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ARSP: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie / Archives for Philosophy of Law and
Social Philosophy
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation
Uber Adornos soziale Individuationstheorie
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92 Heimann Schweppenhäusei
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 93
sches bei Betrachtungen, die vom Subjekt ausgehen"9. Es, das der „über
wältigenden Objektivität"10 die eigene Wahrheit zu entreißen trachtet
und das, was es noch hoffen darf, wird von jener sich selber entzogen.
Was, eben solange Subjekte atmen, „für sich noch ist", ist längst „nicht
mehr an sich", und „ein neues" Subjekt aus der Auflösung des
alten nicht schon entsprungen11. So droht das alte, oder was es für sich
blieb, in seinem Sosein sich zu verhärten und „damit wiederum das Ge
setz des Weltlaufs zu erfüllen"12, dessen, der es machte zu dem, was es
war und was es doch nicht sein konnte. Ohne den Impulsen des So
seins, der bornierten Partikularität nachzugeben, sucht der ADORNOsche
Gedanke, mühselig genug, Erkenntnis bei dem, was das Sosein so
machte, das für nicht weiter reduzierbare Substanz sich nimmt. Kein
Zweifel, daß das Allgemeine, die individualistische bürgerliche Ge
sellschaft, „sich durch das Zusammenspiel der Einzelnen hindurch" ver
wirklicht und deren Produkt ist. Allein umgekehrt sind die Produzie
renden, ist die Substanz jener Einzelnen selber „wesentlich" schon „die
Gesellschaft"13. Diese entscheidende Einsicht erweist sich als das Fun
dament von Adornos Theorie der Individuation. Und weil sie ver
wundet, wird sie soziologistisch gescholten. Schon deshalb aber muß
sie der Vorwurf verfehlen, weil Adorno gerade ihr eine unerwartete
Wendung der Individuationsproblematik abzugewinnen vermag. Ist
nämlich die Substanz des Individuums die Gesellschaft, die des Be
sonderen das Allgemeine, das in jenem sein Leben hat, dann wird auch
„gesellschaftliche Analyse . . . der individuellen Erfahrung unvergleich
lich viel mehr . . . entnehmen"14, als alter und neuer Objektivismus
und vollends eben der Soziologismus je konzedierte, welcher der Ein
sicht ins gesellschaftliche Wesen der Individualität vorgehalten wird.
Weil das Individuum, das verzweifelt des Untergangs sich erwehrt,
„an Fülle, Differenziertheit, Kraft ebensoviel gewonnen" hat, „wie
es andererseits von der Vergesellschaftung der Gesellschaft geschwächt
und ausgehöhlt wurde"15, schärft sich sein Blick fürs Bedrohliche, das
gesellschaftliche Gesetz, das es beim Namen zu rufen lernt, damit Hilfe
ihm zuwächst und die Macht des Benannten durchs Benennen schwinde,
tendenziell, als Erkenntnis erst, dann als von ihr aus eingreifende
Praxis, ans Ubermächtige, die Objekte des Prozesses übergehe, die sich
wehren und Subjekte werden wollen.
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94 Heimann Schweppenhäusei
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Das Individuum im Zeitaltei seiner Liquidation 95
lute Gericht, den aberwitzig zum absoluten gesteigerten Geist, wie für
ewig negiert wird. Um ihrer willen darf der Preis nicht entrichtet werden:
Erfahrung mit der Substanz nicht sich loskaufen, die sie definiert. Nur
dort vermag sie Erfahrung zu sein, „Erkenntnis zu erweitern, wo sie
beim Einzelnen so verharrt, daß über der Insistenz seine Isoliertheit
zerfällt" 20 und mit der zerfallenden Isoliertheit zugleich die Kralle der
Subsumtion, der welthistorischen wie der ihr parierenden logischen,
sich löst, die das Einzelne eisern umspannt21. „Es gehört zum Mechanis
mus der Herrschaft, die Erkenntnis des Leidens, das sie produziert, zu
verbieten"22. Dies Leiden aber ist die Verhärtung. Daher ist Heilung
nur bei dessen Liquidation: negierender Auflösung des Negativen, wie
dialektisches Denken sie artikuliert. Kein anderes ist gemeint, wenn
Adorno die Idee „einer kathartischen Methode" umreißt, einer, die
darauf ausgehen müßte, „die Menschen zum Bewußtsein des Un
glücks, des allgemeinen und des davon unablösbaren eigenen, zu brin
gen und ihnen die Scheinbefriedigung zu nehmen, kraft derer in ihnen
die abscheuliche Ordnung nochmals am Leben sich erhält, wie wenn sie
sie nicht von außen bereits fest genug in der Gewalt hätte"23. Er hat
diese Idee nicht bloß umrissen; die Analyse, die er ans beschädigte Le
ben wendet, ist ihre Realisierung. Was die Sonde dieser Methode am
kranken Leib bloßlegt, könnte wie kaum eine sonst der Anstrengung,
die an ihren Befunden sich orientierte, zur Heilung ausschlagen.
Die Aufgabe, das Dasein zum Bewußtsein des Unglücks zu bringen,
kann im Klima gereizter Anpassung leicht als missionarische Entglei
sung erscheinen, so, als wäre der, der sie sich stellt, im Alleinbesitz der
Wahrheit, die doch wie nie obenauf liegt. Aber zur individuellen Er
fahrung wird, wie zu reuiger Umkehr, nicht aufgerufen: sie wird
schmerzlich am eigenen Leibe gemacht und der Schmerz nicht, wie
sonst, verbissen, sondern ausgedrückt. „Der Distanzierte bleibt so ver
strickt wie der Betriebsame; vor diesem hat er nichts voraus als die
Einsicht in seine Verstricktheit"24. Kathartische Methode bleibt vorm
Pharisäismus gefeit. Dem Weltlauf setzt sie sich nicht, wie die Tugend,
mit dem Wahnwitz des Eigendünkels25 entgegen, den sie vielmehr,
wie die HEGELSche Phänomenologie am moralischen Rigorismus, an
20 Ibd.
21 Dies bildet das zentrale Motiv in Adornos spekulativem Hauptwerk, der
Negativen Dialektik, Frankfurt 1966.
22 Minima Motalia, a.a.O., Aph. 38. 23 Ibd. 24 A.a.O., Aph. 6.
25 Hegel, Phänomenologie des Geistes, ed. Hoffmeister, S. 276.
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96 Heimann Schweppenhäuser
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 97
7 ARSP LVII/1
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98 Hermann Schweppenhäusei
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 99
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100 Heimann Schweppenhäusei
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Das Individuum im Zeitalter seinen Liquidation 101
Ich nenne die erstere die Wortzusammensetzung, die zweite die tech
nische Zusammensetzung des Kapitals. Zwischen beiden besteht enge
Wechselbeziehung. Um diese auszudrücken, nenne ich die Wertzusam
mensetzung des Kapitals, insofern sie durch seine technische Zusammen
setzung bestimmt wird und deren Änderungen widerspiegelt: die or
ganische Zusammensetzung des Kapitals"4ä. Aller Organismus ist durch
Interdependenz seiner Bestandteile definiert, welche den Organismus
selbst konstituiert, der, als Konstitutum, wieder das Konstituens jener
Wechselwirkung ist. Im Falle des Kapitalorganismus — dessen Leben
dem Telos der eigenen Erhaltung wie Steigerung, der Wertreproduktion
wie der Wertproduktion, also der Mehrwertschöpfung, gehorcht — be
deutet das einerseits die Wechselbeziehung von Produktionsmittelwert
wie darin ausgedrücktem faktischen Produktionsmittel und Arbeitskraft
wert wie unter ihm subsumierter Arbeitskraft, welche Kapitalwert wie
faktische Kapitalgröße konstituieren, die ihrerseits zum Konstituens
jener Wechselbeziehung in ihrer — im Unternehmerverstand — räso
nablen Anwendung werden. Andererseits fungiert jener Organismus
erst profitabel, wenn seine Konstituentien, jedes für sich, durch seine
Wertbestimmtheit wie durch seinen technischen Charakter, in sich
selber proportional werden, wenn also Wertzusammensetzung und
technische Zusammensetzung des Kapitals aufeinander Einfluß nehmen.
Dies erst macht den Kapitalorganismus aus dem ökonomischen Modell,
dem Typus, zu einem ökonomisch Konkreten, dem, woran der faktische
Wert durch technische Beschaffenheit von Maschinerie und Mensch
bestimmt wird und technische Beschaffenheit selbst schon vom Wert
gesetz die Prägung erfuhr. Am konkreten Kapital spiegelt der technische
Stand der Produktionsmittel wie die Dressur der Arbeitskraft — die
selbst wieder in Wechselwirkung sind, deren Maß freilich ebensowenig
das humane, vielmehr das ökonomische Telos der Mehrwertschöpfung
ist, die das humane erbarmungslos usurpiert — den Kapitalwert wider,
wie umgekehrt dieser — die Mehrwerträson — jene technische Verfas
sung bestimmt. Das Telos der Mehrwertschöpfung, die zunehmende
Verwandlung „der gesellschaftlichen Produktions- und Lebensmittel in
das Privateigentum von Kapitalisten"46 aber schreibt wachsende Re
duktion des variablen Kapitalteils zugunsten des konstanten vor, mit
der Folge der Rationalisierung der dadurch wohlfeiler werdenden Ar
45 Marx, Das Kapital. Erster Band, ed. Engels, Berlin 1955, S. 643f.
46 A.a.O., S. 657.
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102 Hermann Schweppenhäusei
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 103
sehen zerfallen in ein Selbst, das über das Selbst verfügt, und in ein
Verfügtes, worin sich kalt das Verfügen erhebt. Die organische Zu
sammensetzung ist nur mehr der Zusammenhalt dieses Zerfallenseins.
Das Anwachsen des Ichs, als Produktionsmittels, über sich, als leben
digen Zweck, wurde und wird oberflächlich als „Mechanisierung" des
Menschen beschrieben. Oberflächlich: weil die Beschreibung den Men
schen „als ein Statisches denkt, das durch Beeinflussung' von außen,
Anpassung an ihm äußerliche Produktionsbedingungen gewissen De
formationen unterliege. Aber es gibt kein Substrat solcher ,Defor
mationen', kein ontisch Innerliches, auf welches gesellschaftliche Me
chanismen von außen bloß einwirkten: die Deformation ist keine
Krankheit an den Menschen, sondern die der Gesellschaft, die ihre
Kinder so zeugt, wie der Biologismus auf die Natur es projiziert: sie
,erblich belastet'. Nur in dem Prozeß, der mit der Verwandlung von
Arbeitskraft in Ware einsetzt, die Menschen samt und sonders durch
dringt und jede ihrer Regungen als eine Spielart des Tauschverhältnisses
a priori zugleich kommensurabel macht und vergegenständlicht, wird es
möglich, daß das Leben unter den herrschenden Produktionsbedingun
gen sich reproduziert"49. Dies ist der springende Punkt. Unter jenem
Apriori „hat das Lebendige als Lebendiges sich selber zum Ding ge
macht, zur Equipierung". Mit anderen Worten: „Die organische Zu
sammensetzung des Menschen bezieht sich keinesfalls nur auf die
spezialistischen technischen Fähigkeiten, sondern — und das will die
übliche Kulturkritik um keinen Preis worthaben — ebenso auf deren
Gegensatz, die Momente des Naturhaften", die, samt aller „psycho
logischen Differenzierung", in den Dienst der Produktion treten. „Das
Ich nimmt den ganzen Menschen als seine Apparatur in Dienst"50,
und was als ,„Entartungserscheinungen' des Bürgertums festgestellt
wird ..., ist mittlerweilen als die gesellschaftliche Norm hervorgetreten,
als Charakter der vollwertigen Existenz unterm späten Industrialismus"51.
Wo existentielle Ontologie den Kern dieses Charakters sucht, wird er
nicht gefunden, und wo sie ihn findet, ist er nicht. Ihr Fundament,
das sie nicht radikal genug geltend machen kann, liegt, wenn überhaupt
lbd.
Ibd. — Adorno hat die über das Selbst anwachsende Selbstverfügung noch
im scheinbar hermetischen Innern des distanziertesten Subjekts aufgespürt,
sie etwa an der Lyrik als der technischen Verfügung übers Inwendige
bezeichnet. Cf. „George und Hofmannsthal", Prismen, Frankfurt 1955,
S. 232 ff. 51 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 147.
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104 Hermann Schweppenhäuser
wo, abseits von jenem, aus dem der Existenzcharakter des Dase
nährt. Ihren Luftwurzeln gegenüber ist auf die radices im ges
lichen Grund zu deuten: auf die Elemente der von ihm bestimmten
Umorganisation im ,organischen Menschen', bei der am Ende „das Ich
als Betriebsleiter soviel von sich an das Ich als Betriebsmittel abgibt,
daß es ganz abstrakt, bloßer Bezugspunkt" wird, und „Selbsterhaltung
. . . ihr Selbst" „verliert"52. Eben dieser Verlust aber definiert es —
definiert es positiv: es west als Verlierendes, und Schwinden bleibt seine
problematische Substanz. Die Eigenschaften des Individuums „werden
bedienbar, bis sie schließlich ganz in ihrem situationsgerechten Einsatz
aufgehen. Mit ihrer Mobilisierung verändern sie sich", machen nicht
länger das Subjekt aus, das mit seinen mobilisierten Eigenschaften
selber schwindet: schrumpft zum abstrakten Bezugspunkt. Als mobili
sierte, enteignete, als dinglich disponible, „ganz passive nähren sie es
nicht länger. Das" aber „ist die gesellschaftliche Pathogenese der Schizo
phrenie" 53.
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 105
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106 Heimann Schweppenhäuser
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 107
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108 Heimann Schweppenhäusei
sie die erkaltete Welt als eine vorspiegelt, in der man noch m
reden kann" und „Menschlichkeit" „bloße Maske fürs stillschw
Akzeptieren des Unmenschlichen"72.
Aber noch die Maske, die das Häßliche versteckt, ist häßlich
tus, welcher der „Heiligkeit des Lebendigen" gilt — Kommuni
Feiertag —, feiert bewußtlos bereits, was er verdammen will.
griff des Lebens in seiner Abstraktion", die das Pathos erst e
gar nicht zu trennen von dem Unterdrückenden, Rücksichtslos
lich Tödlichen und Destruktiven"73. „Was so Äußerung v
heißt, von quellender Fruchtbarkeit und dem stoßenden T
Kindern bis hinauf zur Tüchtigkeit derer, die etwas Rechtes z
bringen", „all das hat, absolut gefaßt, etwas davon, dem ander
lichen das Licht wegzunehmen in blinder Selbstbehauptung. Das
Wuchernde des Gesunden ist als solches immer schon zugleich die
Krankheit. Ihr Gegengift ist Krankheit als ihrer bewußte . . . Verleug
net man jedoch die Krankheit um des Lebens", das Wuchern um des
Wucherns willen — Deckbild der entfesselten Produktion —, „so geht
das hypostasierte Leben vermöge seiner blinden Losgetrenntheit vom
andern Moment gerade in dieses, ins Zerstörende und Böse über, ins
Freche und sich Brüstende"74, ganz wie die losgelassene Dynamik des
Industrialismus in die Zerstörung dessen, was er doch herstellen und
steigern will. In der strahlenden Lebendigkeit der Affichen, unbeweg
ter wie kinematographisch bewegter, mit denen Reklame und Kultur
industrie für den Zustand und füreinander werben und die die Politur
von Ware, von Mann-, Frau- und Jugendidol — dem zu Leitbild und
Marktwert verkommenen richtigen Menschen — ununterscheidbar
macht, finden der gehobene und der vulgäre, der philosophische und der
propagandistische Kultus des Lebens ins gemeinsame Ziel. Der dégoût
davor, der „nihilistische Widerwille", über den Lebensfrömmigkeit ihr
Kreuz der Entrüstung schlägt und den Kriegs- wie Monopolherren zu
samt den Kulturwächtern als defaitistisch, zeitgemäß als zersetzend ver
folgen, „wird zur sachlichen Bedingung der Humanität als Utopie"75.
Diese aber wird von der Menschelei an den herrschenden Zustand
verraten. Von den standardisierten Werten, den Leitbildern, über die
Adjustierung der Menschen durch Human Wissenschaften im Dienst ihrer
reibungsloseren Ausnutzung bis zu der von Kartellen subventionierten
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 109
Futurologie, versetzt sie den Zustand mit utopischer Substanz vom Schlage
derer, worin science mit fiction, also aufs Maß der Positivität redres
sierte Theorie und Phantasie, legiert sind und die, wie in die Ritzen
von Humus gegossener Zement, den status quo wie für die Ewigkeit
versteinert. Analytisch hat Adorno das ethisch-positivistische Amalgam
in der Tat zersetzt, das mißbrauchte moralisch-utopische Element im
Säurebad seiner Reflexion vom demoralisierend-instrumentellen ge
schieden — dem, das sein spezifisches Gewicht hinter der unverdäch
tigen Nomenklatur versteckt. So an der Menschlichkeit', so an der
,Güte' selber, die, im riesenhaften Tiegel der Verfallskultur, „die De
formation des Guten" bewirkt. Güte „verzichtet auf die Verwirklichung
des im moralischen Prinzip mitgesetzten menschenwürdigen Zu
stands"7e. Sie zielt, wie nach Kant schon das Mitleid 77, „auf Milderung
ab, nicht auf Heilung ... Ihre Schuld besteht in Vertraulichkeit. Sie spie
gelt unmittelbare Beziehung zwischen den Menschen vor und über
springt die Distanz, in der allein der Einzelne vor dem Angetastetwer
den durch das Allgemeine sich zu schützen vermag. Gerade im engsten
Kontakt erfährt er die unaufgehobene Differenz am schmerzlichsten"78.
Das ist die Wahrheit über die Ich-Du-Beziehung, die von solcher Diffe
renz angeblich befreie. „Nur Fremdheit" aber „ist das Gegengift gegen
Entfremdung"79: weil sie im Abstand den Abstand zu sehen erlaubt,
der gerade im Kontakt bleibt, welcher, wie die hier allein zuständige
Physik lehrt, nur mittels eines äußerlichen Dritten geschlossen werden
kann, des Stroms, der die Kontingierenden kalt und leblos läßt, wenn er
nicht fließt. Den Strom aber, den sie den Lebensstrom nennen, wollen
sie so wenig physikalisch verstanden wissen wie den Kontakt, wäh
rend doch beides der Sache den wahren Namen gibt und die mensch
liche Assoziation unterm Tauschgesetz als das Stück Mechanik denun
ziert, das sie ist. Ein anderes schlagendes Lehrstück aus dieser Mechanik,
das Adorno mitteilt, bestimmt jenen Lebensstrom als den lastenden
gesellschaftlichen Druck, der die Menschen in Wahrheit „zusammen
hält", und der „die kürzeste Verbindung zwischen zwei Personen" stif
tet, „so als ob sie Punkte wären" 80. Dies mathematisch-mechanische Un
wesen der menschlichen Beziehungen ward zu ihrem eigentlichen We
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110 Heimann Schweppenhäusei
81 Cf. ibd., ferner a.a.O., Aph. 21,16,102, 77. 82 A.a.O., Aph. 20.
83 Ibd.
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 111
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112 Heimann Schweppenhäuser
86 Dies hat die kritische Ästhetik Adornos auf allen ihren Stationen, den
monographischen wie den theoretischen, so subtil wie energisch heraus
gearbeitet.
87 Cf. Schweppenhäuser, Kierkegaards Angriff auf die Spekulation. Eine Ver
teidigung. Frankfurt 1967, insbesondere „Chimäre", S. 23 ff.
88 Minima Moralia, a.a.O., Aph. 99. 89 Ibd.
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 113
8 ARSP LVII/1
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114 Heimann Schweppenhäuser
des Besseren", der Heilung fest, die anders sich nicht verspri
derart die einzig noch würdige Existenz beschrieb, hat damit
beschrieben. So stand er für die paradoxe Stärke des Individuum
diesem in der Aera seines Zerfalls noch einmal zuwuchs.
HERMANN SCHWEPPENHÄUSER
Zusammenfassung
Fundament der ADORNOschen Individuationstheorie ist die dialektische
Einsicht, daß die individualistische bürgerliche Gesellschaft einerseits
Produkt aller Einzelnen, andererseits die prägende Substanz dieser
Einzelnen aber schon die Gesellschaft ist. Gerade an der charakteristi
schen Prägung der Individuen werden entscheidende Aufschlüsse über
das objektiv waltende gesellschaftliche Gesetz gewonnen: das kapita
listische Wertgesetz. Unter ihm konstituieren sich die Individuen nach
Maßgabe der „organischen Zusammensetzung des Kapitals". Wie in der
Phase wachsender Konzentration der verfügende über den produktiven
Anteil des Kapitals anwächst, so wächst der disponierende über den
substantiellen Anteil der Subjektivität in den Individuen selber an.
Dieser Vorgang resultiert in der Usurpation des Zweckcharakters der
Individuen [ihrer Autonomie) durch ihren Instrumentalcharakter (die
willentlich geförderte Heteronomie). Die darin angelegte Gespaltenheit
der Individuen und ihre zeitgenössische Ideologisierung bringt Adorno
auf ihren strengen kritischen Begriff.
HERMANN SCHWEPPENHÄUSER
92 A.a.O., Aph. 5.
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Das Individuum im Zeitalter seiner Liquidation 115
HERMANN SCHWEPPENHÄUSER
Summary
8*
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