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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation: Über Adornos soziale Individuationstheorie

Author(s): HERMANN SCHWEPPENHÄUSER


Source: ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law
and Social Philosophy, Vol. 57, No. 1 (1971), pp. 91-115
Published by: Franz Steiner Verlag
Stable URL: https://www.jstor.org/stable/23678480
Accessed: 31-08-2019 10:56 UTC

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation
Uber Adornos soziale Individuationstheorie

VON HERMANN SCHWEPPENHAUSEN LÜNEBURG

Gewidmet dem Andenken an Theodor W. Adorno


am 6. August 1970, seinem ersten Todestag

Doppelsinn von Liquidation

Unbeirrt vom anachronistisch Vergeblichen des Postulats hat Adorno


darauf bestanden, daß „die Frage nach der Individualität ... im Zeit
alter von deren Liquidation aufs neue aufgeworfen" werde1. Ver
zweifelt und mutig hat er selber sie exponiert, ihr Antworten gefunden,
die weit über das hinaustragen, was der Spezialismus, der die ,Frage nach
dem Menschen' zum Beruf machte, auf sie vorzubringen hat. Er hat vorweg
des Prekären sich versichert, von dem Subjekt wie Objekt der Frage,
Erforschendes wie Erforschtes heute affiziert sind. „Der Blick aufs Leben
ist übergegangen in die Ideologie, die darüber betrügt, daß es keines
mehr gibt"2. Das gilt wie vom wissenschaftlichen, der das Verdinglichte
noch einmal verdinglicht, so vom borniert auf die Selbsterhaltung ge
hefteten, mit dem die Subjekte im eigenen Sosein sich bestätigen.
Objektivität und Subjektivität des Daseins sind weniger denn je von
einander durchdrungen: mechanisch spiegeln sie einander zurück. „Wer
die Wahrheit übers Leben erfahren will, muß dessen entfremdeter Ge
stalt nachforschen, den objektiven Mächten, die die individuelle Exi
stenz bis ins Verborgenste bestimmen" 3.
Paradox nimmt Adorno die Reflexion übers Dasein da auf, wo
Dasein nicht ist. Weder erliegt er dem verstümmelnden Usus, das be
schädigte Leben fürs Leben selber zu nehmen, noch ignoriert er das
Beschädigende und redet vom Subjekt so, als wäre es die incorruptible
Substanz — Person —, die von äußerer Macht vielleicht umgetrieben
und verstellt, nicht aber im Innersten angerührt und versehrt zu werden

Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten


Leben, Frankfurt 1951, Aphorismus 83. — Die Zitation folgt der ersten der
bis heute vorliegenden vier Ausgaben, die italienische Ubersetzung einer
Auswahl aus den Aphorismen eingerechnet.
Op. cit., Zueignung, S. 8. 3 A.a.O., S. 7.

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vermöge. Wohl sträubt sich „das reduzierte und degrad


zäh gegen seine Verzauberung in Fassade"4, und doch re
dation bis in seinen tiefsten Kern, den sie nicht un
Jenem Sträuben des Subjekts, wie dem schaudernden
an die Substanz ihm ging, leiht die ADORNOsche Reflex
Stimme. Treu dem Subjekt, der historisch errungen
lischen Individuation, diagnostiziert sie seinen Verfall,
den Mächten, die ihn fördern, zu ratifizieren sie standh
Und tiefgründig entziffert sie in jenen Mächten die
allmächtigen Subjekts, das herrschaftlich noch gegen s
und solang den eigenen Verfall fördern muß, wie e
Individuation in der Solidarität aller Individuen nicht wahrhaft erst
herzustellen vermag. Es macht die Kraft des Gedankens aus, den
Adorno an die Individuation wendet, daß er des Doppelsinns ihrer
Liquidation sich versichert hat.
Das Individuum ist historisch verurteilt5, und mit ihm verschwindet,
was einmal seine Kraft ausmachte. Dem gilt alle Klage zu Recht, wo sie
nicht zugleich der Einsicht sich sperrt, „welche übers Individuum hin
ausgreift" 6 und gerade in seiner Liquidation sich versprechen sieht, was
der historische Prozeß dem Individuum vorenthielt, das er triumphal
aus sich heraussetzte: die ungehinderte Entfaltung, die mit ihm gemeint
war und die die befreite Gesellschaft erst gewähren kann. „Im Zeitalter
seines Zerfalls trägt die Erfahrung des Individuums von sich und dem,
was ihm widerfährt, nochmals zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß
verdeckt war, solange es als herrschende Kategorie ungebrochen positiv
sich auslegte"7: die „der befreienden gesellschaftlichen Kraft", die
heute „in die Sphäre des Individuums" sich zusammenzog8. Mit an
deren Worten: Adorno wird an der historischen Liquidation des Indi
viduums des Zugs der bestimmten Negation inne. Dies bewahrt ihn
vorm Ton kulturkonservativer Jeremiade ebenso wie vorm schmet
ternden ungebrochen progressistischer Ideologie. Nichts hat er für sich
als tastende Einsicht ins ephemerste Potential; und wie immer der
Widerstand gegen Verdinglichung und gegen dubiose Befreiung — die
Enthemmung, die heute für Befreiung sich hält — aufs andere und
bessere deuten mag: die historische Stunde der gesellschaftlich gelun
genen Individuation ist ungewisser denn je. Daher „bleibt so viel Fal

4 A.a.O., S. 8. 5 Cf. a.a.O., S. 9. 6 Ibd. 7 A.a.O., S. 13.


8 Ibd.

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sches bei Betrachtungen, die vom Subjekt ausgehen"9. Es, das der „über
wältigenden Objektivität"10 die eigene Wahrheit zu entreißen trachtet
und das, was es noch hoffen darf, wird von jener sich selber entzogen.
Was, eben solange Subjekte atmen, „für sich noch ist", ist längst „nicht
mehr an sich", und „ein neues" Subjekt aus der Auflösung des
alten nicht schon entsprungen11. So droht das alte, oder was es für sich
blieb, in seinem Sosein sich zu verhärten und „damit wiederum das Ge
setz des Weltlaufs zu erfüllen"12, dessen, der es machte zu dem, was es
war und was es doch nicht sein konnte. Ohne den Impulsen des So
seins, der bornierten Partikularität nachzugeben, sucht der ADORNOsche
Gedanke, mühselig genug, Erkenntnis bei dem, was das Sosein so
machte, das für nicht weiter reduzierbare Substanz sich nimmt. Kein
Zweifel, daß das Allgemeine, die individualistische bürgerliche Ge
sellschaft, „sich durch das Zusammenspiel der Einzelnen hindurch" ver
wirklicht und deren Produkt ist. Allein umgekehrt sind die Produzie
renden, ist die Substanz jener Einzelnen selber „wesentlich" schon „die
Gesellschaft"13. Diese entscheidende Einsicht erweist sich als das Fun
dament von Adornos Theorie der Individuation. Und weil sie ver
wundet, wird sie soziologistisch gescholten. Schon deshalb aber muß
sie der Vorwurf verfehlen, weil Adorno gerade ihr eine unerwartete
Wendung der Individuationsproblematik abzugewinnen vermag. Ist
nämlich die Substanz des Individuums die Gesellschaft, die des Be
sonderen das Allgemeine, das in jenem sein Leben hat, dann wird auch
„gesellschaftliche Analyse . . . der individuellen Erfahrung unvergleich
lich viel mehr . . . entnehmen"14, als alter und neuer Objektivismus
und vollends eben der Soziologismus je konzedierte, welcher der Ein
sicht ins gesellschaftliche Wesen der Individualität vorgehalten wird.
Weil das Individuum, das verzweifelt des Untergangs sich erwehrt,
„an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen" hat, „wie
es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt
und ausgehöhlt wurde"15, schärft sich sein Blick fürs Bedrohliche, das
gesellschaftliche Gesetz, das es beim Namen zu rufen lernt, damit Hilfe
ihm zuwächst und die Macht des Benannten durchs Benennen schwinde,
tendenziell, als Erkenntnis erst, dann als von ihr aus eingreifende
Praxis, ans Ubermächtige, die Objekte des Prozesses übergehe, die sich
wehren und Subjekte werden wollen.

9 A.a.O., S. 8. 10 A.a.O., S. 9. " lbd. 12 lbd.


13 A.a.O., S. 12. 14 lbd. 15 A.a.O., S. 12 f.

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Individuelle Eifahiung und kathaitische Methode

Individuelle Erfahrung ist die Erfahrung von dem, was


vom Allgemeinen widerfährt, wodurch dieses es kon
struiert in einem. In ihr kommt die Gesellschaft zu sic
nicht sagen kann, und daran das Individuum, das i
keiner noch so angespannten Bemühung sich entschl
Erfahrung verhilft Adorno zur Artikulation. Sie ähn
gung des Sisyphos, und schon dies hilft erklären, waru
Bemühung ums Problem der Individuation sich lieb
zeitgemäß stilisierten Fiktionen von Wesenskem und Pe
oder gleich und umstandslos an die faktenwissenscha
des Individuums sich macht und so beidemale den Weg
Widerstands einschlägt. Wem aber am Entscheidende
dem er vorbeiführt, muß auf des Messers Schneide
duation die Substanz abtrotzen, welche die Individua
auflöst zugleich, ihr den Boden wegzieht, an dem sie al
kenden Halt fände. Im Medium substanzenmetaphys
logischer Fixation, der — trotz Geschichtlichkeit —
Schwanken entgeht, und im Medium seientifischer
des Ephemeren, die den immerfort weggezogenen Bo
schaftlich Prozessuale — trughaft verhärtet, ist jene Erf
gewinnen. Faßbar wird sie nur in dem dialektischen Den
der Verdinglichung" „widersetzt"17, der ontologischen
fischen, die an Verdinglichung ihr tertium comparatio
weigert sich, „ein Einzelnes", ob Person, ob Faktum
Sosein, „je in seiner Vereinzelung und Abgetrennthei
und „bestimmt gerade die Vereinzelung als Produkt
So arbeitet es als Korrektiv gegen die manische Fixie
den widerstandslosen und leeren Zug des paranoiden
jektiven zumal — der nivellierenden historischen Tende
absolute Urteil" — jener Weltgeschichte, die das Weltge
dem Preis der Erfahrung der Sache bezahlt"19 ; der Sach
manische Fixiertheit entstellt, so durch die Unterwerfu

18 Cf. die Passagen über Schopenhauers Einsichten ins Wa


mühung; a.a.O., Aph. 48. 17 A.a.O., Aph. 46.
18 Cf. Adorno, „Wozu noch Philosophie", Eingriffe, Frankf
19 Minima Moialia, a.a.O., Aph. 45.

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lute Gericht, den aberwitzig zum absoluten gesteigerten Geist, wie für
ewig negiert wird. Um ihrer willen darf der Preis nicht entrichtet werden:
Erfahrung mit der Substanz nicht sich loskaufen, die sie definiert. Nur
dort vermag sie Erfahrung zu sein, „Erkenntnis zu erweitern, wo sie
beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit
zerfällt" 20 und mit der zerfallenden Isoliertheit zugleich die Kralle der
Subsumtion, der welthistorischen wie der ihr parierenden logischen,
sich löst, die das Einzelne eisern umspannt21. „Es gehört zum Mechanis
mus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu
verbieten"22. Dies Leiden aber ist die Verhärtung. Daher ist Heilung
nur bei dessen Liquidation: negierender Auflösung des Negativen, wie
dialektisches Denken sie artikuliert. Kein anderes ist gemeint, wenn
Adorno die Idee „einer kathartischen Methode" umreißt, einer, die
darauf ausgehen müßte, „die Menschen zum Bewußtsein des Un
glücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu brin
gen und ihnen die Scheinbefriedigung zu nehmen, kraft derer in ihnen
die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhält, wie wenn sie
sie nicht von außen bereits fest genug in der Gewalt hätte"23. Er hat
diese Idee nicht bloß umrissen; die Analyse, die er ans beschädigte Le
ben wendet, ist ihre Realisierung. Was die Sonde dieser Methode am
kranken Leib bloßlegt, könnte wie kaum eine sonst der Anstrengung,
die an ihren Befunden sich orientierte, zur Heilung ausschlagen.
Die Aufgabe, das Dasein zum Bewußtsein des Unglücks zu bringen,
kann im Klima gereizter Anpassung leicht als missionarische Entglei
sung erscheinen, so, als wäre der, der sie sich stellt, im Alleinbesitz der
Wahrheit, die doch wie nie obenauf liegt. Aber zur individuellen Er
fahrung wird, wie zu reuiger Umkehr, nicht aufgerufen: sie wird
schmerzlich am eigenen Leibe gemacht und der Schmerz nicht, wie
sonst, verbissen, sondern ausgedrückt. „Der Distanzierte bleibt so ver
strickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die
Einsicht in seine Verstricktheit"24. Kathartische Methode bleibt vorm
Pharisäismus gefeit. Dem Weltlauf setzt sie sich nicht, wie die Tugend,
mit dem Wahnwitz des Eigendünkels25 entgegen, den sie vielmehr,
wie die HEGELSche Phänomenologie am moralischen Rigorismus, an
20 Ibd.
21 Dies bildet das zentrale Motiv in Adornos spekulativem Hauptwerk, der
Negativen Dialektik, Frankfurt 1966.
22 Minima Motalia, a.a.O., Aph. 38. 23 Ibd. 24 A.a.O., Aph. 6.
25 Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, S. 276.

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der zeitgenössischen Eigentlichkeit trifft, die, wie jener d


Produkt des Wettlaufs zu individualistischen Zeiten, nur d
tige Reflex auf die Allgewalt gegenwärtiger Vergesellschaf
Den ADORNOschen Moralismus definiert Scham und ni
„Das einzige, was sich verantworten läßt, ist, den ideol
brauch der eigenen Existenz" — also der gläubig oder unglä
ziell aufgespreizten — „sich zu versagen . . ., so bescheiden
und unprätentiös sich zu benehmen, wie es . . . die Scha
bietet, daß einem in der Hölle noch die Luft zum Atmen b
aber deutet auf mehr noch denn auf bloße Verstricktheit als das Maß
der Existenz: es trifft deren Höllencharakter. In der Hölle zu sein,
daran leiden nur die Teufel nicht. Zu der Qual der übrigen, in ihr es
aushalten zu müssen, tritt die tantalische hinzu, daß am gequälten
Leben die Scham frißt, zu leben, wo Ungezählte den Opfertod sterben,
die Luft zu atmen, die, buchstäblich und unsäglich, von den Verbrann
ten raucht. Die sie nicht riechen wollen, bei Auschwitz als einer repa
rablen Panne auf der Zielgeraden des Fortschritts verweilen, um zur
Tagesordnung überzugehen, von der nur neues Unheil droht, machen
die Verstricktheit erst vollends, wie die ewige Verdammnis, unabwend
bar: sie nicht wahrnehmen heißt sie perpetuieren. Wahr nimmt sie
auch nicht, wer die Wahrnehmung bei denen, die sie machen und aus
sprechen, als Sentimentalität von noch nicht Gestählten, wenn nicht
ohne weiters als subversive Rancune Ungeläuterter abtun, die dem in
Krieg und Stahlgewittern geläuterten Subjekt nicht anstünde, das reso
lut die Schatten der Vergangenheit — nämlich die seiner Opfer, nicht
die seiner Taten — wie Spuk wegwischt und unter sie endlich den
Schlußstrich zieht. Daß es mit diesem sich selbst durchstreicht, beflissen
mit dem Gedanken ans Unrecht die eigene historische Genese negiert,
wird es so wenig gewahr, wie sehr eben Vergessen der Logik seiner
Entmächtigung durch Geschichte zuarbeitet.

Normalität als Krankheit. Quidproquo von Autonomie und Heteronomie

Das nicht mehr Gewahrwerden — Versagen des moralischen Senso


riums, rapides Vergessen und Schrumpfen historischer wie indivi
dueller Erfahrung — aber indiziert Krankheit. „Die zeitgenössische"
26 Dies hat Adorno in der bedeutenden Streitschrift über den /argon der
Eigentlichkeit, Frankfurt 1964, sprach- und begriffsphysiognomisch detail
liert dargetan. 27 Minima Moialia, Aph. 6.

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besteht „gerade im Normalen. Die libidinösen Leistungen, die vom


Individuum verlangt werden, das sich gesund an Leib und Seele be
nimmt, sind derart, daß sie nur vermöge tiefster Verstümmelungen
vollbracht werden können". „Keine Forschung28 reicht bis heute in die
Hölle hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später
als . . . gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt
praktischer Sinn zutage kommen"29. Damit ist auf das welthistorische
Quidproquo des Fortschritts gedeutet, die Dialektik des Zivilisierungs
prozesses — der Aufklärung, die in Verfinsterung umschlägt, ihren
Zweck, das autonome Subjekt, ins Mittel verkehrt, ins heteronome Ob
jekt der Anpassung an die von ihm geschaffenen Bedingungen, die den
Präger prägen und am Ende das Herrschende bis zur Selbstauslöschung
beherrschen. Unter der Gewalt dieser Dialektik ward menschliche Ge
schichte sich selber verstellt, die der Vergesellschaftung wie die der von
ihr untrennbaren Individuation. Unterhalb der offiziellen und be
wußten Geschichte am Werk, vollstreckt sie den „gleichsam prähistori
schen Eingriff, der die Kräfte" in den davon betroffenen Menschen
„schon bricht, ehe es zum Konflikt" und der Erkenntnis überhaupt noch
kommt30. Die Oberfläche, die über den periodischen objektiven Kon
flikten — den Katastrophen der in der Naturbeherrschung befestigten
Aera, deren Ausmaß die Subjekte von ihrer Wahrnehmung dispen
siert — mittlerweilen und je wieder sogleich sich schließt, bezeugt eine
schaurig prästabilierte Disharmonie: Konfliktlosigkeit als permanent
unaufgelösten Konflikt. Der Name der Integration, unter dem der Zu
stand sich zusammenfaßt, wird zum Hohn auf seinen Sinn, den von
integritas, Unverletztsein. Die Krankheit preist als Gesundheit sich an,
und Normalität zeigt sich als um und um vernarbtes Leben: eins, das
empfindungslos ward. Der Blick, den es noch schaudert, registriert ei
nen Totentanz der Lebendigen: „All ihre Bewegung gleicht den Reflex

28 Keine, wohlverstanden, die, reinsoziologisch, das Subjekt und seine Genese,


und die, reinpsychologisch, den sozialen und den historischen Prozeß ver
nachläßigt — wohl aber konzentrierte Besinnung vom Typus „Kritischer
Theorie", die, was zumal Freudsche Analytik dem Terrain abrang und kriti
sche Ökonomie zur Erhellung beitrug, mit historisch geschärfter Erfahrung,
durchdringendem physiognomischen Blick und der Kraft des ungeschmäler
ten Gedankens zur Konstruktion des Gesamtprozesses zusammenbrachte,
die vor allem in Werken wie der Dialektik der Aufklärung, Amsterdam
1947, der Kritik der instrumenteilen Vernunft, Frankfurt 1967, und der
Negativen Dialektik, Frankfurt 1966, in der Tat aufs gesellschaftliche Ur
gestein trifft. 29 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 36. 30 Ibd.

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bewegungen von Wesen, denen das Herz stillstand"31. „S


als wäre ihre Haut mit einem regelmäßig gemusterten
druckt, als trieben sie Mimikry mit dem Anorganischen. W
und man könnte die, welche im Beweis ihrer quicken Leben
strotzenden Kraft aufgehen, für präparierte Leichen halte
die Nachricht von ihrem nicht ganz gelungenen Ableben
rungspolitischen Rücksichten vorenthielt" 32. Sie werden ge
gerade als Erstorbene funktionieren sie. Daß Regression
nische nicht zum Bewußtsein über sich selbst gelangt, folg
aus der Regression des Bewußtseins. Es folgt schon da
Ordnung selber „die Krankheit aller Einzelnen gleichsam ü
hat"33: daß diese funktionstüchtig und gesund auf den
gesellschaftlichen Krankheit sein können, die sie mit de
Scheinleben wieder fristen. Das Hoffnungslose der zeitgenö
tegration besteht darin, daß das „im Individuum vergraben
Unheil . . . mit dem sichtbaren objektiven" kontaminie
Individuen fortschleppen und — als Individuen — manifestie
woran die übermächtige Ordnung selber krankt, die daran
sie Ordnung ist.
„Nichts hilft als die standhaltende Diagnose seiner sel
anderen, durch Bewußtsein wenn schon nicht dem Un
weichen, so ihm doch seine verhängnisvolle Gewalt, d
heit zu entziehen" 35. Mit der Blindheit ist auf den Ordnun
das Zwanghafte der Ordnung, gedeutet, die die un
walt übt — aufs objektive Gesetz, das das Mannigfaltig
zwingt und dessen Walten nichts ausläßt. So scheint es
hängt wie die mythische Notwendigkeit. Diagnose entz
heil die blinde Gewalt: sie läßt soviel unterm Schleier he
sehbar wird, was Wirken des Gesetzes und von ihm Ge
haupt sind. Die Ordnung, die er stiftet, ist die kapitalistisc
nach es selbst nicht auf Ewigkeit verhängt. Daß sie ten
schwindende ist, eben weil sie entstand — in der Geschicht
immer die kapitalistische war — hat standhaltende Diagnos
ihr abgerungen: mit der Kritik ihrer Ökonomie; und die A
Individuellen und des Privaten vermochte, von der Kehrsei
nung her, die Entdeckung zu bekräftigen und zu erweit
Anwendung eben der kathartischen Methode, die der Er

31 Ibd. 32 Ibd. 33 Ibd. 34 lbd. 35 A.a.O., Aph. 13.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 99

Besonderen den Aufschluß übers Allgemeine verdankt, weil dieses in


jenem sich niederschlug: im Subjekt der Selbsterhaltung das Gesetz der
ökonomischen Reproduktion, die das Subjekt zur Selbsterhaltung ver
dammt.
Im Subjekt, das überlebte, hat sich der Bürger selbst überlebt. „Wäh
rend die bürgerlichen Existenzformen verbissen konserviert werden" —
„im Partikularismus der Interessen, der längst überlebten Form der
Familie, im Eigentumsrecht und seiner Reflexion im Charakter" —,
„ist ihre ökonomische Voraussetzung entfallen" 34. Sie ward von privat
wirtschaftlicher Produktion gebildet. Mit deren Ubergang zur mono
polistischen, unter welcher der Prozeß der Vergesellschaftung selber
gerann, ist auch das Subjekt als substantielle historische Form zer
brochen und das „Private", das in der Solidarität der Individuen sich
nicht aufheben durfte, „vollends ins Privative übergegangen"37, in die
Abwesenheit der Humanität. Gespenstisch west der Mensch als „homo
absconditus" 38. „Ins sture Festhalten am je eigenen Interesse hat sich
die Wut eingemischt, daß man es eigentlich doch nicht mehr wahrzu
nehmen vermag, daß es anders und besser möglich wäre" 3B. So macht
es die „Signatur des Zeitalters" aus, „daß kein Mensch, ohne alle Aus
nahme, sein Leben in einem einigermaßen durchsichtigen Sinn, wie er
früher in der Abschätzung der Marktverhältnisse gegeben war, mehr
selbst bestimmen kann"40. Noch die Mächtigsten sind tendenziell die
Objekte, die faktisch unterm klassischen Liberalismus nur die von den
Mächtigen Exploitierten waren. „Freiheit hat sich in die reine Nega
tivität zusammengezogen"41: unter der monopolistischen Akkumulation
die Vogelfreiheit aller sich hergestellt, die unter der ursprünglichen die
von Grund und Boden Verjagten allein bedrohte. So erst erläutert sich
der heimliche Sinn des SARTREschen „Wir sind zur Freiheit verdammt",
nämlich zur leeren Offenheit der geschlossenen Gesellschaft, die alle,
egalitär, mit Ausweglosigkeit bedroht. „Daraus folgt, daß jeder, der
versucht durchzukommen" — und auch hier hilft Adorno, den existen
zialistischen Sartre tiefer sehen —, „zugleich so leben sollte, daß er in
jedem Augenblick fähig ist, sein Leben auszulöschen": in gehetzter
Freiheit den Schlag selber vorwegzunehmen, der immerfort drohend
über ihm hängt. Das aber zeigt „das objektive Ende der Humanität" an.

39 A.a.O., Aph. 14. 37 Tbd.


38 Dieser Begriff steht in der Blochschen Philosophie an entscheidender Stelle.
39 Minima Moialia, a.a.O., Aph. 14. 40 A.a.O., Aph. 17. 41 Ibd..

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100 Heimann Schweppenhäusei

Der Einzelne als Einzelner, „wie er das Gattungswesen M


sentiert, hat die Autonomie verloren, durch die er die G
wirklichen könnte" 42.

Die oiganische Zusammensetzung des Menschen

Ingeniös deutet Adorno solchen Verlust, indem er das MARX


rem von der organischen Zusammensetzung des Kapitals aufn
so der Konstitutionsproblematik der Individuation, die d
komposition einschließt, die eigentliche Lösung findet. S
Herzstück seiner Individuationstheorie gelten.
Kritik der politischen Ökonomie hatte dargetan, „daß die L
die neuzeitlichen Massen formte, ja den Arbeiter selbst herv
hat. Allgemein ist das Individuum nicht bloß das biologische
sondern zugleich die Reflexionsform des gesellschaftliche
und sein Bewußtsein von sich selbst als einem an sich Sei
Schein, dessen es zur Steigerung der Leistungsfähigkeit bedar
der Individuierte in der modernen Wirtschaft als bloßer
Wertgesetzes fungiert"43. Soweit hatte kritische Ökonomie d
lichen Sozialcharakter, die „gesellschaftliche Rolle" des In
seit Aufkommen der kapitalistischen Produktionsweise festg
ihr wäre — und hier nimmt Adorno den Faden auf — „
Komposition des Individuums an sich . . . abzuleiten". „En
ist dabei in der gegenwärtigen Phase die Kategorie der organ
sammensetzung des Kapitals"44. Sie artikulierte das veränder
Wachstumsprozeß der Warenproduktion und die fortschreite
talakkumulation vorschreibende Verhältnis der Bestandte
tals. Marx hatte diese — verwickelte — Proportion so bes
Zusammensetzung des Kapitals ist in zweifachem Sinn zu fas
der Seite des Werts bestimmt sie sich durch das Verhältn
sich teilt in konstantes Kapital oder Wert der Produktion
variables Kapital oder Wert der Arbeitskraft, Gesamtsum
beiterlöhne. Nach der Seite des Stoffs, wie er im Produkt
fungiert, teilt sich jedes Kapital in Produktionsmittel un
Arbeitskraft; diese Zusammensetzung bestimmt sich durch d
nis zwischen der Masse der angewandten Produktionsmittel e
und der zu ihrer Anwendung erforderlichen Arbeitsmenge a

42 lbd. 43 A.a.O., Aph. 147. 44 lbd.

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Das Individuum im Zeitalter seinen Liquidation 101

Ich nenne die erstere die Wortzusammensetzung, die zweite die tech
nische Zusammensetzung des Kapitals. Zwischen beiden besteht enge
Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Wertzusam
mensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammen
setzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt: die or
ganische Zusammensetzung des Kapitals"4ä. Aller Organismus ist durch
Interdependenz seiner Bestandteile definiert, welche den Organismus
selbst konstituiert, der, als Konstitutum, wieder das Konstituens jener
Wechselwirkung ist. Im Falle des Kapitalorganismus — dessen Leben
dem Telos der eigenen Erhaltung wie Steigerung, der Wertreproduktion
wie der Wertproduktion, also der Mehrwertschöpfung, gehorcht — be
deutet das einerseits die Wechselbeziehung von Produktionsmittelwert
wie darin ausgedrücktem faktischen Produktionsmittel und Arbeitskraft
wert wie unter ihm subsumierter Arbeitskraft, welche Kapitalwert wie
faktische Kapitalgröße konstituieren, die ihrerseits zum Konstituens
jener Wechselbeziehung in ihrer — im Unternehmerverstand — räso
nablen Anwendung werden. Andererseits fungiert jener Organismus
erst profitabel, wenn seine Konstituentien, jedes für sich, durch seine
Wertbestimmtheit wie durch seinen technischen Charakter, in sich
selber proportional werden, wenn also Wertzusammensetzung und
technische Zusammensetzung des Kapitals aufeinander Einfluß nehmen.
Dies erst macht den Kapitalorganismus aus dem ökonomischen Modell,
dem Typus, zu einem ökonomisch Konkreten, dem, woran der faktische
Wert durch technische Beschaffenheit von Maschinerie und Mensch
bestimmt wird und technische Beschaffenheit selbst schon vom Wert
gesetz die Prägung erfuhr. Am konkreten Kapital spiegelt der technische
Stand der Produktionsmittel wie die Dressur der Arbeitskraft — die
selbst wieder in Wechselwirkung sind, deren Maß freilich ebensowenig
das humane, vielmehr das ökonomische Telos der Mehrwertschöpfung
ist, die das humane erbarmungslos usurpiert — den Kapitalwert wider,
wie umgekehrt dieser — die Mehrwerträson — jene technische Verfas
sung bestimmt. Das Telos der Mehrwertschöpfung, die zunehmende
Verwandlung „der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmittel in
das Privateigentum von Kapitalisten"46 aber schreibt wachsende Re
duktion des variablen Kapitalteils zugunsten des konstanten vor, mit
der Folge der Rationalisierung der dadurch wohlfeiler werdenden Ar

45 Marx, Das Kapital. Erster Band, ed. Engels, Berlin 1955, S. 643f.
46 A.a.O., S. 657.

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102 Hermann Schweppenhäusei

beitskraft bis hin zu deren tendenziellem Selbstverlust,


flüssigwerden der Produzenten, und dem von der Mehrwertr
erzwungenen tendenziellen Mehrwertschwund. Der Organi
gerade durch äußerste Steigerung seiner Funktion, auf de
eigenen Telos, den eigenen Zusammenbruch ein47. Die Akk
des Kapitals erzwang seine Konzentration, die Vergesellsc
dividueller Kapitalisten, und führte die Phase des Monopolism
samt seinem Seitenstück, der Vergesellschaftung der Bevölke
lohnabhängigen Massen, die Phase, in welcher der Prozeß
Dreivierteljahrhundert stetig gefror. Und wie die organi
mensetzung des Monopolkapitals in eine manifest unorgan
in organische Dekomposition, sich verwandelte, so die org
sammensetzung des Menschen — des subjektiven Substrats de
lismus nach seinen zwei Seiten, der konzentrierter Herrschaf
extensiver Abhängigkeit — in unorganische Komposition: die
ristische organische Dekomposition, die als unvermittelte
Zerrissenen — unterm existentiellen Deckbild der ,Paradox
,Absurden' —, als stabilisierte Disharmonie, entselbstetes Selb
pologisch erscheint. Sie macht aus dem Leben jenes, das n
in seinen Reflexbewegungen dem schon erstorbenen gleich
durch die Subjekte in sich selber als Produktionsmittel un
lebendige Zwecke bestimmt sind, steigt wie der Anteil der M
gegenüber dem variablen Kapital"48. Was subjekttranszend
kumulationsprozeß sich zuträgt, reproduziert sich in den Sub
produziert sie in dieser Reproduktion. Wie die Maschiner
Arbeitskraft, wächst, als mechanisierter, der Mensch üb
lebendigen an. Der Prozeß der Warenproduktion zerriß den
lich Produzierenden und zugleich Produktion wie Produkt Bes
in den Nurproduzierenden, den Lohnarbeiter und den Nurbes
den Kapitalisten, dem mit der permanenten Verwandlung von
und Menschen in Tauschwert die wachsende Herrschaft ü
und Menschen zufällt, bis deren in Tauschwert verwandel
sum ihn unter sich selbst subsumiert. Am Ende gleicht die or
Zusammensetzung des Besitzenden der der von ihm Besessene
Instrumentalcharakter hat ihren Zweckcharakter usurpier

47 Cf. a.a.O., S. 801 ff.: „Geschichtliche Tendenzen der kapitalistis


mulation". — Ferner: „Gesetz des tendenziellen Falls der Pro
Das Kapital. Drittel Band, ed. Engels, Berlin 1956, S. 238 ff.
48 Minima Moialia, a.a.O., Aph. 147.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 103

sehen zerfallen in ein Selbst, das über das Selbst verfügt, und in ein
Verfügtes, worin sich kalt das Verfügen erhebt. Die organische Zu
sammensetzung ist nur mehr der Zusammenhalt dieses Zerfallenseins.
Das Anwachsen des Ichs, als Produktionsmittels, über sich, als leben
digen Zweck, wurde und wird oberflächlich als „Mechanisierung" des
Menschen beschrieben. Oberflächlich: weil die Beschreibung den Men
schen „als ein Statisches denkt, das durch Beeinflussung' von außen,
Anpassung an ihm äußerliche Produktionsbedingungen gewissen De
formationen unterliege. Aber es gibt kein Substrat solcher ,Defor
mationen', kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Me
chanismen von außen bloß einwirkten: die Deformation ist keine
Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre
Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert: sie
,erblich belastet'. Nur in dem Prozeß, der mit der Verwandlung von
Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durch
dringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses
a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es
möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsbedingun
gen sich reproduziert"49. Dies ist der springende Punkt. Unter jenem
Apriori „hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding ge
macht, zur Equipierung". Mit anderen Worten: „Die organische Zu
sammensetzung des Menschen bezieht sich keinesfalls nur auf die
spezialistischen technischen Fähigkeiten, sondern — und das will die
übliche Kulturkritik um keinen Preis worthaben — ebenso auf deren
Gegensatz, die Momente des Naturhaften", die, samt aller „psycho
logischen Differenzierung", in den Dienst der Produktion treten. „Das
Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur in Dienst"50,
und was als ,„Entartungserscheinungen' des Bürgertums festgestellt
wird ..., ist mittlerweilen als die gesellschaftliche Norm hervorgetreten,
als Charakter der vollwertigen Existenz unterm späten Industrialismus"51.
Wo existentielle Ontologie den Kern dieses Charakters sucht, wird er
nicht gefunden, und wo sie ihn findet, ist er nicht. Ihr Fundament,
das sie nicht radikal genug geltend machen kann, liegt, wenn überhaupt

lbd.
Ibd. — Adorno hat die über das Selbst anwachsende Selbstverfügung noch
im scheinbar hermetischen Innern des distanziertesten Subjekts aufgespürt,
sie etwa an der Lyrik als der technischen Verfügung übers Inwendige
bezeichnet. Cf. „George und Hofmannsthal", Prismen, Frankfurt 1955,
S. 232 ff. 51 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 147.

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104 Hermann Schweppenhäuser

wo, abseits von jenem, aus dem der Existenzcharakter des Dase
nährt. Ihren Luftwurzeln gegenüber ist auf die radices im ges
lichen Grund zu deuten: auf die Elemente der von ihm bestimmten
Umorganisation im ,organischen Menschen', bei der am Ende „das Ich
als Betriebsleiter soviel von sich an das Ich als Betriebsmittel abgibt,
daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt" wird, und „Selbsterhaltung
. . . ihr Selbst" „verliert"52. Eben dieser Verlust aber definiert es —
definiert es positiv: es west als Verlierendes, und Schwinden bleibt seine
problematische Substanz. Die Eigenschaften des Individuums „werden
bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz
aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verändern sie sich", machen nicht
länger das Subjekt aus, das mit seinen mobilisierten Eigenschaften
selber schwindet: schrumpft zum abstrakten Bezugspunkt. Als mobili
sierte, enteignete, als dinglich disponible, „ganz passive nähren sie es
nicht länger. Das" aber „ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizo
phrenie" 53.

Das gespaltene Selbst und die Kommunikation

„Die im Individuum vollendete Arbeitsteilung, seine radikale Objek


tivation, kommt auf seine konkrete Aufspaltung hinaus. Daher der
,psychotische Charakter', die anthropologische Voraussetzung aller tota
litären Massenbewegungen"54. Ihr desolates Erscheinungsbild begegnet
weit über das der Menschen unterm offenen Faschismus hinaus. Die
gesellschaftliche Spaltung der Subjekte in Produzierende und Verfügende,
wie sie die kapitalistische Produktionsweise erzwang, resultiert in der
individuellen beider gesellschaftlich schon gespaltener. Das aber frißt
an der Hoffnung, daß mit anwachsender Vergesellschaftung die Subjek
tivität als geheilte, in der Solidarität Autonomer sich herstelle. Die
Einbuße, die sie erleidet, wird drastisch vom historischen Ausbleiben
der Umwälzung der progrediertesten Verhältnisse durch die — der Er
wartung zufolge — selber zum historischen Subjekt herangereiften
Menschenobjekte illustriert, und die heroischen Versuche stellen in der
Retrospektive wie die verfehlte Probe darauf sich dar. Der pathogene
Sozialcharakter der Individuen ward weltweit, die Signatur ihrer Ver
dinglichung — die „einschnappenden Verhaltensweisen", das „quicke
Reagieren" wie die komplementäre Sturheit, die „allseitige Disponibili

52 Ibd. 53 Ibd. 51 Ibd.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 105

tat", die „widerstandslosen Reflexe", das Verstummen — ward längst


zur hoffnungslos vertrauten55. Die „Durchorganisation des Lebens"
unterm Wertgesetz, das noch den sozialistischen Staaten, die paradox
Staaten unter Staaten sind und nicht die internationale Menschheit sein
dürfen, die Räson aufzwingt, „verlangt den Zusammenschluß von
Toten"56. Den status mortis zeigen die Zuckungen an, auf die Organis
men regredieren, welche sich ihm genähert haben. Jene widerstands
losen Reflexe und diese Zuckungen aber fallen im organischen Men
schen zusammen, den seine Organisation unterm Wertgesetz als Men
schen ersterben oder nicht erst entstehen ließ. „Demnach wären die
Destruktionstendenzen der Massen nicht so sehr Todeswünsche wie
Manifestationen dessen, wozu sie schon geworden sind"57. Wo sie ex
plodieren, explodieren sie nicht wie eine Knospe, sondern wie eine
Granate, die krepieren macht, wenn sie krepiert: den Tod, wie der
Faschismus, verbreitet, den sie in sich konzentriert hat. „Was die
Nationalsozialisten", in denen der destruktive Massencharakter sich
zusammenballte, der über sie hinausreicht, „an Millionen von Men
schen verübt haben, die Musterung Lebender als Toter, dann Massen
produktion und Verbilligung des Todes", ist davon der Ausdruck, daß
„nur eine Menschheit. . ., die sich selbst starb", den Tod „administrativ
über Ungezählte verhängen"58 und weiter planen kann.
Angesichts dessen erweisen sich „alle die Leistungen von Anpassung,
alle Akte des Konformierens, welche Sozialpsychologie und kulturelle
Anthropologie beschreiben", als „bloße Epiphänomene"59. Nicht passen
die Subjekte sich an — nachträglich, wie man zu etwas sich bequemt
oder zwingen muß, sondern das Selbst, der Sozialcharakter unterm
Tauschgesetz, ist schon das diesem Angepaßte, zum Uberleben unter
ihm Disponierte. Adaptiv, in den empirischen Einzelakten, muß es
vollstrecken, was der transzendentale Charakter, der von den Subjekten

55 Sie illustrieren entscheidende Züge im Syndrom des autoritätshörigen


Charakters, des inneren und äußeren Erscheinungsbildes der Massen un
term Monopolismus, ob in dessen Zentren, ob in seiner näheren oder
ferneren Reichweite. Adorno wie Horkheimer haben, mit den Forscherteams
des Institute of Social Research und des alten Instituts für Sozialforschung
das Charakterbild auf empirischer Basis erarbeitet. Cf. Adorno u. a.,
The Authoiitarían Peisonality, New York 1950, und Horkheimer u. a.,
Autorität und Familie, Paris 1936.
56 Minima Moialia, a.a.O., Aph. 147. 57 Ibd. 58 A.a.O., Aph. 148.
59 A.a.O., Aph. 147.

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106 Heimann Schweppenhäuser

interiorisierte und in der Interiorisierung sie konstituierende


tionszwang, sie zu vollstrecken erheischt. Sein Konformism
gativ das Individuum als autonom definieren: er sei nur der de
Modus von Individualität, der subjektiven Substanz. Aber w
mität und ichloses Ich schon Attribut und Substanz sind, ist I
tät, die die Substanz sein soll, ihr Schein, das eigentlich W
Diesen Schein produziert die Ordnung, die undurchschaut b
sich „als individualistisch verkennende Gesellschaft"60. „D
duum, das sich selbst, vermöge dessen, was ihm unmittelba
sein soll, für den Rechtsgrund der Wahrheit hält, gehorch
„Verblendungszusammenhang", und daß „der Ausgang von
Unmittelbarkeit des Diesda, dem vermeintlich Gewissesten
Zufälligkeit der je nun einmal so daseienden Einzelperson,
sismus, nicht hinausgelangt. . ., ist der Preis des Wahnsinns, d
Verblendungszusammenhang zu zollen hat"61. Dieser Preis
Wert ausgedrückt, welchen Individualität repräsentiere, und d
dem Nominalismus, der zum „bürgerlichen Urgestein" gehört6
absoluter gilt. Aber weil er inmitten des Verblendungszusamm
aufgestellt ward, ist er so scheinbar wie dieser, ein Stück Wert
Art, wie ihn das Äquivalenzprinzip an Dingen und Menschen a
Fetischcharakter stiftet. Dies Prinzip setzt Kommensurabili
kommensurablen zugleich durch und nicht durch, und der
zwischen beidem ist der Nährboden jenes Trugs. So wird die K
surabilität, das Egalitäre der Personen und das Nützliche de
als der Waren, akzeptiert zugleich und, als Verdinglichung
ertragen wie durchschaut. Was dann als ,Echtheit' — das n
listische ineffabile des Individuums — gegen Verdinglichung a
wird, ist nichts als der Reflex der ökonomischen Wertord
undurchschaut bleibt63. Den unökonomisch begriffenen W
avouiert schon die Bezeichnung. So kontingent, so „geduldet",
sam abnorm" das Leben als Uberleben unterm Monopolism
kontingent die ewigen Werte, nach denen die Uberlebenden
ihren Daseinsmodus stilisieren. Das „bürgerliche Individuations
wird so stur verteidigt, wie krampfhaft am Schein, der es
gehalten, weil sonst die Verblendeten weder unangefochte
machen, noch an die Metaphysik ihrer Jemeinigkeit', die

60 Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt 1963, S. 78 f. 61 Ib


62 A.a.O., S. 129. 63 Cf. Minima Moialia, a.a.O., Aph. 72. 64

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 107

von Besitz schlechthin, glauben könnten"65. Mit „glauben" und „weiter


machen" ist die ganze theoretische und praktische Hinfälligkeit ge
troffen, die Insuffizienz von Menschen, „von deren Denken und Han
deln die Änderung, das einzig wesentliche", abhinge66. Aus Praxis ward
Betrieb, und Denken kam aufs Uberzeugtsein ohne eigentlich Uber
zeugendes herunter. Betrieb aber, die heteronome Praxis, und leere
Ergriffenheit, der irrationale Kultus des Selbst, das ratio und Selbst
verlor, sind einander komplementär. Scharf hat Adorno die Janus
Physiognomie gezeichnet: das Syndrom der Eigentlichkeit wie die Kehr
seite, das des Konkretismus, und den „Menschen" des Existenzialismus
als die „Ideologie der Entmenschlichung" bloßgestellt67, welche der
Positivismus mit der Regression, dem künstlichen Infantilismus be
stätigt, auf den er Theorie wie Humanität und damit Subjektivität
selber herunterbringt68.
Der Sphäre des Kommunikativen, worin beide, die auf der Oberfläche
als unversöhnliche Feinde erscheinen, selber kommunizieren — der von
Menschein, Teilhaben, Mitmachen und andererseits von Alltagssprache,
Sprachwelt, Intersubjektivität — ist um der Sache, der Wahrheit des Mit
geteilten willen, welches die Mitteilung verdeckt, die Kommunikation
aufzukündigen68. Dem heilsameren Mißtrauen „gegenüber allem sich
Gehenlassen", weil es „Nachgiebigkeit gegen die Ubermacht des Existie
renden einschließt" 70, hat Adorno den unbequemen Ausdruck gegeben.
„Das Zufallsgespräch mit dem Mann in der Eisenbahn" — dem gehät
schelten Durchschnittssubjekt von Meinungsforschung, Massenpolitik
und Menschelei gleicherweise —, „dem man, damit es nicht zu einem
Streit kommt, auf ein paar Sätze zustimmt, von denen man weiß, daß
sie schließlich auf den Mord hinauslaufen müssen, ist schon ein Stück
Verrat"71. „Umgänglichkeit selber ist Teilhabe am Unrecht, indem

65 Drei Studien zu Hegel, a.a.O., S. 129 f.


88 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 72.
67 Adorno, Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie, Frankfurt 1964,
S. 52.
68 Cf. Minima Moralia, a.a.O., Aph. 82 und Aph. 126. — Dazu: Adorno u. a.,
Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied und Berlin
1969, Einleitung, S. 7 ff.
60 Wer der „Demoralisierung des Intellektuellen" „entgehen will, muß jeden
Rat, man solle auf Mitteilung achten, als "Verrat am Mitgeteilten durch
schauen". Minima Moralia, a.a.O., Aph. 64.
70 A.a.O., Aph. 5. 71 Ibd.

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108 Heimann Schweppenhäusei

sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch m
reden kann" und „Menschlichkeit" „bloße Maske fürs stillschw
Akzeptieren des Unmenschlichen"72.
Aber noch die Maske, die das Häßliche versteckt, ist häßlich
tus, welcher der „Heiligkeit des Lebendigen" gilt — Kommuni
Feiertag —, feiert bewußtlos bereits, was er verdammen will.
griff des Lebens in seiner Abstraktion", die das Pathos erst e
gar nicht zu trennen von dem Unterdrückenden, Rücksichtslos
lich Tödlichen und Destruktiven"73. „Was so Äußerung v
heißt, von quellender Fruchtbarkeit und dem stoßenden T
Kindern bis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas Rechtes z
bringen", „all das hat, absolut gefaßt, etwas davon, dem ander
lichen das Licht wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. Das
Wuchernde des Gesunden ist als solches immer schon zugleich die
Krankheit. Ihr Gegengift ist Krankheit als ihrer bewußte . . . Verleug
net man jedoch die Krankheit um des Lebens", das Wuchern um des
Wucherns willen — Deckbild der entfesselten Produktion —, „so geht
das hypostasierte Leben vermöge seiner blinden Losgetrenntheit vom
andern Moment gerade in dieses, ins Zerstörende und Böse über, ins
Freche und sich Brüstende"74, ganz wie die losgelassene Dynamik des
Industrialismus in die Zerstörung dessen, was er doch herstellen und
steigern will. In der strahlenden Lebendigkeit der Affichen, unbeweg
ter wie kinematographisch bewegter, mit denen Reklame und Kultur
industrie für den Zustand und füreinander werben und die die Politur
von Ware, von Mann-, Frau- und Jugendidol — dem zu Leitbild und
Marktwert verkommenen richtigen Menschen — ununterscheidbar
macht, finden der gehobene und der vulgäre, der philosophische und der
propagandistische Kultus des Lebens ins gemeinsame Ziel. Der dégoût
davor, der „nihilistische Widerwille", über den Lebensfrömmigkeit ihr
Kreuz der Entrüstung schlägt und den Kriegs- wie Monopolherren zu
samt den Kulturwächtern als defaitistisch, zeitgemäß als zersetzend ver
folgen, „wird zur sachlichen Bedingung der Humanität als Utopie"75.
Diese aber wird von der Menschelei an den herrschenden Zustand
verraten. Von den standardisierten Werten, den Leitbildern, über die
Adjustierung der Menschen durch Human Wissenschaften im Dienst ihrer
reibungsloseren Ausnutzung bis zu der von Kartellen subventionierten

72 Ibd. 73 A.a.O., Aph. 48. 74 Ibd. 75 lbd.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 109

Futurologie, versetzt sie den Zustand mit utopischer Substanz vom Schlage
derer, worin science mit fiction, also aufs Maß der Positivität redres
sierte Theorie und Phantasie, legiert sind und die, wie in die Ritzen
von Humus gegossener Zement, den status quo wie für die Ewigkeit
versteinert. Analytisch hat Adorno das ethisch-positivistische Amalgam
in der Tat zersetzt, das mißbrauchte moralisch-utopische Element im
Säurebad seiner Reflexion vom demoralisierend-instrumentellen ge
schieden — dem, das sein spezifisches Gewicht hinter der unverdäch
tigen Nomenklatur versteckt. So an der Menschlichkeit', so an der
,Güte' selber, die, im riesenhaften Tiegel der Verfallskultur, „die De
formation des Guten" bewirkt. Güte „verzichtet auf die Verwirklichung
des im moralischen Prinzip mitgesetzten menschenwürdigen Zu
stands"7e. Sie zielt, wie nach Kant schon das Mitleid 77, „auf Milderung
ab, nicht auf Heilung ... Ihre Schuld besteht in Vertraulichkeit. Sie spie
gelt unmittelbare Beziehung zwischen den Menschen vor und über
springt die Distanz, in der allein der Einzelne vor dem Angetastetwer
den durch das Allgemeine sich zu schützen vermag. Gerade im engsten
Kontakt erfährt er die unaufgehobene Differenz am schmerzlichsten"78.
Das ist die Wahrheit über die Ich-Du-Beziehung, die von solcher Diffe
renz angeblich befreie. „Nur Fremdheit" aber „ist das Gegengift gegen
Entfremdung"79: weil sie im Abstand den Abstand zu sehen erlaubt,
der gerade im Kontakt bleibt, welcher, wie die hier allein zuständige
Physik lehrt, nur mittels eines äußerlichen Dritten geschlossen werden
kann, des Stroms, der die Kontingierenden kalt und leblos läßt, wenn er
nicht fließt. Den Strom aber, den sie den Lebensstrom nennen, wollen
sie so wenig physikalisch verstanden wissen wie den Kontakt, wäh
rend doch beides der Sache den wahren Namen gibt und die mensch
liche Assoziation unterm Tauschgesetz als das Stück Mechanik denun
ziert, das sie ist. Ein anderes schlagendes Lehrstück aus dieser Mechanik,
das Adorno mitteilt, bestimmt jenen Lebensstrom als den lastenden
gesellschaftlichen Druck, der die Menschen in Wahrheit „zusammen
hält", und der „die kürzeste Verbindung zwischen zwei Personen" stif
tet, „so als ob sie Punkte wären" 80. Dies mathematisch-mechanische Un
wesen der menschlichen Beziehungen ward zu ihrem eigentlichen We

78 A.a.O., Aph. 20.


77 Cf. Kant, „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen".
Werke, Akademie-Ausgabe, Berlin 1902 ff., Band II, S. 215 f.
78 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 20. 78 lbd. 80 Ibd.

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110 Heimann Schweppenhäusei

sen, nachdem die pseudodemokratischen Verkehrsformen81 d


mit der Höflichkeit, der Zartheit, dem Takt, die Umschweife
austrieben und „Erhellung und Durchsichtigkeit" der Bezie
ihre Stelle setzten, in denen aber nur „nackte Rohheit" sich a
„Die Sachlichkeit zwischen den Menschen" wird zum Betru
daß längst „die Menschen als Sachen" behandelt werden un
traktieren83.

Echt und unecht. Die Dialektik richtigen Lebens

Die Beobachtung der sachlichen Beziehungen, der direkten Ve


ohne Umschweife — auch die rationellen Hierarchien in der demokrati
schen Gesellschaft bilden sie ab —, die Kontrakte und Tauschakt die
Menschen aufzunehmen zwingen und die an diesem den knappsten,
den algebraischen Ausdruck haben: die restlos identifizierende Äquiva
lenz, erweist die Subjekte, die im allseitigen Commerzium miteinander
stehen, als kahle Objekte. Sie sind die Punkte, die Faktoren, die Facta,
die Zahlen, als die sie selber sich ,einsetzen', nämlich in Bezugssysteme.
Am späten Individuum kommt erbarmungslos sein frühester Sinn zu
tage, der des vorklassischen aroftov. Die ganze moralische Individuati on:
Mal der Vergeblichkeit klassischer und christlicher Kultur, zeigt sich
als um den Preis dessen erkauft, was im Individuationsbegriff die
physikalische Bedeutung ausmacht — des Monadischen, Atomistischen.
Jenes Mal der Vergeblichkeit, an dem der bürgerliche Prozeß, als wäre
er flüchtig, vorüberstürmte, ragt mittlerweile, drohend und brüchig,
über dem stürmisch nivellierten Plan, der stets differenzloseren Platt
heit des Zustands, empor. Wahrhaft als Stein des Anstoßes aber ward
er in einen Fetisch verwandelt, ins Totem der Faktizität: aus der Not der
moralischen wie physischen Atomisierung die Tugend der Individua
tion als des so und nicht anders Seins gemacht, der Positivität im Doppel
sinn des unwiderruflich Gegebenen und des Bestätigten. Der Physika
lismus der Gesellschaft spielt merkwürdig in einem ganzen Spektrum
archaischer Farben.
„Unter den Begriffen, in welche die bürgerliche Moral" sich zusam
menzog, „rangiert Echtheit obenan". Mit Topoi wie ,Ursprung' und
allen sinnverwandten illustriert sie den Archaismus, der, als ihre un

81 Cf. ibd., ferner a.a.O., Aph. 21,16,102, 77. 82 A.a.O., Aph. 20.
83 Ibd.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 111

auratische Aura, sich um die gesellschaftliche Mechanik lagert. „Wenn


nichts anderes verbindlich vom Menschen mehr gefordert werden
könne, dann wenigstens, daß er ganz und gar das sei, was er ist. In der
Identität jedes Einzelnen mit sich selber wird das Postulat unbestech
licher Wahrheit sowohl wie die Glorifizierung des Faktischen von der
aufgeklärten Erkenntnis auf die Ethik übertragen". Die Gloriole liehen
Kierkegaard, Ibsen, Nietzsche her. „Den bekehrten und unbekehrten
Philosophen des Faschismus werden schließlich Werte wie Eigentlich
keit, heroisches Aushalten in der ,Geworfenheit' der individuellen Exi
stenz, Grenzsituation" und andere nicht ohne Grund erneuerte mytho
logisch-archaische Charaktere „zum Mittel, religiös-autoritäres Pathos
ohne jeglichen religiösen Inhalt zu usurpieren. Er treibt zur Denunzia
tion alles dessen, was nicht kernig genug, nicht aus Schrot und Korn
sein soll, also der Juden", im Grunde aller je Unterdrückten. Die Un
wahrheit des Topos „steckt im Substrat von Echtheit selber, dem Indi
viduum", dem mythisch trughaften „reinen Selbst". „Es ist eine Ab
straktion . . ., resultiert erst aus einer Trennung vom gesellschaftlichen
Prozeß. Gerade als Absolutes ist das Individuum bloße Reflexionsform
der Eigentumsverhältnisse", von seinem Seßhaftwerden an. „Seine
Abgrenzung und Verhärtung, die es als Ursprung reklamiert" wie der
Autochthone den abgesteckten oder geraubten Boden — Symbol der un
besitzlichen Natur selber —, beschränkt es zugleich und läßt es am Ende
verarmen. „Echtheit ist nichts anderes als das trotzige und verstockte
Beharren auf der monadologischen Gestalt, welche" erst der Natur
zwang, dann „die gesellschaftliche Unterdrückung den Menschen auf
prägt". Mit der davon erzwungenen Rechtfertigung der Individualität
wird Unterdrückung selber bestätigt. Wer am Selbst dergestalt festhält,
erborgt ihm „die Aura des Sinnes und macht der Befehlsgewalt der
selbsterhaltenden Vernunft einen hochtrabenden Uberbau, während
das reale Selbst in der Welt schon zu dem geworden ist, als was
Schopenhauer es ... erkannte, zum Gespenst" M.
Wer aber „nicht verdorren will" wie jenes in der erborgten Fülle
verdorrende Selbst, „nimmt lieber das Stigma des Unechten auf sich" 85.
Im Unechten ist ihm alles versammelt, was der dichotomische Trotz
von Eigentlichkeit und Positivität weit von sich wegsetzte und zur
Sphäre des Abhubs degradierte. Im dünkelhaft oder blind Vernach
lässigten, an dem die vom blind waltenden Prozeß selber Vernach

84 A.a.O., Aph. 99. 85 lbd.

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112 Heimann Schweppenhäuser

lässigten ohnmächtig sich rächen, überlebt fratzenhaft un


das Humane. Das ward vorab von der authentischen ästhetischen
Bewegung bezeugt, die gerade im Demolierten, im Zerschlissenen,
im Schmutz, den Hygiene allerwärts merkwürdig besessen tilgt —
wie den Fleck, der stets wieder durchkommt und sich vergrößert —, im
Grellen, im Disharmonischen und noch in Talmi, Folklore und Schund
die Substanz sucht88. Sie ist vom Reversbild gefangen, das offizielle
Kultur dem Blick darbietet, der vom Positiv, der polierten Vorderseite,
irritiert ist. Wie er spürt sensible Theorie der Vermittlung nach, dem
untergründigen Strom zwischen Negativem und Positivem, Subjekt und
Objekt, zwischen Oberem und Unterem: jener Mediation, die, seit
Kierkegaard, phobischer Subjektivität als Inbegriff des Schwindel
haften, der Spekulation gilt87. In ihr wird krampfhaft das „mimetische
Erbe" verleugnet88. „Das Humane" aber haftet an „Nachahmung",
an der Entäußerung ans Objekt, nicht am Subjekt, das es ausschließend
sich entgegensetzt und in seiner so vollzogenen Selbstsetzung Defensive
ist: in der Behauptung wider Willen sich verliert. Entäußerung, die ge
wollte Mimesis und Vermittlung, trägt die volle Subjektivität ihm erst
zu. In der Ordnung der gegeneinander verkapselten und gespenstisch
parallelisierten Atome, gleich ob der menschlichen oder der dinglichen —
die LEiBNizsche Monadologie nahm ahnungsvoll, wenn auch idea
listisch verkehrt sie vorweg — stellt „unechte", mimetische Subjektivität
das Deckbild der richtigen. Im Verhalten der Entäußerung, „der Urform
von Liebe, wittern die Priester der Echtheit", wie ihre säkularisierten
verkannten Brüder, die Positivisten, „Spuren jener Utopie, welche das
Gefüge der Herrschaft zu erschüttern vermöchte"89. Den Spuren aber
folgt behutsam, mit insistentem und doch zartem, traurigem Blick das
Subjekt, das auf seine Subjektivität nicht pochen muß. Seine Gestalt hat
Adorno, der tief ihm wahlverwandte, stets wieder herausgekannt, ob
am Schibboleth authentischer Kunst und Theorie, die der Betrieb über
ging oder aber allen Anstrengungen zum Trotz nicht zu neutralisieren
vermochte — weil ihre gewaltlose Gewalt die stärkere ist — ¡ ob an der
bewußtlos leidenden Deformation selber, die der Prozeß an Subjekten

86 Dies hat die kritische Ästhetik Adornos auf allen ihren Stationen, den
monographischen wie den theoretischen, so subtil wie energisch heraus
gearbeitet.
87 Cf. Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Ver
teidigung. Frankfurt 1967, insbesondere „Chimäre", S. 23 ff.
88 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 99. 89 Ibd.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 113

und Objekten vollbrachte. An ihnen noch hat er rettend zum Sprechen


gebracht, was Stummheit und Versteinerung in sich begruben. An
objektiven wie subjektiven Figurationen und am Komplexen, worin
beides verschränkt ist, hat er das Paradoxe entziffert, die eigene Ver
stricktheit zum Medium der Erfahrung erhoben; und beides, subjektive
Anstrengung wie deren verwickeltes Resultat, haben ihn der identisch
verriegelten Subjektivität unbequem und verdächtig gemacht. Zu leicht
rationalisiert planes Verstehenwollen das ihm Unverständliche zum
Unverständlichen schlechthin und verdeckt so den objektiven Wider
sinn nur noch einmal. Der ADORNOSche Gedanke aber trug ihn aus,
und eben das stört die Echten und die Identifizierten. Daß Echtheit und
Identität inmitten des antagonistischen Daseins selber suspekt sind;
Gesinnung unversöhnlich nicht sowohl da ist, wo sie dem Gedanken
trotz, der bei der Unversöhntheit des Daseins um seiner Versöhnung
willen ausharrt, sondern bei diesem, wollen die Prinzipienstarren der
logischen wie der ethischen Observanz, die doch so leicht dem Druck
der Ordnung nachgeben, so wenig wahrhaben, wie daß „historisches
Gedächtnis, Nervosität des Gedankens und vor allem ein gründliches
Maß an Überdruß"90 den Gedanken erst stärken, dessen freilich davon
gereinigte Authentizität sie für sich allein beanspruchen. Lassen sie
dem nichts durch, der die Verstricktheit denkt und treu im komplexen
Gedanken sie artikuliert, dann registrieren sie seinen Überdruß erst
recht gereizt. In der Witterung des schlechten Gewissens darüber, daß
sie Opposition um der Anpassung willen vergaßen, mahnt er sie an den
eignen Überdruß. Daß aber der, der nicht mittut, befreit wäre vom Ge
triebe, unterstellt nur der Eingepaßte, der nach der Freiheit giert, die
er nicht hat, und deren Zerrbild er denen vormalt, die gleichfalls sich
einpassen müssen. Uber den Zwang, der es wie die Eingepaßten nieder
preßt, macht das distanzierte Subjekt sich nichts vor. Was es jenen
voraus hat, ist nicht viel mehr als das Bewußtsein davon. „Jede Regung
des sich Entziehens" trägt „Züge des Negierten. Auch wo es protestiert,
versteckt sich im monadologischen Prinzip das herrschende Allge
meine"91. Aber im Protest bringt es beides auch zum Geständnis. Die
Gesellschaft und das Prinzip können es selber nicht sagen. Sie bedürfen
dessen, durch den sie es tun. Er hält die Wunde offen, die das Leiden
des Corpus bezeugt wie das seiner Teile und damit das eigene. „Im un
geminderten Bewußtsein der Negativität" hält er „die Möglichkeit

A.a.O., Aph. 32. 91 A.a.O., Aph. 6.

8 ARSP LVII/1

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114 Heimann Schweppenhäuser

des Besseren", der Heilung fest, die anders sich nicht verspri
derart die einzig noch würdige Existenz beschrieb, hat damit
beschrieben. So stand er für die paradoxe Stärke des Individuum
diesem in der Aera seines Zerfalls noch einmal zuwuchs.

HERMANN SCHWEPPENHÄUSER

Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation

Zusammenfassung
Fundament der ADORNOschen Individuationstheorie ist die dialektische
Einsicht, daß die individualistische bürgerliche Gesellschaft einerseits
Produkt aller Einzelnen, andererseits die prägende Substanz dieser
Einzelnen aber schon die Gesellschaft ist. Gerade an der charakteristi
schen Prägung der Individuen werden entscheidende Aufschlüsse über
das objektiv waltende gesellschaftliche Gesetz gewonnen: das kapita
listische Wertgesetz. Unter ihm konstituieren sich die Individuen nach
Maßgabe der „organischen Zusammensetzung des Kapitals". Wie in der
Phase wachsender Konzentration der verfügende über den produktiven
Anteil des Kapitals anwächst, so wächst der disponierende über den
substantiellen Anteil der Subjektivität in den Individuen selber an.
Dieser Vorgang resultiert in der Usurpation des Zweckcharakters der
Individuen [ihrer Autonomie) durch ihren Instrumentalcharakter (die
willentlich geförderte Heteronomie). Die darin angelegte Gespaltenheit
der Individuen und ihre zeitgenössische Ideologisierung bringt Adorno
auf ihren strengen kritischen Begriff.

HERMANN SCHWEPPENHÄUSER

L'individu dans l'âge de sa liquidation


Résumé

La base de la théorie d'individuation de Theodor W. Adorno est la


réflexion dialectique que la société bourgeoise individualiste est le
produit de tous les individus à l'un côté et, à l'autre, que la substance
formant ces individus est déjà la société. Cette formation caractéristique

92 A.a.O., Aph. 5.

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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 115

des individus présente des informations essentielles sur la loi objective


de la société, le Weitgesetz capitaliste. Le procès de l'augmentation
de la part disposante sur la part substantielle de la subjectivité a son
résultat dans l'usurpation de l'autonomie des individus par leur
caractère hétéronomique. La dualité des individus fondée dans cet
état des choses et son idéologisation contemporaine est le sujet de la
conception strictement critique de Adorno.

HERMANN SCHWEPPENHÄUSER

The Individual in the Age of his Liquidation

Summary

The basis of Theodor W. Adorno's theory of individuation is the


dialectic reflection that the individualistic bourgeois society is the
product of all the individuáis on the one side, that on the other side
society is the substance conditioning the individuáis. This characteristic
formation of the individuáis provides essential information about the
objective principie of society: the capitalistic Weitgesetz under which
the individuáis constitute themselves according to the "organic com
position of the capital". The process of augmentation of the disposing
part over the substantial part of the individuáis' subjectivity results
in the usurpation of the individuáis' autonomy by their instrumental
character. The dualism of individuáis founded herein and its con
temporary ideological appearance is the theme of Adorno's strictly
critical conception.

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