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Hartz IV
Der Staat vor Gericht
VON MARKUS SIEVERS

Berlin. Als die Hartz IV-Empfänger ihren Sturm auf die Sozialgerichte
begannen, war die Rede von einer Klageflut. Der Begriff sei falsch, meint der
Berliner Sozialrichter Michael Kanert. Denn auf eine Flut müsse eine Ebbe
folgen. Die aber kommt nicht. Im ersten Halbjahr 2008 klagten nach
FR-Informationen Hartz IV-Empfänger in 61 970 Fällen gegen ihre Bescheide.
Das noch einmal 36,2 Prozent mehr als zwölf Monate zuvor.

Hartz-IV-Akten
(Foto: dpa) Die Zahlen hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) auf Basis von
Statistiken der Bundesagentur für Arbeit ermittelt. Sie untertreiben die
tatsächliche Dimension noch etwas, weil sie die Verfahren in den 69 Optionskommunen nicht
berücksichtigen. Dort kümmern sich die Städte und Kreise eigenständig und ohne die BA um die
Langzeitarbeitslosen.

Mit Hartz IV ist der Sozialstaat für Millionen Menschen noch schwerer durchschaubar geworden. "Das
ist kompliziert wie das Steuerrecht", meint Sozialrichter Kanert. Geklärt sind lediglich die
Grundsatzfragen. So hat das Bundessozialgericht entschieden, dass der Regelsatz von früher 345 Euro
im Monat, heute 351 Euro, das Existenzminimum abdeckt und verfassungsgemäß ist.

In den Klagen geht es um Details, um ein paar Euro, die für die Menschen aber von existenzieller
Bedeutung sind. Da gründet ein Langzeitarbeitsloser eine Firma. Schon geht der Streit los, wie viel
Hartz IV ihm noch zusteht. Oder das Job-Center streicht einer Frau trotz Rheuma und
Bandscheibenvorfall einen Teil ihrer Bezüge, weil sie alle Einladungen für eine Beratung ausschlägt. Sie
hätte kommen müssen, entschied das Gericht. Aber bei der Kürzung habe das Amt Formfehler
begangen, daher müsse sie teilweise zurückgenommen werden müssen.

Was ist eine "angemessene" Wohnung? Sind die Kosten für Warmwasser in der Miete enthalten oder
hat die Familie Anspruch auf eine Extraerstattung? Eine Rolle spielen geänderte Prioritäten der
Arbeitsmarktpolitik. Die Arbeitsagenturen dringen nach Beobachtungen des Aachener Sozialrichters
Martin Kühl stärker darauf, dass Arbeitslose in einen Job vermittelt werden. "Kooperieren die
Betroffenen nicht, reagieren erst die Agenturen mit Sanktionen und dann die Hartz IV-Empfänger mit
Klagen", berichtet Kühl.

Angesichts der hohen Erfolgsrate der Klagen rät DGB-Arbeismarktexperte Wilhelm Adamy allen Hartz
IV-Empfängern, jeden Bescheid genau zu prüfen und bei Zweifeln juristischen Rat zu suchen.

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Dokument erstellt am 07.08.2008 um 16:24:06 Uhr

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Interview mit Sozialrichter Kanert


"Kompliziert wie das Steuerrecht"
Der Berliner Sozialrichter Michael Kanert sieht in unpräzisen Hartz-IV-Vorgaben die
Ursache der Prozessflut

Herr Kanert, im vierten Jahr von Hartz IV bricht die Zahl der Klagen alle
Rekorde. Warum?

Manche Anfangsprobleme bei der praktischen Umsetzung von Hartz IV sind


zwar gelöst. Dafür tauchen immer neue auf. Es gibt enorm viele strittige
Details. Beispielsweise können immer mehr Menschen von ihrer Arbeit nicht
leben und sind ergänzend auf Hartz IV angewiesen. Daraus ergeben sich
Michael Kanert ganz schwierige Probleme bei der Anrechnung des eigenen Einkommens. Das
(Foto: Privat) ist so kompliziert wie das Steuerrecht.

Stecken Prozesshansel hinter den Klagen?

Fast jeder zweite Kläger hat zumindest teilweise Erfolg. Die hohe Klagezahl lässt sich weder durch
Prozesshansel noch durch böse Behörden erklären. Wir haben es mit grundlegenden Fehlern in der
praktischen Umsetzung von Hartz IV zu tun.

Zum Beispiel wo?

Bis heute arbeiten die Job-Center mit einem Computerprogramm, das nicht richtig funktioniert. Da
müssen die Leute falsche Zahlen eingeben, damit das richtige Ergebnis herauskommt. So entstehen
massenweise Fehler. In Berlin klagen die Job-Center über zu wenig Personal. Außerdem sind die
Behörden oft überfordert mit der komplexen Rechtsmaterie.

Also schlampen die Behörden.

Ich sehe eher ein grundsätzliches Problem. Das Ziel von Hartz IV war, alle Leistungen für die
Betroffenen aus einer Hand anzubieten. Dann gab es politischen Streit und heraus kam als Kompromiss
eine Mischverwaltung aus Kommunen und Bundesagentur für Arbeit.

Was wünscht sich ein Sozialrichter von der Politik?

Wir haben damit zu kämpfen, dass zentrale Begriffe undeutlich formuliert sind. Im Gesetz steht nur,
dass eine Wohnung angemessen sein muss, damit der Hartz-IV-Empfänger die Miete erstattet
bekommt. Man kann keinen bundesweit einheitlichen Betrag dafür festlegen. Das
Bundesarbeitsministerium könnte aber zumindest konkrete Kriterien festlegen. Stattdessen muss die
Verwaltung diese Maßstäbe entwickeln, die dann von den Sozialgerichten in vielen tausend
Einzelentscheidungen überprüft werden. Das ist eigentlich eine politische Aufgabe.

In Berlin wird noch im August die fünfzigtausendste Klage zu Hartz IV eingehen. Werden Sie den Fall
feiern?

Der Fall wird genauso bearbeitet werden wie die 49 999 vorher. Aber wir werden ihn nutzen, um die
Öffentlichkeit auf das Phänomen dieser massenweisen Klagen aufmerksam zu machen.

Sozialrichter ist also ein Beruf mit Zukunft.

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Kommentar
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VON MARKUS SIEVERS

Es ist ein Volksaufstand der besonderen Art. Zu Zehntausenden wehren sich


die Menschen gegen Hartz IV und klagen bei den Sozialgerichten auf ein paar
Euro mehr. Politisch sind die Schlachten um die Arbeitsmarktreform vorerst
entschieden. Juristisch geht das Gezerre weiter. Eine solche Klagewelle hat
die Republik noch nicht erlebt. Und sie schwappt weiter hoch, obwohl Hartz
IV nun ins vierte Jahr geht und obwohl die deutlich bessere Lage am
Arbeitsmarkt eigentlich für Entspannung sorgen sollte.
Markus Sievers
(Foto: FR)
Der anhaltende Ansturm auf die Sozialgerichte ist für den Gesetzgeber eine
Blamage. Mit Hartz IV wollte die Politik den Sozialstaat vereinfachen und Bürokratie abbauen. Aber das
Gegenteil ist eingetreten. Die komplizierte Materie lässt Experten verzweifeln, wie es sonst nur das
deutsche Steuerrecht schafft. Für die Betroffenen und leider auch für viele Verwaltungsangestellte in
den Behörden sind die Regeln schlicht nicht zu begreifen.

Schnelle Abhilfe ist nicht zu erwarten. Stoppen ließe sich die Klagewelle nur durch einen erneuten
Totalumbau in der Arbeitsmarktpolitik. Daran aber wird sich, wenn überhaupt, erst die nächste
Regierung versuchen. Möglich wären aber schon heute einige kleine Erleichterungen. Beispielsweise
könnte der Arbeitsminister den Dauerstreit entschärfen, welche Wohnung angemessen ist. Dafür
müsste er nur allgemein gültige Kriterien entwickeln.

In jedem Fall geklärt ist die Frage, ob Hartz IV Arbeit schafft. Bei Anwälten, Richtern und in der
Arbeitsmarktverwaltung wirkt die Reform tatsächlich wie ein gigantisches Beschäftigungsprogramm.

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Copyright © FR-online.de 2008
Dokument erstellt am 07.08.2008 um 17:48:08 Uhr
Letzte Änderung am 07.08.2008 um 18:41:26 Uhr
Erscheinungsdatum 07.08.2008 um 17:48:08 Uhr

URL: http://www.fr-online.de/in_und_ausland/politik/meinung/kommentare/?em_cnt=1408009&em_loc=1775

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