I. Einleitung
Unrechtssysteme sind der Strafrechtsdogmatik wohlbekannt. Es gibt sie
hauptsächlich in viererlei Gestalt: als zweckgerichtete Verbindung krimineller
Personen; als kriminell ausgerichtete Vereinigung; als kriminell anfälliges
Wirtschaftsunternehmen und als kriminell pervertierten Staat (bzw. staatliche
Institution). Isoliert hat die Strafrechtsdogmatik sie schon bisher untersucht;
deshalb haben wir von jedem einzelnen relativ gute Kenntnis. Eine einheitliche
Theorie des Systemunrechts und eine einheitliche Theorie der Verantwortung
innerhalb von Unrechtssystemen hat sie bisher nicht entwickelt. Die folgende
Untersuchung enthält hierzu daher einen ersten Ansatz.
Was hat die Strafrechtsdogmatik bisher gehindert, eine Theorie des
Systemunrechts zu entwickeln? Der Hauptgrund war wahrscheinlich, daß
sie bisher (ebenso wie in ihrem Gefolge die Kriminologie ) ausschließlich
vom auf eigene Faust handelnden Täter ausging und daß sie somit primär auf
Individual- und nicht auf Systemstrukturen des Unrechts traf. Zwar entging
ihr nicht, daß sich ein Täter mit Gesinnungsgenossen zu einem mehr oder
weniger streng organisierten System zusammenschließen kann; doch zog sie
daraus weder den Schluß, daß er seine Verantwortung an das soziale System
verliere, noch daß ihm aus dem System heraus Verantwortung zuwachse.
Unser Straftrecht ist, so erkannte sie, Individualstrafrecht: Der typische
Täter des Strafgesetzbuches sei das Individuum, das nur für eigenes persona-
les Unrecht und nur für eigene personale Schuld (§ 29 StGB) einzustehen
hat. Ein Zusammenschluß mit anderen könne zwar zur erhöhten Gefähr-
dung des Opfers und deshalb zu verschärfter Haftung führen (vgl. § 223a
StGB); eine Zusammenrottung mit anderen könne eine Gefahr für die öf-
fentliche Ordnung begründen und dadurch ein weiteres Rechtsgut verletzen
(vgl. § 125 StGB) - die subjektive Verantwortlichkeit ausschließlich des in-
dividualen Täters für das eigene individuale Unrecht berühre das nichlr.
1
Vgl. aber Eisenberg, Kriminologie, 3. Aufl. 1990, § 57 (S. 906 ff.).
2
In der vorliegenden Untersuchung werden Probleme des § 14 StGB grundsätzlich aus-
geschieden. Vollständig ist das freilich nicht möglich, schon gar nicht bei der Behand-
lung der Verantwortung für systemisches Unrecht. Maßgeblich für die Ausscheidung
waren praktische Bedenken: Der Umfang der Untersuchung wäre sonst zu sehr ange-
schwollen.
(§§ 244 Abs. l Nr. 3,244a, 250 Abs. l Nr. 4 StGB), gegen die bandenmäßige
Hehlerei (§§ 260 Abs. l Nr. 2, 260a StGB), die Geldwäsche (§ 261 Abs. 7
Satz 3 StGB), das Glücksspiel (§ 284 Abs. 3 Nr. 2 StGB), die Geld- und
Wertzeichenfälschung (§ 150 StGB), den Menschenhandel und die Zuhälte-
rei (§ 181c StGB), schließlich gegen gewisse Formen der Betäubungsmittel-
delinquenz (§§ 29 Abs. 3 Nr. 2, 30 Abs. l Nr. l BtMG).
Damit ist das strafgesetzlich anerkannte Systemunrecht allerdings auch
erschöpft; weitere Unrechtssysteme kennen unsere Strafgesetze nicht. So-
weit sie dafür staatliche Institutionen namhaft machen müßten, verwundert
dies nicht; denn deren Ausscheren aus der staatlichen Rechtsordnung gilt als
so unwahrscheinlich und als mit außerstrafrechtlichen Mitteln so gut zu be-
kämpfen, daß keine ernste Gefahr droht. Mögliche Ausnahmen sind die Vor-
bereitung eines Angriffskrieges (§ 80 StGB), die Herstellung friedensgefähr-
dender Beziehungen (§ 100 StGB) und der Völkermord (§ 220a StGB), die
kaum anders als von „höherer", staatlicher Ebene aus geplant und nur von
dort her befohlen werden können. Doch selbst in diesen Ausnahmefällen
richten sich die Strafrechtsnormen lediglich an einzelne; die Beteiligung
staatlicher Behörden sehen sie nicht einmal als Strafschärfungsgrund vor.
Praktisch war das bisher unschädlich, weil die Normen ohnehin kaum ange-
wandt wurden.
Praktische Mängel traten bisher lediglich im Wirtschaftsstrafrecht auf.
Hier setzen unsere Strafrechtsnormen Wirtschaftsbetriebe zwar als Adres-
saten von Rechtspflichten voraus (§14 StGB), doch machen sie für die
Verletzung der Pflichten statt der Betriebe natürliche Personen, nämlich
die „Organe" der Wirtschaftsbetriebe (und, in beschränktem Maße, ihre
gewillkürten Vertreter) verantwortlich. Das System selbst bleibt außer-
halb der strafrechtlichen Haftung; es haftet lediglich über die Hilfskon-
struktion einer Ordnungswidrigkeit (§ 30 OWiG) - wenngleich für sehr
empfindliche Geldbußen. Insgesamt erscheint diese Regelung als dogma-
tisch wenig folgerichtig; sie ist deshalb von Anfang an umstritten gewe-
sen.
Auch eine zahlenmäßige Erweiterung der Unrechtssysteme im Ge-
setz würde indessen die strafrechtsdogmatischen Probleme nicht erheb-
lich reduzieren. Denn die eigentliche Crux liegt darin, daß die Strafrechts-
dogmatik bisher auf jede systemische Delinquenz mit einem auf Einzeltä-
ter zugeschnittenen Instrumentarium reagiert. Dessen grundlegende Kate-
gorien aber - individuale Handlung, sozialer Erfolg und verbindende
Kausalität - sind, gemessen an der Komplexität der zu beurteilenden Sach-
6
Schon im vorigen Jahrhundert beklagte Mittermaier, Archiv des Criminalrechts n. F.
1839,165, die Ungerechtigkeit eines Gesetzes, das jeden Mittäter mit der Strafe des Ur-
hebers belegt, und forderte eine geringere Strafe für denjenigen, dessen Tatanteil gering
ist.
7
Diese Auffassung liegt nicht nur der materiell-objektiven, sondern auch der subjektiven
Theorie zugrunde, wenn diese auf die „Über-" und „Unterordnung" des Willens der
Beteiligten und somit auf das funktionale Gewicht psychischer Faktoren abstellt.
8
Dazu im einzelnen Lampe, Gedächtnisschrift für Armin Kaufmann, 1989, S. 189,197 ff.
13
Die Vielfalt der Organisationsbegriffe läßt zwei Grundkategorien hervortreten (dazu
etwa Hoffmann, Entwicklung der Organisationsforschung, 2. Aufl. 1976, S. 58 ff.):
a) Organisation ah d/c planmäßige Zusammenfassung von Menschen und Sacnen im
Hinblick auf ein bestimmtes Ziel: die Organisation hat funktionalen Charakter (funk-
tionaler Organisationsbegriff); b) Organisation als das Ergebnis von (a), nämlich als in-
tegrative Struktur eines Systems: die Organisation hat institutionellen Charakter (insti-
tutionaler Organisationsbegriff). Daneben wird der Begriff „Organisation" auch für
eine Vereinigung als ganze verwendet: Die Vereinigung „ist" eine Organisation - z. B. in
§ 84 Abs. l Satz 2 StGB („Ersatzorganisation einer verbotenen Partei"). Da dieser
Sprachgebrauch es erlaubt, von der Organisation einer Organisation zu sprechen, kann
er zu Mißverständnissen führen. Er wird daher im Text vermieden.
14
Vgl. dazu Lampe (Anm. 8), S. 198 ff.
15
OLG Stuttgart NJW 1978, 715.
desgerichtshof hat sie denn auch mit dem Vorbehalt versehen, daß sie nur die
Vermutung der Richtigkeit für sich hat und daß in Ausnahmefällen eine an-
dere Wertung Platz greifen kann .
Denkbar ist ein solcher Ausnahmefall, wenn man zusätzlich zu den exter-
nen auch die internen kausalen Beziehungen („Interdependenzen") zwi-
schen den Beteiligten berücksichtigt. Dann kann die Bedeutung der externen
Tatausführung unter Umständen kompensiert werden durch die interne Un-
bedeutendheit dessen, der die Tat ausführt. Dies traf nach Ansicht des Bun-
desgerichtshofs auf den Fall BGHSt. 17, 87 zu 17: Dort hatte im Auftrag des
sowjetischen Geheimdienstes ein Agent namens Staschynskij zwei Exilpoli-
tiker mit einer Gaspistole getötet; da der Agent nur ausführendes Organ
ohne eigene Bedeutung innerhalb der Entscheidungshierarchie des Systems
war, sah ihn der Bundesgerichtshof nicht als Täter, sondern nur als Gehilfen
an. Die Entscheidung ist umstritten geblieben; ich komme auf sie zurück
(siehe unten S. 743). Nahezu unumstritten ist dagegen, daß für das Problem
von Täterschaft und Teilnahme die interne Verteilung der Verantwortung
unter den Beteiligten entscheidend sein kann. Beispielsweise verliert ein li-
near wesentlicher Tatbeitrag seine Bedeutung dann, wenn reflexiv haupt-
sächlich ein anderer für das Ob der Tat zuständig ist18: Hat nur einer der Be-
teiligten die vom Gesetz geforderte Pflichtenstellung inne, weil allein ihm
die Fürsorge für das geschädigte Vermögen obliegt, dann ist allein er Täter
der Untreue (§ 266 StGB), auch wenn er extern die veruntreuende Handlung
nicht vorgenommen, sondern sie z. B. lediglich durch Untätigkeit unter-
stützt hat . Der nicht Fürsorgepflichtige dagegen, der den Tatbestand ex-
tern allein verwirklicht hat, ist bloßer Gehilfe.
16
BGH NStZ 1987, 224, 225.
17
Es traf dagegen nicht zu im vielfach zum Vergleich herangezogenen Badewannen-
Fall (RGSt. 74, 84): Dort hatte sich die Schwester der unehelich gebärenden Frau ledig-
Ü£.h d^ren „jDteresse" am Tod des Neugeborenen untergeordnet, ohne daß sie in ein or-
ganisatorisches System mit hierarchischen Befehlsstrukturen eingebunden war. Vgl. zur
Differenz beider Entscheidungen auch/*fco£s, Allg. Teil, 2. Aufl. 1991, 21/31.
18
Vgl. Roxin, in: LK StGB, 11. Aufl. 1992, § 25 Rdn. 111 ff. und Rdn. 36: „Auch ist die
Tatherrschaft kein Universalprinzip, das ausnahmslos bei sämtlichen Tatbeständen zur
Bestimmung der Täterschaft herangezogen werden könnte. Man muß vielmehr bei zwei
Gruppen von Tatbeständen die Täterschaft von vornherein nach anderen Gesichts-
punkten beurteilen: bei den ,Pflichtdelikten' und bei den »eigenhändigen* Delikten.";
Herzherg, Die Unterlassung im Strafrecht und das Garantenprinzip, 1972, S. 315 ff.;
Bloy, Die Beteiligungsform als Zurechnungstypus im Straf recht, 1985, S. 213 ff.
19
Vgl. BGHSt. 9, 203,217 f.
Halten wir also fest, daß es für die Mittäterschaft sowohl auf die Gemein-
samkeit externer Erfolgsverursachung als auch auf ein Mindestmaß an Ega-
lität im Verhältnis zueinander und auf eine im wesentlichen gleiche Rechts-
stellung in der sozialen Umwelt ankommen kann und daß keiner dieser Fak-
toren schon für sich allein die Mittäterschaft Begründer . Daraus folgt die
Erkenntnis, daß Mittäterschaft mehr ist als eine Addition von Einzeltäter-
handeln: sie ist ein funktional organisiertes Unrechtssystem. Ein solches Sy-
stem schafft eine „neue Qualität" des Handelns, das „Solidarahandeln, wel-
ches „über isoliertes Einzelhandeln hinausgeht". Ein solches System be-
gründet eine neue Qualität des Unrechts, das „Systemaunrecht, welches
über isoliertes Verhaltensunrecht hinausgeht. Und ein solches System hat - im
Wege der Rückkoppelung - eine neue Art der Verantwortung zur Folge, die
„System"verantwortung, die, über die Verantwortung für das eigene Tun
hinaus, das Verhalten der anderen, systemisch verbundenen Mittäter ein-
schließt - etwa die Verantwortung für den strafbaren Versuch des Systems22,
für die Vollendung der strafbaren Tat durch das System usf.
20
Deshalb ist die gesetzliche Definition der Mittäterschaft (§ 25 Abs. 2 StGB) ungenau.
Die „gemeinsame Begehung" einer Straftat (was immer im einzelnen man darunter ver-
steht) ist nur die notwendige, nicht schon die hinreichende Bedingung der Mittäter-
schaft. Zusätzlich bedarf der Mittäter-Begriff ideologischer Bestimmung; vgl. dazu
Herzberg, ]Z 1991, 856, 860.
21
Küper, Versuchsbeginn und Mittäterschaft, 1978, S. 53 f. Grundsätzlich a. A. Schilling,
Der Versuchsbeginn des Mittäters und des mittelbaren Täters, 1975. Nach ihm erliegt
die Auffassung, es gebe ein „Gesamtsubjekt", einen „Gesamtwillen" und eine „Gesamt-
handlung", einer Fiktion; a. a. O., S. 64, 73. So prononciert auch Nagler, Teilnahme am
Sonderverbrechen, 1903, S. 77: „Davon, daß ein ,Gesamtwille' als ein neues, über das
Aggregat der Einzelwillen sich erhebendes, zu einem selbständigen Dasein berufenes
Wesen zur Erscheinung komme, kann keine Rede sein. Eine solche Fiktion würde -
konsequent durchgeführt - die weitere Fingierung einer ideellen, die Urheberschaft tra-
genden Personeneinheit erzwingen." Im Gegensatz zu Schilling und Nagler geht jedoch
die Auffassung des täglichen Lebens davon aus, daß es soziale Gebilde gibt, die mehr
sind als die Summe ihrer Elemente. Diese Auffassung wird gestützt von der modernen
Soziologie, die sich mit der Erforschung solcher sozialen Gebilde, ihrer internen SiruJf -
tureigentümlichkeiten und ihres Verhältnisses zur Umwelt befaßt; vgl. dazu unten II. l
und III. 1; zu Fiktion und Realität speziell von Verbänden bei Anm. 123.
22
Vgl. Küper (Anm. 21), S. 18: Die Handlung eines Mittäters bedeutet nur dann den
Versuchsbeginn, wenn sie, „bildlich gesprochen, gleichsam die über die Vorberei-
tungsgrenze hinausragende ,Speerspitze' der aus den Tatbeiträgen aller Mittäter be-
stehenden ,Gesamthandlung' ist"; ferner a. a. O., S. 21 f. Aus der Rechtsprechung
vgl. RGSt. 9, 3, 6 f.
23
Zum Ganzen auch Olson, The Logic of Collective Action, 1971, S. 15 f., 53 ff.; Nunner-
Winkler, in: Lampe (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Recht, 1989, S. 169 ff. Vgl. ferner
Sherif, Social Psychology, 1969, S. 131 ff.
Im einzelnen ist die Erklärung für die systemtypisch „neuen Qualitäten" bis heute
umstritten. Nach einer modernen Fassung der Systemtheorie (Theorie der auto-
poietischen Systeme) „besteht ein differenziertes System nicht mehr einfach aus
einer mehr oder weniger großen Zahl von Teilen (= Elementen) und Beziehungen
zwischen Teilen; es besteht vielmehr aus einer mehr oder weniger großen Zahl von
verwendbaren System-Umwelt-Differenzen, die jeweils an verschiedenen Schnitt-
linien das Gesamtsystem als Einheit von Teilsystem und Umwelt rekonstruie-
ren"24. Umwelt erhält ihren Sinn vom System her. Treffen mehrere sinnkonstituie-
rende Systeme aufeinander, entsteht „doppelte Kontingenz"25: Sozialer Kontakt
zwischen ihnen ist nur möglich, wenn beide offen sind für die Konditionierung des
eigenen Verhaltens durch das des anderen und für den Aufbau einer „freischwebend
konsolidierten Realität"26. Das sie verbindende soziale System ist dann ein „emer-
gentes", d. h. nicht allein auf sie zurückführbares Phänomen. Es konstituiert sich
durch „Interpenetration" der Subsysteme. Handlungen, die (auch) durch das sozia-
le System konditioniert sind, erhalten durch dieses einen neuen, „emergenten" Sinn:
der gemeinsame Raub also den Sinn, den die Gewaltanwendung und die Wegnahme
in ihrem Bezug aufeinander und auf die Umwelt haben27.
Eine weitere Erklärung liefert die psychoanalytische Theorie. Ihr zufolge bewältigt
Solidarität die individuelle Angsr8, mit einem eigenen Vorhaben zu scheitern.
Kriminellem Solidarverhalten kommt zwar geringeres (individual-)moralisches Ei-
gengewicht, dafür aber höhere soziale Gefährlichkeit zu als kriminellem Einzelver-
halten. Konsequenz ist, daß eine Erhöhung der Sozialverantwortung die individual-
moralische „Diffusion der Verantwortung"30 kompensieren muß: Mitläufer sind
Mittäter31!
24
Luhmanriy Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, 1984, S. 22.
25
Vgl. Parsons^ in: Parsons/Shils (Hrsg.), Toward a General Theory of Action, 1951, S. 3,
16.
26
Luhmann (Anm. 24), S. 172.
27
Ob die Erklärung mittels der Allgemeinen Systemtheorie einen Erkenntnisgewinn dar-
stellt, bleibt zweifelhaft. Nach Hanssmann, Einführung in die Systemforschung, 1978,
S. 144, sorgt der der Systemtheorie zugrunde liegende Abstraktionsprozeß „schon per
se für eine zu große Entfernung von spezifischen Systemen, um für deren Untersuchung
noch viel Interessantes bieten zu können".
28
So ausdrücklich Anselmy Angst und Solidarität, 1985, passim.
29
!>«?? entspricht es, weaa Mitglieder von Gruftpeo dbaJim tendieren, gemeinsam riskan-
tere Entscheidungen zu fällen als unter alleiniger Verantwortung.
30
Falls es sie überhaupt gibt - vgl. dazu im einzelnen Sader, Psychologie der Gruppe,
1991, S. 217, 12 ff.; Brigham, Social Psychology, 2. Aufl. 1991, S. 306, 235 f., jeweils
m. w. N. Beachtenswert ist, daß jedenfalls eine Masse, nach den Mechanismen des sozia-
len Zwangs, dem Individuum Gesetzmäßigkeiten auferlegen kann, welche dessen eigene
moralische Instanz für das Verhalten bedeutungslos werden lassen (beispielhaft Egen-
dorf, Journal of Social Issues 31, 1975, S. Ill ff.). Gerade dann müssen Sozialethik und
Recht die Verantwortung jedoch autochthon begründen („Du kannst, weil du sollst!").
31
Besonderes gilt für eine auf Dauer angelegte Gruppenbildung. Der Wille, sich mit ande-
ren zur fortgesetzten Begehung von Straftaten zusammenzuschließen, beinhaltet sozial-
moralisch die Übernahme der Mitverantwortung für die gemeinsamen Taten. Denn mag
auch zweifelhaft sein, ob wirklich „der Täter der Bandendelikte einen bereits gefestigten
Willen hat, der so stark ist, daß er sich mit Gleichgesinnten zusammenschließt" (Schild
[Anm. 4], S. 77) - er weiß doch immerhin, daß sein Zusammenschluß mit kriminell Ge-
sinnten für ihn eine Verantwortung begründet, die weit über die bei der einfachen Mit-
täterschaft hinausgeht.
32
Vgl. RGSt. 58, 279; 66, 236, 240; Kohlravsch/Lange, 43. Aufl. 1961, § 47 Anm. I; Dre-
her/Tröndle, 46. Aufl. 1993, § 25 Rdn. 8.
33
Siehe auch Newcomb, Sozialpsychologie, 1959, S. 549, nach dem „das Verhalten von
Gruppenmitgliedern, die gemeinsame Bezugssysteme haben, nur als gegenseitig abhän-
giges Verhalten verstanden werden kann**.
34
RGSt. 58, 279; vgl. auch BGH StV 1981, 275.
35
BGHSt. 37, 289, 292.
36
BGE113IV58.
fahrlässiger Tötung mit der Begründung, daß „Kausalität zwischen der gemeinsam
vorgenommenen Gesamthandlung und dem eingetretenen Erfolg" bestehe. Ob es
damit das Problem auf die Kausalitätsfrage reduziert oder ob es inzident eine Mit-
täterschaft von A und B anerkennt, bleibt offen.
Auch die wissenschaftliche Diskussion hat die Erklärungslücke bisher nicht ge-
schlossen. Otto bejaht das Ergebnis der Entscheidung; denn „wer in Vollzug eines
gemeinsamen Planes arbeitsteilig mit anderen pflichtwidrig Gefahren für Rechtsgü-
ter begründet, ist für die Verletzung dieser Rechtsgüter (mit-)verantwortlich, wenn
sich in der Verletzung der Rechtsgüter die spezifischen von ihm mitgesetzten Gefah-
ren realisieren"37. Roxin hält die Entscheidung ebenfalls für richtig, Ottos Konstruk-
tion jedoch für unnötig. Als Begründung genüge, daß jeder der Handelnden die
durch den anderen geschaffene Gefahr „mitgesetzt" hat38. Doch wann hat ein Betei-
ligter die durch den anderen geschaffene Gefahr „mitgesetzt"? Reicht hierfür, wie
das Schweizerische Bundesgericht anzunehmen scheint, die bloß kausale Verknüp-
fung mit dem tödlichen Ereignis aus? Den „Erfordernissen objektiver Zurechnung"
genügt, wie Otto mit Recht einwendet, eine solche Verknüpfung nicht39. Erforder-
lich ist vielmehr der Eintritt in ein organisiertes System, welches den Schaden pflicht-
widrig verursacht; denn nur die Zugehörigkeit zu einem solchen System läßt (mittel-
bar) eine Verantwortungszuschreibung auch für fremde Tatbeiträge zu - dies freilich
unabhängig davon, ob der Beitritt zum System vorsätzlich oder fahrlässig erfolgte.
Resümieren wir also, daß Mittäterschaft nicht mehr, aber auch nicht weni-
ger erfordert als allseits bewußtes Solidarverhalten in einem funktionalen Sy-
stem, von dem Verletzungen oder Gefährdungen für die Rechtsgüter Dritter
ausgehen. Vorsätzlich ist das mittäterschaftliche Verhalten, wenn sich der in-
dividuelle Wille auf die Verwirklichung eines überindividuellen kriminellen
Willens (eines „gemeinsamen Tatplans") richtet; fahrlässig ist es, wenn der
Mittäter pflichtwidrig nicht erkennt, daß das bewußte funktionale Zusam-
menwirken im System nicht der verkehrserforderlichen Sorgfalt entspricht.
2. Verfaßte Unrechtssysteme
Die funktionale Organisation eines Unrechtssystems kann ihre dauerhafte,
institutionelle Gestalt in einer Verfassung (oder Satzung) gewinnen. Ein sol-
ches verfaßtes Unrechtssystem ist nicht nur, wie das einfache, „mehr als die
Summe seiner Teile"40, sondern als Institution auch vom Wechsel seiner Tei-
le unabhängig. Man bezeichnet es infbigecfessen gern a/s „formeffes u System
(z. B. „formell organisierte" Gruppe). Ich bevorzuge den Ausdruck „verfaß-
37
Otto, Jura 1990,47, 49.
38
Äojci»,in:LK,$25Rdn.221.
39
Otto, Die Strafbarkeit von Unternehmen und Verbänden, 1993, S. 13.
40
Vgl. Aristoteles, Metaphysik, 1023b. Hierzu Driesch, Das Ganze und die Summe, 1921,
S. 8 f.; Bertalanffy, General System Theory, 4. Aufl. 1973, S. 55, 67.
tes System", weil stets eine (formelle oder informelle) Verfassung Ziele und
Mittel des Systems und damit sein Unrecht bestimmt.
Während das einfache Unrechtssystem regelmäßig auf dem persönlichen
Sich-Kennen seiner Mitglieder beruht, beruht das verfaßte Unrechtssystem
auf Zugehörigkeitsmerkmalen, die von der Person seiner Mitglieder unab-
hängig sind und deshalb nur eine reduzierte Kenntnis erfordern. Das verfaß-
te Unrechtssystem kann mithin aus einer größeren Zahl von Mitgliedern be-
stehen als das einfache41.
Wegen der großen Zahl seiner Mitglieder weist das verfaßte Unrechtssy-
stem typischerweise einen höheren Grad an Komplexität auf als das einfa-
che. Regelmäßig umfaßt es mehrere Subsysteme, zu denen nur einige Mit-
glieder Zugang haben. Kommunikation und Interaktion werden dann ge-
zielt, und zwar meistens hierarchisch, selektiert. Um dennoch den Zusam-
menhalt des Ganzen zu gewährleisten, bestehen zwischen den Subsystemen
Informationskanäle, welche einerseits Anweisungen von der hierarchisch
höheren Ebene (als normgebender Instanz) zu den mit Unteraufgaben be-
faßten Ebenen und von da zu denjenigen Personen leiten, die mit der Erfül-
lung von Elementaraufgaben betraut sind, und in denen andererseits Rück-
meldungen aus den hierarchisch niederen Regionen in umgekehrte Richtung
fließen. Es besteht also ein Informationsaustausch in Form eines Regelkrei-
ses. Ein derart hierarchisch organisiertes System arbeitet wegen der Redu-
zierung der Kommunikationen und Interaktionen effizienter als ein heterar-
chisch organisiertes und ist daher bei krimineller Ausrichtung oder auch nur
Anfälligkeit besonders gefährlich.
a) Kriminelle Vereinigungen
Unter einer Vereinigung versteht die Rechtsprechung eine „auf eine gewisse
Dauer berechnete organisatorische Vereinigung einer Anzahl von Personen,
die bei Unterordnung des Willens des einzelnen unter den Willen der Ge-
samtheit gemeinsame Ziele verfolgen und unter sich derart in Beziehung ste-
43
Das ist der Fall bei den Juristischen Personen des privaten und des öffentlichen Rechts,
zu denen noch die beschränkt rechtsfähigen Personenhandelsgesellschaften hinzutreten
(vgl. etwa Art. 19 Abs. 3 GG). Weitergehend (aufgrund eines zu weiten Rechtsbegriffs)
Sorokin, in: Hirsch/Rehbinder (Hrsg.), Studien und Materialien zur Rechtssoziologie,
1967, S. 87,114 ff.
44
Vgl. F. X. Kaufmann, in: Lampe (Hrsg.), Verantwortlichkeit und Recht, 1989, S. 209,
213. Aus der Anerkennung der Organisationsziele und der zu ihrer Erreichung dienen-
den Pflichten resultiert das viel beschriebene „Rollenverhalten" von Systemmitgliedern;
vgl. dazu etwa Mayntz, Soziologie der Organisation, 1963, S. 81 ff.
45
BGHSt.29,114,121.
hen, daß sie sich untereinander als einheitlicher Verband fühlen"46. Diese
Begriffsbestimmung ist zu eng; denn sie bezieht sich lediglich auf die in der
Vereinigung zusammengeschlossenen Personen, nicht auch auf die sachli-
chen Mittel, die zur dynamischen Verfolgung des Verbandszwecks verwen-
det werden. Da das Strafrecht an die Gefährlichkeit der Vereinigung an-
knüpft und diese wesentlich davon herrührt, daß Sachmittel zur Verfolgung
krimineller Ziele verwendet werden, ist die Definition um das technische Sy-
stemelement zu ergänzen. Die „auf eine gewisse Dauer berechnete organisa-
torische Vereinigung" betrifft dann drei verfahrenstechnische Bereiche: den
Humanbereich; die Integration von Sachmitteln; die Integration von Men-
schen und Sachmitteln in ein sozio-technisches System.
Banden sollen sich von kriminellen Vereinigungen dadurch unterschei-
den, daß bei ihnen „zwar auch ein gewisses Zusammengehörigkeitsgefühl
gefordert wird, jedoch eine lose Zusammenfügung ohne besondere Organi-
sationsform ausreicht"47. Auch diese Begriffsbestimmung ist ungenau; denn
ohne eine funktionale Organisation, die ihr Wirken auf bestimmte Ziele fest-
legt, kommt keine Bande aus. Banden unterscheiden sich von kriminellen
Vereinigungen lediglich dadurch, daß ihnen trotz einer gewissen Dauer die
feste institutionelle Organisation fehlt.
Ziel institutionell organisierter krimineller Vereinigungen ist die Bege-
hung von Straftaten. Dieses Ziel ist sowohl ihr Charakteristikum („label")
als auch das Bildungselement ihres Systems; es bestimmt sowohl den inter-
nen Aufbau ihrer Organisation als auch ihr Erscheinungsbild nach außen.
Infolgedessen ist die kriminelle Vereinigung extern, d. h. gegenüber ihrer le-
galen Umwelt, faktisch und rechtlich weitgehend abgeschottet; intern resul-
tiert daraus die Erpreßbarkeit ihrer Mitglieder zu Loyalität und Solidari-
tät . Ihren Bestand sucht sie - zumindest in der modernen Form des orga-
46
BGH NJW 1975, 985 (unter Bezugnahme auf RG JW 1931, 3667); ferner BGH NJW
1978, 433, u. cv ÄJmlirb A^Jal/du, Festschnh für Bmns, 1973, S. 215, 320. N*ch BGH
NStZ 1982,68, stimmt der Begriff der Vereinigung mit dem des Vereins überein. Soweit
die Rechtsprechung hieraus die Folgerung zieht, daß „ein vom aktuellen Willen des
einen oder anderen unabhängiger organisierter Gesamtwille auf Dauer maßgeblich und
verbindlich sein muß" (a. a. O., S. 69), ist ihr zuzustimmen. Dennoch unterscheiden sich
Verein und Vereinigung durch ihre unterschiedliche Dynamik wesentlich voneinander.
47
BGHSt. 31, 202, 205; BGH NStZ 1982, 68; BGH bei Holtz, MDR 1977, 282. Nach
Schild, GA 1982, 72, 75, soll die Organisation kein Erfordernis der Bande sein.
48
Das gilt insbesondere für terroristische Vereinigungen; vgl. hierzu McCawley/Segal,
Review of Personality and Social Psychology 9 (1987), S. 231 ff.; Baeyer-Katte/Claes-
sens/Feyer/Neidhardt, Gruppenprozesse, 1982, S. 395 ff.
49
Nach h. M. unterscheidet sich das organisierte Verbrechen von der kriminellen Vereini-
gung zum einen durch seine Imitation legalen Verhaltens - insbesondere im kaufmänni-
schen Planen und Handeln, welches auf die Befriedigung von Bedürfnissen der Bevöl-
kerung oder einzelner Kreise nach illegalen oder sonst am Markt nicht erhältlichen
Waren zugeschnitten ist - und zum anderen durch seine Verschränkung mit legalen In-
stitutionen des Handels und der Politik, um die Gewinne aus seiner Tätigkeit zu sichern
und eine finänzieife Grundlage für küiifiige JcrJjmiodJc1 Tätigkeit zu srJbaffen; vgL dazu
im einzelnen Kaiser, Kriminologie, 3. Aufl. 1993, § 28/4.1; Kerner; Professionelles und
organisiertes Verbrechen, 1973, S. 219 ff., jeweils m. w. N.
50
Eine solche Integration wird daher bei einigen Gruppen strikt ausgeschlossen: Als Ter-
rorist beispielsweise, aber auch als Sektenmitglied, darf man nur der eigenen Gruppe an-
gehören - was zu enormer Kontaktdichte, entsprechend starkem Gruppenbewußtsein,
aber auch zu emotionalen Problemen führt.
51
K. Schmidt, Gesellschaftsrecht, 2. Aufl. 1991, § 32 II1.
52
VgL K. Schmidt, Handeisrecht, 3. Aufl. 1987, § 4 I 1; Hueck/Nipperdey, Lehrbuch des
Arbeitsrechts, Bd. I, 7. Aufl. 1963, S. 97. Eine eingehende Darstellung aus organisati-
onstheoretischer Sicht gibt Raiser, Das Unternehmen als Organisation. Kritik und Er-
ganisation des Unternehmens sein als auch sein Ziel und dessen Verfolgung
in der sozialen Umwelt.
Die wirtschaftlichen Ziele des Unternehmens werden entweder autoritär
vorgegeben oder in einem Verhandlungsprozeß erzeugt. Im zweiten Fall
bringen die Mitglieder ihre Ziele für das Unternehmen als Forderungen in
einen Verhandlungsprozeß ein; am Ende werden die Ziele des Unterneh-
mens dann durch die in der Verfassung legitimierte Person oder Gruppe als
für alle Mitglieder verbindlich festgestellt. Formuliert werden die Ziele des
Unternehmens meist nur allgemein und vage, damit möglichst viele Mitglie-
der ihnen zustimmen können. Dadurch verringert sich die Möglichkeit, die
Zielerreichung zuverlässig zu kontrollieren. Da zudem die Hierarchisierung
des Zielsystems mittels Dezentralisierung des Unternehmensgefüges ein
übriges tut, um die einzelnen Entscheidungsträger nur an eine begrenzte An-
zahl von Zielen zu binden, sind die Unternehmensziele meist relativ offene
Beschränkungen des Handlungsspielraums. Sie erlauben infolgedessen die
Integration auch „krimineller Attitüden . Diese gedeihen um so besser, je
mehr das Unternehmen durch eine Binnenmoral gegen normative Außen-
einflüsse abgeschottet ist.
Zum arbeitsfähigen Ganzen wird das Unternehmen durch die Organisati-
on seiner betrieblichen Produktion54, insbesondere durch die Aufgliederung
in Produktions- (oder Projekt-)Einheiten und durch die Aufstellung von
verbindlichen Mustern oder Normen für Arbeitsabläufe55. Abweichendes
Verhalten wird auf dieser Grundlage festgestellt; es wird entweder informell
neuerung der juristischen Unternehmenslehre, 1969, insbes. S. 93 ff., 111 ff. Aus der so-
ziologischen Literatur sind zu nennen Hoffmann (Anm.13), S. 57 ff.; Enärnweit, Orga-
nisationssoziologie, 1981; aus der betriebswirtschaftlichen Literatur Hill/Fehlhaum/
Ulrich, Organisationslehre I, 4. Aufl. 1989, S. 20 ff.; Remer, Organisationslehre, 1989,
S. l ff.; ferner Krüger, Organisation der Unternehmung, 1984, S. 13, 71 ff.
53
Der Begriff stammt von Schünemann, Unternehmenskriminalität und Straf recht, 1979,
S. 22 U- ex, der unifr ihn ejjsfji „den Untcrtzckirtensträgern &nid$tb&FCtt Orrencierungs-
mangel" faßt; a. a. O., S. 253. Ein solcher Mangel kann insbesondere in der Einstellung
zur sozialen Verantwortung des Unternehmens und zu den vom Unternehmen ausge-
henden Risiken sichtbar werden. Siehe auch Müller, Die Stellung der juristischen Person
im Ordnungswidrigkeitenrecht, 1985, S. 22 ff.
54
Zu den Unternehmenszielen gehören ferner die Finanzierung der Produktion und ihre
kommerzielle Verwertung; vgl. dazu Gutenberg, Grundlagen der Betriebswirtschafts-
lehre, Bd. I, 20. Aufl. 1984, S. l f.
55
Zwischen Verhaltensmustern und Verhaltensnormen besteht keine klare Trennungsli-
nie: Normen sind in der Regel explizit gemachte Muster, jedoch von höherer Verbind-
lichkeit; vgl. näher Witte, Sozialpsychologie, 1989, S. 473 ff.
56
Zur Begrifflichkeit vgl. Lampe, Genetische Rechtstheorie, 1987, S. 33 f. Mayntz
(Anm. 44), S. 45 f., spricht allgemeiner von einer „Wechselwirkung mit der Umwelt".
57
Allgemein zur Vorgegebenheit der Organisation als Grundform sozialer Gebilde Hen-
kel, Einführung in die Rechtsphilosophie, 2. Aufl. 1977, S. 281 ff.; zur Bedeutung der
dort herrschenden Gesetzlichkeiten für das Richtige Krawietz, Das positive Recht und
seine Funktion, 1967, S. 16 u. ö.
58
Schroth* Unternehmen als Normadressaten und Sanktionssubjekre, J993, ins)>es.
S. 97 ff.
59
Str.; wie hier z. B. Plenge, Drei Vorlesungen über die Allgemeine Organisationslehre,
1919, S. l ff.; vgl. ferner Simmel, Soziologie, 5. Aufl. 1968, S. 512 ff.; von Wiese, System
der Allgemeinen Soziologie, 4. Aufl. 1966, S. 540 ff.; M. Weber, Wirtschaft und Gesell-
schaft, 5. Aufl. 1976, S. l ff.
60
Heller, Staatslehre, 1934 (Neudruck 1963), S. 228 ff., 242 ff.; Petev, Festschrift für Scu-
pin, 1983, S. 391 ff.
61
Aus der Literatur Maunz/Dürig/Herzog, Grundgesetz, 1993 (Lieferung 1980), Art. 20,
Rdn. VI 53.
62
So BVerfGE 34, 269,286 f.
vollziehenden Gewalt und der Gerichte an, die gesetzliche Ordnung ständig
auf ihre Übereinstimmung mit dem Recht zu überprüfen und eventuell auf-
tretende Differenzen entweder zu beseitigen oder so weit zu verkleinern,
daß sie tragbar erscheinen63. Indessen stehen im Rechtsstaat nicht nur die
Gesetze, sondern auch die Verfassung, aufgrund deren sie erlassen wurden,
sowie die Staatsakte, die auf ihrer Grundlage ergehen, unter der Rechtsidee.
Deshalb sind auch sie von den staatlichen Organen, aber auch vom einzelnen
Bürger auf ihre Vereinbarkeit mit dem überpositiven Recht zu überprüfen.
Denn die Möglichkeit einer der Rechtsidee widersprechenden Staatsverfas-
sung sowie zwar gesetzestreuer, aber offensichtlich rechtswidriger Staatsak-
te ist so wenig von der Hand zu weisen wie die ungerechter Gesetze.
In den folgenden Ausführungen wird es um pervertierte staatliche Syste-
me gehen, Systeme also, die rechtswidrig verfaßt sind, deren Gesetze Un-
recht beinhalten oder deren Akte den Makel der Rechtswidrigkeit auf der
Stirn tragen, ohne daß dies in einem systemkonformen Verfahren berichtigt
werden könnte. Man nennt sie „staatliche Unrechtssysteme" bzw. spricht
von „staatlicher Unrechtsgewalt". Ihre Perversion beruht entweder auf einer
der Idee des Rechts widersprechenden Staatsphilosophie („Ideologie") oder
auf einer den Grundsätzen der Rechtsstaatlichkeit widersprechenden Staats-
organisation. Die Staatsphilosophie formuliert das Leitbild der Staatstätig-
keit. Sie enthält die Zielvorstellungen, denen das gesellschaftliche Zusam-
menleben im Staat sowie das Verhältnis zu anderen Staaten angenähert wer-
den soll. Sie gibt somit dem Staat sein ideelles Gepräge. Gleichzeitig enthält
sie jedoch auch Soll-Vorgaben für die Organisation des gesellschaftlichen
Handelns. Sie begründet Erwartungshaltungen an die staatlichen Gesetzge-
bungsorgane sowie an das Verhalten der Staatsfunktionäre, denen diese im
institutionellen Rahmen Rechnung tragen müssen. Enttäuschen sie die Er-
wartungen, dann wird das nicht nur ihnen selbst, sondern auch der Organi-
sation des Staates zugerechnet. Denn das ihnen entgegengebrachte Vertrauen
ist „gleichzeitig ein Stück Systemvertrauen, d. h. Vertrauen in die Fähigkeit
einer fbrmafen Organisation, ihre Mitgfiecfer insoweit zu kontrof/ieren, cfalS
63
BVerfGE 3, 225, 233, übernimmt zu diesem Zweck die sog. Radbruchsche Formel, daß
das positive Gesetz dann unanwendbar werde, wenn sein Widerspruch zur Gerechtig-
keit „ein so unerträgliches Maß erreicht, daß das Gesetz als unrichtiges Recht der Ge-
rechtigkeit zu weichen hat" (Rechtsphilosophie, 7. Aufl. 1970, S. 353). Zur Kritik dieser
- der alten Evidenztheorie entsprechenden - Formel vgl. Lampe, in: ders. (Hrsg.), Die
Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der Wiedervereinigung, 1993,
S. 15,21 f.
die Leistungen, die von ihnen erwartet werden, im Sinne der von der Orga-
nisation verbürgten Zielsetzung und Funktionszuweisungen erbracht wer-
den«64.
Staaten oder staatliche Institutionen sind kriminell pervertierte Systeme,
wenn ihre Funktionäre Straftaten begehen, die Ausdruck der Staatsphiloso-
phie sind oder durch einen bewußten Mangel an rechtlicher Kontrolle ver-
anlaßt oder begünstigt werden. Als Staaten sind sie extern, d. h. gegenüber
der Völkergemeinschaft, in der Regel weitestgehend isoliert, intern fast im-
mer totalitär organisiert. Als staatliche Organisationen sind sie gegenüber
anderen Institutionen regelmäßig abgeschottet und auf unbedingte Loyalität
ihrer Mitglieder angewiesen.
Nicht kriminell pervertiert sind nach heute allgemein akzeptierter Auffassung staat-
liche Institutionen, die sich bewußt mit der Vornahme gewisser krimineller Hand-
lungen gegen fremde Staaten befassen - insbesondere die Nachrichten- bzw. „Ge-
heimdienste fremder Mächte" (§ 99 StGB), die vorwiegend politisch-militärische,
aber auch wirtschaftliche Spionage betreiben. Ihre Aufgabe ist es, im Ausland
„Nachrichten systematisch und unter Anwendung konspirativer Methoden zu
sammeln, um vor allem die politische Lage fremder Mächte und deren militärisches
wie wirtschaftliches Potential abzuklären"65. Ihr Wirken wird völkerrechtlich ge-
duldet. Sie sind auch keine kriminellen Vereinigungen i. S. v. § 129 StGB66, weil sie
lediglich im Heimatland, wo sie legal arbeiten, nicht aber am Ort ihrer illegalen Tä-
tigkeit, d. h. im Ausland, organisiert sind.
64
Kaufmann (Anm.44),S. 213.
65
Dreher/Tröndle, § 99 Rdn. 3.
66
Dreher/Tröndle, § 129 Rdn. 3; vgl. auch Krehl, DtZ 1992,113.
67
Am ausführlichsten in meiner Habilitationsschrift über „Das personale Unrecht", l967,
S. 211 ff., 223 ff.
69
Sog. „Gesamtlösung"; vgl. BGHSt. 11,268,271 f.; 36, 249,250; tf«per (Anm. 21).
70
Vgl. dazu ausführlich Lampe, ZStW 77 (1965), S. 262, 272 ff.
71
RGSt. 8, 42, 43. Dazu, daß das Einverständnis auch stillschweigend zustande kommen
kann, vgl. RGSt. 49, 239, 241; 54, 271, 272; BGHSt. 37, 289, 292. Siehe auch oben
Anm. 21.
72
Zu eng daher BGH StV 1986, 61; BGH NJW 1987, 77; BGH, wistra 1987, 253: Beim
„Sich-zueignen" gehe es um ein bestimmtes Verhältnis des Täters zur Sache, das nur der
Täter in eigener Person herstellen könne.
73
Vgl. auch Cramer, in: Schönke/Schröder, § 25 Rdn. 94: „Hält sich die Durchführung der
Tat im Rahmen des gemeinsamen Planes, dann kommt es nicht darauf an, ob jeder Mit-
täter die konkreten Umstände der Tat, wie sie tatsächlich durchgeführt wird, kennt."
74
Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 129 Rdn. 1.
75
Ähnlich BGH NJW 1975, 985.
76
Rudolphi (Anm. 46), S. 317.
77
DreberJTröndk, J 129 RniL 3; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 129 Rdn. 7a, jeweils
m. w. N.; a. A. BGH NJW 1975, 985.
78
Rudolphi (Anm. 46), S. 322; Lenckner, in: Schönke/Schröder, § 129 Rdn. 7.
79
BGHSt. 27, 325, 328; vgl. auch oben II. 2a.
80
Vgl. BGHSt. 27, 325,328; Fürst, Grundlagen und Grenzen der §§ 129,129a, 1989, S. 83;
Maurach/Schroeder, Bes. Teil 2, 6. Aufl. 1981, S. 300; a. A. Lenckner, in: Schönke/
Schröder, § 129 Rdn. 7a.
81
Vgl. dazu BGHSt. 31,202,206: „Die Gründung einer Einzelfirma oder einer Personen-
oder Kapitalgesellschaft zur Beteiligung am Wirtschaftsleben stellt - auch wenn die Mit-
glieder am Betrieb eines solchen Unternehmens Straftaten begehen wollen - regelmäßig
für sich allein noch nicht die Bildung einer kriminellen Vereinigung dar. Eine solche
muß - über den Zusammenschluß zur Begehung bestimmter einzelner Straftaten hinaus
- eine gewisse organisatorische Selbständigkeit aufweisen. Es ist erforderlich, daß aus ei-
ner fest organisierten Vereinigung heraus Straftaten geplant oder begangen werden."
Unter einer Unternehmensphilosophie verstehe ich die Gesamtheit der grundsätzlichen
Wert- und Zielvorstellungen der Unternehmensleitung hinsichtlich des Unternehmens
selbst sowie hinsichtlich seiner Stellung im ökologischen, ökonomischen und gesellschaft-
lichen Umfeld; vgl. dazu Steiner^ Top Management Planung, 1971. Neuerdings wird statt
dessen auch der Begriff „Unternehmenskultur" („corporate culture") verwendet; vgl.
Scholzy Personalmanagement, 3. Aufl. 1993, S. 488 ff. Heinen/Dill, in: Simon (Hrsg.), Her-
ausforderung Unternehmenskultur, 1990, S. 12 ff., 17, definieren diesen Begriff als
„Grundgesamtheit gemeinsamer Wert- und Normvorstellungen sowie geteilter Denk-
und Verhaltensmuster" für die Entscheidungen, Handlungen und sonstigen Aktivitäten
von Organisationsmitgliedern.
weder ihrer Verfassung, ihrer abstrakten Gesetze oder ihrer konkreten ho-
heitlichen Maßnahmen. Reicht diese Illegitimität aus, um strafbares
Systemunrecht zu begründen?
Jakobs hat die Frage verneint. Unrecht sei Rechtsverstoß, und Rechtsver-
stöße könnten nur dort vorkommen, wo Recht existiert - nicht nur auf dem
Papier, sondern auch in der staatlich gestalteten Realität. In einem Staat, der
kriminell pervertiert ist, existiere Recht bereichsweise nicht. Denn die staat-
lichen Gesetze hätten vor dem Forum einer überstaatlichen Gerechtigkeit
keinen Bestand; und der überstaatlichen Gerechtigkeit fehle es an einer Ver-
ankerung im Staatswillen. Ein staatlicher Geltungswille sei aber für Strafnor-
men - wegen des Grundsatzes „nullum crimen sine lege" - konsumtiv .
Jakobs3 Auffassung erscheint mir aus zwei Gründen unrichtig. Zum einen
halte ich es für unrichtig, die Geltung von Rechtsnormen an den staatlichen
Willen zu binden (etatistischer Rechtsbegriff). Da staatlicher Wille, selbst
unter den Machtverhältnissen einer Diktatur, keine normative Geltung be-
anspruchen kann, wenn er sich gegen elementare Rechtsgrundsätze stellt, ist
er keine hinreichende Voraussetzung für Recht. Umgekehrt ist er dort, wo
eine Gesellschaft sich Recht schaffen will, hierfür keine notwendige Voraus-
setzung. Vielmehr können sowohl Gruppen (z. B. als Tarifvertragsparteien)
als auch Individuen (z. B. als Vertragsparteien) Recht setzen, wenn sie es zur
Regelung ihrer Beziehungen brauchen. Darüber hinaus kann ein ganzes
Volk elementare Rechtsnormen anerkennen, die für das Verhalten aller gel-
ten sollen - auch wenn sie vorübergehend von der staatlichen Macht nicht
durchgesetzt werden. Das gilt selbst für Normen des Strafrechts; denn so-
weit sie Greueltaten verbieten, ist deren Sühne ein so elementares gesell-
schaftliches Bedürfnis, daß ein soziales System, sobald es sich von den Fes-
seln diktatorischer Herrschaft befreit hat, die hierfür Verantwortlichen nicht
einfach reaktionslos integriert, sondern von ihnen Sühne verlangt. „Ohne
Strafverfahren [bliebe] das Feld willkürlicher Vergeltung, Rache und Selbst-
justiz überlassen."84 Zum anderen halte ich es für unrichtig, den Grundsatz
„nuttum crimen sine lege scripta" aaiür zu bemühen, ddß ein rechcsim-
williger Staat sich strafrechtsfreie Räume erhalten kann. Soweit der Grund-
satz überhaupt rechtsstaatlich anerkannt ist (nicht also z. B. für Rechtferti-
83
Jakobs, G A 1^94, l, 9 ff.
84
/äger,KritV 1993, 259, 270.
85
Dazu Krey, Studien zum Gesetzesvorbehalt im Straf recht, 1977, S. 233 ff.-Jakobs, Allg.
Teil, 4/44.
86
Dazu Lampe, JuS 1989, 610, 613, m. w. N.
87
So schon Lampe (Anm. 63), S. 25 f.
88
Der Begriff wird heute überwiegend akzeptiert; vgl. etwa Ipsen, Völkerrecht, 3. Aufl.
1990, § 38 Rdn. l;Jescheck, Die Verantwortlichkeit der Staatsorgane nach Völkerstraf-
recht, 1952, S. l ff.; «fers., Allg. Teil, 4. Aufl. 1988, § 14. Ablehnend jedoch Oehler, In-
ternationales Strafrecht, 2. Aufl. 1983, S. 606.
89
Vgl. Schwarzenberger, in: Mueller/Wise, International Criminal Law, 1965, S. 3, 23
(„There is not yet any international penal law recognized by all nations.")-, Jescheck,
Festschrift fur Mauradr, f 972, 5. 579, 588 #.; Oebkr (Anm. SS)7 S. 607 ^ Jf>**>
(Anm. 88), § 38 Rdn. 32.
90
Sie sind normiert im Londoner Abkommen vom 8. 8. 1945, das die Bestrafung der
Hauptverantwortlichen für den 2. Weltkrieg regelt und aufgrund dessen der Kriegsver-
brecherprozeß vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg stattfand; dazu
Heydecker/Leeb, Der Nürnberger Prozeß, 1979.
91
Dazu Graven, in: Recueil des Cours 76 (1950), Bd. I, S. 433 ff.
92
Vgl. dazu die Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes vom
9. 12. 1949 (BGB1. 1954 II S. 730) und das Internationale Übereinkommen über die Be-
kämpfung und Ahndung des Verbrechens der Apartheid vom 30.11.1973 (United Na-
tions Juridical Yearbook 1973, S. 70).
93
Die derzeit geltende Fassung ist abgedruckt in: Report of the International Law
Commission on its 43rd Session, 29 April - 19 July 1991, A/46/10 (GAOR 46th Sess.,
Suppl. 10).
94
Schiinemanny Festschrift für Bruns, 1978, S. 233, 242. Vgl. auch oben bei Anm. 63.
95
Dazu Lampe (Anm. 63), S. 24 f.
96
Vgl. BGHSt. 39,1; übereinstimmend KG NJW 1991,2653; LG Berlin JZ 1992,691,692.
97
Grünwald, StV 1991, 31, 35 ff.; Polakiewicz, EuGRZ 1992,177; Rittstieg, DuR 91,404;
Renzikowski, NJ 1992, 152; Arnold/Kühl, JuS 1992, 991; Koggemann, DtZ 1993, 10;
Wolf, in: Lampe (Hrsg.), Die Verfolgung von Regierungskriminalität der DDR nach der
Wiedervereinigung, 1993, S. 67 ff. Weitere Nachweise sowie allgemein zum Meinungs-
stand Lackner, StGB, 20. Aufl. 1993, § 2 Rdn. 16; Dreher/Tröndle, vor § 3 Rdn 52.
98
BGHSt.31,202,207.
allein nicht aus. So wie die fahrlässige Handlung regelmäßig erst dann
strafbar ist, wenn sie zu einer konkreten Rechtsgutsverletzung oder -ge-
fährdung geführt hat, so erreicht auch der Fahrlässigkeitscharakter einer
Unternehmensphilosophie oder -organisation erst dann die Schwelle zur
Strafwürdigkeit und Strafbedürftigkeit, wenn aus dem Unternehmen her-
aus Handlungen vorgenommen wurden, in denen sich seine sozial uner-
trägliche Gefährlichkeit dokumentiert. Tatsächlich sehen daher nirgend-
wo geltende Gesetze Strafandrohungen bereits für den Betrieb eines Wirt-
schaftsunternehmens als solchen vor, ohne daß dessen hohe Gefährlich-
keit sich in rechtsgutsverletzenden oder -gefährdenden Handlungen doku-
mentiert haben müßte. Der kriminell pervertierte Staat schließlich er-
scheint mir zwar als strafwürdig, sobald er sich etabliert hat, jedoch nicht
als strafbedürftig, solange sich seine Funktionäre nicht kriminell betäti-
gen. Sanktionen werden im internationalen Bereich jedenfalls stets nur
aufgrund konkreter Menschenrechtsverletzungen oder friedensfeindlicher
Maßnahmen erwogen ; strafrechtlich verfolgt werden Einzelpersonen
nur, wenn sie völkerrechtlich geschützte Rechtsgüter tatsächlich verletzt
haben.
99
Dagegen finden sich schon vorher Hinweise auf das Bestehen eines völkerrechtswidri-
gen Zustands in Gerichtsentscheidungen oder „views" von Ausschüssen; vgl. etwa den
Fall Hendriks ./. Niederlande, views v. 27. 7. 1988, GAOR 43rd Sess., Suppl. No. 40
(A/43/40), S. 230 (238 Nr. 11).
ren getrennt bleiben? Man hat in einigen Fällen mit unterschiedlichen Be-
gründungen versucht, Abhilfe zu schaffen103.
Man hat zum einen die Fälle der sog. additiven Mittäterschaft gesondert
behandelt. Wenn bei einem Attentat zwanzig Verschwörer gleichzeitig auf
das Opfer schießen, ohne daß sich hinterher feststellen läßt, wer den tödli-
chen Schuß abgegeben hat, dann müsse jeder der Verschwörer auch ohne
Kausalitätsnachweis als Mittäter der Tötung bestraft werden . Doch gegen
eine solche Lösung spricht, daß nach den Grundsätzen unseres Prozeßrechts
(insbesondere „in dubio pro reo") für die individuelle Erfolgs Verantwortung
ein Verursachungsnachweis geführt werden muß. Wenn Mittäterschaft ein
Sonderfall von einzeltäterschaftlichem Verhalten ist, dann kommt man um
den Nachweis, daß das Verhalten eines Mittäters den tatbestandlichen Erfolg
mitverursacht hat, nicht herum .
Man hat zum anderen bei nachträglichem Beitritt zu einer bereits begon-
nenen Tat den Hinzutretenden auch für die vor seinem Beitritt begangenen
Akte verantwortlich gemacht (sukzessive Mittäterschaft). Wer aus dem von
anderen bereits aufgebrochenen Kiosk gemeinsam Waren entwendet, der er-
kläre sein Einverständnis mit dem verbrecherischen Gesamtplan, und dieses
Einverständnis habe „die Kraft, daß ihm auch das einheitliche Verbrechen als
solches strafrechtlich zugerechnet wird"106. Doch dagegen spricht, daß kein
Mittäter eine Handlungsherrschaft über bereits abgeschlossene Tatteile be-
gründen kann. Wenn Mittäterschaft ein Sonderfall einzeltäterschaftlichen
Verhaltens ist, dann kann sie Verantwortung nur für die Zukunft, nicht aber
dafür begründen, was im Zeitpunkt des vorgeworfenen Verhaltens bereits
der Vergangenheit angehört1 °7.
Aber Mittäterschaft ist eben kein Sonderfall von einzeltäterschaftlichem
Verhalten. Sie kann es nicht sein, weil der Anteil jedes Mittäters an der Tat
den gleichgerichteten Anteil aller anderen Mittäter ausschließt. Das hatte
schon Schröder erkannt, als er das Prinzip der Tatherrschaft für die Erklä-
rung mittäterschaftlicher Verantwortung verwarf: Tatherrschaft, sagte er, hat
103
Vgl. zum folgenden Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 5. Aufl. 1990, S. 648 ff.; ders.,
JA 1979, 519, 524; Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, 1977, S. 58; den., ZStW 99
(1987), S. 49, 55 ff.; Bloy (Anm. 18), S. 372 ff. Anders Stein, Die strafrechtliche Beteili-
gungsformenlehre, 1988, S. 327; Jakobs, Allg. Teil, 21/55.
104
Herzberg, Täterschaft und Teilnahme, S. 58; den., ZStW 99 (1987), S. 55 f.
105
So denn zuch Jakobs, Allg. Teil, 21/55.
106
BHGSt. 2, 344, 346.
107
In diesem Sinne Roxin, in: LK, § 25 Rdn. 195, m. w. N.
jeder Beteiligte nur über seinen Anteil an der Tat108. Wenn Roxin dem heute
entgegenhält, er habe doch immerhin Miherrschaft über die Gesamttat,
dann ist das zwar richtig, aber nur in dem negativen Sinn, daß jeder Mittäter
die Tat scheitern lassen kann, wenn er seinen Tatanteil nicht erbringt . Sol-
che bloß „negative" Tatherrschaft reicht aber als Erklärungsgrundlage für
die „positive" Zurechnung der Gesamttat nicht aus.
Daß Mittäter die volle Tatverantwortung tragen, läßt sich dagegen aus ih-
rer Mitherrschaft über das System rechtfertigen, das die Tat i. S. v. § 25 Abs. 2
StGB „begeht" und sie zur Tat aller Systemmitglieder macht - gleichgültig
welchen externen Anteil der einzelne leistet. Genauer noch ist den Mitglie-
dern des Systems Verantwortung entsprechend ihrer Stellung im System zu-
zuschreiben bzw., da das System funktional organisiert ist, entsprechend ih-
rem funktionalen Beitrag zum Unrecht des Systems. Man könnte daher mit
Roxin davon sprechen, daß die Mitglieder gemäß ihrer funktionalen Tatherr-
schaft strafrechtlich verantwortlich seien. Doch dadurch erweckte man den
Anschein, jeder Mittäter müsse „durch seinen Tatanteil gleichzeitig die Ge-
samttat beherrschen . Und genau das ist nicht der Fall - wie das von Ro-
xin gebrachte Beispiel beweist, daß die Tat auch ohne den als Wachtposten
aufgestellten Mittäter gelungen wäre. Vielmehr ist „allein [!] entscheidend,
ob von der Planung her der Aufpasser eine sachlich bedeutende Funktion
ausübte, so daß es auf sein »Funktionieren* ggf. hätte ankommen kön-
nen . Statt von der funktionalen Tatherrschaft ist die Verantwortung von
Mittätern vielmehr von ihrer funktionalen Systemherrschaft abhängig.
Unabhängig dagegen ist die Verantwortung der Mittäter von einer Zu-
rechnung fremder Tatbeiträge. Eine solche Zurechnung muß schon am straf-
rechtlichen Grundsatz der Eigenverantwortlichkeit scheitern, wonach jeder
nur für das verantwortlich ist, was er selbst verbrochen hat (vgl. § 29 StGB).
Lediglich mittelbar kommt es dennoch zur Zurechnung: Weil der (funktio-
108
Schönke/Schröder, StGB, 18. Aufl. 1976, vor § 25 Rdn. 66; übereinstimmend Küper, JZ
1979, 775,786; Stratenwerth, Allg. Teil, 3. Aufl. 1981, Rdn. 807 („Keiner der Beteiligten
übt die Herrschaft über die Tat als ganze aus. Die Tatherrschaft liegt vielmehr in den
Händen des »Kollektivs* als solchem.").
109
Roxin, in: LK, §25 Rdn. 157. Eine allein auf der Kausalität für den Erfolg beruhende
Tatherrschaft hätte im übrigen jeder Beteiligte, also auch der Gehilfe, der in untergeord-
neter Systemposition am Tatgelingen mitwirkt.
110
Roxin, Täterschaft und Tatherrschaft, 5. Aufl. 1990, S. 275 ff.; den., in: LK, §25
Rdn. 154. Vgl. dazu Küper (Anm. 108), S. 786.
111
So mit Recht Roxin, in: LK, § 25 Rdn. 154.
112
Anders steht es beim Exzeß eines Mittäters. Dieser kann den übrigen Beteiligten nicht
einmal mittelbar zugerechnet werden - es sei denn, daß er von der Zielsetzung des Sy-
stems oder von der Organisation der einzelnen Beiträge her voraussehbar war und somit
eine Fahrlässigkeitshaftung begründet.
113
Es ist allerdings zu beachten, daß Rechtsordnungen mit weniger individualisierter Ver-
antwortung der Systemeinbindung einen höheren Stellenwert zuweisen können. Dar-
über hinaus mag eine extreme Unterordnung unter die Macht eines Systems auch inner-
halb unserer Kulturordnung vorkommen und dann zum Zurücktreten der Eigenverant-
wortung führen - so etwa bei Mitgliedern gewisser religiöser Sekten, die von ihren an-
geblich begnadeten Führern zu Straftaten verleitet werden.
114
Zum folgenden Roxin, G A 1963,193 ff.
115
&m>z,GA1963,S. 197.
116
7tocm,GA1963,S.201.
117
Äcm>z,GA1963,S.203.
Fortsetzung der Tat verhindern. Gegenüber dem Befehl des übermächtigen Kollek-
tivs wird das Opfer sinnlos. Hier ist das Verbrechen nicht die Tat der Einzelperson;
es ist der Staat selbst der Täter."
Kann der Machtapparat selbst Täter sein, dann fragt es sich, ob er auch
selbst verantwortlich sein kann: Kann ein Unrechtssystem strafrechtlich
zur Rechenschaft gezogen werden? Eine Verneinung der Frage finden
wir, mit knapper Zusammenfassung der Gründe, bei Jescheck . An die
Spitze seiner Begründung stellt er ein positivistisches Argument: „Das gel-
tende deutsche Recht kennt keine Strafbarkeit von juristischen Personen
und Personenvereinigungen." Der positive Rechtszustand erscheint ihm
darüber hinaus aus zwei metajuristischen Gründen richtig: Zum einen
müsse die Strafe an eine Handlung anknüpfen; juristische Personen und
Personenvereinigungen aber seien handlungsunfähig (ontologisches Argu-
ment). Zum anderen setze die in der Strafe liegende sozialethische Mißbil-
ligung die Fähigkeit zu persönlicher Verantwortung voraus; juristische
Personen oder Personenvereinigungen aber besäßen diese Fähigkeit nicht
(ethisches Argument).
Jeschecks Argument de lege lata ist zweifellos richtig: Das geltende deut-
sche Strafrecht steht in der kontinentaleuropäischen Tradition des Satzes
„societas delinquere non potest" und kennt folglich keine Strafbarkeit juri-
stischer Personen. Die in § 30 OWiG angedrohte Geldbuße ist allerdings ein
erster Schritt dahin.
Jeschecks Argumente de lege ferenda legitimieren jedoch das Ergebnis
de lege lata nicht.
Das ontologische Argument fehlender Handlungsfähigkeit enthält eine
petitio principii: Nur eine Strafe, die Fehlverhalten treffen oder ihm vorbeu-
gen soll, setzt Handlungsfähigkeit voraus. Doch soll Strafe stets Fehlverhal-
ten treffen oder ihm vorbeugen? Das würde zunächst voraussetzen, daß der
Grund für Strafe allein im Handlungsunrecht liegen kann. Die vorstehend
untersuchten Typen des Systemunrechts haben aber gezeigt, daß es außer
dem Handlungsunrecht noch anderes strafwürdjges Unrecht gJbt Daß aie-
ses Unrecht gegenüber dem Verhaltensunrecht andersartig ist, darf im Ver-
118
Jescheck, Allg. Teil, § 23 V 1; dort auch Hinweise auf den Stand der internationalen Dis-
kussion.
119
Dieses Argument machen sich u. a. Cramer, in: Schönke/Schröder, vor § 25 Rdn. 113;
Roxin, Allg. Teil, Bd. I, 1992, S. 154; Schmitt, Strafrechtliche Maßnahmen gegen Ver-
bände, 1958, S. 181 ff., zu eigen.
120
Das geschieht, wenn die strafrechtliche Verantwortlichkeit von Sozialgebilden immer
wieder auf das Argument gestützt wird, sie könnten mittels ihrer Organe nach außen
handelnd tätig werden und seien daher auch selbst mittelbar handlungsfähig; so z. B.
Hirsch, Die Frage der Straffähigkeit von Personenverbänden, 1993, S. 9 ff.; Otto
(Anm. 39), S. 15; Brender, Die Neuregelung der Verbandstäterschaft im Ordnungswid-
rigkeitenrecht, 1989, S. 54 ff. Für die Strafbarkeit der Mitglieder einer kriminellen Ver-
einigung beispielsweise sind außenwirksame Handlungen nicht der ausschlaggebende
Grund; ihre Handlungen können auch in - für sich gesehen - rechtlich neutralen inter-
nen Tätigkeiten, z. B. in der Ausärbehung von Rechtferiigungsschjrihen oder von Stra-
tegiepapieren, bestehen; vgl. BVerfGE 56,22,33 f.; BGHSt. 29,114,116; OLG Karlsru-
he NJW 1977, 2222, 2223; Fleischer, NJW 1979, 1337, 1338; Lenckner, in: Schönke/
Schröder, § 129 Rdn. 13. Unrechts- und verantwortungsbegründend für sie ist, daß sie
den organisatorischen Zusammenhalt der Vereinigung und ihre Ausrichtung an krimi-
nellen Zielen stärken, mit anderen Worten: Systemunrecht perpetuieren.
121
Zum Begriff des Charakters und zu unserer moralischen Verantwortung für den als
„sittliche Eigenart" begriffenen Charakter vgl. Lampe, in: Fehige/Meggle (Hrsg.), Zum
moralischen Denken, 1994, Bd. I, S. 89, 91 ff.
122
Übereinstimmend Hirsch (Anm. 120), S. 17 f.; Ehrhardt, Unternehmensdelinquenz
und Unternehmensstrafe, 1993, S. 204 f., 156 ff.
123
Ein solches Gebilde mag zwar als juristische „Person" eine Fiktion sein („Fiktionstheo-
rie"), nicht aber ist sie es als soziales System („Theorie der realen Verbandsperson"). Die
amtliche Begründung zu § 19 OWiG, die juristische Person sei „als fiktives Wesen einer
sozialethischen Mißbilligung nicht zugänglich" (BT-Drucks. V/1269 S. 58), enthält da-
her eine petitio principii.
124
Auf die Problematik dieser Unterscheidung kann ich hier nicht eingehen. Zur Klärung
hebe ich immerhin hervor: „Individualethik" bezieht ethische Forderungen auf den ein-
zelnen Menschen. Sie nimmt ihn dabei allerdings nicht aus seiner Rolle als soziales In-
dividuum heraus, um ihn in eine Welt voneinander isolierter Monaden zu versetzen. In-
dividualethik ist vielmehr regelmäßig auch Sozialethik. „Sozialethik" umgekehrt be-
zieht ethische Forderungen auf alle Teilnehmer am sozialen Leben. Dabei stößt sie zum
einen auf den einzelnen Menschen, zum anderen auf die sozialen Institutionen. Soweit
sie den einzelnen Menschen in den Blick bekommt, Jsr sie stets jMf.b Individuakthik. Al-
lerdings betrachtet sie den einzelnen nur in seiner Rolle als „Mitmensch", d. h. innerhalb
seiner (institutionell geordneten!) Beziehungen zu anderen. Sie ist mithin eine Ethik nur
seiner sozialen Beziehungen, nicht auch (wie die Individualethik) eine Ethik seines Ver-
hältnisses zu sich selbst oder (wie die religiöse Ethik) zu transzendenten Mächten. Da-
gegen ist sie, soweit sie soziale Institutionen in den Blick bekommt, nur Sozialethik. Sie
ist dies allerdings mit der Besonderheit, daß sie die Institutionen ausschließlich in ihrer
auf den Menschen bezogenen Verpflichtungskraft begreift: Alle Institutionen sollen, so
fordert sie, so ausgestaltet werden, daß sie ihren Zweck für das - als oberster ethischer
Richtpunkt geltende - gemeine Wohl des Menschen erfüllen können. Vgl. dazu auch
Alwart9 ZStW 105 (1993), S. 752, 764.
ist, dann kann es auch eine sozialethische Mißbilligung geben, wenn sie ihrer
Verantwortung nicht nachkommen. Und die sozialethische Mißbilligung
kann überdies, wenn die sonstigen Voraussetzungen erfüllt sind, in einer so-
zialethisch verstandenen Strafe zum Ausdruck kommen. Daß die Strafe dem
sozialen System nicht nach Maßgabe einer persönlichen, sondern ausschließ-
lich seiner sozialen Schuld zugemessen werden kann, ist dann ebenso richtig
wie letztlich für das Ob der Bestrafung bedeutungslos. Lediglich deren Wie
hängt davon ab.
125
Ausnahmen bilden solche Vereinigungen, die ihren kriminellen Zweck anfangs ver-
schleiert oder ihren ursprünglich rechtmäßigen Zweck kriminell abgeändert haben.
126
BGHSt. 27, 325, 327; BGH NJW 1954,1254; Rudolphi, in: SK StGB, § 129 Rdn. 14.
127
BGHSt. 29,114,122 f.
128
Rudolphi, in: SK StGB, § 129 Rdn. 16.
129
Rudolphi, in: SK StGB, § 129 Rdn. 18.
wohl der organisatorische Zweck oder die Tätigkeit der Vereinigung auf die
Begehung solcher Straftaten gerichtet ist, sieht die allgemeine Meinung kei-
nen Anlaß, die Systemverantwortung hinter die Handlungsverantwortung
zurücktreten zu lassen. Das ist um so erstaunlicher, als im Hinblick auf die
Bestrafung von Wirtschaftsverbänden wiederholt der Einwand vorgebracht
wurde, daß der schuldige Individualtäter doppelt, nämlich sowohl mit der
gegen ihn als auch anteilig mit der gegen den Verband ausgesprochenen Stra-
fe, bestraft werde . Den an einer kriminellen Vereinigung Beteiligten, so
ließe sich entsprechend einwenden, treffe ebenfalls doppelte Strafe: sowohl
wegen seiner Straftat als auch deshalb, weil er sie der kriminellen Organisa-
tion vorher zugesagt hatte. Dennoch ist für eine Konsumtion der Systemver-
antwortung durch die Handlungsverantwortung (und vice versa) kein
Raum; denn das Unrecht der systemischen Existenz liegt in der dauernden
Bedrohung des Rechtsfriedens der Gemeinschaft, das der individualen
Handlung aber in der Rechts guts Verletzung oder -gefährdung. Beides kann
und muß kumulativ verantwortet werden.
Es bleibt lediglich die Frage, ob zwischen der Mitgliedschaft in einer kri-
minellen Vereinigung und den als Mitglied begangenen Straftaten Tateinheit
oder Tatmehrheit besteht. Die herrschende Meinung bejaht TatemÄefi131.
Ihr wird entgegengehalten, daß nunmehr alle mitgliedschaftlich begangenen
Handlungen tateinheitlich verschmelzen müßten - mit den entsprechenden
strafprozessualen Folgen. Diesen Folgen entgeht sie jedoch, indem sie den
Grundsatz, eine sachlich-rechtlich einheitliche Handlung sei stets auch eine
prozessual einheitliche Straftat, für § 129 StGB aufgibt. Zur Begründung
führt der Bundesgerichtshof an, daß § 129 StGB mit anderen Dauerstrafta-
ten nicht vergleichbar sei, weil er als „Organisationsdelikt" über Jahre hin-
weg ganz verschiedenartige Verhaltensweisen gesetzlich zu einer rechtlichen
Handlungseinheit zusammenfasse . Das ist richtig, weil das Organisati-
onsdelikt eine andere Unrechtsnatur hat als die Dauerstraftat: Es basiert
nicht auf Handlungen individualer Menschen, sondern auf der Existenz ei-
ncs sozialen Systems. Grundsätze für Dauerstrafteten können deshalb auf
das Organisationsdelikt weder unmittelbar noch mittelbar angewandt wer-
den.
130
Engisch, in: Verhandlungen des 40. DJT 1953, Bd. II (Sitzungsberichte), S. E 7,36; Hei-
nitz, in: Verhandlungen des 40. DJT 1953, Bd. I (Gutachten), S. 65, 90.
131
So vor allem BGHSt. 29,288,290; BGH NJW 1980,2029,2030; BGH bei Holtz, MDR
1980, 988; BGH NStZ 1982, 517, 518. Aus der Literatur Rieß> NStZ 1981, 74; Kranth,
Festschrift für Kleinknecht, 1985, S. 219; Kröpil, DRiZ 1986,448, 449.
132
BGHSt. 29, 288, 294.
133
Die genauere Umgrenzung der Straftaten wird einesteils Branchen-, andernteils unter-
nehmensspezifisch zu erfolgen haben, wobei der Vergleich mit branchengleichen Un-
ternehmen die pathologischen Abweichungen am ehesten hervortreten läßt; vgl. dazu
Volk, JZ 1993, 429,432 f., m. w. N.
134
BVerfGE 20, 323, 335 f.
Im konkreten Fall verneinte das Bundesverfassungsgericht die Zurechenbarkeit der
Handlungen einer „Betreuungsfirma** an die juristische Person - daher wohl die große
Sorglosigkeit seiner Begründung.
136
Tiedemann, NJW 1988,1169,1172.
gen stellen sich nach seiner Meinung nicht; denn den Verband treffe ein eigenes
„Organisationsverschulden". Wörtlich schreibt er: „Die Individualtaten (Anknüp-
fungstaten) werden deshalb und insoweit als Verbandsdelikte angesehen, weil und
soweit der Verband - durch seine Organe oder Vertreter - Vorsorgemaßnahmen zu
treffen unterlassen hat, die erforderlich sind, um einen ordentlichen, nicht delikti-
schen Geschäftsbetrieb zu gewährleisten."
Kritik: Ob § 30 OWiG die positiv-rechtliche Entscheidung enthält, einer juristi-
schen Person das Handeln ihrer Organe als „eigenes" zuzurechnen, kann dahinste-
hen. Denn zumindest ist die Tatsache einer gesetzlichen Regelung noch kein hinrei-
chender Grund für deren Richtigkeit. Neu ist indessen Tiedemanns Gedanke eines
„Organisationsverschuldens". Daß er zu eng ist, weil er lediglich die fehlerhafte
Umsetzung unternehmenspolitischer Entscheidungen betrifft, nicht die fehlerhafte
Unternehmenspolitik selbst, stört nur in zweiter Linie. Wesentlicher ist seine Un-
klarheit: ob er das persönliche Verschulden der „Organe oder Vertreter" meint, also
etwa das Verschulden des Geschäftsführers einer GmbH, oder das Verschulden des
Unternehmens selbst. Sollte persönliches Verschulden gemeint sein, bleibt nach wie
vor zu fragen, warum es der juristischen Person zugerechnet werden und zu deren
Strafbarkeit führen kann. Die Antwort erscheint mir schwierig, weil schon nach
Bürgerlichem Recht zwar eine Person für die Schuld der anderen haften, nicht aber
die Schuld der anderen schulden kann. Erst recht muß das für die stärker sittlich ge-
prägte Schuld des Straf rechts gelten (vgl. § 29 StGB). Versteht Tiedemann unter
„Organisationsverschulden" dagegen ein Eigenverschulden des Unternehmens,
bleibt nach dessen Entstehungsgrund zu fragen. Zwar kann Tiedemann insoweit auf
einen Verstoß gegen Pflichten hinweisen, die das Unternehmen als solches treffen,
mit anderen Worten auf ein Organisations „unrecht". Doch worin darüber hinaus
die „Schuld" des Unternehmens besteht, bleibt im dunkeln. Gibt es eine eigene
Schuld ohne eigene Handlungsfähigkeit? Hinzu kommt, wie erwähnt, daß nicht nur
organisatorische Mängel die Begehung von Straftaten veranlassen oder begünstigen
können, sondern auch Mängel in der Unternehmens „philosophic", wenn deren
Zentrum z. B. die Gewinnmaximierung auch auf Kosten der ökologischen oder so-
zialen Umwelt ist. Insoweit kann die Frage nach der Verantwortung nicht mit dem
Hinweis auf ein „Organisationsverschulden" beantwortet werden.
Wenig Neues bringt die derzeit umfassendste Untersuchung des Problemkreises
von Schroth . Sie geht von der allgemein üblichen Straftatdefinition aus als tatbe-
standsmäßiger, rechtswidriger und schuldhafter Handlung138 und prüft auf ihrer
Grundlage die Handlungs- und Schuldfähigkeit der juristischen Person. Sie ver-
neint sie als „natürliche" Handlungsfähigkeit139. Doch reiche eine solche Vernei-
nung nicht aus, um dem Unternehmen strafrechtliche Handlungsfähigkeit abzu-
sprecnen. Diese umfasse nämlich auch cfie abge/eitete HanctfungsfaTrigjkeft , d. h.
die Fähigkeit, Handlungen von Vertretern und sonstigen handlungsberechtigten
Personen als „eigene" zugerechnet zu erhalten . Solche zugerechneten Unterneh-
menshandlungen bildeten „einen neuen Handlungstypus als Gegenstück zur Indi-
1137
Schroth (Anm. 58), insbes. S. 173 ff.
1138
Schroth (Anm. 58), S. 173.
1139
Schroth (Anm. 58), S. 178 f.
1M0
Schroth (Anm. 58), S. 184.
1141
Schroth (Anm. 5S\ S. 188.
vidualhandlung"14 . Auf dieser Basis sei auch die „eigene" Schuld der Unterneh-
men zu bejahen, „die sich jedoch auf Grund der Organisationsstruktur von Unter-
nehmen nur im schuldhaften Verhalten der für die Unternehmen verantwortlich
handelnden natürlichen Personen äußern" könne14^ und somit ebenfalls durch Zu-
rechnung entstehe144.
Kritik: Die Beweisführung Schroths besteht aus zwei Zirkelschlüssen145: Das Un-
ternehmen ist rechtlich handlungsfähig, weil ihm Handlungen seiner Funktionä-
re rechtlich als eigene zugerechnet werden können; und es ist schuldfähig, weil glei-
ches auf der Schuldebene möglich ist. Wodurch solche Zurechnungen begründet
werden und wieso sie zu eigenen Handlungen und eigener Schuld juristischer Per-
sonen führen, bleibt unklar. M. E. können Handlungen niemals allein durch Zu-
rechnung von Handlungen begründet werden, weil sonst der Handlungsbegriff un-
eindeutig wird146. Handlungen setzen vielmehr als ontisches Substrat eigene Hand-
lungsfähigkeit voraus. Und eigene Schuld kann ebenfalls niemals durch Zurech-
nung fremder Schuld entstehen, weil Schuld „Zurechenbarkeit" bedeutet und somit
als sittliches Substrat eigene Schuldfähigkeit voraussetzt . Unternehmensschuld
ist somit entweder Zurechnung eigenen fehlerhaften unternehmerischen „Geprä-
ges" (entsprechend der „Charakterschuld" beim Individuum) oder aber die Zurech-
nung eigenen fehlerhaften unternehmerischen Handelns - was dann freilich Hand-
lungsfähigkeit voraussetzt. Zwischen diesen Alternativen gilt es zu wählen; ein
Drittes gibt es nicht.
Schünemann*^ geht davon aus, daß es im Strafrecht keine Gleichstellung von na-
türlichen und juristischen Personen geben kann, weil zwar „Ahndungsmaßnahmen
gegenüber natürlichen Personen vom Schuldprinzip her legitimiert werden kön-
nen", dies aber bei juristischen Personen „von vornherein nicht möglich" sei149.
Deshalb sucht er nach einer anderen Legitimationsbasis für die strafrechtliche Inan-
spruchnahme juristischer Personen. Er findet sie teils im Rechtsgüternotstand: Die-
ser bestehe dann, wenn ein Organisationsmangel im Betrieb zum Beweisnotstand
für die Staatsanwaltschaft führt, indem er die Begehung einer Straftat alternativ
durch mehrere Personen ermöglicht oder erleichtert oder nach der Tat die Verfol-
gung des individuellen Täters vereitelt oder wesentlich erschwert150. Er findet sie
zum anderen in der zivilrechtlich anerkannten Veranlassungshaftung für Unterneh-
menstätigkeit . Der Rechtsgüternotstand rechtfertige eine Unternehmenssank-
tion, „wenn die Erhaltung der gefährdeten Rechtsgüter schwerer wiegt als die dem
142
Schroth (Anm. 58), S. 190.
143
Srbratb (Anm. 5* S 203.
144
Schroth (Anm. 58), S. 204.
145
So auch die Kritik von Otto (Anm. 39), S. 19 f.
146
Vgl. Engisch (Anm. 130), S. E 24: Die Zurechnung einer Handlung sei etwas anderes als
die Handlung selbst.
147
Vgl. Arthur Kaufmann, Das Schuldprinzip, 2. Aufl. 1976, S. 174 ff.
148
Schünemann (Anm. 53), S. 232 ff.
149
Schünemann (Anm. 53), S. 235.
150
Vgl. genauer noch Schünemann (Anm. 53), S. 237 ff.; ders., in: Schünemann/Tiedemann
(Hrsg.), Bausteine eines europäischen Wirtschaftsstrafrechts, 1993, III 5c.
151
Schünemann (Anm. 150), III 5a.
152
Scbiinemann (Anm. 53), S. 236 f., mit dem Zusatz, daß eine derartige Verfolgung des
höherrangigen auf Kosten des geringerwertigen Interesses nicht gegen sonstige rechts-
ethische Prinzipien verstoßen darf.
153
Schünemann (Anm. 53), S. 241.
154
SchUnemann, wistra 1982, 40, 44 f.
155
Dazu Lampe (Anm. 67), S. 253 ff.
156
Art. 17 ff. VO Nr. 11 des Rates der EG vom 27. 6.1960; Art. 15 VO Nr. l/des Rates der
EG vom 6. 2.1962 (Kartell-VO). Dazu näher Schroth (Anm. 58), S. 136 f. mit Fn. 23. Zu
Strafsanktionen i. e. S. hat sich auch das EU-Recht nicht entschließen können.
157
Vgl. auch Ehrhardt (Anm. 122), S. 205 ff., 247 ff. Entgegen Stratenwerth, Festschrift für
Schmitt, 1992, S. 295, 298, beinhaltet diese Haftung kein Mehr an Zufälligkeit als die
Haftung für Unrechtserfolge generell.
158
Ausführlich dazu Lampe (Anm. 67), S. 238 ff.
ters. Gleiches gilt für die Unternehmensschuld: Sie ist die Folge eines
schlechten Unternehmenscharakters. Und wie niemand sich mit der Be-
hauptung entlasten kann, daß er für seinen schlechten Charakter nichts kön-
ne, ist dies auch dem Unternehmen verwehrt: Daß es dieses schlechte Ma-
nagement (und daher diesen Unrechtscharakter) hat, dafür muß es ohne Ent-
lastungsmöglichkeit einstehen.
Geschuldet wird primär die dem Unrecht entsprechende Sühne. Im Un-
ternehmensstrafrecht besteht sie folglich in sozialethisch relevanten Leistun-
gen, etwa in der Zahlung einer Geldstrafe oder in einer anderen Ausgleichs-
leistung (z. B. im Ausrichten der Unternehmensorganisation an gemein-
wohlorientierten Zielen, in der Entlassung rechtsuntreuer Organe). Die
Sühne muß präventiv erforderlich sein. Im Unternehmensstrafrecht ist sie es,
wenn der Betrieb in der Vergangenheit schwere Rechtsgutsverletzungen zur
Folge gehabt hat, die auf einer (betriebsinduzierten) fehlerhaften Einstellung
seiner Mitarbeiter zur sozialen Verantwortung beruhten, und wenn anders
als durch die Auferlegung der Sühne eine Revision dieser Einstellung nicht
zu erwarten ist.
Neben dem Wirtschaftsunternehmen muß die strafrechtliche Verantwor-
tung diejenigen Unternehmensangehörigen treffen, deren Wirken die Un-
ternehmensphilosophie insgesamt oder einzelne Unternehmens „attitüden"
kriminell geprägt hat. Ihre Feststellung wird schwierig sein, weil die Philo-
sophie eines Unternehmens in der Regel nicht identisch ist mit der seiner
Manager. Sie ist vielmehr der überindividuelle Geist („corporate culture"),
der das Unternehmen beherrscht und der sich seiner Mitarbeiter, von den
unteren Ebenen bis hinauf in die Leitungsebene, oft mehr bemächtigt, als
daß er von ihnen gemacht würde - zumal wenn er nicht nur das Unterneh-
men selbst, sondern auch die ganze Branche (z. B. Baubranche) durchzieht
und kriminell ansteckend wirkt („Sogwirkung")159. Verantwortlich, sollte
man daher lieber sagen, sind diejenigen Unternehmensangehörigen, die kraft
ihrer Stellung im Unternehmen aufgerufen waren, den Geist des Unterneh-
mens zu prägen und ihn - insgesamt oder in einzelnen Bereichen - notfaffs
gegen Widerstände durchzusetzen bzw. vor krimineller Infiltration zu be-
wahren („Garantenhaftung"). Das können einzelne sein, z. B. wer (wie es in
§ 14 StGB heißt) „als vertretungsberechtigtes Organ einer juristischen Per-
son oder als Mitglied eines solchen Organs, als vertretungsberechtigter Ge-
159
Dazu auch Busch, Grundfragen der strafrechtlichen Verantwortlichkeit der Verbände,
1933, S. 165,185.
160
Vgl. BGHSt. 37,106,129 f. Die Möglichkeit fahrlässiger Mittäterschaft ist deshalb auch
innerhalb verfaßter Systeme relevant; vgl. Otto (Anm. 39), S. 13. Zur „collective-
knowledge"-Doktrin in den USA vgl. Ehrhardt (Anm. 122), S. 244. Zur Anwendbarkeit
von § 14 StGB auf Unternehmensmitglieder vgl. oben Anm. 2.
169
Art. 19 des Konventionsentwurfs der ILC über die Staatenverantwortlichkeit - Erster
Teil - (YILC 1980II2, S. 30 ff.) lautet: „l. An act of a State which constitutes a breach of
an international obligation is an internationally wrongful act, regardless of the subject-
matter of the obligation breached. 2. An internationally wrongful act which results from
the breach by a State of an international obligation so essential for the protection of fun-
damental interests of the international community that its breach is recognized as a
crime by that community as a whole constitutes an international crime. 3. Subject to pa-
ragraph 2, and on the basis of the rules of international law in force, an international
crime may result, inter alia, from: (a) a serious breach of an international obligation of
essential importance for the maintenance of the international peace and security, such as
that prohibiting aggression; (b) a serious breach of an international obligation of essen-
tial importance for safeguarding the right of selfdetermination of peoples, such as that
prohibiting the establishment or maintenance by force of colonial domination; (c) a se-
rious breach on a widespread scale of an international obligation of essential importance
for safeguarding the human being, such as those prohibiting slavery, genocide and apart-
heid; (d) a serious breach of an international obligation of essential importance for the
safeguarding and preservation of the human environment, such as those prohibiting
massive pollution of the atmosphere or the seas. 4. Any internationally wrongful act
which rst not an international crime rn accordance wiih paragraph 2 constitutes an //Tier-
national delict."
170
GAOR 21st Sess., Suppl. No. 16 (A/6316), S. 52 ff.
171
Nachweise bei Traßl, Die Wiedergutmachung von Menschenrechtsverletzungen im
Völkerrecht, 1994, S. 42 ff.
172
EGMR, Fall Eckle, Urt. v. 25. 7.1982, ECHR Ser. A, Vol. 51, No. 66.
173
IAGHMR, Fall Velasquez Rodriguez, EuGRZ 1989, 157, 171 (Nr. 166): Aus der Ver-
pflichtung zur Sicherung der Menschenrechte nach Art. l der Amerikanischen Men-
schenrechtskonvention folge, „daß der Staat jede Verletzung der in der Konvention
anerkannten Rechte verhindern, untersuchen und bestrafen muß und darüber hinaus,
wenn möglich, versuchen muß, das verletzte Recht wiederherzustellen, und die erfor-
derliche Entschädigung für Schäden, die aus der Verletzung herrühren, zur Verfügung
stellen muß".
174
Jedenfalls in Deutschland. Über die US-amerikanische Diskussion berichtet Volk, JZ
1993, 431 f.
175
So aber Becker, Festschrift für Garcon Valdes, 1992, S. 17, 28. Gegen die „weitgehende
Ausblendung von Staats- und Völkerrechtsverbrechen aus der Kriminologie" eindring-
r, StV 1988,172 ff.
179
All das sind Überlegungen, die bereits frühneuzeitlichem Rechtsdenken geläufig waren
und damals von der Rechtspraxis berücksichtigt wurden - obgleich oft nur ungenügend;
vgl. von Gierke (Anm. 163), S. 743 f.
180
Vgl. dzzujescheck, GA 1981, 49, 51 ff.
sine lege" gefeit. Deshalb brauchen sie sich in der Regel nur zu verantworten,
wenn sie Strafnormen des überstaatlichen Rechts - des Naturrechts oder des
Völkerrechts - übertreten haben.
Innerstaatliche Strafrechtsnormen werden Handlungen von Staatsfunk-
tionären lediglich ausnahmsweise verletzen. Das deutsche Recht kennt der-
zeit hauptsächlich zwei Tatbestände, deren Verwirklichung staatlicher Ziel-
setzung entspringen kann: die Vorbereitung eines Angriffskriegs (§ 80 StGB)
und den Völkermord (§ 220a StGB). Das Völkerrecht wird demnächst mög-
licherweise den Straftatbestand der Menschenrechtsverletzung hinzufü-
gen186. Das Naturrecht schließlich begründet nach hier vertretener Auffas-
sung autochthone Strafsanktionen nur bei der Verletzung elementarer Werte
des menschlichen Gemeinschaftslebens, die anders als durch Strafen nicht
geschützt werden können187. Der Normenbestand ist also insgesamt dünn.
Innerhalb dieses Normenbestandes ist grundsätzlich jedermann für Ver-
brechen verantwortlich - sowohl nach inländischem Recht (§§ 80, 220a
StGB) als auch nach Völkerrecht188 und nach Naturrecht. Staatliche Funk-
tionäre insbesondere werden durch ihre Immunität nicht von der Verfol-
gung ausgenommen189.
Wenig geklärt ist, wofür die staatlichen Funktionäre Rechenschaft schul-
den: ob (kraft Garantenstellung) für die vom Staat ausgehende Verletzung
des Völkerrechts bzw. des Naturrechts oder für ihr individuelles Fehlverhal-
186
Art. 21 des Draft Code von 1991 formuliert ihn wie folgt:
„Systematic or mass violations of human rights
An individual who commits or orders the commission of any of the following viol-
ations of human rights:
- murder
- torture
- establishment or maintaining over persons a status of slavery, servitude or forced
labour
- persecution on social, political, racial, religious or cultural grounds
in a systematic manner or a mass scale, or
— deportation or forcible transfer of population
shall, on conviction thereof, be sentenced ..."
187
Vgl. dazu oben II 2c.
188
Ipsen (Anm. 88), S. 488 f. Gelegentlich werden allerdings Bedenken geäußert, ob staat-
liches Unrecht in ein solches der Regierungsmitglieder umgewandelt werden darf und
ob eine Bestrafung nicht vorheriger Transformation in das nationale Recht bedarf; vgl.
etwa Gornig (Anm. 184), S. 13. Zum internationalen Streitstand vgl. Triffterery ZfRV
1989,83, 118, m. w. N.
189
So hieß es bereits in Art. 7 der Statuten für Nürnberg, daß die amtliche Stellung eines
Angeklagten seine Verurteilung nicht hindere. Ebenso heißt es jetzt in Art. 13 des Draft
Code: „The official position of an individual who commits a crime against the peace and
ten. M. E. trifft sie die Verantwortung für beides: für das Systemunrecht, an
dem sie kraft ihrer Stellung im Machtapparat teilhatten, und für ihr persön-
liches Handlungsunrecht. Das entspricht den schon bei der kriminellen Ver-
einigung und beim kriminell anfälligen Wirtschaftsunternehmen herausgear-
beiteten Grundsätzen. Diese Grundsätze verdienen auch im Völkerstraf-
recht und im Naturrecht Anerkennung.
Was die Verteilung der Verantwortung anbelangt, sieht die schon oben
dargestellte Lehre von Roxin die unmittelbar Handelnden als unmittelba-
re, die Hintermänner als mittelbare Täter kraft Beherrschung eines organi-
satorischen Apparates an. Die Untergebenen trifft nach dieser Lehre die
volle strafrechtliche Verantwortung also auch für ein Handeln auf Befehl
- es sei denn „a moral choice was in fact not possible to the perpetrator"
(Art. 11 Draft Code)190. Willfährigkeit gegenüber einem totalitären Re-
gime entlastet sie nur in Notstandsfällen; die Staschynskij-Entscheidung
des Bundesgerichtshofs (vgl. oben S. 689) erscheint daher als unrichtig.
Die Lehre Roxins ist m. E. auch der konkurrierend vertretenen (aber zu
gleichen Ergebnissen führenden) Lehre, daß alle Beteiligten Mittäter sei-
en191, vorzuziehen192. Denn dem hierarchischen Aufbau totalitärer Un-
rechtssysteme entspricht die Rechtsfigur eines „Täters hinter dem Täter"
besser.
security of mankind, and particularly the fact that he acts as head of State or Govern-
ment, does not relieve him of criminal responsibility. * Die Geftung (fieser Norm sol)
zwar auf die im Draft Code selbst geregelten Tatbestände beschränkt sein; sie gibt aber
darüber hinaus der allgemeinen Tendenz Ausdruck, für schwerste internationale Ver-
brechen eine auch persönliche Verantwortung zu begründen. Vgl. dazu im einzelnen
Triffterer (Anm. 176), S. 143 L'Jescheck, Verantwortlichkeit (Anm. 88), S. 8 f.; Hoff-
mann, Strafrechtliche Verantwortung im Völkerstrafrecht. Zum gegenwärtigen Stand
des völkerrechtlichen Straf rechts, 1962, S. 22 f., 33 ff.; Gornig, NJ 1992,13 f.
190
Zu Einzelheiten vgl. Triffterer (Anm. 177), S. 148, m. w. N.
191
Sojescheck, Allg. Teil, § 62 II 8; Samson, in: SK StGB, § 25 Rdn. 16'Jakohs, Allg. Teil,
21/103.
192
Überzeugende Begründung bei Küpper/Wilms, ZRP 1992, 91, 94 f.
der sich die Auslegung geltenden und die Setzung künftigen Rechts auszu-
richten hat.
Ist ein soziales System im Unrecht, dann trifft die strafrechtliche Verant-
wortung hierfür in erster Linie das Unrechtssystem selbst. Hat allerdings
entweder das Unrechtssystem keine institutionelle Form oder seine institu-
tionelle Form keine gültige Rechtsform gefunden, dann ist seine strafrecht-
liche Haftung ausgeschlossen. Strafrechtlich haftbar sind deshalb nur „per-
sonhafte" Sozialgebilde, die sich gestalthaft aus der Vielzahl systemisch un-
verbundener sozialer Beziehungen herausheben und sowohl tatsächlich als
auch rechtlich so dauerhaft sind, daß rechtliche Verantwortung an ihnen zu
„haften" vermag. Begründet wird die Verantwortung eines sozialen Systems
einesteils durch eine den sozialethischen Anforderungen nicht genügende
Existenz, insbesondere durch eine kriminogene Philosophie bzw. Ideologie
oder durch eine defiziente Organisationsstruktur, andernteils durch Hand-
lungen seiner Mitglieder bzw. Funktionäre, die auf seiner Philosophie bzw.
Ideologie beruhen oder durch seine defiziente Organisation begünstigt wer-
den. Diese Handlungen, die selbst nicht vorwerfbar zu sein brauchen (so daß
Beweisschwierigkeiten insoweit ausscheiden), werden dem sozialen System
als Erfolgsunrecht zugerechnet, sofern ein RechtswidrigkeitsZusammen-
hang sie mit dessen Systemunrecht verbindet.
Neben dem sozialen System (oder, wo dieses keine anerkannte Rechtsform
besitzt, an seiner Stelle) haben seine Mitglieder (Funktionäre) Unrechtsver-
antwortung zu tragen, ferner die Gründer von kriminell ausgerichteten Un-
rechtssystemen. Die Verantwortung bezieht sich zum einen auf das System-
unrecht selbst, also auf die kriminelle Zielrichtung oder Organisation des Sy-
stems, zum anderen auf das Erfolgsunrecht, also auf die vom System veran-
laßten oder begünstigten Straftaten. Im einzelnen ist zwischen den Typen von
Unrechtssystemen allerdings zu differenzieren: Mittäter tragen mangels in-
stitutioneller Organisation Verantwortung nur für das Erfolgsunrecht ihres
Systems, also nur für die vom System verübten Straftaten, nicht dagegen für
das System als solches. Mitglieder einer kriminellen Vereinigung haben sich
dagegen neben ihrer Beteiligung an einzelnen Aktionen des Systems auch für
ihre aktive Systembeteiligung zu verantworten. Mitgliedern von kriminell an-
fälligen Wirtschaftsunternehmen ist Systemverantwortung zuzuschreiben,
soweit sie in leitender Position (als Angehörige der „brain area") für die kri-
minogene Philosophie des Unternehmens oder für Defizite in der Unterneh-
mensorganisation zuständig sind (Rechtsgedanke des §14 StGB). Ein straf-