Kapitel 9: 221
Der Begriff des Diskurses wurde im Verlaufe der Arbeit wiederholt am Hori-
zont mo glicher Lo sungsversuche historisch-semantischer Dilemmata sicht-
bar. Dabei konnte der Eindruck entstehen, daä er als deus-ex-machina im-
mer dann herhalten sollte, wenn die Unzulanglichkeit u berkommener se-
mantischer Auffassungen und Untersuchungsmethoden deutlich gemacht
werden sollte. Es wird deshalb zu zeigen sein, daä der Diskurs-Begriff im
Rahmen historisch-semantischer Forschung, vor allem aber auch im Rah-
men eines handlungsorientierten Bedeutungs-Konzepts innerhalb eines
Modells kommunikativer Interaktion, eine sinnvolle Funktion ausu ben kann.
Bevor ich auf diese Frage zuru ckkomme, soll erst das Konzept des Dis-
kurses sui generis dargestellt werden, wie es in den Werken Michel Fou-
caults zum Ausdruck kommt. Wir werden noch sehen, daä infolge des vo l-
lig verschiedenen geistesgeschichtlichen Hintergrundes eine wo rtliche
U bernahme von Foucaults Theorien in ein handlungsorientiertes Sprach-
modell ausgeschlossen ist. Es geht mit der folgenden Darstellung also eher
darum, Brauchbares von Unbrauchbarem zu trennen, Anregungen aufzu-
nehmen und fu r unsere Zwecke umzuformulieren.1 Ein Problem bietet da-
bei der sprachtheoretische Hintergrund Foucaults, der, obgleich selten ex-
pliziert, eher in der Richtung strukturalistischer Konzepte in der Nachfolge
Saussures zu suchen ist. Foucault hat es, vor allem in seinen hier heran-
gezogenen spateren Werken, immer abgelehnt, „ ob affirmativ oder kri-
tisch „ der strukturalistischen “BewegungÄ zugerechnet zu werden, die im
Frankreich der sechziger und siebziger Jahre die vorherrschende Richtung
der Geisteswissenschaften gewesen ist. Und es gibt auch genu gend Mo-
mente seiner Analysen, die sich einer strukturalistischen Vereinnahmung
entziehen. Seine Theorie(n) wurde deshalb auch zum Aufhanger eines
neuen Schlagwortes gemacht, des “PoststrukturalismusÄ.2
1
Die Berechtigung dazu entnehme ich nicht zuletzt Foucault selbst, der seine eigenen Wer-
ke einmal als “WerkzeugkisteÄ bezeichnete, aus der man sich bedienen ko nne, und der fu r
seine eigene Person die “Technik geistigen DiebstahlsÄ reklamierte (Foucault 1976, 45 u.
75).
2
Vgl. die ausgezeichnete Gesamtdarstellung in Frank 1983 (135„ 243) und die neue Ge-
samtdarstellung von Kammler 1986, welche beide bei Texterstellung noch nicht vorlagen
und deshalb nicht mehr beru cksichtigt werden konnten. S.a. Schiwy 1978, 16 f., 22 ff. u.
1969.
3
Siehe oben Kapitel 4, 1.
4
àHistoire de la folie ` lâˆge classiqueé, Paris 1961; àNaissance de la cliniqueé, Paris 1963;
àLes mots et les chosesé, Paris 1966; àSurveiller et puniré, Paris 1975; àHistoire de la
sexualiteé, Band 1 àLa volonte de savoiré, Paris 1976, Band 2: àL‚usage des plaisirsé, Paris
1984, Band 3 àLe souci de soié, Paris 1984.
in Europa / seit der Neuzeit bestanden haben, entstanden sind, welche 223
Verknu pfungen bzw. Bruchlinien zwischen Theorien, Themen, Gegenstan-
den benachbarter oder auch scheinbar entfernter Wissensgebiete beste-
hen, kurz, wie sich in verschiedenen historischen Epochen Denkstrukturen
ausbreiten, die das zu sagen Mo gliche beschranken oder steuern. Doch
nicht nur das zu sagen Mo gliche, sondern auch die mit diesen Denksyste-
men verknu pften Praktiken, wie z.B. die Behandlung der èGeisteskranken‚
oder der èStraffalligen‚. Praktiken, die in Verbindung mit neu entstehenden
Wissensstrukturen ihre Gegenstande bzw. Opfer selbst hervorbringen, sind
Gegenstand dessen, was Foucault spater als èDiskursanalyse‚ bezeichnet.
Seine sich in den Untersuchungen entwickelnden Analysemethoden und
Begrifflichkeiten, die in “Les mots et les chosesÄ (1966) ihren vorlaufigen
Ho hepunkt haben, bilden kein strenges theoretisches èSystem‚.5 Sie han-
gen eng mit den jeweiligen Untersuchungszielen und den Eigenarten der
jeweils untersuchten Wissensbereiche zusammen. Dennoch versucht Fou-
cault, in Erwiderung der Kritik an MC6, aus seinen Analysen ein theoreti-
sches Modell zu formulieren, das er mit “L‚archeologie du savoirÄ (1969)
vorlegt, dem Text, auf den ich mich hauptsachlich beziehen werde. Eine
starkere Wendung der Diskursanalyse in Richtung auf die Beziehung zwi-
schen Macht und Diskurs beginnt mit der glanzenden Antrittsvorlesung am
Coll…ge de France “L‚ordre du discoursÄ (1971).
Foucaults Analysen, fern davon, lediglich Ideengeschichte zu sein, sollen
mit der Analyse von als Diskursen definierten Denksystemen Beitrag sein
zu einer “Geschichte der Bedingungen der Mo glichkeit von Wissen und
Theorie u berhauptÄ.7 Man kann sie, da dieses Wissen vorwiegend (nicht
ausschlieälich) sprachlich geformt und tradiert wird, mit gleichem Recht als
Geschichte der Bedingungen der Mo glichkeit sprachlicher A uäerungen in
ihrer Bedeutungshaftigkeit bezeichnen. Solche Bedingungen versucht Fou-
cault in seiner Definition des Diskurses zu formulieren.
Ausgangspunkt fu r ihn ist „ fu r die Diskussion der Begriffsgeschichte nicht
unwichtig „ èdaä er eine Geschichte des Wissens schreiben will, die sich
nicht auf eine Geschichte der Begriffe, Theorien oder Themen beschrankt.
Ohne die Nu tzlichkeit solcher Analysen in Zweifel zu ziehen, fragt er nur
“ob sie der ungeheuren Dichte des wissenschaftlichen Diskurses gerecht werden, und
ob es nicht auäerhalb ihrer gewohnten Grenzen Systeme von Regelmaäigkeiten gibt,
die eine entscheidende Rolle in der Geschichte der Wissenschaften spielen.Ä (MC,
Vorw. z. dt. Ausg. 14) / 224
Sein Bemu hen gilt also gerade denjenigen Bedingungen unseres Wissens,
die nicht mit den herko mmlichen Methoden erfaäbar sind. Der Diskurs ist
ihm dabei nicht
5
Sheridan 1980, 205.
6
Siglen: MC fu r àLes mots et les chosesé (Foucault 1966 a), AS fu r àL‚archeologie du sa-
voiré (Foucault 1969 a), OD fu r àL‚ordre du discoursé (Foucault 1971). Zitierweise: Sigle +
Seite des franzo sischen Originals + Seite der deutschen U bersetzung.
7
Sloterdijk 1972, 164.
“der Ort, wo sich Gegenstande, die vorher errichtet worden waren, niederlegen und
u berlagernÄ (AS 58; 65)
sondern der Ort, wo die Gegenstande sich erst konstituieren und transfor-
mieren (AS 46; 50).
Im Versuch, eine allgemeine Definition des Diskurses zu finden, bestimmt
Foucault ihn als “eine Menge von Aussagen, die einem gleichen Formati-
onssystem zugeho renÄ (AS 141; 156). Aussagen (enonces) du rfen nicht mit
A uäerungen verwechselt werden. Da sie aber immer nur in solchen er-
scheinen ko nnen, bezeichnet Foucault den Diskurs in seiner allgemeinsten
Definition als “Menge von sprachlichen PerformanzenÄ (ensemble de per-
formances verbales). Hier sehe ich einen der Anknu pfungspunkte fu r eine
handlungsorientierte Sprachbetrachtung (s. u.). Diese allgemeine Definition
kann analytisch differenziert werden in (a) “was (eventuell sogar alles, was)
an Zeichenmengen produziert worden warÄ (ensemble de signes), (b) “eine
Menge von Formulierungsakten, eine Folge von Propositionen oder Sat-
zenÄ, und (c) “eine Menge von Zeichenfolgen..., insoweit sie Aussagen
sind, das heiät, insoweit man ihnen besondere Existenzmodalitaten zuwei-
sen kannÄ (a.a.O.). Dabei interessieren Foucault die Aussagen nicht in ihrer
Erscheinungsform als verbale A uäerungen oder linguistisch definierte Zei-
chenfolge, sondern ausschlieälich als Wissenssegmente, als Teil eines das
Wissen und die damit zusammenhangende diskursive und nicht-diskursive
Praxis strukturierenden und ermo glichenden Formationssystems. Dieses
Formationssystem bestimmt die Konstitution der Gegenstande, die Aus-
wahl der Begriffe und sprachlichen A uäerungen, die Bestimmung der Posi-
tion des Aussagesubjekts (das fu r Foucault nicht notwendig mit dem Spre-
cher identisch ist), und die Bestimmung der strategischen Wahl (AS 152;
169). Man darf den Diskurs aber nicht als Generierungssystem miäverste-
hen; er determiniert die Praxis nicht praskriptiv, sondern indem er insge-
samt die Bedingungen der Mo glichkeit fu r das Hervortreten bestimmter
Aussagen, bestimmter Praktiken umschreibt. Eine diskursive Formation
kann deshalb immer nur ru ckwirkend beschrieben werden, da sie sich
“nicht durch Formationsprinzipien, sondern durch eine tatsachliche Streu-
ung [der Aussagen, D. B.] definiert.Ä (AS 153; 170)
Gleichwohl unterliegt die Bildung und Verteilung der Aussagen innerhalb
eines Diskurses Regelmaäigkeiten. Die Regeln werden durch eine, durch-
aus auch institutionell gebundene, diskursive Praxis bestimmt, welche als
historisch gebundene das in einer Epoche zu sagen, zu denken und zu tun
Mo gliche begrenzt.
Die diskursive Praxis “ist eine Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum
und in der Zeit determinierten Regeln, die in einer gegebenen Epoche und fu r eine ge-
gebene soziale, o konomische, geographische oder sprachliche Umgebung die Wir-
kungsbedingungen der Aussagefunktion definiert haben.Ä (AS 153; 171) / 225
“Die Positivitat eines Diskurses [Ö ] charakterisiert dessen Einheit durch die Zeit hin-
durch. [Ö ] Sie definiert einen begrenzten Kommunikationsraum.Ä (AS 166; 183)
“Daher spielt die Positivitat die Rolle dessen, was man ein historisches Apriori nennen
ko nnte.Ä (AS 167; 184)
Als solches Apriori fungiert die Gesamtheit aller Regeln, die die Hervorbrin-
gung von Aussagen innerhalb einer diskursiven Praxis charakterisieren.
Foucault enthebt somit die Produktion von Wissen, von Theorien, Themen,
Begriffen der Subjektivitat und Kreativitat einzelner Individuen, und stellt sie
in einen Rahmen, der durch das einer Gesellschaft (bzw. einer Diskursge-
meinschaft) gemeinsame System von Wissenssegmenten abgesteckt wird,
welches als Denksystem, d.h. als Verknu pfung vielfaltiger Begriffe, Bedeu-
tungen, Wahrheiten, Erkenntnisse, Praktiken, eine gewisse Schwerfalligkeit
aufweist.
Die Ausbreitung dieses Wissens geschieht zu einem guten Teil in der Spra-
che. Man wird deshalb die Diskursanalyse in die historisch-semantische
Analyse der Entstehungsbedingungen historischen Wissens einbeziehen
ko nnen. Gleichwohl lehnt Foucault immer wieder die Einschrankung auf
Sprachanalyse ab. Zum einen aufgrund seines reduzierten Sprachbegriffs
(s.u.), zum anderen auch insoweit zu recht, als eine reine Geschichte der
Begriffe, der Theorien, der Themen nie die Verknu pfung einer diskursiven
Formation erhellen kann. So definiert Foucault die Einheit eines Diskurses
bewuät nicht u ber ein System von Begriffen, sondern bezeichnet umge-
kehrt den Diskurs als “Ort des Auftauchens der BegriffeÄ, dessen Formati-
onssystem allererst das Erscheinen und die Kombination von Begriffen er-
mo glicht. “Man beschreibt den begrifflichen Raster ausgehend von den
immanenten Regelmaäigkeiten des Diskurses.Ä (AS 83; 91) Dabei kann die
diskursive Formation Begriffe und Theorien in vo llig verschiedenen Diszipli-
nen gleichermaäen pragen. So vergleicht Foucault in MC z.B. Theorien in
der Biologie, O konomie und Sprachwissenschaft des 18. Jahrhunderts mit-
einander und ordnet sie der gleichen diskursiven Formation zu.
Der Diskurs steht fu r Foucault weder auf der Seite des Denkens, ist kein
reines Ideensystem, noch auf der Seite der Sprache. Er bezeichnet auch
nicht die Bruchlinie zwischen Denken und Sprechen oder zwischen Spra-
che und Wirklichkeit, wie Guedez richtig bemerkt: / 226
“Le discours n‚est pas le lieu d‚affrontement entre une realite et une langue, mais un
8
evenement specifique.Ä
8
Guedez 1972, 76.
“die Verknappung des Raumes zwischen Denken und Sprache dadurch, daä der Dis-
kurs in seiner eigenstandigen Materialitat und Ereignishaftigkeit zum bloäen Kontakt-
glied zwischen beidem degeneriert. Indem die èArchaologie des Wissens‚ den Diskurs
zum u bergreifenden Dritten emanzipiert, bringt sie in ein Verhaltnis der Korrelativitat,
was zuvor auseinanderfiel, die gleichwohl heterogenen Bereiche nichtdiskursiver In-
9
haltsformation und diskursiver Aussageformation.Ä
9
Fink-Eitel 1980, 44.
“Man findet Aussagen ohne legitime propositionelle Struktur; man findet Aussagen dort,
wo man keinen Satz erkennen kann; man findet mehr Aussagen, als man Sprechakte
isolieren kann.Ä (AS 111; 122)
Aussagen sind u berhaupt keine Entitaten (AS 112; 123), auch keine Struk-
turen (AS 115; 126), sondern “eine Existenzfunktion, die den Zeichen zu ei-
gen istÄ (a.a.O.). Die Aussage beschreibt die Funktion, die eine Zeichenfol-
ge, eine A uäerung in einem assoziierten Feld, in einer diskursiven Formati-
on haben kann. So kann ein und derselbe Satz, ein und dieselbe Zeichen-
folge, je nach Situation, Zeit, Ort etc. zwei verschiedene Aussagen enthal-
ten. Umgekehrt kann eine Aussage in verschiedener Form erscheinen.10
Eine Aussage steht “zu èetwas anderem‚Ä in einer spezifischen Bezie-
hung; doch ist diese Beziehung weder die zwischen Signifikant und Signifi-
kat, noch die zwischen Satz und Sinn oder Proposition und Referent (AS
117; 129). Sie ist “une fonction non justiciable d‚une analyse linguistiqueÄ 11è
linguistisch nicht objektivierbar bzw. beschreibbar. Ihre “Funktion besteht
darin, zu dem, was das Korrelat der Aussage heiäen ko nnte, einen Bezug
herzustellenÄ.12 Diesen Bezug stellt sie her, indem sie die Stelle anzugeben
erlaubt, die eine Zeichenfolge in einer Serie oder in einem Beziehungsge-
flecht von Wissen haben kann.
“Die Aussage [Ö ] ist stets in einer Folge oder Menge spezifiziert, wo sie eine Funktion
13
in einem Feld der Koexistenz u bernimmt.Ä
“eine Menge von Gebieten, wo solche Objekte erscheinen ko nnenÄ (AS 120; 132); eine
Beziehungsebene, die konstituiert wird “von Mo glichkeitsgesetzen, von Existenzregeln
fu r die Gegenstande, die darin genannt, bezeichnet oder beschrieben werden.Ä (AS
120; 133) / 228
10
Foucault nennt das Beispiel einer biologischen Tabelle, die zwar eine Aussage, aber kein
Satz oder dergleichen sei.
11
Guedez 1972, 74.
12
Kremer-Marietti 1974, 140. (Die franz. und die deutsche Ausgabe sind seitenidentisch.)
13
Kremer-Marietti 1974, 141.
“in die die Aussage sich einschreibt und wovon sie ein Element bildetÄ,
“auf die die Aussage sich (implizit oder nicht) beziehtÄ,
“deren spatere Mo glichkeit die Aussage bewerkstelligtÄ
“deren Status die infrage stehende Aussage teiltÄ.
Aussagen sind, indem sie die Funktion einer Zeichenfolge in einer diskursi-
ven Formation angeben, selbst eine Vielfalt von Beziehungen und Verknu p-
fungen, verweisen stets aber auch auf andere reichhaltige Felder von Aus-
sagen.
àChaque enonce est une multiplicite, mais chaque enonce est inseparable aussi d‚une
14
multiplicite d‚autres enonces.é
Dieses Aussagefeld beruht, wie die Aussage selbst, auf einer sprachlichen
Praxis innerhalb einer diskursiven Strategie; einer Praxis, die Bedingung fu r
das Hervortreten einzelner Gegenstande ist:
àII campo associato … una trama ›complessaêdi prassi linguistiche [...] che sono condi
15
zioni per l‚emergenza degli ›oggettiêche sono propri di quel tipo di enunciati.é
So hat die Aussage, in Bezug auf diese Praxis und in Bezug auf die Ver-
knu pfungen, die sie zwischen Wissenssegmenten herstellt, deren Existenz-
modalitaten sie bestimmt und deren Mo glichkeitsbedingung sie darstellt,
eine eigene Materialitat. Obgleich sie eines materiellen Tragers, einer Zei-
chenfolge, bedarf, “eine materielle Existenz habenÄ muä (AS 131; 145), so
kann ihre Materialitat dennoch nicht mit der A uäerung (enonciation) gleich-
gesetzt werden. Eine A uäerung ist immer einmalig; da es aber weniger
Aussagen gibt als A uäerungen, kommt eine Gleichsetzung nicht in Frage
(AS 133; 148).
Es scheint sich vielmehr um eine Materialitat zu handeln, die im Prinzip ih-
rer Aussagbarkeit, gleich in welcher Form, besteht. Da diskursive Formati-
onen / immer sprachliche Performanzen mit nichtsprachlichen verbinden, 229
kann eine institutionelle Handlung (z.B. das Einweisen eines èGeisteskran-
ken‚ durch einen Arzt in eine Irrenanstalt) eine Aussage enthalten, die nicht
durch einen einzelnen Satz, eine einzelne A uäerung individualisiert werden
kann. Ich wu rde deshalb immer vorziehen, von kognitiven Formationen,
von Strukturen des Wissens zu reden, die in Wissenssegmenten wirksam
werden, welche ausgesprochen werden, oder nach denen gehandelt wird.
Eine solche Interpretation der Foucaultschen Analyse wu rde es auch er-
leichtern, zu akzeptieren, daä das Subjekt einer Aussage nicht mit dem
Produzenten der A uäerung identisch sein muä(AS 125; 138). Fu r Foucault
ist das Subjekt
14
Deleuze 1972, 17 f.
15
Sini 1978, 209. (,èDas assoziierte Feld ist ein èkomplexes‚ Gewebe sprachlicher Praktiken,
welche Bedingung fu r das Hervortreten der èGegenstande‚ sind, die jenem Aussagetyp ei-
gen sind.Ä)
“ein determinierter und leerer Platz, der wirklich von verschiedenen Individuen ausge-
fu llt werden kann.Ä (AS 125; 139)
Neben ihrer spezifischen Form der Materialitat, dem Bezug aufs Korrelat
und dem Anschluäeines assoziierten Feldes ist die Bestimmung “der Posi-
tion des SubjektesÄ das vierte Merkmal der Aussagefunktion.16
Zwar sind die diskursiven Ereignisse immer nur in Form formulierter sprach-
licher Sequenzen analysierbar und faäbar (AS 39; 42), doch liegt das Inter-
esse der Diskursanalyse (der Archaologie des Wissens) nicht darin, sie als
solche zu beschreiben, sondern die hinter ihnen stehende Funktion in ei-
nem Feld des Wissens, der diskursiven Wirklichkeitsgestaltung aufzuhel-
len. Die Analyse der èAussagen‚ meint gerade die Untersuchung samtlicher
diskursiver Ereignisse, vornehmlich sprachlicher Sequenzen (aber nicht nur
sprachlicher), auf ihre Funktion in einem solchen Feld des Wissens hin. Da-
bei kommt die diskursive Formation auch als “Oberflache des Auftauchens
der GegenstandeÄ, fu r die sie “Instanzen der AbgrenzungÄ und “Spezifikati-
onsrasterÄ enthalt, in Blick (AS 56 ff.; 62 ff.). Doch geht ihre Funktion daru -
ber hinaus, nur die Erscheinung der Gegenstande zu ermo glichen. Viel-
mehr konstituiert sie die Mo glichkeit eines ganzen Netzes kognitiver Bezie-
hungen, unter denen die Gegenstande nur einen Teil ausmachen. Nicht auf
die Beschreibung einzelner Gegenstande, Sachverhalte kommt es an, son-
dern auf die Untersuchung der Formation und Strategie des Wissens an
einem historischen Ort, die das Hervortreten der Gegenstande erst ermo g-
licht haben. Die Gegenstande existieren selbst nur, weil sie zu einem Ras-
ter diskursiv gesteuerter Wirklichkeit geho ren, zu dem eine diskursive Pra-
xis geho rt, die nicht nur sprachliche Welterfahrung umfaät, sondern auch
das handelnde Umgehen mit den diskursiv konstituierten Gegenstanden in
institutionellen Rahmen.
Die kognitive Funktion einzelner Wissenssegmente, die sprachlich fu r die
Analyse nur schwer beschreibbar sind, versucht Foucault mit dem Termi-
nus der èAussage‚ bzw. èAussagefunktion‚ zu erfassen. Wesentlich ist nicht
die einzelne / Aussage, der einzelne Gegenstand, die einzelne Theorie, 230
sondern die Position, die sie in einem Netz diskursiver Beziehungen ein-
nehmen.
Der Gegenstand “existiert unter den positiven Bedingungen eines komplexen Bu ndels
von Beziehungen. [Ö ] Diese Beziehungen sind nicht im Gegenstand prasent; [Ö ] Sie
bestimmen nicht seine innere Konstitution, sondern das, was ihm gestat tet, in Erschei-
nung zu treten.Ä (AS 61; 68)
Diese Beziehungen werde durch die Analyse des Aussagenfeldes offen ge-
legt.
Die Untersuchung der diskursiven Einheiten hat die Funktion, deren Positi-
on im Aussagenfeld zu bestimmen.
16
Vgl. dazu auch Foucault 1969 b.
“Anstatt die Begriffe in einem virtuellen deduktiven Geb aude erneut anordnen zu wollen,
mu äte man die Organisation des Feldes der Aussagen beschreiben, in dem sie auftau-
chen und zirkulieren.Ä (AS 75; 83)
Das Aussagenfeld als Ort des Auftauchens der Begriffe strukturiert sich
durch “Formen der AbfolgeÄ, der Anordnung der Aussagen und Aussagen-
folgen (AS 75; 83), durch “Formen der KoexistenzÄ (AS 77; 85) und durch
“Prozeduren der Intervention, die legitim auf die Aussagen angewendet
werden ko nnenÄ (AS 78; 86). Interessant fu r uns sind besonders die For-
men der Koexistenz. Foucault differenziert sie in “Felder der PrasenzÄ, die
alle bereits woanders formulierten Aussagen desselben Gegenstandsbe-
reichs umfassen, die in einem Diskurs in irgend einer Weise eine Rolle
spielen; seien sie nun als anerkannte Wahrheit oder notwendige Annahme
vorausgesetzt, oder als kritisierte und zuru ckgewiesene Annahme ausge-
schlossen. Ein diskursives Feld organisiert sich demnach nicht allein durch
Affirmation, sondern ebenso durch Opposition. Eine Diskursanalyse mu äte
die Beziehungen des untersuchten Aussagefeldes zu allen anderen rele-
vanten Aussagen zu spezifizieren und einzuschatzen versuchen.
Weiterhin geho rt zur Koexistenz das “Feld der BegleitumstandeÄ (champ de
concomitance), das alle Aussagen umfaät, die zwar zu anderen Gegen-
standsbereichen geho ren, aber fu r die untersuchte Formation u.a. als allge-
meines Prinzip, als akzeptierte Pramissen, als u bertragbare Modelle aus
vo llig anderen Diskurstypen, als ho here Instanz wirksam werden. Ich glau-
be, daä gerade diese diskursrelevanten Felder anschlieäbaren Wissens in
den herko mmlichen Untersuchungsmethoden der historischen Genese von
Wissen am meisten auäer acht gelassen bzw. unterschatzt wurden. Es ist
eines der wichtigsten Verdienste Foucaults, daä er auf diese unabdingbar
zur Analyse geho renden Querverbindungen aufmerksam gemacht hat.
Schlieälich geho rt zum Aussagenfeld “das, was man ein Erinnerungsgebiet
nennen ko nnteÄ. Es handelt sich um Aussagen, die keine gu ltige Wahrheit
mehr enthalten, aber als historischer Grundstock, als Ort des Ausgangs der
Genese der gu ltigen Aussagen, oder als abgelehnte, èu berwundene‚ Wahr-
heit den gegenwartigen Wissensstand beeinflussen. Diese èverschu tteten
Quellen‚, die oft nur unbewuät weiterwirken, sind in ihrer Formierungskraft
fu r / gegenwartiges Wissen, gegenwartige Aussagen ebenfalls oft unter- 231
schatzt worden.17 Durch all die genannten Beziehungen der Aussagen und
ihrer kognitiven Umgebung wird eine diskursive Formation strukturiert.
“Dieses Bu ndel von Beziehungen konstituiert ein System begrifflicher Formation.Ä (AS
80; 88)
17
So schwebt z.B. der sog. “mittelalterliche IrrationalismusÄ immer noch als Gegenpol am
Horizont der heutigen Wissenschaft und wird als Ausschlieäungsmechanismus benutzt.
(Das ègegenwartig‚ im Text bezieht sich auf den Zeitpunkt der untersuchten Diskurse, da
nach Foucault immer nur schon vergangene Diskursformationen analysiert werden ko nnen.)
Doch geho rt zum Wesen diskursiver Formation nicht nur das Feld der Aus-
sagen, sondern auch die Regeln der Verknu pfung und Auswahl von Aus-
sagen, die durch die diskursive Praxis getroffen wird.18
Dieses strukturierende Element nennt Foucault die diskursive Strategie.
“Eine diskursive Formation besetzt also nicht das ganze mo gliche Volumen, das ihr die
Formationssysteme ihrer Gegenstande, ihrer A uäerungen, ihrer Begriffe mit Recht o ff-
nen. Sie ist wesentlich lu ckenhaft, und dies durch das Formationssystem ihrer strategi-
schen Wahl.Ä (AS 89; 99)
Die strategische Wahl einer diskursiven Formation soll als “Funktion, die
der untersuchte Diskurs in einem Feld nicht-diskursiver Praktiken ausu ben
muäÄ (AS 90; 99) charakterisiert werden. Die nicht-diskursiven Praktiken,
d.h. die Einbindung diskursiver Wissensstrukturierung in institutionelle Hand-
lungszusammenhange machen fu r Foucault die besondere Relevanz der
Diskurse fu r das gesamte gesellschaftliche Leben deutlich. Nicht zuletzt
deshalb grenzt er seine Diskursanalyse immer wieder von einer reinen Ge-
schichte der Ideen, Begriffe, Theorien, Themen ab. So sind diskursive Stra-
tegien fu r ihn auch “nicht der Ausdruck einer WeltsichtÄ (AS 92; 102), oder
eines “VorhabensÄ oder des “sekundaren Spiels der MeinungenÄ (AS 93;
103). Vielmehr sind sie “regulierte Weisen, Diskursmo glichkeiten anzuwen-
denÄ.
“Unter Formationssystem muä man also ein komplexes Bu ndel von Beziehungen ver-
stehen, die als Regel funktionieren.Ä (AS 98; 108)
Begriffe, Themen oder Theorien sind unter diesem Blickwinkel nur A uäer-
lichkeiten; ihre Analyse verbleibt auf der Oberflache der Diskurse. Sie sind
nicht auäer acht zu lassen oder zu u bersehen, sondern das Material, das
es erlaubt, die auf sie wirkende diskursive Strategie, ihre Verwendung in
einer nicht nur sprachlichen diskursgesteuerten Praxis zu entdecken.
“Seine [des Diskurses, DB] Einheit liegt in der Ermo glichung verschiedener und sogar
gegensatzlicher Strategien und Aussagenentfaltungen u ber dem gleichen Begriffs-
schatz und Methodenkorpus. Der Diskurs ist somit ein Dispersionssystem von Aussa-
19
gen.Ä
18
Die diskursive Formation wirkt als “Verbreitungs- und Verteilungsprinzip der AussagenÄ
(AS 141; 156).
19
Sloterdijk 1972, 176.
Die Strategie und Formation des Diskurses stellt sich als Einheit regelgelei-
teter diskursiver Praxis dar. Diesem Komplex wollen wir uns als nachstes
zuwenden.
“Man wird Formationsregeln die Bedingungen nennen, denen die Elemente dieser Ver-
teilung unterworfen sind (Gegenstande, A uäerungsmodalitat, Begriffe, thematische
Wahl). Die Formationsregeln sind Existenzbedingungen (aber auch Bedingungen der
Koexistenz, der Aufrechterhaltung, der Modifizierung und des Verschwindens) in einer
gegebenen diskursiven Verteilung.Ä (AS 53; 58)
“Man entdeckt auf diese Weise keine Konfiguration oder Form, sondern eine Gesamt-
heit von Regeln, die einer Praxis immanent sind und sie in ihrer Spezifizitat definieren.Ä
(AS 63; 70) / 233
Diese Regeln erhellen sich weniger dem sprechenden und handelnden In-
dividuum, als vielmehr dem Analytiker, der die diskursiven Erscheinungen
auf ihre historische Notwendigkeit bzw. Bedingtheit hin untersucht. Dieser
sollte laut Foucault
die diskursiven Gegenstande “auf die Gesamtheit der Regeln (beziehen), die es erlau-
ben, sie als Gegenstande eines Diskurses zu bilden, und somit ihre Bedingungen des
historischen Erscheinens konstituieren.Ä (AS 65; 72)
“In der Analyse, die hier vorgeschlagen wird, haben die Formationsregeln ihren Platz
nicht in der “MentalitatÄ oder dem Bewuätsein der Individuen, sondern im Diskurs
selbst; sie auferlegen sich folglich gemaä einer Art uniformer Anonymitat allen Individu-
en, die in diesem diskursiven Feld sprechen.Ä (AS 83; 92)
Wir sehen uns hier also dem gleichen Problem gegenu ber, das schon im
Regelkapitel deutlich wurde: die Formulierung sprachlicher Regeln ist eine
Angelegenheit analytischer Beschreibung, nicht des Produzenten der A u-
äerungen.
Die Beschreibung der Regelmaäigkeit diskursiver Praxis entfaltet sich als
die eigentlich historische Beschreibung unseres Wissens.
“Die Organisation einer Menge von Regeln in der Praxis des Diskurses [Ö ] kann im
Element der Geschichte determiniert werden.Ä (AS 83; 92)
“Als Gesamtheit von Regeln fu r eine diskursive Praxis ist das Formationssystem der
Zeit nicht fremd.Ä Es “determiniert eine zeitlichen Prozessen eigene Regelmaäigkeit.Ä
(AS 98; 108 f.)
Wir haben schon vom historischen Apriori, das die diskursiven Formationen
fu r die Mo glichkeit des Wissens bilden, gesprochen. Dieses Apriori, dem
historischen Wandel unterworfen, greift auf vielfaltige Weise in das Denken
ein.
“Die fundamentalen Codes einer Kultur, „ die ihre Sprache, ihre Wahrnehmungssche-
mata, ihren Austausch, ihre Techniken, ihre Worte, die Hierarchie ihrer Praktiken be-
herrschen „ è fixieren gleich zu Anfang fu r jeden Menschen die empirischen Ordnun-
gen, mit denen er zu tun haben und in denen er sich wiederfinden wird. Ä (MC 11; 22)
“Was wir an den Tag bringen wollen, ist das epistemische Feld, die episteme, in der die
Erkenntnisse [...] ihre Positivitat eingraben und so eine Geschichte manifestieren, die
[Ö ] die der Bedingungen ist, durch die sie mo glich werden.Ä (MC 13; 24)
Dabei geht Foucault zunachst davon aus, daä es in einer Kultur zu einem
gegebenen Zeitpunkt immer nur eine Episteme gebe, die samtliche Bedin-
gungen definiere, die das Wissen mo glich machten (MC 179; 213), eine
starke Behauptung, die er spater revidiert.
Er schrankt den Begriff der Episteme dann insofern ein, als Bezugspunkt
der Analyse zunachst die einzelnen Diskurse sind, die dann in ihrer gegen-
seitigen Verflechtung als “interdiskursive KonfigurationenÄ untersucht wer-
den sollen (AS 207; 226). Diese, auch “Konfigurationen der InterpositivitatÄ
genannten Verflechtungen vermitteln nicht mehr den starken Eindruck der
Einheitlichkeit des Wissens, der durch den Begriff der èEpisteme‚ erweckt
wird. Episteme wird nun eindeutiger als die verwissenschaftlichte Erkennt-
nis herausgestellt; der Schwerpunkt mehr auf die èArchaologie‚ des Wis-
sens schlechthin gelegt, die verschiedene diskursive Formationen einer
gleichen Epoche untersucht. / 235
“Die Episteme ist keine Form von Erkenntnis und kein Typ von Rationalit at [Ö ]; es ist
die Gesamtheit der Beziehungen, die man in einer gegebenen Zeit innerhalb der Wis-
senschaften entdecken kann, wenn man sie auf der Ebene der diskursiven Regelma-
äigkeiten analysiert.Ä (AS 255; 278)
Positivismus20, zu dem sich Foucault zwar noch trotzig bekennt (“eh bien je
suis un positiviste heureuxÄ AS 164; 182) ein. Ihn interessiert das Wissen
nicht in seiner schlichten Gegebenheit, sondern gerade in den Bedingun-
gen seines Erscheinens, und damit in seiner historischen Relativitat, die
sich erst nachtraglich als determinierte Folge unausweichlicher Einflu sse
darstellt. Die Archaologie “handelt u ber das Normative der Diskurse einer
Epoche, die Formen der Normierung des WissensÄ 21 und Normen mu ssen
in ihren historischen Zusammenhang gestellt werden. Ein purer Positivis-
mus schlieät gerade diese historische Perspektive aus. Er wu rde nie die
Annahme eines historischen Apriori akzeptieren.
Der in AS so oft gebrauchte Terminus der èPositivitat‚ meint gerade die
Normativitat epistemischer Strukturen; er soll gerade die historische Be-
dingtheit des Wissens herausstellen. Sheridan beschreibt sie zurecht so:
ÄThe positivity of a discourse [...] is that which characterizes its unity through a specific
22
period of time. [...] lt is a limited place of communication.Ä
“reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse als Horizont fu r die Untersuchung der
sich darin bildenden EinheitenÄ (AS 39; 41)
wie Foucault einmal etwas leichtfu äig deklamiert, ist es dabei sicher nicht
getan.
Mit èPositivitat‚ meint Foucault auch die besondere èMaterialitat‚, die beson-
dere Macht, die diskursive Formationen auf das Sprechen, Denken und
Handeln der Individuen ausu ben. Immer wieder lehnt er es ab, in der Dis-
kursanalyse so etwas wie die Freilegung einer verborgenen Einheit, eines
“anderen Diskurses unterhalbÄ des untersuchten, zu sehen. / 236
“Man sucht unterhalb dessen, was manifest ist, nicht das halbverschwiegene Geschwatz
eines anderen Diskurses; man muä zeigen, warum er nicht anders sein konnte, als er
war.Ä (AS 40; 43)
Und man muä ihn in seiner Macht, die er auf die Individuen ausu bt, unter-
suchen, denn
“man [kann] nicht in irgendeiner Epoche u ber irgendetwas sprechen.Ä (AS 61; 68)
20
Vgl. LeBon 1967: àUn positiviste desespereé.
21
Kremer-Marietti 1974, 5.
22
Sheridan 1980, 102.
“Der Diskurs ist dasjenige, worum und womit man kampft; er ist die Macht, deren man
sich zu bemachtigen sucht.Ä (OD 12; 8)
“Die Gedanken und Diskurse organisieren sich in Systemen, die als innere Machtwir-
24
kungen zu betrachten sind.Ä
23
Foucault 1976, 38.
24
Foucault 1976, 75.
“Das Archiv ist in seiner Totalitat nicht beschreibbar; und es ist in seiner Aktualitat nicht
zu umreiäen.Ä (AS 171; 189)
Seine Funktion hat die Vorstellung des Archivs als der immer anzusetzen-
de, immer in seiner Wirkungskraft zu beru cksichtigende Hintergrund der
Bedingung der Mo glichkeit aller Aussagen bei der Analyse der einzelnen
diskursiven Formationen als die speziellen Mo glichkeitsbedingungen ent-
haltende geregelte Praktiken. Die als Archaologie, als Hervorholung ver-
gangener Wissensgehalte operierende Analyse kann immer nur einzelne
Bereiche des Archivs durchleuchten, und sie kann es nur bei Diskursen,
“die gerade aufgeho rt haben, die unsrigen zu seinÄ. Die Mo glichkeitsbedin-
gungen unseres eigenen Wissens ko nnen wir nicht in der notwendigen
Tiefendimension aufhellen. Mit dem Hintergrund des Archivs bildet die Dis-
kursanalyse einen Grundstein im allgemeinen Feld der èArchaologie des
Wissens‚.
“Mein Gegenstand ist [Ö ] nicht die Sprache, sondern das Archiv, das heiät die Existenz
von zusammengetragenen Diskursen. Die Archaologie, so wie ich sie verstehe, [Ö ] ist
25
die Analyse des Diskurses in seiner Form als Archiv.Ä
Im Archiv „ dies sei noch einmal hervorgehoben „ nicht als Menge toten
Wissens, sondern als allgemeiner Mo glichkeitsbedingung diskursiver Pra-
xis. / 238
“Die Archaologie beschreibt die Diskurse als spezifizierte Praktiken im Element des Ar-
chivs.Ä (AS 173; 190)
25
Foucault 1967, 8; dt.: 169 f.
“die Geschichte eines Begriffs nicht [Ö ] die seiner fortschreitenden Verfeinerung, seiner
standig wachsenden Rationalitat, seines Abstraktionsanstiegs ist, sondern die seiner
verschiedenen Konstitutions- und Gu ltigkeitsfelder, die seiner aufeinanderfolgenden
Gebrauchsregeln, der theoretischen Milieus, in denen sich seine Herausarbei tung voll-
zogen hatÄ (AS 11; 11)
versucht er in seinem eigenen Ansatz die Begriffe auch noch als Aufhanger
der Analyse zu entwerten. So erklart er ein System von Begriffen als unge-
eignet fu r die Individuation eines Diskurses. Viel mehr als ihre Koharenz
mu äte das “Spiel ihres Erscheinens und ihrer VerstreuungÄ und schlieälich
ihres Verschwindens untersucht werden (AS 49; 54).26 Gegenstand der Un-
tersuchung ware allenfalls ihre Inkompatibilitat. Von einer solchen Auffas-
sung ist es nur noch ein kleiner Schritt dahin, anstatt der Begriffe die Be-
dingungen ihrer Mo glichkeit zu untersuchen.
“Eine solche Analyse betrifft also auf einer in bestimmter Weise vorbegrifflichen Ebene
das Feld, in dem die Begriffe nebeneinander bestehen ko nnen, und die Regeln, denen
dieses Feld unterworfen ist.Ä (AS 81; 89)
Die Archaologie beschreibt also nicht mehr die Begriffe selbst, sondern die
diskursive Formation als “Ort des Auftauchens der BegriffeÄ.
Sind schon die Begriffe ungeeigneter Anknu pfungspunkt, bilden sie sozu-
sagen nur das Material in dem Spiel, dessen Regeln untersucht werden
sollen, so kann die Diskursanalyse erst recht nicht mit einer Geschichte der
Ideen, Vorstellungen, Meinungen gleichgesetzt werden. Diese bilden ledig-
lich diskursive Teilmengen, / deren Auftauchen und Verstreuung u ber den 239
Diskurs (bzw. u ber mehrere Diskurse) ja erst untersucht werden soll (AS
87; 96). Die herko mmliche Ideengeschichte ist fu r Foucault “Analyse der
Meinungen mehr als des WissensÄ (AS 179; 195) der gegenu ber er “eine
geringfu gige VerschiebungÄ vorschlagt
“die darin besteht, daä man nicht die Vorstellungen hinter den Diskursen behandelt,
sondern Diskurse als geregelte und diskrete Serien von Ereignissen.Ä (OD 61; 41)
26
“Nicht die Begriffe selbst, sondern ihre Dispersion spezifiziert einen Diskurstyp.Ä Becker
1981, 49.
“Ich habe versucht [Ö ], die Geschichte nun nicht des Denkens allgemein, sondern alles
27
dessen zu schreiben, was in einer Kultur Gedanken entha lt.Ä
Die Geschichte des Wissens tritt damit aus ihren bisherigen Beschrankun-
gen heraus, um zu einer “internen Ethnologie unserer Kultur und unserer
RationalitatÄ 29 zu werden.
Mit diesem Anspruch versehen, muä Foucault es auch ablehnen, die Dis-
kursanalyse mit Interpretation gleichzusetzen. Die “Aussageanalyse ist
nicht hermeneutisch, sondern historischÄ 30.
“Die Aussageanalyse ist also eine historische Analyse, die sich aber auäerhalb jeder In-
terpretation halt: sie fragt die gesagten Dinge nicht nach dem, was sie verbergen, [Ö ]
sondern [Ö ], was es fu r sie heiät, erschienen zu sein „ und daä keine anderen an ih-
rer Stelle erschienen sind.Ä (AS 143; 159)
Die Diskursanalyse hat deshalb nicht zur Aufgabe, einen verborgenen Sinn
hinter den A uäerungen zu entdecken, sie soll die “Monarchie des Signifi-
kantenÄ vielmehr brechen (OD 72; 48), nicht Oberflachenanalyse der Be-
deutungen, sondern Beschreibung der Tiefenstruktur diskursiver Wissens-
formation sein.
27
Foucault 1966 b, 4, Sp. 4; dt. 156. Hierin liegt eine erstaunliche Parallele zu Boeckh, d er
von der Hermeneutik als der “Nachconstruction der Constructionen des menschlichen Geis-
tes in ihrer GesammtheitÄ spricht (1886, 16).
28
Russo 1973, 94.
29
Foucault 1967, 9; dt.: 174.
30
Kremer-Marietti 1974, 142.
31
Sheridan 1980, 221.
Ich teile mit Sloterdijk die Bedenken gegen Foucaults starke Abgrenzung
von Oberflachen- und Tiefenanalyse, die das Kind mit dem Bade auszu-
schu tten droht.
“Die Gefahr eines Determinismus post festum scheint mit dem archaologischen Experi-
ment standig verbunden zu sein. Es ist bedenklich, daä die Archaologie, die unter dem
Anspruch, Tiefenbedingungen zu analysieren, auftritt, kein Kriterium dafu r besitzt, ob
das von ihr Beschriebene nicht selbst bloä Oberflache sei [Ö ] Wie verhalten sich die
32
Episteme und die Phanohistorie der Meinungen zueinander?Ä
In der Tat lauft jede nur tiefenstrukturelle Analyse Gefahr, den empirischen
Anhaltspunkt zu verlieren. Werden die beobachtbaren Formen zu bloäem
Spielmaterial einer darunterliegenden Tiefenordnung, so bleibt deren Be-
schreibung in der Gefahr, bloäe Spekulation zu sein, ein weiterer Zug in
dem èSpiel der Meinungen‚, das Foucault zu Recht hinterfragen will. Es
scheint auch u bertrieben, die Sinnebene sprachlicher A uäerungen zu blo-
äer Oberflache, zu èMeinungen‚ zu degradieren. Wissens- und wirklichkeits-
bildstrukturierende Tiefenschichten der Diskursorganisation und in der Be-
deutungshaftigkeit diskursiver Ereignisse ausgedru ckte èMeinungen‚ durch-
dringen sich gegenseitig. Eine historische Semantik, die die Bedeutungs-
ebene sprachlicher Ereignisse nicht auäer acht laät, scheint eher geeignet,
Tiefenbedingungen der Denkstruktur und Phanomen-Ebene sprachlicher
Formulierungen und ihrer Bedeutungen zu analytischer Vermittlung zu brin-
gen.
Foucaults Miäachtung gegenu ber der Bedeutungsanalyse ist Ausdruck sei-
nes reduzierten Sprachbegriffs, mit dem wir uns gleich beschaftigen wer-
den. Sloterdijk weist uns auf weitere Mangel in Foucaults Konzept hin:
“Bei alldem begeht Foucault zwei schwerwiegende Unterlassungen: er bietet weder ein
explizites allgemeines Expose seiner semiologischen Reflexionen, noch macht er einen
33
Ansatz zu einer Theorie der strukturierten Praxis.Ä
32
Sloterdijk 1972, 173.
33
Sloterdijk 1972, 174.
die Ebene der Substitution einer diskursiven Formation durch eine andere
(die Ebene des diskursiven Wandels und der èInterpositivitat‚) (AS 223;
143).
“Positivitaten zu analysieren, heiät zu zeigen, nach welchen Regeln eine diskursive Pra-
xis Gegenstandsgruppen, A uäerungsmengen, Begriffsbu ndel und Serien theoretischer
Wahlmo glichkeiten bilden kann.Ä (AS 237; 258)
“Vier Begriffe mu ssen demnach der Analyse als regulative Prinzipien dienen: die Begrif-
fe des Ereignisses, der Serie, der Regelhaftigkeit, der Mo glichkeitsbedingung.Ä (OD 55;
37)
Es wird zu pru fen sein, ob aus diesem Instrumentarium von Prinzipien und
Kriterien eine schlu ssige Anleitung fu r die Diskursanalyse abgeleitet wer-
den kann. Es scheint viel eher umgekehrt so zu sein, daä Foucault im
nachhinein fu r seine eigenen Analysen eine methodische Struktur gesucht
hat, die zu sehr mit seiner eigenen Kongenialitat verknu pft ist, als daä sie
als allgemeine Richtschnur gelten kann. Wir werden sehen, welches Fazit
wir fu r unsere Untersuchungsziele aus Foucaults Diskurskonzept ziehen
ko nnen. Begnu gen wir uns zunachst mit den genannten Kriterien und mit
der Bemerkung, daä die Individualisierung eines Diskurses und seiner Me-
chanismen nicht zuletzt auf dem Wege der Abgrenzung, des Vergleichs er-
folgt, von dem Foucault zu hoffen scheint, daä er seine eigene empirische
Signifikanz besitzt.34 / 242
“entdeckt [Ö ], daä wir vor dem geringsten gesprochenen Wort bereits durch die Spra-
che beherrscht und von ihr durchdrungen sindÄ (MC 311; 364), und “daä sie eine not-
wendige Vermittlung fu r jegliche wissenschaftliche Erkenntnis ist, die sich als Diskurs
manifestieren willÄ (MC 309; 361),
doch fu hrt die Sprache in seinem Diskurskonzept selbst eher ein Schatten-
dasein. Zwar spricht er in der Schluäapotheose der “Ordnung der DingeÄ
der Linguistik noch eine wichtige Rolle zu
34
So jedenfalls Sheridan 1980, 105: ÄArchaeological analysis involves comparison: compari-
son of one discursive practice with another and a discursive practice with the non-discursive
practices (institutions, political events, economic and social processes) that surround it.Ä „
Vgl. auch Russo 1973, 98: àPour qu‚une pratique discursive puisse ùtre reconnue comme
une unite, il conviendrait d‚une part d‚ùtre assure qu‚elle offre une suffisante consistance
propre, d‚autre part qu‚elle est suffisamment isolable de son environnement.é
“Der Linguistik ko nnte es blu hen, eine viel fundamentalere Rolle zu spielen [Ö ] Unter
einem mit ihr bewaffneten Blick gelangen die Dinge zur Existenz nur, insoweit sie die
Elemente eines Zeichensystems bilden ko nnen.Ä (MC 393; 456)
Die Aufgabe besteht darin, “nicht [Ö ] die Diskurse als Gesamtheiten von Zeichen [Ö ],
sondern als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstande bilden, von de-
nen sie sprechen. Zwar bestehen diese Diskurse aus Zeichen; aber sie benutzen diese
Zeichen fu r mehr als nur zur Bezeichnung der Sachen.Ä (AS 66; 74)
In der Tat hat die Sprache eine andere Funktion, als vorgangig existierende
Gegenstande nur noch zu bezeichnen; dafu r haben wir in dieser Arbeit
genu gend Argumente gesammelt. Eine Sprachanalyse, um deren theoreti-
sche Grundlegung wir uns hier bemu hen, hat mehr im Blick, als eine auf
ein strukturiertes und geschlossenes Zeichensystem reduzierte Bezeich-
nungsfunktion. Unsere Analyse, als Untersuchung sprachlichen Handelns
auf dem Hintergrund eines Clusters von Bedingungen einschlieälich der
Bedingungen der Mo glichkeit zielt gerade (und / schlieät es ein) auf dieses 243
mehr, das Foucault anspricht, und das in einer strukturalistischen Analyse
mit dem starren Konzept Bezeichnetes/Bezeichnendes in der Tat unter den
Tisch fallt. Die in unserem Konzept kommunikativen Handelns angespro-
chenen Voraussetzungen und Bedingungen kommunikativen Handelns ha-
ben einige A hnlichkeit mit den von Foucault beschriebenen Bedingungen
diskursiven Wissens.
Daä Foucault scheinbar zu denen geho rt, fu r die “modern linguistics lay
completely outside their area of interestÄ 36 liegt wohl an dieser strukturalisti-
schen Beschrankung der Sprachauffassung. Ein solches Konzept macht es
schwer, Sprache als ideologiegeladen zu interpretieren, zu sehen, daä
àla langue est en fait elle-mùme determinee dans ce qu‚elle peut exprimer par tout un
37
contexte ideologique et culturel.é
35
Sheridan 1980, 37.
36
Sheridan 1980, 37.
37
Guedez 1972, 89.
Foucault versucht, “die Existenz der Sprache zum Problem zu machenÄ 38,
doch dabei steht ihm sein eingeschrankter Sprachbegriff im Wege.
“Foucault [laät] erkennen, daä er in der Sprache einen strukturellen Formalismus er-
blickt, durch den die Bedeutung jeden Zeichens, jeder Phrase, jedes Textes differentiell
39
konstituiert wird.Ä
Mit einem solchen Konzept kann nicht mehr erklart werden, weshalb in
sprachlichen Sequenzen Wissensstrukturen zum Ausdruck kommen, die
verschieden sein ko nnen, obwohl die Worte identisch sind. Indem er Spra-
che auf die Beziehung eines Zeichens zu einer systematisch angebbaren
èBedeutung‚ reduziert, muäer die epistemisch relevanten Momente sprach-
licher A uäerungen hinter die Sprache selbst verlegen, und mit einem frag-
wu rdigen eigenen ontologischen Status (als èAussagen‚) versehen.
Sloterdijk leistet Foucault wieder Formulierungshilfen:
Was mir im Sprechen erscheint, ist die in der Vorstellung festgehaltene Bedeutung und
nicht das erst sekundar festzumachende semiologische System. Dergestalt, erklart Fou-
cault, ist alles Wissen vom Menschen zwischen Bewuätsein und Vorstellung dissoziiert
„ eine Spaltung, die begru ndet, wie die empirischen Gehalte in die Vorstellung, oder
auch in die symbolische Ordnung gelangen ko nnen, ohne daä ihr Prinzip im mindesten
40
bewuät sein mu äte.Ä
38
Foucault 1966 b, 4 (Sp. 3); dt. 155.
39
Sloterdijk 1972, 174. Foucaults Sprachbegriff und sein Konzept von Linguistik werden bei
Becker 1981 vo llig unkritisch adaptiert (24, 40 u.o .).
40
Sloterdijk 1972, 170.
“Foucault projiziert die Strukturen, die Sprache als Signifikant, ins Schema der Phano-
menologie [Ö ] Foucault muä, indem er an strukturalistischen und phanomenologischen
41
Prinzipien zugleich festhalt, die Sprache in Wesen und Struktur zerbrechen.Ä
Indem er so die Sprache zerbricht, gesteht Foucault dem Diskurs und sei-
nen Elementen, den Aussagen, eine Unabhangigkeit von den Worten zu,
die diese nicht haben. Russo bemerkt zu Recht:
àNous ne nions pas qu‚il puisse y avoir une certaine independance du discours par
rapport aux ›motsê et aux ›chosesê, mais non point au degre o le voudrait M. Fou-
42
cault.é
“Die Sprache in der Instanz ihrer Erscheinung und ihrer Seinsweise ist die Aussage. Ä
(AS 148; 165)
Die enonce kann, mit einigem Wohlwollen, mit dem Sinn, dem kognitiven
Horizont einer kommunikativen Handlung verglichen werden, wie wir sie
verstanden hatten.
Festzuhalten bleibt aus Foucaults Analyse, daä die Entfaltung von Sinn
durch eine A uäerung nicht als schlichte Aneinanderreihung von bedeu-
tungstragenden Elementen geschieht. / 245
Auf die Bedeutung solcher epistemischer Felder, die erst die Ausfu hrung
einer Bedeutungsintention mo glich machen, hat Foucault zu Recht hinge-
wiesen. Seine Diskursanalyse muä in diesem Sinne fu r die historische Se-
mantik verwendbar gemacht werden.
Daä dies mo glich ist, soll an einem bisher noch nicht ausgefu hrten Aspekt
des Foucaultschen Diskurskonzepts abschlieäend deutlich gemacht wer-
den. Nicht zu Unrecht empfindet Foucault, von einem reduzierten Sprach-
begriff ausgehend, “das Aussageniveau an der Grenze der SpracheÄ (AS
147; 163). In der Tat werden durch ein so ehrgeiziges Projekt, wie er es
anstrebt, die Grenzen traditionellen Sprachverstandnisses transzendiert.
41
Sloterdijk 1972, 175.
42
Russo 1973, 97.
43
Sini 1978, 201 (“Die Bedeutungsintention besteht nicht schon vor der Existenz der Zei-
chen und Aussagen, sondern entfaltet sich im Innern einer schon aktivierten Zeichenfunkti-
on und im Bereich von schon verfu gbaren Aussagenfeldern.Ä)
“Der Diskurs, zumindest so, wie er von der Archaologie analysiert wird, das heiät auf
der Ebene seiner Positivitat, ist kein Bewuätsein, das sein Vorhaben in der auäerlichen
Form der Sprache unterbringt; ist nicht eine Sprache plus ein Subjekt, das die Sprache
spricht. Es ist eine Praxis, die ihre eigenen Formen der Verkettung und Abfolge besitzt.Ä
(AS 220; 241)
Mit dem Begriff der Praxis erscheint eine Anschlieäbarkeit der èArchaologie‚
an ein Konzept der Aufhellung der Bedingungen kommunikativer Akte, die
Foucault aufgrund seiner Unkenntnis gegenwartiger sprachtheoretischer
Diskussionen auäerhalb Frankreichs (wohinter sicher ein gut Stu ck Igno-
ranz steckt) nicht formulieren konnte. Das Finale der èArchaologie des Wis-
sens‚ laät uns Hoffnung scho pfen:44
“Es handelt sich darum, die diskursiven Praktiken in ihrer Komplexitat und in ihrer Dich-
te erscheinen zu lassen, zu zeigen, da Sprechen etwas tun heit „ etwas anderes,
als das auszudru cken, was man denkt, das zu u bersetzen, was man weiä, etwas ande-
res auch, als die Strukturen einer Sprache spielen zu lassen.Ä (AS 272; 298) / 246
“Mit dem Wort èPraxis‚ meint Foucault nicht die Tatigkeit eines Subjekts, sondern die ob-
jektive und materielle Existenz gewisser Regeln, denen das Subjekt unterworfen ist, s o-
45
bald es sich am èDiskurs‚ beteiligt.Ä
44
Hervorhebung von mir.
45
Lecourt 1972, 110; dt.: 87.
nicht Sache des freien Flugs der Gedanken ist, sondern historisch einge-
bunden in sich verandernde Bedingungen der Mo glichkeit bestimmter Ge-
danken.
Er will auch zeigen, daä die Formung des Wissens mit dem nicht-sprachli-
chen Handeln verknu pft ist „ ein Gedanke, der uns von Wittgenstein ver-
traut ist (den Foucault wohl nicht wahrgenommen hat).
“Die Ordnung des Diskurses besteht aus verschiedenen Arten, welche immer an gesell-
schaftliche Krafte gebunden sind, und schon aus diesem Grunde ist sie u berhaupt von
46
der Ordnung des Handelns oder der Existenz schlechthin nicht zu trennen.Ä
Foucault geht es um die “Gesamtheit der historischen Regeln, die die Wir-
kungsbedingungen von Aussagen definierenÄ 47; diese Regelhaftigkeit dis-
kursiv gebildeten Wissens, oder umgekehrt, diskursiver Handlungen, die
Wissen zum Ausdruck bringen oder auf es anspielen, konnte Foucault nicht
der Sprache selbst zurechnen. Indem sprachliche A uäerung auf die Be-
zeichnungsfunktion reduziert wurde, konnte das Sprechen nur als Ausfluä
einer Praxis selbst wahrgenommen werden. Fu r die Analyse des Spre-
chens als Praxis selbst fehlte das Vokabularium, das diese Praxis als genu-
in sprachliche hatte definieren ko nnen. / 247
Es stimmt deshalb nur teilweise, wenn Sheridan Foucault die Einsicht, daä
Sprache Handeln ist, zuschreibt.
ÄFar from being a consideration of language as structure, [his whole work] sees lan-
48
guage as act, as event.Ä
Dies formuliert mehr eine Absicht, als eine wirkliche Ausfu hrung. Wenigs-
tens ist Foucault vorzuwerfen, daä er das Paradox unternimmt, eine “Pra-
xistheorie ohne eigenen HandlungsbegriffÄ 49 zu versuchen. Daä es ihm ein
zentrales Anliegen ist, die Rolle des Subjekts in der Wissensgeschichte
zuru ckzudrangen, erklart diesen Mangel zwar, rechtfertigt ihn aber nicht. In
kritischem U bereifer bei der Ablehnung eines sicher lange Zeit in der Ideen-
geschichte u berbewerteten autonomen Subjekts schu ttet Foucault wieder
einmal das Kind mit dem Bade aus.
Sicherlich geht Foucault in die richtige Richtung, wenn er die historische
Analyse des Wissens aus den Beschrankungen eines vorgeblich autonom
konstituierenden Individuums herausholt und sie einbettet in die Untersu-
chung gesellschaftlicher Praktiken und Institutionen, die Grenzen der Auto-
nomie des Subjekts aufzeigt, und wenn er starke Bindung, die unser Wis-
sen durch historisch gewachsene Strukturen (als Mo glichkeitsbedingungen)
46
Kremer-Marietti 1974, 51.
47
AS 153; 171. Das vollstandige Zitat s.o. S. 224.
48
Sheridan 1980, 90. Ganz sicher ist es nicht in U bereinstimmung mit Foucaults Intentio-
nen, wenn Sheridan die èAussage‚ als Änot the words spoken or written, but the act of speak-
ing or writing them, the context in which they are uttered, the status or position of their au-
thorsÄ (99) interpretiert. Foucault grenzt die èAussage‚ immer wieder scharf vom Akt ihrer
èA uäerung‚ ab (z.B. AS 134; 148).
49
Sloterdijk 1972, 182.
“daä eine Veranderung in der Ordnung des Diskurses nicht èneue Ideen‚ [Ö ], sondern
Transformationen in einer Praxis [...] voraussetzt.Ä (AS 272; 298)
Diese Praxis geht soweit, die Bedingungen dafu r festzulegen, was wahr
oder falsch ist; ja, erst eine definierte Praxis ermo glicht es, u berhaupt einen
Irrtum festzustellen (OD 35; 23). Sicher hat Foucault recht, wenn er zeigen
will, daä Gegenstande, Begriffe und theoretische Wahlen u berhaupt erst in
einer geregelten diskursiven Praxis mo glich und konstituierbar werden (AS
237; 258). Sicher ist sprachliches Weltverhalten mehr, als die Bezeichnung
vorgefundener Gegenstande, als die einfache Beziehung eines Signifikan-
ten zu einem Signifikat. Es ist vielmehr gesellschaftlich vermitteltes Eingrei-
fen in die Wirklichkeit.
“Man muä den Diskurs als eine Gewalt begreifen, die wir den Dingen antun; jedenfalls
als eine Praxis, die wir ihnen aufzwingen. In dieser Praxis finden die Ereignisse des Dis -
kurses das Prinzip ihrer Regelhaftigkeit.Ä (OD 55; 37) / 248
50
Sloterdijk 1972, 182.
51
Sloterdijk 1972, 182.
“Was die Archaologie zu beschreiben versucht, ist [Ö ] der Bereich des Wissens.Ä (AS
255; 278)
Das Wissen kann nur in seiner Form als diskursive Praxis angemessen
analysiert werden.
“Es gibt kein Wissen ohne definierte diskursive Praxis; und jede diskursive Praxis kann
durch das Wissen bestimmt werden, das sie formiert.Ä (AS 238; 260)
Jede Analyse des Wissens, die die Bedingungen fu r das Entstehen be-
stimmter Wissensstrukturen aufklaren will, handelt es sich nun um die Er-
klarung von Auffassungswandel, oder um die Erklarung der gesellschaftli-
chen Bindung kognitiver Wirklichkeitskonstitution im Medium der Sprache,
muä die fundamentalen Verflechtungen aufhellen, die das Sprechen mit
dem Handeln, das Wissen mit Institutionen und intersubjektiv gu ltigen Re-
geln, den Diskurs mit einer Praxis verknu pfen. Diskursanalyse ist so dem
Anspruch nach nicht nur Geschichte des Denkens, nicht des Sprechens,
und auch nicht der Institutionen, / Tatsachen, Geschehnisse allein, sondern 249
der innigen Verbindung, die diese im Diskurs eingehen.
Die Dimension des Diskurses stellt sich dar als universaler Rahmen der so-
ziologisch-historisch gebundenen Wissensproduktion wie der epistemischen
Durchdringung der Institutionen und (auch nicht-diskursiven) Praktiken. Die
èWo rter und Dinge‚ sollen zuru ckgefu hrt werden auf ihren gemeinsamen
Nenner, den Diskurs.
“Man sollte alles lesen, alles studieren. Anders gesagt, muä man das Generalarchiv ei-
52
ner bestimmten Epoche zur Verfu gung haben.Ä
Foucault teilt uns leider nicht mit, wie dieses Unternehmen praktikabel sein
soll. Zum anderen isoliert die Analyse der Diskurse bestimmte Ereignisse
und laät andere auäer acht; das alles nach Gesichtspunkten, die sich nicht
auf der Oberflache der ausgedru ckten Inhalte finden.53 (Die Unausgewie-
senheit der Oberflachen/Tiefenunterscheidung wurde schon angespro-
chen.)
Mit diesen Anspru chen und dem reduzierten Sprachbegriff hangt zusam-
men, daä Diskursanalyse und historische Semantik fu r Foucault auf vo llig
verschiedenen Ebenen liegen. Er mokiert sich u ber die Tendenz des mo-
dernen Denkens, Bedeutungsanalyse zu betreiben (wobei er sicher einen
strukturalistisch reduzierten Bedeutungsbegriff im Auge hat):
“Am Himmel unserer Reflexion herrscht ein Diskurs, der mit einem Schlag eine Ontolo-
gie und eine Semantik sein soll.Ä (MC 221; 260)
Er u bersieht dabei, daäes gute Gru nde dafu r gibt, Ontologie und Semantik
zu verbinden. Bei aller Ablehnung der Semantik kann nicht u bersehen wer-
den, daä Wissen sich den Individuen als sprachlich vermittelter Sinn er-
schlieät; nicht allein / sprachlich, aber immer in der Verknu pfung prakti- 250
scher Tatigkeit mit sprachlicher Aneignung der Wirklichkeit.
Kremer-Marietti teilt uns mit, es ginge Foucault
“keineswegs darum, das Inventar der Lexik oder des semantischen Feldes aufzustellen.
Dagegen stellt sich ihm die Aufgabe, die bestehenden charakteristischen Relationen ei-
54
ner diskursiven Praxis zu orten.Ä
Nun gut. Auch einer historischen Semantik in dem von uns vorgeschlage-
nen Sinne geht es nicht darum, Bedeutungen wie feststehende Einheiten
zu inventarisieren, sondern die Verknu pfungen aufzuzeigen, in denen kom-
munikativ produzierter Sinn, gesellschaftliches Handeln (einschlieälich des
kommunikativen), und Wissen stehen; zu zeigen, daä historische Epochen
ihre je eigenen Bedingungen der Wissensproduktion haben; daä nicht in
jeder Zeit alles gedacht werden konnte; warum in einer bestimmten Periode
nur Bestimmtes gedacht werden konnte.
Im Gegensatz zu Foucault bin ich der Meinung, daäeine Analyse des Wis-
sens sehr wohl die Analyse der Produktionsebene von Sinn (in den sprach-
lichen A uäerungen) mit der der wissensformierenden Mo glichkeitsbedin-
gungen (der sog. Tiefendimension) verbinden kann und muä.55 Auch mir
52
Foucault 1966 b 3, (Sp. 4); dt.: 150.
53
Vgl. Foucault 1967; 6; dt. 158: “Jede Periodisierung hebt in der Geschichte eine bestimm-
te Schicht von Ereignissen heraus und umgekehrt verlangt jede Schicht von Ereignissen
nach ihrer eigenen Periodisierung.Ä
54
Kremer-Marietti 1974, 37.
55
Vgl. auch Barthes‚ (uns nahere) Interpretation: “Ohne jemals den Faden eines diachroni-
schen Exposes zu zerreiäen, bringt Michel Foucault fu r jede Epoche an den Tag, was man
geht es nicht darum, einen èwahren‚ Diskurs unterhalb des ho rbaren freizu-
legen, sondern die Bedingungen, unter denen bestimmte A uäerungen mit
ihrem Sinn erst mo glich werden, unter denen ein sprachlich Handelnder
hoffen kann, daä seine A uäerungen so verstanden werden, wie er sie ver-
steht. Struktur des Wissens und Produktionsbedingungen von Sinn liegen
auf derselben Analyseebene. Daädiskursive Formationen eine eigene Rea-
litat jenseits der sprachlichen Zeichen haben, sei als analytische Annahme
gestattet. Festzuhalten bleibt jedoch, daä sprachliche Kommunikation der
eigentliche Ort der Erscheinung und damit der intersubjektiven Geltendma-
chung des Wissens bleibt. Erst ausgesprochen kann ich Erkenntnis inter-
subjektiv vermitteln und damit gesellschaftlich konstituieren.
Untersuchung historischer Wissensformation im Zusammenhang mit Spra-
che muä auf der Bedeutungsebene sprachlicher Interaktion beginnen, um
an die Tiefenbedingungen heranzukommen. Diese Annaherung steht fu r
mich nicht im Gegensatz zu hermeneutischen Verfahren. Diskursanalyse,
als Offenlegen von Feldern, Konnexen von Sinn, kann sich nicht, wie Fou-
cault es darstellt, als Aufzeigen quasi-objektiver èPositivitaten‚ vollziehen.
Sie verbleibt, ihm entgegen, im Bereich der Interpretation, d.h. des Verste-
hens von Zusammenha ngen.
anderswo die Bedeutungseinheiten (unites de sens) nennen wu rde, deren Kombination die-
se Epoche definiert und deren U bertragung die Bewegung der Geschichte selbst darstellt.Ä
(Barthes 1961, 918; dt.: zit. nach Schiwy 1969, 83).