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DOI 10.1515/arbi.2008.082
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254 Ralf Klausnitzer
1 dende Angelegenheit. Dennoch wird auch durch die erläuternden Zeilen der
2 Einleitung nicht klar, warum ein Band, der doch „alles“ benötigte Grund-
3 wissen für einen professionellen Umgang mit Literatur liefern soll, weder den
4 Zentralbegriff „Text“ noch die grundlegenden Begriffe „Autor“ und „lite-
5 rarische Kommunikation“ in ihren systematischen und historischen Di-
6 mensionen erläutert. Auch eine Erklärung der Erkenntnisinteressen und
7 Ziele der Literaturwissenschaft sucht man vergeblich: Die in der Einleitung
8 erwähnte „vertiefende Beschäftigung mit einem literarischen Text“ (S. 13)
9 bleibt ebenso wie die Rede von einer „wissenschaftlichen Beschäftigung mit
10 einem literarischen Text“ (S. 15) merkwürdig unbestimmt. Dafür aber wird
11 der Leser im ersten Abschnitt („Grundbegriffe der Edition“, verfaßt von
12 Gabriele Sander) mit einer Differenzierung von Ausgabentypen konfron-
13 tiert, die zwar den Unterschied zwischen der Editionspraxis eines Max Brod
14 und Malcolm Pasley thematisiert, aber eben nicht zeigt, welche gravierenden
15 Folgen die Entscheidung für eine Textpräsentation haben kann – wofür sich
16 etwa die von Roland Reuß und Peter Staengle veranstaltete Historisch-Kri-
17 tische Kafka-Ausgabe angeboten hätte, die Kafkas Manuskripte in fotome-
18 chanischer Reproduktion der originalen Handschrift mit diplomatischer
19 Umschrift präsentiert. An Stelle einer (hier auch visuell möglichen) Doku-
20 mentation dieser editorischen Technik und der dadurch ermöglichten Ein-
21 sichten in die komplizierte Genese eines literarischen Textes erläutert die
22 Autorin Gabriele Sander in bleierner Buchstabenschwere den Unterschied
23 zwischen „Einzelstellenapparat (positiv oder negativ lemmatisiert)“, „Trep-
24 penapparat“, „Einblendungsapparat“ und „synoptischem Apparat“ als den
25 vier Variantentypen in historisch-kritischen Ausgaben und schließt mit
26 einem knappen Hinweis auf mögliche Themenbereiche für die Kommen-
27 tierung.
28 Abschnitt II „Die Gestaltung literarischer Texte“ (Christine Hummel)
29 erläutert nach kurzem Abriß des 2500 Jahre alten Nachdenkens über das
30 „Wesen des Schönen, seine Produktion und Rezeption“ (S. 37) ebenso knapp
31 wie fragmentarisch das Reflexionswissen von Poetik und Rhetorik. Hier
32 erscheint die Musik fälschlicherweise als Teil des Triviums (S. 53), das zuvor
33 zweimal hintereinander als „Vorschule“ bezeichnet wird (S. 51), obwohl es in
34 der mittelalterlichen Universität doch wohl eher eine Art Grundstudium
35 darstellte. Die gebotene Auswahl rhetorischer Figuren (S. 58 – 61) und Tro-
36 pen (S. 70 – 72) ist hilfreich, obwohl auch hier wieder zu fragen ist, ob Stu-
37 dierende Begriffe wie ,Polysyndeton‘ und ,Symploke‘ (S. 59) tatsächlich
38 benötigen oder diese nicht eher in Spezialwörterbüchern aufsuchen sollten.
39 Abschnitt III stellt mehr dar als nur eine „Übersicht über die Gattungen“.
40 In diesem von Christine Hummel und Gabriele Sander verfaßten Teil finden
41 sich literaturgeschichtliche Exkurse und begriffliche Erläuterungen, die
42 knapp und instruktiv über Entwicklung und Verfassung literarischer Genres
43 unterrichten. Zweifellos basiert jede der hier gebotenen Darstellungen – die
44 auch das Hörspiel und „faktuale Literatur“ einbeziehen – auf einer Auswahl
45 aus reichem historischen Material (das zudem durch Seitenblicke auf Ent-
46 wicklungen in anderen Nationalliteraturen erweitert wird). Doch liefern die
47 vor allem im Rahmen des Lyrik-Kapitels gegebenen Termini zur Erfassung
48 und Beschreibung formaler Elemente eine anschlußfähige Grundlage. Eine
1 Schrittfolge zum Umgang mit lyrischen Texten – die „aufgrund ihrer Kürze
2 und Komplexität einen ersten Einstieg in Geschichte und Zeitgefühl ver-
3 gangener Epochen oder auch in das Werk eines Autors bieten“ (S. 83) – wird
4 gleichfalls nahegelegt: „Zunächst sollte das Gedicht mit Hilfe des lyrikspe-
5 zifischen Analyse-Instrumentariums analysiert und in einem weiteren Schritt
6 auf mikro- und makrostilistischer Ebene untersucht werden. Erst dann lässt
7 sich die Wirkung des literarischen Werks verstehen und auf einem metalite-
8 rarischen Abstraktionsniveau einordnen, bewerten und interpretieren“
9 (S. 94). Was unter diesem „metaliterarischen Abstraktionsniveau“ zu ver-
10 stehen ist, bleibt aber leider genauso schleierhaft wie die Konzepte und
11 Verfahren für die doch so wesentlichen Textumgangsformen des Verstehens,
12 Interpretierens und Bewertens: Im „alles“ umfassenden Grundlagenwerk
13 von Sabina Becker, Christine Hummel, Gabriele Sander gibt es außer dem
14 Zitatbrocken „synthetisches Interpretieren“ (S. 221) und mehr verstellenden
15 als erhellenden Ausführungen zur „personenbezogenen (= der psychologi-
16 schen) ,Auslegung‘“ bei Schleiermacher (S. 222f.) keine nähere Erklärung,
17 warum und in welchen Konstellationen die Deutung und Interpretation von
18 Texten zu einem Problem werden kann, zu dessen Lösung historisch vari-
19 ierende Lösungsvorschläge unterbreitet wurden. Weder die besondere
20 Struktur der literarischen Kommunikation noch das Problem der kulturellen
21 Differenz erfahren eine weitergehende Reflexion – was den Nutzen des
22 Bandes weiter schmälert.
23 Der abschließende Abschnitt IV liefert die für zahlreiche Einführungs-
24 werke dieser Art obligate Nummernrevue unter dem Titel „Literaturwis-
25 senschaftliche Methoden und Theorien“. Zu Recht erklärt Sabina Becker,
26 Verfasserin dieses Abschnitts, die Pluralität von theoretischen und metho-
27 dischen Textumgangsweisen als Ergebnis je spezifischer Erkenntnisinteres-
28 sen und Erkenntnisziele (S. 219). Warum und wie divergierende Erkennt-
29 nisinteressen und -ziele entstehen, sich (institutionell) verfestigen und in
30 (zum Teil erbitterte) Konkurrenz treten können, wird jedoch ebenso wenig
31 reflektiert wie die Einsichten, die aus den vorgestellten Richtungen für eine
32 aktuelle Beschäftigung mit Texten und Konstellationen zu lernen sind.
33 Schade eigentlich.
34 Damit könnte diese Besprechung schließen – wenn der anzuzeigende Band
35 nicht ein Symptom für weitreichende Veränderungen innerhalb des Bil-
36 dungssystems im Ganzen und der Literaturwissenschaft im Besonderen
37 wäre. Er zeigt, welche Auswirkungen eine Studienreform hat, die in sechs
38 Semestern zum Abschluß führen soll und Studierenden einen dicht besetzten,
39 mit zahlreichen Prüfungen verbundenen Stundenplan aufbürdet: Nicht mehr
40 aufmerksame und zeitinvestive Lektüre von Primärtexten und deren pro-
41 blemorientierte Bearbeitung stehen im Zentrum des Studiums, sondern die
42 rasche Aneignung eines „Grundwissens“, dessen Grenzen durch Sabina
43 Becker, Christine Hummel und Gabriele Sander deutlich markiert werden.
44 Auch in ihrem „alles“ versprechenden Einführungsband erscheinen litera-
45 rische Texte – wenn überhaupt – nur als Exempel für zu vermittelnde Be-
46 griffe; Schrittfolgen eines produktiven Umgangs mit Werken und histori-
47 schen Konstellationen werden ebenso wenig mitgeteilt wie Verfahren zur
48 Entfaltung und Bearbeitung von Problemen. Der Zwang zu einer solchen