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Historia literaria Historia literaria

Masculinity and Identity in London and New York (New York Fabricius eine H. universalis, in der alle Gelehrten und
2001); Müller (Hg.) [32]. – 37 vgl. ebd. [4] 56. – 38 vgl. P. Gorsen: alle Schriften Berücksichtigung finden, aufgrund ihrer
G. u. Art Brut, in: Schaeffer-Wiery, Siegl [1] 8–16. – 39 vgl. Undurchführbarkeit ab. Stattdessen bevorzugt er den
Stahl [4] 82–86. – 40 vgl. ebd. 8–12; Gorsen [38] 11f. – 41 M. Bull:
Banksy. Locations and Tours (Oakland 2009). – 42 vgl. B. Suter:
Begriff H. generalis, in der lediglich die wichtigsten Ver-
G.-Cyberland – Objekte im Spiegel des Verschwindens, in: änderungen in den Wissenschaften vorgetragen werden
Schaefer-Wiery, Siegl [1] 116–125. – 43 J. Baudrillard: Kool Kol- sollen. [6] Für die Verfasser der H. ist das Selektions-
ler oder Der Aufstand der Zeichen (1978) 26. – 44 ebd. 29. – kriterium für die Auswahl der Autoren und Werke de-
45 vgl. R. Neumann: Das wilde Schreiben: G., Sprüche u. Zei- ren Nutzen (utile), der wiederum aus dem Zweck (télos)
chen am Rand der Straßen (1986) 78f.; Stahl [4] 149. – 46 vgl. R. der H. abgeleitet wird. [7] Allgemein strebt die H.
Roche: G. – sprachliche Wirkungsmuster u. Aktionsziele einer danach, (1) die für den gegenwärtigen Wissenschafts-
Kontrakultur, in: Aus Politik u. Zeitgesch. 21 (1984) 29–44; A. diskurs notwendige Gelehrsamkeitsliteratur zu bestim-
Dittgen: Regeln für Abweichungen. Funktionale sprachspiele-
rische Abweichungen in Zeitungsüberschriften, Werbeschlag-
men (Kanon) und (2) sie auf diese Weise im kollektiven
zeilen, Werbeslogans, Wandsprüchen u. Titeln (1989). – 47 vgl. Gedächtnis zu bewahren (memoria). Zugleich werden
z.B. Neumann [45]. – 48 Cherubim [1] 740. – 49 vgl. Dittgen [46] (3) die Werke in die Entwicklungsgeschichte der Ge-
45, 110, 167. – 50 ebd. 43. – 51 vgl. Roche [46] 31. – 52 vgl. ebd. – lehrsamkeit eingeordnet. [8] Dies soll unter anderem (4)
53 vgl. L. Calboli Montefusco: Art. ‹Auctoritas›, in: HWRh, die Abgrenzung von aktuellem/‘wahrem’ und veralte-
Bd. 1 (1992) Sp. 1177–1185. – 54 vgl. Blume [8] 141. – 55 J. Kna- tem/‘falschem’ Wissen ermöglichen und insgesamt (5)
pe: Was ist Rhet.? (2000) 81. – 56 W. Grasskamp: Handschr. ist eine Schärfung des Urteilsvermögens (iudicium) her-
verräterisch. Stichworte zu einer Ästhet. der G., in: Kunstforum beiführen. [9] Darüber hinaus erstrebt die H. (6) die mo-
50 (1982) 29. – 57 Blume [8] 142 [Übers. Verf.]. – 58 vgl. ebd. 146.
– 59 vgl. ebd.
ralische Schulung ihrer Leser. Entsprechend werden
Bücher, die zu sündigem Verhalten aufreizen, entweder
nicht erwähnt oder eindeutig als warnende Beispiele
Literaturhinweise: vorgeführt. [10] Schließlich soll die H. auch (7) der Er-
P. Kreuzer: Das G.-Lex. (1986). – J. Stahl (Hg.): An der Wand. bauung (aedificatio) dienen. [11] Mit diesen Zielen rich-
G. zwischen Anarchie u. Galerie (1989). – H. Waldenburg: Ber- tet sich die H. in der Regel als Nachschlagewerk an die
liner Mauerbilder (1990). – P. Lingens: Kurze Einf. u. Auswahl-
bibliogr. zu hist. G. vom MA bis zum Beginn des 20. Jh., in: Kul-
gesamte Gelehrtenschaft, im Besondern (und teilweise
Tour 2 (1992) 45–64. – K.-W. Weeber: Decius war hier...Das nur vorgeblich) als Propädeutikum an die studierende
Beste aus der röm. G.-Szene (1996). Jugend, aber auch an ein allgemein interessiertes Publi-
kum. [12] Die Angemessenheit (aptum) für diese Ziel-
A. Semmig gruppen bestimmt ebenfalls die Auswahl der in der H.
berücksichtigten Literatur.
^ Bild, Bildlichkeit ^ Bildrhetorik ^ Image ^ Inschrift ^ In- 2. Differenzierung: Die allgemeine H. wird in Gebiete
termedialität ^ Jargon ^ Karikatur ^ Name ^ Plakat ^ der Gelehrsamkeit unterteilt, die von ihrem Umfang her
Pseudonym ^ Öffentlichkeit überschaubarer sind. [13] So soll sich die H. particularis
(besondere H.) nur mit einem Teil der Gelehrsamkeits-
geschichte befassen (z.B. der Geschichte einer bestimm-
ten Wissenschaft oder der Gelehrsamkeit eines be-
stimmten Volkes). Die H. singularis (allerbesonderste
H H.) soll sich lediglich einem einzelnen Gegenstand wid-
men (z.B. einer einzelnen Schule, einer einzelnen Per-
son oder gar einem einzelnen Buchstaben). [14] Auf
Historia literaria (dt. Geschichte der Gelehrsamkeit; diese Weise versucht die H. eine topische Struktur zu
engl. literary history; frz. histoire littéraire; ital. storia entwickeln – eine Art ‹Koordinatensystem der Gelehr-
letteraria) tenliteratur›, in dem man jedem einzelnen Werk sowohl
A. Def. Der Begriff ‹H.› bezeichnet sowohl eine wis- einen Ort (toÂpow, tópos) auf der Achse der wissen-
senschaftliche Disziplin als auch die daraus hervorge- schaftlichen Disziplinen (Systematik) als auch auf der
gangene Textgattung. Gegenstand der H. ist die Ent- Achse der Zeit (Chronologie) zuweist. [15]
wicklungsgeschichte der Gelehrsamkeit; ihre Darstel- 3. Kompilation: H. wird vor allem als Kompilations-
lungsform ist biobibliographisch; die Blütezeit liegt arbeit vollzogen. So finden sich im Kompendium von
zwischen 1690 und 1730. [1] Dabei gilt es zu berücksichti- Struve Informationen seines Vorgängers Morhof;
gen, daß der Begriff ‹Literatur› (häufig in der Schrei- Reimmann verwendet Struve und Morhof; Heumann
bung ‹Litteratur›) damals noch ‹Gelehrsamkeit› (im kompiliert seine drei Vorgänger etc. Man betreibt H.,
Sinne von ‹Bücherwissen›) bzw. ‹Gesamtheit des Ge- indem man bereits vorhandene Werke ergänzt. [16]
schriebenen› meint. Die Verengung der Bedeutung auf 4. Kooperation: Die Idee vom einzelnen Universal-
‹literarische›, also ‘schöngeistige’ Texte (belles lettres) gelehrten (Polyhistor) wird aufgegeben zugunsten der
erfolgt erst am Beginn des 19. Jh. [2] Einrichtung eines Kommunikationsgefüges, in das mög-
Selbstgewählter Anspruch der H. ist es, «das gesamte lichst alle Gelehrten eingebunden sein sollen. [17] Das
Schicksal der gelehrten Welt überhaupt» darzustel- entscheidende Medium der Vernetzung bilden die Ge-
len. [3] Einen einzelnen Menschen muß ein solches Vor- lehrtenjournale, in denen Beiträge zur alten, neueren
haben selbstverständlich überfordern. So kommt das und neuesten Gelehrtengeschichte veröffentlicht wer-
von P. Lambeck geplante umfassende «Historiae Lite- den. Von dort nehmen die Informationen ihren Weg in
rariae corpus» über die Darstellung der vormosaischen die Gelehrtenlexika (in denen Gelehrte und ihre Schrif-
Geschichte nicht hinaus. [4] Für die H. ergeben sich da- ten zusammengestellt sind) sowie in die Kompendien (in
her vier Konsequenzen: denen die Gelehrten mit ihren Schriften bei ihrem je-
1. Selektion: Die Idee einer umfassenden H. wird als weiligen Fachgebiet erscheinen). [18] Zur Erreichung
Fiktion erkannt und zu einem bloßen Ideal erklärt, das größerer Vollständigkeit werden alle Gelehrten aufge-
anzustreben, aber nie zu erreichen ist. [5] So lehnt F.A. rufen, ihre eigenen Publikationen selbst aufzulisten; an-

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dere sollen dann die Beurteilungen der Werke vorneh- (1688). [32] Auf ihn folgt 1704 B.G. Struves ‹Introductio
men – der Beginn eines rasant wachsenden Rezensions- in notitiam rei litterariae›. Wenige Jahre später bemüht
wesens. Ziel ist eine fortwährende Bestandsaufnahme sich J.F. Reimmann mit seinem ‹Versuch einer Einlei-
der gesamten im gelehrten Bereich erscheinenden Li- tung in die Historiam Literariam› (1708–1713) am ent-
teratur, aus der dann die für ‘gut’ befundenen Bücher in schiedensten, das wissenschaftliche Programm von Ba-
den Kanon eingehen. [19] con umzusetzen. [33] 1718 veröffentlicht G. Stolle seine
B. Geschichte. Bereits in der Antike gibt es Versuche, ‹Kurtze Anleitung zur Historie der Gelahrtheit›. Im sel-
den vorhandenen Literaturbestand zu verwalten (z.B. ben Jahr erscheint Chr.A. Heumanns ‹Conspectus Rei-
Kallimachos’ ‹Pinakes›). Es werden Lebensläufe be- publicae Literariae›. Zwei Jahrzehnte später wird Heu-
rühmter Autoren verfasst (z.B. Suetons ‹De viris illus- mann in Göttingen der erste ordentliche Professor für
tribus›) und mustergültige Texte zusammengestellt H. [34] 1734 wird D.N. Gundlings ‹Vollständige Hi-
(z.B. in Quintilians ‹Institutio oratoria›). [20] storie der Gelahrtheit› veröffentlicht. 1752 erscheint der
Auch im Mittelalter und der Frühen Neuzeit erschei- ‹Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit›
nen Werk- und Autorenkataloge. Sie erfüllen aller- von J.A. Fabricius.
dings immer weniger die im Zuge der humanistischen Infolge von Selektion und Differenzierung und mit
Bewegung wachsenden Ansprüche der Gelehrten. dem allmählichen Aufkommen eines nationalen Be-
Ausschlaggebend für die entsprechend im 16. und wußtseins verengt sich die H. im Verlauf des 18. Jh. zu-
17. Jh. voranschreitende Ausbildung der H. sind ver- nehmend auf die Behandlung der jeweiligen National-
schiedene Entwicklungen: (1) Die Erweiterung der literaturen. [35] Zwar ist die biobibliographische Dar-
Methoden philologischer Kritik wecken das Anliegen stellungsform der H. noch bis etwa 1830 nachweisbar, sie
nach einer exakten bibliographischen Dokumentation wird jedoch bereits Ende des 18. Jh. zunehmend als in-
(Feststellung der Autorschaft, Entstehungszeit, Zahl feriore Tätigkeit angesehen, der das ‘Selbstdenken’ der
und Qualität der Editionen). [21] (2) An den Universi- Aufklärer gegenübergestellt wird. [36] Durch die Ein-
täten wächst die Kritik an einem seit Generationen grenzung des Begriffs ‹Literatur› auf die ‹Belles lettres›
unveränderten, nur auf wenige Texte beschränkten verliert die H. ihre Ausrichtung auf die wissenschaftli-
Lehrkanon. Man strebt vielmehr nach einem Gesamt- che Fachliteratur und geht schließlich in der modernen
verzeichnis der Gelehrtenliteratur und einer stetigen Literaturgeschichte auf. [37]
kritischen Revisionsarbeit. [22] (3) Mit Erfindung des Wissenschaftsgeschichtlich betrachtet markiert die
Buchdrucks kommt es zu einer Flut von neuen Publi- relativ kurze Blütezeit der H. eine Übergangsphase: Mit
kationen und einer zunehmenden Vertextung der ihrer biobibliographischen Darstellungsform ist die H.
Kommunikation. Dies macht eine zuverlässige Verwal- einerseits eine Schwundstufe des Polyhistorismus, weil
tung der Literatur notwendig. [23] (4) Der Anspruch sie ihre Leser nicht mehr zur Wesenserkenntnis der Din-
universeller Gelehrsamkeit wird aufgegeben. An die ge führen will, sondern nur noch auf die Literatur ver-
Stelle des Polyhistors tritt der Fachmann. Dies hat ein weist, die zur Erlangung von Gelehrsamkeit notwendig
Anwachsen der Spezialliteratur zur Folge, was wieder- erscheint. Andererseits hat die H. Vorläufercharakter,
um die Notwendigkeit einer differenzierten H. er- indem sie durch eine umfassende Literaturerfassung
höht. [24] (5) Das wachsende historische Bewußtsein und -systematisierung die Basis für eine produktive Wis-
bestärkt den Wunsch nach chronologischer Ordnung senschaftspraxis bereitstellt. Sie führt dabei zur Ausbil-
der Literatur. Dahinter steht nicht zuletzt die Überzeu- dung von Standards, die heute für die Gelehrten selbst-
gung, daß das Nachvollziehen von Veränderungen in verständlich sind. Dazu gehören (1) die Kenntnis des
den wissenschaftlichen Auffassungen einen besonderen maßgeblichen Buchbestands zu einem Thema, (2) kor-
Erkenntniswert mit sich bringt. [25] (6) Man wendet rektes Zitieren (exakte Angabe von Autor, Werk, Aus-
sich daher gegen die bisherigen Ordnungsprinzipien in gabe und Fundstelle) sowie (3) die Trennung von erör-
den Katalogen (alphabetisch oder nach der rhetorisch- terndem Text und die Quellen benennenden Fußno-
dialektischen Topik). Neben der Chronologie soll die ten. [38]
fachwissenschaftliche Systematik die neuen Ordnungs-
kategorien vorgeben. [26] (7) Entgegen dem enzyklo- Anmerkungen:
pädistischen Verfahren, einzelne Wissenspartikel zu 1 M. Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theol. Polemik und die
sammeln (Sentenzen, Exempla, loci communes), sollen Kommunikationsreform der Wiss. am Ende des 17. Jh. (1997)
nunmehr ganze Texte in ihrem historischen Kontext 515f. – 2 K. Weimar: Art. ‹Lit.›, in: RDL3, Bd. 2 (2000) 445; J.G.
gewürdigt werden. [27] Pankau: Art. ‹Lit.›, in HWRh, Bd. 5 (2001) Sp. 276f. – 3 Zedler,
Das Kernmerkmal der H. – die chronologische An- Bd. 10 (1735, ND 1961) s. v. Gelehrten=Historie, Sp. 726; vgl. J.F.
ordnung der Autoren – findet sich bereits in der ‹Biblio- Reimmann: Versuch einer Einleitung in die Historiam Litera-
theca philosophorum classicorum authorum chronolo- riam insgemein und derer Teutschen insonderheit (1713) 4. –
4 vgl. H. Zedelmaier: ‹H.›. Über den epistemologischen Ort des
gica› (1592) des Züricher Bibliothekars J.J. Fries. [28] gelehrten Wissens in der ersten Hälfte des 18. Jh., in: Das 18. Jh.
Die «Initialzündung» zur H. erfolgt jedoch durch F. Ba- Zs. der Dt. Ges. für die Erforschung des 18. Jh. 22, H. 1 (1998) 16.
con. [29] Im vierten Kapitel des zweiten Buchs seiner – 5 vgl. F. Grunert: «viel Tausend und Millionen B.». Zur Be-
Abhandlung ‹De dignitate et augmentis scientiarum› wältigung und zur Hervorbringung von Wissenspluralität in der
(Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, frühneuzeitlichen H., in: J.-D. Müller u. a. (Hg.): Pluralisierun-
1623) beklagt er das Fehlen einer Gelehrtengeschichte gen. Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit (2010) 195. –
und entwirft ein Programm, wie die wissenschaftliche 6 vgl. J.A. Fabricius: Abriß einer allg. Historie der Gelehrsam-
Literatur unter historischer Perspektive dargestellt wer- keit, Bd. 1 (1752, ND 1978) 638f. – 7 vgl. Grunert [5] 196. – 8 vgl.
ebd. 191, 196. – 9 vgl. A. Syndikus: Die Anfänge der H. im 17. Jh.,
den sollte. [30] Als Werktitel taucht der Begriff ‹H.› in: F. Grunert, F. Vollhardt (Hg.): H. Neuordnungen des Wis-
dann erstmals in P. Lambecks ‹Prodromus historiae li- sens im 17. und 18. Jh. (2007) 32; M. Scattola: ‹H.› als ‹historia
terariae› (1659) auf. [31] Da diese Arbeit allerdings we- pragmatica›, ebd. 42; G. Hartung: Art. ‹Eklektizismus›, in:
niger rezipiert wird, gilt als eigentlicher Begründer der HWRh, Bd. 2 (1994) Sp. 988f. – 10 vgl. F. Grunert: Von ‘guten’
H. in Deutschland S.G. Morhof mit seinem ‹Polyhistor› Büchern. Zum moralischen Anspruch der Gelehrsamkeits-

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Hörbuch Hörbuch

gesch., in: Grunert/Vollhardt [9] 68, 81. – 11 vgl. F. Grunert, F. kassetten› genannten H. bemächtigen sich nun aller li-
Vollhardt: Einl., in: Grunert/Vollhardt [9] X. – 12 vgl. ebd. – terarischen Gattungen, wobei Kinder-H. die Vorreiter
13 vgl. Grunert [5] 196f. – 14 vgl. Reimmann [3] 15, 75; Zedler [3] machen. Romane und Erzählungen sowohl der Unter-
Sp. 726; Fabricius [6] 640–643. – 15 vgl. Gierl [1] 516. – 16 vgl. ebd.
534; M. Gierl: ‹H.›: Die Entstehung organisierter Wiss. und die
haltungs- wie der Kunst-Literatur beginnen den Markt
virtuelle Bibl. des gesamten Wissens 1680–1750, in: M. Becker zu dominieren (2010 machen belletristische H. mehr als
(Hg.): Archiv am Netz (2009) 18. – 17 vgl. M. Gierl: Bestands- 50% der Produktion aus). Seit den 90er Jahren des
aufnahme im gelehrten Bereich: Zur Entwicklung der ‹H.› im 20. Jh. erschließen digitale Datenträger (zu denen auch
18. Jh., in: Denkhorizonte und Handlungsspielräume. Hist. Stud. die Computer-Festplatte gehört) für das H. ein Massen-
für R. Vierhaus zum 70. Geb. (1992) 53, 55, 79f. – 18 vgl. Gierl [1] publikum. «Während 1995 mit Hörbüchern ein Umsatz
535. – 19 vgl. ebd. 529f., 534; ders. [16] 19; Hartung [9] Sp. 985. – von 2 Millionen Euro erzielt wurde, waren es 2005 150
20 Gierl [17] 57; R. Rosenberg: Art. ‹Literaturgeschichtsschrei- Millionen Euro, bis zum Jahr 2010 wird die Umsatzer-
bung›, in: RDL3, Bd. 2 (2000) 459; M. Asper: Art. ‹Kanon›, in:
HWRh, Bd. 4 (1998) Sp. 873; Quint. I,8,4ff., X,1,46–131. – 21 vgl.
wartung auf 300 Millionen Euro beziffert [...] Betrachtet
Zedelmaier [4] 17. – 22 vgl. ebd. 13; Gierl [16] 17. – 23 vgl. man allerdings den Anteil am Gesamtkuchen des Buch-
Gierl [16] 24. – 24 vgl. M. George: Das Schöne im Spiegel der handelsumsatzes, hat das H. in Deutschland mit 3,4%
Zeit. Gesch. Denken in der Literaturbetrachtung des 18. Jh. einen noch kleinen Marktanteil. Zum Vergleich: In den
(2009) 227–229. – 25 vgl. Syndikus [9] 16. – 26 vgl. Zedelmaier [4] USA, dem Geburtsland des Audiobooks, dem Land der
15f. – 27 vgl. ebd. 17. – 28 vgl. Syndikus [9] 14–16. – 29 ebd. 6. – langen Autofahrten und des H.-Angebots an Tankstel-
30 vgl. F. Bacon: Über die Würde und den Fortgang der Wiss. len, liegt er bei 10%.» [3]
(1783, ND 1966) 190–195. – 31 vgl. Zedelmaier [4] 16. – 32 vgl. B. I. Rhetorik des H. Sehen und Hören sind sinnliche
Gierl [17] 58; Gierl [1] 518. – 33 vgl. Gierl [17] 60. – 34 vgl. ebd. 76;
Zedelmaier [4] 20. – 35 vgl. George [24] 213f., 218; Gierl [17] 69. –
Elementarprozesse und grundlegend für jede rhetori-
36 vgl. J. Fohrmann: Literaturgesch. als Stiftung von Ordnung. sche Praxis. In einer oral geprägten Kultur wie der An-
Das Konzept der Literaturgesch. bei Herder, A.W. und F. Schle- tike gewinnt aber das Hören eine besondere, dem Sehen
gel, in: W. Vosskamp, E. Lämmert (Hg.): Hist. und aktuelle Kon- oftmals als überlegen gedachte Bedeutung. Der Home-
zepte der Literaturgeschichtsschreibung (1986) 75f.; Zedelmai- rische Sänger hörte zuerst die Botschaft der Musen, be-
er [4] 21. – 37 vgl. George [24] 245, 252; O. Simons: Marteaus Eu- vor er sie mit seiner eigenen Stimme wiedergab [4], und
ropa oder Der Roman, bevor er Lit. wurde. Eine Unters. des dt. auch für Hesiod waren es diese Göttinnen, die ihm erst
und engl. Buchangebots der Jahre 1710 bis 1720 (Amsterdam durch ihre Erzählung «Stimme einhauchten» [5]. Auch
2001) 133f. – 38 vgl. M. Mulsow: Art. ‹Polyhistorie›, in: HWRh,
Bd. 6 (2003) Sp. 1523; Gierl [17] 55f., 62, 66, 79f.; ders. [1] 535;
der Rhapsode hat noch Anteil an dieser göttlichen In-
Zedelmaier [4] 11. spiration, wie Platon im ‹Ion› ausführt: «Ebenso auch
macht zuerst die Muse selbst Begeisterte, und an diesen
hängt eine ganze Reihe anderer durch sie sich Begei-
Literaturhinweis: sternder.» [6] Das Hören als zielgerichtetes Hin-Hören
R. Blum: Die Literaturverzeichnung im Altertum und MA. geht der eigenen stimmlichen Produktion voraus, ist
Versuch einer Gesch. der Bibliogr. von den Anfängen bis zum Voraussetzung der Rede. Wenn Aristoteles in seiner
Beginn der Neuzeit, in: Arch. für Gesch. des Buchwesens 24
(1983) 1–256.
Rede-Definition die besondere Bedeutung des Publi-
T. Werner kums als richtunggebende Instanz beschreibt [7], ist das
Publikum als hinhörendes gemeint, das seine zielgeben-
^ Eklektizismus ^ Gelehrtenliteratur, Gelehrtensprache ^ de Rolle durch das Hören ausübt. Die Auszeichnung der
Gelehrtenzeitschriften ^ Kanon ^ Kommentar ^ Kompilati- auditiven Erfahrungsweise und damit der Mündlichkeit
on ^ Lehrbuch ^ Lexikographie ^ Literatur ^ Literaturwis- kommt in vielen antiken Zeugnissen zum Ausdruck:
senschaft ^ Memoria ^ Polyhistorie ^ Sachbuch Von Platons Schrift-Kritik im ‹Phaidros› und im ‹7.
Brief› und der vom griechischen Sophisten Antiphon
gegründeten Praxis, in der er seelisch Kranke durch Zu-
reden zu heilen versprach [8], bis hin zu Celsus und Se-
Hörbuch (engl. audiobook, talking book; frz. livre audio, neca, die den lauten Vortrag, die «clara lectio» als stär-
livre parlant; ital. audiolibro) kende, die Gesundheit befördernde Tätigkeit rüh-
A. Def. – B. I. Rhetorik des H. – II. Das moderne H. – III. Der men. [9] Schließlich beruht auch die Bewertung des
internationale H.-Markt. äußeren Vortrags durch Cicero auf der stimmlichen
A. Def. H. sind Sprachtonträger, die sich unterschied- Präsenz des Redners: «Der äußere Vortrag hat in der
licher technischer Aufzeichnungs- und Wiedergabege- Beredsamkeit die größte Macht, ohne ihn kann der
räte bedienen. Der deutsche Terminus leitet sich wohl größte Redner in keinen Betracht kommen, mit ihm aus-
«von der 1954 gegründeten ersten deutschen ‹Blinden- gerüstet der mittelmäßige oft über den größten sie-
hörbücherei› in Marburg a.d.L. ab, die ihrerseits nach gen.» [10] Quintilian widmet dem stimmlichen Vortrag
US-amerikanischem Vorbild entstanden ist. Dort wur- ausführliche Beschreibungen und Schulungsregeln, de-
den bereits seit 1935 sog. talking books (für Blinde) [...] ren Funktion z.B. für den Gerichtsprozeß er schließlich
produziert.» [1] Wortschallplatten mit Aufzeichnungen zusammenfaßt: «So wird die Stimme wie eine Vermitt-
von herausragenden Schauspielaufführungen machen lerin die Stimmung, die sie aus unserem Gemütszustand
seit Mitte der 1950er Jahre den Anfang. «Mit dieser Auf- empfangen hat, an den Gemütszustand der Richter wei-
nahme wird zum ersten Mal in Deutschland der Versuch tergeben: Sie ist nämlich der Anzeiger unseres denken-
gewagt, ein großes dramatisches Gedicht der Weltlite- den Geistes und besitzt ebenso viele Verwandlungsmög-
ratur als Ganzes auf der Schallplatte wiederzugeben: lichkeiten wie dieser.» [11] Im rhetorischen System
Goethes ‹Faust›, der Tragödie erster Teil, in der dra- nimmt der Vortrag, sowohl seiner räumlich-körperli-
maturgischen Einrichtung und unter der Regie von Gu- chen (actio) wie seiner stimmlichen Dimension (pronun-
staf Gründgens.» [2] Nach der Entwicklung der Ton- tiatio) nach das letzte und entscheidende Produktions-
bandgeräte und mobiler Abspielgeräte für Magnetton- stadium ein.
bänder löst ab Ende der 80er Jahre die Tonkassette die Daran ändert auch die mittelalterliche Abstinenz von
Schallplatte ab. Die auch ‹Hörkassetten› oder ‹Audio- beratender und forensischer Rede nichts. Die Rechts-

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Hörbuch Hörbuch

kraft von Dekreten etwa in den Beratungen von Papst- lung zu schätzen wußten [...].» [19] Der theoretischen
synoden beruht auf der mündlichen Verkündigung, die Wiederentdeckung antiker Sprech- und Redekunst ent-
Rechtsdenkmäler sind der mündlichen Tradition ver- spricht im 18. und 19. Jh. eine an Höfen wie im Bürger-
pflichtet und werden vorgetragen, dasselbe gilt für die tum weitverbreitete Vorlesekultur, die noch ungenü-
Dichtung, die entweder (wie Lyrik und Heldenepik) mit gend erforscht ist. Wieland und Goethe haben ebenso
Sing-Stimme oder (wie der höfische Roman) mit Sprech- am Weimarer Hofe als Vorleser gewirkt, wie sie in den
oder Singstimme ausgeführt werden. Daran ändert sich verschiedenen Lese- und Gesprächskreisen eigene oder
prinzipiell auch in der humanistischen Vortragspraxis fremde Werke zu Gehör brachten; F. M. Klinger be-
nichts, trotz der gleichfalls im Mittelalter entstandenen gann seine Karriere als Vorleser am Petersburger Ho-
kontemplativen Aneignung von Texten durch die stille fe; der romantische Salon setzt diese Traditionen fort,
Lektüre, die von dem engen Zusammenleben der Mön- gibt ihnen in Berlin ein urbanes Gepräge. Die Autoren
che in den Klöstern befördert wurde. Der beinah pro- des 19. Jh. schreiben in dem Bewußtsein, daß ihre Bü-
grammatische Gegensatz zur schriftlichen Scholastik cher (zumindest auch) vorgelesen wurden, in ihren
mit ihren Aristoteleskommentaren und gelehrten Sum- Texten sind zahlreiche Hinweise für den Vorleser ent-
men, die Wiederentdeckung der antiken Überlieferung halten, die Tempowechsel, Lautstärkevariation oder
und darin besonders Ciceros und Quintilians bestärken die Änderung der Tonhöhe signalisieren. Der geneigte
den mündlichen Vortrag, der die Worte in der konkre- Leser ist immer auch der geneigte Hörer, in der Ein-
ten Situation verankert. Daher bedarf für L. Bruni jede zellektüre dominiert bis heute das artikulierte Lesen
Rede des rhythmischen Schmucks [12], daher entfalten und bewahrt einen Restbestand stimmlicher Repräsen-
sich rhetorisches Denken und Sprechen vorzüglich im tation.
Dialog, daher gelten «die Stotterer und Halbgelehrten, II. Das moderne H. Das moderne H. steht in einer rhe-
die alles im Schreiben unpassend verwirren» [13] als ab- torisch dominierten Tradition mündlicher Rede- und
schreckende Beispiele aus mittelalterlicher Vergangen- Literaturvermittlung, setzt sie fort, gibt ihr aber auch
heit. seiner technischen Produktions- und Rezeptionsweise
Die Überzeugung von der Überlegenheit des münd- gemäß eine eigene Prägung. Die wichtigste besteht dar-
lichen Vortrags gegenüber der stillen Lektüre verliert in, daß die dialogische Sprecher-Hörersituation aufge-
sich auch in der Neuzeit nicht. So nennt Goethe das hoben ist, es handelt sich also um eine Einweg-Kom-
Schreiben einen «Mißbrauch der Sprache» und das munikation, die nur dann modifiziert wird, wenn das H.
«stille für sich lesen ein trauriges Surrogat der Re- die Aufzeichnung einer Lesung vor Publikum darstellt
de» [14]. A. Müller entwirft 1812 eine Rhetorik des und dessen oft hörbare Reaktionen beim individuellen
Gesprächs, die auf der Kunst des Hörens basiert, denn Hören gleichsam stellvertretend wahrgenommen wer-
«niemand kann größerer Redner sein als Hörer» [15]. den. Im allgemeinen fehlt auch dieser repräsentative
Reden und Hören entsprechen sich, insofern Hören Kontakt, der Hörer rezipiert das H. isoliert vom Spre-
«eine Manier des Antwortens» [16] ist, und das Elend cher; Aufnahmezeit und -ort (in der Regel ein Tonstu-
der deutschen Literatur erweist sich für Müller darin, dio) spielen keine Rolle, Zeit und Ort seiner Rezeption
daß sie «zu den stummen Literaturen» gehört [17]. bestimmt er selbst, oftmals geht er einer weiteren Tä-
«Ganz Griechenland hat Jahrhunderte hindurch spre- tigkeit nach (Autofahren, Haushalt, Handwerk), die
chen müssen, erst mußte das letzte Bauernweib auf ihm genügend Aufmerksamkeit läßt, um zumindest
dem Markte von Athen durch bloße Bildung des Ohrs ein Unterhaltungs-H. zu konsumieren. Dies eher zer-
unterscheiden können, was attisch und was schön grie- streute Hören, das mit Kunst- und Sachliteratur kaum zu
chisch war, was nicht, bevor Demosthenes kommen vereinbaren ist, entspricht aber einer Rezeptionshal-
durfte.» [18] F. Nietzsche greift den Gedanken auf: tung, die man auch bei anderen Massenmedien beob-
«Der Deutsche liest nicht laut, nicht für’s Ohr, sondern achten kann: das Zappen durch die Fernsehprogramme
bloß mit den Augen; er hat seine Ohren dabei in’s oder das Surfen im Internet. Solange die Sprecher den
Schubfach gelegt», spottet er, um dann den Zusam- Standards der pronuntiatio genügen (Angemessen-
menhang von Hörkultur und Sprechkunst hervorzuhe- heit, Sprachrichtigkeit, Klarheit, Bestimmtheit und Ab-
ben, dem auch das moderne Hörbuch nicht entgeht: wechslungsreichtum), kann selbst das zerstreute Hören
«Der antike Mensch las, wenn er las – es geschah selten einen Beitrag zur Redekultur bieten. Das niedrigere
genug – sich selbst etwas vor, und zwar mit lauter Stim- Niveau an Aufmerksamkeit verhindert nicht ganz, daß
me; man wunderte sich, wenn jemand leise las, und Muster und Modelle des Vortragens dem Hörer geläufig
fragte sich insgeheim nach Gründen. Mit lauter Stim- werden und sich solche Hörgewohnheit in Rede und
me: das will sagen, mit all den Schwellungen, Biegun- Gespräch auswirken.
gen, Umschlägen des Tons und Wechseln des Tempos, Von wenigen Ausnahmen abgesehen sind H. vorge-
an denen die antike öffentliche Welt ihre Freude hatte. lesene oder für Hörspiele und Features bearbeitete Li-
Damals waren die Gesetze des Schrift-Stils dieselben teratur, ob Sachliteratur oder Belletristik. Nur in selte-
wie die des Rede-Stils; und dessen Gesetze hingen zum nen Fällen fehlt die Vorlage, und das H. entsteht bei
Teil von der erstaunlichen Ausbildung, den raffinierten der Aufzeichnung freier Rede oder spontaner Erzäh-
Bedürfnissen des Ohrs und Kehlkopfs ab, zum andern lung, die freilich auch ohne Vorbereitung nicht aus-
Teil von der Stärke, Dauer und Macht der antiken Lun- kommt. [20] Während Schriftlichkeit die Sprache ihrer
ge. Eine Periode ist, im Sinne der Alten, vor allem ein sinnlichen Qualität weitgehend beraubt, gibt sie der
physiologisches Ganzes, insofern sie von einem Atem Sprecher ihr zurück. Seine Stimme fungiert nicht bloß
zusammengefaßt wird. Solche Perioden, wie sie bei De- als Medium oder Vorlage; bei der Übersetzung des Ge-
mosthenes, bei Cicero vorkommen, zweimal schwel- schriebenen ins Mündliche gewinnt Sprache ihre Klang-
lend und zweimal absinkend und alles innerhalb eines gestalt wieder, auch wenn sie für den Hörer tatsächlich
Atemzugs, das sind Genüsse für antike Menschen, wel- situationsenthoben ist. Sie erreicht ihre Klanggestalt in
che die Tugend daran, das Seltene und Schwierige im der eigentümlichen Färbung, die ihr die Stimme des
Vortrag einer solchen Periode, aus ihrer eignen Schu- Sprechers verleiht. «Es gibt keine menschliche Stimme

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Hörbuch Hörbuch

auf der Welt, die nicht Objekt des Begehrens wäre – ein weiteres Qualitätskriterium für ein Hörbuch. Nicht
oder des Abscheus. Es gibt keine neutrale Stim- alle Verlage kennzeichnen das Hörbuch deutlich als
me.» [21] Wobei die individuelle Prägung auf Hörge- ‹gekürzt›, sondern verbrämen dies unter Hinweisen wie
wohnheiten trifft, die in ständiger Veränderung begrif- ‹autorisierte Lesefassung›, ‹eingerichtete Lesefassung›
fen und von Alter, sozialer Zugehörigkeit und Bildung oder schlicht ‹Lesefassung›. Besonders ärgerlich wird
abhängig sind – was jeden Versuch einer ‹Stimmästhe- es, wenn Verlage die Kürzung gar nicht erwähnen. Um
tik› sogleich relativiert. [22] Doch kann die Hauptkate- zu erkennen, wie sehr der Text einer Lesung gekürzt
gorie rhetorischer Sprechkunst, die Angemessenheit wurde, muß man wissen, wie viele Seiten das vorgele-
(aptum) einigen Aufschluß über das Verhältnis von sene Buch hat. Die verdoppelte Seitenzahl des Buches
Sprecher und (literarischer) Vorlage bieten. Sie besagt, ergibt die Minutenzahl bei vollständiger, ungekürzter
daß die an einem Rede-Akt beteiligten Instanzen Spre- Lesung.» [23] Wenn unter diesen Aspekten die Inter-
cher – Rede – Hörer zueinander in wechselseitiger An- pretationshoheit auch nicht (wie beim stillen Lesen)
gemessenheit stehen müssen, soll ein optimales Ergeb- beim Hörer liegt, muß dies kein Nachteil sein. Bei Mu-
nis erreicht werden. Das betrifft über die technischen sikaufführungen folgt der Hörer gleichfalls der Inter-
Fertigkeiten des Vorlesers und die Berücksichtigung pretation des Dirigenten und seines Orchesters, ohne
des aktuellen Hörgeschmacks der Zielgruppen hinaus darin eine Einschränkung zu sehen. Die kongeniale Zu-
auch das Verhältnis zur Vorlage. Nicht jeder Sprecher tat des ausübenden Künstlers ist auch eine Bereiche-
ist für jeden Text geeignet, und es gibt im H., der Bühne rung, seine geschulte Sensibilität öffnet den Blick in
ähnlich, Fehlbesetzungen, die besonders dann zu er- Bereiche des Werkes, die ohne seine kundige Führung
warten sind, wenn die Sprecherauswahl nach dem H. dem Rezipienten verschlossen blieben. Im gleichen
fremden Kriterien erfolgt, wie das durchaus üblich ist, Verhältnis stehen Theateraufführungen zur Dramen-
so daß der Einsatz von prominenten Theater-, Film- vorlage. Plakativ deutlich wird diese Leistung des H.,
oder Fernsehschauspielern, ja sogar von Fußballern wenn es sich literarischen Werken widmet, die ein Le-
und anderen Stars des Show-Geschäfts, oft nur einen sepublikum schon lange nicht mehr erreichen, wie Ho-
Publikumserfolg auf Kosten der H.-Qualität erreicht. mers ‹Ilias› und ‹Odyssee›, Vergils ‹Aeneis›, Dantes
Das gilt nicht selten sogar in vielen Rollen für den rou- ‹Göttliche Komödie› oder Goethes ‹Wilhelm Meister› –
tinierten Bühnenschauspieler. Zu seiner Kunst gehört Werke, die dem zeitgenössischen Leser meist unzu-
unverzichtbar die ausdrucksvolle Körperinszenierung; gänglich erscheinen, die aber die Stimme eines kon-
ihr zu entsagen, sich allein (oder doch beinah allein, genialen Sprechers zu neuem Leben erwecken kann,
denn selbstverständlich hört man es, ob ein Wort, ein weil er sie in die eigene Person aufgenommen hat und
Satz mit einem Lächeln oder einem grimmigen Ge- ihnen nun als Zeitgenosse des Publikums die aktuelle
sichtsausdruck gesprochen wird) auf die Ausdrucks- Perspektive öffnet.
kraft und Variabilität seiner Stimme verlassen zu müs- III. Der internationale H.-Markt differiert sehr stark.
sen, überfordert viele Bühnendarsteller. Die Angemes- Die Spitzenposition hält nach Dauer (seit 1932/35) und
senheit von Sprecher und gelesenem Werk hat noch Umfang (10% des Buchhandelsumfangs) der US-ame-
eine andere Dimension: Das Werk muß ihm seinem rikanische Markt. In Europa sind 2010 etwa 35 000 eng-
sachlichen, geistigen und emotionalen Gehalt nach lischsprachige Titel erhältlich, in Deutschland 25000 Ti-
auch zugänglich sein, wenn er es einem Publikum ver- tel, die jährlich um 800 Neuerscheinungen vermehrt
mitteln soll. Mit seiner Stimme interpretiert er das Vor- werden, in Rußland 5000 Titel, in Frankreich gleichfalls
gelesene, mit der ihm eigenen individuellen Prägung, 5000 Titel, zu denen jährlich etwa 110 Titel hinzukom-
seinem rhetorischen Ethos mischt er sich ständig in die men. In Italien (500 Titel), Polen (500 Titel), Spanien
Vorlage ein, in seiner Stimme aufgehoben sind die Ge- (300 Titel) und den skandinavischen Ländern (jeweils
fühle und Gedanken, die der Text in ihm angeregt hat. etwa 500 Titel) befindet sich der H.-Markt noch in den
Indem er ihn spricht, teilt er in Ton, Tempo und Rhyth- Anfängen. Auch das Angebot der verschiedenen natio-
mus, in Melodie und Akzentuierung die Erfahrungen nalen H.-Märkte differiert oft signifikant. Der ameri-
mit, die er mit dem Werk gemacht hat. Was ihm als Text kanische Markt wird wie der deutsche von Belletristik
vorliegt, wird durch seine Stimme beredt, die ihn spre- beherrscht, der englischsprachige europäische Markt
chend deutet. Weitere Möglichkeiten der Interpretati- weist einen auffallend großen Anteil an Sach- und
on wie Musik und Geräusche oder technische Effekte Fach-H. auf, in Frankreich sind Kunstliteratur, aber
wie Hall und Filter können hinzukommen; oft ist, selbst auch Vorträge und Dramenaufführungen besonders
bei reinen Lesungen durch einen einzelnen Sprecher, stark vertreten. In den englischen, russischen und fran-
ein Regisseur anwesend, der seine Sicht des Texts bei- zösischen H. dominieren ungekürzte Lesungen, in den
trägt. Für das Hörspiel multiplizieren sich diese Auf- deutschen H. gekürzte. [24] Zur Übersicht auf den
führungsbedingungen und es gibt auf dem H.-Markt größten H.-Märkten verhelfen Preis-Stiftungen: In
darüber hinaus eine wachsende Tendenz, die großen Deutschland sind das die H.-Bestenliste des Hessischen
Werke erzählender Literatur (wie Melvilles ‹Moby Rundfunks, das H. des Monats des Seminars für All-
Dick› oder Cervantes’ ‹Don Quijote›) in Hörspielfas- gemeine Rhetorik an der Universität Tübingen oder
sungen zu präsentieren, die mit meist starken Kürzun- der Deutsche-Hörbuch-Preis des Westdeutschen Rund-
gen einhergehen. Insgesamt ist die Kürzung des litera- funks. In den USA überragt der 1996 gegründete Audie
rischen Werkes für die H.-Vorlage die Regel auch bei Awards («the Oscar of the talking books industry» [25])
Werken erzählender Literatur. «Viele Lesungen neuer alle anderen Auszeichnungen. Seit 2008 existiert in
Romane erscheinen mittlerweile zeitgleich zum Buch. Frankreich der Prix Livre dans le noir du livre audio.
Mit ihrer Aufmachung lehnen sie sich dabei oft an die Eine H.-Kritik, die (in Kriterien, Niveau und Funktion)
Buchfassung an, wollen vom guten Verkauf eines Best- mit der professionellen Literatur- oder Theaterkritik zu
sellers profitieren. Oft erscheint jedoch nicht die kom- vergleichen wäre, gibt es kaum erst in Ansätzen. Die
plette Lesung, sondern eine gekürzte Lesefassung. Wie Folge sind gleichsam naturwüchsiges Produzieren mit
stark gekürzt wird und welche Passagen wegfallen, ist großen Qualitätsunterschieden, es dominiert die Unter-

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Hörbuch Identifikation

haltungs-Massenware, der Standard der Sprecher ist


sehr ungleichmäßig, dem im Hören ungeschulten Pu- I
blikum fehlen die Maßstäbe für die Unterscheidung von
gelungenen, bloß durchschnittlichen oder ganz mißlun-
genen Produktionen. Obwohl sich Niveau und Infor- Identifikation (engl., frz. identification; ital. identifica-
mationsgehalt der H.-Beihefte (booklet) gegenüber den zione)
Anfängen sehr verbessert haben, fehlen oft noch die nö- A. Def. – B. Begriffsentwicklung: I. Rhetorische Vorstufen. – II.
tigsten Angaben wie Umfang und Stelle der Kürzungen, Burke, New Rhetoric. – III. Rezeption und Kritik in der Gegen-
Herkunft der Musik- oder Geräuschkulissen, Zeit, Ort wart.
und Umstände der Aufnahme. Auch ungewöhnliche A. Def. I. ist ein von K. Burke in die Rhetorikfor-
Rollenzuschreibungen (etwa einer Sprecherin zu einer schung eingeführter Begriff, der zu einem Leitkonzept
männlichen Rolle oder umgekehrt) und Regiekonzep- der New Rhetoric geworden ist. Burke versteht unter
tionen werden selten so erläutert, wie es z.B. für Thea- I. den Prozeß, in dem ein Redner mit Hilfe symboli-
terprogramme üblich ist. scher Kommunikation Übereinstimmungen zwischen
sich und seinen Adressaten herstellt, die rational,
motivational oder auch rein formal sein können. Fer-
Anmerkungen: ner bezeichnet I. den Zustand, in welchem eine solche
1 U. Rautenberg: Reclams Sachlex. des Buches (2003) 263f. – Übereinstimmung zwischen Redner und Adressat er-
2 Beiheft zur Schallplatte (1954) 5. – 3 U. Rautenberg: Das H. – reicht ist. Burke entwickelt den Begriff vor dem Hin-
Stimme und Inszenierung (2007) 7f. – 4 vgl. Homer, Ilias I, 1ff. –
5 Hesiod, Theogonie V, 31. – 6 Plat. Ion 533e. – 7 Arist. Rhet. I, 3,
tergrund psychologischer und anthropologischer Theo-
1. – 8 Ps.-Plutarch, Vitae X oratorum, 1, p. 833c = VS Antiphon, rien, nach denen menschliches Denken, Empfinden
Frg. A 6. – 9 Celsus, De medicina I, 2, 6; Seneca, Ep. ad Lucilium und Handeln von Motivstrukturen gesteuert ist, und
78, 5. – 10 Cic. De or. III, 213. – 11 Quint. XI, 3, 62. – 12 H.-B. geht davon aus, daß Persuasion nur durch die Beein-
Gerl-Falkovitz: Die zweite Schöpfung der Welt (1994) 92. – flussung solcher Motivstrukturen gelingen kann. I. ge-
13 L. Bruni Aretino: Epistolarum libri, 2 Bde., ed. L. Mehus hört demnach zum Kerngeschehen eines jeden Persua-
(Florenz 1741) II, 94. – 14 Goethe: Dicht. u. Wahrheit, in: F. sionsprozesses. Mit dem Konzept der I. etabliert
Apel u. a. (Hg.): J.W. Goethe. Sämtliche Werke. Briefe, Tage- Burke eine Auffassung von Rhetorik, die nicht auf
bücher und Gespräche. Abt. I, Bd. 14, hg. von K.-D. Müller
(1986) 486. – 15 A. Müller: Zwölf Reden über die Beredsamkeit
Agonalität baut. Sofern Persuasion auf I. beruht, ist
und deren Verfall in Deutschland, hg. v. W. Jens (1967) 64. – von einer Angleichung der Handlungsmotive von Red-
16 ebd. 38. – 17 ebd. – 18 ebd. 70. – 19 Nietzsche: Jenseits von Gut ner und Adressat auszugehen, nicht von einem ago-
und Böse. Zur Genealogie der Moral, in: Krit. Studienausgabe, nalen Kampf um Positionen.
Bd. 5, hg. v. G. Colli u. M. Montinari (1988) Nr. 247. – 20 vgl. K. B. Begriffsentwicklung. I. Rhetorische Vorstufen.
Janz-Peschke: H. und Mündlichkeit, in: J. Häusermann, K. Janz- Der Begriff I. ist in der rhetorischen Tradition vor Burke
Peschke, S. Rühr: Das H. Medium – Gesch. – Formen (2010) nicht zentral und hat in der antiken Rhetorik keinen ter-
331ff. – 21 R. Barthes: Der entgegenkommende und der stump- minologischen Stellenwert erlangt. Lediglich Aristote-
fe Sinn. Kritische Essays III (1993) 280. – 22 vgl. T. Schnick-
mann: Vom Sprach- zum Sprechkunstwerk. Die Stimme im H.:
les und Cicero reflektieren zumindest passim und im-
Literaturverlust oder Sinnlichkeitsgewinn, in: Rautenberg [3] plizit, ob für den Vorgang der Persuasion identifikato-
27ff. – 23 D. Meyer-Kahrweg: Wege zum ‹guten› H. – Beurtei- rische Prozesse eine Rolle spielen. Aristoteles legt den
lungskriterien am Beispiel der hr2 Hörbuch Bestenliste, ebd. 80. Gedanken Sokrates in den Mund [1]: dessen Diktum
– 24 vgl. http:// www.hoerjuwel.de/ content/ de/ Hoerbuecher- «Es sei nicht schwer, die Athener vor den Athenern
international.html (Zugriff 17.06.2011). – 25 vgl. http:// selbst zu loben, wohl aber vor den Lazedämoniern» [2].
www. booksalley.com/ bAMain/ bAlleyAwards.php ?awards= thematisiert, wie wichtig Identifikationsmöglichkeiten
yes&nodeid= audie (Zugriff 17.06.2011). zwischen Redner und Adressat sind. Das Fehlen kultu-
reller Gemeinsamkeiten unterminiert die Möglichkeit
zur Persuasion, die im Sinne der Theorie der I. als ein
Literaturhinweise: sozial und kulturell situiertes Geschehen betrachtet
U. Quasthoff: Aspects of Oral Communication (1995). – G. werden muß. Schon Homer weiß, daß das Gefühl ge-
Ueding: «Niemand kann größerer Redner sein als Hörer.» Über meinschaftlicher Verbundenheit Vertrauen schafft, weil
eine Rhet. des Hörens, in: Th. Vogel (Hg.): Über das Hören –
einem Phänomen auf der Spur (21998) 45–68. – K.-H. Göttert:
Menschen Möglichkeiten zur I. suchen. In der Odyssee
Gesch. der Stimme (1998). – R. Meyer-Kalkus: Stimme und wird von Helena berichtet, die ihre Stimme den Stim-
Sprechkünste im 20. Jh. (2001). – M. Spitzer: Musik im Kopf. men der Gemahlinnen der Helden Achaias angleicht
Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen und so allein durch den Klang der Stimme das Vertrauen
Netzwerk (2002). – G. Ueding: Rettung der Lit. durch lebendige der Männer erlangt. [3] Schon die vertraute dialektale
Rede. Rhet. Aspekte des H., in: DU 56 (2004) 17–28. – S. Köh- Färbung kann also ein Mittel der I. sein. Deshalb asso-
ler: Hörspiel und H. Mediale Entwicklung von der Weimarer ziiert das Sokrates-Zitat bei Aristoteles I. mit der gesam-
Republik bis zur Gegenwart (2005). – L. Noetzel: Autorenle- ten Lebensweise. Schon Aristoteles hat ein weitreichen-
sung – Ars und Artefakte (Magisterarbeit Tübingen 2005). – L.
Müller: Die zweite Stimme. Vortragskunst von Goethe bis Kaf-
des Spektrum von Identifikationsmöglichkeiten vor Au-
ka (2007). – G. Ueding: Erzähltes gehört gehört, in: informatio- gen. I. zwischen Redner und Zuhörer wird zunächst
nen zur deutschdidaktik (ide). Zs. f. den Deutschunterricht in durch I. auf der ethos-Ebene erreicht: «Denn in Hin-
Wiss. und Schule (3/2011). blick auf die Glaubwürdigkeit macht es viel aus – beson-
G. Ueding ders bei Beratungen und schließlich vor Gericht –, daß
der Redner in einer bestimmten Verfassung erscheine
und daß die Zuhörer annehmen, er selbst sei in einer
bestimmten Weise gegen sie disponiert, und schließlich,
^ Aussprache ^ Belletristik ^ Hörer ^ Hörfilm ^ Hörspiel ob auch diese sich in einer bestimmten Disposition be-
^ Intonation ^ Mündlichkeit ^ Leser ^ Lesung ^ Pronun- finden.» [4] I. entsteht zudem durch éndoxa, denn was
tiatio ^ Rezitation ^ Rhapsodie ^ Stimme, Stimmkunde allen einleuchtet, wird auch überzeugende Argumente

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