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Entnommen aus
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Unterwegs
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Bogengänge und Regen
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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MADONNA MIT DEM WEIZENSIEB
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Juan Ramón Jimenez (geb. 1781 in Moguér) ist ein großer spani-
scher Lyriker. Platero y Yo, das den Untertitel Elegía Andaluza trägt,
ist die Geschichte eines Dichters und seines Esels. (Anm. d. Übers.)
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Madonna mit dem Weizensieb
ner und Frauen, war auf dem Felde und arbeitete fieber-
haft; denn in dieser Jahreszeit droht immer Regen, und
die Ernte kann verfaulen, wenn sie nicht rasch genug
eingebracht wird.
Über den Horizont schiebt eine runde Wolke ihre
schwarze Schulter herauf, bös lauernd wie eine Hexe;
und eine sonderbare Spannung kommt in die Landschaft.
Auf einmal fegt ein Windstoß über die Schwelle und ent-
zündet den dämmerigen Flur mit zahllosen goldenen
Funken, winzigen Strohstäubchen, die flimmernd auf und
ab tanzen. Kurze Pause — und wieder ein Windstoß —
und noch einer. Ein paar Tropfen fallen und zerplatzen
im Wegstaub. Die Vorübergehenden beschleunigen ihre
Schritte. Die Tropfen werden rascher, und ein mächtiger
Donner rollt. Die Wolke bedeckt den Horizont. Sie
kommt en carrière, in einem triumphierenden Galopp, als
reise ein barbarischer Gott in ihr. Es regnet. Die Leute
laufen. Der Guß rauscht immer wilder. Abermals der
Donner, als ginge die Welt in Stücke. Ein Blitz peitscht
auf die Windrosse der Wolke ein. Wirbelnder Staub ver-
hüllt alles; auf einmal drängt sich ein Schwarm Männer
und Frauen in den Flur hinein, die Schutz vor dem Un-
wetter suchen. Lachen, Geschrei und die urwüchsige
Ausgelassenheit des Landvolks. Auf der Schwelle, als
Silhouette gegen das Licht, bleibt ein Mädchen stehen.
Der rote Rock preßt sich ihr um die Hüften, das weiße
Hemd bläht sich wie ein Segel unter dem schwellenden
Doppelwind der Brüste. Ihr Haar ist so blond wie die
Gerste, die Augen blau wie Quellen. Sie steht auf
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Gebärden der Burgen
Auf der Reise, die eine Jagd nach Eindrücken ist, sind
Burgen und Kathedralen die großen Beutestücke, die wir
erlegen. Dabei wandern wir an Bildern von viel feinerem
Formen- und Farbenspiel vorüber; aber die Erscheinung
der Kathedrale oder der Burg, ungeheuer und phanta-
stisch über der stillen Linie des Horizontes, gibt uns ei-
nen Ruck, daß wir das Auge schärfen und uns bereit ma-
chen für die große Ergriffenheit. Offenbar sind wir alle
nicht frei von einem melodramatischen Erdenrest, der in
Gärung gerät, wenn diese steinernen Ungeheuer gestiku-
lierend in unser Gesichtsfeld treten.
Links in der Ferne segelt die Kathedrale von Segovia
wie ein verzauberter Ozeanfahrer stolz durch ein Meer
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Gebärden der Burgen
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Ideen der Burgen
kraft. Dann begreift er, daß die Vernunft, das heißt das
Vermögen der Selbstbesinnung, letzten Endes eine eben-
so ursprüngliche Gewalt ist wie der Instinkt oder die
Gravitation.
Es gibt Epochen, in welchen die Menschen, selbst die
besten, die Erinnerung hieran verloren haben und nur das
Innermenschliche erleben, blind und taub für den übrigen
Kosmos. Dies sind die Zeitalter der Agora, des Markt-
platzes, der Akademien und Parlamente, in welchen der
Mensch von der unbestimmten Vorstellung ausgeht, daß
die Gesetze seines Kirchsprengels die Welt beherrschen
und sein kleiner Verstand alles entscheidet, ohne irgend-
wo Nebel und Geheimnisse übrigzulassen.
Zweifellos sind es Epochen der Klarheit, aber sie sind
ärmlich und saftlos. Es sind die sogenannten klassischen
Zeitalter, in welchen der Geist ein beschränktes, provin-
zielles Dasein führt und sich selbst allzu ernst nimmt.
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Tagebuch einer Sommerfahrt
mit ihnen wie mit der Giraffe oder dem Okapi. Schließ-
lich sind sie ja Häuser, die einmal Menschen gebaut ha-
ben, um darin zu leben. Aber das ist es: wie muß ein Le-
ben beschaffen sein, damit das Haus, worin es Wohnung
nimmt, eine Burg wird? Offenbar so verschieden von
unserem eigenen wie nur denkbar. Darum wirft uns die
Erscheinung dieser steinernen Ungeheuer mit dem Bi-
zeps ihrer Türme und der struppigen Mähne der Zinnen,
Wasserspeier und Kragsteine unvermittelt an den Gegen-
pol menschlicher Lebensformen.
Ein griechischer oder römischer Portikus, ein Zirkus,
ein Odeon erscheinen unserem eigenen Leben verwand-
ter als diese Herrensitze auf ihren Hochwarten, errichtet
zu Angriff und Verteidigung, finster und kampfbereit, die
ihre uralten Fangzähne unablässig in das Himmelsblau
schlagen.
In der Tat, verglichen mit der Burg steht das Altertum
der Neuzeit verhältnismäßig nahe; die Burg erscheint als
Verkörperung des Nichtmodernen in seiner vollkommen-
sten Ausbildung, und es zeigt sich, daß die Antike mo-
derner ist als diese prachtvolle, unvermischte Barbarei.
Es ist daher nicht erstaunlich, daß sich die Neuzeit vom
klassischen Altertum genährt hat und die modernen Wis-
senschaften und modernen Revolutionen beim Schall
griechisch-lateinischer Namen gemacht worden sind.
Unser öffentliches Leben, das geistige und das politische,
hat mehr von agora und forum als vom Rittersaal.
Und warum? Aus einem sehr einfachen und sehr tie-
fen Grund: wegen einer radikalen Verschiedenheit. Das
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Ideen der Burgen
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Ideen der Burgen
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Liberalismus und Demokratie
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Liberalismus und Demokratie
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Liberalismus und Demokratie
ständig fern; aber gerade darum tritt der liberale Sinn des
Feudalwesens noch ungezwungener hervor, wobei unter
Feudalwesen die ganze Entwicklung verstanden sein soll,
die sich vom Einfalt der Franken bis zum Ende des 14.
Jahrhunderts erstreckt.)
Ich habe den Eindruck, daß wir unsere Ideen vom Mit-
telalter bald gründlich revidieren werden. Bis jetzt ist es
noch nicht gelungen, die Tatsachen einfach und genau,
wie sie sind, zu nehmen. So haben die deutschen Histori-
ker aus Scham über die mangelhafte demokratische Ge-
sinnung ihrer germanischen Vorväter den Tatsachen Ge-
walt angetan, um zu zeigen, daß im Mittelalter das öf-
fentliche Recht bekannt war. Natürlich war es bekannt.
Es ist ein zu wesentlicher Bestandteil des menschlichen
Zusammenlebens, als daß man es unbeachtet lassen
könnte. Die Frage ist, was vorherrscht, das private oder
das öffentliche Recht. Die Germanen waren mehr liberal
als demokratisch, die romanischen Völker mehr demo-
kratisch als liberal. Die englische Revolution ist ein kla-
res Beispiel für den liberalen, die französische für den
demokratischen Geist. Cromwell will die Macht des Kö-
nigs und des Parlaments beschränken, Robespierre will
den Klubs zur Macht verhelfen. So erklärt es sich, daß
die droits de l’homme in die konstituierende Versamm-
lung durch die Vermittlung der Vereinigten Staaten von
England her eindringen. Den Franzosen liegt mehr an der
egalité.
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Der kriegerische Geist
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Der kriegerische Geist
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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Der kriegerische Geist
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Der Tod als Schöpfer
das andere“ geht unser Wunsch dahin, „eins und das an-
dere“ zu umfassen.
Der kriegerische Geist, da er von einem Lebensgefühl
des Vertrauens zu sich selbst und zur Umwelt ausgeht,
sollte zu einer lebensbejahenden Weltauffassung führen.
In der Tat war das Mittelalter, das eine unfähige Ge-
schichtsschreibung uns als eine düstere, von Ängsten
erfüllte Welt geschildert hat, die Zeit der optimistischen
Philosophien, während sich bei uns kaum andere als pes-
simistische Stimmen hören lassen. Rührt das Selbstver-
trauen des kriegerischen Geistes vielleicht davon her, daß
ihm die Schattenseiten des Lebens verborgen waren?
Keineswegs; er kennt das Leid der Welt so gut wie Scho-
penhauer, er weiß, daß das Leben Wagnis und Mühsal
ist. Aber, und das ist der springende Punkt, angesichts
der Wirklichkeit von Qual und Bedrohtheit ist seine
spontane Haltung gerade nicht pessimistisch. Dank seiner
prachtvollen Lebenslust schluckt er das Dasein samt all
seinen Schmerzen und Gefahren, ohne mit der Wimper
zu zucken. Sie werden bis zu solchem Grade als dem
Leben wesentlich erkannt, daß man in ihnen nicht den
geringsten Einwand gegen das Leben erblickt; man
nimmt sie hin und rechnet mit ihnen, statt einzig darauf
bedacht zu sein, wie man sie vermeiden kann. Diese Be-
jahung der Gefahr, die dazu führt, daß man sie läuft und
nicht flieht, kennzeichnet die Gewohnheiten des Krie-
gers; sie ist der Ursprung des Hauses als Burg.
Heute fühlen wir eine unvermutete Verwandtschaft
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Der Tod als Schöpfer
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Ehre und Vertrag
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Der Sport der Ideale
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Der Sport der Ideale
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Das Dienstwesen
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Das Dienstwesen
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Das Dienstwesen
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Tagebuch einer Sommerfahrt
Folge ist, daß die Ware zum Mittel und der Reichtum
zum Endzweck wird.
Doch ist mit allem diesem der wichtigste und feinste
Zug des mittelalterlichen Dienstwesens noch unerwähnt
geblieben. Es gab verschiedene Arten von Vasallen, die
erworbenen, die sich durch einen Pakt in den Schutz und
Dienst eines Mächtigeren gestellt hatten, und die natürli-
chen, welche in der Gefolgschaft einer anderen Person
geboren waren und ihren Herrn, außer durch einen Treu-
bruch, nicht verlassen konnten. Dieser pflegte einige sei-
ner natürlichen Vasallen dadurch auszuzeichnen, daß er
ihre Kinder von frühester Jugend an in seine vornehmere
Haus- und Familiengemeinschaft aufnahm und in der
sittlichen Tradition erzog, die sich darin ausgebildet hat-
te. Diese jungen Knappen besorgten die häuslichen Ge-
schäfte und gehörten als eine Art Adoptivkinder zu der
Familie ihres Herrn. Nach dem gewöhnlichen Brauch
sandte ein Adliger seine Kinder in das Haus seines umit-
telbaren Gefolgsherrn, der den nächst höheren Rang auf
der großen Stufenleiter der Gesellschaft einnahm. Fälle
wie der des Cid, welcher seine Töchter, obgleich er zum
niederen Adel gehörte, an den Hof des Königs bringen
durfte, bedeuteten eine besondere Auszeichnung.
Dies ist der Sinn des Dienstmannentums, einer unver-
gleichlichen sozialen und pädagogischen Einrichtung, die
jahrhundertelang auf den Burgen blühte.
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WEITERFAHRT
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Kantabrien, das Land der Wappenschilder
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Santillana del Mar
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Vor der Höhle von Altamira
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Vor der Höhle von Altamira
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sie, ohne sie zu suchen. Sie fiel sie an wie eine Offenba-
rung — wie ein Büffel.
Der Führer schlägt das Tor auf, das wie ein Lid über
dem schwarzen Auge der Höhle liegt, und wir treten ein.
Der Fuß tastet sich vorwärts über feuchtes, schlüpfriges
Gestein, und schon fühlen wir uns verschlungen von der
Finsternis, die uns mit ungreifbaren Kiefern packt. Ein
Eingang wie dieser muß zu dem Ort geführt haben, den
die keltische Sage das Purgatorium des heiligen Patri-
zius nennt. Die von dorther wiederkehrten, lachten nie
mehr. Und das soll ein Museum sein! Unsere Abneigung
gegen Kunstsammlungen sänftigt sich ein wenig. Ausge-
zeichnet! Ein Museum im Dunkeln. Die Hände greifen
Finsternis und öffnen sich Wege darin, während der Fuß
abwärts stolpert und gleitet, dem Mittelpunkt der Erde
entgegen.
Indessen steckt der Führer eine Azetylenlampe an.
Unsere Begierde, die berühmten Büffel zu sehen, duldet
keinen Aufschub. Wir blicken zur Decke der Höhle hin-
auf. Da sind sie. Phantastisch, ungeheuer. Sie bewegen
sich auf der Oberfläche des Steins. Doch nein, es ist ein
Irrtum. Was wir sehen, sind unsere eigenen schwanken-
den Schatten, welche die am Boden stehende Lampe an
die Decke wirft. Und die Büffel? Sie scheinen eine ironi-
sche Zurückhaltung zu üben, diese urweltlichen Ko-
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Der Schatten des Zauberstöckchens
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Der Schatten des Zauberstöckchens
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Der Schatten des Zauberstöckchens
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Tagebuch einer Sommerfahrt
AM STRAND
Der Strand ist der weibliche Teil der Küsten, die Vor-
gebirge verkörpern ihre Männlichkeit.
Der große Strand von Biarritz biegt sich wie eine ge-
schwungene Peitsche, um seine abgerichteten Felsen in
Schach zu halten. Es sind ein halbes Dutzend Ungeheuer
mit ockerfarbenem Fell, die aus dem Wasser auftauchen
und sehr nach künstlicher Staffage aussehen. Sie sind
allzu notwendig in diesem Meer ohne Schiffe und ohne
die Schwermut klippiger Vorgebirge, als daß ihre Ge-
genwart nicht Verdacht wecken sollte. Warum haben sie
so gezierte Formen? Warum sehen sie aus wie die
Traumgriffe kleiner Schreibmaschinenfräuleins? Und da
ganz Biarritz mehr oder weniger ein Kunstprodukt ist,
bin ich überzeugt, daß diese Felsen, die allzu gelegen
kommen, keinem spontanen geologischen Einfall ent-
stammen, sondern vom Verschönerungsverein hier auf-
gestellt sind zur Zierde des Badestrandes und damit all
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In der Bar Basque
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Tagebuch einer Sommerfahrt
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In der Bar Basque
Vlies nicht für sich selber tragen. Mein Freund und ich
plaudern eine Weile über den Sieg der Hirtenvölker, über
die Zisternen von Kanaan und australische Nandus.
Es liegt eine festliche Heiterkeit in der Luft, die den
Geist frisch und behend macht. Man kann nicht leugnen,
die Franzosen verstehen es, einer Mahlzeit allen feinen
Schwung zu geben, dessen sie fähig ist, besonders seit sie
ein Bündnis mit dem angelsächsischen cock-tail ge-
schlossen haben.
Doch beginnt unsere allgemeine Begeisterung, sich
bestimmten Gegenständen zuzuwenden, und ihr bester
Teil beugt sich huldigend vor einer Frau, die eben herein-
tritt, begleitet von einer Freundin und dem korrektesten
aller Greise. Warum erregt diese Frau unsere Aufmerk-
samkeit, eine zarte, respektvolle Aufmerksamkeit? War-
um möchten wir ihr befreundet sein und die Bemerkung
auffangen, die sie eben gemacht haben muß, mit einem
Lächeln, so leicht und beherrscht, als würde es von einem
geistigen Zügel verhalten? Die anderen eleganten Frauen
ließen uns völlig kalt. Warum? Die Antwort ist nicht
leicht und zwingt zur Lüftung ein wenig unhöflicher Ge-
heimnisse. Man müßte zugeben, daß die elegante Frau in
der Tat häufig nicht die fesselndste ist, und das verlangt
eine Erklärung; denn man macht sich über die Eleganz
recht irrige Vorstellungen. Eleganz wird leicht zum Beruf
und dadurch zu einer beständigen harten Knechtschaft.
Die elegante Frau steht von morgens bis abends im
Dienst ihrer Eleganz. Sie muß an den fünfzehn Orten
erscheinen, wo sich die elegante Welt trifft;
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