Bauziel-
beträchtlich gesteigert – denn die Wohnungen zahlen – die eine deutliche Steigerung gegenüber
wären ja weiterhin in kommunalem Besitz. Derzeit den letzten 20 Jahren bedeuten – würde der Senat
fließen die Gewinne aus den Mieteinnahmen statt- rund 40 Jahre brauchen, um die 243 000 zur Debat-
dessen in die Taschen internationaler Investoren. te stehenden Wohnungen neu zu bauen. DIE LINKE
hat deshalb vorgeschlagen, die Baukapazitäten
Wäre es nicht sinnvoller, das Geld in Neubau zu der öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften zu
investieren? stärken. Jenseits dessen hätte eine Vergesellschaf-
Derzeit landen die Mieteinnahmen bei den tung von rund 15 Prozent der Berliner Wohnungen
Aktionären. Der Senat kann darüber also gar nicht aber einen unmittelbar spürbaren und langfristig
verfügen. Insofern stehen der Neubau von bezahl- wirksamen Effekt auf den Berliner Wohnungs-
baren Wohnungen und eine Vergesellschaftung der markt, denn die Marktmacht der aggressivsten
genannten Immobilien gar nicht gegeneinander. Mietpreistreiber wäre gebrochen. In städtischen
Mit seinen eigenen Haushaltsmitteln kümmert sich Wohnungen sind Vorschriften bezüglich Miethöhe,
der Senat aber auch um den Neubau von Wohnun- Sozialquote, Mitbestimmung und Modernisierungs-
gen in öffentlichem Besitz: Die rot-rot-grüne Koali- umlagen deutlich strenger als bei den Privaten. Erst
tion hat sich im Koalitionsvertrag für die gesamte Recht, seit der Mietendeckel beschlossen wurde.
Legislatur (2016–2021) den Neubau von 30 000 (vgl. Gottwald auf LuXemburg-Online).
städtischen Wohnungen vorgenommen, also 6 000
pro Jahr. Trotz großer Anstrengungen kommt es Moritz Warnke für die Redaktion

38      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Workshops, Schulungen und
konkrete Organisierungsarbeit,
etwa eine Klingel-Tour durch
den Häuserblock. Diese AG ist
fester Teil der Enteignungskam­
pagne und der Vernetzung der
Deutsche-Wohnen-Mieter*innen,
die aus Dutzenden Initiativen
besteht und weiter wächst. Wir
merken, dass die Kampagne
die Selbstorganisierung in den
Siedlungen ermutigt, indem sie
eine gemeinsame Stoßrichtung
anbietet. Diese Initiativen können zum Positiven verändert hat und der Stadt­
aus unserer Sicht auch Keimformen der Mieter- gesellschaft mehr zugehört wird. Trotzdem
Mitverwaltung sein, die wir im Volksentscheid gibt es noch keine echte Wende in der Woh­
fordern. Denn die Bewohner*innen kennen nungspolitik. Die sozialere Neuausrichtung der
die Probleme und Bedarfe in den Siedlungen landeseigenen ­Wohnungsunternehmen etwa
am besten. Der Volksentscheid zielt ja darauf, wurde nur durch Druck von unten durchge­
die Bestände von Deutsche Wohnen und Co. setzt. Die ­linke Senatorin allein wäre nicht in
in eine Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) zu der Lage gewesen, offensive Mieterhöhungen
überführen, die aber anders als die bisherigen durch die landeseigene Degewo kurz nach der
landeseigenen Wohnungsgesellschaften wirk­ Wahl des Senats 2016 effektiv zu stoppen. Wir
lich demokratisch ausgestaltet und kontrolliert sehen, dass in Politik und Verwaltung noch
sein soll. Dafür ist es hilfreich, wenn schon immer Akteur*innen des rot-roten Kahlschlag-
Strukturen der Selbstverwaltung vorhanden Senats sitzen. Wir müssen also weiter Druck
sind, auf denen aufgebaut werden kann. von links machen, wenn es etwa um die
geplante Privatisierung von Schulen geht oder
Seit über zwei Jahren verspricht die rot-rot- ein ehemaliger Vonovia-Manager zum Vorstand
grüne Regierung in Berlin ein Umsteuern in eines landeseigenen Wohnungsunterneh­
der Wohnungspolitik. Wie seht ihr aktuell das mens ernannt wird. Solange eine neoliberale
Verhältnis von linker Regierung und stadtpo­ Politik der Haushaltskonsolidierung im Kern
litischen Bewegungen und wie beeinflusst das fortgesetzt wird, also ohne Not Hunderte von
eure Strategie? Millionen Euro in die Schuldentilgung fließen
Interessanter finden wir, wie sich die Strategie und nicht für die Bedürfnisse der Bevölkerung
der Linkspartei geändert hat, seit sie Teil dieser eingesetzt werden, haben wir viel zu tun.
Mitte-links-Regierung ist. Wir merken, dass
sich der Ton gegenüber sozialen Bewegungen Das Gespräch führte Hannah Schurian.

RENDITE UND MIETE | LUXEMBURG 2/2019     39


GESCHÄFTSMODELL MIT
BESCHRÄNKTER WIRKUNG
WARUM DER SOZIALE WOHNUNGSBAU SEINEN NAMEN NICHT VERDIENT

ANDREJ HOLM Wenn über Wohnungspolitik diskutiert wird,


fällt schnell das Schlagwort sozialer Woh-
nungsbau. Mieterbund und Gewerkschaften
fordern eine Aufstockung des Fördervolumens,
viele Kommunen versuchen, verbindliche Quo-
ten für Sozialwohnungen bei Neubauprojekten
festzulegen, und selbst die Lobbyverbände der
Immobilienwirtschaft möchten mehr sozialen
Wohnungsbau – insbesondere seit Vorschläge
zur Enteignung großer Immobilienkonzerne
die Schlagzeilen füllen (vgl. GdW 2019). Doch
wie fast immer, wenn ein Konzept so breite
Zustimmung erfährt, gibt es einen Haken: Der
soziale Wohnungsbau, wie wir ihn kennen, ist
für eine soziale Wohnversorgung viel zu teuer
und nutzt vor allem der Wohnungswirtschaft.

WAS IST SOZIALER WOHNUNGSBAU?


Im Alltagsverständnis wird der Begriff der
Sozialwohnung oft für die Gesamtheit preiswer-
ter Wohnungen benutzt und meist mit einem
bestimmten Bautypus sowie Klischeevorstellun-
gen von betonierten Großsiedlungen assoziiert.

40      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Nichts davon stimmt: Der soziale Wohnungs- Euro pro Jahr für die Wohnraumförderung
bau ist weder ein preiswertes Wohnungsmarkt- ausgegeben – der Anteil am Bundeshaushalt
segment noch eine Gebäudeklasse, sondern in betrug nur noch 0,3 Prozent.
erster Linie ein Förderprogramm für Inves- Obwohl mit Baudarlehen, Baukosten- und
toren. Für den Kreis der Begünstigten gibt es Aufwendungszuschüssen jede Sozialwohnung
keine Einschränkungen. Kommunale und kom- im Durchschnitt rechnerisch mehr Fördermit-
merzielle Wohnungsunternehmen, Genossen- tel verschlingt als die Wohnung kostet, sind
schaften und private Eigentümer*innen können die sozialen Gegenleistungen der Bauherren
gleichermaßen die staatlichen Gelder nutzen. zeitlich begrenzt. Weil im Zeitverlauf immer
Durch die Struktur der Förderprogramme ist weniger Wohnungen gefördert wurden,
der Status Sozialwohnung in Deutschland stehen trotz der 4,3 Millionen geförderten
zeitlich befristet. So erklärt sich auch, warum Mietwohnungen derzeit nur noch 1,2 Millio-
trotz der enormen Förderanstrengungen in der nen Sozialwohnungen zur Verfügung (vgl.
Vergangenheit die Zahl der Sozialwohnungen Bundesregierung 2017).
von Jahr zu Jahr kleiner wird.
Zur Behebung der Wohnungsnot nach
dem Ende des Zweiten Weltkriegs verab- ANDREJ HOLM ist Stadtsoziologe und arbeitet an der
schiedete die Adenauer-Regierung die ersten Humboldt-Universität zu Berlin. Er ist seit vielen
Jahren in sozialen Bewegungen, insbesondere
Gesetze zum geförderten Wohnungsbau,
in der Recht-auf-Stadt-Bewegung, aktiv. Er berät
um »breite Schichten« der Bevölkerung mit und unterstützt viele Mieterinitiativen in Berlin und
Wohnungen zu versorgen.1 Insgesamt wurden anderswo. 2017 verfasste er für die Rosa-Luxem-
bis zum Jahr 2000 fast 7,1 Millionen Wohnun- burg-Stiftung eine Studie zu Neuer Wohnungsge-
meinnützigkeit.
gen öffentlich gefördert – davon 4,2 Millionen
Mietwohnungen (vgl. RegioKontext 2011). Mit
dem Wohnraumfördergesetz von 2001 wurde
die Orientierung an den breiten Bevölkerungs- WELCHE WOHNUNGEN WERDEN GEBRAUCHT
schichten gesetzlich aufgehoben und der UND WAS HAT DER SOZIALE WOHNUNGSBAU
soziale Mietwohnungsbau entwickelte sich zu ZU BIETEN?
einem Instrument der Wohnungsversorgung Die Wohnversorgung wird in den Metropol-
sozialer Randgruppen, für »Haushalte, die regionen und Universitätsstädten von einer
sich auf dem Markt nicht angemessen mit spekulativen Ertragserwartung bestimmt und
Wohnraum versorgen können«. Das Förder- hat massive Mietsteigerungen im Bestand, bei
volumen wurde nun deutlich reduziert. Lag Neuvermietungen und im Bereich von Neu-
die Zahl der jährlich geförderten Wohnungen bauwohnungen ausgelöst. Die Mietentwick-
zwischen 1950 und dem Jahr 2000 bei durch- lungen der letzten Jahre haben sich dabei von
schnittlich knapp 140 000, waren es seit 2001 den Einkommen entkoppelt und die mittleren
nicht einmal 22 000 Wohnungen pro Jahr. Mietbelastungsquoten deutlich erhöht. Allein
Durchschnittlich wurde etwa eine Milliarde in 77 Großstädten Deutschlands (darunter

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     41


boomende Städte wie München, Frankfurt Programmjahren aus. Zwischen 2013 und
am Main und Stuttgart, aber auch Städte wie 2017 standen knapp 88 000 geförderte Neu-
Chemnitz, Gelsenkirchen und Herne) müssen bauwohnungen etwa 410 000 Wohnungen mit
mehr als 40 Prozent der Haushalte mehr als auslaufenden Sozialbindungen gegenüber. Die
ein Drittel ihres Einkommens für die Wohn- Wohnraumförderung baut den Bindungsver-
kosten ausgeben. Als von den Kosten zumut- lusten hinterher und kann bei dem derzeitigen
bar gelten Wohnungen, deren Mietkosten Fördervolumen nicht einmal die jährlichen
30 Prozent des monatlichen Nettoeinkom- Abgänge kompensieren.
mens nicht überschreiten. Allein in den Während das Fördervolumen zu klein
Großstädten fehlen schon jetzt 1,9 Millionen ausfällt, sind die Mieten im sozialen Woh-
Wohnungen für Haushalte mit geringen nungsbau zu hoch. Die Einstiegsmieten der
Einkommen, die auf Mieten zwischen 4 Euro/ geförderten Wohnungen variieren je nach
m² und 6 Euro/m² (nettokalt) angewiesen Bundesland und Förderprogramm. Sie liegen
sind (Hans-Böckler-Stiftung 2017 u. 2018). meist zwischen 6 und 8,50 Euro/m² (netto-
Solche Angebote sind von ökonomisch kalt). Sie sind damit für die Einkommensgrup-
rational agierenden Marktakteuren nicht pen mit den größten Versorgungsproblemen
zu erwarten, da sie ihre Bewirtschaftung in zu teuer und würden zu einer Mietbelastung
der Regel mindestens an den durchschnitt- von etwa 40 Prozent des Einkommens führen.
lich erzielbaren Erträgen orientieren. Die Die Wohnraumförderung in ihrer aktuellen
Versorgung von Haushalten mit geringen Struktur verfehlt sowohl in den Mengenef-
Einkommen zu unterdurchschnittlichen fekten als auch in der sozialen Reichweite die
Preisen ist eine öffentliche Aufgabe und muss Ziele einer sozialen Wohnraumversorgung.
in der Regel gegen private Gewinninteressen
durchgesetzt werden. WEM NÜTZT DER SOZIALE WOHNUNGSBAU?
Die aktuellen Förderprogramme von Während in den frühen Jahren des sozialen
Bund, Ländern und Kommunen kommen die- Wohnungsbaus die Fördergelder zum Teil
ser öffentlichen Verantwortung nicht nach. Der als einmaliger Baukostenzuschuss gezahlt
Umfang der sozialen Wohnraumförderung wurden, setzte sich letztendlich eine Förde-
wurde seit 2016 auf etwa 25 000 Bewilligun- rung mit Darlehen und Aufwendungshilfen
gen pro Jahr erhöht, dennoch reicht die Zahl zur Finanzierung des Bauvorhabens durch.
der neu geförderten Wohnungen nicht aus, um Im Gegensatz zur Reduzierung der Erstel-
die Versorgungslücken schließen zu können. lungskosten wurde nun die Rückzahlung
Mit der derzeitigen Förderquote würde es etwa der Bankkredite gefördert, die für den Bau
80 Jahre brauchen, um allein das Versorgungs- aufgenommen werden mussten. Der Staat
defizit der Großstädte auszugleichen. Und subventionierte mit seiner Wohnungsbauför-
selbst diese Rechnung ist zu optimistisch, derung im engeren Sinne gar nicht den Bau
denn jedes Jahr laufen die Sozialbindungen von Wohnungen, sondern beteiligte sich an
von Zehntausenden Wohnungen aus früheren den Finanzierungskosten. Der größte Teil der

42      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


öffentlichen Wohnungsbauförderung floss Unabhängig von den sozialen Effekten ist
daher gar nicht in die Gebäude, sondern an der soziale Wohnungsbau vor allem ein
die finanzierenden Banken. hoch subventioniertes und enorm lukratives
Auch für die Bauunternehmen waren Wirtschaftsförderprogramm für Wohnungs-
die Förderprogramme des sozialen Woh- baugesellschaften und private Investoren.
nungsbaus eine attraktive Geschäftsbasis, Von den Banken gar nicht zu reden. Denn
denn das Förderprinzip bestand immer anders als echte Marktteilnehmer kennen die
darin, die »unrentierlichen Kosten« für die Eigentümer*innen im sozialen Wohnungsbau
Eigentümer*innen kleinzuhalten. Die Förder- kein Geschäftsrisiko. Da alle Kosten vom Staat
gelder des Staates waren dabei immer genau übernommen werden und selbst die Gewinne
so kalkuliert, dass die Lücke zwischen der Kos- auf das Eigenkapital fest vereinbart sind, ist
tenmiete und der Sozialmiete gedeckt werden der soziale Wohnungsbau eine wahre Gold-
konnte. Während die Sozialmieten politisch grube für Immobilieninvestoren.
festgelegt wurden, wurden die Kostenmieten Dass mit dem sozialen Wohnungsbau Ge-
von den Wohnungsunternehmen selbst be- winne gemacht werden können, ist merkwür-
stimmt. Alle Kosten für den Bau, die Planung, dig genug, doch die Förderlogik hält noch eine
die Finanzierung und sogar eine Eigenkapital- Steigerung der Absurdität bereit: Nach Ablauf
rendite von bis zu 6,5 Prozent konnten dabei der festgelegten Förderzeiträume – wenn alle
angerechnet werden. Wurde eine solche Kos- Darlehen zur Finanzierung der Immobilie
tenmiete einmal anerkannt, blieb sie bis zum mithilfe des Staates zurückgezahlt sind –
Ende der Förderung die Berechnungsgrundla- werden die Mietpreis- und Belegungsbindun-
ge. Selbst wenn später günstigere Kredite zur gen aufgehoben. Jetzt, wo die entschuldeten
Finanzierung abgeschlossen wurden, hatte die Sozialwohnungen zu geringen Kosten für
ursprüngliche Kostenmiete Bestand. Während die Verwaltung und Instandsetzung bewirt-
die Eigentümer*innen ihre Rendite, festgelegt schaftet werden könnten, endet der Status
für 30 Jahre, garantiert bekamen, war für die Sozialwohnung und die Vermieter*innen
Mieter*innen eine Mietsteigerungsdynamik können Mieten beliebig steigern, Luxusmoder-
vorgesehen. Ein »degressiver Förderverlauf« nisierungen durchführen und die ehemaligen
lässt den staatlichen Aufwendungszuschuss Sozialwohnungen in Eigentumswohnungen
Jahr für Jahr um einen vorher festgelegten umwandeln. Damit werden im sozialen
Anteil (z. B. 0,13 Euro/m²) sinken. Da die Wohnungsbau ausgerechnet die Langfristef-
Kostenmiete sich nicht verändert, wird die fekte der Immobilienfinanzierung zugunsten
Differenz durch einen jährlichen Mietanstieg privater Gewinne aufgegeben.
im sozialen Wohnungsbau ausgeglichen. Mit dieser Konstruktion unterscheidet
Diese planmäßig steigenden Mieten haben sich der soziale Wohnungsbau in der BRD
in vielen Städten dazu geführt, dass der von wohnungspolitischen Programmen in
soziale Wohnungsbau für viele Haushalte mit vielen anderen Ländern. Der österreichische
geringen Einkommen zu teuer ist. Kurzum: Wohnungswissenschaftler Christian Donner

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     43


(2000, 200) bezeichnet das deutsche System orientieren. Wie in anderen Bereichen der
deshalb treffend als eine »Förderung privater Gemeinnützigkeit auch durften keine Ge-
Mietwohnungsinvestitionen mit sozialer winne erzielt werden und alle Überschüsse
Zwischennutzung«. mussten zum Zweck der Gemeinnützigkeit
wieder ausgegeben werden. Anders als
NEUE WOHNUNGSGEMEINNÜTZIGKEIT STATT gewerbliche Anbieter waren die gemeinnützi-
SOZIALER ZWISCHENNUTZUNG gen so gezwungen, ihre Bestände permanent
Statt also in den Aufbau von dauerhaft auszuweiten – selbst wenn gerade keine
gebundenen Beständen zu investieren, wird Höchstgewinne im Neubau zu erzielen waren.
ein dauerhafter Kreislauf der Förderung mit Zwischen 1949 und 1989 wurde fast jede
begrenzten Effekten erzwungen. Beispiele aus vierte in der BRD fertiggestellte Wohnung von
anderen Ländern zeigen, welche Auswirkun- gemeinnützigen Wohnungsunternehmen
gen dauerhafte Bindungen haben können. So errichtet. Mit der Aufhebung der Gemeinnüt-
ermöglicht beispielsweise die Gemeinnützig- zigkeit wurden letztendlich die Grundlagen
keit von Wohnbauträgern in Österreich im ge- für die Privatisierungen in den 1990er und
förderten Wohnungsbau eine Fortsetzung der 2000er Jahren geschaffen, denn Wohnungen,
Kostenmietbegrenzung nach dem Ende der die einer Gewinnbeschränkung unterliegen,
Förderphase. Nach der kompletten Refinanzie- sind für Anleger alles andere als attraktiv.
rung des Objektes erfolgt eine Absenkung der Seit ein paar Jahren wird in politischen
Anschlussannuität auf ein Niveau von unter Initiativen der grünen und linken Bundestags-
4 Euro/m² (nettokalt) (ebd.). fraktionen, vom Mieterbund und in Fachdis-
In der BRD wurde die Wohnungsgemein- kussionen die Wiedereinführung einer Ge-
nützigkeit 1989 unter dem Deckmantel einer meinnützigkeit gefordert (vgl. Kuhn in diesem
Steuerreform abgeschafft, sodass knapp Heft). Eine neue Wohnungsgemeinnützigkeit
4 Millionen Wohnungen de facto über Nacht soll den Rahmen bieten, um eine dauerhafte
in handelbare Marktgüter verwandelt wurden. Versorgung zu leistbaren Mietpreisen in
Seitdem gibt es keinen institutionalisierten den Satzungen der Wohnungsunternehmen
Rahmen für eine nicht-profitorientierte festzuschreiben. Anders als heute wäre die
Wohnungsbewirtschaftung mehr. Selbst mietpreisbegrenzende Wirkung nicht befristet
kommunale und landeseigene Wohnungs- und die öffentlichen Wohnungsbestände hät-
baugesellschaften werden seither nach ten einen zusätzlichen Privatisierungsschutz.
Kassenlage bewirtschaftet und bieten keinen Eine soziale Mietgestaltung von kommunalen
verbindlichen Schutz vor Mietsteigerungen, Wohnungsunternehmen würde nicht mehr
Verdrängung und Privatisierung. von wechselnden politischen Mehrheiten ab-
Gemeinnützige Wohnungsunternehmen hängig, sondern als Bewirtschaftungsprinzip
unterlagen zuvor einer klaren Gewinnbe- im Unternehmen selbst verankert sein.
schränkung und waren angehalten, ihre Die Einführung einer neuen Wohnungs-
Bewirtschaftung am Kostenmietprinzip zu gemeinnützigkeit müsste auf der steuerrecht-

44      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


lichen Ebene der Abgabenordnung auf Bun- und dem privilegierten Zugang zu öffentlichen
desebene erfolgen. Als Ausgleich zur Erfüllung Grundstücken auch ein Wohnungsneubau
von Aufgaben im öffentlichen Interesse würde für Menschen mit niedrigem Einkommen
der Staat verschiedene Steuerbegünstigungen entstehen kann. Modellrechnungen zeigen,
einräumen – sodass dadurch die Kosten für dass mit einem Mitteleinsatz von 6 Milliarden
den Bau und die Bewirtschaftung sinken Euro und ohne Zugeständnisse an die Bauqua-
würden. In den Modellvorschlägen für eine lität etwa 100 000 gemeinnützige Wohnungen
neue Wohnungsgemeinnützigkeit wird der (mit Durchschnittsmieten von 5 Euro/m²
Aufgabenbereich wie folgt umrissen: »Die Neue nettokalt) pro Jahr entstehen könnten. Die
Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor dient neue Wohnungsgemeinnützigkeit wäre ein
der Daseinsvorsorge im Bereich der Wohn- geeigneter Weg, um die Forderung »einmal
raumversorgung. Sie umfasst alle Aktivitäten gefördert – immer gebunden« umzusetzen.
der Erstellung, Bewirtschaftung und Erneu- Die Vorschläge liegen seit Jahren vor, werden
erung von Wohnungen zu leistbaren Mieten von Regierung und Wohnungswirtschaft aber
sowie die Erbringung von wohnungsnahen gleichermaßen ignoriert.
Dienstleistungen, die durch die Zweckbindung
ZUM WEITERLESEN
der Einnahmen und eine Gewinnbeschränkung Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2017: Neue
einen gesellschaftlichen Mehrwert erfüllen Wohnungsgemeinnützigkeit. Voraussetzungen, Modelle und
erwartetet Effekte, Hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung,
und insbesondere einen nachhaltigen Beitrag Reihe Studien, Berlin
zur Lösung von sozialen, räumlichen und
ökologischen Herausforderungen leisten. Die LITERATUR
Gemeinnützigkeit im Wohnungssektor ist Bundesregierung, 2017: Bericht der Bundesregierung über
die Verwendung der Kompensationsmittel für den Be-
durch eine strikte Non-profit-Orientierung in reich der sozialen Wohnraumförderung 2017, Bundes-
der Bewirtschaftung, eine klar definierte Zweck- tags-Drucksache 19/3500, Berlin
Donner, Christian, 2000: Wohnungspolitiken in der Europä-
bindung der unternehmerischen Ziele sowie ischen Union: Theorie und Praxis, Wien
durch eine effektive gesellschaftliche Kontrolle GdW, 2019: Bezahlbare Wohnungen für alle. Kein #Enteig-
nungswahnsinn, in: GdW kompakt, 2.4.2019, https://wei-
gekennzeichnet.« (Holm et al. 2015, 41) terdenken-statt-enteignen.de/media/GdW-Kompakt.pdf
Hans-Böckler-Stiftung, 2017: Wohnverhältnisse in Deutsch-
Wie andere gemeinnützige Vereine und
land – eine Analyse der sozialen Lage in 77 Großstädten,
Unternehmen sollen auch die Wohnbauträger Düsseldorf
Dies., 2018: Wie viele und welche Wohnungen fehlen in
einer klaren Gewinnbeschränkung unterliegen, deutschen Großstädten? Working Paper Nr. 63, April
sodass sich die Mietpreise aus den tatsächli- 2018, Düsseldorf
Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2015: Neue
chen Kosten der Bewirtschaftung ableiten und Gemeinnützigkeit. Gemeinwohlorientierung in der Woh-
nicht aus wirtschaftlichen Gewinnerwartun- nungsversorgung. Arbeitsstudie im Auftrag der Fraktion
DIE LINKE. im Deutschen Bundestag, Berlin
gen. Im Gegenzug zur Gewährleistung einer RegioKontext, 2011: Fortführung der Kompensationsmittel
dauerhaften sozialen Wohnungsversorgung für die Wohnraumförderung, Berlin

erlässt der Staat den gemeinnützigen Woh-


1 Vgl. Erstes Wohnungsbaugesetz vom 24. April 1950,
nungsunternehmen sonst anfallende Steuern, veröffentlicht im Bundesgesetzblatt (BGBl.) 1950/16: 83ff;
sodass in Kombination mit Förderprogrammen Zweites Wohnungsbaugesetz (WoBauG), 1956.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019      45


KOMMUNAL UND
SELBSTVERWALTET
MODELLPROJEKT AM KOTTBUSSER TOR

JANNIS WILLIM Als 2011 am Kottbusser Tor in Berlin-Kreuzberg


der Unmut gegen zu hohe Mieten hochkochte
und eine kraftvolle, heterogene Nachbarschaft
ihren Protest artikulierte, entstand unsere
Initiative Kotti & Co. Viele der Wohnungen dort
wurden im Rahmen des sozialen Wohnungs-
baus errichtet. Bei einem näheren Blick wurde
deutlich, dass die hohen Mieten die Folgen
eines Fördersystems sind, in das die Interessen
von privaten Immobilieninvestoren und ihren
kreditgebenden Banken eingeschrieben sind
und das nur nachgeordnet der Bereitstellung
von bezahlbarem Wohnraum für einkommens-
arme Haushalte dient (vgl. Holm in diesem
Heft). Das führt dazu, dass Sozialmieter*innen,
die Hartz IV beziehen, einen viel zu hohen
Anteil ihres Einkommens für die Miete
ausgeben müssen. Eine Reform des sozialen
Wohnungsbaus zugunsten einer Mietsenkung
wird momentan in der rot-rot-grünen Regie-
rungskoalition blockiert.
Seit 2012 fordern wir daher als langfris-
tige Lösung die (Re-)Kommunalisierung der

46      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Sozialwohnungen. Die ersten Ideen für die ben. Dabei haben wir auch untersucht, was für
Selbstverwaltung ganzer Sozialwohnungs- Vorstellungen von Mitbestimmung existieren
bestände haben wir in einer Konferenz 2012 und welche Bereitschaft in einer so benachtei-
entwickelt. (Hamann/Kaltenborn 2014) nach- ligten Nachbarschaft wie am Kottbusser Tor
zulesen sind. Die Kämpfe der letzten Jahre um unter den Mieter*innen besteht, sich aktiv
die Sozialwohnungen – nicht nur am Kott- an einer Selbstverwaltung ihrer Wohnungen
busser Tor – haben eine andere Ausgangslage und Häuser zu beteiligen. Das Plus steht für
geschaffen. So wurde aufgrund der Forderung die größtmögliche Mitbestimmung. Denn
nach Rekommunalisierung und Selbstver- unmittelbar in Anschluss an eine Rekommu-
waltung im Koalitionsvertrag der Berliner nalisierung – ob über Rückkauf oder Verge-
rot-rot-grünen Landesregierung von 2016 eine sellschaftung mit Entschädigung – stellen sich
Klausel aufgenommen, auf deren Grundlage weitere Fragen: Was ist gewonnen, wenn die
diese Forderung zumindest am Kottbusser Bestände in die öffentliche Hand überführt
Tor Realität werden könnte, wenn der politi- sind? Schließlich wissen wir, dass öffentliche
sche Wille dazu bestehen bleibt. Die Klausel
lautet: »Die Koalition will den Bestand der
Sozialwohnungen zur Wohnraumversorgung JANNIS WILLIM lebt am Kottbusser Tor, studiert Stadt-
bedürftiger Haushalte erhalten. Deshalb sollen und Regionalplanung sowie historische Urbanistik
an der TU Berlin und ist seit Jahren bei Kotti &
sich die städtischen Wohnungsbaugesellschaf-
Co aktiv. Der Text ist das Ergebnis jahrelanger
ten bei den geplanten Zukäufen verstärkt um gemeinsamer Diskussionen bei Kotti & Co. und fasst
den Erwerb von Sozialwohnungen bemühen, zentrale Einsichten aus der vor einigen Monaten
insbesondere in Stadtteilen mit einem Mangel erschienenen Studie »Rekommunalisierung Plus:
Modellprojekt am Kottbuser Tor« zusammen.
an preiswertem Wohnraum. Die Koalition
unterstützt stadtweit Modellprojekte, wie am
Falkenhagener Feld und am Kottbusser Tor
angedacht, für selbstverwaltete Mietergenos- Wohnungsbauunternehmen seit der Abschaf-
senschaften.« fung der Wohnungsgemeinnützigkeit nach
Mittlerweile wurde das Neue Kreuzberger unternehmerischen Prinzipien funktionieren.
Zentrum (NKZ) nach massivem öffentlichem Hinzu kommt, dass sie große bürokratische
Druck insbesondere durch den Mieterrat des Apparate sind, denen die Auseinandersetzung
NKZ von der Landesregierung kommunali- mit lokalen Problemlagen zum Teil mit sehr
siert. Auf dieser Grundlage und der im Koali- viel Geduld und Durchhaltevermögen fast
tionsvertrag verankerten Klausel sind Fragen schon aufgezwungen werden muss. Ist die
nach einer stärkeren Mieterselbstverwaltung politische Mitsprache durch die Mieter*innen
und deren Umsetzung ganz praktische gewor- automatisch verbessert, wenn die Wohnungen
den. In diesem Zusammenhang haben wir die kommunales Eigentum sind? In welchen
Bedarfe der Mieter*innen in einer Studie mit Bereichen wollen Mieter*innen mitbestim-
dem Titel »Rekommunalisierung Plus« erho- men? Was ist gemeint, wenn wir etwa die

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     47


Bauerbeiter mit der Tochter eines Kollegen in der
Gemeinschaftswohnung, genannt Kommunalka
Forderung »kommunal und selbstverwaltet« Ein Ergebnis der Studie ist, dass es bei der Be-
für Häuser erheben, die von der sozialen wertung der Wohnzufriedenheit im Vergleich
Zusammensetzung der Bewohner*innen her zwischen staatlichen und privaten Vermietern
nicht unbedingt klassischen Hausprojekten in einem Punkt zu deutlich unterschiedlichen
gleichen, sondern deren Bewohnerschaft Einschätzungen kommt: nämlich in der
viel heterogener ist und stärker durch Migra- Miethöhe. Dass diese bei staatlichen Vermie-
tions- und Rassismuserfahrung, Armut und tern besser bewertet wird als bei privaten, ist
Ausgrenzung geprägt? wenig überraschend. So liegt die Warmmiet-
belastung bei letzteren durchschnittlich bei 41
ERGEBNISSE DER STUDIE Prozent, im Kreuzberger Zentrum hingegen,
An der Erstellung der Studie waren über- wo die landeseigene Gewobag die Vermieterin
wiegend Menschen beteiligt, die selbst ist, lediglich bei 30 Prozent.
Sozialmieter*innen am Kottbusser Tor sind. Auch in Bezug auf »klassische Themen«
Die Studie soll auch ausloten, wie sich die der Mitverwaltung zeigt sich, dass die Unzu-
gegenseitige nachbarschaftliche Unterstützung friedenheit bei Mieter*innen der Deutschen
ausweiten lässt und welche unterschiedlichen Wohnen – mit Ausnahme des Themas
Perspektiven auf ein solches Engagement Sicherheit – höher ist als bei Mieter*innen
dabei zu berücksichtigen sind. Methodisch der Gewobag1. Dabei lassen sich zwei wichtige
haben wir verschiedene Ansätze miteinander Anliegen der Mieter*innen als Ergebnis
verknüpft. Die Palette reichte von Recher- der Studie feststellen, die zukünftig berück-
chen und einem Community Mapping über sichtigt werden sollten: Zum einen wurde
Interviews mit wichtigen Akteuren im Kiez, die Ansprechbarkeit bei Reparaturen bzw.
eine quantitative Erhebung, bei der an die 1 255 Hausverwaltungsthemen kritisiert und zum
betroffenen Haushalte des Untersuchungs- anderen Probleme bei der Müllentsorgung.
gebiets Fragebögen verteilt wurden (Antwort- Überraschenderweise gaben 59 Prozent der
quote von 12,9 Prozent, 162 ausgewertete befragten Mieter*innen in Gewobag-Häusern
Fragebögen), bis hin zu einer Qualifizierung an, dass sich seit der Kommunalisierung des
des Beteiligungspotenzials. Diese Qualifi- NKZ im Januar 2016 die Ansprechbarkeit
zierung geht von der Forderung von Kotti & bei Reparaturen verschlechtert habe. Bei
Co. und des Mieterrats im NKZ aus, dass die Mieter*innen der Deutschen Wohnen (DW)
zu entwickelnde Mitbestimmungsformen in waren es nur 19 Prozent der Befragten, die
Bezug auf das Wohnen und die Nachbarschaft in diesem Zeitraum eine Verschlechterung
an den realen Ressourcen und Interessen der beklagten. Das schlechte Abschneiden der
Nachbarschaft auszurichten sind. Kernziel der kommunalen Wohnungsunternehmen in die-
Studie war also die Ermittlung handlungsori- sem Punkt gegenüber dem für seine schlechte
entierter Mietertypen, die hinsichtlich ihrer Ansprechbarkeit stadtweit bekannten Immo-
Ansprechbarkeit sowie ihrer Einsatz- und bilienaktienunternehmen Deutsche Wohnen,
Mitwirkungsbereitschaft unterschiedlich sind. ist unter anderem damit zu erklären, dass

50      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


sich die Frage nach einer Verschlechterung Ein für uns zentrales und motivierendes
nur auf die letzten zwei Jahre bezog. Dazu Ergebnis der Studie ist, dass ein Viertel der be-
muss man wissen, dass die Privatisierung der fragten Anwohner*innen angab, bereits aktiv
GSW (jetzt Deutsche Wohnen) zum Zeitpunkt zu sein, etwa in einer lokalen Initiative. Die
der Befragung schon 15 Jahre zurücklag und Hälfte der Befragten möchte sich in Zukunft
die Mieter*innen seit langer Zeit mit einem an solchen Aktivitäten beteiligen und nur
schlechten Service der Hausverwaltung kon- ein Viertel der Bewohner*innen zeigte kein
frontiert waren. Das kürzlich kommunalisierte Interesse an einer gegenseitigen Unterstüt-
Gebäude des NKZ mit 300 Wohnungen hatte zung in der Nachbarschaft. Insgesamt ergibt
jedoch bis zum Kauf durch die Gewobag eine sich ein differenziertes Bild. Deutlich wird,
private lokale Hausverwaltung, die sehr gut dass sowohl die vorhandenen Strukturen,
ansprechbar war und einen engen Kontakt zu beispielsweise die Eigentumsverhältnisse und
den Mieter*innen pflegte. auch die konkreten Eigentümer*innen der
Dass es seit Jahren am Kottbusser Tor Häuser, als auch die jeweiligen finanziellen
immer wieder Beschwerden über Vermüllung und zeitlichen Ressourcen der Nachbar*innen
gibt, ist darauf zurückzuführen, dass für die am Kotti Einfluss darauf haben, wie und wie
Abfallentsorgung ein privates Unternehmen, stark die Bewohner*innen bereit sind, sich
die B&O Berlin Service GmbH, zuständig einzubringen. So wird etwa die Sinnhaftig-
ist, deren Geschäftsmodell auf geringen keit des eigenen Engagements klar an die
Personalkosten der vor Ort Beschäftigten Besitzverhältnisse der bewohnten Immobilie
beruht. Einige Mieter*innen vermuten auch gekoppelt: »Wieso sollten wir das selbst
eine bewusste »Verslumungsstrategie« der machen? Der Deutschen Wohnen Geld sparen
Deutsche Wohnen, denn andere Wohnblöcke helfen?« (Clausen et.al. 2018, 41)
mit einer ähnlichen Bewohnerstruktur, aber Reale Möglichkeiten der Mitbestimmung
einen anderen Hausverwaltung, haben keine werden zudem als Voraussetzung benannt,
vergleichbaren Probleme. um Mieter*innen zu aktivieren: »Das habe ich
Diese beiden Teilergebnisse unserer damals zum Hausmeister auch gesagt, wenn
Studie zeigen, wie wichtig es ist, in einer da Sitzungen stattfinden würden, einmal in der
Übergangsphase nach der Rekommunali- Woche Hausversammlungen [...] einfach, dass
sierung – in welcher Verwaltungsform auch man zusammenkommt. Wo der Hausverwalter
immer – auf die Bedürfnisse und Vorschläge auch dabei ist und sagt: ‚So, was für Sorgen
der Bewohner*innen einzugehen und habt ihr, was für Probleme gibt es, was können
gemeinsam mit der Nachbarschaft einen wir besser machen?‘ Dass da Gespräche
»Fahrplan« für die Zukunft zu entwickeln. So stattfinden und Ideen umgesetzt werden, dann
gilt es auch zu berücksichtigen, welches die reagieren auch Mieter ganz anders.« (Ebd.)
Bereiche sind, bei denen die Mieter*innen Bemerkenswert sind zudem die durchaus
mehr Mitsprache einfordern und wo sie sich realistischen Vorstellungen, was die Notwen-
engagieren wollen. digkeit einer Arbeitsteilung und bestimmter

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     51


persönlicher Voraussetzungen (z.B. die Wir betrachten die Selbstorganisierung und
Aneignung von Kompetenzen) bei der Selbst- das Vorhandensein nachbarschaftlicher
verwaltung von Wohnhäusern angeht: »Nicht Netzwerke als Grundlage für die erfolgrei-
alle Mieter können mitverwalten, weil da che Mitbestimmung von Mieter*innen im
braucht man schon ein bisschen Erfahrung, kommunalem Wohnungsbestand. Wie unsere
bisschen Organisationstalent auch, auch mit Studie zeigt, sind diese nachbarschaftlichen
der Gesetzeslage sich auseinandersetzen, dass Netzwerke am Kottbusser Tor auch immer
man das mitberücksichtigt. Aber jeder Mieter migrantische Netzwerke. Einerseits zeigt
kann auch mitgestalten, das ist machbar.« die hohe Anzahl der türkisch- und arabisch-
(Ebd.) Die für eine Mitbestimmung erfor- sprachigen Haushalte die Bedeutung der
derlichen Zeit­ressourcen werden ebenfalls Migrationsgeschichte im untersuchten Gebiet.
angesprochen, was letztlich auch die Frage Dabei ist auch interessant, dass diese Gruppen
nach der Bezahlung solchen Engagements in überdurchschnittlich lange (12,5 Jahre) am
der Selbstverwaltung aufwirft: »Man bekommt Kottbusser Tor wohnen und ihr Einkommen
bestimmt jetzt nicht viele dazu, sich Vollzeit im Vergleich zum Durchschnitt niedriger ist
zu engagieren. Deswegen ist es gut, ein Gre- (913 Euro im Verhältnis zum Berliner Durch-
mium zu haben oder einen Vorstand und eine schnitt von 1250 Euro). Insgesamt beträgt das
Mieterversammlung einmal im Jahr.« (Ebd.) Durchschnittseinkommen im Untersuchungs-
gebiet nur 77 Prozent des Durchschnittsein-
PERSPEKTIVEN FÜR EINE kommens in der Umgebung. (ebd., 38) Daraus
»REKOMMUNALISIERUNG PLUS« ist zu schließen, dass der Verdrängungsdruck,
Ziel der Studie war, die Ergebnisse für die der auf der ansässigen Bewohnerschaft lastet,
Gestaltung der Zukunft der Bewohner*innen besonders groß ist. Dies gilt umso mehr für
im Untersuchungsgebiet nutzbar zu machen. die türkisch- und arabischsprachigen Haushal-
Für diesen Zweck wurden mit den Fragebögen te und Familien.
auch Informationen zu Einkommen, Wohn- Andererseits ist interessant, dass in
dauer und Haushaltsgröße abgefragt, um aus jüngerer Zeit deutlich mehr Französisch,
diesem Wissen über die sozioökonomische La- Italienisch, Hebräisch und Spanisch am
ge sowie aus den Positionen der Mieter*innen Kottbusser Tor gesprochen wird. Dies lässt
modellhafte Handlungsansätze für zukünftige sich auf jüngere Migrationsbewegungen von
Formen der nachbarschaftlichen Unterstüt- gut ausgebildeten Fachkräften und Studie-
zung ableiten zu können. renden zurückführen (ebd., 40). Sie sind
Die Voraussetzungen und das Interesse Ausdruck der europäischen Krise, die sich
der Menschen, an nachbarschaftlichen Projek- auch hier räumlich niederschlägt. Denn es ist
ten mitzuwirken, sind sehr unterschiedlich. anzunehmen, dass diese junge Generation
Dieses Wissen ist für uns zentral, um geeig- für eine bessere Lebensperspektive nach
nete Formate und Orte für die gegenseitige Deutschland migriert ist. Tatsächlich liegt das
nachbarschaftliche Unterstützung zu finden. Durchschnittsalter dieser Personengruppen

52      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


mit 31,6 Jahren deutlich unter dem Gesamt- 2 | Für die Mitbestimmung bei vorausset-
durchschnitt von 54,4 Jahren. Die Heterogeni- zungsvollen Themen wie Instandhaltung,
tät unserer Nachbarschaft verstehen wir dabei Gewerbeentwicklung, Modernisierung,
als Vorteil. Unser gemeinsamer Kampf um Planungsprozesse etc. kann es kein allgemein-
bezahlbaren Wohnraum ist von gegenseitigem gültiges Rezept geben. Vielmehr schlagen wir
Interesse an unseren Unterschiedlichkeiten ein Bausteinsystem vor, welches die Ausgangs-
geprägt. Das hat sich als sehr bereichernd er- bedingungen des jeweiligen Organisationsgra-
wiesen, für das Wohnen und Zusammenleben des der Mieter*innen berücksichtigt.2
im Alltag, aber auch für die politische Zusam- 3 | Die Reprivatisierung rekommunalisierter
menarbeit. Wir haben zum Teil selbst erlebt, Wohnungsbestände muss dauerhaft unterbun-
was es bedeutet, in einem Kiez anzukommen den werden.
und sich dort eine (neue) Heimat zu schaffen. Letzten Endes geht es darum, dass in
Wir sind stolz darauf, wie wir gemeinsam Zukunft mehr Menschen in unserem Viertel
unser Viertel zu dem gemacht haben, was es darüber mitentscheiden können, was mit
heute ist – auch wenn die Gentrifizierung uns den Häusern, in denen wir leben, passiert.
die Möglichkeiten nimmt, unsere Vorstellun- Es lohnt sich, in Richtung größtmöglicher
gen vom Zusammenleben in einer postmig- Mitbestimmung von Sozialmieter*innen wei-
rantischen Stadt und von einem solidarischen terzudenken. Die landeseigenen Wohnungs-
Miteinander im Alltag umzusetzen. Genauso baugesellschaften werden diesen Prozess von
werden wir nie aufhören darüber zu reden, sich heraus weder anstoßen noch meistern –
dass Rassismus ein beständiger Begleiter von »Insellösungen« von einzelnen Hausprojekten
vielen von ist, sei es auf der Straße, bei der sind dagegen zu klein dimensioniert. Bei
Wohnungssuche oder beim Jobcenter. dem »Modellprojekt Kottbusser Tor« geht
Wir wollen am Kottbusser Tor mit es deshalb darum, auszuprobieren, wie eine
»Rekommunalisierung Plus« nun einen Rekommunalisierung mit realer Demokrati-
nächsten Schritt gehen. Dazu soll nicht nur sierung und Teilhabe der postmigrantischen
die vielfältige nachbarschaftliche Unterstüt- Gesellschaft verbunden werden kann.
zung sichtbarer werden, sondern wir wollen
erstmals diese Ansprüche auch in selbstver-
LITERATUR
walteten Mieterstrukturen in landeseigenen Holm, Andrej/Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy, 2016:
Wohnungsbeständen umsetzen. Wichtig ist Die Legende vom Sozialen Wohnungsbau, Berlin
Clausen, Matthias et al., 2018: Rekommunalisierung Plus:
dabei: Modellprojekt am Kottbusser Tor, Berlin
1 | Selbstverwaltung bedeutet Ressourcenauf- Hamann, Ulrike/Kaltenborn, Sandy (Hg.), 2014: Nichts läuft
hier richtig. Informationsbroschüre zum sozialen Woh-
wand – damit sie von einer breiten, diversen nungsbau in Berlin, www.nichts-laeuft-hier-richtig.de/
nachbarschaftlichen Mischung getragen wird,
muss sie vor allem Auswirkungen auf die 1 Die Gewobag ist eines von derzeit sechs kommunalen
Miete haben und der Sicherung einer guten Wohnungsunternehmen in Berlin.
2 Mehr dazu unter: https://kommunal-selbstverwaltet-
Wohnqualität dienen. wohnen.de/

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019      53


SPIELRÄUME NUTZEN
WO LINKE WOHNUNGSPOLITIK AUF DER BUNDESEBENE ANSETZEN KANN

ARMIN KUHN Durch den anhaltenden Anstieg der Mieten


und Immobilienpreise scheint die Verwand­
lung der Innenstädte in sterile Wohlstandsin­
seln vorgezeichnet. Der zunehmende Aus­
schluss derjenigen, die ohnehin nur schwer
Zugang zu Wohnraum finden, ist nicht nur
eine Katastrophe für die unmittelbar Betrof­
fenen. Wenn nachbarschaftliches Leben und
damit oft existenziell wichtige Netzwerke der
gegenseitigen Unterstützung zerstört werden,
wenn sich Unterschiedliches nicht mehr auf
der Straße begegnet, wenn Feuerwehrleute,
Krankenpfleger*innen oder Erzieher*innen
nicht mehr annähernd in der Nähe ihrer
Arbeitsplätze wohnen können, dann ist städti­
sches Leben als Ganzes gefährdet.
Lange haben sich Entscheidungs­trä­ger*­
in­nen in den Städten, in den Ländern und
in der Bundespolitik von dieser Erkenntnis
nicht beeindrucken lassen. Doch seitdem
sich Mieter*innen, Gewerbetreibende, soziale
Bewegungen und Initiativen für bedrohte
Freiräume massenhaft organisieren und ihr

54      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Recht auf Stadt einklagen und spätestens sieren die Initiativen das Wohnungsproblem
seitdem die Angst vor Verdrängung auch in als ein gesellschaftliches, das auf der kom­
der akademischen Mittelschicht umgeht, hat munalen bzw. der städtischen Ebene zu lösen
ein Umdenken eingesetzt. Die neoliberale ist. Für sie geht es nicht nur um die Krise des
Stadtpolitik zeigt sich jetzt mehr und mehr als Wohnens, sondern um die Krise der Stadt.
Ursache der vielfältigen Probleme. In einigen Städten haben die organisier­
Dieses Umdenken beginnt vor Ort. Eine ten Proteste beachtliche Erfolge erzielt. Dort,
progressive, an den Interessen der Vielen wo solche Interventionen und Bewegungen
orientierte Wohnungs- und Stadtpolitik fehlen, kommen nur wenige politische
muss darauf ausgerichtet sein, sowohl die Verantwortliche von sich aus auf die Idee, der
kommunalen Gestaltungsoptionen im Sinne Verfolgung von privaten Verwertungsinteres­
der Bewohner*innen als auch die Handlungs­ sen an unseren Städten Grenzen zu setzen
spielräume der organisierten Mieter*innen (vgl. Vollmer 2018). Das aber ist eine zentrale
und Bewegungen als zentrale Akteure des Aufgabe einer progressiven Wohnungspolitik.
Wandels auszuweiten. Deswegen möchte ich
den Blick auf unterschätzte Schauplätze jen­
seits der wohnungspolitischen Großbaustellen ARMIN KUHN lebt in Berlin, arbeitet als wohnungs-
lenken, auf drei Instrumente, die realpolitisch und mietenpolitischer Referent für die Bundes-
tagsfraktion DIE LINKE und engagiert sich in der
durchsetzbar erscheinen und zugleich die
Initiative »Stadt von unten«.
Organisierung von unten und den Aufbau von
Alternativen strukturell stärken könnten.

BEWEGUNG IN DEN STÄDTEN, NEOLIBERALER Insbesondere auf der Bundesebene müssen


STILLSTAND IM BUND die Rahmenbedingungen im Miet- und im
Seit mehr als einem Jahrzehnt haben Mieter­ Planungsrecht, im sozialen Wohnungsbau,
initiativen und stadtpolitische Bewegungen im Steuerrecht und bei der finanziellen Aus­
die toxische Wirkung der neoliberalen stattung der Kommunen geändert werden,
Stadtpolitik skandalisiert und ihre Forderun­ um die vielen berechtigten Forderungen der
gen für ein Recht auf Stadt auf die politische Bewegungen auch umsetzen zu können.
Agenda gehoben. Ihre Kämpfe setzen an zwei Auf der Bundesebene haben diese
Effekten der neoliberalen Stadtpolitik an: der Fragen lange Jahre kaum eine Rolle gespielt.
Schwächung der staatlichen, insbesondere Öffentliches Desinteresse sowie der Glaube,
der kommunalen Ebene hinsichtlich der der Markt werde die Grundlagen städtischen
Möglichkeiten, städtisches Leben politisch Zusammenlebens schon regeln, haben eine
zu gestalten, und an der Vereinzelung der Wohnungspolitik befördert, die vor allem
Bewohner*innen auf einem Wohnungs­ darin bestand, dass der Staat kaum mehr in
markt, der in erster Linie als Privatangelegen­ bezahlbaren Wohnraum investierte, während
heit betrachtet wird. Demgegenüber themati­ zugleich Milliardensummen von den öffent­

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     55


lichen Haushalten in die Hände von Inves­ Wenn es also zutrifft, dass ein Politikwandel
toren und Wohnungseigentümer*innen nicht ohne politischen Druck von unten
umverteilt wurden: durch steuerliche zu haben ist, muss es die Aufgabe linker
Förderungen ohne jede soziale Bindung, parlamentarischer Politik sein, die Organisa­
durch die Streichung von Mitteln für den so­ tionsfähigkeit von Mieter*innen zu stärken.
zialen Wohnungsbau zugunsten öffentlicher Dabei können Forderungen nach einer
Subventionen für steigende Mieten und für Vergesellschaftung von Wohnraum oder nach
Wohneigentum sowie durch Privatisierun­ Mietobergrenzen neue politische Möglich­
gen und Deregulierungen im Mietrecht. keitsräume öffnen und damit auch Hoffnung
Angesichts einer sich zuspitzenden auf eine ganz andere Wohnungspolitik erzeu­
Wohnungskrise werden inzwischen Lösun­ gen. Die folgenden Vorschläge für eine linke
gen breit diskutiert, die – wie Mietobergren­ Wohnungspolitik auf der Bundesebene haben
zen oder Enteignungen – noch vor Kurzem darüber hinaus das Potenzial, Mieter*innen
undenkbar schienen. Parallel dazu jedoch im Hier und Jetzt Erfolge zu verschaffen,
greift die Große Koalition mit dem Baukin­ Handlungsspielräume für die Organisierung
dergeld oder einer Sondersteuerabschrei­ auszuweiten und den Aufbau konkreter
bung für die Bauwirtschaft zu Instrumenten Alternativen zu erleichtern.
aus just dem gleichen Werkzeugkasten, der
die heutigen Probleme verursacht hat.¹ Die VORKAUFSRECHT AUSBAUEN
seit 2015 vorgenommenen Korrekturen im Das im Baugesetzbuch verankerte Vorkaufs­
Mietrecht oder die erhöhten Mittel für den recht der Kommunen für Grundstücke spielte
sozialen Wohnungsbau bedeuten also nicht in der wohnungspolitischen Praxis lange
eine Abkehr von den neoliberalen Grundan­ kaum eine Rolle. Das änderte sich schlagartig,
nahmen, die seit etwa drei Jahrzehnten die als Florian Schmidt, grüner Baustadtrat von
Wohnungs- und Sozialpolitik bestimmen. Friedrichshain-Kreuzberg, Ende 2016 begann,
Sie sichern vielmehr den Fortbestand der unter dem Slogan »Wir kaufen uns die Stadt
herrschenden Verhältnisse. Die derzeit zurück« dieses Instrument offensiv einzuset­
schizophren anmutende Politik spiegelt zen. Seitdem wurden in ganz Berlin auf diese
eine Ungleichzeitigkeit wider: Auf lokaler Weise über 30 Häuser mit mehr als 1 000
Ebene haben die Proteste und Bewegungen Wohnungen rekommunalisiert.
der vergangenen Jahre ein Umdenken Doch das Vorkaufsrecht stößt im über­
eingeleitet. Doch auf der Bundesebene hitzten Immobilienmarkt an Grenzen. Es
sorgt die Entfernung vom lokal erzeugten greift nur in bestimmten, planungsrechtlich
politischen Druck dafür, dass das neoliberale festgelegten Gebieten und es muss inner­
Paradigma der vergangenen drei Jahrzehnte halb von nur zwei Monaten, nachdem ein
im Wesentlichen weiterbesteht – was die Hausverkauf bekannt geworden ist, wahrge­
Handlungsmöglichkeiten auf der lokalen nommen werden. Die Kommune muss in
Ebene erheblich einschränkt. den abgeschlossenen Kaufvertrag eintreten

56      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


und den dort vereinbarten Preis zahlen. Diese nur die finanzielle Hürde für die Einzelnen
gesetzliche Regelung begrenzt nicht nur die senken. Die Mieter*innen wären auch nicht
Anwendung, es zwingt die Kommunen auch, von einer fortschrittlichen kommunalen
überhöhte Immobilienpreise zu zahlen und Verwaltung abhängig, um ihr Haus vor dem
somit Spekulationsgewinne von Verkäufern Verkauf zu bewahren. Der Bund könnte solche
aus Haushaltsmitteln zu finanzieren. So Gemeinschaften und Kommunen außerdem
waren in den meisten betroffenen Häusern durch einen Rekommunalisierungsfonds
die für die Rekommunalisierung aufzu­ finanziell unterstützen.
bringenden horrenden Summen nur durch Ein so gestärktes Vorkaufsrecht für
(moderate) Mieterhöhungen zu refinanzieren. Grundstücke und Wohnraum eröffnet
Meist ging die Wahrnehmung des neue Handlungsspielräume: zum einen für
Vorkaufsrechts auf das Engagement be­ Mieter*innen, die durch gemeinschaftliche
troffener Hausgemeinschaften zurück, die Organisierung konkrete Erfolge erringen und
sich zusammengeschlossen, den Kontakt bezahlbare Wohnungen erhalten können, zum
zu politischen Entscheidungsträger*innen anderen für die Kommunen, die über die Aus­
gesucht, an Lösungen mitgearbeitet und auf weitung ihrer Wohnungsbestände an Einfluss
diese Weise Mitentscheidungs- und Selbstver­ auf den Wohnungsmarkt gewinnen.
waltungsrechte erkämpft haben. Ein gestärk­
tes kommunales Vorkaufsrecht kann diesen KOLLEKTIVE MIETERRECHTE GARANTIEREN
Prozess der Selbstermächtigung unterstützen Obwohl das deutsche Mietrecht in anderen
und als wirksames Instrument zur schrittwei­ Ländern als vorbildlich gilt, hat es neben
sen Ausdehnung eines nicht profitorientierten vielen Lücken und einseitigen Bevorzugungen
Wohnungssektors eingesetzt werden. Dafür der Vermieterseite eine entscheidende Schwä­
müssen aber die gesetzlichen Regelungen che: Die dort verankerten Regulierungen und
verschärft werden: Das Recht muss auf das ge­ Abwehrrechte sind eine rein zivilrechtliche
samte Stadtgebiet ausgedehnt, die Frist für die und damit private Angelegenheit. So wird der
Wahrnehmung verlängert und vor allem der gesellschaftliche Interessenkonflikt zwischen
Preis auf den Ertragswert festgesetzt werden, Wohneigentum und Mieter*innen individu­
der sich aus den aktuellen Mieten und den In­ alisiert. Die mietrechtlichen Bestimmungen
standsetzungskosten ergibt.2 Ausgeweitet wer­ greifen im Zweifel erst dann, wenn sie von
den muss auch das im Mietrecht garantierte den betroffenen Mieter*innen individuell
Vorkaufsrecht der Mieter*innen beim Verkauf wahrgenommen werden. Die Geschichte
ihrer Wohnung. Wenn nicht nur vereinzelte der Mietpreisbremse seit ihrer Einführung
Mieter*innen, sondern Hausgemeinschaften im Jahr 2015 ist ein Beispiel für die Schwie­
als ganze ihr Vorkaufsrecht zugunsten einer rigkeiten bei der Durchsetzung von Mieter­
Genossenschaft, eines kommunalen Unter­ rechten. ­Diese wachsen mit dem Machtun­
nehmens oder eines gemeinwohlorientierten gleichgewicht zwischen Mieter*innen und
Trägers ausüben könnten, würde das nicht Vermieter*innen, wie die aktuellen Auseinan­

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     57


dersetzungen mit Wohnungskonzernen wie öffentlichen Grundstücken und Fördermit­
Vonovia zeigen.3 teln etc.) neu festzulegen hätte, ließen sich
Die Einführung kollektiver, also gemein­ entsprechende Rechte verankern – auch um
sam durchsetzbarer Mieterrechte wäre eine die demokratische Kontrolle solcher Unter­
angemessene Reaktion auf die Erfahrung, nehmen zu gewährleisten. Die Wohnungsge­
dass de facto nur diejenigen ihre Rechte wahr­ meinnützigkeit sollte vier Grundprinzipien
nehmen, die willens und in der Lage sind, oft folgen: Erstens tritt die Kostendeckung an die
langwierige und kostenintensive gerichtliche Stelle der Gewinnmaximierung als ökonomi­
Auseinandersetzungen zu führen. Ein Ansatz­ sches Leitziel der Wohnungsbewirtschaftung;
punkt dafür ist das kürzlich eingeführte zweitens werden die zulässigen Gewinne
Verbandsklagerecht, das es zum Beispiel Mie­ strikt beschränkt, sodass überschüssige
tervereinen ermöglicht, Sammelklagen für Einnahmen in den Wohnungsbau oder in
Betroffene (Mieter*innen, die im selben Haus das Wohnumfeld investiert werden müssen;
wohnen oder mit demselben Eigentümer zu drittens wird die Gemeinnützigkeit an die
tun haben) einzureichen. Ein weiterer Ansatz Garantie leistbarer Mieten sowie an einen
ist die Ausweitung von Mitbestimmungs- und spezifischen sozialen Versorgungsauftrag für
Selbstverwaltungsrechten der Mieter*innen. Haushalte, die nur schwer Zugang zu Wohn­
Diese sind im Rahmen des Mietrechts raum finden, gebunden; und viertens gilt das
nicht durchsetzbar, sondern bräuchten Prinzip demokratischer Mitbestimmung und
eine eigene gesetzliche Grundlage. Vorbild öffentlicher Kontrolle.4
hierfür könnten Mitbestimmungsrechte von Eine so konzipierte neue Wohnungsge­
Arbeitnehmer*innen sein, wie wir sie aus meinnützigkeit böte nicht nur Antworten
dem Betriebsverfassungsgesetz kennen. Ein auf die Krankheiten des alten sozialen
Blick auf das schwedische Mietrecht, das Wohnungsbaus – insbesondere auf das
Mietergewerkschaften großen Einfluss auf die Problem der auslaufenden Mietpreis- und
öffentlichen Wohnungsunternehmen sichert Sozialbindungen (vgl. Holm in diesem Heft).
und ihnen ein erhebliches Mitspracherecht Sie ist auch notwendig, um im Zuge von Re­
bei der Festlegung der Mieten einräumt, zeigt kommunalisierung oder Vergesellschaftung
das Potenzial eines solchen Weges. von Grundstücken und von Wohnraum die
Immobilien vor einer zukünftigen profitorien­
NEUE WOHNUNGSGEMEINNÜTZIGKEIT tierten Verwertung zu schützen und dauerhaft
Ein dritter Weg, Mitbestimmungs- und als soziale Infrastruktur abzusichern. Vor­
Selbstverwaltungsrechte für Mieter*innen aussetzung dafür wäre eine strikte Bindung
zu verankern, ist eine Neuregelung der öffentlicher Fördermittel, steuerlicher
Wohnungsgemeinnützigkeit. In einem Subventionen und Privilegien für die Immo­
entsprechenden Gesetz, das die Pflichten bilienwirtschaft an das Gemeinnützigkeits­
und Privilegien gemeinnütziger Wohnungs­ ziel. Gemeinnützige Wohnungsunternehmen
unternehmen (Steuervorteile, Zugang zu müssten von der Grundsteuer und von der

58      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Grunderwerbssteuer ausgenommen werden. zeitig wird dort über die Rahmenbedingun­
Doch Wohnungsunternehmen – auch die gen und damit auch Erfolgsaussichten von
großen Genossenschaften und die kommu­ lokalen Kämpfen entschieden. Wie können
nalen – werden sich nur dann gemeinnützig Häuser und Grundstücke der Profitlogik
ausrichten, wenn durch weitere gesetzliche entzogen, wie kann die Vereinzelung von
Regelungen im Miet-, Bau- und Steuerrecht Mieter*innen aufgehoben und ein Rahmen
sowie durch ihre entsprechende Anwendung für einen neuen gemeinwohlorientierten
vonseiten der Länder und Kommunen die Sektor geschaffen werden? Die hier skiz­
Attraktivität privater Investitionen in den zierten Vorschläge bieten dafür konkrete
Wohnungsmarkt verringert und die des ge­ Ansätze. Am Ende muss es auch beim
meinnützigen Wohnungsbaus entsprechend parlamentarischen Handeln darum gehen,
erhöht wird. Handlungsspielräume für die Selbstermäch­
tigung und Organisierung von Mieter*innen
FAZIT und stadtpolitischen Bewegungen auszu­
Nach langen Jahrzehnten neoliberaler weiten. Sollen Lösungen für die aktuelle
Wohnungspolitik im Bund ist die Zahl der Krise nicht auf halbem Weg steckenbleiben,
Baustellen aus linker Sicht kaum mehr zu muss strukturell etwas an den Bedingungen
überblicken. An unzähligen Schrauben muss verändert werden.
gedreht werden, um die Wohnungsmarkt- und
die Stadtentwicklung langsam wieder an den
Bedürfnissen der Vielen auszurichten. Obers­ LITERATUR
Holm, Andrej/Horlitz, Sabine/Jensen, Inga, 2017:
tes Ziel muss auch in der Wohnungspolitik Neue Wohnungsgemeinnützigkeit, hrsg. von der
sein, Profitinteressen zurückzudrängen. Es Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin
Kuhn, Armin/Lay, Caren, 2019: Keine soziale Wohnungs-
gilt, die kollektiven Rechte und Entscheidungs­ politik ohne Neubau, hrsg. von der Rosa-Luxem­
optionen von Mieter*innen nachhaltig zu burg-Stiftung, Reihe Standpunkte 2/2019, Berlin
Vollmer, Lisa, 2018: Strategien gegen Gentrifizierung,
stärken und das Recht auf Wohnen und Stadt Stuttgart
als gesellschaftliche Aufgabe zu begreifen und
dessen Wahrnehmung zu garantieren. Die 1 Vgl. zur Kritik der Wohnungspolitik der Bundes­
zentralen Akteure dieses Wandels sind die regierung und zum Gegenvorschlag eines öffentlichen
Wohnungsbauprogramms nach Wiener Vorbild
Mieter*innen, die sich in ihren Häusern und in Kuhn/Lay 2019.
Initiativen gegen Mieterhöhung und Verdrän­ 2 Die Regionalberatung im Mietshäusersyndikat Berlin-
Brandenburg hat im Juli 2017 nach einigen Monaten
gung zusammenschließen, sowie die stadtpo­ praktischer Erfahrung mit der offensiven Anwendung des
litischen Bewegungen, die ihre Forderungen Vorkaufsrechts die entsprechenden Forderungen entwickelt.
Vgl. hierzu http://syndikat.blogsport.eu/?p=1762.
an die staatlichen Entscheidungsträger*innen 3 Strategien zur Profitmaximierung mithilfe von Moder­
nisierungen und Nebenkostenabrechnungen, die legale
richten und zugleich mit dem Aufbau konkre­
Grenzen häufig überschreiten, haben Nicolai Kwasniewski
ter Alternativen begonnen haben. und Philipp Seibt für eine Artikelserie recherchiert, veröf­
fentlicht auf Spiegel-Online am 19. und 21.11.2018.
Die Bundesebene scheint von den lokalen 4 Vgl. zum Konzept, Hintergrund und zu Möglichkeiten
Auseinandersetzungen weit entfernt. Gleich­ der Umsetzung Holm et al. 2017.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019      59


KURSWECHSEL
STATT KOSMETIK
WARUM WIR WOHNEN ANDERS ORGANISIEREN MÜSSEN

BERND RIEXINGER In Berlin demaskiert der Volksentscheid


»Deutsche Wohnen & Co. enteignen« die
Kräfte, die hinter dem aktuellen Mieten-
wahnsinn stecken. Das Ziel der Initiative, in
der Hauptstadt mittels Volksentscheid alle
Wohnungskonzerne mit mehr als 3 000 Miet-
wohnungen zu vergesellschaften, alarmierte
die bürgerlichen Parteien und das Kapital glei-
chermaßen. Während die Konservativen mit
Schaum vor dem Mund vor »sozialistischen
Blütenträumen« warnten, fällt die Erpressung
des Kapitals handfester aus.
So mahnte die US-amerikanische Rating­
agentur Moody’s, die Debatte gefährde die
Bonität des Landes Berlin, und drohte mit der
Herabstufung der Kreditwürdigkeit, wodurch
sich die Zinsen für Kredite des Landes
erheblich erhöhen würden. Einer der wichtigs-
ten Anteilseigner bei Moddy’s ist Blackrock,
der mächtigste Vermögensfonds der Welt,
dem große Teile des Immobilienkonzerns
Deutsche Wohnen gehören. Auch der Finanz-
konzern MFS ist in erheblicher Höhe sowohl

60      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


an der Ratingagentur als auch an besagtem barem Wohnraum nicht mehr als staatliche
Immobilienkonzern beteiligt. Mit anderen Kernaufgabe verstanden und Wohnungsbau
Worten: Mittels Moody’s warnt das Kapital das und Mietenentwicklung gezielt dem Markt
Land Berlin vor seiner eigenen Enteignung. überlassen hat. Die Profiteure dieser Krise
Nun sind im Kapitalismus bezahlbare und sind Immobilienriesen wie Deutsche Wohnen
menschenwürdige Wohnbedingungen nicht und Vonovia. Diese beiden Konzerne realisier-
die Regel, sondern die historische Ausnahme. ten im vergangenen Jahr gemeinsam einen
Sozialer Wohnungsbau, wie er hierzulande operativen Gewinn von rund einer Milliarde
Anfang des 20. Jahrhunderts und verstärkt Euro. Das Manager Magazin bemerkte dazu
nach dem Zweiten Weltkrieg entstand, lag nüchtern: »Steigende Mieten führen zu stei-
zwar durchaus auch im langfristigen Interesse genden Gewinnen. Die Mieter zahlen mehr,
von Teilen der kapitalistischen Klasse, musste die Aktionäre bekommen mehr Dividende.«
aber durch die Arbeiterbewegung des 20. Gegen diese Entwicklung formiert
Jahrhunderts mühsam erkämpft werden. sich vielerorts Widerstand. Längst wehren
Wenn die Versorgung der Bevölkerung sich immer mehr Mieter*innen gegen ihre
mit Wohnraum nur noch Markt und Profit
überlassen wird, zahlt die Mehrheit der Men-
BERND RIEXINGER ist Ko-Vorsitzender der Partei DIE
schen einen hohen Preis. Bereits heute haben LINKE. Vor Kurzem erschien von ihm im VSA-Verlag
viele Menschen in Deutschland Angst davor, »Neue Klassenpolitik. Solidarität der Vielen statt
Herrschaft der Wenigen« (2018).
ihre Wohnung bald nicht mehr bezahlen zu
können. Sie fürchten zu Recht, dass steigende
Mieten sie in Armut stürzen. Für mehr als­
1,3 Millionen Menschen ist das bereits Realität: faktische Enteignung und die Zerstörung
Ihr Einkommen liegt durch zu hohe Mieten von Nachbarschaften durch Gentrifizierung
unter Hartz-IV-Niveau. Wohnungs- und und Verdrängung. Bundesweit engagieren
Obdachlosigkeit steigen dramatisch. sich weit über Hunderttausend Menschen in
Längst treffen steigende Mieten auch Mieterinitiativen.
Durchschnittsverdiener*innen. Für Familien Trotzdem setzt die Bundesregierung
mit Kindern ist es fast unmöglich, eine be- aus CDU/CSU und SPD weiter auf markt-
zahlbare Wohnung zu finden. In Großstädten konformen Lösungen. 1,5 Millionen neue
zahlen 40 Prozent der Menschen mehr als Wohnungen sollen entstehen, im Besitz von
ein Drittel ihres Einkommens für die Miete. Privateigentümern, mit Mieten um die
In vielen Städten hätte über die Hälfte der zehn Euro­­pro Quadratmeter, subventioniert
Bewohner*innen Anrecht auf einen Wohnbe- mit Steuergeld. Auch die nachgebesserte
rechtigungsschein. Mietpreisbremse verpufft weitgehend. Im Jahr
Diese Wohnungskrise ist Resultat der 2020 steht sie offiziell auf dem Prüfstand; die
neoliberalen Politik der letzten Jahrzehnte, die Immobilienlobby fordert bereits heute ihre
die Versorgung der Bevölkerung mit bezahl- Abschaffung. Hinzukommt, dass ab dem Jahr

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     61


2021 die Zukunft des sozialen Wohnungsbaus dauerhaft in öffentlichem oder genossen-
völlig offen ist. Durch die Föderalismusre- schaftlichem Eigentum bleiben.
form wird eine weitere Förderung durch den Wenn der Markt versagt, muss auch über
Bund ausgeschlossen. Jedes Jahr fallen trotz den Aufbau einer nicht-profitorientierten
leicht gestiegener Neubauzahlen etwa 50 000 regionalen Bauwirtschaft nachgedacht
Wohnungen aus der Sozialbindung. werden. Im Deutschen Bundestag hat die
Um den Mietenwahnsinn zu stoppen und Fraktion DIE LINKE deshalb ein öffentliches
bezahlbaren Wohnraum für alle zu realisieren, Wohnungsbauprogramm im Umfang von­10
reichen keine kleinen Korrekturen mehr. Milliarden­Euro gefordert. Mit der Hälfte der
Notwendig ist ein Bruch mit der neoliberalen Summe sollen die Bundesländer den sozialen
Politik, ein grundlegender Richtungswechsel: und gemeinnützigen Wohnungsbau unter-
Bund, Länder und Kommunen müssen Woh- stützen, die andere Hälfte soll großenteils als
nungen aufkaufen und neue bezahlbare, ökolo- Investitionsprogramm dem kommunalen und
gisch modernisierte Wohnungen bauen lassen. genossenschaftlichen Wohnungsbau dienen.
Private Wohnungskonzerne wie Vonovia und Nur so ist eine flächendeckende Senkung der
Deutsche Wohnen müssen unter gesellschaft- Mietpreise innerhalb von fünf bis zehn Jahren
liche Kontrolle gebracht, die Wohnungen in möglich. Vorbild kann dabei das Wiener
öffentliches oder genossenschaftliches Eigen- Modell eines kommunalen, gemeinwohl- statt
tum überführt und die Mieten gesenkt werden. profitorientierten Wohnungsbaus sein: Die
Notwendig ist ein sofortiger Mietenstopp durch Mieten für moderne Neubauten liegen dort
ein gesetzliches Moratorium. bei etwa 5 Euro pro Quadratmeter.
Die aktuelle Wohnungskrise wirft die Fra- Mit solchen Konzepten kann die Woh-
ge einer demokratisch organisierten Planung nungskrise gelöst werden. Dafür ist es notwen-
auf, die sich am gesellschaftlichen Bedarf und dig, mehr Mieter*innen zu organisieren und die
an den unterschiedlichen Bedürfnissen der derzeit überwiegend dezentralen Mietenproteste
Menschen beim Wohnen und Zusammenle- bundesweit sichtbar und wirkmächtig zu ma-
ben in den Kommunen orientiert. Angesichts chen. DIE LINKE trägt dazu auf drei Ebenen bei:
der Klimakrise sind ökologisches Bauen und Erstens beteiligen wir uns am Aufbau
Sanierung unbedingt notwendig. Doch das eines bundesweiten Bündnisses »Zusammen
findet bisher zu wenig statt. Energetische gegen #Mietenwahnsinn«. Mit politischen
Modernisierung wird stattdessen zum Mittel, Bündnispartner*innen wie dem Deutschen
um Mieten zu erhöhen und Menschen zu Mieterbund, dem DGB, Umweltverbänden
verdrängen (vgl. Pallaver in diesem Heft). Die und lokalen Mietenbündnissen entfalten wir
Modernisierungsumlage muss daher sofort Druck auf die Bundesregierung. Aufbauend
abgeschafft werden. Bezahlbare, ökologisch auf den Demonstrationen im April 2019 wer-
modernisierte und den verschiedenen Bedürf- den wir mit Demonstrationen und Aktionen
nissen der Menschen angepasste Wohnungen des sozialen Ungehorsams die Bundesregie-
müssen staatlich finanziert werden und rung zum Handeln zwingen.

62      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Zweitens werden wir mit unserer bundes-
weiten Kampagne »Bezahlbare Miete statt
fetter Rendite« zur Mobilisierung und zur
Organisierung von Mieter*innen beitragen.
Im Mittelpunkt stehen die Forderungen nach
einem Mietenstopp, der Abschaffung der
Modernisierungsumlage und verbindlichen,
örtlich festzulegenden Höchstmieten. Die
Forderung nach dem Bau oder Erwerb von
250 000 zusätzlichen bezahlbaren Wohnun-
gen pro Jahr in öffentlicher und gemeinnüt-
ziger Hand ist ebenso zentral wie die nach Einkommen wohnen: Mit Haustürbesuchen
Vergesellschaftung der Immobilienkonzerne. und Stadtteilarbeit, die von der Mieterbera-
Bislang haben im Rahmen der vor einigen tung über Frühstücke für Erwerbslose und
Monaten gestarteten Kampagne bereits mehr kulturelle Angebote reicht, wollen wir die
als 200 Aktionen stattgefunden. Menschen erreichen und ermutigen, aktiv
Die Kampagne verfolgt einen organisie- Widerstand gegen steigende Mieten zu leisten.
renden Ansatz, den Weg der Stärkung einer Dafür haben wir in einem ersten Schritt
»organisierenden Mitgliederpartei«, den wir gezielte Modellprojekte gestartet (vgl. Kaindl/
in den letzten Jahren mit Kampagnen, mit Nagel in diesem Heft). In der Gropiusstadt in
Organizing-Projekten und Haustürgesprächen Berlin-Neukölln trägt die Arbeit des dortigen
begonnen haben. Zum einen unterstützen Bezirksverbands erste Früchte: Mieterinnen
linke Kreisverbände in vielen Kommunen und Mieter organisieren sich, planen und
schon jetzt tatkräftig Mieterinitiativen, starten realisieren Aktionen und öffentlichen Protest
kommunale Bündnisse und Kampagnen. In (vgl. Vater in diesem Heft). In den nächsten
Bielefeld etwa hat der Kreisverband lange vor Monaten geht es darum, diese und andere
dem Start der Mietenkampagne erfolgreich Erfahrungen auszutauschen, voneinander
Druck für einen städtischen sozialen Woh- zu lernen und schrittweise diesen Ansatz
nungsbau organisiert. Diese Arbeit wollen wir des transformativen Organizing in der Partei
bundesweit unterstützen mit Angeboten zur auszubauen. DIE LINKE unterstützt so über
Bildung und Vernetzung. die Metropolen hinaus die Organisierung und
Drittens geht es um die Bildung offener Vernetzung der Mieterinnen und Mieter von
Kampagnengruppen vor Ort, für die gezielt Deutsche Wohnen, Vonovia & Co.
Mieter*innen, die noch nicht in der Partei Diese Form der unmittelbaren, verbin-
DIE LINKE aktiv sind, gewonnen werden denden Klassenpolitik braucht einen langen
sollen. Unser Ziel ist eine organisierende Atem. Die Kampagne und die organisierende
Arbeit, besonders in Stadtteilen, in denen Arbeit vor Ort sind auf viele Jahre angelegt. Es
überwiegend Menschen mit geringem gibt keine Abkürzungen.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     63


BODEN GUTMACHEN
WAS KANN LINKE BODENPOLITIK?

WERNER HEINZ Die Nachfrage nach Grund und Boden sowie


Immobilien ist gegenwärtig immens. Nicht
allein in den Großstädten der Ballungsräume
und wirtschaftlich attraktiven Mittel- und Uni-
versitätsstädten werden Grundstücke vermehrt
als Objekte der Kapitalanlage- und Spekula-
tion gesehen, auch am landwirtschaftlichen
Grundstücksmarkt zeigt sich zunehmendes
Kaufinteresse. Der preistreibenden Nachfrage
steht in vielen Städten eine immer größere
Zahl von Haushalten gegenüber – zunehmend
auch von Angehörigen der Mittelschicht –, die
den damit kontinuierlich steigenden Grund-
renten-, Miet- und Bodenpreisforderungen
nicht mehr nachkommen können. Gegenwär-
tig gibt jeder zehnte Großstadthaushalt mehr
als die Hälfte seines verfügbaren Einkommens
für Miete aus (vgl. Frankfurter Rundschau,
13.9.2017). Die Politik der öffentlichen Hand
hat maßgeblich zur Verschärfung dieser
Probleme beigetragen, indem sie sich in Bund
und Ländern aus der Förderung des sozialen
Wohnungsbaus zurückzog.

64      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Zur Eindämmung der drastischen Boden- bebaute Grundstücke würden damit um ein
preissteigerungen und zur »Lösung« der Vielfaches höher belastet als heute (Difu/vhw
Wohnungsproblematik wird in jüngerer Zeit 2017, 21). Ob es dadurch bei privaten Eigen-
eine Vielzahl unterschiedlicher Forderungen tümern, die auf Spekulationsgewinne setzen,
erhoben. Sie reichen von einer veränderten tatsächlich zu einer Aufgabe der Zurückhal-
Besteuerung von Grund und Boden über eine tung bei der Bebauung von Grundstücken und
Ausweitung planungsrechtlicher Maßnahmen damit zu einer Ausweitung des Angebots an
bis zu einer gemeinwohlorientierten Liegen- Bauland kommen wird, ist eine offene Frage.
schaftspolitik. Diese Forderungen sind zum Ein verstärkter Verkauf von Grundstücken
Teil nicht neu, einige gehen auf die vor allem wird allerdings – vor allem in attraktiven
von der SPD in den frühen 1970er Jahren Lagen – kaum zu einem Absenken der Boden-
initiierte Diskussion zur Reform des Boden- preise und dem Bau bezahlbarer Wohnungen
rechts zurück, andere wie die Bodenwertzu- führen. Schließlich wird über Steuerreformen
wachssteuer sind bereits im 19. Jahrhundert die gegenwärtig vorherrschende Funktion von
angestoßen, später auch umgesetzt worden.

WIRKSAMKEIT DER GEGENWÄRTIG WERNER HEINZ ist promovierter Planungswissen-


DISKUTIERTEN ANSÄTZE schaftler, leitete von 1984 bis 2009 die Kölner
Abteilung des Deutschen Instituts für Urbanistik
Große Erwartungen in Bezug auf die Reduzie-
und arbeitet gegenwärtig als freier Berater und
rung von Bodenpreisen werden gegenwärtig an Autor. Gemeinsam mit Bernd Belina veröffentlichte
die Grundsteuerreform gerichtet. Welche der er zuletzt die von der Rosa-Luxemburg-Stiftung
diskutierten Optionen – eine reine Bodenbe- beauftragte Studie »Die kommunale Bodenfrage«
(2019), auf die dieser Beitrag zurückgeht.
steuerung oder eine kombinierte Besteuerung
von Boden und aufstehenden Gebäuden – sich
durchsetzen wird, ist noch nicht abschließend
geklärt. In Hamburg und München wird Boden und Wohnungen als profitable Kapi-
zudem auch über die Einführung der schon talanlage nicht beseitigt. Auch nach Ansicht
bei früheren Wohnungsengpässen diskutierten der Autoren der Bodenpolitischen Agenda
Bodenwertzuwachssteuer nachgedacht. Ziel 2020–2030 ist die »Bodenwertsteuer […] kein
aller Besteuerungsmodelle ist eine Abschöp- Instrument […], mit dem direkt oder gezielt
fung steigender Bodenwerte bzw. Bodenwert- gegen Aufwertungs- und Verdrängungsprozes-
zuwächse und damit von leistungslosen, durch se vorgegangen werden könnte« (ebd., 22).
kommunale Planungs- und Infrastrukturmaß- Die Einsatzmöglichkeiten »städtebaulicher
nahmen bewirkten Gewinnen. Verträge«, mit denen Investoren zur Schaffung
Bei der Reformvariante Bodenwertsteuer von sozialem Wohnraum und zur anteiligen
soll sich die Höhe der Steuer unabhängig von Übernahme von Infrastrukturkosten verpflich-
der tatsächlichen Bebauung an der rechtlich tet werden können und mit denen gegenwärtig
maximal zulässigen Nutzung orientieren. Un- die höchsten Förderzahlen realisiert werden,

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     65


sind gleichfalls begrenzt. Für neu errichtete genschaftsdezernat hat aber nur 8 Wohnhäu-
Wohnungen, die über § 34 des Baugesetzbuches ser […] erworben sowie für weitere 13 Objekte
genehmigt werden – und dies sind im Durch- […] sogenannte Abwendungsvereinbarungen
schnitt etwa 50 Prozent –, kommen städtebau- erzielt« (Frankfurter Rundschau, 1.11.2018).
liche Verträge nicht infrage. Sie können nur Schließlich wird von vielen Seiten »eine
in bestimmten Bereichen – auf kommunalen aktive Baulandpolitik der Städte und Gemein-
Grundstücken, bei denen privatrechtliche Rege- den« gefordert, da »die Bereitstellung geeig-
lungen möglich sind, oder im Rahmen neuen neter Grundstücke« für die Schaffung von
Planungsrechts (Bebauungspläne) – geschlos- bezahlbarem Wohnraum »eine unverzichtbare
sen werden. Mithilfe solcher Verträge wurde in Voraussetzung« sei (Difu/vhw 2017, 14).
München zwischen 1994 und 2017 Baurecht Vernachlässigt wird dabei, dass gegenwärtig
auf privaten Flächen für mehr als 12 000 öf- durchaus gebaut wird, zum Teil in beträcht-
fentlich geförderte Wohnungen geschaffen (vgl. lichem Umfang, aber eben nicht für niedrige
Landeshauptstadt München 2019). Im gleichen und mittlere Einkommensgruppen. Für
Zeitraum fiel allerdings eine weit größere Zahl private Investoren ist dies im Vergleich mit an-
von Wohnungen aus der Sozialbindung.1 deren Kapitalverwertungsmöglichkeiten nicht
Die quantitative Wirksamkeit des gelten- rentabel. Ein dauerhafter, bezahlbarer und der
den Vorkaufsrechts ist in wohnungspolitischer Renditelogik entzogener Wohnungsbestand
Hinsicht gleichfalls begrenzt. Kommunales im Sinne kommunaler Daseinsvorsorge kann
Eingreifen ist nur in Gebieten möglich, in de- daher nicht über eine »aktive Baulandpolitik«
nen durch Satzungen – wie Milieuschutz- oder erreicht werden, sondern nur über einen
Erhaltungssatzungen – Gemeinwohlgründe grundlegenden Paradigmenwechsel in der
zur Ausübung des Vorkaufsrechts vorliegen. Wohnungspolitik.
Die Zahl derartiger Gebiete ist in der Regel In der aktuellen bodenpolitischen Diskus-
begrenzt und die Ausübung des Rechts ist sion gewinnt zunehmend die Erkenntnis an
überdies auf wenige Jahre befristet (vgl. Felsch Gewicht, dass angesichts der Entwicklungen
2010, 39). Dementsprechend niedrig ist auch auf dem Grundstücks- und Bodenmarkt
die Zahl der realisierten Fälle in Großstädten öffentliches Eigentum an Grund und Boden
wie München oder Frankfurt am Main. In im Sinne einer gemeinwohlorientierten Stadt-
München wurden zwischen 1994 und 2010 entwicklung und zur Sicherung und Stärkung
»45 Anwesen mit insgesamt 599 Wohnungen des kommunalen Handlungsspielraums eine
durch Ausübung des Vorkaufsrechts erwor- zentrale Erfordernis ist. Ein erster, wenn auch
ben und wieder privatisiert. Dem stehen 211 begrenzter Schritt könnte dabei eine Abkehr
Abwendungserklärungen für insgesamt 4 354 vom Verkauf von noch in öffentlicher Hand
Wohnungen gegenüber« (ebd., 40). Die Stadt befindlichen Grundstücken zu Höchstpreisen
Frankfurt am Main hat in Gebieten, für die an Private sein. Diesen sollten hingegen
eine Milieuschutzsatzung gilt, »seit 2016 den befristete Nutzungsrechte mit Gemein-
Kauf von 23 Immobilien empfohlen, das Lie- wohlbindungen im Wege des Erbbaurechts

66      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


eingeräumt werden. Kommunen haben mit den Kommunen kein übergreifendes und
diesem Instrument das Recht, Nutzer und Art weitreichendes Konzept, sondern nur ein
der Nutzung zu bestimmen, und behalten ihre fragmentierter Katalog von Maßnahmen mit
planerischen Gestaltungsmöglichkeiten. Über begrenzter Wirksamkeit gegenüber. Einige
Konzeptverfahren können sie stadtentwick- dieser Maßnahmen greifen zu kurz, da
lungspolitische Ziele langfristig sichern. weitere relevante Politikbereiche außer Acht
Weiterhin ist in der Diskussion, mit gelassen werden. Bei anderen stehen einem
einer gezielten Politik der Bodenbevorratung wachsenden Bedarf nur geringe Fallzahlen in
und der Einrichtung revolvierend angelegter der Praxis gegenüber. Diese Maßnahmen sind
Boden- und Infrastrukturfonds auch für den kaum mehr als ein Tropfen auf den heißen
Ausbau des kommunalen Grundstückspools Stein. Die Diskrepanz zwischen Problemum-
zu sorgen. Die kommunalen Haushalte sollen fang und auf der kommunalen Ebene zur
hierfür mit entsprechenden Mitteln ausgestat- Anwendung kommenden Instrumenten ist
tet werden. Gedacht ist dabei an Einnahmen eklatant. Beispielhaft hierfür steht die Stadt
aus den oben genannten Bodensteuern. Bund München, deren Bodenmarkt trotz einer
und Länder sollen den Aufbau dieser Fonds Vielzahl als vorbildlich erachteter bodenpo-
zusätzlich unterstützen: mit einer Anschub- litischer Instrumente einer der teuersten
finanzierung sowie mit der Bereitstellung Deutschlands ist.
bundes- und landeseigener Grundstücke. Ein
aktueller Beschluss des Bundestages kommt EIN PROBLEMADÄQUATER SCHRITT:
dieser Forderung ein Stück weit entgegen. ERWEITERUNG DES ÖFFENTLICHEN EIGENTUMS
Danach sollen von den knapp 20 000 Liegen- AN GRUND UND BODEN
schaften, die die bundeseigene Bundesanstalt Was also tun? Angesichts des Problemum-
für Immobilienaufgaben verwaltet, etwa 5 000 fangs, der Ursachen der aktuellen Boden-
kostengünstig an Kommunen für den Bau von problematik und der Tatsache, dass »das
Wohnungen vergeben werden (vgl. mdr 2018). Grundeigentum [trotz] eine[r] Vielzahl von […]
Diese Zahlen klingen zunächst hoch, erweisen Eingriffen [der öffentlichen Hand] zwischen
sich aber angesichts des vorhandenen Bedarfs den Ritzen der Gesetze und Maßnahmen […]
als vergleichsweise niedrig. Auch die erwarte- potenziell sofort wieder in den sozialwidrigen
ten Mittel aus Grundsteuereinnahmen dürften Bereich hinein[wächst]« (Vogel 1972, 1546), ist
infolge weiterer kommunaler Aufgaben, die inzwischen ein Kipppunkt erreicht, bei dem
mit ihnen finanziert werden sollen – von sich eine Politik, die sich allein auf punktuelle
preisgünstigen Wohnungen bis zu Einrich- Ansätze beschränkt, als immer unzureichen-
tungen der Infrastruktur –, kaum zum Aufbau der erweist. Was wir stattdessen brauchen, ist
eines angemessenen Bodenvorrats reichen. ein radikaler, das heißt an den Wurzeln (radix)
Zur »Bekämpfung der kommunalen ansetzender Politik- und Paradigmenwechsel,
Boden- und Wohnungsproblematik« – dies mit einer generellen Infragestellung des
lässt sich bilanzierend feststellen – steht Privateigentums an Grund und Boden und

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     67


einer sukzessiven Überführung städtischen bei anderen Vermögensgütern« (zit. nach
Bodens – vor allem in den Ballungszentren Luft 2018, 14).
– in kommunales bzw. Gemeinschaftsei- Angesichts der zunehmenden Beein-
gentum. Beispiele aus dem Ausland wie der trächtigung des Gemeinwohls (bezahlbarer
Kommunale Wohnungsbau in Wien oder die Wohnraum ist Gemeinwohl) und der
auf staatlichem Bodeneigentum basierenden Wohn- und Lebensverhältnisse von immer
Erbbaurechtspolitiken von Singapur oder mehr städtischen Bewohner*innen durch
den Niederlanden könnten hier als Vorbilder die Entwicklungen auf dem Boden- und
dienen. Boden steht in diesen (Stadt-)Staaten Wohnungsmarkt (mit einer »zunehmenden
zum einen kostengünstig für Einrichtungen Angst vor der Zukunft«) ist es an der Zeit,
der Daseinsvorsorge zur Verfügung und kann dass die Interessen der Allgemeinheit über
zum anderen im Erbbaurecht an Private private Profitinteressen gestellt werden. Ziel
verpachtet werden. sollte eine schrittweise Zurückdrängung von
Nach den Regelungen des deutschen Bodeneigentum sein, das nicht der privaten
Grundgesetzes und einschlägigen Äuße- Nutzung, sondern allein der monopolistischen
rungen von verfassungsrechtlicher Seite ist Verwertung dient. Zur politischen Durchset-
eine solche Bodenpolitik auch hierzulande zung dieses Ziels gibt es das Instrument der
vorstellbar. Artikel 14 Abs. 2 des Grundgeset- Enteignung gegen Entschädigung. Beim Bau
zes bestimmt, dass »Eigentum verpflichtet«, von Autobahnen oder bei Einrichtungen der
»sein Gebrauch […] zugleich dem Wohle der Kohle- und Atomwirtschaft sind Enteignungen
Allgemeinheit dienen« soll und Enteignungen keine Seltenheit, in der Wohnungspolitik kom-
im Sinne dieses Wohles zulässig sind (Abs. 3). men sie seit den Nachkriegsjahren allenfalls
Nach Artikel 15 kann »Grund und Boden […] in Ausnahmesituationen zum Tragen. Der so
zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein gewonnene Boden sollte für Einrichtungen
Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädi- der Daseinsvorsorge und den Bau bezahlbarer
gung regelt, in Gemeineigentum oder in an- Wohnungen verwendet werden.
dere Formen der Gemeinwirtschaft überführt Für die Umsetzung dieser keineswegs
werden«. Ein in jüngerer Zeit häufig zitierter revolutionären, sondern auf dem Boden des
Beschluss des Bundesverfassungsgerichts von Grundgesetzes stehenden und an die boden-
1967 verweist darauf, dass »die Tatsache, dass politischen Vorschläge von Hans-Jochen Vogel
der Grund und Boden unvermehrbar und aus den frühen 1970er Jahren anknüpfende
unentbehrlich ist, [es] verbietet […], seine Nut- Forderung bedürfte es einer differenzierten
zung dem unübersehbaren Spiel der Kräfte Auseinandersetzung, die Gegenstand einer
und dem Belieben des Einzelnen vollständig eigenen Studie sein sollte. Umsetzungsre-
zu überlassen: Eine gerechte Rechts- und levante Vorschläge aus jüngerer Zeit gibt es
Gesellschaftsordnung zwingt vielmehr dazu, bereits. Berliner Mieterinitiativen votieren
die Interessen der Allgemeinheit in weit für ein Volksbegehren, das darauf zielt, die
stärkerem Maße zur Geltung zu bringen als Wohnungsbestände großer Wohnungsbauun-

68      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


ternehmen mit Gewinnerzielungsabsichten Nutzungseigentum forderte, wurden Befürch-
und einem Bestand von mindestens 3 000 tungen laut, dies liefe auf eine Abschaffung
Wohnungen sukzessive in Gemeineigentum der kapitalistischen Gesellschaftsform hinaus.
zu überführen (vgl. Deutsche Wohnen & Das ist bekanntlich weder in Dänemark noch
Co. enteignen 2019). Ziel ist die Versorgung in Singapur eingetreten. Es handelt sich
der Stadtbevölkerung mit Wohnraum zu vielmehr um Staaten mit einer anderen Boden-
leistbaren Mieten. Die Entschädigung soll ordnung, die mit maßgeblichen Vorteilen für
per Gesetz geregelt und anteilig vom Land die Wohnungsversorgung ihrer Bevölkerung
Berlin und über Kredite finanziert werden. einhergeht. »Gesellschaftliche Veränderun-
Zur Sicherung demokratischer und transpa- gen«, so hieß es bereits 1972, »werden uns
renter Entscheidungsstrukturen soll für die nicht geschenkt, sie müssen erkämpft werden.
vergesellschafteten Wohnungsbestände ein Dies gilt auch für ein soziales Bodenrecht.«
Gesamtmieterbeirat eingerichtet werden. (Conradi et al. 1972, 142)
Von einem Mitglied des »Münchener Aufrufs
für eine andere Bodenpolitik« kommt ein
Vorschlag, der sich gleichfalls auf Art. 15 des LITERATUR
Grundgesetzes stützt und für eine Begren- Conradi, Peter/Dieterich, Hartmut/Hauff, Volker, 1972: Für
ein soziales Bodenrecht, Frankfurt a.M.
zung der privatrechtlichen Verfügungsgewalt Deutsche Wohnen & Co. enteignen, 2019: Eine Antwort
über Grund und Boden ausspricht und unter auf die Wohnungskrise, 5.4.2019, www.dwenteignen.
de/2019/04/05/eine-antwort-auf-die-wohnungskrise/
Verweis auf die Bodenpolitik Dänemarks eine Difu (Deutsches Institut für Urbanistik)/vhw (Bundesver-
mengenmäßige Begrenzung des privaten band für Wohnen und Stadtentwicklung), 2017: Boden-
politische Agenda 2020 – 2030. Warum wir für eine
Bodeneigentums auf den Eigenbedarf fordert. nachhaltige und sozial gerechte Stadtentwicklungs- und
»Das im Erbfall über den Eigenbedarf der Wohnungspolitik eine andere Bodenpolitik brauchen,
Berlin
Erben hinausgehende Grundvermögen würde Felsch, Bernadette-Julia, 2010: Wege zu einer gerechten
Bodenordnung, München
[…] gegen Entschädigung verstaatlicht und
Heinz, Werner/Belina, Bernd, 2019: Die kommunale Boden-
in Erbpacht zur Nutzung vergeben. […] Nicht frage – Hintergrund und Lösungsstrategien, hrsg. von
der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin
mehr möglich wäre die Hortung von und das Landeshauptstadt München, 2019: Sozialgerechte Bodennut-
Spekulieren mit Grund und Boden und damit zung. Der Münchner Weg, www.muenchen.de/rathaus/
Stadtverwaltung/Kommunalreferat/immobilien/sobon.
das Erzielen leistungsloser Einkünfte.« (Felsch html
2010, 120). Luft, Christa, 2018: Wider den Marktradikalismus, hrsg. von
der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Analysen, Berlin
Für staatliche Eingriffe in die private mdr, 2018: Bund will Baugrundstücke freigeben, 13.10.2018,
Bodenverwertung ist Dänemark kein Ein- www.mdr.de/nachrichten/politik/inland/bund-grundstu-
ecke-bau-100.html/.
zelbeispiel. Wie bereits erwähnt, befindet Vogel, Hans-Jochen, 1972: Bodenrecht und Stadtentwick-
sich in Singapur der gesamte Grund und lung, in: Neue Juristische Wochenschrift 35/1972, 1544ff.

Boden des Stadtstaates in öffentlicher Hand.


Bereits in den 1970er Jahren, als der SPD-
1 So der frühere Münchener Stadtdirektor Stephan Reiß-
Mann Hans-Jochen Vogel die Aufteilung des Schmidt in einem Vortrag in der Evangelischen Akademie in
Grundeigentums in ein Verfügungs- und ein Frankfurt am Main am 17.10.2018.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019      69


»WOHNRAUM MUSS
FÜR ALLE DA SEIN«
GESPRÄCH ÜBER DIE HINDERNISSE UND ZUGÄNGE
VON GEFLÜCHTETEN AUF DEM WOHNUNGSMARKT

MIT BEA FÜNFROCKEN UND REMZI UYGUNER terstützen können. Neben den Diskriminie-
rungserfahrungen bei der Wohnungssuche
Ihr unterstützt Personen mit Fluchterfahrung kommen Fälle von Diskriminierung auch
bei der Wohnungssuche. Was sind die dring- in mietrechtlichen oder strafrechtlichen
lichsten Probleme, mit denen die Menschen Verfahren, beispielsweise in Nachbarschafts-
zu euch kommen? konflikten vor und müssten eigentlich dort als
BEA: Die meisten wollen dringend aus den solche verhandelt werden. In diesem Rahmen
Unterkünften raus und in einer eigenen werden Fragen der Diskriminierung aber oft
Wohnung leben, eine Privatsphäre haben. nicht berücksichtigt.
REMZI: Wir unterstützen Personen, die bei Es gibt jedoch vereinzelt Erfolge, wenn
der Wohnungssuche eine Diskriminierung Vermieter*innen im Rahmen von Klagen nach
erfahren. Leider stellen wir täglich fest, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz
dass die Wohnungssuche insbesondere für (AGG) Diskriminierung nachgewiesen werden
Menschen mit Flucht- oder Migrationserfah- kann. Damit bekommen die Betroffenen
rung besonders schwierig ist. Sie haben kaum leider noch keinen Rechtsanspruch auf eine
Zugänge zum Wohnungsmarkt und sind von Wohnung. Nach dem AGG ist nur eine Ent-
unterschiedlichen Arten der Diskriminierung schädigung oder Schadensersatz vorgesehen.
betroffen. Frustrierend ist zudem, wenn die Betroffenen
aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten von
Was könnt ihr dagegen tun? einer an sich aussichtsreichen Klage absehen.
REMZI: In konkreten Fällen der Diskriminie- Die Betroffenen müssen darüber hinaus
rung lässt sich politisch leider wenig machen. individuell klagen und ihre Rechte allein
Die Betroffenen müssen selbst rechtliche durchsetzen. Die Möglichkeit von Sammel-
Schritte unternehmen, die wir jedoch un- und Verbandsklagen sieht das AGG nicht vor.

70      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Wer ist besonders von Ausschlüssen ­betroffen?
BEA FÜNFROCKEN arbeitet bei Xenion, einem Ver-
REMZI: Insbesondere große Familien oder
ein, der psychosoziale Unterstützung für politisch
Haushalte über fünf Personen haben prak- Verfolgte anbietet. Als Koordinatorin der AG
tisch keine Chance, eine Wohnung zu finden. Wohnen berät sie Geflüchtete bei der Wohnungs-
Das liegt an der sogenannten Eine-Person-ein- suche und vertritt deren Interessen gegenüber
Vermieter*innen und Ämtern.
Wohnraum-Regelung. Diese besagt, dass Woh-
nungen mindestens so viele Zimmer haben REMZI UYGUNER arbeitet bei der Fachstelle gegen
sollen wie die Anzahl der zusammenlebenden Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt und ist
ehrenamtlich Vorstandsmitglied des Türkischen
Personen. Im bezahlbaren und öffentlich
Bundes in Berlin-Brandenburg (TBB).
geförderten Sektor gibt es aber einfach kaum
Wohnungen mit fünf und mehr Zimmern.
BEA: Bei Xenion arbeiten wir mit Familien, In Gesprächen beim Runden Tisch »Alter-
die seit neun Jahren im Heim leben – obwohl nativen zur öffentlichen Unterbringung
sich ihr Aufenthaltsstatus geändert hat. Die Geflüchteter«, einer von den Senatsverwal-
Kinder kennen nur Flucht- und Heimunter- tungen für Integration, Arbeit und Soziales
bringung, sie haben noch nie in einer eigenen sowie für Stadtentwicklung und Wohnen
Wohnung gewohnt. Wir brauchen eine ganz einberufenen Runde, wurde zudem deutlich:
gezielte Förderung für große Familien, die Private Vermieter*innen haben oft Angst vor
ihnen Zugang zu bezahlbaren Wohnungen Mietausfall. Sie erhalten ja keine Bürgschaft
ermöglicht. Kürzlich haben wir im Wedding wie im geschützten Marktsegment, sondern
ein halbes Jahr gebraucht, bis wir endlich für tragen das Risiko selbst. Hier müsste der Senat
eine Familie zwei Wohnungen zusammenle- eine Bürgschaft übernehmen, denn es gibt
gen konnten. durchaus engagierte private Haus­verwaltungen,
die auch an Geflüchtete vermieten würden. Es
Wie sieht es mit privaten Vermieter*innen aus? reicht nicht, hier nur die kommunalen Woh-
REMZI: Hier gibt es die gleiche Praxis. An eine nungsbaugesellschaften im Blick zu haben, die
Familie mit sechs Personen wird nur eine privaten machen schließlich einen großen Teil
Sechszimmerwohnung vergeben. Die gibt es des Wohnungsmarktes aus. In Brandenburg
aber nicht. Das bedeutet im Klartext, dass diese haben die Kommunen beispielsweise direkt
Familien vom Wohnungsmarkt quasi komplett Wohnungen angemietet, die sie an Geflüchtete
ausgeschlossen sind. weitervermieten.
BEA: Hier müsste die Bauförderung verändert
werden. Momentan ist die Förderung für Das wären konkrete politische Maßnahmen,
Bauunternehmen an die Anzahl der bereit- die den Zugang von Geflüchteten zu Wohn-
gestellten Wohnungen geknüpft, nicht an die raum verbessern würden. Gäbe es weitere?
Anzahl der Personen, die darin leben können. BEA: Eine unserer wichtigsten Forderungen ist
Daher gibt es im sozialen Wohnungsbau sehr ein Wohnberechtigungsschein (WBS) für alle.
viele Ein- und Zweizimmerwohnungen. Der WBS berechtigt ja Menschen mit geringen

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     71


Einkommen, in eine mit öffentlichen Mitteln ändern, hätte das sicherlich auch Ausstrah-
geförderte und damit günstigere Wohnung zu lung auf den privaten Wohnungsmarkt.
ziehen (vgl. Holm in diesem Heft). Obwohl Auch die privaten Vermieter*innen möchten
Geflüchtete zu diesem Personenkreis gehören, unbedingt eine lange Aufenthaltsdauer
schließt die Senatspolitik aktuell Menschen nachgewiesen haben. Wobei ich sagen muss,
im laufenden Asylverfahren vom Anspruch ein Mieterwechsel gehört halt zum Job eines
auf einen WBS und damit vom Zugang zu Eigentümers oder einer Hausverwaltung. Das
Sozialwohnungen aus. Das Gleiche gilt für kann auch unabhängig von der Aufenthalts-
Menschen, deren Aufenthaltsbewilligung dauer passieren.
weniger als elf Monate umfasst.
Ein Asylverfahren dauert ja oft mehrere Woran liegt es, dass sich die Forderung nach
Jahre. Solange müssen die Menschen in den einem WBS für Geflüchtete derzeit politisch
meisten Fällen in Gemeinschaftsunterkünften nicht durchsetzen lässt?
bleiben. Außerdem kann es zu Fehlern bei BEA: Der Staatssekretär für Wohnen, Sebastian
den Einträgen in die Ausweispapiere kommen. Scheel, argumentiert beispielsweise, dass
Ich hatte in der Beratung eine Familie mit aktuell schon 30 000 Sozialwohnungen in
einem behinderten Kind. Die Mutter hatte Berlin fehlen. Da könne man den sozialen
eine zweijährige Aufenthaltsgenehmigung, der Wohnraum nicht für eine weitere anspruchs-
Mann allerdings nur eine einjährige, weil sein berechtigte Gruppe, nämlich Geflüchtete im
Ausweis verloren gegangen war und die Aus- Asylverfahren, öffnen. Das gäbe schlechte
länderbehörde dann statt zwei Jahren nur noch Stimmung. Die Tatsache, dass es einen deut-
ein Jahr in den neuen Ausweis geschrieben lichen Mangel an Sozialwohnungen gibt, darf
hat. Deshalb wurde der WBS abgelehnt. Die jedoch kein Argument dafür sein, eine bedürf-
Sachbearbeiter*innen ziehen sich immer auf tige Gruppe vom Anspruch auszuschließen.
das Argument zurück: »Es muss ein Aufenthalt Einen offensichtlichen Mangel fair zu verwal-
von mindestens elf Monaten gegeben sein.« ten stellt eine große soziale ­Verantwortung
Dabei genießt die Familie in Deutschland seit dar. Transparente Vergabe­kriterien sind hier
fünf Jahren subsidiären Schutz. Es gibt viele zentral, um zu verhindern, dass Betroffene
ähnliche Geschichten. Widersprüche reichen sich gegeneinander ausgespielt fühlen.
hier teils bis zur Sozialstadträtin – ohne Erfolg, Der Flüchtlingsrat Berlin hat hier
egal in welchem Bezirk. Daher fordern wir, Praxisbeispiele aus anderen Bundesländern
dass Geflüchtete unabhängig vom Aufenthalts- vorgestellt, die Geflüchteten weit mehr
status einen WBS erhalten. Damit könnten Möglichkeiten geben. Zum Teil werden Woh-
sie in integrierte Wohnprojekte in der Mitte nungen dann vergeben, wenn eine positive
der Gesellschaft einziehen und müssten nicht Bleibeperspektive besteht. Wenn etwa eine
weiter in separierten Einrichtungen wohnen. Arbeitserlaubnis vonseiten der Ausländerbe-
REMZI: Würden die kommunalen Wohnungs- hörde erteilt wird, dann reicht dies, damit die/
baugesellschaften hier ihre Vergabepraxis der zuständige Sachbearbeiter*in dem Umzug

72      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


in eine eigene Wohnung zustimmen kann. aufbringen können. Wir suchen deshalb das © Oliver
Feldhaus
Das ist eine ganz praktikable Sache. Gespräch mit Genossenschaftsmitgliedern,
REMZI: Ich finde auch: Transparenz ist sehr um dafür zu werben, auch Neuberliner*innen
wichtig. Wir müssen gerade in Gesprächen in diese Projekte einzubinden. Mit Unterstüt-
mit den unterschiedlichen Bedarfsgruppen zung der Genossenschaft Ostseeplatz konnten
betonen, dass sie im selben Boot sitzen und beispielweise 23 geflüchtete Menschen in ein
sich nicht gegeneinander ausspielen lassen Gemeinschaftsprojekt, einen Neubau nach
dürfen. Und: Wir müssen allen passgenaue neuestem Standard, in der Lynarstraße im
Angebote machen. Wedding einziehen. Sie waren auch an dem
zweijährigen Planungsprozess beteiligt. Au-
Gibt es weitere Handlungsfelder, um für ßerdem wäre es wichtig, die Genossenschaft-
Geflüchtete bessere Bedingungen auf dem sidee und -struktur auch unter Geflüchteten
Wohnungsmarkt zu schaffen? publik zu machen. Städtischer Wohnungsbau,
BEA: Mein Schwerpunkt sind gerade Genos- so wie er derzeit organisiert ist, ist langfristig
senschaften. Wir versuchen, zusammen keine Lösung. Wir brauchen wieder einen
mit Stiftungen einen Unterstützungsfond rechtlich abgesicherten und kontrollierten
zu schaffen, um Geflüchtete auch in neue gemeinnützigen Wohnungsbau (vgl. Kuhn in
Genossenschaftsprojekte und frei finanzierte diesem Heft).
Neubauprojekte integrieren zu können. Der
Zugang ist leider an hohe finanzielle Ein- Das Gespräch führten Jan Drunkenmölle
lagen gebunden, die diese Menschen nicht und Julia Schnegg.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     73


WOHNEN, WOHNEN,
WOHNEN
WARUM ES EINE REBELLISCHE, LINKE, SOLIDARISCHE
STADTPOLITIK BRAUCHT

STEFAN THIMMEL Wem gehört die Stadt? Wem gehört Ham-


burg? Wem gehört Berlin? Wem gehört
Leipzig? Wem gehört Konstanz? Nachdem
Anfang der 2000er Jahre viel über schrump-
fende Städte, Leerstandsprobleme, Rückbau
und ökologische Fragen diskutiert wurde,
sind seit einigen Jahren steigende Mieten,
Wohnungsmangel, Verdrängung und Obdach-
losigkeit zum drängenden Problem geworden.
Anfang April 2019 haben allein in Berlin
35 000 Menschen gegen den Mietenwahnsinn
protestiert. Die Initiative »Deutsche Wohnen
und Co. enteignen« nutzte die spektakuläre
Demo als Auftakt für ihr Volksbegehren zur
Vergesellschaftung der Berliner Bestände
großer Immobilienkonzerne. Denn es geht
nicht nur um bezahlbare Wohnungen, um
Wohnungsneubau im Allgemeinen und
sozialen Wohnungsbau im Besonderen. Es ist
die Eigentumsfrage, die gegenwärtig auf der
Agenda steht.
Kein Wunder, denn die Probleme sind
gravierend. Alarmierend sind die absoluten

74      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Zahlen, aber auch der Trend: Innerhalb von Mit rund 310 000 fehlenden Wohnungen in
nur einem Jahr stiegen die anteiligen Wohn- diesem Segment steht Berlin an der Spitze
kosten in Berlin von 40 auf 46 Prozent, das (Holm et al. 2018). Es werden viel zu wenige
heißt, durchschnittlich wird fast die Hälfte Sozialwohnungen gebaut, aktuell nur 26 000
des verfügbaren Einkommens für Wohnkos- im Jahr, es müssten über 80 000 sein. Aber
ten ausgegeben. Dabei ist für Expert*innen nicht nur die Menge stellt ein Problem dar –
unumstritten, dass die Bruttokaltmiete nicht es fehlt ein schlüssiges Konzept (vgl. Prognos
mehr als 30 Prozent des Nettoeinkommens AG 2019 und Kuhn in diesem Heft).
betragen sollte. In größeren Städten sind die Gleichzeitig fallen jährlich Zehntausende
Mieten besonders hoch. 2018 mussten bei Sozialwohnungen aus der Mietpreisbindung
Neuvermietungen im Mittel 11,57 Euro/m2 und werden auf dem sogenannten freien
gezahlt werden. Aber das Wachstum der Markt angeboten, nicht selten als Eigentums-
Neuvertragsmieten fiel seit 2010 in keiner der wohnungen, ob mit oder ohne Sanierung (vgl.
Städte so hoch aus wie in Berlin. Die Neuver- Holm in diesem Heft). Infolge sind innerhalb
tragsmieten stiegen bis Ende 2018 nominell
um 73 Prozent. Es gibt kaum mehr zu vermie-
tende Wohnungen, die Leerstandsquote in den STEFAN THIMMEL ist Referent für Wohnungs- und
großen Städten beträgt 3,6 Prozent. Stadtpolitik im Institut für Gesellschaftsanalyse der
Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Dass dieses Problem nicht allein durch
massenhaften Neubau gelöst werden kann,
dämmert mittlerweile auch denjenigen, die
noch zu Beginn des Jahres 2019 darin das von nur sechs Jahren die durchschnittlichen
Allheilmittel sahen. »Wenn man die Mieten Quadratmeterpreise für Bauland in den sieben
im Griff haben will, muss man bauen, bauen, größten Städten Deutschlands von 600 auf
bauen – ob es Frau Lompscher gefällt oder 1 120 Euro gestiegen. Selbst in mittelgroßen
nicht.« So der Fraktionschef der SPD im Städten gingen die Preise nach oben, von 240
Berliner Abgeordnetenhaus, Raed Saleh, in auf 500 Euro. Eine besondere Zahl kursiert
der Fraktionsklausur vom Januar 2019. Der inzwischen in Bezug auf München: Dort
Markt reguliert das Problem aber nicht. Die haben sich die Baulandpreise seit 1950 um
Preise sinken nicht, obwohl das Angebot 39 000 Prozent verteuert (Fabricius 2019). In
wieder leicht ansteigt. Worauf kritische Berlin sind die Preise für bebaute Grundstü-
Stadtforscher*innen schon seit Jahren cke zwischen 2008 und 2017 von 1 700 Euro
hinweisen: Die meisten der neu gebauten auf fast 4 500 Euro/m2 gestiegen (vgl. Heinz/
Wohnungen sind für Normalverdienende Belina 2019 und Heinz in diesem Heft).
und erst recht für Geringverdienende nicht In den 2000ern hieß es, »Deutschland
bezahlbar. 1,9 Millionen Wohnungen, die ist gebaut«. Das hat nie gestimmt und stimmt
für Menschen mit niedrigem Einkommen heute weniger denn je. Es wird ausgegrenzt
erschwinglich sind, fehlen in Deutschland. und verdrängt, nicht mehr an den sprich-

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     75


Beide Bilder:
© Oliver Feld­haus

wörtlichen Stadtrand, denn auch dort gibt relle Events, gründen Informations­portale,
es keinen signifikanten Leerstand mehr und recherchieren Besitzverhältnisse und setzen
kaum noch bezahlbare Wohnungen, sondern kommunale Politik und Landesregierungen
ins Umland, in prekäre Wohnverhältnisse, unter Druck. Zumindest in den Großstädten
Verschuldung und Wohnungslosigkeit. »Es ist das NIMBY-Phänomen (Not in my backyard
gibt kein Grundrecht auf Wohnen in der – Nicht in meinem Hinterhof) heute weniger
Stadtmitte!«, so ein Kommentar im Berliner präsent als die rebellische, linke und solida-
Tagesspiegel vom 4. Februar 2013. rische Aktion. In allen größeren Städten gibt
es lokale Mieterinitiativen, in Berlin beispiels-
NICHT UNWIDERSPROCHEN weise Bizim Kiez,1 Kotti & Co, Stadt von unten
Aber es tut sich etwas. Vor allem in den oder das Bündnis Zwangsräumung stoppen,
Städten, dort, wo auch die Probleme wohnen. um nur einige zu nennen. Sie alle setzen sich
Der Verdrängung, der neben den unteren jetzt gegen die aktuelle Wohnungspolitik zur Wehr,
auch mittlere Einkommensgruppen ausgesetzt entwickeln Alternativen und machen mit
sind, widersetzen sich die Betroffenen zuneh- eindrucksvollen Aktionen auf Immobilienspe-
mend. Die Menschen wollen bleiben. In den kulation, Verdrängung und Luxussanierungen
Innenstädten, in den Außenbezirken, in ihren aufmerksam. Sie erzählen auch die Geschich-
Kiezen und in ihren Vierteln. Sie verweigern ten der betroffenen Menschen.
sich Räumungsbeschlüssen, schließen sich Ende Februar 2019 kamen mehrere
als Hausgemeinschaften zusammen, führen Hundert Menschen aus diesen Initiativen,
erfolgreiche und manchmal auch erfolglose der Berliner Landesregierung, der Linkspartei
Kämpfe, organisieren politische und kultu- sowie kritische Wissenschaftler*innen bei

76      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


»RLS-Cities: Rebellisch.Links.Solidarisch«, der werden), ihre Mieten seit einer 2017 geschlos-
wohnungspolitischen Konferenz der Rosa- senen Kooperationsvereinbarung nur noch um
Luxemburg-Stiftung, in Berlin zusammen. Sie maximal zwei Prozent jährlich erhöhen. Bei
diskutierten gemeinsam über eine progressive privaten Vermietern greift eine Kappungsgren-
Stadtpolitik und eine Art Halbzeitbilanz nach ze von maximal 15 Prozent in drei Jahren. Dazu
zwei Jahren Mitte-links-Regierung. sorgen inzwischen 57 Milieuschutzgebiete
Die Veränderungen gehen langsam. Aber dafür, dass preistreibende Luxussanierungen
nach gut zwei Jahren rot-rot-grüner Wohnungs- in 460 000 Wohnungen schwieriger geworden
politik kommt in Berlin durchaus etwas in Be- sind. Durch das kommunale Vorkaufsrecht
wegung: Der im Mai 2019 veröffentlichte neue oder Abwendungsvereinbarungen wurden
Mietspiegel weist erstmals seit Langem einen 2018 Mieter*innen in 3 050 Wohnungen vor
gebremsten Mietenanstieg aus. Die Mieten in Verdrängung geschützt.
der Stadt stiegen mit 2,5 Prozent nur noch halb Für einen radikalen Umbau der Städte
so schnell wie bei der letzten Erhebung von vor reicht das noch lange nicht. Die verschärfte
zwei Jahren, als es noch 4,8 Prozent jährlich Lage hat aber den Diskurs nach links verscho-
waren. Auch einzelne Maßnahmen der linken ben. Dies spiegelt sich auch im Beschluss des
Wohnungs- und Stadtpolitik wirken mittler- Berliner Landesverbands der LINKEN vom
weile: So dürfen die öffentlichen Wohnungs- 11. Mai 2019. Der Leitantrag »Rebellische
baugesellschaften, die aktuell in Berlin einen Stadtpolitik: in Berlin und in einem europäi-
Bestand von 300 000 Wohnungen verwalten schen Netzwerk der Metropolen« wurde mit
(weitere 100 000 Wohnungen sollen in den großer Mehrheit angenommen. Die Kern-
nächsten sechs Jahren gebaut und erworben forderungen von stadtpolitischen Initiativen

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019     77


und Mietervereinen zum Beispiel zur Boden- DIE ENTEIGNUNGSDEBATTE MACHT MUT –
politik, zu einem Mietendeckel oder zu einer AUCH INTERNATIONAL
Vergesellschaftung sind darin aufgenommen.2 Schon 2013 forderte David Harvey, der
britisch-US-amerikanische Sozialtheoretiker
ZENTRAL: DIE STÄDTISCHE EBENE und Stadtforscher, in seinem Buch »Rebelli-
Dass sich etwas bewegt, liegt auch daran, dass sche Städte« eine urbane Revolution gegen
sich immer mehr Menschen lokal organi- die »Akkumulation durch Enteignung«. In
sieren und sich wehren. Diese klassen- und Berlin soll jetzt »zurückenteignet« werden.
barrierenüberwindende politische Praxis Es herrscht große Aufregung. Die Zustim-
nimmt zu und schafft Verbindlichkeiten, mungswerte schwanken hin und her, mal ist
wirkliche Vernetzung und neue Bündnisse. eine Mehrheit der Berliner und Berlinerinnen
Die soziale Dynamik und das plurale Mitei­ dafür, mal dagegen. Aber vor allem durch die
nander, das sich in Häusern und Kiezen bildet Medienpräsenz und -resonanz der Kampagne
und konsolidiert, deren Bewohner*innen »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« ist
unterschiedslos alle den sprichwörtlichen Berlin stadtpolitisch auch international zu
Brief erhalten haben, in dem der Eigentümer- einer Referenz geworden. Initiativen in Barce-
wechsel angekündigt wird, sind ein neues lona, London und New York sprechen in den
Phänomen. Hier vor Ort, auf dieser lokalen höchsten Tönen über die aktuelle Entwicklung
Ebene entsteht auch Druck auf die Verwaltun- in Berlin und betonen deren Bedeutung für
gen. Wie gut oder schlecht die Zusammen- ihre eigenen lokalen Kämpfe. Und Leilani
arbeit von Initiativen, Hausgemeinschaften Farha, Rechtsanwältin aus Toronto und gegen-
und Bündnissen mit den verschiedenen wärtig Sonderberichterstatterin der Vereinten
Verwaltungsebenen funktioniert, ist ein Nationen für angemessenes Wohnen, zeigte
Schlüsselmoment für eine erfolgreiche sich Anfang Mai 2019 bei einem Berlin-
rebellische Stadtpolitik. Es entwickelt sich ein Besuch auf Einladung der Rosa-Luxemburg-
verändertes Verhältnis von Bewegungen und Stiftung begeistert.
Initiativen, linken Parteien und Regierungen. Dabei sind Enteignungen alltägliche
Die kommunale, die städtische Ebene hat Praxis, sie stehen im Grundgesetz, sind Teil
international enorm an Bedeutung gewonnen, der öffentlichen Daseinsvorsorge. Praktiziert
sowohl was den administrativen Spielraum als werden sie bis dato aber nur im Straßenbau
auch was die Mobilisierungsfähigkeit betrifft. und im Tagebau, nicht aber beim Wohnen. Im
Vor wenigen Jahren wurde hinsichtlich der Mai 2019 liefen 200 Enteignungsverfahren
kontroversen mieten- und wohnungspoliti- bundesweit, 102 davon, um Boden für Auto-
schen Themen noch oft achselzuckend und bahntrassen und 98, um Platz für Bundesstra-
scheinbar ohnmächtig auf die bundespoliti- ßen zu schaffen. Dass Wohnen kein Luxusgut
sche Ebene verwiesen. Inzwischen entsteht sein darf, ist inzwischen in aller Munde. Woh-
auf der lokalen und kommunalpolitischen nen darf aber auch kein Spekulationsgut und
Ebene tatsächlich soziale Gegenmacht. damit auch keine Ware sein. Sechs Jahre nach

78      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


dem Erscheinen von David Harveys Buch entierten Wohnungsbaus und von Sozialwoh-
liegt jetzt auch in Deutschland ein Hauch nungen, Diskriminierungsverbote, Boden-
von Rebellion in der städtischen Luft. Die fonds und Community Land Trusts. Vieles
Situation wird von den finanzmarktorientier- liegt auf Schreib- und Zeichentischen, noch
ten Wohnungsunternehmen durchaus ernst mehr in Schubladen. Weiteres kann erfunden
genommen, zu denen nicht nur die berühmt- werden. Und dann kommen Städte wie Berlin
berüchtigte Deutsche Wohnen, Vonovia oder einer rebellischen, linken und solidarischen
Blackstone gehören, sondern beispielsweise Stadtpolitik näher, sodass es irgendwann
auch die dänische Pensionskasse PFA.3 Mi- tatsächlich authentisch heißen kann: Und die
chael Voigtländer, Immobilienökonom beim Stadt gehört Euch.
Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) Köln,
bezeichnet die Debatte um Enteignungen
großer Immobilienunternehmen als »Tabu-
bruch«. Es sei »erschreckend, dass die Politik LITERATUR
Fabricius, Michael, 2019: Bau-Dilemma belastet deutsche
sie nicht viel entschiedener zurückweist«, so Mieter, in: Die Welt, 10.5.2019
Voigtländer im Handelsblatt (Kersting 2019). Heinz, Werner/Belina, Bernd 2019: Die kommunale Boden-
frage. Hintergrund und Lösungsstrategien, hrsg. von
Nimmt man die eigenen Beschlüsse der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Reihe Studien, Berlin,
ernst, gehört zu einer rebellischen Stadt- www.rosalux.de/publikation/id/40013/die-kommunale-
bodenfrage/
politik auch das Bekenntnis: Ja, wir wollen Holm, Andrej et al., 2018: Wie viele und welche Wohnungen
Investoren abschrecken! 2017 gab es mit 240 fehlen in deutschen Großstädten? Die soziale Versor-
gungslücke nach Einkommen und Wohnungsgröße,
Milliarden Euro einen neuen Umsatzrekord Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf, www.boeckler.de/
pdf/p_fofoe_WP_063_2018.pdf
am Immobilienmarkt, der wiederum die Im-
Kersting, Silke, 2019: »Die Enteignungsdebatte ist ein echter
mobilien- und Bodenpreise extrem anheizt. Tabubruch« – IW-Ökonom zum Volksbegehren in Ber-
lin, in: Handelsblatt, 5.4 2019
Neubauprojekte mit Eigentumswohnungen Prognos AG, 2019: Wer baut Deutschland? Inventur zum
zu 5 000 Euro pro Quadratmeter sind keine Bauen und Wohnen 2019. Studie zum Wohnungsbau-
Tag 2019, www.prognos.com/publikationen/alle-publi-
Seltenheit, aktuell hält in Berlin ein Objekt kationen/908/show/127c478196ff919b2e8772ae365b
mit 7 500 Euro pro Quadratmeter an der East ba56/
Side Gallery den Rekord. Solche Investitionen
braucht kein Mensch. Dafür aber umso 1 Bizim Kiez ist eine seit 2015 bestehende offene Initiative
mit Plattformcharakter und projektbezogenen Arbeitsgrup-
mehr eine Politik, die das Recht auf Wohnen pen. Bizim heißt »unser« auf Türkisch. Bizim Kiez wurde
umsetzt. Die Instrumente dafür liegen im gegründet von solidarischen Nachbar*innen aus Protest
gegen die Kündigung des familiengeführten Obst- und
Prinzip bereit. Sie heißen: Mietendeckel Gemüseladens Bizim Bakkal im Kreuzberger Wrangelkiez.
2 Vgl. https://dielinke.berlin/partei/parteitag/beschluesse/
und Mietpreisbremse, Vorkaufsrecht und
det/news/rebellische-stadtpolitik-in-berlin-und-in-einem-
Milieuschutzsatzungen, Spekulations- und europaeischen-netzwerk-der-metropolen/.
3 Wer in Berlin welche Wohnungsbestände besitzt, findet
Zweckentfremdungsverbot, Transparenzre-
sich in der im Mai 2019 erschienenen Studie »Profit-
gister und Verbot von Share-Deals, Verbot maximierer oder verantwortungsvolle Vermieter? Große
Immobilienunternehmen mit mehr als 3 000 Wohnungen
von Zwangsräumungen, staatlich regulierte in Berlin im Profil« von Christoph Trautvetter und Sophie
Neubauten, Förderung des gemeinwohlori- Bonczyk, Hg. von der Rosa-Luxemburg-Stiftung.

BAUSTELLEN UND HEBEL | LUXEMBURG 2/2019      79


DÄMMUNG
OHNE VERDRÄNGUNG
WARUM KLIMASCHUTZ UND SOZIALE WOHNUNGSPOLITIK
ZUSAMMENGEHÖREN

GRETA PALLAVER Für den Klimaschutz ist Gebäudesanierung


ein wichtiges Instrument. Sie ist absolut
notwendig, um die Ziele des Pariser Abkom-
mens und die deutschen Klimaschutzziele
zu erreichen. Der Gebäudebereich ist für ein
Drittel der energiebedingten CO2-Emissionen
sowie für rund 35 Prozent des Endenergiever-
brauchs verantwortlich, von denen 28 Prozent
auf Raumwärme entfallen (DUH 2014). Da
zwei Drittel des Gebäudebestands private
Wohnhäuser sind, ergibt sich hier besonderer
Handlungsbedarf. Laut Klimaschutzplan der
Bundesrepublik müsste der Gebäudebestand
bis 2050 nahezu emissionsfrei werden. Der
Primärenergiebedarf der Gebäude müsste
dafür um 80 Prozent gesenkt werden.
Die Art, in der die Gebäudesanierung
heute umgesetzt wird, hat aber in vielen
Fällen unsoziale Folgen. Die Vermieter*innen
dürfen die Kosten für Modernisierungen,
zu denen auch energetische Sanierungen
gehören, auf die Miete umlegen. Auf diese
Weise können die Maßnahmen als Instrument

80      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


der Mietsteigerung missbraucht werden. Die durchaus. Zu den unterschiedlichen Wär-
hohen Kosten für die Mieter*innen führen zu metechnologien gehören etwa Solarthermie,
Verdrängung und verschärfen den Mangel an Wärmepumpen, Geothermie, Power-to-Heat
bezahlbarem Wohnraum. Zudem bietet dieses oder Biomasse. Ihr Einsatz ist vom Standort
Modell den Eigentümer*innen wenig Anreize, und Zustand der Gebäude abhängig.
hochwertige und energieeffektive Maß- Die Nutzung von Wärme aus regenera-
nahmen zu ergreifen: Ob die Maßnahmen tiven Energieträgern setzt aber technische
tatsächlich Energie einsparen oder nicht, spielt Umstellungen und somit Baumaßnahmen
für die Mieterhöhung keine Rolle und muss voraus. So benötigen etwa Heizsysteme, die
auch nicht im Nachhinein überprüft werden. erneuerbare Wärme nutzen, ein niedrigeres
Dass energetische Sanierung als Mittel Temperaturniveau als solche, die fossile
zur Profitsteigerung missbraucht wird, ist Brennstoffe verwenden. Darum muss bei
also nicht nur sozial ungerecht, sondern auch einer Umstellung baulich in die Gebäudehülle
destruktiv für den Klimaschutz. Nicht zuletzt eingegriffen werden. Eine angemessene Ge-
deshalb, weil es in den Augen vieler Betrof- bäudeeffizienz ist notwendig, um die Palette
fener das wichtige Anliegen der Gebäude­
sanierung diskreditiert und ökologische und GRETA PALLAVER ist Politikwissenschaftlerin und
soziale Frage in einen Gegensatz bringt. Dies Geografin und beim Berliner Energietisch aktiv.
ist fatal – denn klimagerechtes Wohnen ist ein
zentrales Element einer solidarischen Stadt,
gerade angesichts der Energiearmut vieler an verschiedenen, insbesondere dezentralen
einkommensschwacher Haushalte. Damit ist Technologieoptionen für erneuerbare Wärme
die Gebäudesanierung ein Feld, wo exempla- einsetzen zu können (vgl. ifeu et al. 2018). Die
risch Ansätze entwickelt werden können, die Energiewende ist folglich ohne Änderungen
zeigen, dass Klimaschutz und soziale Gerech- im Gebäude- und Wohnungsbereich kaum
tigkeit zusammengehören. denkbar. Es müssen jedoch sozialräumliche
Folgen und Dimensionen sozialer Ungleich-
WARUM ENERGETISCH SANIERT WERDEN MUSS heit mitgedacht werden. Die Energiewende
Dass Gebäude dringend energetisch saniert kann und muss auch mit der Bekämpfung
werden müssen, gilt nicht nur aufgrund der von Energiearmut einhergehen.
hohen Einsparpotenziale. Alle anderen Elemen-
te der Energiewende sind eng damit verbun- GEBÄUDESANIERUNG UND ENERGIEARMUT
den, allen voran der Ausstieg aus der Kohle, Energiearmut betrifft Haushalte, die einen
perspektivisch aber auch der Ausstieg aus dem zu hohen Anteil ihres Einkommens für den
Gas. Das betrifft vor allem die Umstellung der Bezug von Energie (Wärme, Warmwasser
Wärmeversorgung von fossilen auf regenerative und Licht) ausgeben müssen. Energiearmut
Energieträger. Erneuerbare Alternativen zu kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen
Heizöl und Gas für den Wärmebereich gibt es und Krankheiten führen, vor allem in den

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     81


Wintermonaten, wenn die Wohnung nicht die Frage, wer für die Kosten der Maßnahmen
ausreichend beheizt wird. Die Heizkosten verantwortlich ist und wer davon profitiert:
werden oft »zweite Miete« genannt, denn die Vermieter*innen, denen die Wohnung
allein für ­Raumwärme müssen private gehört, oder die Mieter*innen, die darin leben?
Haushalte ­ungefähr eine 13. Monatsmiete Aktuelle gesetzliche Grundlage ist Paragraf
zahlen (vgl. Michelsen/Ritter 2017). Je nach 559­­des Bürgerlichen Gesetzbuches, wonach
Berechnungen sind in Deutschland zwischen Vermieter*innen bzw. Eigentümer*innen bis
7,7 und 25,1 Prozent der Haushalte von zu 8 Prozent (bis Dezember 2018 waren es bis
Energiearmut betroffen. Dabei handelt es sich zu 11 Prozent) der anfallenden Kosten bei Mo-
fast ausschließlich um Menschen, die zur dernisierungen auf die Miete umlegen dürfen.
Miete wohnen (BPIE/RAP 2018). Die man- Sanierungsmaßnahmen zählen zu solchen
gelnde Energieeffizienz von Gebäuden zieht (energetischen) Modernisierungen.
steigende Energieausgaben nach sich und Die Umlagefähigkeit wurde in den 1970er
ist eine wichtige Ursache von Energiearmut. Jahren eingeführt, als die Zinsen viel höher
Ein sanierter Gebäudebestand schützt vor waren. Heute sind die Zinsen sehr niedrig,
steigenden Energiepreisen. Aktuell sind die die Umlage ist jedoch weiterhin sehr hoch.
Erdgaspreise (und 50 Prozent der Haushalte Das Modell der Modernisierungsumlage
heizen mit Gas) eher niedrig, doch sie sind wird durch die Annahme gerechtfertigt, dass
Schwankungen ausgesetzt (Stede et al. 2018). Sanierungen dank der sogenannten Warmmie-
Die energetische Gebäudesanierung ist tenneutralität zu keiner zusätzlichen Belastung
also nicht nur ein wichtiger Pfeiler für die von Mieter*innen führen. Durch die einge-
Wende in der Klimaschutz- und Energiepo- sparte Energie, so das Versprechen, würden
litik. Sie reduziert zusätzlich die Energieaus- in der Zukunft geringere Nebenkosten (Heiz-
gaben und die Risiken von Energiearmut für und Warmwasserkosten) anfallen, was die
Mieter*innen und sorgt für einen höheren Mieterhöhung ausgleichen würde. Schlussend-
Wohnkomfort. Zumindest in der Theorie. In lich, so das Argument, würden Mieter*innen
der Umsetzung zeigen sich allerdings große von höherem Wohnkomfort und geringeren
Diskrepanzen zu diesem Anspruch. Heizkosten profitieren und Vermieter*innen
würden zum Sanieren motiviert.
MOTOR DER VERDRÄNGUNG? Die Rechnung der Warmmietenneu­tralität
Dass die Gebäudesanierung in ihrer jetzigen geht in den meisten Fällen allerdings nicht auf,
Form weder sozial noch klimagerecht ist, liegt vor allem dann nicht, wenn die Umlagemög-
an den wirtschaftlichen und wohnungspoliti- lichkeit voll ausgeschöpft wird (Wissenschaftli-
schen Rahmenbedingungen und der Art ihrer che Dienste 2018). In vielen Fällen stehen die
Ausführung. Das zeigt sich bei der Verteilung Mieterhöhungen in keinem Verhältnis zu den
der Kosten, die oft unter dem Schlagwort »Ver- eingesparten Nebenkosten (Berliner Mieter-
mieter-Mieter-Dilemma« oder »Investor-Nut- verein e. V. 2017). Denn die Kosten können
zer-Dilemma« diskutiert wird. Zentral ist dabei unabhängig von den erwarteten oder tatsäch-

82      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


lichen Energieein-
sparungen umgelegt
werden. Das bedeu-
tet, dass selbst bei
schlecht gemachten
Maßnahmen, die
kaum Energieein-
sparungen bringen,
die volle Umlage
bezahlt werden
muss.
Durch diese
mietrechtlichen
Rahmenbedin-
gungen werden
keine Anreize für
sinnvolle und gut ausgeführte Maßnahmen was zu einer weiteren Reduktion des ohnehin © Oliver
Feldhaus
geschaffen. Stattdessen werden aus Gründen knappen preiswerten Wohnungsbestands
der Wirtschaftlichkeit gern die teuersten Mittel führt.
ergriffen. Für die Mieterhöhung spielen die Diese rein profitorientierte Form von energe-
tatsächlichen Einspareffekte von Modernisie- tischer Sanierung ist aber nicht nur unsozial,
rungsmaßnahmen keine Rolle – eine Kontrol- sondern auch problematisch für den Klima-
le der Durchführung oder eine Beurteilung schutz. Selbst höhere Sanierungsraten sagen
der Maßnahmen nach Fertigstellung ist noch nichts über die Qualität der Sanierung
gesetzlich nicht vorgeschrieben. Außerdem aus, wenn diese nicht geprüft wird. Es
bleibt die Mieterhöhung auch dann beste- herrscht ein enormer Mangel an empirischen
hen, wenn die Baukosten längst amortisiert Daten und Auswertungen zur Anzahl und
wurden. Qualität von Gebäudesanierungen.
Die Mietererhöhungen verschärfen Die Liste der Probleme ließe sich weiter
besonders in städtischen Ballungsräumen fortsetzen: Vermieter*innen versäumen
mit angespannten Wohnraumsituationen die jahrelang die Instandsetzungen der Gebäude
Wohnungsnot. Viele Menschen können sich (die sie selbst bezahlen müssten), um dann
weitere Mietsteigerungen nicht leisten und aufwendig zu modernisieren und alle Kosten
sind gezwungen auszuziehen. Die Wohnun- auf die Miete umzulegen, und sie nehmen
gen werden dann teurer neuvermietet. Ein Luxussanierungen vor, die mit Klimaschutz
von vielen Vermieter*innen gewünschter nichts zu tun haben. Zusätzlich fehlt es an
Effekt. Auf diese Weise erhöhen sich zudem Fachkräften zur qualitativen Ausführung von
die Durchschnittsmieten und der Mietspiegel, Sanierungen. Hinzukommen eine unüber-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     83


sichtliche Förderlandschaft und komplexe nahmen wie Sanierungen oder Grünflächen-
ordnungsrechtliche Anforderungen. management mit negativen sozialen Folgen
Es gibt durchaus auch Positivbeispiele: werden als »ökologische« bzw. »grüne«
gut ausgeführte energetische Sanierungen Gentrifizierung bezeichnet. Im Falle von
mit erwiesenen Energieeinsparungen und Gebäudesanierung wird von einer »energie-
Umrüstungen auf erneuerbare Wärmetechno- bedingten« oder »energetischen« Gentrifi-
logien, die Bestandsmieter*innen weiterhin zierung gesprochen: Die Mieterhöhungen
zu angemessenen Mieten wohnen lassen. nach einer Sanierung können sich tendenziell
Sie werden oft von Genossenschaften und nur einkommensstärkere Haushalte leisten.
öffentlichen Wohnungsbaugesellschaften als Selbst von der Energieeinsparung profitie-
Modellprojekte umgesetzt. Dabei wird auf die ren finanziell schwächere Haushalte am
volle Umlage auf die Miete verzichtet, zudem wenigsten: Sie haben in der ­Regel niedrigere
werden öffentliche Fördergelder eingesetzt. Energieausgaben, aber müssen insgesamt
Eine solche Form der energetischen Sanierung mehr bezahlen, als sie durch den geringeren
und Instandhaltung zu verallgemeinern und Energiebedarf einsparen. Wenn sie durch die
zu verstetigen, verlangt jedoch eine gesell- Gebäudesanierung gezwungen sind, in eine
schaftliche Umverteilung von Einkommen und billigere, unsanierte Wohnung zu ziehen,
Ressourcen. Sie ist damit Teil einer weiterrei- trägt diese direkt zum Austausch von Bevölke-
chenden sozialökologischen Transformation. rungsgruppen bei (Großmann et al. 2014).
Andrej Holm (2011) hat dieses Phäno-
EIN ÖKOSOZIALES PARADOX men ein »ökosoziales Paradox« genannt.
Dass ein klimapolitisches Instrument, Er bezieht sich auf umweltpolitische und
das die Energiearmut bekämpfen und die vorgeblich »nachhaltige« Maßnahmen, die
Energiewende stützen soll, solche negativen durch ihre Einbettung in die kapitalistische
Folgen hat, kann nur im Kontext aktueller Logik des Immobilienmarktes soziale
Phänomene wie Gentrifizierung und Ver- Ungleichheiten in der Stadt verstärken.
drängung verstanden werden. Gentrifizierung Verdrängungseffekte werden im Namen des
bezeichnet die Verdrängung einkommens- Klimaschutzes legitimiert und Kritik wird mit
schwächerer durch wohlhabendere Haushalte Verweis auf den Umweltschutz abgewiesen.
in meist innerstädtischen Stadtteilen. Sie Gesellschaftliche Verantwortung wird somit
beschreibt einen Aspekt sozialer Ungleichheit abgegeben, soziale Härten werden auf »den
im Rahmen der neoliberalen Stadtentwicklung Klimaschutz« geschoben.
und der Verwertungslogik. Aber nicht die Klimaschutzmaßnahmen
Klima- und umweltpolitische Instrumen- an und für sich verursachen die Verdrän-
te, die gewollt oder ungewollt Konsequenzen gungseffekte, sondern ihr marktwirtschaft-
für die sozialräumliche Zusammensetzung licher Rahmen und ihre Einbettung in die
von Stadtteilen haben, können als eine Form neoliberale, profitorientierte Wohnungspo-
der Gentrifizierung gedeutet werden. Maß- litik. Denn auch ohne Sanierung kommt es

84      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


zu Mietsteigerungen und Gentrifizierung positiver Nebeneffekt von wertsteigernden
(vgl. Holm 2016). Untersuchungen legen Maßnahmen gelten. Deshalb ist es notwen-
nahe, dass Sanierungen an Orten ohne dig, Klimaschutz und das Recht auf Wohnen
starken Wohnungsmangel nicht zu großen zusammenzudenken und für eine sozial und
Mieterhöhungen und Verdrängungen führen ökologisch gerechte Stadt zu kämpfen.
(Hentschel/Hopfenmüller 2014). Vor allem
LITERATUR
dort, wo Wohnraum ohnehin schon knapp Berliner Mieterverein e. V., 2017: Mieterhöhungen nach
ist, zeigen sich Verdrängungseffekte. So gibt Modernisierung und Energieeinsparung, www.berliner-
mieterverein.de/downloads/pm-1725-modernisierung-
es umgekehrt in Gebieten mit genügend bmv-kurzstudie.pdf
erschwinglichem Wohnraum auch weniger Buildings Performance Institute Europe (BPIE)/Regulatory
Assistance Project (RAP), 2018: Energetische Mindest-
Sanierungen, da die Möglichkeiten zur wirt- standards für eine sozial gerechte Wärmewende. Policy
schaftlichen Ertragssteigerung fehlen. Hier Factsheet, www.bpie.eu/wp-content/uploads/2018/09/
Fuel-Poverty-DE_05_Final.pdf
zeigt sich wieder: Es geht in vielen Fällen gar Deutsche Umwelthilfe (DUH), 2014: Energetische Gebäudesa-
nicht um den Klimaschutz. Wo der profitable nierung – Wider die falschen Mythen (Teil 2),
www.duh.de/fileadmin/user_upload/download/Projektin-
Anreiz fehlt, wird kaum saniert. formation/Energieeffizienz/Gebaeude/Mythen_Energe-
Es besteht die Gefahr, dass soziale und tischeGebäudesanierung_201014.pdf
Großmann, Katrin/Bierwirth, Anja/Bartke, Stephan/Jensen,
ökologische Argumente gegeneinander Thorben/Kabisch, Sigrun/von Malottki, Christian/Mayer,
ausgespielt werden – auf Kosten vieler und Ines/Rügamer, Johanna, 2014: Energetische Sanierung:
Sozialräumliche Strukturen von Städten berücksichtigen,
im Interesse weniger. Doch klimagerechtes in: GAIA 23/4, 309–312
Hentschel, Armin/Hopfenmüller, Julian, 2014: Energetisch
Wohnen ist wichtig und gehört genauso zu
modernisieren bei fairen Mieten? Ein Gutachten von
einer sozial gerechten Stadt wie das Recht auf Armin Hentschel und Julian Hopfenmüller, Band 37 der
Schriftenreihe Ökologie, hg. v. d. Heinrich-Böll-Stiftung,
Wohnraum für alle. Die Gebäudesanierung www.boell.de/sites/default/files/endf_energetisch_moder-
als ein notwendiger Schritt für den Kohleaus- nisieren_bei_fairen_mieten-web.pdf
Holm, Andrej, 2011: Ein ökosoziales Paradoxon. Stadtumbau
stieg und die Wärmewende darf daher nicht und Gentrifizierung, in: politische ökologie (Post Oil City)
abgeschrieben werden. Positive Beispiele 124, 45–52
Ders., 2016: Gentrification und das Ende der Berliner Mi-
zeigen: Gebäudesanierungen sind machbar, schung, in: von Einem, Eberhard (Hg.), Wohnen. Markt
finanzierbar und bringen reale Einsparungen. in Schieflage – Politik in Not. Wiesbaden: Springer VS,
191–231
Um das zu erreichen, muss die Gebäudesa- ifeu/Fraunhofer IEE/Consentec, 2018: Wert der Effizienz im
nierung aber von immobilienwirtschaftlichen Gebäudesektor in Zeiten der Sektorenkopplung. Studie
im Auftrag von Agora Energiewende, www.agora-energie-
Mechanismen entkoppelt werden. wende.de/presse/neuigkeiten-archiv/klimafreundlich-hei-
Neben der Streichung des § 559 BGB zen-warum-es-ohne-daemmen-nun-mal-nicht-klappt-2/
Michelsen, Claus/Ritter, Nolan, 2017: Wärmemonitor 2016:
müssen dringend alternative Konzepte Die »zweite Miete« sinkt trotz gestiegenem Heizenergie-
erarbeitet werden, die zeigen, wie qualitativ bedarf, in: DIW: Wochenbericht 38, 777–785
Stede, Jan/Michelsen, Claus/Puja, Singhal, 2018: Wärmemo-
hochwertige Gebäudesanierungen finanziert nitor 2017: Heizenergieverbrauch stagniert, Klimaziel
und sozialverträglich umgesetzt werden kön- wird verfehlt, in DIW Wochenbericht 39, 832–840
Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundes-
nen. Dabei müssen Klimaschutz und soziale tags, 2018: Energetische Gebäudesanierung und
Warmmietenneutralität. WD 5 - 3000 - 020/18, www.
Gerechtigkeit Priorität haben und dürfen
bundestag.de/resource/blob/551618/1c6039c9cc6028681
nicht weiterhin als ein – im besten Fall – 076321bc292d214/wd-5-020-18-pdf-data.pdf

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019      85


FRIEDE DEN HÜTTEN
KLEINGARTENBEBAUUNG IST KLASSENKAMPF VON OBEN

KATALIN GENNBURG Man müsse bauen, bauen und nochmals


bauen, um das Wohnungsproblem unserer
Zeit zu lösen, heißt es seitens der Konservati-
ven und der Immobilienlobby landauf, landab.
Insbesondere Kleingärten und städtische
Grünflächen geraten dabei unter Druck. Sie
sollen Platz machen für fehlenden Wohn-
raum. In dieser Logik erscheinen Kleingärten
und Stadtgrün als ein schier unvertretbarer
Luxus, den sich eine Stadt wie Berlin ange-
sichts der dramatischen Wohnungsnot nicht
mehr leisten kann. Und sie kommen als
egoistisches Partikularinteresse einiger weni-
ger – dazu noch spießiger – Laubenpieper und
Öko-Fanatiker daher.
Die Geschichte lässt sich aber auch
anders erzählen. Der Mangel an bezahlbaren
Wohnungen ist Teil einer Auseinandersetzung
um städtischen Raum, innerhalb dessen die
Spekulation mit Wohnungen und entspre-
chend mit Grund und Boden den treibenden
Widerspruch bildet. Schaut man so, ordnet
sich das Konfliktfeld etwas anders an: Wir

86      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


haben es mit einem Wohnraumversorgungs- konzernen und Grundbesitzer*innen anle-
problem inmitten einer weltweiten Finanzkri- gen – nicht mit den Lohnabhängigen auf ihrer
se zu tun, in der fehlende Verwertungsmög- gepachteten Scholle.
lichkeiten des Kapitals Immobilien zu einem
zentralen Anlagefeld gemacht haben. Die BAUEN, BAUEN, BAUEN UND
Renditeerwartungen von Geldanlegern – zu- LUXUSBUTZEN FIRST?!
meist weltweit agierende Investitionsfonds – Kommunale Bauplanungsbehörden ächzen
sind die Ursache für rasant steigende Mieten. unter Bauanträgen, während der weltweite
Sie machen aus dem Grundrecht auf Wohnen Kiesvorrat zur Neige geht. Investoren von
ein Luxusgut. Gleichzeitig öffnet die »Erschlie- Kapital aus Steueroasen mahnen schnellere
ßung« neuen Baugrunds die Perspektive auf Bearbeitungszeiten für Bauanträge an. Nicht
ein erweitertes Terrain der Kapitalverwertung selten handelt es sich dabei um Briefkastenfir-
(vgl. Trautvetter in diesem Heft). men aus Luxemburg, die sich über sogenann-
In vielen Kommunen steht deshalb die te Thinktanks oder lokale Rotary Clubs ihren
Frage an, ob Flächennutzungspläne Kleingar- Weg zu Stadtoberhäuptern bahnen und so an
tenflächen in Bauland umwidmen können,
sollen oder dürfen. In Berlin heißt es, der KATALIN GENNBURG ist Urbanistin, Stadtforscherin
Zuzug sei so stark, dass wir #bauenbauenbauen und Berlinerin. 2016 hat sie mit engagiertem Haus-
müssen. Keine Parzelle scheint zu klein und türwahlkampf im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick
ein Direktmandat für die LINKE gewonnen und ist
kein Standort zu laut. Der irre gewordene Markt
seitdem Sprecherin für Stadtentwicklung, Touris-
treibt die Bodenpreise von Herne bis Berlin in mus und Smart City im Berliner Abgeordnetenhaus.
schwindelerregende Höhen und mit ihnen die
Mietpreise. Tourismusorte sind Hotspots der
Immobilienspekulation ebenso wie Städte zum oberster Stelle für ihre »Stadtbauvisionen«
Altwerden oder zum Studieren. Inmitten dieser werben. Obwohl die Planungsbehörden rund
Neusortierung des Raums, mithin des Grund um die Uhr arbeiten, entsteht bezahlbarer
und Bodens, und im Zeitalter neuer kapitalisti- Wohnraum nur in homöopathischen Dosen.
scher Raumaneignungen durch Menschen mit Gilt also das Mantra bauen, bauen, bauen nur
Kapital (Stichwort »neue Erbengeneration«) für Luxusbutzen?!
braucht es nicht nur Beton und Kies, den man Während Denkmal-, Natur- und Milieu­
verbauen kann, sondern eben auch ausreichend schutz als angebliche Baubehinderungs-
Boden (vgl. Heinz in diesem Heft). programme in Verruf geraten, werden von
Angesichts dieser Konstellation ist Klein- Kommunalparlamenten beschlossene Bebau-
gartenbebauung Klassenkampf von oben. Und ungspläne wie Gold gehandelt. Investoren
linke Kommunalpolitik darf sich gerade nicht kaufen Grundstücke, kämpfen um Bebau-
zum Anwalt der Bebauung von Grünflächen ungsrechte, und sobald der Bebauungsplan
im Namen der sozialen Wohnraumversorgung fertig ist, wird das »Projekt« weiterverkauft. In
machen, sondern muss sich mit Immobilien- Berlin sind gegenwärtig etwa 60 000 Wohn-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     87


einheiten genehmigt, aber noch nicht gebaut. das Staatseigentum verließen, auch die
Dies bedeutet einen kommunalen Planungs- Bundesbahn verhökert nach wie vor alte Gleis-
aufwand, Abstimmungsprozesse und politi- anlagen und aufgegebene Bahnstandorte. Im
sche Diskussionen um Baukapazitäten, die Berliner Bezirk Charlottenburg wurde eine der
denen einer mittelgroßen Stadt entsprechen. größten und traditionsreichsten Kleingarten-
So erwirtschaften kommunale Planungsbe- anlagen verschachert und trotz erfolgreicher
hörden Milliardenrenditen für Spekulanten, Bürgerbegehren, aber dank einer standhaften
die mit Bauland und Baurechten handeln. Koalition aus SPD und Grünen mit Luxus-
Zeitgleich fehlt Raum zum Leben für diejeni- wohnungen bebaut. Kleingartenbebauung ist
gen, die die öffentliche Ordnung organisieren: Klassenkampf von oben, weil sich hier einmal
Feuerwehrleute, Krankenschwestern, Erzieher mehr die Verfügungsgewalt über die Produkti-
und Politessen. Nicht selten wird angesichts onsmittel manifestiert. Wer hat, der kann, und
dessen um Bebauungspläne hart gerungen, wer nicht hat, der muss runter von der Scholle
wenn Bürgerinitiativen Alarm schlagen und desjenigen, der »kann«.
sich Parlamente trotzdem auf die Bebauung, Es ist so einfach und fast schon billig,
beispielsweise von Kleingärten, festlegen – in Kleingärten zu bebauen. Einfach ist es, weil
der teils irrigen Hoffnung, gegen alle Wider- es beispielsweise deutlich mehr Anstrengung
stände Sozialwohnraum schaffen zu können, kostet, eine Bundeswehrkaserne aus der Stadt
für den sonst ja der Raum fehle, wie es heißt. zu werfen und folglich die Arbeitsplätze neu zu
strukturieren, um den dringend notwendigen
LANDNAHME UND KAPITALAKKUMULATION Platz zu gewinnen. Auch ist es deutlich schwie-
IN RAUM UND ZEIT riger und teurer, eine lärmende und stinkende
Um Raum ringend kannibalisiert sich derweil Straße zu überbauen und darauf Wohnraum zu
der Staat mit seinen Bürger*innen und schaffen. Dass es möglich ist, zeigt die Schlan-
deren Gemeingütern selbst, während der genbader Straße in Berlin Charlottenburg, die
Handel mit Boden große Flächen an Bauland inzwischen unter Denkmalschutz steht und in
faktisch dem staatlichen Wohnraumversor- den 1970er Jahren in Westberlin umgerechnet
gungsauftrag entzieht. Wurden nach 1990 458 Millionen Euro gekostet hat. Heute ist »die
im Deregulierungswahn massenhaft Flächen Schlange« ein autofreier Ort auf dem Rücken
privatisiert und im Lichte des Sparzwangs der Autobahn am Rande des Rheingauviertels,
insbesondere im Osten die klammen Kassen ein beliebtes Wohngebiet und überwiegend in
durch Liegenschaftsverkäufe aufgebessert, landeseigenem Besitz.
fehlen heute Flächen für Schulen, Kitas und Dieses Beispiel gibt viel her. Einerseits zeigt
Schwimmhallen – selbst Verwaltungsgebäude es, wie teuer die Flächenverschwendung durch
müssen angemietet werden. Autobahnbau in einer Stadt ist, für die dann
Man muss sich klarmachen, dass mit der bebaubarer Raum aufwendig zurückgewonnen
Liberalisierung der Post etliche Liegenschaften werden muss. Und es zeigt, was alles möglich
bundesweit in sogenannten Paketverkäufen wird, wenn Raum knapp ist, wie in der ehemals

88      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


geteilten Stadt Berlin und dem
ummauerten West-Berlin. Das
Paradoxon Berlins nach 1990 in
puncto Liegenschaftspolitik ist:
Erst hatte man zu wenig Raum,
dann fiel die Mauer und es schien
schier unbegrenzt Platz für all
Ideen in der sich neu erfindenden
Hauptstadt zu geben. Dann kam
der Ausverkauf, und heute wo
Berlin zum »place to be« nicht nur
für Künstler*innen und Kreative,
sondern für allerhand Risikokapi-
Demo gegen Mietenwahnsinn, April 2019 in Berlin ekvidi
tal avanciert, da wird es insbeson-
dere für jene »enge«, die entweder schon lange dere Rentner*innen mit geringen Einkom-
hier sind oder die neu ankommen – aber eben men –, auch wenn die Kleingartenordnung
ohne Kapital im Rucksack. dies eigentlich nicht vorsieht. Die Mieten sind
aber unerschwinglich geworden.
GÄRTNERN NUR FÜR REICHE?! Schließlich sind die innerstädtischen
Den Gürtel enger schnallen immer nur dieje- Kleingärten Urlaubsorte und Räume der Erho-
nigen, die eh nicht viel haben. Wo kommt ei- lung. Insbesondere für jene, die sich Urlaube
gentlich die Vorstellung her, Kleingärten seien immer weniger leisten können. Kleingärten
verzichtbarer Luxus? Viele Kleingärtner*innen gehören zu den noch verbliebenen Orten
bauen Obst und Gemüse an und leben davon. nicht nur der Reproduktion, sondern auch der
Auch heute noch. Kleingärtner*innen sind oft Produktion und des Selbstbaus. Egal ob mittel-
Mieter*innen, die auf kleinem Raum leben alterliche Kartoffelsorte oder die eigene Hütte
und sich hier – außerhalb ihrer Kleinstwoh- zu bauen – der Kleingarten ist das, was Michel
nungen – verdingen und ganz nebenbei noch Foucault als Heterotopie bezeichnet hat. Hier
die Biodiversität der Stadtnatur in Zeiten des sind auf begrenztem Raum die Utopien, die
Klimawandels und des Artensterbens berei- Möglichkeit gedanklicher Gegenräume und
chern. Auch das ist tatsächlich eine Klassen- Grenzenlosigkeit zuhause. Außer dem vorge-
frage: Wer Geld hat, gärtnert selbstverständ- gebenen Grundstück wird die urbane Selbst-
lich auf dem eigenen Grundstück und nicht produktion nur von »Umwelt« und Nachbarn
auf einer landeseigenen Parzelle. Oder wer begrenzt, nicht aber von Eintrittspreisen,
wollte sich jetzt über die Platzverschwendung Verzehrregeln oder Kleiderordnungen. Und ja,
der Villen in Grunewald, Blankenese und alle 15 000 Schrebergartenvereine unterliegen
Schwabing aufregen? Auch leben inzwischen dem Bundeskleingartengesetz und jeweils
nicht wenige in ihren Datschen – insbeson- regional unterschiedlichen Gartenordnungen.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     89


Wer daraus eine antiaufklärerisch markierte suggeriert. Dass ausgerechnet der Volks-
Spießigkeit ableiten will, der und die müsste entscheid zur Freihaltung des Tempelhofer
es ebenso für spießig halten, sich an die Flugfeldes der erste erfolgreiche Volksent-
Straßenverkehrsordnung zu halten. Dass scheid Berlins war, sollte Anlass sein, diesen
Regeln gelten, ist ja nicht in erster Linie denen Pfad weiterzuverfolgen. Nicht zu vergessen:
vorzuwerfen, die diesen unterworfen sind. der ebenfalls erfolgreiche Bürgerentscheid zur
Und Regeln lassen sich bekanntlich ändern. Freihaltung der Spreeufer in Friedrichshain
In einer Kleingarten-Großstadt, wie Ber- und Kreuzberg: »Mediaspree versenken!«.
lin sie mit etwa 70 000 Parzellen ist, bedeutet Eine Mehrheit der Städter*innen will dem
linke Sozialpolitik auch die Versorgung mit flächenpolitischen Irrsinn endlich Einhalt
Erholungs- und Reproduktionsräumen. Wie gebieten.
dies auszusehen hat, berührt ein weiteres Die Entscheidung, ein Flugfeld so
Mal die Klassenfrage. Linke Stadtpolitik muss groß wie die Träume aller internationalen
gezielt Löcher schneiden in den städtischen Immobilieninvestoren nicht zu bebauen,
Verwertungsteppich aus Zerstreuungs- und gibt Aufschluss über den Zustand der liegen-
Vergnügungszauber, der die Stadt als soziales schaftspolitischen Debatte in der Hauptstadt.
Gewebe zunehmend überlagert. Linke Stadt- Umso befremdlicher erscheinen die nicht
politik muss Stadt als selbstbestimmten und enden wollenden Versuche insbesondere der
als kollektiv organisierten Ort der Produktion SPD und der Parteien rechts der Mitte, dieses
und des Lebens jenseits von Konsumräumen Bürgervotum infrage zu stellen. Und das mit
denken und deshalb Gegenorte zu dieser der immer gleichen Behauptung, man könne
Verwertungsmaschinerie sichern. Kleingärten sich diesen Freiraum in Zeiten der Flächen-
sind einer davon. knappheit nicht länger leisten. Nicht ganz
Die Stadt als Konsumraum zu imagi- zufällig wird jede erneute Feldbebauungsde-
nieren, voll mit Shoppingmalls, Autobahnen batte verknüpft mit dem feuilletonistischen
für die individualisierte Zurschaustellung Schwadronieren über Sinn und Unsinn von
des eigenen Blechreichtums, und mit Innen- Kleingärten in einer Metropole.
städten, wo königliche Gärten mit allerhand Worum geht es nun in Zeiten des Häuser-
Verbotsschildern und kaum weniger Nutella- kampfes, des Kampfes gegen den Mietenwahn-
Läden zum »Verweilen« einladen, ist ohne sinn und inmitten des politischen Verspre-
unser Zutun längst Auftrag aller anderen. chens »Wir geben Euch die Stadt zurück!«?
Die politische Linke muss mehr ökologische
WIDER DIE LANDNAHME UND Stadtentwicklungspolitik wagen. Wir brauchen
KAPITALAKKUMULATION IN RAUM UND ZEIT eine politische Antwort auf das Mantra der
Eine linke und ökologische Liegenschaftspo- Baulobby »Bauen, bauen, bauen«, und die
litik in Berlin kann sich durchaus auf breite kann nicht lauten »mehr bauen!«. Die Versor-
Zustimmung der Bevölkerung stützen, auch gung breiter Schichten der Bevölkerung mit
wenn der mediale Diskurs oft das Gegenteil Wohnraum als einen politischen Auftrag ernst

90      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


zu nehmen ist die Differenz zwischen reiner nahme in Zeiten der Flächenknappheit nach.
Baupolitik und sozialstaatlichem Wohnraum- Sie nutzt das Vorkaufsrecht, um Flächen und
versorgungsauftrag. Staatliche Wohnungspo- Häuser aus den Händen von Spekulanten zu-
litik muss beides organisieren und dies mit rückzugewinnen, schafft ein Gesetz zur neuen
nachhaltiger Stadtökologie verbinden. Sonst Wohngemeinnützigkeit (vgl. Kuhn in diesem
ist die Stadt irgendwann so zugeschüttet mit Heft) und stellt Baugebote auf, um Bodenspe-
Beton, dass wir sie nicht zurückhaben wollen! kulation und Flächenhandel zu unterbinden
Ja, der Staat kann und muss für den Bau und um Kleingärten als historisch gewachsene
leistbaren Wohnraums sorgen. Hierzu gehören Räume zu erhalten.
enteignungsgleiche Eingriffe wie die treuhän- Ich selbst besitze keinen Kleingarten, aber
derische Verfügung über Leerstand und die ich habe den Kampf um das Berliner Stadt-
Bereitstellung leerstehender Wohnungen an grün zu meiner politischen Mission gemacht,
Bedürftige, was auf Ebene der Bundesländer weil die Inwertsetzung des Stadtgrüns massiv
über das Zweckentfremdungsverbot-Gesetz er- voranschreitet – sei es durch kommerzielle
möglicht wird. Auch Enteignungen von Grund Massenevents in Gartendenkmälern oder
und Boden gelten laut Grundgesetz nicht nur durch Eintrittspreise in landeseignen Parks.
für Autobahnvorhaben, wie das international Solange wir die Unterbringung von Menschen
beachtete Volksbegehren zur Vergesellschaftung gegen die Grünversorgung ins Feld führen
von Wohnraum in Berlin derzeit deutlich macht und nicht beides zusammendenken, können
(vgl. Prey/Sahle in diesem Heft). Hier gilt es wir nur verlieren. Zum Kampf für einen
anzuschließen und den Diskurs der Investoren, Mietendeckel (vgl. Gottwald auf LuXemburg-
Spekulanten und Projektentwickler*innen zu Online) gehört es auch, für Freiräume, für den
durchkreuzen. Ein Beispiel: Dass die einen öffentlichen Raum und für die unbestimmten
vier Wohnungen besitzen und für ihr fünftes Orte in einer Stadt in Zeiten der kapitalis-
Domizil aktuell eine Räumungsklage gegen tischen Raumverwertung zu kämpfen. Das
eine 80-jährige Omi führen und den anderen betrifft freie Ufer, Parks ohne Zäune, Wagen-
gerade der Kleingarten gekündigt wird, weil burgen und eben Kleingärten – jene Orte, die
dort notwendiger Wohnraum entstehen soll, ist auf der roten Liste des Kapitals stehen, weil
ein und dieselbe Rechnung. sie angeblich Platz verschwenden und man sie
Es geht darum, die Omi in ihrem Zuhau- sich in Zeiten der akuten Wohnraummangel-
se zu lassen, Eigenbedarfskündigungen abzu- lage nicht mehr leisten könne.
schaffen, Zweitwohnungen hart zu besteuern Tatsächlich können wir uns all die Shop-
und die kommerzielle Umwidmung von pingcenter, unterbelegten Hotels, Autobahnen,
Wohnraum in Ferienwohnungen konsequent Schlösser und Luxuslofts – kurzum: die riesigen
zu untersagen. Linke Wohnraumversorgungs- Profite der Eigentümer und privaten Rauman-
politik beschlagnahmt leerstehende Woh- eigner – nicht mehr leisten und zwar solange,
nungen und denkt über Regeln für maximale bis alle gut und sicher leben können; am besten
Wohnungsgrößen als soziale Ausgleichsmaß- mit Gärtchen in Wohnortnähe, wenn sie wollen!

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     91


... DA, WO ES BRENNT
DIE LINKE ALS ORGANSISIERENDE PARTEI VOR ORT

CHRISTINA KAINDL UND Es ist Januar, es regnet draußen, und im Kleinen


SARAH NAGEL Saal des Gemeinschaftshauses Gropius­stadt
gehen langsam die Stühle aus. Mehr als 150
Mieter*innen sind zur Einwohnerversamm-
lung des Bezirksamts Neukölln gekommen.
Der Bezirksbürgermeister ist da, auch der
Baustadtrat und weitere Verwaltungsleute.
Sie zeigen Folien und stellen Pläne für eine
sogenannte Umstrukturierungssatzung vor.
Ein Instrument, um Bauanträge zurückzu-
stellen und damit ein Druckmittel, um die
Eigentümer*innen an den Tisch zu bekom-
men. Dass dies diskutiert wird, ist ein Erfolg
der Mieter*innen, die sich hier seit über einem
Jahr organisieren. Denn viele der Anwesenden
haben ein drängendes Problem: steigende
Mieten durch energetische Sanierungen.
Mieter*innen aus dem Viertel waren schon
zweimal mit ihren Fragen und Forderungen im
Rathaus Neukölln, eine Mieterin hat die Ein-
wohnerversammlung selbst beantragt. Gemein-
sam haben sie eine Kundgebung und weitere
Aktionen organisiert, um auf ihre Situation

92      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


aufmerksam zu machen. Unterstützt wurden sie Auf die Jahre der Proteste gegen die Agenda
von Anfang an durch Aktive der LINKEN. 2010 und Wirtschaftskrise folgten die Jahre
2016 hat DIE LINKE Modellprojekte für der asymmetrischen Demobilisierung unter
Organisierung in einkommensarmen Nachbar- Merkel. Jahre, die im Alltag für viele Men-
schaften – sogenannten sozialen Brennpunk- schen von kommunaler Austerität geprägt
ten – gestartet. Gropiusstadt ist eines davon. waren, also durch die Erfahrung, dass ihre
Das Ziel: Linke laden die Anwohner*innen ein, Interessen unter den Bedingungen ständigen
sich zu einem Thema, das ihnen unter den Nä- Sparzwangs nur gegen andere durchzusetzen
geln brennt, zusammenzuschließen. Dahinter waren. Dass sie vielleicht von Erwerbslosigkeit
steht die Erkenntnis, dass sich die soziale und in prekäre Jobs wechseln, aber aus der Mühle
politische Ausgrenzung von Menschen mit der Alltagssorgen nicht herauskommen. Die
geringem oder gar keinem Einkommen in den Strategie der LINKEN zielt darauf, nicht nur zu
letzten Jahren verfestigt hat. Viele Menschen und mit den Menschen zu sprechen und ihren
haben sich von ›der Politik‹ enttäuscht abge- Erfahrungen eine Stimme zu geben, sondern
wendet. Sie erleben ihre Lebensverhältnisse
als unsicher und können ihre Zukunft nicht
planen. Wahlauswertungen zeigen, dass CHRISTINA KAINDL ist Leiterin des Bereichs Strategie
Menschen in ärmeren Vierteln und solche, die und Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle
der Partei DIE LINKE in Berlin.
ihre soziale Lage als schlecht bis sehr schlecht
einschätzen, zwar halb so oft wählen gehen, SARAH NAGEL ist Mitarbeiterin im Bereich Strategie
und Grundsatzfragen in der Bundesgeschäftsstelle
aber doppelt so oft für linke Parteien stimmen.
der Partei DIE LINKE in Berlin und engagiert sich in
Bei den letzten Wahlen hat allerdings die AfD der Mieter*innenorganisierung in Gropiusstadt.
überdurchschnittlich stark in sozialen Brenn-
punkten abgeschnitten. Katja Kipping und
Bernd Riexinger schrieben 2016: »Wir nehmen auch die Erfahrung zu ermöglichen, dass die
die Herausforderung an. Der Erfahrung von Verhältnisse zum Besseren verändert werden
Machtlosigkeit, in der viele Menschen sich nur können. Wenn wir es selber tun.
noch als Spielball ›fremder Mächte‹ erleben, Die Ansätze der Organisierung von unten
wollen wir die Erfahrung entgegensetzen, dass sind Teil der Antwort auf die Frage, welche
sich nicht durch Ausgrenzung der Schwächs- Aufgaben eine linke Partei heute hat und wie
ten, sondern nur durch Solidarität und gemein- die Arbeit an der Basis aussehen kann.
samen Kampf die eigene Lage verbessert.« (vgl. Am Anfang stehen dabei nicht Antwor-
Kipping/Riexinger 2016). ten, sondern Fragen. Beim Organizing geht
Die Modellprojekte sind der Versuch, an es darum, am Alltag anzuknüpfen, daran, was
konkreten Problemen anzusetzen und diese Menschen tatsächlich bewegt. Nicht immer
Erfahrung zu organisieren. Sie sind Teil der sind das die Themen, die wir erwarten. Weil
Strategie, die Partei zu »verbreitern« und zu nur die wenigsten Menschen von sich aus
»verbinden« (vgl. Kipping/Riexinger 2013). auf eine Organisation zugehen – und noch

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     93


weniger diejenigen, die es aus ihrer sozialen sich in der Gropiusstadt engagieren. »Linke
Stellung heraus nicht gewohnt sind für müssten wirklich noch viel mehr da hingehen,
ihre Interessen einzutreten – werden in den wo Leute Sorgen und Nöte haben, und ihnen
Modellprojekten Methoden direkter Anspra- vorschlagen: Lasst uns einen Plan machen
che ausprobiert, etwa Haustürgespräche und und das zusammen angehen«, sagt sie (vgl.
Telefonate. Die Treffen verlaufen anders als Steinborn auf LuXemburg-Online). Sie und die
die übliche Parteiversammlung oder das linke Gruppe setzen in Gropiusstadt darauf, direkt
Plenum. Es gibt oft Tee und Kekse und immer ins Gespräch zu kommen. Es geht darum,
viel Platz für die Anliegen und Erfahrungen gemeinsam Druck aufzubauen, um Erfolge zu
der Teilnehmenden. Was ist seit dem letzten erzielen.
Treffen passiert? Hat sich der Vermieter Gropiusstadt ist nicht das Neukölln, das
gemeldet? Wie geht es in den nächsten viele im Kopf haben, wenn der Name des
Wochen weiter, welche Verabredungen werden Stadtteils fällt. Hier gibt es keine Altbauten,
getroffen? Manchmal geht es auch um die keine hippen Cafés und Restaurants. Die
Reparatur von Fenstern oder Dreck im Trep- Gropiusstadt ist in den 1960er und 70er
penhaus. Was hier besprochen wird, ist sehr Jahren gebaut worden und besteht über-
konkret und manchmal kleinteilig, weil ein wiegend aus Hochhäusern. Hier gibt es das
konkretes Problem im Mittelpunkt steht. Es größte Einkaufszentrum Berlins, aber auch
ist nicht »unpolitisch«, sondern stellt den Pro- viel Grün. Rund 37 000 Menschen leben hier,
blemrohstoff des Alltags in den Mittelpunkt viele davon seit Jahrzehnten. Seit den 1980er
der politischen Arbeit. Die Beteiligten haben Jahren gilt die Gropiusstadt als sozialer Brenn-
häufig wenig oder keine Erfahrung damit, punkt. Fast doppelt so viele Menschen wie im
sich zu organisieren. Und für die Mitglieder Berliner Durschnitt beziehen Transferleis-
der LINKEN heißt es zum Teil, die alltägliche tungen, fast jede*r vierte Erwerbstätige muss
Praxis der Parteiarbeit auf den Kopf zu stellen. aufstocken. Auch die Wahlergebnisse sehen
Die wird häufig von langen Sitzungen domi- anders aus als im Neuköllner Norden. DIE
niert, von Infoständen, Veranstaltungen und LINKE hat bei der Bundestagswahl 2017 mit
gelegentlichen Mobilisierungen. Nichts davon 18,3 Prozent der Zweitstimmen in Neukölln
ist falsch, aber mit allem werden vor allem die- das beste Ergebnis aller Westbezirke erreicht,
jenigen erreicht, die ohnehin schon überzeugt aber das liegt vor allem an den Kiezen im
sind oder zumindest einen starken Bezug zu Norden. Während sich dort DIE LINKE und die
dem haben, was üblicherweise unter Politik Grünen oft ein Kopf-an-Kopf-Rennen liefern,
verstanden wird. Nicht politisch organisiert schneidet in der Gropiusstadt die SPD besser
zu sein bedeutet aber längst nicht, unpolitisch ab, aber auch die CDU und die AfD, die bei der
zu sein. Für die Gewerkschafterin Susanne Bundestagswahl bis zu 20 Prozent geholt hat.
Steinborn liegt auf der Hand, was nötig ist. Sie DIE LINKE lag bei 9,3 Prozent. Die Mehrheit
ist kurz vor der Bundestagswahl 2017 in DIE stellen allerdings diejenigen, die gar nicht
LINKE eingetreten und eine derjenigen, die wählen gehen.

94      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


WIE ALLES BEGANN
Die ersten Haustürgespräche in Gropiusstadt
führten die Aktiven im Sommer 2017. Dass es
bald Treffen mit Mieter*innen aus mehreren
Häusern geben würde und sie auf eine erste er-
folgreiche Kundgebung sowie weitere Aktionen
zurückblicken können würden, war zu diesem
Zeitpunkt noch nicht abzusehen. Eine Hand-
voll Mitglieder der LINKEN Neukölln, mit kon-
zeptioneller und praktischer Unterstützung der
Parteizentrale, klopften an den Türen, fragten
wo der Schuh drückt, kamen ins Gespräch mit
Anwohner*innen. Viele machen sich Gedan-
ken über die steigenden Mieten, das war am
Ende des Tages klar. Zur ersten Veranstaltung
wenige Tage später, bei der es genau darum ge-
hen sollte, kam trotzdem niemand – einer von
vielen Rückschlägen, die zum Ausprobieren
Mieter*innen-Protest in der Karl-Marx-Allee in Berlin,
dazugehören. Es war wohl doch zu unkonkret. Uwe Hikisch

Was wäre den Anwohner*innen so wichtig,


dass sie es nicht nur benennen, sondern sich Bald darauf unterschreiben 85 Bewohner*in­
dafür engagieren würden? Die Antwort darauf nen einen Brief mit Forderungen an das
kam im Herbst vor dem U-Bahnhof Lipschitzal- Bezirksamt. Überall klopfen Anwohner*innen
lee an einem kleinen Infostand mit einer und das Team der LINKEN Neukölln an den Tü-
großen Karte der Umgebung. Passant*innen ren. Viele Nachbar*innen wollen unterschrei-
konnten darauf markieren, ob ihre Miete in der ben, aber nicht alle wollen sich einbringen. 20
letzten Zeit gestiegen ist und wie stark. Viele sind dabei, als im Januar 2018 eine Mieterin
machten mit. Zwei Leute erwähnten dabei die im Rathaus Neukölln steht und in der Bezirks-
energetischen Sanierungen, die in Gropiusstadt verordnetenversammlung spricht. Oben auf
die Mieter beunruhigen, weil sie bedeuten, der Tribüne sitzen die Hausbewohner*innen,
dass die Mieten teils drastisch erhöht werden. sie haben ein Transparent gemalt und hängen
Wenig später finden wieder Haustürgespräche es von der Tribüne, werden ermahnt, rollen
statt, diesmal in zwei betroffenen Häusern und es erst wieder ein, schauen sich an und rollen
mit einer Einladung zum Mietencafé. Dorthin es dann wieder aus: Jetzt erst recht, soll das
kamen neun Mieter*innen. Sie alle hatten bedeuten. Zu diesem Zeitpunkt verstehen sie
kurz zuvor eine Modernisierungsankündigung sich nicht mehr als einzelne Mieter*innen,
erhalten und sollen bald bis zu 170 Euro mehr sondern als Mieterinitiative. Das ist etwas Be-
pro Monat zahlen. sonderes, weil ihr Haus das letzte in der Straße

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019      95


ist, das saniert wird. Mehrere Häuser waren es wagen und stell den irgendwo in Brandenburg
vorher, aber nirgendwo hat es zu Protest oder hin«, witzelt eine Mieterin. Einige lachen. Aber
Organisierung geführ. Sie sind die ersten und die Lage ist ernst, und alle hier wissen es.
haben damit einen Stein ins Rollen gebracht, Mittlerweile gibt es Erfolge zu verbuchen.
denn Tausende sind im Viertel entweder Es gibt nun zwei Mieterinitiativen und weitere
bereits von Mieterhöhungen betroffen oder Mieter*innen, die sich in ihren Häusern zu-
befürchten, dass es bald so weit sein könnte. sammengeschlossen haben. Einmal monatlich
Viele derjenigen, die sich engagieren, sind treffen sich alle zum Mietentisch, um gemein-
schon älter und leben seit Langem hier. Die sam zu beraten. Auf der Demonstration gegen
Gropiusstadt sei »ein wunderschöner Wohnbe- Mietenwahnsinn am 6. April 2019 haben sie
reich«, erzählt ein Anwohner. Er lebt seit über einen kleinen Block gestellt, für viele war es
50 Jahren hier und will bleiben. So denken die erste Demo. Und in Gropiusstadt werden
viele, aber das wird immer schwieriger. Die Unterschriften für die Kampagne »Deutsche
Eigentümer sanieren systematisch ein Haus Wohnen & Co. enteignen« gesammelt. Für
nach dem anderen, die Mieter*innen können einige wurden durch den Protest die Mietstei-
sich ungefähr ausrechnen, wann sie dran sind. gerungen gedeckelt, die geplante Umstruktu-
Es liegt nahe, dass die energetischen Sanierun- rierungssatzung ist ein Schritt nach vorn und
gen nicht in erster Linie dazu dienen sollen, der öffentliche Druck führt dazu, dass es den
Energie einzusparen. Die tatsächliche monat- Eigentümern hier dauerhaft schwerer gemacht
liche Einsparung liegt meist weit unter der wird, einfach zu machen was sie wollen.
Mieterhöhung (vgl. Pallaver in diesem Heft).
Die meisten Häuser in der Gropiusstadt waren ÜBER DAS ZIEL HINAUS
früher städtischer, sozialer Wohnungsbau und Doch so wichtig konkrete Erfolge sind, sie sind
die Mieten erschwinglich. Doch dann wurden nicht alles. Zwar ist es selbst für kleine Schritte
viele Häuser privatisiert. Seitdem steigen die notwendig ein Thema zu finden, für das
Mieten schneller. Die neuen Eigentümer, Menschen sich einsetzen wollen, aber dabei
darunter Deutsche Wohnen und Gropiuswoh- kann eine linke Organisierung nicht stehen-
nen, hatten die im Rahmen des Mietspiegels bleiben. »Es ist verführerisch zu glauben, dass
möglichen Mietsteigerungen irgendwann die Lösung dieses Problems als Ziel genügt«,
ausgeschöpft. Da kommen die energetischen schreibt der Organizer Steve Williams (2013, 5).
Sanierungen ins Spiel. Sie ermöglichen es, elf Doch wenn es nicht nur um kleine Reformen,
Prozent der Modernisierungskosten auf die sondern eine langfristige Verankerung gehen
monatliche Miete umzulegen, und zwar für soll, reicht das nicht aus. Hier unterscheiden
immer. Für die Mieter*innen in Gropiusstadt sich verschiedene Ansätze des Organizing.
bedeutet das Mietsteigerungen, die sich viele Williams steht für transformatives Organizing,
nicht leisten können. Was sich in den letzten also eine Organisierung, die nicht nur »auf
Jahren verändert hat: Sie können sonst nir- Sicht« fährt, sondern bei der die Vision für eine
gendwo mehr hin. »Ich kauf‘ mir ’nen Wohn- andere Gesellschaft mitgedacht wird.

96      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


»Transformativem, auf gesellschaftliche Die Modellprojekte laufen noch in drei ande-
Umgestaltung ausgerichtetem Organizing ren Orten. Im Hamburger Stadtteil Steilshoop
geht es demgegenüber um einen Erfolg auf arbeiten die Aktiven ebenfalls erfolgreich in
lange Sicht. Es basiert auf der Annahme, dass einer Mieterinitiative mit Anwohner*innen.
alle gesellschaftlichen Probleme strukturelle, Gerade sind zwei weitere Modellprojekte
globale und historische Wurzeln haben. in Kleinstädten gestartet, um auch dort
Selbst wenn wir also mit unserer Kampagne Erfahrungen zu sammeln. Und Mitglieder
erfolgreich sind und ein bestimmtes Problem der LINKEN haben mittlerweile in mehreren
ansprechen können, so müssen wir doch Städten Projekte initiiert, die auf transfor-
erkennen, dass die strukturellen Ungleich- mative Organisierung von unten setzen. Die
heiten, die dieses Problem hervorgebracht Bundesgeschäftsstelle unterstützt sie dabei
haben, auch künftig Probleme hervorbringen mit Seminaren und Angeboten zur Vernet-
werden – es sei denn, wir beseitigen deren zung. Die Aktiven tauschen sich bundesweit
Ursachen ein für alle Mal. Deswegen zielt aus, lernen voneinander und machen vor, wie
transformative organizing auf nicht weniger als Organisierung in einer modernen sozialisti-
die Abschaffung der Ursachen der Probleme, schen Mitgliederpartei aussehen kann.
die wir tagtäglich erleben. Es fährt deswegen Der Ort der LINKEN ist an der Seite
im Grunde zweigleisig: Da wir noch nicht der Menschen, die unter dem neoliberalen
die Macht besitzen, die Kräfteverhältnisse Kapitalismus, unter der Austerität in den Kom-
grundlegend zu ändern, müssen unsere munen, unter der Privatisierung und Profitori-
Kampagnen mit Blick auf ein größeres Ziel entierung der öffentlichen Daseinsvorsorge am
geführt werden. Transformatives Organizing meisten zu leiden haben. Dafür muss sie sich
muss mit Weitsicht kämpfen.« (ebd.) tatsächlich an ihre Seite begeben – nicht nur
Es geht also darum, über die Lösung mit ihren Forderungen, nicht nur mit verständ-
konkreter Probleme hinauszugehen. Sich einen licher Sprache, sondern ganz praktisch. Das
Blick zu erarbeiten, in dem sich die Betroffe- Gewebe einer neuen Organisierung von unten
nen als Teil von gesellschaftlichen Kräftever- zu schaffen, die Kräfteverhältnisse im Alltag zu
hältnissen erleben. Ihr Problem als verbunden verschieben, wird billiger nicht zu haben sein.
mit anderen, ein Verständnis für die Ursachen
und die politischen Entscheidungen dahinter
bekommen und damit auch, wie sie sich LITERATUR
Kipping, Katja/Riexinger, Bernd, 2016: Revolution für soziale
ändern lassen. Und darum, nicht nur auf kurz- Gerechtigkeit und Demokratie, www.die-linke.de/start/
fristige Mobilisierungen zu setzen, sondern nachrichten/detail/revolution-fuer-soziale-gerechtigkeit-
und-demokratie/.
auf langfristige Verankerung und gemeinsame Dies. 2013: Verankern, verbreiten, verbinden, www.die-linke.
Erfahrungen. Dadurch verändern sich alle, die de/partei/ueber-uns/parteientwicklung/verankern-ver-
breiten-verbinden/.
daran beteiligt sind. Das gilt für diejenigen, die Williams, Steve, 2013: Fordert alles. Lehren aus dem Trans-
formativen Organzizing, www.rosalux.de/fileadmin/
sich das erste Mal organisieren und ebenso für
rls_uploads/pdfs/sonst_publikationen/williams_transfor-
die, die das schon seit Langem tun. matives_organizing_mrz13.pdf.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019      97


»WENN WIR MEHR WERDEN, Wann hast du beschlossen, dass du etwas
BRINGT ES WAS« gegen die erneute Mieterhöhung tun willst?
Eigentlich sofort, aber wir waren anfangs
GESPRÄCH ÜBER MIETENWAHNSINN UND DIE verhindert. Wir haben aber mitbekommen,
GRÜNDE, SICH ZU WEHREN dass sich Mieter aus dem Haus zusammenge-
MIT ILONA VATER schlossen haben, und sind dann hingegangen,
sobald es ging.

Wie war das für dich, als der Brief mit der Wie hast du die Treffen erlebt?
Modernisierungsankündigung kam? Zuerst war ich erschrocken, dass so wenige
Mein erster Gedanke war: Oh Schreck, Leute aus dem Haus dabei waren. Wir sind
170 Euro Mieterhöhung. Ein richtiger Ham- 99 Mietparteien, aber es waren nur ungefähr
mer. Dazu kommt: Die regulären Mieter- 15 Leute bei den Treffen. Trotzdem haben wir
höhungen werden nicht gestoppt, sondern gemeinsam verschiedene Sachen organisiert.
gehen weiter. Dadurch steigt der Mietspiegel
unheimlich an. Die Eigentümer können Was sind für dich die größten Erfolge, die ihr
dann immer noch sagen, dass sie sich an den bisher erreicht habt?
Mietspiegel halten, und das finde ich nicht Gropiuswohnen hat auf unseren Druck hin eine
richtig. Das Haus, in dem ich wohne, gehörte Fachfirma für die Asbestsanierung engagiert,
früher dem öffentlichen Wohnungsunterneh- was leider nicht selbstverständlich war. Das war
men GEHAG, wurde aber verkauft. Dann kam ein großer Erfolg. Bei der jährlichen Gropius-
prompt die erste Mieterhöhung. Die Besitzer städter Kaffeetafel waren wir außerdem als Mie-
haben mehrfach gewechselt und die Miete terinitiative mit einem eigenen Tisch vertreten,
stieg immer weiter. Mittlerweile gehört das haben Kaffee und Kuchen angeboten und über
Haus dem Unternehmen Gropiuswohnen. die Situation informiert. Wir waren auch im
Rathaus Neukölln, um darauf aufmerksam zu
Was bedeutet die Mietsteigerung für dich? machen. Und wir haben ein eigenes Asbest-
Die größte Angst habe ich, dass mein Mann gutachten in Auftrag gegeben und dafür Geld
und ich hier rausmüssen. Was mache ich zum eingesammelt. Im Herbst haben wir dann eine
Beispiel, wenn ich mal allein übrig bleibe? Kundgebung organisiert: »Mietenwahnsinn
Noch können wir uns die Wohnung leisten, stoppen – Für ein gutes Leben in Gropiusstadt.«
weil ich nebenbei arbeite. Ich mache das, um Es waren mehr als 150 Leute da, das war gut.
unter Leuten zu sein, und für unseren Lebens-
standard. Wenn eine weitere Mieterhöhung Was ist die größte Herausforderung für die
kommt, muss ich arbeiten. Wir können auch Mieterinitiative?
nicht einfach woanders hinziehen. In anderen Dass sich nicht so viele beteiligen. Wir waren
Stadtteilen und im Umland sind die Preise ja zum Beispiel an den Haustüren und haben
auch gestiegen. mit Nachbarn gesprochen und sie zu Treffen

98      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


eingeladen. Es gab viele Zusagen, aber dann
ILONA VATER ist Rentnerin und lebt seit fast
waren doch nicht so viele da. Manche haben
20 Jahren in der Berliner Gropiusstadt. Als sie
wahrscheinlich das Geld, es stört sie also weni- Ende 2017 eine Modernisierungsankündigung
ger. Ich würde mir wünschen, dass sich noch bekam, hat sie beschlossen, gemeinsam mit
mehr beteiligen. Aber man muss auch dazu anderen die eigenen Interessen zu vertreten.

sagen: Wir sind von sieben Häusern in der


Straße das letzte, das saniert wird. Die Mieter
in den Häusern vorher haben sich gar nicht dass sie jetzt die Wohnungen zurückkaufen
zusammengetan. wollen, die sie früher verscherbelt haben. Die
kosten mittlerweile aber Milliarden. Das kann
Was würdest du mit der Mieterinitiative gern nicht alles sein. Es bräuchte etwas wie ein
noch erreichen? Recht auf Wohnen und verschiedene Maßnah-
Für mich wäre es ein großer Erfolg, wenn men, um das umzusetzen.
die von Gropiuswohnen mal mit uns reden
würden. Und dass sie den Rahmen nicht Gleich gehst du zur Einwohnerversammlung,
ausschöpfen. Die brauchen doch die elf die du selbst beim Bezirksamt beantragt hast.
Prozent, die sie laut Gesetz auf die monatliche Was willst du den Verantwortlichen sagen?
Miete draufschlagen dürfen, gar nicht. Die Ich will Öffentlichkeit schaffen und von
energetische Sanierung ist außerdem nach unserer Situation berichten. Wir haben die
zehn Jahren längst bezahlt, und wir zahlen Abgeordneten gewählt und ich erwarte von
trotzdem weiter. Ich erwarte, dass sie uns ihnen, dass sie was Sichtbares für uns tun.
entgegenkommen, kompromissbereit und Wir wollen Druck aufbauen und die Vermieter
sozial sind. Leerstand darf nicht mehr belohnt an den Tisch holen.
werden, da könnte man Fristen setzen.
Mittlerweile schließen sich auch Mieter*innen
Was sollte sich für die Mieter*innen ändern? in anderen Häusern zusammen.
Die Gesetze müssen für die Mieter ertragbar Ja, das ist gut. Nur unsere Mieterinitiative
sein. Was mich sehr stört, ist die Tatsache, dass allein hätte nicht so viel gebracht. Aber wenn
die Industrie eine Lobby hat, die so mächtig wir mehr werden, bringt es was. Mieterinitia­
ist, dass sie praktisch entscheidet, was passiert. tiven müssen einfach sein. Solange es mit
Die Regierung macht nichts und erlaubt es unserer Mieterinitiative läuft, werde ich auch
den Vermietern, die Gesetze auszunutzen. Ich dabei sein. Und für das Frühjahr stelle ich mir
frage mich ganz ernsthaft: Wo wollt ihr mit den eine große Demo in Berlin vor.
Mietern hin, die ihre Miete nicht mehr zahlen
können? Ich stelle mir das so vor, dass wir eine Das Gespräch führte Sarah Nagel. Sie ist aktiv in
Grundmiete haben, die für jeden erschwinglich einem Organizing-Projekt der Partei DIE LINKE
ist. Jeder sollte vom Staat einen Zuschuss krie- in Gropiusstadt. Darüber hat sie Ilona Vater
gen. Berlins Bürgermeister Müller hat gesagt, kennengelernt.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     99


STADTPOLITIKEN
DES WILLKOMMENS
KONFLIKTE UM NEUEN WOHNRAUM FÜR GEFLÜCHTETE

ULRIKE HAMANN Mit der Frage, wie Geflüchtete in Städten


ankommen können, in denen ein Mangel
an bezahlbarem Wohnraum herrscht, müs-
sen sich Stadtregierungen spätestens seit
2015 intensiv beschäftigten. Welche Art von
Wohnraum in kurzer Zeit wo gebaut werden
kann, ist umkämpft. Neubauvorhaben treffen
vielfach auf Widerstände von lokalen Nachbar-
schaften. Darin werden neue Konfliktkonstel-
lationen sichtbar, in denen sich gegensätzliche
Interessen, aber auch ein wachsender Ver-
drängungsdruck in den Kiezen abbilden.

WOHNRAUMKRISE FÜR GEFLÜCHTETE


Die Wohnungskrise ist in vielen Städten Folge
einer neoliberalen Stadtpolitik, die riesige
kommunale Wohnungsbestände privatisiert
sowie soziale Absicherungen und städtische
Verwaltungen so geschrumpft hat, dass auch
Regulierungen wie Mietpreisbremsen nicht
mehr durchgesetzt werden können. Auf dem
Mietmarkt finden Menschen, die keine Spitzen-
gehälter verdienen, derzeit kaum Wohnraum.

100      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Die Lage von Geflüchteten ist noch prekärer: Wohnraum Autonomie und Normalität ermög-
Viele sitzen auch aufgrund des Mangels an licht und ein Grundbedürfnis von Geflüchteten
Wohnraum nach wie vor in Gemeinschaftsun- ist, haben auch andere Untersuchungen
terkünften fest. Die dort herrschende Enge und festgestellt (vgl. z. B. Vertovec et al. 2017).
die fehlenden Rückzugsmöglichkeiten erzeugen Das zeigt, wie wichtig es ist, dass möglichst
Konflikte, die durch die Profitorientierung man- schnell möglichst viele Menschen aus den
cher Unterkunftsbetreiber und die Reglemen- Sammelunterkünften ausziehen können. Es ist
tierung durch Security-Firmen weiter verschärft die zentrale Weichenstellung und entscheidet
werden. Die Lager entfalten eine »gefährliche mit darüber, ob das Ankommen gelingt. Doch
soziale Wirkung« (Lebuhn 2016) und die allein in Berlin fehlen nach den Berechnungen
psychosoziale Situation ist für Menschen mit des Senats rund 19 000 Wohnungen für woh-
und ohne posttraumatische Belastungen pro- nungslose Menschen, zu denen Geflüchtete
blematisch. Wann und wie (schnell) Menschen gezählt werden. Es müssen also sehr schnell
aus den Lagern herauskönnen, wird durch eine sehr viele Wohnungen errichtet werden.
Vielzahl von Gesetzen auf Bundes-, Landes-
und lokaler Ebene reguliert (El-Kayed/Hamann
2018). In den Lagern leben Menschen zum ULRIKE HAMANN ist Sozialwissenschaftlerin am Ber-
Teil seit 2015 unter Wohnbedingungen, die für liner Institut für empirische Integrations- und Migra-
tionsforschung (BIM) an der Humboldt-Universität
den Ausnahmefall gedacht waren. Es werden
und aktiv in stadtpolitischen Bewegungen.
abhängig vom Bundesland Wohnflächen zwi-
schen 4 und 7,5 Quadratmetern zugestanden, in
geteilten Zimmern, in denen keine Privatsphäre
herrscht. Allein in Berlin sind derzeit knapp MÖGLICHKEITEN DES NEUBAUS
22 000 Menschen in Unterkünften statt in VON WOHNUNGEN
Wohnungen untergebracht und jeden Monat Für den beschleunigten Neubau wurden zwei
kommen 650 Geflüchtete neu an.1 wesentliche gesetzliche Änderungen vorge-
Die Aussagen von Geflüchteten zu ihrer nommen. Erstens wurde 2014 im Baugesetz-
eigenen Lage finden nur selten den Weg in buch eine befristete Änderung eingeführt
die öffentliche Debatte. In Berlin wurden in (§ 246 Absatz 10 BauGB), die es ermöglicht,
Expertengesprächen mit Geflüchteten unter der auch Flächen zu bebauen, die nicht für
Leitung der Senatsverwaltung für Integration, den Wohnungsbau ausgewiesen sind, wie
Arbeit und Soziales Eckpunkte für eine »gelun- etwa Gewerbegebiete. Hier dürfen aber nur
gene Integration« festgelegt. Der lange Verbleib »Aufnahmeeinrichtungen, Gemeinschafts-
in den Unterkünften und die Schwierigkeiten, unterkünfte oder sonstige Unterkünfte für
eine Wohnung zu finden, wurden darin als Flüchtlinge oder Asylbegehrende« entstehen.
das zweitwichtigste Integrationshindernis Dieses sogenannte Flüchtlingsbaurecht schafft
genannt (noch vor der Arbeitssuche und nach beschleunigte Baumöglichkeiten für eine
dem unklaren Aufenthaltsstatus)2. Dass eigener spezifische Personengruppe. Richtige Woh-

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     101


Some human nungen auch für andere Personengruppen den jeweiligen Nachbarschaften von staatli-
können erst entstehen, wenn die Bebauungs- chen Stellen übergangen werden können.
pläne geändert werden (Berliner Morgenpost, Eine zweite Gesetzesänderung beeinflusst
10.9.2018). die Qualität der neuen Unterkünfte. Die
Von Bedeutung sind hierbei zwei Rah- Änderung im Bundeshaushaltsgesetz sieht
menbedingungen: Erstens gilt diese Änderung verbilligte Baumöglichkeiten nur für ganz
der Baugesetzgebung nur bis Ende 2019. bestimme Formen der Nutzung vor: wenn
Zweitens ist sie im Sinne der »öffentlichen für Geflüchtete gebaut wird sowie wenn
Belange« durchsetzbar, die mit »nachbarlichen es sich um sozialen Wohnungsbau oder
Interessen« vereinbar sein sollen. Jedoch wird soziale Infrastruktureinrichtungen handelt.
auch hier gewichtet: »Angesichts der nationa- Die Neubauten für Geflüchtete, bekannt als
len und drängenden Aufgabe bei der Flücht- »Modulare Unterkünfte für Flüchtlinge«
lingsunterbringung ist Nachbarn vorüberge- (MUF) oder MUF 2.0, entsprechen dem Sozi-
hend auch ein Mehr an Beeinträchtigungen alwohnungsstandard. Viele Architekt*innen
zuzumuten (OVG Hamburg, Beschluss vom und wohnungspolitische Akteure kritisieren
12.1.2015 – 2 Bs 247/14)« (Bunzel 2015). Das trotzdem eine Substandardisierung, in der
bedeutet, dass Wünsche oder Forderungen aus Bauweise, der mangelhaften Ausstattung und

102      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


den Grundrissen (vgl.
Berner 2018). Zudem ist
angesichts der Wohnungs-
knappheit unklar, wer
von der Errichtung der
zentral geplanten Bauten
profitiert. So waren etwa
in Berlin die ersten MUFs
auf »scheinbar unerklär-
liche Weise [...] teurer als
reguläre Neubauwohnun-
gen« (ebd.).
Es geht also einer-
seits um eine Frage, die
sich Stadtregierungen
schon länger stellen müs-
sen: Wie entsteht in den Großstädten schnell Interessen übertrumpfen. Es stellt sich ekvidi

preiswerter, guter Wohnraum? Eine zweite jedoch die Frage, welche Konflikte vor Ort
wesentliche Frage, die sich daran anschließt, entstehen, wenn die Nachbarschaft gegen den
richtet sich an die gesamte Stadtgesellschaft: Bau einer Unterkunft für Geflüchtete ist. Um
Wo ist Platz für neue Wohnungen für Geflüch- gegenwärtige und zukünftige Konflikte zu
tete? Die Anzahl städtischer Grundstücke ist verstehen, ist es hilfreich, sich anhand zweier
auch durch die neoliberale Privatisierungs- Fallbeispiele die Gründe näher anzuschauen,
welle der 1990er und 2000er Jahre minimiert die von Nachbar*innen genannt werden, die
worden. Die verbleibenden Freiflächen sind sich gegen die Art oder Größe einer neuen
umkämpft und selten ungenutzt. Unterkunft für Geflüchtete aussprechen.
Dabei wurde bewusst kein Beispiel aus einer
KONFLIKTE IN DEN NACHBARSCHAFTEN kleineren oder mittelgroßen Stadt ausge-
Die Neubaupläne treffen auf lokale Nachbar- wählt, wo der Druck auf dem Mietmarkt oft
schaften, für die die schnelle Unterbringung geringer ist und sich die Proteste häufiger in
möglichst vieler Menschen in möglichst rassistischen »Nein-zum-Heim«-Kampagnen
kurzer Zeit nicht unbedingt Priorität hat. äußern, sondern mit Berlin und Hamburg
Für die Nachbar*innen ist zentral, welche zwei Großstädte mit sehr angespanntem
Verdrängungsprozesse ohnehin schon Wohnungsmarkt.
stattfinden und auf welche Weise sich die In Hamburg hat sich 2016 ein Dach-
Nachbarschaft durch ein solches Vorhaben verband der Initiativen für erfolgreiche
verändern wird. Zwar kann der öffentliche Integration (IFI) gegründet. Darin haben sich
Versorgungsauftrag die nachbarschaftlichen Initiativen aus überwiegend wohlhabenden

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     103


Stadtvierteln wie Klein Borstel, Eppendorf geplanten Bau von 500 Wohneinheiten für
oder Neugraben-Fischbeck zusammengetan, Geflüchtete. Eine Anwohnerinitiative hat sich
die sich gegen die geplante Errichtung von in einem offenen Brief gegen die Errichtung
Unterkünften für Geflüchtete wehren. Ihre der Wohnungen gewandt und nennt dafür
Argumente sind: der Wunsch nach dem Erhalt wie in Hamburg vielfältige Gründe. Es wird
von Naherholungsflächen, fehlende Infra- der Wunsch formuliert, die Integration von
struktur für die plötzliche Aufnahme so vieler Geflüchteten in den Kiez zu ermöglichen,
Menschen und die mangelnde Bürgerbeteili- zugleich aber auf die Gefahr der Verdrängung
gung bei der Flächenauswahl sowie eine ge- des ansässigen Gewerbes und den Verlust von
nerelle Intransparenz des Auswahlverfahrens. Grünflächen hingewiesen. Zudem wird eine
Die Initiativen forderten als Konsequenz, wei- Umweltverträglichkeitsstudie eingefordert.
tere »Unterbringungsalternativen zu suchen« Zentraler Kritikpunkt ist jedoch, dass bei der
und »statt Provisorien [...] die Angebote an geplanten Anzahl von 500 Wohnplätzen von
preiswertem Wohnraum in öffentlicher Hand einer Doppelbelegung der Zimmer auszuge-
[zu] erweitern und in Zukunft zu sichern«.3 In hen sei, also eine Gemeinschaftsunterbrin-
ihrem Protestschreiben fordern sie, Lösungen gung statt »Wohnraum für Geflüchtete und
zu finden, »die von den Bürger*innen des Verdrängungsgefährdete« (Offener Brief 2019)
Stadtteils und den Institutionen der Zivilge- geschaffen werde. Es wird gefordert, eine am
sellschaft getragen werden«. Der Verband Bedarf der Geflüchteten orientierte Infrastruk-
plante 2016 einen Volksentscheid gegen den tur aufzubauen und die Anwohner*innen an
Bau von Großsiedlungen für Geflüchtete. Als der Planung zu beteiligen. Der zuständige
Reaktion handelte die Stadt Hamburg mit ihm Bezirk gab daraufhin eine Machbarkeitsstudie
sogenannte Bürgerverträge aus,4 in denen in Auftrag, die in einem für die Nachbarschaft
ein Mindestabstand zwischen den Bauten transparenten Verfahren zwei Varianten der
sowie eine Obergrenze von 300 Personen für Bebauung vorschlägt, wobei jedes Gebäu-
die Unterkünfte festgelegt wurden. Zudem de Platz für 250 Menschen bieten würde
konnte der Verband mit den Spitzen der (Heiglmeir/Rock 2019). Diese Zahl ist jedoch
Regierungsparteien aushandeln, wie viele weiterhin nur mit einer Doppelbelegung von
Unterkünfte pro Stadtteil gebaut werden Zimmern zu erreichen, die dem Unterbrin-
und wie transparent und partizipativ dieser gungsstandard des Senats entspricht.
Prozess vonstattengehen soll. Der Vertrag ist
zwar nicht bindend für die Verwaltung, es KONFLIKTKONSTELLATIONEN
muss jedoch jährlich im Stadtparlament über In Hamburg hat sich das Bündnis Recht auf
die Umsetzung berichtet werden. Stadt zu dem drohenden Volksentscheid der
In einer Nachbarschaft in Berlin, die Initiativen für erfolgreiche Integration (IFI)
weniger wohlhabend und wesentlich reicher kritisch positioniert. Es greift dabei einerseits
an Migrationsgeschichten ist, gibt es einen den »Notstandsurbanismus« der Stadt an,
gänzlich anders gelagerten Streit um den die Containerdörfer zur Unterbringung von

104      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Geflüchteten errichtet. Zugleich kritisiert das zum Beispiel Ausbildungsplätze für
das Bündnis aber, dass der Volksentscheid Geflüchtete anbieten soll. Diese Pläne liegen
unter dem Anschein direkter Demokratie jedoch auf Eis. Die Senatsverwaltung für
genau diejenigen ausschließe, die am meisten Finanzen will nun das Grundstück von seiner
betroffen sind: die nicht wahlberechtigten landeseigenen Immobilienfirma, der Berlinovo
Geflüchteten. In zehn Punkten argumentiert Grundstücksentwicklungs GmbH (BGG),
das Bündnis, dass die »Not der Geflüchteten entwickeln lassen – eine Ankündigung, die die
[...] keinen Aufschub« dulde, sondern »so Sorge der Anwohner*innen vor einer Verdrän-
schnell, so viel, so zentral, so hoch wie eben gung des Gewerbes durch hohe Pachtpreise
nötig und möglich« gebaut werden müsse. verstärkt (vgl. Jensch 2019).
Die genannten Vorschläge der IFI seien dazu Aus den beiden Fallbeispielen Hamburg
keine Alternative und ein Referendum würde und Berlin, wo um den Neubau für Geflüch-
lediglich »die deutsche Notstandshysterie tete gerungen wird, lässt sich vor allem eins
anheizen«. Zudem zögen solche Kampag- schließen: Es ist nicht einfach. Die Debatte
nen Rechtspopulisten und Rassisten an. Es verläuft quer zu den traditionellen politischen
gebe schließlich kein »Flüchtlingsproblem«, Lagern. Während die Anwohnerinitiativen in
sondern ein Wohnungsproblem, und auch Hamburg von dem bewegungslinken Recht-
Geflüchtete hätten ein »Recht auf Stadt«. auf-Stadt-Bündnis kritisiert werden, das für
Eine »lokale Obergrenzen-Diskussion« sei das möglichst schnelle Bauen von möglichst
zu vermeiden, da es, egal wo gebaut werde, vielen Wohnungen eintritt, kommt die Anwoh-
immer Anwohner*innen geben würde, »die nerinitiative in Berlin aus einem ähnlichen
das für unzumutbar halten« (Recht auf Stadt Spektrum wie das Hamburger Recht-auf-
Hamburg, 2016). Stadt-Bündnis und wird von der FDP für
In Berlin wurde der Anwohnerinitiative seine Abwehrhaltung kritisiert. Jenseits von
in der Bezirksverordnetenversammlung von politischem Lagerdenken zeigt sich, dass Nach-
der FDP entgegengehalten, eine solidarische barschaften in Städten, die seit Jahrzehnten
Nachbarschaft könne auch 500 Menschen auf- den neoliberalen Stadtumbau erleben, unter
nehmen. Die Anwohner*innen entgegneten, starkem Verdrängungsdruck stehen. Entspre-
dass sie nicht bereit seien, weiter ehrenamt- chend haben sie wenig Ressourcen, darüber
lich staatliche Integrationsaufgaben zu über- zu sprechen, wie sich »so viel und so hoch wie
nehmen. Derzeit werden weitere Standorte nötig« bauen ließe. In den Stadtteilen, wo die
im Bezirk geprüft; jeder Berliner Bezirk muss Gewinner*innen des neoliberalen Stadtum-
1 000 Unterbringungsplätze schaffen. Das von baus leben, werden Unterkünfte für Geflüchte-
den Bewohner*innen vertretene Baukonzept te womöglich auch als Bedrohung der Grund-
sieht Platz für 125 Geflüchtete vor, dafür aber stückswerte angesehen, was jedoch nicht laut
Wohnungen für Menschen mit verschiedenen geäußert wird. In anderen Nachbarschaften,
Hintergründen und eine Einbindung des von wie im Berliner Beispiel, wird um solidarische
Verdrängung bedrohten lokalen Gewerbes, Lösungen für alle gerungen. Die Kontroverse,

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     105


wo neuer Wohnraum für Geflüchtete entste- Anleger mit riesigen Steuersubventionen für
hen soll, zeigt eine komplexe Gemengelage die Schaffung von temporär bezahlbarem
von zum Teil entgegengesetzten Interessen Wohnraum zu belohnen (siehe Holm in
und es entstehen Konkurrenz und Konflikte diesem Heft), sollten die Förderprogramme
um die Nutzung geschrumpfter Ressourcen. vor allem kommunale Wohnungsbaugesell-
Wer sich am Ende durchsetzt, hängt von den schaften stützen bzw. sollte die Mittelvergabe
jeweiligen Machtverhältnissen ab. zumindest an die Gemeinwohlorientierung
der Bauträger geknüpft sein. Staatliche
WILLKOMMENSBEDINGUNGEN Fördergelder sollten immer zu dauerhaften
Doch wie ließe sich das Problem angehen? Belegungsbindungen führen.
Welche juristischen, wohnungspolitischen Auf der Landesebene müssen Alternati-
und stadtgesellschaftlichen Bedingungen ven zum »Notstandsurbanismus« entwickelt
wären wichtig, um die urbanen Kieze unter werden. Denn die Menschen können nicht
den jetzigen Bedingungen willkommensfähig wirklich ankommen, wenn ihre Wohnsitua-
zu machen? tion immer nur temporär ist, zugleich aber
Es ist notwendig, den »Notstandsur- ihr Recht auf Mobilität und freie Ortswahl
banismus«, der seit 2014 Konzepte für die durch die sogenannte Wohnsitzauflage
Unterbringung Geflüchteter leitet, hinter sich eingeschränkt ist (vgl. El-Kayed/Hamann
zu lassen und die damit geschaffenen Wohn- 2016). Umzäunte Unterkünfte, Wachschutz
bedingungen zu kritisieren. Auf Bundesebene und Pförtner*innen, die Bewohner*innen im
müssen die rechtlichen Rahmenbedingungen schlimmsten Fall reglementieren und terro-
so verändert werden, dass beschleunigte risieren, verschärfen diese Sondersituation
Baurechtsverfahren nicht nur für standardi- (vgl. Flüchtlingsrat Berlin e. V. 2018, 11). Von
sierte Unterkünfte, sondern auch für guten daher braucht es staatliche Wohnkonzepte,
Wohnraum möglich sind. Kommunen, die die reguläre Mietverträge auch für geflüchtete
Wohnungen für Geflüchtete schaffen, müssen Bewohner*innen vorsehen, statt neue Ver-
beim Ausbau ihrer Infrastruktur unterstützt träge für Betreiber von Gemeinschaftsunter-
werden. Selbstverständlich benötigen mehr künften. Nur so erhalten Geflüchtete gleiche
Menschen auch mehr Kita-, Schul- und Mieterrechte und sind nicht der Willkür von
Ausbildungsplätze. Sie erhöhen zudem den Betreiberunternehmen ausgeliefert.
Bedarf an medizinischer Versorgung, einem Um in den Nachbarschaften Bedingungen
gut funktionierenden öffentlichen Personen- zu schaffen, die ein gutes Ankommen der
nahverkehr sowie an sozialen Begegnungsor- Geflüchteten ermöglichen, müssen Stadtregie-
ten und Gewerberäumen. Dies erfordert ein rungen den Verdrängungsdruck ernst neh-
Ende der Austeritätspolitik und eine staatliche men, der auf den Anwohner*innen lastet, und
Förderung der sozialen Infrastrukturen. Um dürfen das »Recht auf Stadt« der einen nicht
nicht die Fehler des sozialen Wohnungsbaus gegen das der anderen ausspielen. Sie sollten
der 1970er Jahre zu wiederholen und private vielmehr die Bereitschaft zur Solidarisierung

106      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


fördern. Gleichwohl sind in den Debatten mit dem keine Verdrängung einhergeht, aber
nicht alle Akteure gleich(-berechtigt). Die durchaus eine Veränderung des nachbar-
schon sichtbaren Akteure in Kiezen und Kom- schaftlichen Lebens.
munen können versuchen, den Kreis der Be-
LITERATUR
teiligten zu erweitern, die Geflüchteten selbst Berner, Laura, 2018: Teure Zwischenlösung MUF. Gute
als Akteure ernst nehmen und ihre Stimmen Wohnungen für alle statt neuer Substandard und Wohn-
heime, in: MieterEcho 396, www.bmgev.de/mieterecho/
stärker einbeziehen: Welche Wünsche haben archiv/2018/me-single/article/teure-zwischenloesung-
Menschen nach der Flucht an ihre Wohnsitua- muf.html
Bunzel, Arno, 2015: Erleichtertes Baurecht für Flüchtlingsun-
tion? Wie können geflüchtete Bewohner*innen terkünfte, Difu-Berichte 4/2015, https://difu.de/publika-
frühzeitig in die Planung einbezogen werden? tionen/difu-berichte-42015/erleichtertes-baurecht-fuer-
fluechtlingsunterkuenfte.html
Das erfordert auch einen (selbst-)kritischen El-Kayed, Nihad/Hamann, Ulrike, 2016: Wohnsitzauflage
Blick auf die Beteiligungsprozesse: Wer kann fördert nicht die Integration, in: Mediendienst Integrati-
on, 5.7.2016
partizipieren (und wer nicht?) Wer gilt als El-Kayed, Nihad/Hamann, Ulrike, 2018: Refugees’ Access to
Akteur, wer als Betroffene? Wer kann wie Housing and Residency in German Cities: Internal Border
Regimes and Their Local Variations, in: Social Inclusion
die eigenen Interessen artikulieren? Welche 6(1), 135–146
Berücksichtigung finden der Zeitdruck und die Flüchtlingsrat Berlin e. V., 2018: Wohnungen für alle statt
immer neuer Obdachlosenunterkünfte, Berlin
Notsituation von Geflüchteten? Heiglmeier, Anna/Rock, Frieder, 2019: Ratiborareal Kreuz-
berg. Kooperative Machbarkeitsstudie, Berlin
Schließlich ist es wichtig, nach Wohn-
Jensch, Nele, 2019: Unterkünfte für Geflüchtete: Initiative
formen und Lösungen zu suchen, die den Ratibor 14 ist »sauer und enttäuscht«, in: Der Tagesspie-
gel, 21.2.2019
unterschiedlichen Bedürfnissen Rechnung Kasparek, Bernd/Speer, Marc, 2015: Of Hope. Ungarn und der
tragen. Welche Art des Wohnens schafft neue lange Sommer der Migration, https://bordermonitoring.
eu/ungarn/2015/09/of-hope/
Stigmatisierungen und schlimmstenfalls Lebuhn, Hendrik, 2016: Gemeinschaftsunterbringung
Traumatisierungen? Kann es, wie in den Geflüchteter? Eine falsch gestellte Frage, in: LuXemburg-
Online, April 2016, www.zeitschrift-luxemburg.de/
Debatten vielfach behauptet, zu viel Mi- gemeinschaftsunterbringung-gefluechteter-eine-falsch-
gration für einen Stadtteil geben, und wenn gestellte-frage/
Offener Brief, 2019: Offener Brief an den Bezirksstadtrat von
ja, wie viel ist zu viel und wer bestimmt Friedrichshain-Kreuzberg Florian Schmidt bezüglich der
das? Müsste nicht viel eher gefragt werden, Bebauung des Areals Ratiborstraße 14 in 10999 Berlin
Recht auf Stadt Hamburg, 2016: Migration findet Stadt.
welche zusätzliche Infrastruktur Menschen Gegen die Hysterie – für eine andere Planung, www.
mit Fluchterfahrung brauchen und ob die gwa-stpauli.de/fileadmin/img/dokumente/Migration_fin-
det_Stadt.pdf
bestehenden Angebote dies leisten können Vertovec, Steven et al., 2017: Addressing the diversity of asy-
oder aufgestockt werden müssen? lum-seekers’ needs and aspirations, Max Planck Institute
for the Study of Religious and Ethnic Diversity, Göttingen
Letztlich stellt sich nicht mehr die Frage,
ob sich die Städte und Nachbarschaften nach
1 Vgl. www.berlin.de/laf/wohnen/allgemeine-informatio-
dem »Langen Sommer der Migration« 2015 nen/aktuelle-unterbringungszahlen/artikel.630901.php 2
(Kasparek/Speer 2015) verändern werden oder 2 Vgl. www.berlin.de/koordfm/assets/newsletter/newslette
rfluchtlingsmanagementnr.2koordfmsenias.pdf, S. 11.
nicht, sondern die Frage, welche Bedingungen 3 Vgl. Eppendorfer Konzept zur Flüchtlingsunterbringung
unter www.gute-integration.de/.
geschaffen werden müssen, um ein gutes
4 Vgl. www.gute-integration.de/b%C3%BCrgervertr%
Ankommen zu ermöglichen. Ein Ankommen, C3%A4ge/.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019      107


BLÜHENDE LANDSCHAFTEN
UND WOLFSERWARTUNGS-
GEBIETE
WAS ES HEISST, IN RECHTEN RÄUMEN POLITIK ZU MACHEN

KERSTIN KÖDITZ Gelegentlich verfestigt sich mein Verdacht,


im Navi sei eine geheime Zusatzfunktion
installiert worden, ein Tool, ausgerichtet
darauf, in unregelmäßigen Abständen zu
überprüfen, ob ich als Fahrerin noch auf-
merksam genug bin, meinen Weg fortzuset-
zen. Ohne ersichtlichen Grund fordert mich
es mit freundlich-ruhiger, aber entschiedener
Stimme auf: »Drehen Sie, wenn möglich,
um!« »Ja«, seufze ich dann oft, »umdrehen
wäre eine Option. Möglich ist es aber gerade
nicht.« Und sinnvoll auch nicht, wenn das
Ziel gerade in jener Richtung liegt, vor der
mich das Navi eindringlich warnt.
Es könnte allerdings auch sein, dass es
sich bei dem Phänomen lediglich um eine
akustische Halluzination, um eine Art Fata
Morgana des Gehörs handelt. Denn beson-
ders oft tritt es auf, wenn mein Ziel in der
sogenannten Pampa liegt – in jenen Gegen-
den also weit ab von den Leuchttürmen, die
auf das Land ausstrahlen und es erhellen
sollen, wo die Landschaft im ewigen Vorfrüh-

108      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


ling verharrt und einfach nicht zu blühen tatsächlich alles Männer, sind ein Immobili-
beginnen will. Wenn ich zum Beispiel in enmakler, der durch die Parolen der Reichs-
Dörfer will – oder genauer und ehrlicher: bürger auffällt, und ein ehemaliger Gastwirt,
muss –, die demnächst wegen der Kohle im ein stadtbekanntes Original, der regelmäßig
doppelten Sinne des Wortes abgebaggert zum »Tag der Republik« die DDR-Fahne an
werden sollen – dorthin, wo sich der Wolf seinem Haus hisste und von dem inzwischen
wieder prächtig vermehrt. neben Klagen über seine soziale Misere vor
Dabei komme ich selbst aus ebendieser allem rassistische Hetze zu vernehmen ist.
Pampa. Konkret: aus einer ehemaligen Kreis-
stadt am Rande des Speckgürtels von Leipzig, LINKE GEHEN, RECHTE BLEIBEN
die nach zahllosen Eingemeindungen heute DIE LINKE ist, was ihre Wahlergebnisse
rund 30 000 Einwohner*innen zählt. Damit angeht, stabil. Überall im ländlichen Raum
gehört sie noch zum privilegierten Teil der von Sachsen liegen diese leicht unter dem
sächsischen Pampa. Zwei Jahrtausendhoch- Landesdurchschnitt. Noch bedeutet das den
wasser hat der Ort innerhalb von nur zehn
Jahren überstanden. Sogar ein Kino gibt es
noch, vor nicht allzu langer Zeit erfreuten KERSTIN KÖDITZ ist seit 2001 Mitglied des
sich die Bewohner*innen auch noch an Sächsischen Landtages und dort Sprecherin
der Fraktion DIE LINKE für antifaschistische Politik.
einer gut funktionierenden Innenstadt mit
vielen kleinen Geschäften. Heute nimmt der
Leerstand rasant zu. Viele der Läden konnten
nur existieren, weil die Inhaber zugleich die zweiten Platz hinter der CDU. Kommunal
Hausbesitzer waren und keine Miete zahlen befinden wir uns Kopf an Kopf mit der
mussten. Inzwischen sind viele alt, haben die CDU, was wenig Aussagekraft hat, da drei
Geschäfte aufgegeben und Nachfolger finden verschiedene, inhaltlich allerdings ähnlich
sich nicht. ausgerichtete Wählergemeinschaften zusam-
Es handelt sich, wie erwähnt, um die men fast über eine Zweidrittelmehrheit im
sächsische Pampa. Politisch heißt das, dass Stadtrat verfügen. Der Oberbürgermeister ist
die CDU zu allen Wahlen seit der Wende ein im Landesverband der Freien Wähler, die es
Stück Kohle hätte aufstellen können. Es wäre in den Landtag zieht und die sich als Kraft
direkt gewählt worden. Heute, kurz vor der zwischen CDU und AfD profilieren wollen.
Landtagswahl 2019, hat die CDU Konkurrenz Sie betreiben Propaganda mit der populisti-
bekommen, die ihre Hegemonie ernsthaft schen Verdammung von denen »da oben«,
bedroht. Die AfD kann jetzt das ernten, was den Parteien, »der Politik« ganz allgemein
die NPD in zehn Jahren Landtagsarbeit gesät und initiieren eigene Kampagnen mit
hat. Ihr schadet es nicht, dass sie vor Ort so rechten Inhalten, etwa für den Pegida-nahen
gut wie gar nicht präsent ist. Ihre bekann- Schauspieler Uwe Steimle oder gegen den
testen Kandidaten für die Kommunalwahl, UN-Migrationspakt.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     109


Das Wort Zivilgesellschaft ist hier ein bleiben sie und der alte braune Mief. Aber
Fremdwort. Die Einzelgewerkschaften wer will es jenen, die gehen, auch verden-
haben sich mit ihren Geschäftsstellen schon ken, dass sie gehen? Gerade in Sachsen gilt
vor mehr als zehn Jahren aus der Region noch immer der Spruch aus Feudalzeiten:
zurückgezogen. Gruppen wie Amnesty oder Stadtluft macht frei. In den größeren
Attac sind vor Ort nicht vorhanden. Ein Städten locken Viertel mit alternativer Kultur
Eine-Welt-Laden als Anlaufstelle? Fehlan- und Mobilität, in denen es sich (relativ)
zeige! Was bleibt, ist ein mehrfach ausge- sicher ohne Angst vor Naziübergriffen leben
zeichnetes selbstverwaltetes Jugendprojekt: lässt. Wer will es jungen Menschen verden-
das »Dorf der Jugend«, dem vom Jugendamt ken, dass sie das Problem eines Lebens ohne
des Kreises ebenso hartnäckig wie boshaft schnelles Internet eintauschen gegen das
bürokratische Knüppel zwischen die Beine Problem eines Lebens mit Gentrifizierung?
geworfen werden. Und die Kirche. Gerade Wer würde es nicht genießen, plötzlich
sie ist ein unverzichtbarer Bündnispartner mehr oder minder rund um die Uhr einen
im Kampf gegen die extreme Rechte, fällt funktionierenden öffentlichen Personen-
aber in der konservativ-pietistisch geprägten nahverkehr nutzen zu können, während
sächsischen Landeskirche nur allzu häufig im ländlichen Raum der letzte Bus in die
als solcher aus. Betätigen sich die jungen Nachbarstadt oft schon um 19 Uhr fährt?
Leute des Jugendzentrums gegen rechts, Gerade weil auf dem Land die kritische
intervenieren die Behörden gewöhnlich Masse fehlt, um die Verhältnisse dort zum
im vorauseilenden Gehorsam gegenüber Tanzen zu bringen oder zumindest in
der AfD mit ansonsten ungekannter Ge- einigen Bereichen positiv zu verändern,
schwindigkeit. Sie greifen zur stärksten zur stellen wir als Partei vor Ort die linke
Verfügung stehenden Waffe: dem Neu- Sammlungsbewegung dar. Wir führen keine
tralitätsgebot. Auch auf das Landesamt für Strategiedebatten darum, ob eher die sozial
Verfassungsschutz ist Verlass: Regelmäßig Ausgegrenzten in prekären Verhältnissen
warnt es, der Demokratie drohe Gefahr, oder die hedonistisch orientierten, urbanen
wenn »Linksextremisten« an einer Podiums- Bildungseliten unsere Zielgruppe sind. Man-
diskussion teilnähmen. gels Masse. Jeder, der oder die in der Provinz
Trotzdem sind wir privilegiert mit dem (und das ist in Sachsen der gesamte Frei-
»Dorf der Jugend«. Der Normalfall für die staat außerhalb der drei Großstädte Leipzig,
Linke und DIE LINKE in der sächsischen Chemnitz und Dresden) politisch aktiv ist,
Pampa sieht eher so aus, dass junge Leute weiß, dass Widerstand nur bei Bündelung
eine Zeitlang für ein Projekt oder gegen die aller vorhandenen Kräfte möglich ist. Und
rechte Hegemonie aktiv sind, dann Abitur dass wir für jede Hilfe dankbar sein müssen,
machen und zum Studium in die Großstadt die wir von außen bekommen können.
gehen. Jene, die zurückbleiben, sind im Aber es wäre zu schön, wenn nicht auch
Wortsinn die Zurückgebliebenen. Zurück das mit Problemen verbunden wäre. Denn

110      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


natürlich ist es problematisch, wenn das Kultur- und Politikveranstaltungen stattfin-
örtliche Zentrum für demokratische Kultur den. Aber selbst wenn dessen finanzielle und
dank entsprechender staatlicher Förderung personelle Ausstattung inzwischen nicht
über einige bezahlte Stellen verfügt, die dort mehr prekär ist, ist das alles keine Garantie
Beschäftigten jedoch verständlicherweise dafür, dass der Wind nicht plötzlich wieder
nicht vor Ort, sondern in der nahegelegenen umschlägt und die politischen Angriffe
Großstadt leben. Und natürlich macht es nunmehr durch Akteure erfolgen, die bisher
uns, den Zurückgebliebenen, Mut, wenn im örtlichen politischen Leben keinerlei Rolle
nach etlichen militanten Übergriffen auf gespielt haben.
Geflüchtete von außen eine Solidaritätsde-
mo organisiert wird – trotz massiver Hetze WURZEN IST ÜBERALL
vonseiten vieler Kommunalpolitiker*innen Ich will es konkret an einem Beispiel aufzei-
und der Medien und eines martialischen gen: Wurzen mit seiner ebenso bekannten
Polizeiaufgebots. Aber wenn diese Soli- wie unrühmlichen Vergangenheit als
darität übenden Menschen, die sich ins »national befreite Zone« ist glücklicherweise
sogenannte Wolfserwartungsgebiet gewagt nicht mehr das Wurzen von damals. Das dort
haben, wieder zurück in ihren Großstädten ansässige Netzwerk für demokratische Kultur
sind, dann sind die wenigen Ansässigen, die (NDK) ist heute sachsenweit eine der bekann-
sich mit ihnen auf die Straße getraut haben, testen zivilgesellschaftlichen Einrichtungen.
noch immer vor Ort. Mit dem Wissen, dass Heute wird es von der Stadtverwaltung nicht
sie von den Nazis ausgiebig gefilmt worden mehr als Gegner oder als Nestbeschmutzer
sind, dass sie selbst das nächste Angriffsziel gesehen, sondern als Partner, auch und
sein können. gerade bei der Arbeit mit Geflüchteten. Und
Alle, die geblieben sind, leben mit dem trotzdem steht das NDK unter Dauerbe-
Wissen, dass es eines sehr langen Atems schuss. Dazu bedarf es noch nicht einmal
bedarf, wenn man in der Kleinstadt oder der AfD, die in der Region bei Wahlen zwar
gar auf dem Dorf die Verhältnisse und das auf rund 30 Prozent der Stimmen kommt,
politische Klima verändern will. Manchmal aber vor Ort personell kaum vertreten ist.
gibt es Lichtblicke, wenn es zum Beispiel Die Rolle des Angreifers hat eine aus dem
gelingt, die rechte Hegemonie in einem Nichts aufgetauchte Bürgerinitiative nach
Kommunalparlament zu brechen und ein dem Vorbild von Pegida übernommen, an
offenes Stadtoberhaupt zu installieren; wenn deren ersten Veranstaltungen in der Klein-
es gelingt, die über lange Jahre im Stadtrat stadt bereits mehrere Hundert Menschen
vertretene NPD so sehr zu schwächen, dass teilnahmen. Hauptfeindbild war von Anfang
sie noch nicht einmal mehr zur Kommunal- an das NDK, gegen das eine Massenpetition
wahl antritt; oder wenn es gelingt, die Arbeit initiiert wurde. Keine der bisher bekannten
des lokalen Demokratiezentrums so zu Führungspersonen dieser Initiative war bis
verstetigen, dass dort regelmäßig alternative zu ihrer Gründung in der Stadt politisch

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     111


hervorgetreten. Motor ist ein Mann aus dem feste Gefahr von rechts ging. Irgendwann
kirchlichen Spektrum, der in den Vorwen- aber setzte sich sogar in Teilen der CDU die
dezeiten in Leipzig bei der damals entste- Erkenntnis durch, dass wir überall in Sachsen
henden Sozialdemokratischen Partei aktiv ein Problem mit der extremen Rechten ha-
war. Die Gruppe nennt sich »Neues Forum ben. Spätestens nach der Landtagswahl 2004,
für Wurzen« und tritt mit einer Liste aus als die NPD in den Landtag einzog und fast so
neun Personen in Konkurrenz zur ebenfalls stark wurde wie die SPD, konnte das eigent-
kandidierenden AfD zur Stadtratswahl an. Die lich niemand mehr leugnen. Die Landkarte
Mehrheitsverhältnisse könnten also wieder sprach eine deutliche Sprache: In fast der
kippen, die Stellung des NDK wieder einmal Hälfte aller Wahlkreise hatte die NPD besser
bedroht sein. als die SPD abgeschnitten. Es handelt sich
All dies wäre nur für Wurzen von Belang, ausnahmslos um Wahlkreise im ländlichen
wenn Wurzen ein Einzelfall wäre. Aber Raum, also jene Gebiete, die eigentlich durch
Wurzen ist überall. Es sind nicht vorrangig die Leuchttürme – die Großstädte – erhellt
die schlechten sozialen Verhältnisse, die werden sollen, die aber tatsächlich unter
hier diesen Backlash eingeleitet haben. Die Abwanderung und massiver Ausdünnung
Arbeitslosigkeit ist in Wurzen im Vergleich der Infrastruktur zu leiden hatten. Vor allem
zu den vergangenen finsteren Zeiten spürbar aber, und das wird gern vergessen, handelt
zurückgegangen. Es gibt Firmenansiedlun- es sich um Regionen, in denen es nicht nur
gen im nennenswerten Umfang und sogar keine Kneipe und keine Sparkasse mehr gibt,
Einpendler*innen, begünstigt durch eine gute sondern zudem keinerlei Zivilgesellschaft.
ÖPNV-Anbindung an die Großstadt Leipzig. Es sind leider die Nazis in der Oberlausitz,
Kommunaler Wohnraum steht ausreichend die dafür einen treffenden Slogan gefunden
und zu bezahlbaren Preisen zur Verfügung. haben: »Der Mensch geht, und die Wölfe
Bei weiterhin vorhandenen Problemen wie kommen.«
Überalterung und einer negativen demo- Diejenigen, die vor den Folgen dieser
grafischen Entwicklung unterscheidet sich Entwicklung warnten, wurden lange Zeit
Wurzen nicht erheblich von vergleichbaren als Nestbeschmutzer gebrandmarkt und
sächsischen Städten. Was hier vor allem geächtet, aus der Stadt- bzw. Dorfgemein-
blüht, sind autoritäres und undemokratisches schaft ausgeschlossen. Es bedarf wohl keiner
Denken, offen zur Schau gestellter Rassis- Erläuterung, weshalb ein solcher Ausschluss
mus, Vorurteile gegen Lesben und Schwule in der Provinz problematischer ist als in der
und natürlich der Hass auf die immer und Großstadt. Oft blieb es nicht bei dieser Form
überall viel zu wenigen, die sich dagegen des Angriffs, oft gesellte sich körperliche
engagieren. Gewalt hinzu. Die politische Dimension
Ja, Wurzen ist überall. In früheren Tagen dieser Gewalt wurde notorisch verdrängt. Es
war stets von Wurzen und der Sächsischen handele sich, so die beliebte These, lediglich
Schweiz zu hören, wenn es um die mani- um Auseinandersetzungen zwischen unter-

112      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


schiedlichen Jugendgruppen. Nichtrechte war es ihr erklärtes Ziel, »Ausländer und
Jugendliche waren die wichtigste Opfer- Zecken« zu vertreiben. Der Druck wuchs
gruppe der Nazischläger, die gerade in der und wuchs. Natürlich ist es müßig, in dieser
Provinz häufig die Hegemonie innehatten. Situation auf Blauhelmeinsätze der UN
Damals wäre noch ausreichend Polizei zum zu hoffen. Hoffnung konnten wir uns nur
Eingreifen vorhanden gewesen. Aber auch gemeinsam geben, wir mussten solidarisch
wenn die Zahl der Polizist*innen seitdem zusammenstehen, alle hinderlichen Unter-
deutlich abgenommen hat, unterscheiden schiede ignorierend. Die Navi-Aufforderung
sich die Erfahrungen jener Zeit nicht von den »Drehen Sie, wenn möglich, um!« hilft nicht,
Zuständen von heute. Es ist deutlich, dass wenn man sich schon an dem Ort befindet,
es in der Polizei ein strukturelles Problem den man eigentlich meiden soll. In solchen
mit Rassismus gibt, ebenso deutlich sind die Fällen ist eine Intervention von außen
Sympathien einer nennenswerten Zahl von unverzichtbar. Dann ist »die Antifa« das
Polizist*innen mit dem Gedankengut der Blauhelmkontingent. Und wenn dann, wie
extremen Rechten. Es ist auffällig, dass diese in Mittweida damals geschehen, fast 1 500
Affinität in bestimmten Einheiten wie Bereit- Antifaschist*innen am Sammelpunkt der
schaftspolizei, den »Beweissicherungs- und Demo stehen, dann kann es passieren, dass
Festnahme-Einheiten« (BFE) oder den »Spe- der über 70-jährigen Genossin, die ansons-
zialeinsatzkommandos« (SEK) ausgeprägter ten immer »Keine Gewalt!« fordert, fast die
zu sein scheint als bei Streifenpolizist*innen. Tränen in den Augen stehen, wenn über
Verlässliche Zahlen oder wissenschaftliche die Lautsprecher der Chumbawamba-Song
Erhebungen dazu fehlen jedoch. Unabhängig »Enough ist enough« mit der Textzeile »Give
davon aber besteht auf dem Land ein zusätz- the fascist man a gunshot« erklingt.
liches Problem, das die Lage verschärft. Der »Ach, wenn mir’s nur gruselte!«,
Personalabbau bei der Polizei und die langen wünscht der Held in dem »Märchen von
Anfahrtswege führen zwangsläufig dazu, dass einem, der auszog, das Gruseln zu lernen«
lediglich die Opfer vernommen werden kön- inständig. Doch aller Bemühungen zum
nen, es bei der Strafverfolgung aber hapert. Trotz will sich bei ihm das Gruseln nicht
Die Täter können sich so sicher fühlen. einstellen. Ich hätte ihm vorgeschlagen, zu
uns in die sächsische Provinz zu kommen.
WIDERSTAND IM WOLFSLAND Er hätte es schnell gelernt. Im Märchen
Auch dieses Problem mit der Polizei macht bekam er, nachdem er sich gegruselt hatte,
es immer wieder möglich, dass Regionen im die Königstochter und das halbe Königreich.
ländlichen Raum innerhalb weniger Monate In Sachsen bekäme er irgendwann eine
zu Schwerpunkten politisch motivierter solidarische Gesellschaft der Freien und
Kriminalität von rechts werden. Als die Gleichen, wenn er nur lange genug kämpft.
Kameradschaft »Sturm 34« im Kreis Mittwei- Keine leichtere Aufgabe, aber doch das
da und darüber hinaus ihr Unwesen trieb, lohnenswertere Ziel.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     113


DIE SEHNSUCHT NACH
DER STADT UND DIE FURCHT
VOR DER NICHT-STADT
WAS SCIENCE-FICTION MIT URBANER REALITÄT ZU TUN HAT

CHRISTOPH SPEHR Städte sind ein zentrales Element von


Science-Fiction, insbesondere im Film. Es
sind Orte dunkler Faszination und spekta-
kulärer Ästhetik. Manchmal ist die Stadt der
Schauplatz von autoritärer Kontrolle und so-
zialem Zusammenbruch. Dann wieder ist sie
eine Maschine der Veränderung, eine Fabrik
der Kreativität und Subversion, eröffnet neue
Möglichkeiten. Aber immer ist die Stadt der
Ort, wo man sein muss, wo »es« passiert.
Die wirkliche Dystopie ist die Welt
außerhalb der Stadt. Die Nicht-Stadt ist die
am meisten beunruhigende und verstörende
Zukunftsvision in der heutigen Science-Fic-
tion. Jenseits der Tore der Stadt liegt einfach
nichts. Da sind keine Dörfer, da gibt es kein
ländliches Umland, keine verheißungsvolle
Wildnis, nur Wüste und Ruinen. Die Nicht-
Stadt ist eine endlose, lebensfeindliche,
gesichtslose Einöde. So wird sie gezeigt in
»Land of the Dead« (2005), »Mockingjay«
(2014) und »Blade Runner 2049« (2017). Sie
bildet den äußeren Rahmen der Handlung in

114      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


»I, Robot« (2004) oder »Aeon Flux« (2005). gegen das Land: weg von Repression und
In »Equilibrium« (2002) heißt die Gegend Konsumwahn, hin zu alternativen Lebens-
außerhalb der Stadt «Nether« – ein Wort für formen. Aber seit den 1990er Jahren gehört
Unterwelt oder Hölle. all das der Vergangenheit an. Das Landleben
In der Nicht-Stadt kann man nicht leben. ist verschwunden. Die Stadt ist seither der
Die Umwelt ist zerstört, es gibt keinen Schutz einzige Ort in der Science-Fiction.
vor Gewalt, keine Hilfe, keine Versorgung. Es
ist, als ob die Stadt alle Luft an sich gezogen DIE FUTURISTISCHE STADT: VON METROPOLIS
hätte, wie ein Feuerball, neben dem man BIS ZUR DESURBANISIERUNG
erstickt. Die Stadt hat das Land ausgesaugt, Die Geburtsstunde der futuristischen Stadt ist
ihm alle lebensnotwendigen Ressourcen »Metropolis« von Fritz Lang (1927). Der Film
entzogen. Die hohen Mauern und überwöl- basiert auf dem zwei Jahre zuvor erschiene-
benden Glaskuppeln der Städte markieren die nen gleichnamigen Roman von Thea von
Grenze von Gesellschaft. Draußen kann man Harbou. Zwischen 1920 und 1933 waren
sich mit Glück eine kurze Zeit durchschlagen,
mehr nicht.
Das war nicht immer so. In vielen CHRISTOPH SPEHR ist Politiker und Autor. Bis 2015
Science-Fiction-Filmen und Romanen der war er Sprecher des Bremer Landesverbandes der
LINKEN. Von ihm erschien unter anderem »Die
1960er und 1970er Jahre fand das gute Leben
Aliens sind unter uns!« sowie »Volks-Autos und
außerhalb der Stadt statt. Die Vorstellung Kollontai-Höfe? Einstiege in einen grünen Sozialis-
eines modernen Arkadiens, einer antiurbanen mus 2030«.
Gegenwelt zu den Zwängen und der Enge
einer selbstzerstörerischen Zivilisation ist
ein wiederkehrendes Motiv dieser Zeit, von Harbou und Lang ein kreatives Traumpaar
»Flucht ins 23.Jahrhundert« (1976) bis zu der deutschen Kulturszene. Dann ging Lang
Margaret Atwoods »Geschichte der Dienerin« nach Amerika. Harbou, erklärte Anhängerin
(1985, 1990 verfilmt). In Doris Lessings »Die des NS-Regimes, blieb. Die visuelle und
Memoiren einer Überlebenden« (1974) treibt erzählerische Vision von Metropolis prägte
der Zusammenbruch der Zivilisation die die Vorstellung von der Science-Fiction-Stadt
Menschen aufs Land. »Ökotopia« von Ernest für lange Zeit.
Callenbach (1975) ist die Utopie einer de- Metropolis ist vertikal. Der Bruch mit
zentralisierten Gesellschaft, die keine Städte der horizontalen Dimension von Siedlung
mehr kennt. Carl Amerys »Der Untergang erschafft eine übersteigerte Version von New
der Stadt Passau« (1975) lässt die nomadische York, mit einem düsteren Flair von »Gothic«.
Zivilisation über die Stadt triumphieren. All Auch die Sozialstruktur ist vertikal: Die
das spiegelte reale Tendenzen der damaligen Reichen wohnen in Hochhäusern, während
Zeit. Viele Progressive, enttäuscht von der die Arbeiter unter Tage arbeiten und leben,
Entwicklung nach 1968, tauschten die Stadt wo riesige Maschinen die Stadt am Laufen

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     115


halten. Dem Film wurde kommunistische platz der Handlung, ist allerdings kein Ort der
Propaganda vorgeworfen, weil er die Grau- Freiheit. Sie ist ein Experiment in Verhaltens-
samkeit der Klassengesellschaft vorführte und kontrolle, in Social Engineering. Everytown
einen Aufstand der Arbeiterklasse zeigte. Die ist eine Erziehungsdiktatur, geleitet von
politische Botschaft von Metropolis ist aber der selbsternannten Avantgarde-Elite der
mehr faschistisch als sozialistisch. Lang zeigt »Airmen«. Erst nach hundert Jahren Erzie-
die Revolte als ein unverantwortliches, fehlge- hungsdiktatur sind die Menschen in der Lage,
leitetes Unterfangen. Die gespaltenen Klassen aus eigenen Stücken friedlich, aufgeklärt und
werden von einem »Mittler« versöhnt. Adolf fortschrittlich zu leben, und der Staat »stirbt
Hitler bewunderte Langs Film. ab«. Es ist eine staatssozialistische Utopie.
Die Stadt ist in Metropolis ein unheiliger Das Versprechen der futuristischen Stadt ist
Ort, ein neues Babel. Der Film zeigt die nicht Selbstbestimmung, sondern autoritär
Moderne als Zerfall, als Verlust der natürli- kontrollierter Wohlstand.
chen Ordnung, als Absturz in den Materia- In den 1930er Jahren prägten die Pulps,
lismus, in Gier und Aggression. Damit steht billig und massenhaft produzierte Sience-
Metropolis in einer langen Tradition von Fiction-Magazine, das Bild der futuristischen
»Urbophobie«. Seit es Städte gibt, wurden Stadt, allen voran das Monatsheft Amazing
sie dämonisiert und für jede gesellschaftliche Stories. Stromlinienform, glänzendes Chrom
Veränderung verantwortlich gemacht, mit und jede Menge technische Gimmicks machen
der die Autor*innen nicht übereinstimm- die Stadt der Zukunft aus, vermischt mit einer
ten. Die Linie des Anti-Urbanismus reicht Prise Art Déco. William Gibson nannte diese
von der Zerstörung Sodoms in Bibel und Ästhetik »das Gernsback-Kontinuum« (nach
Tanach bis zur Stadtfurcht der konterrevo- Hugo Gernsback, dem Gründer der Amazing
lutionären französischen Aristokratie, vom Stories) oder »Raygun Gothic« und beschrieb
US-amerikanischen Frontier-Mythos bis zum sie als bis heute wirksamen Traum von »einer
heutigen Rechtspopulismus, der die städti- Zukunft, die es nie gab«. Der Gernsback-Stil
schen Metropolen für ihre Libertinage und schuf das Chrysler Building (1932) und eine
Diversität ebenso hasst wie deshalb, weil das Reihe von kurvigen, metallglänzenden Tank-
»Establishment« dort wohnt. stellen und Kinos mit überkragendem Flach-
Aber es existiert auch eine parallele dach, die in den 1930er und 1940er Jahren
Tradition in der modernen Science-Fiction. überall in den USA entstanden. Aber es gab nie
In ihr erscheint die futuristische Stadt als eine Stadt, die in diesem Stil erbaut worden
Leuchtturm des Fortschritts: technologisch wäre. Glücklicherweise. Die Gernsback-Stadt
hoch entwickelt, vernünftig geplant und ist ein ökologischer Albtraum in Sachen Ener-
verantwortlich gemanagt. Als klassischer gieverbrauch, Ressourcenverschwendung und
Bezugspunkt dieser Traditionslinie gilt H.G. motorisiertem Individualverkehr, ob rollend
Wells' »The Shape of Things to Come« (1933, oder fliegend. Sie gehört in eine Zukunft, die
verfilmt 1936). Die Stadt Everytown, Schau- heute unglaublich von gestern ist.

116      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Bereits in den 1950er Jahren kam die futuristi- perschlange« (1981), zeichnete das Manhattan
sche Stadt aus der Mode. Die Stadt überhaupt der Zukunft als riesigen Hochsicherheitstrakt.
kam in Verruf, sie galt zunehmend als über- Nur in der feministischen Science-Fiction
holt. In Clifford Simaks Roman »City« (1952) der 1960er und 1970er Jahre herrschte eine
haben intelligente Hunde die Erde übernom- gewisse Ambivalenz und Balance vor, was
men, nachdem die Menschen sie verlassen die Stadt betraf. Ursula Le Guins »Planet der
haben, und rätseln über die archäologischen Habenichtse« (1974) zeigt die kapitalistische
Zeugnisse dieser Kultur: »Kein Wesen, das je- Stadt als Ort der Ungleichheit, der Gewalt
ne Stufe nervlicher Reizbarkeit entwickelt hat, und der Unterdrückung. Aber sie ist auch ein
die notwendig ist, um eine Kultur entstehen Ort des Wunderbaren, in einer sinnlichen
zu lassen, hätte in einer derartigen Enge über- Weise attraktiv mit ihrer Ansammlung von
leben können.« Die Stadt bei Simak ist »tot«, Zivilisation. Sie ist auf politische Weise inter-
»gescheitert«, »ein Anachronismus«, »ein essant und verführerisch, weil dort Konflikte
unmögliches Konzept«. In Simaks Zukunfts- sichtbar werden und Individualität möglich
vision ist sie verschwunden, dank fortschrittli- wird.
chen Transportmitteln und Automatisierung.
Es gibt einfach keinen Grund mehr dafür, DIE BEGEHRTE STADT:
irgendjemand oder irgendetwas physisch in VON »BLADE RUNNER« ZU DEN »FREE TOWNS«
ständiger Nähe zu haben. Nach »Blade Runner« (1982) war nichts mehr
Die Urbanisierung verlangsamte sich tat- wie vorher. Ridley Scotts Adaption des Ro-
sächlich in den 1960er Jahren. Um 1980 kam mans von Philip K. Dick veränderte das Bild
sie buchstäblich zum Erliegen, zumindest der Stadt in der Science-Fiction von Grund
fast. Abwanderung in die Vorstädte, Zerfall auf. Der Film schrieb die visuelle Grammatik
der Innenstadt, das Ende des wirtschaftlichen der futuristischen Stadt neu und holte die
Expansionszyklus nach dem Weltkrieg, die Stadt zurück ins Zentrum der Science-Fiction.
politischen Auseinandersetzungen und Eine Vision in Nacht und Neon, düster und
Straßenschlachten der 1968er-Revolte, die glänzend im ständigen Regen, inspiriert nicht
Rezession nach der Ölkrise 1973, Aufrüstung mehr von New York, sondern von Los Ange-
und Delegitimierung der politischen und öko- les, Hongkong und Tokio. Ein dystopischer
nomischen Eliten und ihrer innerstädtischen und faszinierender Ort, der unbestimmter
Symbolbauten: All das waren Bausteine einer bleibt und sich gleichzeitig viel realer anfühlt
realen Abkehr von der Stadt. Konservative als die klinische Optik der futuristischen
und Alternativkultur waren sich einig, dass Stadt der 1930er Jahre. Ein Mix verschiede-
die Stadt irgendwie unten durch war. Lou ner Kulturen, ein Labyrinth mit überfüllten
Reed träumte sich 1967 in »Heroin« »weg Straßenszenen, extremer Dichte und kurz
von der großen Stadt/wo ein Mensch nicht dahinter verlassenen Blocks und vergessenen
frei sein kann«. John Carpenter, in »Die Klap- Gebäuden.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     117


»Blade Runner« war maßgeblich vom Städte gleichermaßen alt und neu aus. Es sind
Cyberpunk beeinflusst, der wiederum faszi- keine utopischen Planstädte, sondern lebende
niert war von unkontrollierten, unregierbaren Organismen. »Dark City« (1998), wo sich die
Städten wie der »Walled City« in Kowloon, der Stadt über Nacht umbaut, ist die unheimliche
William Gibson in »Idoru« (1996) ein Denk- Version. In »Inception« (2010) dagegen ist die
mal setzte. Die andere Quelle war der Film Möglichkeit, einen bestimmten Ort in der Stadt
Noir der 1940er Jahre mit seiner radikalen zu verändern, damit zu spielen, ein Akt der Kre-
Konfrontation von Existenzialismus und Poli- ativität, eine sinnliche Versprechung. Die Stadt
tik, von Kontrolle und leiser Aufkündigung der ist der Schauplatz von Machtkämpfen, sozialen
Loyalität. »Blade Runner« übersetzte den Film Kämpfen und neuen Trends. Sie ist der Sitz von
Noir in die Science-Fiction. Seither ist die Stadt Macht und Gegenmacht, der Ort von Kontrolle
wieder die Zukunft. Sie ist der Ort, wo über die und der Möglichkeit, sich dieser zu entziehen.
Zivilisation entschieden wird, so oder so. Sie macht soziale Beziehungen sichtbar. In der
Die Frage, warum es um die Städte Stadt kann man Gesellschaft und ihre Machtver-
herum so trostlos aussieht, wird im aktuellen hältnisse anfassen, man kann sie sehen.
Sience-Fiction-Film meist mit dem Hinweis auf »Blade Runner« ist eine Geschichte
ökologische Krise und Staatszerfall beantwortet. über illegale Migration. Die »Replikanten«,
Aber das ist nicht die ganze Wahrheit. Es ist das gentechnisch hergestellte Androiden, sind
gesellschaftliche Begehren, das sich in neuer Arbeitssklaven ohne Rechte, eingesetzt in den
Ausschließlichkeit auf die Stadt richtet. Die äußeren Kolonien. Sie fliehen in die Stadt, um
Stadt ist wieder attraktiv, trotz all ihrer Proble- unterzutauchen. Sie folgen der Verheißung der
me. Sience-Fiction markiert diese Verschiebung Anonymität, die Baudelaire und Benjamin in
genauso wie die Bewegung des New Urbanism der industriellen Urbanisierung entdeckten.
im Städtebau. Sie entfaltet eine Qualität von Seither macht Stadtluft frei, ohne dass jemand
Gesellschaftlichkeit, die zwischen der engen die Erlaubnis dazu geben müsste.
sozialen Kontrolle, die mit dem Land assoziiert Marge Piercy durchbricht die Alternativ-
wird, und der totalen Anonymität liegt. In der losigkeit der einen Stadt in »Er, Sie und Es«
Stadt kann man sich treffen und für sich sein (1991). Neben Megalopolis gibt es die Free
und alles dazwischen. Der Essenshändler mit Towns, die Freistädte: kleiner, unabhängig,
seinem fliegenden Food Truck, bei dem Korben technologisch entwickelt. In dem Sience-Fiction-
Dallas in »Das fünfte Element« (1997) sein Comic »Trees« (2015) nehmen Warren Ellis und
Mittagessen kauft und sich aus dem Fenster Jason Howard den Faden auf mit Shu, einer
heraus mit ihm unterhält, ist eine Hommage an chinesischen Freistadt, einem Ort für künstle-
den Barmann des Film Noir: jemand, mit dem rische Freiheit, fließende Geschlechterrollen
man reden kann, weil er außerhalb des eigenen und persönliche Heilung. Visionen von Freiheit
sozialen Netzwerks steht. und Freiraum, von selbstbestimmten sozialen
Wie die am meisten begehrten Städte der Netzwerken und der freien Wahl individueller
wirklichen Welt sehen die neuen fiktionalen Lebensweisen sind zentral für die Idee der Stadt

118      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


in der derzeitigen Sience-Fiction – in völligem Belt der USA oder die ostdeutschen Regionen
Gegensatz zur aktuellen städtebaulichen Ent- mit Bevölkerungsschwund, Gegenden, die
wicklung, die sich dafür überhaupt nicht interes- von der allgemeinen Entwicklung zurückge-
siert. Die Stadt in der aktuellen Sience-Fiction lassen werden. Die Nicht-Stadt breitet sich in
ist ein umkämpfter Raum: zwischen Dystopie der Stadt aus. Als Verlust von Urbanität, wo
und Begehren, Kontrolle und Anarchie, Unter- die Straße durch die Mall ersetzt wird, der
drückung und Ermächtigung. Der blinde Fleck öffentliche Raum durch Privatisierung, die
aber ist die Nicht-Stadt. Und hier gibt es keinen städtische Toleranz durch den neuen Irratio-
Unterschied zur raumplanerischen Realität. nalismus.
Warum sollen jene Qualitäten, die das Zwischen beidem besteht eine Verbin-
Versprechen der Urbanität ausmachen, die in- dung. Die Freiheit der Stadt und der Export
dividuelle und kollektive Sehnsucht nach der von Urbanität hängen eng zusammen. In
Stadt, auf ein paar Riesenstädte beschränkt den USA wird offen darüber diskutiert, ob
sein? Die Entwicklung der Kommunikations- es eigentlich noch Dörfer und Kleinstädte
technologien und der Übergang zur globalen geben soll. Paul Krugman sagt, nein: »Es
Netzwerkproduktion verweisen darauf, dass war einmal eine Zeit […], da waren Klein-
diese extreme urbane Konzentration alles städte zentrale Orte, die eine überwiegend
andere als selbstverständlich ist. Der neue ländliche Bevölkerung versorgten« (New York
Run auf die Stadt ist nicht zuletzt Ausdruck Times, 30.12.2017) mit Information, Bildung,
einer neuen kollektiven Armut. Das »Nether« qualifizierter Arbeitskraft und Marktplätzen.
ist gemacht. Wir können oder wollen es uns Aber »in der modernen Ökonomie, die keine
nicht leisten, das öffentliche Gut »Urbanität« Verbindung zum Land mehr hat, existieren
breiter zur Verfügung zu stellen als nur in kleine Städte nur noch aufgrund von histo-
einigen wenigen hochverdichteten Zonen. rischer Kontingenz, die über kurz oder lang
Wir investieren nicht in die breite Verteilung ihre Bedeutung verliert.« (ebd.) Henry Grabar
von Infrastruktur, Verkehr, Dienstleistungen, erinnert daran, dass Theodore Roosevelt 1908
Produktion, Verwaltung und Kultur. Nicht die Revitalisierung der ländlichen Gebiete zur
weil es nicht möglich wäre, sondern weil es nationalen Aufgabe machte, mit viel Geld und
Investition und Anstrengung erfordern würde. letztlich erfolgreich. Der einzige Unterschied
Die Stadt ist alternativlos, weil der politische zu heute ist, dass sich kaum jemand für ein
Mut fehlt, privatisierten gesellschaftlichen derartiges Projekt starkmacht. Die wachsende
Reichtum anzutasten, um dezentrale Urbani- Stadt-Land-Spaltung ist ein globales Problem,
tät zu finanzieren. dem man sich nicht zuwendet. Die Mega-
Die Angst vor der Nicht-Stadt ist dort citys horten Urbanität und behalten sie für
besonders stark, wo die Stadt verloren geht. Es sich, was alle anderen als eine neue Form der
geht nicht nur um die Ruinen von Aleppo und Ausbeutung sehen. Damit haben sie Recht.
Mosul. Es geht genauso um Flint nach dem Die nächste Welle der Science-Fiction wird das
Wegzug von General Motors, um den Rust thematisieren.

STADT UND RAND | LUXEMBURG 2/2019     119


WER
SCHREIBT
GESCHICHTE?
RÜCKBLICKE
AUF DIE WENDEZEIT
GESCHICHTE?
SCHREIBT
WER
1989/90 war eine Zäsur in der deutschen Geschichte. Die Hoffnun-
gen auf eine Demokratisierung und Erneuerung des Sozialismus in
der DDR wurden schnell von den Ereignissen überrollt und gerieten
in ein neues Fahrwasser. Der Mauerfall, Wahlen, der Anschluss der
DDR an die Bundesrepublik, eine vorzeitige Währungsunion, die
Privatisierung der volkseigenen Betriebe, ein bis dato unbekann-
ter Anstieg der Massenarbeitslosigkeit sowie die Übernahme von
Führungspositionen durch Westdeutsche haben die (ost-)deutsche
Geschichte und die Biografien der in der DDR aufgewachsenen
Menschen nachhaltig geprägt und beschädigt. Die Wunden sind
kaum vernarbt und werden erst langsam anerkannt.
Aber auch die alte BRD, die manchen Ostdeutschen mit ihrer Rei-
sefreiheit und ihrem hohen Konsumniveau als Sehnsuchtsort galt,
veränderte sich. Der Neoliberalismus, entstanden aus der Krise
des Fordismus in den 1970er Jahren, entfaltete nun, wo er sich
ungehindert globalisieren konnte, seine volle Dynamik und setzte
die alte Wohlfahrtsstaatlichkeit der BRD massiv unter Druck.
Die deutschsprachige Gegenwartsliteratur hat diese Zäsur(en) in
sich aufgenommen und gespiegelt, ver-spiegelt oder zerr-spiegelt
ästhetisch verhandelt und die subjektive Seite der Ereignisse
von 1989/90 nachgezeichnet. Zahlreiche Romane haben die
Einzelgeschichten und Schicksale, die doch immer auch Typen
reflektieren und Allgemeines aussagen, erinnerlich gemacht: In-
go Schulze, Annett Gröschner, Regina Scheer, Clemens Meyer,
Jenny Erpenbeck, Erasmus Schöfer, Reinhold Andert, Christoph
Hein, Manja Präkels, Peter Richter, um nur einige zu nennen. Was
denken diese Schriftsteller*innen heute über die Ereignisse von
damals? Bewerten sie sie neu? Was hat sich damals eigentlich
verändert? Was ging zu Ende und was begann? Und was ist für
sie das Allgemeine hinter ihrem konkreten Schicksal?
Die Zeitschrift LuXemburg wirft einen Blick auf 30 Jahre seit
der Wende und die Folgen und beginnt ab diesem Heft mit einer
Reihe, in der Künstler*innen sich mit der Zäsur 1989/90 ausei­
nandersetzen.

    121
NEUNUNDACHTZIG NEUNZIG
INGO SCHULZE

Je unsicherer die Gegenwart, desto drängender das Bedürfnis, sich


in der Vergangenheit des eigenen Herkommens zu vergewissern.
Um das dreißigjährige Jubiläum der Friedlichen Revolution vom
Herbst 1989 zu feiern, gibt es grob gesagt zwei unterschiedliche An-
sätze. Der eine reduziert alles auf den 30. Jahrestag des Mauerfalls,
der andere begreift den Herbst als Prozess, in dem die Öffnung der
Westgrenze ein Meilenstein war, aber nicht der einzige.
Ich halte den zweiten Ansatz für den angemessenen. Die Ereignisse
der Friedlichen Revolution/des Umbruchs/des Herbstes 89 auf den
Mauerfall zu konzentrieren, ist allerdings das herrschen-
Wer vom Mauerfall spricht, de Deutungsmuster, nicht nur, weil ein Datum, ein Er-
hat den Westen schon im Boot. eignis griffiger ist als ein Prozess, es für den »Mauerfall«
Denn dorthin strömten die Menschen – Bilder und Reportagen gibt und der Begriff »Mauer« die
auch wenn der Großteil Qualität eines mythischen Elementes besitzt, also über
nach einigen Stunden wieder sich hinausweist. Zudem: Wer vom Mauerfall spricht, hat
nach Hause in den Osten zurückkehrte. den Westen schon im Boot. Denn dorthin strömten die
Menschen – auch wenn der Großteil nach einigen Stun-
den wieder nach Hause in den Osten zurückkehrte. An den Mauer-
fall lassen sich folgerichtig die späteren Stationen des Beitritts wie
an einer Perlenschnur reihen: Die Parteien im Osten treten den ent-
sprechenden Westparteien bei (die CDU mit erheblicher Verspätung,
aber umso effektiver, nur die SED-PDS blieb sitzen), man wählt die
Stellvertreter Kohls im Osten und wählt sie wieder und wieder. Die
D-Mark wird eingeführt und gefeiert, der politische Beitritt ist nur
ein lauer Nachvollzug der wirtschaftlichen Übernahme des Ostens
durch die Währungsunion. Den Rest erledigt die Treuhand. Es wird
Bedauern geäußert, vielerorts sei es hart gewesen, was aber der
Verweis auf die »marode« Wirtschaft im Osten und die Zwänge der
Marktwirtschaft entschuldigt, was ebenfalls stimmig ist, solange
man die Unvermeidlichkeit der Einführung der D-Mark samt ihres
Umtauschkurses voraussetzt. Damit ist das Geschehen abgehakt,

122    
historisch eingeordnet und für die Gegenwart nach dreißig Jahren
nicht weiter relevant, schon gar nicht, wenn man im Westen aufge-
wachsen ist und gelebt hat. Der Mauerfall als das Ende
eines Irrweges im östlichen Deutschland, der sich an die Staunend und fast ungläubig
zwölf Jahre des Tausendjährigen Reiches anschloss. Die habe ich im Herbst 89
Begleitmusik dazu lieferte leider Willy Brandt mit seinem die Veränderungen wahrgenommen,
schiefen Satz, dass nun zusammenwachse, was zusam- denn was da Tag für Tag geschah,
mengehöre, als wäre die deutsche Teilung eine Frage war schöner und befreiender und
der Natur und keine politische, soziale, ökonomische, weitreichender als alles, was ich
kulturelle. Einen noch fragwürdigeren Ausdruck fand zu träumen überhaupt gewagt hatte.
diese Ideologie im Abriss des »Palastes der Republik«
– ein genauso unsouveräner Akt wie der Abriss des zerbombten
Schlosses – und im Bau der Schlossattrappe in Berlins Mitte, die
nun Humboldt-Forum genannt werden will. Es ist der Sprung aus
Kaiserzeit und Weimarer Republik in die Gegenwart.
Die andere Geschichte ist meine Geschichte und die vieler anderer
– ob wir die Mehrheit bilden, weiß ich nicht. Das käme auf den Zeit-
punkt der Befragung und deren Formulierung an. Ich selbst musste
mir diese Geschichte erst erarbeiten, sie unter der Marmorplatte des
offiziellen Geschichtsbildes hervorzerren, wie etwas, das ich einmal
verloren und dann vergessen hatte, weil es nicht mehr sichtbar ge-
wesen war.
Staunend und fast ungläubig habe ich im Herbst 89 die Die Freiheit und Souveränität haben
Veränderungen wahrgenommen, denn was da Tag für wir Ostdeutsche, die sich damals noch
Tag geschah, war schöner und befreiender und weitrei- nicht so nannten, selbst erobert und
chender als alles, was ich zu träumen überhaupt gewagt sie mit großer demokratischer Mehrheit
hatte. Der Weg in einen demokratischen Sozialismus in Windeseile an die Bonner Regierung
schien unvermeidlich, selbst für jene, die ihn nicht für weitergereicht.
möglich gehalten hatten. Dementsprechend schockar-
tig wirkte der Abbruch dieses Prozesses auf mich. Eben hatten wir
noch darüber diskutiert, wie die Betriebe von den dort Arbeiten-
den übernommen werden könnten, als es mit der Einführung der
D-Mark nur noch darum ging, einen westlichen Partner zu finden,
um wenigstens einer Rumpfbelegschaft die Weiterbeschäftigung zu

    123
ermöglichen. Die Freiheit und Souveränität haben wir Ostdeutsche,
die sich damals noch nicht so nannten, selbst erobert und sie mit
großer demokratischer Mehrheit in Windeseile an die Bonner Re-
gierung weitergereicht. Das bedeutete: Eine Volkswirtschaft wurde
innerhalb weniger Monate auf den Markt geworfen. Das war, wie
vorauszusehen gewesen war, ihr Ende. Das Territorium der DDR
wurde zu einem staatlich hochsubventionierten Absatzmarkt, ohne
dass Konkurrenz hinzugekommen wäre.
Vier Aspekte sind mir heute besonders wichtig, wenn ich an die Zä-
sur von 89/90 denke. Zunächst die internationale Wirkung und die
teilweise unmerkliche Veränderung von Selbstverständlichkeiten in
jedem von uns, womit ich keinesfalls nur die Deutschen oder Euro-
päer meine. Betrachtet man Asien, insbesondere China,
Das Verschwinden einer sozialistischen Indien oder Vietnam, die arabische Welt, die afrikanischen
Alternative aus vielen Köpfen Staaten, die Amerikas, insbesondere Südamerika und die
aufgrund der 89er-Ereignisse Karibik – überall hat 89/90 auf eigene Art und Weise statt-
habe ich an mir selbst miterlebt, obwohl gefunden oder wurde reflektiert. Das Verschwinden einer
es mich von heute aus sehr verwundert. sozialistischen Alternative aus vielen Köpfen aufgrund
Denn die Austreibung des Stalinismus war der 89er-Ereignisse habe ich an mir selbst miterlebt, ob-
ja überhaupt erst die Voraussetzung für wohl es mich von heute aus sehr verwundert. Denn die
einen demokratischen Sozialismus. Austreibung des Stalinismus war ja überhaupt erst die
Voraussetzung für einen demokratischen Sozialismus.
Zweitens konnte erst nach dem Ende des Kalten Krieges und der
Blockkonfrontation der Kapitalismus tatsächlich global werden.
Drittens wird nicht nur der Widerspruch zwischen privaten Besitz-
verhältnissen und gesellschaftlicher Produktion immer deutlicher,
sondern auch die Unangemessenheit einer technologischen Ent-
wicklung, die wenige Eigentümer hat, aber alle betrifft. Google,
Amazon, Facebook, Microsoft etc. wie auch die avanciertesten
Technologien (Quantentechnik, Künstliche Intelligenz) werden pri-
vatwirtschaftlich betrieben und sind damit demokratischer Kontrolle
entzogen. Viertens war der Osten dem Westen in einem überlegen:
Er lebte nicht vom Süden. Im real existierenden Sozialismus wurde
die Umwelt im Vergleich zum europäischen Westen eher mehr als

124    
weniger ruiniert. Den Dreck, den die Herstellung unserer Produkte
verursachte, mussten wir selbst schlucken. Als Otto Schily nach der
Volkskammerwahl am 18. März 1990 mit einer Banane in der Hand
vor die Kamera trat, wollte er klarmachen: Die Ostdeutschen haben
sich für den entschieden, von dem sie sich den größten Wohlstand
versprechen. Ganz gleich, ob man ihn dafür kritisierte oder lobte,
alle taten so, als würden die Bananen an Rhein und Mosel wachsen.
Dass sie zu Preisen importiert werden, die denjenigen, die auf den
Plantagen arbeiten, kaum ein menschenwürdiges Dasein ermögli-
chen, spielte damals und spielt heute keine Rolle oder ist bestenfalls
eine Fußnote wert.
Einerseits habe ich die fatalistische Hoffnung, dass die Zuspitzung
der Verhältnisse ein Handeln bei Strafe des Untergangs erzwingt –
oder eben den quälenden Untergang in Raten. Anderer-
seits gibt es eine unbegründete, wilde, schöne Hoffnung, ... alle taten so, als würden die Bananen
die glauben möchte, der sanfte Zwang des besseren an Rhein und Mosel wachsen.
Arguments könnte sich auch gegen übermächtige Inte-
ressengruppen und ihre militärische und zivile Lobby durchsetzen.
Ein scheinbar abseitiges Pflänzchen dieser Hoffnung ist die Prove-
nienzforschung, die in den 1980 Jahren schon einmal in der Öffent-
lichkeit präsent gewesen ist, aber mit 1989 wieder verstummte. Sie
rekonstruiert die Umstände und Wege, unter denen die Kunstwerke
in unsere bewunderten Museen gelangten – um sie gegebenenfalls
an ihre alten Eigentümer zurückzugeben. Es ist das Eingeständnis
von Unrecht und Schuld und der Versuch, der eigenen Verantwor-
tung gerecht zu werden und zu heilen, was noch zu heilen ist. Es ist
ein hoffnungsvolles Zeichen, dass sich zumindest in diesem Bereich
ein Umdenken andeutet, das als Vorbild dienen und damit ein Muster
für die ganze Gesellschaft abgeben könnte. Dass die schärfste Aus-
einandersetzung zu diesem Thema in Deutschland ausgerechnet das
Humboldt-Forum betrifft, gibt der Reanimation der Schlossfassade
doch noch einen Sinn: Stellvertretend für ihre einstigen Bewohner
muss sie mit ansehen, wie deren Untaten der Prozess gemacht wird.
Ihr Inneres wird so schnell nicht zur Ruhe kommen.

    125
DIE ZERFETZTE FAHNE
ERASMUS SCHÖFER

Als die beiden damals mächtigsten Männer der Welt, Gorbatschow


und Bush, 1990 sich auf Malta lachend die Hände schüttelten, weil
sie das Ende der gegenseitigen Untergangsdrohung mit Atomraketen
beschlossen hatten, dachte ich, dass der Russe endlich den infernali-
schen Wettlauf um das höhere Vernichtungspotenzial zwischen Kapi-
talismus und Sozialismus durchbrochen hatte. Beide Mächte vernich-
teten in den folgenden Jahren einen großen Teil ihrer Atomraketen.
Mir schien meine lebensalte existenzielle Hoffnung auf den Sieg der
humanistischen Vernunft durch den Kommunisten erfüllt worden zu
sein. Ich wollte mit Gorbatschow glauben, dass der Kapitalist durch
dieses Friedensangebot vom Nutzen eines
Die hoffnungsvolle Sympathie, friedlichen Wettstreits zwischen den Staaten
die dem russischen Kommunisten bei den überzeugt worden sei.
antikommunistisch indoktrinierten Westdeutschen Die hoffnungsvolle Sympathie, die dem
entgegengebracht wurde, bekundete sich russischen Kommunisten bei den antikom-
am klarsten in der Koseform seines Namens. munistisch indoktrinierten Westdeutschen
Kein nordamerikanischer Präsident, nicht einmal Kennedy, entgegengebracht wurde, bekundete sich
erwarb je eine solche Zuwendung der deutschen am klarsten in der Koseform seines Namens.
Bevölkerung und ihrer politischen Öffentlichkeit. Kein nordamerikanischer Präsident, nicht
einmal Kennedy, erwarb je eine solche Zu-
wendung der deutschen Bevölkerung und ihrer politischen Öffentlich-
keit. Die Mehrheit der Menschen in der DDR allerdings glaubte lieber
Kohl und seinen Versprechungen, verwarf ihr sozialistisches Eigentum
und huldigte dem Gott Konsum.
Aber der trunkene Jubel der Massen Silvester 89 am Brandenburger
Tor war schon der Vorbote des Untergangs, den wir sahen im Rhein-
hausener Stahlwerk an der Flimmerkiste. Sie stiegen mutlos auf den
gelöschten Hochofen in der Nacht zu den Sternen – so endet mein
Roman von den »Kindern des Sisyfos« nach vier Bänden Kämpfen und
Niederlagen seit 68: »Manfred Anklam wies mit dem Strahl seiner star-
ken Lampe nach oben, zu der Kranhütte, über der tatsächlich der rote

126    
Fetzen flatterte. Und lachte mit ihnen.« Der Trotz der Verzweiflung? Das
war geschrieben fünfzehn verstummte Jahre nach dem Ausverkauf der
zerfetzten sozialistischen Realität in der DDR und der Sowjetunion. Da
war für mich geklärt, dass die Kommunisten noch nicht ihren eignen
Idealen vom freundlichen solidarischen Menschen entsprachen und
ihre Gegner Flotten mit noch gefährlicheren Flugzeugträgern auf die
Weltmeere schickten.
Asche im Kopf, war das existenziell deprimierende Gefühl des Autors.
Aber die Not der nicht gewendeten Verhältnisse peinigte mich zu mei-
ner erneut schreibenden Suche nach Glut
unter aller Asche. Asche im Kopf, war das existenziell
Dietmar Dath, der helle Kopf, fordert heute deprimierende Gefühl des Autors.
mutig mit Lenin die neue kommunistische Aber die Not der nicht gewendeten Verhältnisse
Formation, die allein in der Lage sei, mit den peinigte mich zu meiner erneut schreibenden
revolutionären Massen die Eigentumsord- Suche nach Glut unter aller Asche.
nung des Kapitals umzustürzen.
Wenn ich die unheimliche militärische Hochrüstung der Machtha-
benden gegen uns sehe und die verblödende Uniformierung der herr-
schaftstragenden Medien, dann kann ich die gewaltsame Umwälzung
der Gesellschaft mit der Kraft der Schwachen nicht für möglich halten.
Und die Chinesen mit ihrem strategischen Selbstbewusstsein und ihrer
semikommunistischen Macht? Können sie die Weltrettung bewirken?
Darauf haben wir Europäer keinen Einfluss.
Vielleicht verzehrt sich der wölfische Kapitalismus, da er von Krise zu
Krise taumelt, auf einer Resultante des historischen Fortschritts wie das
Feuer, das verlischt, wenn sein Brennstoff verbraucht ist?
Einen Weltbürgerkrieg kann kein Mensch wünschen.
Was ich beobachte, ist, dass ein friedliches solidarisches Leben mitei-
nander an vielen noch unscheinbaren Orten der Gesellschaft ohne rote
Fahnen geübt wird. Auch wächst neu der Widerstand in den Köpfen
und Körpern gegen die naturzerstörenden Kräfte des kapitalistischen
Wirtschaftens. Bei der Bahnfahrt der Fünfzigtausend in den Hambacher
Forst steckten wir wenigen Grauköpfe in einer atemberaubenden Men-
ge entschlossen fröhlicher junger Frauen, Männer und Kinder.

    127
VERGEIGT
REINHOLD ANDERT

Von einem meiner Philosophiedozenten hörte ich, er sei in den Wirren


des Jahres 1990 in die Alpen gefahren und hätte auf einem hohen Berg
stundenlang mutterseelenallein über das Leben nachgedacht.
Zu jener Zeit saß ich gemütlich am Frühstückstisch. Das Einzige, was
sich in meinem Leben verändert hatte, war, dass ich nun wählen konnte
zwischen einem weißen und einem braunen Frühstücksei. Mein Berg
lag nämlich schon zehn Jahre zurück. Damals bekam ich eine Auffor-
derung der SED-Kreisleitung Berlin-Mitte,
Das Einzige, was sich in meinem Leben mein »Dokument«, meinen SED-Mitglieds-
verändert hatte, war, dass ich nun wählen konnte ausweis, abzugeben. Man hatte mich aus
zwischen einem weißen und einem braunen Frühstücksei. den stolzen Reihen der Partei entfernt.
Mein Berg lag nämlich schon zehn Jahre zurück. Wer sich von so einem glühenden Sozia-
listen wie mir trennt, der wird, dachte ich
damals, unsere Sache vergeigen. Meine Lieder wurden melancholisch
und die seltenen Auftritte fanden nur noch in kulturpolitisch verwahr-
losten Gegenden statt. Mit dem Vergeigen behielt ich Recht. Was ich
nicht ahnte, weil es allen bisherigen Abläufen der deutschen Geschichte
widersprach, war die Schnelligkeit und Brutalität, mit der das Ende der
DDR inszeniert wurde. Und die ungeheure Naivität, mit der die meisten
unserer Leute den falschen Parolen hinterherliefen. Besingen konnte
man so etwas nicht. Also legte ich die Gitarre beiseite und setzte mich
an die Schreibmaschine.
Das erst Buch hieß »Die VIPs der Wende«. Die neuen Politiker aus dem
Osten, die Kollaborateure, hatten für die Broschüren der Landtage und
des Bundestages ihre Biografien abgeben müssen. Nach der Geburt
folgte bei ihnen ihr Wirken im Herbst 89. Dazwischen war nichts. Ich
füllte ihr Dazwischen auf, und dieses Büchlein musste sechsmal nach-
gedruckt werden.
Das nächste Buch hieß »Rote Wende«. Die grenzenlose Dummheit, mit
der die vermeintlichen Sieger ihre Beute behandelten, war ja nicht lustig.
Trauriges aber wollte ich nicht schreiben. Also drehte ich die Sache um.

128    
Die DDR hatte gewonnen und stülpte der alten BRD ihr System über. Zwei
Beispiele: In der Hamburger Rosa-Luxemburg-Allee, der ehemaligen
Reeperbahn, gab es am Wochenende in der
einzigen Nachtbar – ein Zugeständnis an In der Hamburger Rosa-Luxemburg-Allee,
ausländische Matrosen – eine Unterwäsche- der ehemaligen Reeperbahn, gab es am Wochenende
Modenschau aus Limbach-Oberfrohna. In in der einzigen Nachtbar – ein Zugeständnis
Marburg nahm Margot Honecker eine Um- an ausländische Matrosen – eine Unterwäsche-Modenschau
benennung einer Schule vor. Das ehemalige aus Limbach-Oberfrohna.
Elisabeth-Lyzeum bekam den Namen einer
polnischen Widerstandskämpferin der BRD: »10. EOS Teresa Orlowsky«.
Damals verloren fast neun Millionen über Nacht ihren Arbeitsplatz.
Heute, fast dreißig Jahre danach, steht die Quittung dafür auf ihrem
Rentenbescheid. Bei vielen reicht das Geld nicht, um in die Alpen zu
fahren. Sie suchen andere Alternativen. Dass sie wiederum falschen Pa-
rolen hinterherlaufen, kann man bedauern. Aber man beginnt, öffentlich
wieder über das Leben nachzudenken. Den Begriff »sozial« hört man
jetzt öfter. Vielleicht auch irgendwann wieder »sozialistisch«.

INGO SCHULZE, Jg. 1962, arbeitete nach seinem Studium der klassischen Philologie in Je-
na bis 1990 als Dramaturg am Landestheater Altenburg und war anschließend journa-
listisch tätig: 1990 begründete er die »unabhängige Zeitung« Altenburger Wochenblatt
mit, die bis Herbst 1991 erschien. Seit Mitte der 1990er Jahre lebt Schulze als freier
Schriftsteller in Berlin. Seit 2006 ist er Mitglied der Akademie der Künste Berlin sowie
des PEN-Zentrums Deutschland. Von ihm erschien zuletzt »Peter Holtz. Sein glückliches
Leben von ihm selbst erzählt« (2017).

ERASMUS SCHÖFER, Jg. 1931, wurde 1970–1973 als Mitgründer und Sprecher des Werk-
kreises Literatur der Arbeitswelt bekannt. Als sein Hauptwerk gilt die zwischen 2001
und 2008 erschienene Romantetralogie »Die Kinder des Sisyfos«, in der Schöfer in Form
eines Zeitromans die Geschichte der westdeutschen 68er-Bewegung erzählt und, aufge-
hängt an den Biografien der Romanfiguren, durch die politischen und sozialen Kämpfe
der 1970er und 1980er Jahre hindurch weiterverfolgt.

REINHOLD ANDERT, Jg. 1944, war von 1966 bis 1973 Mitglied des Oktoberklubs. Nach
seinem Ausschluss aus der SED 1980 waren seine Auftrittsmöglichkeiten in der DDR
eingeschränkt. Seit Beginn der 1990er Jahre ist er vor allem als Autor satirischer Texte
tätig. Von ihm erschien u.a. »Unsere Besten. Die VIPs der Wendezeit« (1993), »Rote
Wende« (2002) und »Heilige Lanzen« (2013).

    129
Was sind die Anforderungen an linke Politik für eine
Gesellschaft der Vielen? Auf der Migrationskonferenz
»Haymat« wurde im April in Hannover darüber
diskutiert. Foto: RLS
Nachzuhören unter: www.rosalux.de/dokumentation/id/40504/

»HISTORICAL MATERIALISM« tentas (Katalonien) und Panagiotis Sotiris (Griechen-


RÜCKBLICK AUF DIE KONFERENZ IN ATHEN land). Der Ort war gut gewählt für eine Reflexion
Vom 2. bis 5. Mai fand zum ersten Mal eine dieser Themen, hat doch die erzwungene Kapitu-
Konferenz von »Historical Materialism« in Athen lation der SYRIZA-Regierung gegenüber der Troika-
statt. Seit 2003 werden die Jahreskonferenzen Politik fundamentale strategische Fragen für die
dieses internationalen Netzwerkes marxistischer gesamte europäische Linke aufgeworfen. Gleichzei-
Wissenschaftler*innen immer im November in tig lassen sich an Griechenland die verheerenden
London abgehalten. Zusätzlich gibt es Veranstal- Auswirkungen der ökonomischen Krise, aber auch
tungen in anderen Ländern und Städten, darunter der Niedergang antineoliberaler Widerstandsbewe-
New York. Nun also tagte »Historical Materialism« gungen in den letzten Jahren exemplarisch nach-
unter dem Titel »Rethinking Crisis, Resistance and vollziehen. Auffallend war die breite Beteiligung von
Strategy« erstmals in Griechenland und erstmals in Wissenschaftler*innen aus dem Balkan und aus
offizieller Kooperation mit einem Regionalbüro der Osteuropa, für die ein Visum für Großbritannien oft
Rosa-Luxemburg-Stiftung. schwer zu bekommen oder schlicht zu teuer ist.
Über 700 Menschen folgten der Einladung in die Insofern hat die Athener Konferenz die Reichweite
Athener Panteion-Universität, um über Krise und von »Historical Materialism« vergrößert und mehr
Widerstand zu diskutieren. Auf einer der zentralen Stimmen aus der ›europäischen Peripherie‹ in inter-
Plenumsveranstaltungen »For a Strategy of Revolu- nationale Debatten involviert.
tion We Need a Revolution of our Strategies« spra- In den insgesamt 128 Panels mit über 400
chen unter anderem Catarina Príncipe (Portugal), Referent*innen spiegelte sich die ganze Band-
Ines Schwerdtner (Deutschland), Josep Maria An- breite zeitgenössischer marxistischer Forschung

130      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


WAS WAR
zu Politik, Geschichte, Philosophie, Kunst und lichen Events entwickelt, die sich mit Fragen eines
Kultur. Es waren vor allem Jüngere, die ihre politischen Marxismus befassen, sowie zu einem
Forschungsergebnisse vor- und zur Diskussion wichtigen Ort für den Austausch marxistischer
stellten. Vielen von ihnen bot die Konferenz eine Wissenschaftler*innen. Die 16. Jahrestagung wird
wohl einzigartige Möglichkeit, sich mit ähnlich vom 7. bis 10. November unter dem Motto »Thun-
gesinnten Wissenschaftler*innen aus aller Welt der Claps: Disaster Communism, Extinction Capita-
auszutauschen. Eine prominente Rolle spielte der lism, and How to Survive Tomorrow« an der School
griechische Ökonom Costas Lapavitsas, dessen of Oriental and African Studies der University of
polemische­EU-Kritik für viele Kontroversen sorgte – London stattfinden, wieder mit reger Beteiligung
wiederum ein Ausdruck der strategischen Krise der aus dem Umfeld der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Linken.
Die mehrtägigen Historical-Materialism-Konferen- Florian Wilde und Loren Balhorn
zen haben sich zu den international wohl bedeu-
tendsten regelmäßig stattfindenden wissenschaft- Mehr Infos: www.historicalmaterialism.org/

»ALLES FASCHISMUS ODER WAS?« AUFSTIEG UND FALL


DISKUSSIONSREIHE, 7.– 21. MAI IN BERLIN DER BOLIVARISCHEN REVOLUTION
Die Neue Rechte reklamiert für sich einen Bruch mit »LUXEMBURG LECTURE«
dem historischen Faschismus. Kann man dennoch MIT STEFAN PETERS IN BERLIN
von einem ideologischen Kern von Mussolinis Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ruhten die Hoff-
italienischen Schwarzhemden über die AfD und die nungen der Linken auf Lateinamerika. Mit dem
Identitäre Bewegung bis hin zu Salvini, Duterte und Rückenwind kräftig steigender Rohstoffpreise ver-
Bolsonaro sprechen? Sind die klassischen Faschis- zeichneten Venezuela und andere Länder nicht nur
mustheorien tauglich, um die heutigen »Faschis- viel beachtete soziale Entwicklungserfolge, sondern
men« zu beschreiben? Mit dem Faschismusforscher auch ein hohes Wirtschaftswachstum. Doch bald
Roger Griffin aus Oxford und einem der besten wurden die Erfolgsmeldungen spärlicher, der Mo-
Kenner der europäischen Neuen Rechten, Volkmar dellcharakter wurde durch Korruptionsvorfälle und
Wölk, diskutierten zwei ausgewiesene Schwer- autoritäre Tendenzen infrage gestellt. Spätestens
gewichte diese Fragen am 14. Mai im Salon der mit dem Tod von Hugo Chávez und dem Einbruch
Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin. Die Veranstaltung der Erdölpreise begann der Niedergang der Boli-
war Teil der dreiteiligen Reihe »Alles Faschismus varischen Revolution. Der Friedensforscher Stefan
oder was?«, zu der die Stiftung gemeinsam mit dem Peters lieferte in seiner Lecture am 1. April im
Karl Dietz Verlag Berlin und dem Willi Münzenberg Salon der Stiftung eine materialistische Analyse des
Forum eingeladen hatte. Ziel war es, mehr Klarheit Scheiterns des Chavismus. In der Diskussion stellte
in die Begrifflichkeiten zu bekommen und Faschis- sich angesichts der gewaltförmigen Zuspitzung der
muskonzepte auf ihre Anwendbarkeit auf heutige Widersprüche auch die Frage nach Szenarien für
Phänomene hin zu diskutieren. die Zukunft.

Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40479/ Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40296/

WAS WAR | LUXEMBURG 2/2019     131


Paul Mason stellte im Kino Babylon in Berlin-Mitte sein
Buch »Klare, lichte Zukunft« vor, Foto: RLS
Videodoku: www.rosalux.de/dokumentation/id/40562

DEN HUMANISMUS RADIKAL VERTEIDIGEN Frage, wie eine Erneuerung linker Politik aussehen
DISKUSSION MIT PAUL MASON UND KATJA KIPPING, kann. Mason verwies auf Marx‘ frühe Schriften und
6. JUNI IN BERLIN schlug vor, den Klassenkampf neu zu denken – als
Wie noch an die Zukunft glauben angesichts von verbindendes Element zwischen unterschiedlichen
Klimakatastrophe und Krisenkapitalismus? Und Positionen wie etwa denen von prekär Beschäf-
wie an die Menschheit? Der britische Autor und tigten, Migrant*innen, Frauen oder Transgender-
Wirtschaftsjournalist Paul Mason ruft in seinem neu Aktivist*innen. Zugleich gelte es, weiter die Fragen
erschienenen Buch zur »radikalen Verteidigung des nach sozialer Gerechtigkeit zu stellen und Eigen-
Humanismus« auf und nimmt im Titel »Klare, lichte tumsverhältnisse zum Thema zu machen. Kipping
Zukunft« Bezug auf ein Zitat Leo Trotzkis: »Meine verlangte, auch die feministische Forderung nach
Lebenserfahrungen haben meinen Glauben an die Verfügung über die eigene (Lebens-)Zeit ins Zen-
klare, lichte Zukunft der Menschheit nicht zerstört, trum linker Politik zu rücken. Neue soziale Bewe-
sondern im Gegenteil gefestigt.« Im Kino Baby- gungen für eine bessere Zukunft wie »MeToo«,
lon in Berlin-Mitte diskutierte Mason Anfang Juni »Fridays for Future« oder die Wohnungskampagne
mit Katja Kipping über eine Rückkehr zum linken »Deutsche Wohnen und Co. enteignen« machten
Humanismus in einer Zeit, in der Ressentiment und Mut. Ein »Red Green New Deal« könne ein Projekt
Nationalismus Konjunktur haben und digitale Al- sein, das unterschiedliche Kreise, Forderungen und
gorithmen die Kontrolle in vielen Lebensbereichen Kämpfe zusammenführt. Veranstalter waren die
übernehmen. Masons Thesen boten viel Stoff für Rosa-Luxemburg-Stiftung, der Suhrkamp-Verlag
eine angeregte Diskussion, unter anderem über die und das Kino Babylon in Berlin.

132      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


MIT WEM
REVOLTE ODER RESSENTIMENT? Berlin. Einmal mehr wurden die unterschiedlichen
PODIUMSDISKUSSION, 28. MAI IN BERLIN politischen Ansätze deutlich, wenn es um die
Revolte oder Ressentiment – vor dieser Wahl sieht Frage geht, wie linke Kräfte an politischem Einfluss
der Soziologe Éric Fassin den Widerstand gegen gewinnen können. Fassin vertritt dabei die Haltung,
die Verheerungen des Neoliberalismus mit dem dass es Alternativen zum Neoliberalismus und ihrer
Aufziehen eines »populistischen Moments«. Dass klaren Artikulation bedarf, ohne in einen Populismus
der Populismus dabei der Rechten nützte, aber zu verfallen und durch einen verstärkten Bezug auf
für Linke nicht zu gebrauchen sei, ist der zentrale das Nationale einen Teil der Gesellschaft der Vielen
Befund seines Essays von 2017, der im Mai 2019 auszuschließen. Linke Parteien sollten sich stärker
in deutscher Übersetzung erschienen ist. Ange- auf das den Nicht-Wähler*innen innewohnende Po-
sichts der Proteste der Gelbwesten in Frankreich, tenzial konzentrieren, anstatt auf eine Wählerwande-
des Chaos um den Brexit in Großbritannien und der rung von rechts nach links zu setzen. Wer von dem
jüngsten Wahlen in Europa wirft sein Buch Fragen Abend eine Klärung entscheidender Strategiefragen
auf, die auch weiterhin zu beantworten sind. Die erwartet hatte, mag enttäuscht gewesen sein. Einen
Podiumsdiskussion mit Éric Fassin und der Politik- Denkanstoß hat die Diskussion des Fassin-Buches
wissenschaftlerin Ines Schwerdtner im Südblock allemal gegeben.
in Berlin war eine Kooperationsveranstaltung des Franziska Albrecht
Europareferats der Stiftung und des ­August Verlags Weiterlesen: www.zeitschrift-luxemburg.de/interview-fassin/

GLEICHHEIT UND BEFREIUNG TOUBABESSE


KEEANGA-YAMAHTTA TAYLOR IN BERLIN POSTKOLONIALISMUS FEMINISTISCH REFLEKTIERT
Die Bewegung #BlackLivesMatter macht den anhal- Die Aneignung formaler Bildung wird auch im
tenden Rassismus in der US-Gesellschaft sichtbar, Senegal als Chance gesehen, fortbestehende
der sich unter Präsident Trump wieder verschärft. Ungleichheiten zu überwinden. Die ehemalige
Was sind die Hintergründe der Bewegung, was ihr Stipendiatin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Céline
Verhältnis zu anderen sozialen Kämpfen? Welche Barry analysierte in ihrer Doktorarbeit die Erfahrun-
Chancen bietet der Aufstieg von demokratischen gen Schwarzer Frauen in Dakar, mit verschiedenen
Sozialist*innen wie Sanders und Ocasio-Cortez? Bildungs- und Berufskarrieren. Diese verweisen
Wie lässt sich umfassende Gleichheit für Schwar- auf die rassifizierende Gewalt der Bildungssysteme
ze Menschen in den USA erkämpfen? Darüber sowie auf die Komplizenschaft gebildeter Frauen mit
sprach Dr. Keeanga-Yamahtta Taylor, Professorin für postkolonialen Machtverhältnissen in Dakar, Berlin
African-American Studies, am 5. Juni im Haus der und anderswo. Was bedeutet das für das Projekt
Kulturen der Welt in Berlin. Es wurde über die Ver- eines transnationalen Feminismus? Am 13. Juni
bindung von Klassenkämpfen und Antirassismus so- stellte Barry im Salon*Bildung der Rosa-Luxemburg-
wie die Erneuerung linker Politik diskutiert. Taylor ist Stiftung ihr Buch »Toubabesse oder Wie Bildung
eine zentrale Stimme der neuen US-amerikanischen Frauen koloniale Macht verleiht« vor und diskutierte
Linken und Autorin des Buchs »Von #BlackLives- mit dem Publikum darüber, welche Bildung es aus
Matter zu Black Liberation«. linker emanzipatorischer Perspektive braucht.

Info: www.rosalux.de/veranstaltung/es_detail/KYPST/ Info: www.edition-assemblage.de/buecher/toubabesse/

MIT WEM | LUXEMBURG 2/2019     133


AKTUELLE PUBLIKATIONEN
ANALYSEN

Christoph Trautvetter,
GESELLSCHAFT

MIGRATION ALS
Adrian García-Landa MENSCHENRECHT?
WEM ZAHLE ICH THEORETISCHE UND POLITISCHE DEBATTEN
IN EUROPA
EIGENTLICH MIETE? STEFANIA MAFFEIS

Den finanzialisierten Immobilienmarkt


verstehen: Ein Recherchehandbuch für
Mieter*innen
68 Seiten, Broschur, 2. Auflage März 2019
ISBN 978-3-9818987-8-1
Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/40038

Stefania Maffeis
MIGRATION ALS
MENSCHENRECHT?
Tilo Giesbers, Anita Taschke Theoretische und politische
RÄT*INNEN Debatten in Europa
GEGEN RECHTS Analysen 56
Umgang mit Rechten in 44 Seiten, Mai 2019
kommunalen Gremien ISSN 2194-2951
112 Seiten, Broschur, April 2019 Download und Bestellung unter:
ISSN 2193-5831 www.rosalux.de/publikation/id/40439
Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/40148

Weite
Publik re
atione
n
unter
www.r
osalux
.de GERECHTE ARMUT?
Mythen und Fakten
zur Ungleichheit in
Deutschland

Ann-Katrin Lebuhn,
Vanessa Höse (Hrsg.) Stephan Kaufmann, Eva Roth
PERSPEKTIVEN GERECHTE ARMUT?
EMANZIPATORISCHER Mythen und Fakten zur
JUGENDBILDUNG Ungleichheit in Deutschland
Bildungsmaterialien Nr. 7 luxemburg argumente Nr. 11
48 Seiten, Mai 2019 48 Seiten, 2., aktual. Aufl. 2019
ISSN (Print) 2513-1222 ISSN 2193-5831
Download und Bestellung unter: Download und Bestellung unter:
www.rosalux.de/publikation/id/40408 www.rosalux.de/publikation/id/9150

134      LUXEMBURG 2/2019 | SCHÖNER WOHNEN


Das Argument
Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften

320 Ethik im Kapitalismus


als Arbeit an der Utopie
V.Braun: Morgen der Migranten
Z 118 DAS ARGUMENT 331
Aktuelle Analysen
FORUM WISSENSCHAFT 1/2019
R.Schultz: Kuba nach Fidel
P.Eisenberg: Leichte Sprache
HEGEMONIEVERSCHIEBUNGEN IN DER DEBATTE ZUM KONZEPT MOSAIK-LINKE
M.Kessler: Nach den US-Wahlen: Ein Brief aus New York DIGITALISIERUNG
WELTWIRTSCHAFT – NEUE KONFLIKTFELDER Hans-Jürgen Urban Vorlauf zu einem
Ethik im Kapitalismus Rima-Maria Rahal/Johanna Havemann
Mitmenschliche Praxis und politische Ethik heute. Editorial
Dieter Boris Auf- und Abstiegsprozesse HKWM-Artikel ›Mosaik-Linke‹
S.Plonz: Zum Verhältnis von Ökonomie und Moral Wissenschaft in der Krise
E.Conradi: Verteilungsgerechtigkeit oder achtsame Zuwendung?
und Machtverschiebungen in der Norbert Schneider Mosaik. Zur Funktion
F.Haug: Das Ethische aus dem Himmel der Werte holen Ines Langemeyer Statt innovative
Weltwirtschaft J.C.Tronto: »Sorgende Demokratie« als Transformationsprojekt?
und Vorgeschichte einer politischen
C.R.Klugbauer: Die Grenzen des demokratischen Sorgebegriffs Lehr-Lernformen
***
Thomas Sablowski Geopolitische Metapher
W.F.Haug: Karl Marx‘ Metakritik der Religion Marcus Lamprecht Lehre first,
Konflikte und Machtverschiebungen in Klaus Mosaik-Linke
Dörre 1941–2016
Christel Hartinger und demokrati-
(E.Laudan & G.Oechelhaueser) Digitalisierung auch!
der kapitalistischen Staatenwelt sche Klassenpolitik – (un)vereinbar?
Einzelheft 13€ (im Abo 10€, zzgl. Versand)
www.inkrit.org/argument
Redaktion Das Argument Abo & Versand
Peter Wahl Hegemonieverschiebungen Bernd Röttger Gegenmacht?
Ines Schwerdtner
Kontakt: argument@inkrit.org Gegenhe-
versand-argument@t-online.de
Tel: 030 - 611 -3983
BILDUNG UND WISSENSCHAFT
in der Weltwirtschaft Politischw-ökonomi- gemonie? Die Mosaik-Linke zwischen Michael Klundt Wertfreiheit und
sche Folgen Phrase und ›antagonistischer Logik Waffengang?
Franz Garnreiter Anmerkung zum Brigitte Aulenbacher There is no alternative Interview mit Wilhelm Achelpöhler
»Niedergang der USA« und zur Armut … Über den Rahmen und die Farben des Auf die Couch, Herr Spahn!
in peripheren Ländern linken Spektrums
Andrés Musacchio Die Formen des Nora Räthzel Mosaik-Linke, Hegemonie INTERNATIONALES
Neoliberalismus und die Entwicklungs- und die Frage von Arbeit und Natur Alice von Bieberstein / Steffen Käthner /
problematik Jan Rehmann ›Multitude‹, ›Mosaik-Linke‹ Corinna Trogisch Was kommt danach?
Stephan Krüger Weltwirtschaft und und die Aufgabe politischer Bündelung Asli Telli Aydemir Crlminalizing Hope
Aufstieg der Schwellenländer Peter Jehle Was die Mosaik-Linke vom for Peace
Rainer Falk Das Verschwinden der Neuen Konzept der Volksuni und der Regina Hagen Kontrolle der nuklearen
Weltwirtschaftsordnung: Alte Regeln trotz strukturellen Hegemonie lernen kann Rüstung vor dem Ende?
neuer Akteure?
Simone Claar Aufstieg der Schwellenländer KRISE DES POLITISCHEN GESELLSCHAFT
und sozial-ökologische Transformation IN FRANZÖSISCHEN FARBEN Kai Mosebach Ein unvollendetes Projekt
Werner Ruf Die Unwägbarkeiten einer Richard Gebhardt Die AfD, die soziale (Teil 2)
multipolaren Welt und der Aufstieg Frage und das ›Mosaik‹ der Rechten Meinhard Creydt Pseudokritik, Fehler
Deutschlands Étienne Balibar Die Revolte der Gelbwesten und Bluff
Félix Boggio Éwanjé-Épée Die gelbe Weste Claudia Bölling/Rolf Horst »Wurde denn
KAPITALISMUSTHEORIE überhaupt Theorie gemacht?«
als leerer Signifikant
Jürgen Leibiger Eigentum, Macht und Richard Albrecht Der verpasste Frühling
Jean Quétier Die Bedeutung der
Governance im Cyberspace des 20. Jahrhunderts
Gelbwesten für die Krise des Politischen
Rainer Rilling Enrichissement –
Ökonomie der Bereicherung
Andreas Wehr Die These vom
»Absterben des Staates«

KLASSEN – ARBEITSKÄMPFE
Thomas Goes Klassen im Kapitalismus –
aber warum und wie viele?
Dirk Müller/Juri Kilroy Streikmonitor:
Arbeitskonflikte im Jahr 2018
Raina Zimmering
Deutsche Venezuela-Politik
Holger Czitrich-Stahl/Rainer Holze 100
Jahre Novemberrevolution –
Ein Literaturbericht
Dieter Kramer: Kulturprozesse und
Gemeinschaftsbildung

Z 118, Juni 2019, 240 S., 10 Euro Das Argument 329, Juni 2019, 14 Euro Forum Wissenschaft 1/2019, 8 Euro
ISSN 0940-0648 ISSN 0004-1157 ISSN 0178-6563
www.zeitschrift-marxistische-erneuerung.de www.inkrit.org/argument www.bdwi.de

ZEITSCHRIFTENSCHAU | LUXEMBURG 2/2019      135


IMPRESSUM

LuXemburg. Gesellschaftsanalyse und linke Praxis 1/2019


ISSN 1869-0424

Herausgeber: Vorstand der Rosa-Luxemburg-Stiftung


V.i.S.d.P.: Barbara Fried, barbara.fried@rosalux.org, Tel: +49 (0)30 443 10-404
Redaktion: Harry Adler, Lutz Brangsch, Michael Brie, Mario Candeias, Judith Dellheim,
Alex DemiroviĆ, Barbara Fried, Corinna Genschel, Christiane Markard, Miriam
Pieschke, Katharina Pühl, Rainer Rilling, Thomas Sablowski, Hannah Schurian, Ingar
Solty, Stefan Thimmel und Moritz Warnke

Kontakt zur Redaktion: luxemburg@rosalux.org


Redaktionsbüro: Harry Adler, harry.adler@rosalux.org
Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin
Telefon: +49 (0)30 443 10-157
Fax: +49 (0)30 443 10-184
www.zeitschrift-luxemburg.de
Join us on Facebook: http://www.facebook.com/zeitschriftluxemburg
Twitter: http://twitter.com/luxemburg_mag

Abonnement: Seit 2014 erscheint die LuXemburg kostenfrei.


Bestellen unter: www.zeitschrift-luxemburg.de/abonnement
Förderabonnement: Jede Spende ist willkommen.

Copyleft: Alle Inhalte, sofern nicht anders ausgewiesen, laufen unter


den Bedingungen der Creative Commons License:

Lektorat: TEXT-ARBEIT. Lektorats- und Textbüro für Politik, Wissenschaft und Kultur;
www.text-arbeit.net

Grafik und Satz: Matthies & Schnegg – Ausstellungs- und


Kommunikationsdesign, www.matthies-schnegg.com
Titelbild: © Umbruch Bildarchiv
Druck: DRUCKZONE GmbH & Co. KG, Cottbus,
Druck auf PEFC-zertifiziertem und säurefreiem Papier

136      LUXEMBURG 2/2019 | IMPRESSUM


1/2019 EUROPA – TROTZ ALLEDEM
Die Europäische Union steckt in einer tiefen Krise. Fliehkräfte und Gegensätze nehmen zu, ein
13
EinE ZEitschrift dEr rosa-LuxEmburg-stiftung 1
das LinkE diLEmma mit Europa
autoritärEr konsEns: das Eu-sichErhEitsrEgimE
19

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019


2015
Fortbestehen der Union ist nicht gesichert. Zugleich festigen und vertiefen die Politiken der EU
globale Ungleichheiten. Die real existierende EU repräsentiert nicht in Ansätzen das Europa,
monstEr und gEspEnstEr
momEntum für Ein Europa dEr ViELEn

LUXEmbURG
EinE fEministischE intErnationaLE im WErdEn
Europa – trotZ aLLEdEm stuart haLL | kathrin röggLa | Lukas

das wir uns wünschen. Doch wie lässt sich der europäische Horizont im Blick behalten, ohne
Was ist dEmokratischEs charisma?
obErndorfEr | fLorian WEis | kErstin WoLtEr | max LiLL | aLEx
rEproduktiVE gErEchtigkEit
WischneWski | hannah schurian | andrej hunko | Beppe caccia |
issn 1869-0424 WEnkE christoph | stEfaniE krohn | sandro mEZZadra u.a.

die neoliberalen Institutionen der EU als Geschäftsgrundlage zu akzeptieren? Wie lassen sich
solidarische Antworten finden auf transnationale Herausforderungen? Wie lässt sich Europa
anders machen: solidarisch und demokratisch und im Interesse der Vielen?

BEITRÄGE VON Beiträge von Stuart Hall, Kathrin Röggla, Lukas Oberndorfer, Florian Weis, Kerstin
Wolter, Max Lill, Alex Wischnewski, Hannah Schurian, Andrej Hunko, Beppe Caccia, Wenke
Christoph, Stefanie Kron, Sandro Mezzadra u.a.

April 2019, 136 S.

3/2018 ICH WERDE SEIN


Rosa Luxemburg steht für eine Haltung, in der Entschiedenheit im politischen Kampf und »weit-
3
eine Zeitschrift der rosa-luxemburg-stiftung 3
18

herzigste Menschlichkeit« ein Ganzes bilden. 100 Jahre nach ihrer Ermordung ist sie zur Ikone
»wer weitergeht, wird erschossen!«
luxemburg als soZialistische feministin GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018
2015
wie kritisiert man revolutionen?

geworden, doch die Beschäftigung mit ihrem Werk bleibt oft oberflächlich. Die Jubiläumsausgabe
care als feld neuer landnahme

LUXEmbURG
lehren und lernen mit luxemburg
ich werde sein  Drucilla cornell | Gal Hertz | tove SoilanD | 
15 tage, die die welt erschütterten
Jörn schütrumpf | uwe sonnenberg | walter baier | miriam

fragt nach der Bedeutung ihres Denkens und Tuns für heute: Wie dachte Luxemburg das Verhält-
ernst bloch mit gramsci lesen
pieschke | Judith dellheim | michael löwy | Janis ehling |
issn 1869-0424 Kate evanS | Jan reHmann | HolGer Politt u.a.

nis von Partei und Bewegung? Wie hielt sie es mit dem Internationalismus? Wie können wir uns
als Feminist*innen auf sie beziehen? Wie ging sie mit dem Widerspruch zwischen Reform und
Revolution um? Und was können wir von ihr über Strategien der Organisierung lernen?

BEITRÄGE VON Drucilla Cornell | Michael Brie | Alex Demirović | Judith Dellheim | Janis Ehling |
Gal Hertz | Michael Löwy | Miriam Pieschke | Holger Politt | Ingo Schmidt | Tove Soiland | Jörn
Schütrumpf, Ingar Solty & Uwe Sonnenberg u.a.

Januar 2019, 176 Seiten

2/2018 AM FRÖHLICHSTEN IM STURM: FEMINISMUS


Der Wind weht scharf. Autoritarismus und Rechtsradikalismus gewinnen an Zustimmung.
2
3
eine zeitsChrift der rosa-luxeMBurg-stiftung 2
von #Metoo zu #WestriKe
einstiege in eine feministische trAnsformAtion
18

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018


2015
Aber auch der Feminismus ist zurück. Er bildet die einzige transnationale Bewegung, die
einen sicht­baren Gegenpol zur Rechten und zum Neoliberalismus markiert und den Aufbruch
gender als syMBolisCher Kitt
transfeMinisMus und neue KlassenpolitiK

LUXEmbURG
faMilien- und gesChleChterpolitiK á la afd
Am fröhlichsten im sturm: feminismus Margarita tsoMou |

in eine bessere Zukunft verkörpert. Sie ist sozial heterogen und thematisch vielfältig – AM
Kinder, KüChe, KlassenKaMpf
Kate Cahoon | atlanta ina Beyer | WeroniKa grzeBalsKa | lia
leBensWeise als frage gloBaler gereChtigKeit
BeCKer | Melinda Cooper | liz Mason-deese | eszter Kováts |
issn 1869-0424 andrea pető | alex WisChneWsKi | stefanie hürtgen u.a.

­FRÖHLICHSTEN IM STURM! Wie kann ein inklusiver Feminismus aussehen? Wie lässt er sich
von den Rändern her entwickeln? Und wie kann eine feministische Klassenpolitik entstehen,
die auch die Klassenanalyse auf die Höhe der Zeit bringt?

BEITRÄGE VON Margarita Tsomou | Kate Cahoon | Atlanta Ina Beyer | Weronika Grzebalska | Lia
Becker | Melinda Cooper | Liz Mason-Deese | Eszter Kováts | Andrea Pető | Alex Wischnewski |
Stefanie Hürtgen u.a.

Demonstration »Stoppt den Mietenwahnsinn« in Berlin, April 2019 September 2018, 144 Seiten
Foto: Umbruch Bildarchiv
1/2018 ERST KOMMT DAS FRESSEN
Das globale Ernährungssystem scheitert nicht nur an dem Anspruch, die Welt satt zu machen.
1
3
EiNE ZEiTSchRiFT DER ROSA-luxEMBuRg-STiFTuNg 1
hARTZ-iV-MENü uND FEiNKOSTThEKE
AuFSTAND iN DER liEFERKETTE
18

GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2018


2015
Es schafft auch neue Abhängigkeiten und untergräbt die Selbstbestimmung von Staaten und
lokalen Gemeinschaften. Es sind die Bewegungen von Landlosen und Kleinbäuer*innen im
AlTERNATiVEN jENSEiTS DER NiSchE
POPuliSMuS FüR DEN läNDlichEN RAuM?

LUXEmbURG
DEN BODEN NEu VERTEilEN
ERST KOMMT DAS FRESSEN PhiliP McMichAEl | STEPhANiE WilD |

globalen Süden, die sich seit Jahrzehnten für »Ernährungssouveränität« stark machen. Für sie
iMPERiAlE lEBENSWEiSE MEETS KlASSE
chRiSTA WichTERich | KAlyANi MENON-SEN | KiRSTEN TAcKMANN |
WAS BlEiBT VON 68?
SATuRNiNO M. BORRAS | liNDA REhMER | BENjAMiN luig | STEFFEN
iSSN 1869-0424 KühNE | ulRich BRAND | MARKuS WiSSEN | RhONDA KOch u.A.

ist der Kampf gegen das Ernährungsregime der Konzerne ein Kampf um Demokratie. Auch
hierzulande regt sich Widerstand gegen die Nahrungsmittelindustrie, nicht erst seit den »Wir
haben es satt«-Demonstrationen. Wie lässt sich diese Kritik von links aufgreifen und zuspitzen?

BEITRÄGE VON Philip McMichael | Stephanie Wild | Christa Wichterich | Kalyani Menon-Sen |
­ irsten Tackmann | Saturrnino M. Borras | Linda Rehmer | Benjamin Luig | Steffen Kühne |
K
Markus Wissen | Ulrich Brand | Rhonda Koch | Michael Bättig u.a.

Juni 2018, 132 Seiten


2
3
EINE ZEITSCHRIFT DER ROSA-LUXEMBURG-STIFTUNG 2
19
ENTEIGNUNG ALS GESCHÄFTSMODELL
SOZIALEN WOHNUNGSBAU ANDERS MACHEN GESELLSCHAFTSANALYSE UND LINKE PRAXIS 2019
2015
KLEINGÄRTEN UND KLASSENKAMPF
WIE LEBEN IN RECHTEN RÄUMEN?

LUXEMBURG
MIETER*INNEN GEGEN IMMOBILIENKONZERNE
SCHÖNER WOHNEN  MARGIT MAYER | ANDREJ HOLM | INGO SCHULZE
SCIENCE FICTION UND URBANE REALITÄT
KATALIN GENNBURG | KNUT UNGER | GRETA PALLAVER | ARMIN KUHN
WENDEZEIT – WER SCHREIBT GESCHICHTE?
ULRIKE HAMANN | REMZI UYGUNER | BEA FÜNFROCKEN | CHRISTOPH
ISSN 1869-0424 TRAUTVETTER | ERASMUS SCHÖFER | MARIEKE PREY | JAN SAHLE U.A.

Das könnte Ihnen auch gefallen