Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
NS 7 - 1-26 - N Und Schopenhauer - G. Goedert PDF
NS 7 - 1-26 - N Und Schopenhauer - G. Goedert PDF
/. Die dionysische Bejahung des Tragischen und die Leiden der Erkenntnis
Heimsoeth richtig schreibt, war er seit langem „aus der eigenen Natur
bereitet für das düstere Licht, das hier auf Welt und tylenschenleben fällt"3.
Nietzsche entdeckte bei Schopenhauer die Bestätigung seines tief inner-
sten Erlebens. Er schrieb, nachdem er Ende Oktober 1865 Die Welt als Wille
und Vorstellung bei einem Antiquar in Leipzig gefunden hatte: „(. . .) hier
sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in ent-
setzlicher Großartigkeit erblickte"4. Schon für Weihnachten desselben Jahres
bestellte er sich zuhäuse die Parerga und Paralipomena sowie das damals eben
erschienene Schopenhauer-Buch von Haym.
Es lohnt sich, die Briefe aus der darauffolgenden Zeit zu lesen, um fest-
zustellen, wie Nietzsche in Leiden und Nöten Trost bei Schopenhauer
suchte5 und sich darum bemühte, Anhänger für diese Philosophie zu
gewinnen6.
Auch die Pfingsten 1869 so vielversprechend in Triebschen beginnende
Freundschaft mit Richard Wagner steht weitgehend unter dem Zeichen der
gemeinsamen Verehrung Schopenhauers. Und wenn Nietzsche sich ab 1872
nach und nach von Wagner distanziert, so kommt das hauptsächlich daher,
daß er jetzt Schopenhauer ablehnt und ganz entgegengesetzte Wege gehen
will. Schließlich tragen an dem endgültigen Bruch im Jahre 1876 nicht die
Ereignisse der Festspielhauseröffnung in Bayreuth die Hauptschuld. Vielmehr
darf angenommen werden, daß Nietzsche die sowohl im Ring des Nibelungen
als auch im Parsifal-Projekt, das Wagner ihm im Herbst, bei einer Begegnung
in Sorrent, eröffnet haben soll, sich äußernde Gedankenwelt Schopenhauers
nicht mehr vertragen konnte.
Tatsache ist, daß Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie und in
den derselben vorausgehenden Vorträgen eine lebensbejahende Philosophie
entwickelt hatte, welche ihn als einen Gegner Schopenhauers erscheinen ließ.
Die 1874 entstandene Dritte Unzeitgemäße ist nur ein verspäteter Dank.
Nach Schopenhauer ist das Leben zutiefst tragisch. Sämtliche Individuen
sind „Erscheinungen" des einen, universalen Willens. Sie bekämpfen und zer-
fleischen sich untereinander, was soviel heißt, wie daß der Wille mit sich
selbst entzweit ist, daß er an sich selbst zehrt. Deshalb wird hier das Leiden
zum ontologischen Charakteristikum, und Glück bedeutet nur flüchtiges
Aufhören des Leidens. Das Wollen ist ja ein Streben, das einen Mangel, eine
3
Des jungen Nietzsche Weg zur Philosophie, in: Studien zur Philosophiegeschichte (= Kant-
studien, Ergänzungshefte 82), 1961, S. 152ff.; hier: S. 162.
4
E. Förster-Nietzsche, Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen Nietz-
sches, München 1924, S. 317.
5
Vgl. insbesondere die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, 16. 1. 1867, sowie
24. 11. u. 1. 12. 1867: KGB I 2.
6
Vgl. u. a. die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, Ende 8. 1866, sowie 24. 11.
u. 1. 12. 1867: KGB 12.
Nietzsche und Schopenhauer 3
I, S. 365 (im folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl in Klammern im Text zitiert).
8
Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches Immoralismus (= Abh. der Aka-
demie der Wiss. und der Lit. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Klasse), Wiesbaden 1955,
S. 53.
9
Das Problem der Erlösung bei Schopenhauer und Nietzsche > in: 23. Jahrbuch der Schopen-
hauer-Gesellschaft, 1936, S. lOOff.; hier: S. 110.
4 Georges Goedert
dem Leiden. Allerdings sind nur starke Menschen, wie Nietzsche sie im
„tragischen Zeitalter der Griechen" sah, einer solchen Einstellung fähig.
Auch was Schopenhauers Konzeption des Genius betrifft, darf ange-
nommen werden, daß Nietzsche sich insbesondere angesprochen fühlte durch
die darin enthaltene Überzeugung von der Existenz einer durch Leiden
geadelten Elite der Menschheit, selbst wenn er fortan über die eigentliche
Funktion einer solchen Elite zum Teil ganz gegensätzliche Ansichten ver-
treten sollte.
Der Genius entsteht, nach Schopenhauer, wenn der Intellekt das not-
wendige Maß, das er für seine natürliche Bestimmung, d. h. den Dienst des
Willens, braucht, übersteigt und dazu gelangt, „sich rein objektiv zu
beschäftigen"10. Dies sei der Ursprung der Kunst, der Poesie und der
Philosophie. „Ein Genie", sagt Schopenhauer, „ist ein Mensch, der einen
doppelten Intellekt hat: den einen für sich, zum Dienste seines Willens, und
den ändern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv
auffaßt"11. Nur diejenigen, deren Intellekt sich vom Frondienst am Willen
loszulösen vermag, seien „die wahrhaft Edeln, die eigentliche Noblesse der
Welt. Die ändern sind Leibeigene, glebae adscripti"12. Vertieft in die „reine"
Anschauung der „Ideen", in denen der Wille sich in vollkommener Weise
objektiviere und welchen, im Gegensatz zu den „Erscheinungen", die
„flüchtigen Träumen zu vergleichen" seien (S. 331), somit metaphysische
Realität zukomme, sei der Intellekt für Augenblicke „ewiges Weltauge"
(S. 333). Und da der Intellekt „an sich" der eine Wille sei, höre der Wille hier
auf zu wollen, was gleichbedeutend sei mit vorübergehender Erlösung vom
Leiden.
Die „Ideen" werden bei Schopenhauer genauestens unterschieden von
den „Begriffen". Letztere, erreichbar für jeden, der mit Vernunft begabt ist,
seien bloße Hilfsmittel der Wissenschaft, welche sich ja ausschließlich auf
„Erscheinungen" beziehe und dem Satz vom Grunde unterstellt sei. Die
„Ideen" dagegen könnten nur erfaßt werden von demjenigen, „der sich über
alles Wollen und alle Individualität zum reinen Subjekt des Erkennens
erhoben hat (. . .)" (S. 276), also vom Genie.
Außer der Überzeugung, daß von allen Menschen der Genius am
meisten zu leiden habe, konnte Nietzsche von der Schopenhauerschen
Vorstellung des Genius somit vor allen Dingen noch zweierlei festhalten. — 1.
Der Verschiedenheit ihres Erkenntnisvermögens entsprechend sind die Men-
schen ungleich. Wenn er selbst auch die Ungleichheit im wesentlichen auf den
10
Parerga undParalipomena, Band 2 (im folgenden: PP II), in: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 6,
S. 72.
11
PP II, S. 77f.
12
PP II, S. 72.
Nietzsche und Schopenhauer 5
Dualismus der Stärke und der Schwäche begründet, darf dennoch bei ihm das
geistige Moment in der Stärke nie unterschätzt werden. — 2. Wie Schopen-
hauer räumt auch Nietzsche der Wissenschaft einen untergeordneten Platz
ein. Sein Irrationalismus äußert sich bereits in der Geburt der Tragödie ganz
entschieden in der Kritik des Sokrates. Dort wird der „theoretische Mensch",
der „wissenschaftliche Geist" als Produkt eines Kräftezerfalls dargestellt. Er
wolle das Leben korrigieren, weil er nicht mehr imstande sei, es zu ertragen
so, wie es ist.
Nur soweit aber die Gemeinsamkeit mit Schopenhauer! Was Nietzsche
nicht annehmen kann und wogegen er sich zeitlebens zur Wehr setzt ist die
Auffassung, daß der tiefere Einblick in das Wesen der Dinge Anlaß oder Aus-
gangspunkt zur Lebensverneinung sein sollte. Dementsprechend entwickelt
er, besonders in seiner dritten Periode, eine Schopenhauer total entgegen-
gesetzte Konzeption sowohl der Kunst als auch der Philosophie.
Es dürfte sicherlich nicht als überflüssig erachtet werden, wenn man für
das Studium der Beziehung Nietzsches zu Schopenhauer das herkömmliche,
alterprobte Drei-Perioden-Schema beibehält. Gestattet es doch eine Einsicht
in die verschiedenen Entwicklungsphasen dieser Beziehung, wobei manche
angeblichen Widersprüche im Denken Nietzsches aufgelöst werden können,
und besonders auch die Abhängigkeit seiner Christentumspolemik von seiner
Kritik Schopenhauers besser ans Licht ruckt.
Für Nietzsche ist Philosophie dionysische Bejahung des Lebens mitsamt
seinen fürchterlichen Aspekten. Was dagegen Schopenhauer unter Philoso-
phie versteht wird letzten Endes bestimmt durch die ethischen Grundprinzi-
pien des altindischen Denkens. Sie gipfelt in der „Heiligkeit", in welcher die
Erkenntnis vom Wesen der Welt die Möglichkeit zur totalen Verneinung des
Lebens liefert, zu seiner Überwindung und Vernichtung, zur endgültigen
Brechung des Weltwillens. Daneben kann die Kunst nur vorübergehend Trost
spenden. Wegen des ihr zugrunde liegenden Einblicks in das Wesen des
Willens sei sie jedoch eine Art Vorbereitung auf die Askese. Dies gelte in
ganz besonderem Maße für die Tragödie, von welcher Schopenhauer als von
der „höchsten poetischen Leistung" spricht. Zweck derselben sei die „Dar-
stellung der schrecklichen Seite des Lebens". Es sei „der Widerstreit des
Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Ob-
jektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt" (S. 298).
In einem nachgelassenen Fragment von 1888 spricht Nietzsche von dem
„skandalöse(n) Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur
Verneinung des Lebens nimmt . . ,"13. Seit der Geburt der Tragödie stand
nämlich bei ihm fest, daß die Tragödie höchster Ausdruck der Bejahung sei,
13
KGW VIII 3, 14 [119], S. 90.
6 Georges Goedert
da gerade in ihr die schrecklichsten Aspekte des Lebens als Ingredienz maß-
loser Fülle und Schönheit erschienen. ?
Die Erkenntnis vom Wesen der Welt kann nach Schopenhauer aber
sowohl „Motiv" als „Quietiv" des menschlichen Wollens sein. Ist sie
„Motiv", dann bejaht damit der Wille sich selbst, d. h. „indem in seiner
Objektität d. i. der Welt und dem Leben, sein eigenes Wesen ihm als Vor-
stellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntnis sein
Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als
solches vom ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis, als blinder Drang,
so jetzt mit Erkenntnis, bewußt und besonnen" (S. 336). Diese Selbst-
bejahung des Willens, so meint Schopenhauer, könne sich bei einem Men-
schen vollziehen, der zwar das Wesen des Willens erkannt hätte, jedoch nicht
„zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht,
dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu
erkennen" (S. 334). Diesen Standpunkt konnte Nietzsche einnehmen, um ihn
gemäß seinen dionysischen Vorstellungen ±u vertiefen. Von ganz besonderer
Bedeutung ist wohl auch der Umstand, daß Schopenhauer an dieser so
wichtigen Stelle der Welt als Wille und Vorstellung, im Zusammenhang mit
der erwähnten lebensbejahenden Gesinnung, von dem Wunsch nach einer
„Wiederkehr" des individuellen Lebenslaüfes spricht. Er schildert den Men-
schen hier als jemanden, „der im Leben Befriedigung fände, dem voll-
kommen wohl darin wäre, und der, bei ruhiger Überlegung, seinen Lebens-
lauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer
Wiederkehr wünschte (. . .)" (ebd.).
Was jedoch Schopenhauers ethischen Weg der Erlösung betrifft, wo die
Erkenntnis vom Wesen der Welt und des Lebens zum „Quietiv" des Willens
geworden sei und dazu führe, daß dieser sich selbst verneint und aufhebt, so
lehnt Nietzsche ihn nicht nur ab, sondern er betrachtet schon allein die
Versuchung, ihn zu gehen, als die größte Gefahr, auch für sich selbst. Die
„Verneinung des Willens zum Leben" ist nach ihm ein Produkt dfer Schwäche
und der „decadence". Sie ist Nihilismus in seiner unverhohlensten Aus-
drucksform. Dagegen offenbart sich die Stärke nach Nietzsche gerade da-
durch, daß die mit jeder tieferen Einsicht in das Wesen der Dinge verbun-
denen Leiden als notwendige Ingredienz schöpferischer Gestaltung am
Kunstwerk „Mensch" und somit als unentbehrliche Bedingung zur Über-
windung des Nihilismus verstanden werden.
„ — tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg", sagt Zarathustra,
„bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich
bin bereit"14. Der wahre Philosoph wird in dieser dritten Periode dargestellt
14
Za III, Der Wanderer- KGW VI l, S. 191.
Nietzsche und Schopenhauer 7
als ein Mensch, der leidet und Leiden um sich herum verbreiten muß. Daß es
bei ihm keinen Platz für das Mitleid geben darf, liegt demgemäß auf der
Hand.
Wir sind aber gezwungen, hier noch einen wichtigen Schritt weiterzu-
gehen, indem wir hervorheben, daß nach Schopenhauer die Leiden der
Existenz eine moralische Bedeutung haben. Mit seiner Lehre von der „ewigen
Gerechtigkeit" zeigt er, daß das Leiden die Konsequenz einer Schuld sei und
also eine verdiente Strafe darstelle. „Will man wissen," so schreibt Schopen-
hauer, „was die Menschen, moralisch betrachtet, im ganzen und allgemeinen
wert sind; so betrachte man ihr Schicksal im ganzen und allgemeinen. Dieses
ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet:
wären sie nicht, im ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal,
im ganzen genommen, nicht so traurig sein. In diesem Sinne können wir
sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt
in eine Waagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere; so würde
gewiß die Zunge einstehn" (S. 415f.). Der Weltwille bestraft sich selbst. Er
ist Verbrecher und Henker zugleich. Heimsoeth spricht mit Recht von
„Schopenhauers Schuld- und Selbstverdammungsmetaphysik"15.
Die Schuld basiert nach Schopenhauer auf der mysteriösen Selbstent-
zweiung des Willens. Wer den „Schleier der Maja" zerreißt, sieht ein, daß der
Wille, „im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt (. . .)"
(S. 418). Das Böse, d. h. das Verursachen fremden Leidens, und das Übel,
d. i. der eigene Schmerz, haften beide demselben Willen an: der Übeltäter und
der Gepeinigte sind ihrem tieferen Wesen gemäß eins. Schopenhauer zitiert
den spanischen Dichter Calderon: „Denn die größte Schuld des Menschen /
Ist, daß er geboren ward" (S. 419).
Dies ist natürlich eine wahre Verurteilung des Lebens im Namen der
Moral. Dazu verdammt Schopenhauer diejenigen, welche die moralische
Bedeutung der Welt leugnen wollen. In den Parerga und Paralipomena lesen
wir den so wichtigen Satz: „Daß die Welt bloß eine physische, keine
moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamen-
tale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im
Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat"16.
15
Metaphysische Voraussetzungen . . ., a.a.p. S. 51.
16
PP II, S. 214.
8 Georges Goedert
Wenn man sich nun bewußt ist, daß Nietzsche diese Textstelle genau-
estens kannte — den philologischen Beweis hierfür hat fa Jörg Salaquarda in
seiner Studie Der Antichrist auf endgültige Weise erbracht17 —, dann erkennt
man, daß der Sinn des Namens „Antichrist" sich bei ihm keineswegs
erschöpfen läßt durch die Bezeichnung „Feind des Christentums", auch
wenn das Werk Der Antichrist eine großangelegte Attacke auf das Christen-
tum darstellt. Nietzsche ging es an erster Stelle darum, Schopenhauers
Moralismus zu überwinden, und das Christentum war in seinen Augen die
weltweite Ausdrucksform der in demselben enthaltenen Prinzipien. Der
Name „Antichrist" bezieht sich somit bei ihm im Grunde auf das Ideal des
dionysischen Ja-Sagens zum Leben, welches er Schopenhauer entgegensetzt.
Sein „Immoralismus", sein „Jenseits von Gut und Böse", seine Lehre von
der „Unschuld des Werdens" bekräftigen dieses Ja zum Leben, während
dagegen Schopenhauers Moralismus das Nein zum Leben befürwortet.
Es läßt sich tatsächlich beweisen, daß Nietzsches Entlarvung und Be-
kämpfung der christlichen Werte stets bezogen ist auf das Christentum so,
wie es in der Schopenhauerschen Deutung hervortritt. Diese Deutung steht
aber mit den fundamentalen Äußerungen christlichen Selbstverständixisses
durchaus nicht immer in Einklang. Man gelangt folglich zu dem doppelten
Schluß, daß Nietzsches Angriffe gegen das Christentum eine untergeordnete
Bedeutung in seinem Werk haben und zum Teil ins Leere gehen.
Schopenhauer hatte das Christentum einseitig in der Perspektive seines
Pessimismus interpretiert. An der Tatsache, daß Nietzsche dasselbe so, wie es
in dieser Interpretation dargestellt ist, zum Gegenstand seiner Anfeindungen
machte, war wohl besonders auch das protestantisch-pietistische Milieu
verantwortlich, in dem er aufgewachsen war.
Nietzsches Kampf gegen die Moral beginnt mit Menschliches, Allztt-
menschliches. Man darf behaupten, daß derselbe im Laufe der ganzen zweiten
Periode fast ausschließlich gegen Schopenhauer gerichtet ist. Vom Christen-
tum ist da nur wenig und sozusagen nebenbei die Rede. Der Philosoph selbst
schreibt an einer Stelle der Genealogie der Moral, wo er über Menschliches,
Allzumenschliches spricht: „Es handelte sich für mich um den Wert der
Moral, — und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer
Schopenhauer auseinanderzusetzen (. . .). Es handelte sich insonderheit um
den Wert des ,Unegoistischenc, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbst-
opferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergött-
licht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die ,Werte an sich"
übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein
sagte"™,
17
In: Nietzsche-Studien 2, 1973, S. 91 ff.
18
GM, Vorrede 5: KGW VI 2, S. 263f.
Nietzsche und Schopenhauer 9
Was nun die dritte Periode betrifft, so ist sie vor allem gekennzeichnet
durch eine ungeheure Verallgemeinerung des gegnerischen Ideals sowie durch
den nihilistischen Charakter, der darin demselben zugeschrieben wird.
Nietzsche greift hier nicht nur das Christentum auf eine viel direktere und
massivere Weise an, sondern er wendet sich gegen die gesamte philosophische
Tradition des Abendlandes seit Plato. Er wirft ihr vor, moralischer Natur zu
sein und sich auf die Metaphysik zu stützen, welche im wesentlichen ein
Produkt moralischen Urteilens sei. Überall wegweisend aber bleibt sein
Kampf gegen Schopenhauer.
Im Vordergrund steht jetzt der Dualismus der Stärke und der Schwäche.
Das Christentum und die abendländische Philosophie seien Produkte der
Schwäche, in denen, mit unterschiedlichen Dosierungen, die „decadence"
sowie die „Herden"- und „Sklaven"-Instinkte sich äußerten. Nietzsche
pocht besonders auf das Ressentiment, in dem er die fundamentale Triebkraft
im Aufbau der herkömmlichen Werturteile zu erkennen glaubt. Schopen-
hauer ist jetzt für ihn der letzte große Repräsentant der nihilistischen abend-
ländischen Tradition. In dessen „Willen zum Nichts" erblickt er die letzte
Konsequenz des Verlangens nach Gott, und Gott stellt er dar als eine bloße
Maske des Nichts. Die Kritik an Schopenhauers Pessimismus war der
Ausgangspunkt von Nietzsches Ansichten über den abendländischen Nihi-
lismus. Sie war auch der Anfang seiner Überwindung desselben.
Wenn Nietzsche Schopenhauer selbst auch nicht als einen „decadent"
bezeichnet, sondern in ihm, wie in Pascal, ein Beispiel der durch die
„Herden"-Moral verursachten „Verdüsterung der Starken" sieht22, so unter-
streicht er doch dessen Feindschaft dem Leben gegenüber. „Schopenhauer, so
heißt es im Antichrist, war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid
zur Tugend . . ,"23. Diese Ansicht teilt Max Scheler, wenn er das Schopen-
hauersche Mitleid eine „aus dem Ressentiment geborene Gemütsbewegung"
nennt. Er schreibt: „Denn seine Bedeutung besteht für Schopenhauer nicht in
ihm als einer Äußerung der Liebe — die er vielmehr aus dem Mitleid
verstehen will —, auch nicht in einem Faktor, der zu Wohlwollen und Wohl-
tun leitet, sondern nur in einem vermeintlichen Innewerden der metaphy-
sischen Identität des an sich selbst leidenden Willens in allen Individuen"24.
Im Mitleid solle der Mensch ja erfahren, wie verneinungswürdig das Leben
sei, und also zur Askese verleitet werden.
Die eigentliche Tragweite von Nietzsches Kritik des Mitleids und damit
die wahre Bedeutung seiner „Umwertung" im Laufe dieser dritten Periode
22
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887: KGW VIII l, 5 [35], S. 200.
23
AC 7: KGW VI 3, S. 172.
24
Das Ressentiment im Aufbau der Maralen, in: Gesammelte Werke, Bd. 3. Bern 41955,
S. 78f.
12 Georges Goedert
erfaßt man erst dann richtig, wenn man weiß, daß Schopenhauer in seiner
Schrift Über die Grundlage der Moral die Rachsupht ableitet von der
„Gehässigkeit":, welche er als „mehr teuflisch" bezeichnet gegenüber dem
Egoismus, den er „mehr tierisch" nennt25. Erinnern wir uns noch einmal
daran, daß nach ihm der Egoismus und die Bosheit die „antimoralischen
Triebfedern" sind, das Mitleid dagegen die einzige moralische! Aus letzterer
macht Nietzsche folglich das Produkt eines von Schopenhauer als „Laster"
bezeichneten und von einer „teuflischen" Grundpotenz abgeleiteten see-
lischen Hanges. Und da er nicht aufhört, die christliche Liebe mit diesem
Mitleid zu identifizieren, so gilt nach ihm in bezug auf dieselbe das gleiche
ungeheuerlich erscheinende Urteil. Die Liebe wäre somit eine Ausgeburt des
Hasses!
Nietzsche spricht Jesus selbst frei vom Ressentiment, nennt ihn aber
einen „decadent"26. Auch in diesem letzteren Punkt dürfte der Einfluß
Schopenhauers leicht erkennbar sein. Schopenhauer faßte die Gestalt Jesu auf
„als das Symbol, oder die Personifikation, der Verneinung des Willens zum
Leben" (S. 480), und Nietzsche erblickt in der „Verneinung des Willens zum
Leben" den eigentlichen Kern des Verfalls, der „decadence".
Nun muß jedoch bemerkt werden, daß Nietzsche zwar die Rachsucht
verurteilt, dagegen aber keineswegs das Böse als solches ablehnt. Ganz im
Gegenteil! Er meint, die starken Menschen brauchten sogar das Böse zur
Verwirklichung höheren Menschentums. In dem Kapitel Von den drei Bösen
preist Zarathustra die Wollust, die Herrschsucht und die Selbstsucht. Auch
dies ist Punkt für Punkt eine „Umwertung" von Schopenhauers moralischen
Werturteilen. Überhaupt enthält ja der Zaratbustra an vielen Stellen eine
direkte Auseinandersetzung mit Schopenhauer. Besonders wichtig in dieser
Beziehung sind die Kapitel: Von den Predigern des Todes, Von den Mitlei-
digen, Von der unbefleckten Erkenntnis, Der Wahrsager, Vom Geist der
Schwere.
Auch das Kapitel Der Notschrei ist hier zu erwähnen. Dieser „Not-
schrei", der zu Zarathustras Ohren gelangt, stammt von den „höheren
Menschen". Ihre Leiden sind unermeßlich. Äußerst bezeichnend ist es, daß
hier der „Wahrsager" wieder erscheint, die Personifikation Schopenhauers,
und Zarathustra zu seiner „letzten Sünde" verführen will, dem Mitleid mit
den „höheren Menschen". Von demselben „Notschrei" ist auch noch die
Rede am Schluß des Werkes. Und noch einmal muß Zarathustra sich gegen
die Versuchung zum Mitleid mit den „höheren Menschen" zur Wehr setzen.
Erst wenn diese Versuchung endgültig bestanden ist,.kann aus dem Morgen
25
In: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 4, 2. Hälfte, S. 201 (im folgenden: GrMo).
26
AC 31: KGW VI 3, S. 200.
Nietzsche und Schopenhauer 13
Mittag werden, der „große Mittag". „Mein Leid und mein Mitleiden —", so
spricht Zarathustra, „was liegt daran! / Trachte ich denn nach Glücke? Ich
trachte nach meinem Werkel"27
27
Za IV, Das Zeichen: KGW VI l, S. 404.
28
GrMo, S. 206.
14 Georges Goedert
30
Za III, Vom Gesicht und Rätsel 1: KGW VI l, S. 194ff.
31
Za III, Von alten und neuen Tafeln 2: KG^ VI l, S. 244.
Disk ussiori
optieren. Dazu möchte ich auf ein demnächst posthum erscheinendes Buch
aufmerksam machen. (Das Buch ist inzwischen unter dem Titel Zeitliches und
Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, Frankfurt a. M.
1977 erschienen. — Anm. der Redaktion bei der Drucklegung.) Der noble
Autor, Otto Most, dem nach seinem ganzen übrigen Wirken eine nähere
Befassung mit Nietzsche kaum angesehen werden konnte, ist zwei Jahrzehnte
hindurch im Stillen mit ihm umgegangen. Seine These lautet: Nietzsche habe
das Problem der Selbstverwirklichung aufgenommen, das von der großen
metaphysischen Tradition des Altertums und Mittelalters behandelt worden
war. Nietzsche wird als Respondent von Thomas gesehen, er hat dessen
Frage nach der Selbstverwirklichuhg des Menschen zu beantworten gesucht.
Schopenhauer gehört für Most dagegen spezifisch der Neuzeit an, die von
Descartes bis zum Deutschen Idealismus reicht und eine Episode bleibt, über
die Nietzsche hinausgreift. Das ist eine wieder völlig andere historische
Perspektive.
Gilman: Ich glaube, wir sind gleich zu Beginn der Tagung auf eine der
entscheidenden Fragen der heutigen Nietzsche-Forschung gestoßen. Es geht
nicht nur um das Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer und um den Nach-
weis, was Nietzsche von Schopenhauer übernommen hat, sondern vor allem
um die Frage, wie ein Denker überhaupt einen anderen beeinflussen kann,
welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Der übergreifende Zusammenhang,
auf den ich hinweisen möchte, ist die ganze zeitgenössische Metaphysikkritik,
nicht nur innerhalb der philosophischen, sondern auch der theologischen Dis-
kussion. Sie, Herr Goedert, haben diesen Aspekt gestreift, als Sie auf die Ver-
teuf elung der Welt durch Schopenhauer hingewiesen haben. Innerhalb der
protestantischen Theologie der vierziger und fünfziger Jähre des neun-
zehnten Jahrhunderts, d. h. in der nach-Schleiermacherschen Theologie,
wurde dieses Problem ebenfalls diskutiert. Von dieser Debatte hat Nietzsche
sicherlich als Schüler in Näumburg und Schulpforta Kenntnis genommen —
wenn er sie nicht schon gleichsam ,mit der Muttermilch' aufgenommen hat.
Übrigens ist die Debatte dann bis zu Harnack weitergelaufen.
Als Nietzsche Schopenhauer las und seine These von der schlechtesten
aller möglichen Welten zur Kenntnis nahm, war er mit dieser Problematik
wohl schon vertraut und konnte von daher Schopenhauers Denken in Zu-
stimmung und Widerspruch rezipieren. Mich würde interessieren, ob man
über diesen theologiegeschichtlichen Hintergrund seines Denkens und über
die Wechselbeziehung von Theologie und Philosophie mehr und Genaueres
herausfinden könnte.
Kaufmann: Ich möchte Ähnliches sagen, wie die meisten meiner Vorred-
ner, es vielleicht aber etwas provozierender formulieren. Manchmal habe ich
20 Georges Goedert
das Gefühl, daß man von Nietzsche entweder gar nicht oder provozierend
reden sollte. Ich finde das, was Sie gesagt haben, Herr, £oedert, im einzelnen
sehr solide, wenig problematisch und kaum Ansätze für eine Diskussion
lassend; die Gesamtperspektive ist meiner Ansicht nach trotzdem sehr frag-
lich. In Amerika gibt es jetzt einen Literaturhistoriker, der mit folgender These
Aufsehen erregt: man müsse bei jedejn Autor zuerst herausfinden, wer sein
Vorgänger ist, den er als seinen großen Rivalen empfunden hat. Die Interpreta-
tion reduziert das Werk des jeweiligen Autors dann darauf, daß es Dokument
eines ständigen Kampfes mit dem Vorgänger ist. Das trifft vielleicht im
großen und ganzen auf die Zweitrangigen zu. An den Erstrangigen — und ich
rechne Nietzsche zu den Erstrangigen — ist eben dies interessant, daß sie
mehrere Dimensionen haben und nicht nur immer mit einem kämpfen.
Nietzsche wird im Grunde trivialisiert, wenn man in seinem gesamten Werk
nur diese eine Perspektive verfolgt, daß er Schopenhauer bekämpft. Ich gebe
Ihnen gerne zu, daß es immer auch mitschwingt, und daß es sich lohnt, das zu
zeigen. Wogegen ich protestiere, ist nicht, daß Sie das gezeigt haben, sondern,
daß sie verschiedentlich vorgeschlagen haben, daß das der Hauptgesichts-
punkt ist, der alles erklärt.
Goedert: Zu dem, was mehrere Herren gesagt haben und was Herr
Kaufmann zuletzt pointiert formulierte: Es tut mir leid, wenn ich den Ein-
druck der Einseitigkeit hervorgerufen habe. Es liegt mir fern, Nietzsche nur
unter dem Aspekt seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer zu sehen;
aber das Thema forderte doch von mir, eben diesen Aspekt herauszustellen
und zu beleuchten.
Saß: Herr Ulmer ist davon ausgegangen, daß Schopenhauer und Nietz-
sche als die beiden großen Außenseiter der Philosophie des neunzehnten Jahr-
hunderts gelten. Und meines Erachtens gehören sie tatsächlich nicht in den
konventionellen Hauptstrom des neuzeitlichen Philosophierens hinein, der
sich im wesentlichen an einer säkularisierten, nachchristlichen Geschichts-
philosophie orientiert hat. Die Geschichtsphilosophie gibt für diese Tradition
den Rahmen ab, innerhalb dessen die Humanität und die Selbstverwirk-
lichung des Menschen die Maßstäbe finden. Schopenhauer und Nietzsche
aber lassen sich nicht in den Sog eines philosophischen Trends ziehen, für den
das alte Wort ,revolutioc die Bedeutung Revolution' annimmt; sie fassen es
weiterhin als ,Rotation', ,Kreisbahn' auf: darin sind beide gleich. Schopen-
hauer geht zurück bis zu Plato und orientiert sich an der pseudo-aristoteli-
schen Schrift , in der zum Ausdruck kommt, was die
griechische Philosophie mit der Wiederkehr des Gleichen meint, nämlich die
prästabilierte Harmonie des Kosmos. Aber Nietzsche hat offensichtlich die
Diskusston 21
Djuric: So viel ich sehe, sind wir in der Mehrzahl einig darüber, daß der
Referent die Bedeutung von Schopenhauer für Nietzsche ein bißchen zu hoch
veranschlagt hat, oder zumindest, daß bei seiner Perspektive der Hintergrund
von vielen Einsichten Nietzsches vielleicht ein wenig im Dunkel bleibt. Ich
möchte gerne einen Punkt herausgreifen. Sie, Herr Goedert, haben gesagt,
daß Nietzsches Kritik an Schopenhauers Pessimismus der Anfang seiner
Kritik am Nihilismus gewesen sei. Ich möchte das ein wenig modifizieren
und nehme dabei den Hinweis von Herrn Ulmer auf, daß Nietzsches Denken
in einem größeren Zusammenhang steht. Das, was Nietzsche Nihilismus
nennt, ist doch in erster Linie eine Grundhaltung und geistige Einstellung
seiner Zeit. Nietzsche hat sie nicht nur bei Schopenhauer, sondern z. B. auch
bei der ganzen Romantik, in der Literatur etc. gefunden.
Müller-Lauter: Ich glaube nicht, daß schon das Wesentliche von Nietz-
sches immoralistischer Gegenkonzeption getroffen ist, wenn man zeigt, daß
er Schopenhauers Mitleidsbegriff aufnimmt, ihn einprägt in den Begriff der
christlichen Liebe, und die so verstandene Haltung bekämpft. Sie, Herr
Goedert, haben selbst darauf hingewiesen, daß Nietzsche später die gesamte
abendländische Philosophie quasi als ,Moralphilosophie* begreift. Dieser
weite Begriff von Moral macht deutlich, daß Nietzsches Immoralismus im
Grunde in einem vollständigen Verzicht auf Metaphysik besteht. Nietzsche
sieht, daß Schopenhauer der Metaphysik einen sozusagen unzulänglichen
Abschied .gegeben hat, indem er sie nur ins Negative umgebogen hat. Der
radikale Verzicht auf Metaphysik, den Nietzsche fordert, fördert zugleich die
Spontaneität des Individuums oder des jeweilig einzelnen besonderen Willens
zur Macht. Im Referat haben Sie diesen „resoluten Individualismus", wie Sie
ihn nannten, sehr stark herausgestellt. Um ihn angemessen zu würdigen, darf
man ihn aber m. E. gerade nicht mehr auf dem Hintergrund von Schopen-
hauers Willens-Metaphysik sehen.
Die Nietzsche-Rezeption zu Beginn unseres Jahrhunderts hat einen fol-
genschweren Irrtum begangen, als sie behauptete, Nietzsche setze den Willen
zur Macht als ein metaphysisches Prinzip anstelle des Schopenhauerischen
Willens. Denn das ist faktisch nicht der Fall. Nietzsches Wendung gegen
Schopenhauer ist viel radikaler. Ihr Hinweis, daß Wille zur Macht für Nietz-
sche ontologisches Prinzip und jeweilige ontische Gegebenheit sei, deutet dies
schon an; ich meine, daß man das Begriffspaar ontologisch-ontisch in diesem
Zusammenhang mit einigen Vorbehalten verwenden kann.
Kaufmann: An einer Stelle haben Sie, Herr Goedert, etwas* gesagt, was
meiner Ansicht nach falsch ist, ich möchte beinahe sagen absurd: Nietzsche
bekämpfe das Christentum stets als die Religion des Mitleids. Das stimmt
doch gewiß nicht, das ist nur ein Moment seiner Christentumskritik. Wenn er
aber z. B. sagt: Christentum ist Platonismus fürs Volk, dann denkt er nicht
an das Mitleid, sondern an ganz andere Dimensionen. Oder wenn er in
Antichrist den Glauben und die Gläubigen psychologisiert. Anderswo stehen
wieder andere Momente im Thema, vor allem das Ressentiment. Obwohl es
stimmt, daß in Nietzsches Rede vom Antichrist diese Stelle aus Schopen-
hauers Parerga mitschwingt — ich habe das auch irgendwo erwähnt — , so ist
das wiederum nicht das einzige Moment; wenn Nietzsche einem Buch den
Titel Der Antichrist gibt, dann hat dieser Titel eine Fülle von Bezügen.
Diskussion 23
Goedert: Aber es läßt sich doch anhand der Texte belegen, daß Nietz-
sche bis zuletzt vom Christentum wesentlich als von der Religion des Mitleids
spricht. Daß noch andere Aspekte hinzukommen, nun das leugnet niemand.
Aber es ist interessant und bedeutsam, daß er gerade diese Ansicht so oft
wiederholt. Auch und gerade in Antichrist erwähnt er sie.
Behler: Herr Goedert, Sie haben betont, daß Nietzsche in seiner dritten
Phase, im Gegensatz zu Schopenhauers Auffassung, der Philosophie die Auf-
gabe einer dionysischen Bejahung des Lebens ohne Ausnahme, auch in seinen
schrecklichsten Aspekten, zuweist. Das ist eine etwas unspezifizierte Formu-
lierung für einen komplexen Sachverhalt, die sich freilich durchaus auf Nietz-
sches eigene Äußerungen berufen und stützen kann. Ganz ähnlich weist
Nietzsche ja auch der Kunst die Bejahung des Lebens als eigentliche Aufgabe
zu, — Sie haben dies" ebenfalls cJÄgesfellt. Aber wie soll man das konkreter
verstehen? Was meint Nietzsche mit der „Bejahung des Lebens" genauer?
Läuft diese These letztlich nicht auf eine recht unsubtile, vielleicht sogar,
wenn ich das sagen darf, plumpe Bestimmung der Kunst hinaus? Um zu
24 Georges Goedert
Behler: Dies wollte ich nicht bestreiten; aber ich wollte zum Ausdruck
bringen, daß sich in Nietzsche duale Tendenzen bekunden, daß es nicht möglich
ist, ihn einseitig auf die Position der Stärke und Vitalität festzulegen, daß sich
in seinem Werk vielmehr auch andere Züge bekunden, die ihm ein viel
interessanteres Profil verleihen. Und ich lege Wert auf die Feststellung, daß
ein Kunstwerk wohl dionysische Lebensbejahung ausdrücken kann, daß sich
diese aber in einem sehr komplexen, indirekten Verhältnis bekunden muß,
wenn es sich wirklich um ein Kunstwerk handeln soll.
Diskussion 25
Goedert: Ich erinnere daran, daß sich Nietzsche in Ecce homo zwar als
decadent und dessen Gegensatz zugleich bezeichnet, daß er dann aber erläu-
ternd hinzufügt: „summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezia-
lität war ich decadent".
Saß: Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kaufmann zum Sokrates-
Bild von Nietzsche gesagt hat. Ich frage mich, ob das Bild, das der frühe
Nietzsche zeichnet, richtig ist. Gibt es nicht schon bei Sokrates selbst das
Dionysische? Oder, anders gefragt: ist das Dionysische tatsächlich so un-
-moralisch, wie es der späte Nietzsche begreift? Ist es ,moralisch* im pejora-
tiven Nietzscheschen Sinn, von der praxisverpflichtenden Aufgabe der Philo-
sophie zu sprechen? Ich möchte es zugespitzt formulieren: schließen das Prin-
zip des Maieutischen und das Prinzip des Kreativen einander aus ? Die Antwort
hängt davon ab, welche Rolle man dem Mythos bei Sokrates im Zusammenhang
der notwendig gewordenen erkenntnistheoretischen Orientierung in der nach-
sophistischen Zeit zuschreibt.
In einem späten Brief an Overbeck schreibt Nietzsche, daß von den drei
„Baslern" — Burckhardt, Overbeck und Nietzsche — doch Jacob Burckhardt
der größte sei und daß ihm der Lorbeer gehöre. Das ist eine schwer zu inter-
pretierende Äußerung. Ich vermute, daß sie auch etwas mit dem Griechen-
und Sokratesbild zu tun hat. Dann würde Nietzsche die griechische Philoso-
phie zuletzt doch nicht antisokratisch auffassen, sondern sich zu dem Burck-
hardtschen Griechenbild hinwenden, demzufolge Humanität und Selbstver-
wirklichung nicht durch die Trends der Geschichte, sondern gegen diese
erreicht werden.
Janz: Herr Goedert, ich glaube, Sie sehen selbst Ihren Beitrag als Klärung
eines Segments aus der Gesamtsicht von Nietzsches Positionen und Reaktio-
nen an. Wie so oft bei der Darstellung von solchen Segmenten, vermisse ich
26 Georges Goedert
allerdings ein Thema. Wenn man der Frage nachgeht, wie Nietzsche zu
seinen Gegenpositionen gekommen ist, wird leider viel in wenig an seine Her-
kunft aus der klassischen Philologie gedacht, wie auch unsere klassischen Philo-
logen sich leider viel zu wenig mit Nietzsche beschäftigen. Viele von Nietz-
sches Gedanken haben ihren Ursprung in der griechischen Philosophie und
Literatur, zum Teil bis auf die Formulierungen. „Umwertung aller Werte"
geht auf den Bericht des Diogenes Laertius über Diogenes von Sinope im
20. Kapitel des 6. Buchs zurück und „Jenseits von Gut und Böse" auf seine
Ausführungen über Pyrrhon im 11. Kapitel des 9. Buchs. Auch „Über Wahr-
heit und Lüge im äußer-moralischen Sinne" ist eine griechische Formulierung.
Hier steht noch ein weites Feld für Forschungen offen.
Goedert: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis. Daß Nietzsches
Denken stark durch sein Studium der Griechen beeinflußt wurde, steht außer
Zweifel. Im Zusammenhang mit meinem Thema möchte ich jedoch auch
betonen: Nietzsches Verständnis der griechischen Philosopie* wie es z. B. in
der unveröffentlicht gebliebenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeit-
alter der Griechen zum Ausdruck kommt, ist seinerseits deutlich von Scho-
penhauers Denken geprägt.