Vorgeschichte
Der 85 Druckseiten starke Entwurf des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
(BMFSFJ) vom 17.3.2017 für ein Gesetz zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen – Kinder- und
Jugendstärkungsgesetz/KJSG (im Folgenden: Entw März 2017) ist mit einer Äußerungsfrist von vier(!)
Werktagen an die Verbände versandt worden – zudem unmittelbar vor Beginn des 16. Deutschen
Kinder- und Jugendhilfetages in Düsseldorf. Dabei hat der Entwurf bekanntlich eine längere
Vorgeschichte. In der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD von Ende 2013 für die 18.
Legislaturperiode des Deutschen Bundestages hieß es dazu u.a. (vgl. Entw März 2017, S. 28):
„Die Kinder- und Jugendhilfe soll auf einer fundierten empirischen Grundlage in einem sorgfältig
strukturierten Prozess zu einem inklusiven, effizienten und dauerhaft tragfähigen und belastbaren
Hilfesystem weiterentwickelt werden. Dazu gehören geeignete Finanzierungsformen für systemische
Unterstützungssysteme […] Wir werden daher die Steuerungsinstrumente der Jugendämter deutlich
verbessern und gleichzeitig die Rechte der Kinder und ihrer Familien sicherstellen sowie
sozialräumliche und präventive Ansätze verfolgen […]“
Diese drei wesentlichen Zielsetzungen der genannten Koalitionsvereinbarung
Umgestaltung der Kinder- und Jugendhilfe zu einem inklusiven Leistungssystem,
neue Finanzierungsformen und Verbesserung der Steuerungsinstrumente der Jugendämter,
Stärkung der Rechte von Kindern und Jugendlichen
konnten auf einem im Grundsatz breiten Konsens in der deutschen Kinder- und Jugendhilfe aufbauen
und waren durch zahlreiche fachliche Positionsbestimmungen sowie mehrere Beschlussfassungen
1
auch von Jugendministerkonferenzen „abgesichert“. Nicht wenige der genannten Grundsatzfragen
sind sodann im Dialog mit der Fachöffentlichkeit erörtert und vertieft worden, in der eine gespannte
Aufmerksamkeit weitverbreitet war, als erste – vielversprechende! – Foliensätze des federführend
zuständigen BMFSFJ ab etwa 2015 zirkulierten.
Mit der bis dahin gepflegten Transparenz war es in der Folgezeit allerdings bald vorbei. Und noch
größer war die Enttäuschung, als die ersten Gesetzesentwürfe im Jahre 2016 bekannt wurden. Mit
dem ersten Entwurf des BMFSFJ von Anfang Juni 2016 war deutlich geworden, dass mit der
angedachten „Größten Reform der Kinder- und Jugendhilfe seit Inkrafttreten des KJHG“ offenbar ein
in weiten Teilen grundlegender Systemwechsel beabsichtigt war, bei dem wohl weniger kinder- und
jugendhilfepolitische „Grundgewissheiten“ eine Rolle gespielt hatten, sondern Effizienzgedanken und
Steuerungsvorstellungen auch aus anderen Sozialleistungsbereichen. Kritisiert wurden in der
Fachöffentlichkeit insbesondere das offenbar geplante „Unterlaufen“ des Rechtsanspruchs auf Hilfe
zur Erziehung, der intendierte Gleich- oder sogar Nachrang der Einzelfallhilfe gegenüber
infrastrukturellen Angeboten („Sozialraumorientierung“), eine weitreichende Abkehr vom
1
Dazu im Einzelnen: Stellungnahme der Obersten Landesjugendbehörden zu den Änderungsbedarfen
bezüglich des Arbeitsentwurfs des Bundesfamilienministeriums für eine SGB VIII-Reform vom
23.8.2016, in: Dialog Erziehungshilfe 4/2016, 64–69, hier: S. 64.
2
2
Dreiecksverhältnis und ein „Frontalangriff“ auf Trägerpluralität und Trägerautonomie , der „Ausbau
von Kinderrechten als Vehikel für mehr Staatsintervention“, die Formalisierung des Verfahrens zur
3
Hilfeplanung und Hilfesteuerung und die Reduktion verwaltungsgerichtlicher Kontrolle.
Auf der gekennzeichneten Linie bewegte sich auch der nächste (Arbeits-)Entwurf des BMFSFJ vom
4
23.8.2016. Ich hatte mich dazu zusammenfassend u.a. wie folgt geäußert:
Im Bereich der materiell-rechtlichen Vorschriften zur Hilfe zur Erziehung wird der Rechtsanspruch
nach § 27 Abs. 1 SGB VIII beibehalten und überwiegend den Kindern und Jugendlichen selbst
zugeordnet. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen; die Differenzierung zwischen Ansprüchen von
Kindern und solchen von Erziehungsberechtigten ist jedoch teilweise zu hinterfragen. Der Entwurf
versucht des Weiteren, Leistungen nach den §§ 27 ff. mit „sozialräumlichen Angeboten“ zu
verknüpfen bzw. Letztere sogar vorrangig zur Geltung zu bringen. Dies ist sehr kritisch zu
hinterfragen, weil die Befürchtung auf der Hand liegt, dass dadurch im Ergebnis die Ansprüche
nach den §§ 27 ff. unterlaufen werden.
Die Verfahrensvorschriften sollen ganz erheblich ausgeweitet werden; es erscheint zweifelhaft, ob
dies in diesem Umfang wirklich geboten ist oder ob dies nicht vielmehr zu einer unnötigen
Überbürokratisierung führen würde. Besonders kritikwürdig ist, dass die Leistungen künftig nach
„Ermessen“ der Träger der öffentlichen Jugendhilfe gewährt werden sollen.
Auch über die Art der Finanzierung soll künftig nach dem Ermessen der Träger der öffentlichen
Jugendhilfe entschieden werden. Dies ist strikt abzulehnen; vielmehr sollte es bei der bewährten
klaren Zuordnung der Vertrags- und der Zuwendungsfinanzierung zu den unterschiedlichen,
genau definierten Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe bleiben. Auch gingen solche
Ermessensentscheidungen eindeutig zulasten der Träger der freien Jugendhilfe.
Das größte Reformvorhaben besteht in der geplanten Einführung eines Systems inklusiver
Leistungen. Dies ist grundsätzlich zu begrüßen, entspricht dies doch jahrzehntelangen und auch
aktuellen Forderungen sowohl aus dem Bereich der Kinder- und Jugendhilfe als auch zunehmend
aus dem Bereich der Behindertenhilfe. Einzelheiten bedürfen jedoch einer kritischen
Hinterfragung. Darüber hinaus bedarf es auch gesetzlicher Änderungen in den Bereichen SGB IX
und XII, die in dem Entwurf noch nicht enthalten sind.
Mit Blick auf den Entwurf vom 23.8.2016 kam es in der Fachöffentlichkeit (neben wenigen teilweise
5
auch positiven Stimmen) auch sonst zu ganz überwiegend negativen Äußerungen. Fast durchgängig
2
Gerlach/Hinrichs, Wie man mit schönen Worten den Rechtsanspruch auf Hilfe zur Erziehung
zurechtstutzt. Eine erste Analyse des Entwurfs eines Reformgesetzes zum SGB VIII, in: ZKJ 2016, 284–
287.
3
So Wiesner in einem Vortrag am 14.6.2016 in Frankfurt am Main („Reform oder Rolle rückwärts?“)
http://kijup-sgbviii-reform.de/wp-content/uploads/2016/07/Wiesner_Schlaglichter-22.9.2016-1.pdf.
4
Wabnitz, Erste Anmerkungen zur „Arbeitsfassung/Diskussionsgrundlage“ des BMFSFJ vom
23.8.2016 zur Vorbereitung eines Gesetzes zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen, in:
Homepage AFET. Bundesverband für Erziehungshilfen.
5
Aus der Fülle der Verlautbarungen sei an dieser Stelle nur hingewiesen auf die
Meinungsäußerungen auf der Internetplattform „DIJuF interaktiv“ und auf die Aufsatzserien etwa in
Forum Erziehungshilfen 5/2016 oder Jugendhilfe 5 und 6/2016 sowie auf der AFET-Homepage.
Besonders bemerkenswert erscheint die Stellungnahme der AGJ vom 29.9.2016, Novellierung SGB
VIII: Widersprüche im Reformprozess, die mit folgendem Appell endet: „Die Anliegen der Reform
verdienen gemeinsam weiter mit Kraft verfolgt zu werden. Wenn das Gesetz gegen die
ausdrücklichen Bedenken der Fachwelt durchgesetzt würde, ist eine dauerhafte Spaltung von Politik
und Fachwelt zu befürchten. Die AGJ appelliert deshalb an eine Besinnung auf die gemeinsam
getragenen Ziele, sieht die gemeinsame Basis und setzt daher auf eine Fortsetzung des Ringens um
eine fachlich gebotene Umsetzung im Interesse der jungen Menschen und ihrer Familien.“
3
6
lautete der Tenor: „SGB VIII-Reform: ja, aber nicht so“– in schriftlichen Stellungnahmen wie in
Besprechungen im Herbst 2016 mit dem BMFSFJ. Im Ergebnis ist der Arbeitsentwurf vom 23.8.2016
vonseiten des BMFSFJ schließlich richtigerweise zurückgezogen worden.
6
Auch in der genannten Stellungnahme der Obersten Landesjugendbehörden werden zwar die
„Zielstellungen einer SGB VIII-Reform“ grundsätzlich geteilt; sodann werden jedoch seitenlang
Änderungsbedarfe im Allgemeinen und Besonderen aufgelistet.
7
Wiesner im Editorial zu ZKJ 4/2017: „… scheint das Ministerium aus Fehlern gelernt zu haben und
verstanden zu haben, …“.
8
Dies alles ist nach Auffassung der Entwurfsverfasser/-innen „alternativlos“ (siehe S. 3: „C.
Alternativen: keine“!).
9
14. KJB 2013, BT-Drs. 17/12200, S. 379; dazu bereits Wiesner, Implementierung von
ombudschaftlichen Ansätzen der Jugendhilfe im SGB VIII, Berlin 2012.
4
ombudsschaftliche Begleitung und Beratung auf dieselbe hierarchische Ebene wie die übrigen
zentralen Ziele dieses Absatzes zur Verwirklichung von § 1 Abs. 1 SGB VIII (vgl. die dortigen
bisherigen Nr. 1–4) gehoben werden soll, erscheint unangemessen.
Darüber hinaus wird in § 1 Abs. 3 SGB VIII Entw März 2017 ein neuer Begriff „Teilhabe am Leben“
(durch junge Menschen) eingeführt und definiert – insbesondere mit der Möglichkeit, in den für sie
relevanten Lebensbereichen selbstbestimmt zu agieren. Diese insoweit neue Definition ist nicht
deckungsgleich mit den entsprechenden Definitionen nach dem Bundesteilhabegesetz (vgl. §§ 2 und
4 SGB IX in der künftig geltenden Fassung) und bedarf deshalb weiterer Diskussion.
Außerdem soll in § 1 Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII Entw März 2017 als weiteres zentrales Ziel von Jugendhilfe
eingefügt werden, dass jungen Menschen die gleichberechtigte Teilhabe am Leben in der
Gemeinschaft ermöglicht oder erleichtert werden soll. Auch in § 9 Nr. 3 SGB VIII soll das Ziel der
gleichberechtigten Teilnahme verankert werden.
„Jugendcheck“ für Maßnahmen auf Bundesebene: Die Entwicklung eines solchen „Jugendchecks“
mit Blick auf die Auswirkungen von gesetzgeberischen Initiativen auf die junge Generation – aber
fokussiert auf die Altersgruppe junger Menschen zwischen 12 und 27 Jahren – ist ebenfalls im
10
Koalitionsvertrag für die 18. Wahlperiode des Deutschen Bundestages vorgesehen. Diese Aufgabe
soll aufgrund von Ergänzungen in § 83 Abs. 2 SGB VIII Entw März 2017 dem Bundesjugendkuratorium
übertragen werden, das auch bisher schon die Bundesregierung in grundsätzlichen Fragen der
Kinder- und Jugendhilfe berät. Eine solche, gut vertretbare, Lösung setzt jedoch voraus, dass sowohl
die Zusammensetzung der Mitglieder des Bundesjugendkuratoriums – mit Blick auf zusätzlichen
Sachverstand in Rechts- und Gesetzgebungsangelegenheiten – verändert als auch mehr
hauptamtliches Personal zur Verfügung gestellt wird.
10
Siehe S. 31 im Entw März 2017.
5
Schaffung der Möglichkeit, durch das Familiengericht den dauerhaften Verbleib des Kindes in der
Pflegefamilie anzuordnen: Voraussetzung für diese Neuregelung in § 1632 Abs. 4 (zusätzlich: Satz 2)
BGB Entw März 2017 soll u.a. sein, dass eine Verbesserung der Erziehungsverhältnisse in der
Herkunftsfamilie trotz entsprechender Beratung und Unterstützung der Herkunftseltern innerhalb
eines vertretbaren Zeitraums nicht erreicht wurde und auch künftig nicht zu erreichen und die
Verbleibensanordnung zum Wohl des Kindes auch erforderlich ist. Gemäß der ebenfalls
vorgesehenen Neuregelung in § 1696 Abs. 3 BGB Entw März 2017 ist eine solche Maßnahme
allerdings aufzuheben, wenn sich die Erziehungsverhältnisse in der Herkunftsfamilie entgegen den
bisherigen Erwartungen so verbessert haben, dass sie das Kind ohne Gefährdung von dessen Wohl
wieder selbst erziehen können. Außerhalb dieser speziellen Konstellation soll darüber hinaus in §
1697a BGB Entw März 2017 (Kindeswohlprinzip) allgemein verdeutlicht werden, dass die genannten
Aspekte auch bei anderen Entscheidungen des Familiengerichts zu berücksichtigen sind (vgl.
Begründung zum Entw März 2017, S. 78).
Die insoweit mit Blick auf Pflegeverhältnisse vorgeschlagenen – und eingehend begründeten (siehe S.
11
77 ff. Entw März 2017) – Neuregelungen überzeugen im Grundsatz. In der Zusammenschau der
vorgeschlagenen Neuregelungen sind m.E. grundsätzlich akzeptable Kompromisse gefunden worden
mit Blick auf das Elternrecht der Herkunftseltern und deren gebotenen Beratung und Unterstützung
12
mit Blick auf die Verbesserung der Erziehungsverhältnisse dort; mit Blick auf die häufig sehr
belastende und unklare Situation für Pflegefamilien, über denen das „Damoklesschwert“ der
13
Beendigung des Pflegeverhältnisses schwebt und vor allem mit Blick auf das Wohl der Kinder und
Jugendlichen im Spannungsfeld von Herkunftsfamilie und Pflegefamilie und ihren Bedürfnissen nach
Entwicklung zu eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeiten (§ 1 Abs. 1 SGB
14
VIII), nach Geborgenheit, Sicherheit und Kontinuität.
Zum vorgesehenen § 1632 Abs. 4 Satz 2 Nr. 1 BGB Entw März 2017 ist allerdings kritisch zu
hinterfragen, wer denn einen solchen „vertretbaren Zeitraum“ festlegen soll und wie festgestellt
werden soll, dass bedarfsgerechte Unterstützungsangebote auch tatsächlich – und in welcher
Qualität – offeriert worden sind? Und in § 1632 Abs. 4 Satz 2 Nr. 2 Entw März 2017 ist unklar, auf
welche „Lebensverhältnisse“ sich dies bezieht; unter Umständen besteht hier ein Einfallstor für
nahezu beliebige fachliche Begründungen. In jedem Fall wird es auch in der Praxis der
Familiengerichte zweifellos weiterer Konkretisierungen bedürfen.
In § 1696 Abs. 3 BGB Entw März 2017 sind unbedingt die Worte „entgegen der Erwartung“ zu
streichen, weil unklar ist, wessen und welche Erwartung hier gemeint ist und eine
Abänderungsentscheidung auch unabhängig von solchen „Erwartungen“ möglich sein muss. Auch
sollte eine Vorgabe dahingehend erwogen werden, dass bei dauerhafter Anordnung nach einem
bestimmten festen Zeitraum, etwa nach zwei Jahren, eine Überprüfung der getroffenen
Entscheidungen erfolgen muss.
11
Siehe dazu auch das Positionspapier der AGJ, Weiterentwicklung und Qualifizierung der
Pflegekinderhilfe in Deutschland vom 29.9.2016.
12
Dazu: die aktuellen Initiativen und Positionsbestimmungen des Bundesnetzwerks Fachpolitik für
Eltern und Familien in der Kinder- und Jugendhilfe (BEFKJ).
13
Siehe dazu z.B. die Empfehlungen in: Scheiwe/Schuler-Harms/Walper/Fegert, Wissenschaftlicher
Beirat für Familienfragen beim BMFSFJ, Pflegefamilien als soziale Familien, ihre rechtliche
Anerkennung und aktuelle Herausforderungen, hrsg. von BMFSFJ, Juni 2016, insbesondere S. 46 ff.
14
Auch die Sachverständigenkommission für den 14. Kinder- und Jugendbericht 2013 (BT-Drs.
17/12200, S. 414) hat dazu aufgefordert, die hier bestehenden Überlegungen, im Ausland
gesammelten Erfahrungen und rechtlichen Regelungen mit Blick auf Dauerpflege-Verhältnisse zu
prüfen und Angebote zu erarbeiten und ggf. Vorschriften zu entwickeln, wie die Pflegekinderhilfe als
besondere Hilfeform rechtlich noch besser abgesichert werden kann, u.U. auch dauerhaft.
6
15
Diese sind, allerdings bezogen auf den Arbeitsentwurf vom 23.8.2016, von den Obersten
Landesjugendbehörden fast durchweg unterstützt worden; vgl. deren Stellungnahme, S. 65.
16
Vgl. die einschlägige Kommentarliteratur zu den §§ 45, 78b, 78e SGB VIII.
17
Solche Fragen spielen aktuell nicht zuletzt in Schiedsstellenverfahren nach § 78g SGB VIII eine
Rolle; dazu: Wabnitz, Zur örtlichen Zuständigkeit für den Abschluss von Vereinbarungen nach 78e
SGB VIII und zur Entscheidungskompetenz von Schiedsstellen nach § 78g SGB VIII, in: ZKJ 2015, 265–
266; Wabnitz, Einheitliche Betriebserlaubnis und einheitliche örtliche Zuständigkeit nach § 78e Abs. 1
Satz 1 SGB VIII bei dezentral organisierten Trägern der freien Jugendhilfe, in: ZKJ 2016, 124–125.
7
erscheint diese Zielsetzung akzeptabel; abzuwarten wird jedoch sein, ob diese Regelungen auch
praktikabel sind, da entsprechende Einrichtungen (wie Jugendclubs etc.) vielfach gar nicht bekannt
18
sind und vielfach insoweit auch überfordert sein dürften.
Praxisnähere Gestaltung von Datenschutzregelungen im Zusammenhang mit der Einsichtnahme in
Führungszeugnisse von neben- und ehrenamtlich in der Kinder- und Jugendhilfe tätigen Personen:
Die vorgesehenen Änderungen und Ergänzungen in § 72a SGB VIII erscheinen auf der Grundlage der
Gesetzesbegründung geboten, jedoch teilweise wohl nur für „Datenschutzspezialisten“ wirklich
überschaubar.
Schärfere Betonung der Vermittlung von Medienkompetenz im Bereich des erzieherischen Kinder-
und Jugendschutzes: In einem neuen § 14 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII Entw März 2017 soll explizit die
Vermittlung von Medienkompetenzen zu den Aufgaben des erzieherischen Kinder- und
Jugendschutzes erklärt werden. Dies ist überflüssig, da genau die Vermittlung von
Medienkompetenzen auch bislang rechtlich von den Aufgaben nach § 14 SGB VIII erfasst wird und in
der Praxis seit langer Zeit einen wesentlichen Bestandteil der konkreten Aufgabenwahrnehmung
ausmacht.
18
Vgl. Begründung S. 59 f. zu § 48b SGB VIII Entw März 2017.
19
Siehe Nachweise bei Wabnitz, 25 Jahre SGB VIII. Die Geschichte des Achten Buches
Sozialgesetzbuch von 1990 bis 2015, Berlin 2015, S. 186, 187.
8
statuiert. Dies zu tun, bleibt also eine weitere große Aufgabe im Bereich der Gesetzgebung zum
Kinderschutz.
Beseitigung von Unklarheiten in den Regelungen über die Informationsweitergabe von
Berufsgeheimnisträgern (und Änderungen des KKG): Durch eine Erweiterung von § 8a Abs. 1 Satz 2
SGB VIII Entw März 2017 soll die Möglichkeit geschaffen werden, Berufsgeheimnisträger nach § 4
KKG in die Abschätzung des Gefährdungsrisikos für das Wohl von Kindern und Jugendlichen nach
einer Meldung einzubeziehen. Diese fachlich vielfach als erforderlich angesehene Möglichkeit wird
damit auf eine eindeutige gesetzliche Grundlage gestellt. Des Weiteren sollen aufgrund von Art. 2
Entw März 2017 die §§ 3 und 4 KKG u.a. mit der Ziel der Verbesserung des Datenschutzes geändert
werden. Es ist zu empfehlen, auch die hier vorgesehenen Änderungen nochmals von
„Datenschutzspezialisten“ prüfen zu lassen.
Außerdem soll aufgrund einer Ergänzung von § 3 Abs. 4 KKG sichergestellt werden, dass auf der
Grundlage einer Verwaltungsvereinbarung und eines Fonds eine dauerhafte Absicherung der
Bundesförderung im Bereich der Frühen Hilfen erfolgen soll (in Höhe von wie bisher 51 Mio. € pro
Jahr; siehe Gesetzesbegründung, S. 71). Auch dies ist zu begrüßen, wobei hier nicht erörtert werden
soll, womit – wie bei inzwischen zahlreichen anderen Bereichen von Bundesförderung – die
Kompetenz des Bundes für eine solche dauerhafte Förderung von Aufgaben auf der örtlichen Ebene
begründet sein soll.
Verbesserung des Zusammenwirkens von Jugendamt, Jugendstrafjustiz, Strafverfolgungsbehörden
und Familiengericht im Kinderschutz: Die hierzu vorgeschlagene Ergänzung von § 52 Abs. 1 SGB VIII
ist im Grundsatz zu begrüßen: Entsprechende Kooperationen sind einzelfallbezogen und vor allem
fallübergreifend dringend geboten. Zu begrüßen ist auch, dass nach dem Gesetzesentwurf nicht nur
die Kinder- und Jugendhilfe, sondern auch Jugendgerichte und Strafverfolgungsbehörden insoweit in
die Pflicht genommen werden sollen. Gemäß Art. 6 Entw März 2017 soll in das JGG ein neuer § 37a
eingefügt werden (fallübergreifende und einzelfallbezogene Zusammenarbeit), nach dessen Abs. 1
Jugendrichter und Jugendstaatsanwälte mit anderen Stellen, auch der Kinder- und Jugendhilfe,
zwecks einer abgestimmten Aufgabenwahrnehmung fallübergreifend zusammenarbeiten „können“;
anstelle dieser vom Verpflichtungsgrad her doch sehr schwachen Regelung sollte es unbedingt
zumindest heißen: „sollen“, wie auch in Abs. 2 betreffend die einzelfallbezogene Zusammenarbeit.
Mit Blick auf Kindeswohlgefährdungen im Einzelfall ist zudem begrüßenswerter Weise in einem
neuen § 5 KKG Entw März 2017 eine Verpflichtung der Strafverfolgungsbehörden zum
Zusammenwirken mit dem Jugendamt vorgesehen, dieses zur Abwendung der Gefährdung zu
informieren und die erforderlichen Daten zu übermitteln.
Bedarfsgerechtere Leistungen und Angebote der Kinder- und Jugendhilfe
Verankerung des Leitgedankens der Inklusion: Bedauerlicherweise soll die über Jahre hinweg
vorbereitete und in der Fachöffentlichkeit inzwischen weitgehend konsentierte „Inklusive“ oder
„Große“ Lösung mit der Integration der Leistungszuständigkeit für alle (geistig, körperlich und
seelisch) behinderten jungen Menschen im SGB VIII zumindest auf der Grundlage dieses
Gesetzesentwurfes und damit zumindest vorläufig nicht weiterverfolgt werden. Trotz weitgehender
Vorarbeiten bis hin zu konkreten Formulierungsvorschlägen20 und trotz eindringlicher Forderungen21
nach einer Realisierung dieses über Jahrzehnte hinweg verfolgten Reformanliegens wird dieses
nunmehr erneut verschoben – hoffentlich nicht auf den „Sankt-Nimmerleins-Tag“.
Befürchtet man hier ein Scheitern am massiven Widerstand einzelner Bundesländer, die sich
entweder nicht in der Lage sehen, mit ihren zahlreichen „Kleinstjugendämtern“ diese in der Tat
große Aufgabe zu schultern (Nordrhein-Westfalen) oder die ihre in diesem Feld bislang maßgeblichen
20
U.a. bei Wabnitz, (Gesetzliche) Inklusionsbarrieren – Was behindert Inklusion?, in: ZKJ 2013, 52–
57.
21
Siehe zuletzt etwa die Petition „Hilfe aus einer Hand – auch für Kinder und Jugendliche mit
Behinderungen. Appell für eine inklusive Lösung“ 2015, die in der Fachöffentlichkeit der Kinder- und
Jugendhilfe breite Unterstützung gefunden hat.
9
Bezirke nicht aufgeben wollen (Bayern)? Wenigstens die noch im Entwurf vom 3.2.2017 enthaltene
Öffnungsklausel in § 10 Abs. 4 SGB VIII für diejenigen Länder, die die „Inklusive Lösung“ (nach einem
Übergangszeitraum) einführen wollen, hätte den Weg in das Bundesgesetzblatt finden sollen – unter
bewusster Inkaufnahme einer allmählichen „Sogwirkung“ auch auf die anderen Bundesländer.
Schade, dass diese große Regelungschance jetzt offenbar verpasst wird!
Immerhin soll der Leitgedanke der Inklusion an mehreren Stellen gesetzlich verankert werden:
22
grundsätzlich in § 1 Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII Entw März 2017, für den Bereich der Kindertagesstätten in
§ 22a Abs. 4 SGB VIII Entw März 2017 und für die Eingliederungshilfe in § 35a SGB VIII, der im Übrigen
nur punktuell geändert und an das Bundesteilhabegesetz bzw. das künftige SGB IX angepasst werden
soll. Darüber hinaus soll der Leitgedanke der Inklusion auch in § 79a SGB VIII (Qualitätsentwicklung)
sowie § 80 SGB VIII (Jugendhilfeplanung) zusätzliche Handlungsmaxime werden. Wenigstens dazu
sollte es zumindest kommen!
Einführung einer Regelung zum Übergangsmanagement: Nachdem mit diesem Entwurf nunmehr
richtigerweise auf eine völlige Neukonzeption des materiellen Leistungsrechts im Bereich der Hilfen
zur Erziehung nach den §§ 27 ff. SGB VIII verzichtet werden soll, ist Regelungsschwerpunkt in diesem
Bereich das insoweit einschlägige Verfahrensrecht (siehe dazu auch bereits oben die Ausführungen
zur Vollzeitpflege bzw. zum Pflegekinderwesen). In § 36 Abs. 1 SGB VIII sollen die Sätze 2 bis 5
aufgehoben und – systematisch überzeugend – der Bereich der Hilfeplanung im stationären Bereich
in einem neuen § 36a SGB VIII Entw März 2017 geregelt werden, und zwar umfassender als bislang.
Die Entwurfsvorschriften betreffen insbesondere Fragen der Perspektivklärung mit Blick auf die
betroffenen Kinder und Jugendlichen, einer Kontinuität-sichernden Hilfeplanung unter
Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens, die Beratung und Unterstützung von Eltern und
Pflegepersonen, Dokumentationspflichten und Pflichten zur Überprüfung der begonnenen
Hilfeleistungen.
Dabei ist allerdings mit Blick auf § 36a Abs. 1 SGB VIII Entw März 2017 darauf hinzuweisen, dass eine
Perspektivklärung gleich zu Beginn von Maßnahmen in der Praxis vielfach nicht möglich ist bzw. dass
entsprechende Maßnahmen sehr häufig vorzeitig abgebrochen werden. Deshalb sollte klargestellt
werden, dass diese Perspektivklärungen nicht in jedem Fall bereits zu Beginn entsprechender
Maßnahmen erfolgen müssen. Darüber hinaus sollten die Inhalte der zu fordernden Dokumentation
im Hilfeplan nach Abs. 4 ergänzt werden um die gebotene Entwicklung eines Elternarbeits- und
Restabilisierungskonzepts mit Blick auf die Herkunftsfamilie.
In § 36b SGB VIII Entw März 2017 ist ein „Übergangsmanagement“ betreffend die Zeit spätestens ab
Vollendung des 17. Lebensjahres von Jugendlichen in Hilfen zur Erziehung vorgesehen. Dabei soll
insbesondere geklärt werden, ob weiterhin Hilfen zur Erziehung oder Hilfe für junge Volljährige nach
§ 41 SGB VIII geboten oder Leistungen nach anderen Sozialgesetzen und eine möglichst
„reibungslose“ Überführung in die Zuständigkeit anderer Sozialleistungsträger angezeigt sind. Diese
Regelungen sind im Grundsatz zu begrüßen. Geklärt werden sollte noch (ggf. in der
Gesetzesbegründung), was konkret mit „Selbstständigkeit“ der betroffenen jungen Menschen
gemeint ist und wer ggf. in „Vorleistung“ zu treten hat, wenn andere Träger (zunächst) nicht zu
leisten bereit sind. Zu begrüßen ist die Klarstellung in § 41 Abs. 1 SGB VIII Entw März 2017, dass eine
Beendigung der Hilfe eine erneute Hilfegewährung nicht ausschließt.
Stärkere Einbeziehung der Träger der freien Jugendhilfe in die Pflicht zur Qualitätsentwicklung: Die
geplante Einbeziehung der Qualitätsentwicklung als Gegenstand der Vereinbarungen nach § 77 –
künftig § 78 SGB VIII Entw März 2017 – erscheint grundsätzlich sachgerecht. Allerdings ermöglicht die
vorgeschlagene Formulierung, dass der Träger der öffentlichen Jugendhilfe auch keine
entsprechende Vereinbarung abschließt und damit verhindern kann, dass Beratungsleistungen für
Eltern und Pflegeeltern gewährt werden. Damit würde der Gesetzeszweck konterkariert, sodass eine
entsprechende Klarstellung erfolgen muss.
22
Ähnlich Wabnitz, a.a.O. (Fn. 20), hier: S. 56 mit Regelungsstandort in einem neuen § 2a SGB VIII.
10
Zu erinnern ist des Weiteren an einen wiederholt vorgetragenen Vorschlag, u.a. von den
23
Schiedsstellenvorsitzenden der Länder, in einem neuen § 78c Abs. 3 SGB VIII Näheres zum Inhalt
von Qualitätsentwicklungsvereinbarungen zu regeln, die in der Praxis bisher nicht zufriedenstellend
zustande gekommen sind. Es wäre eine gute Gelegenheit, dies im Rahmen dieses
Gesetzgebungsverfahrens nachzuholen.
Weiterentwicklung von Förderleistungen im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder und der
Kindertagespflege: In § 22 SGB VIII soll, der bisherigen Praxis entsprechend, der Begriff der
Kindertagespflege erweitert und auch die Leistungserbringung im Haushalt von
Erziehungsberechtigten (nicht nur der Personensorgeberechtigten) und in anderen geeigneten
Räumen einbezogen werden. Weitere kleinere geplante Änderungen betreffen die
Gesundheitsförderung und den Erwerb von Sprachkompetenzen als Elemente des
Förderungsauftrags oder stellen begriffliche und inhaltliche Präzisierungen (in den §§ 22a und 23 SGB
VIII) dar. Auf der Grundlage eines neuen § 24a SGB VIII Entw März 2017 (Berichtspflicht) hat die
Bundesregierung jährlich – wie es bereits der gegenwärtigen Praxis entspricht – einen Bericht über
den Stand der Förderung im Bereich der Tageseinrichtungen für Kinder und der Kindertagespflege
vorzulegen. All diese Regelungsvorschläge sind nicht zu kritisieren, können allerdings kaum mit
„Weiterentwicklung von Förderleistungen“ überschrieben werden.
Fazit
Insgesamt begegnet der Gesetzesentwurf des BMFSFJ vom 17.3.2017 weit weniger Bedenken als die
Entwürfe aus dem Jahr 2016. Im Gegenteil: Vielen Regelungsvorschlägen kann zugestimmt werden
oder sie erscheinen zumindest akzeptabel. Anerkennenswerter Weise sind zahlreiche Hinweise aus
den zu den Vorgängerentwürfen ergangenen Stellungnahmen berücksichtigt worden. Insbesondere
wurde auf eine Neukonzeption der materiell-rechtlichen Vorschriften über die Hilfe zur Erziehung
sowie der Finanzierungsvorschriften verzichtet. Aber es besteht bei zahlreichen
Entwurfsbestimmungen zum Teil noch erheblicher Diskussions- und Veränderungsbedarf.
23
U.a. am 22./23.9.2014 in Berlin im Rahmen der Fachtagung „15 Jahre Schiedsstellen nach dem SGB
VIII“; siehe die konkreten Vorschläge in: AFET-Veröffentlichung Nr. 74/2015, 15 Jahre Schiedsstellen
in der Kinder-und Jugendhilfe (1999–2014), Hannover 2015, S. 110, 111; vgl. auch Block, 15 Jahre
Schiedsstellen – Debatte um Weiterentwicklung, in: Dialog Erziehungshilfe 4/2014, 12, 13.
24
VG Darmstadt, Urteil vom 9.11.2015 – 5 K 1331/14.DA; OVG Münster, Urteil vom 20.4.2016 – 12 A
1262/14; OVG Koblenz, Urteil vom 1.9.2016 – 7 A 10849/15; VGH Mannheim, Urteil vom 8.12.2016 –
12 S 1782/15.
11
Sehr zu bedauern ist, dass man auf die „Inklusive (Große) Lösung“ verzichtet hat. Und zu bedauern ist
auch, dass nicht Vorschriften vorgeschlagen worden sind, die wesentlich nachhaltiger eine „Stärkung
25
der Rechte von Kindern“ hätten bewirken können: insbesondere Rechtsansprüche (auch von
Kindern und Jugendlichen selbst) auf Hilfe zur Erziehung, Regelrechtsansprüche auf Leistungen der
26
Sozialarbeit an Schulen und der Jugendsozialarbeit sowie Regelrechtsansprüche von Trägern der
freien Jugendhilfe auf Subventionsförderung. Damit verdient der Gesetzesentwurf in der nunmehr
vorliegenden Fassung weniger die Überschrift „Kinder- und Jugendstärkungsgesetz“ als eher die
Überschrift: „Änderungsgesetz …“ oder (wegen der zahlreichen Vorschriften zum Kinderschutz):
„Zweites Bundeskinderschutzgesetz“, selbst wenn der Entwurf noch keine Vorschriften mit wirklich
substanziellen Verbesserungen im Leistungsspektrum der gesetzlichen Krankenversicherung enthält.
Es erscheint aus Zeitgründen wohl nur noch theoretisch möglich, dass es in den verbleibenden
wenigen Monaten vor der Bundestagswahl 2017 noch zu einer Verabschiedung eines
entsprechenden Gesetzesentwurfes im Bundestag und zu der erforderlichen Zustimmung des
Bundesrats kommt. Aber man erinnere sich an das Jahr 2005, als eben dieses in einer ähnlichen
zeitlichen Situation überraschender Weise dann doch gelungen ist, nämlich mit Blick auf die
27
Verabschiedung des damaligen Kinder- und Jugendhilfeweiterentwicklungsgesetzes (KICK), mit der
auch nicht mehr zu rechnen gewesen war.
25
Dazu ausführlich Wabnitz, 25 Jahre SGB VIII, a.a.O. (Fn. 19), S. 396–408.
26
Dazu: Kunkel, Gesetzliche Verankerung von Schulsozialarbeit. Expertise mit Unterstützung der
Max-Traeger-Stiftung, hrsg. von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft – Hauptvorstand,
Frankfurt Dezember 2016.
27
Gesetz vom 8.9.2005 (BGBl. I 2005, 2729)