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GEORGES GOEDERT

NIETZSCHE UND SCHOPENHAUER*

Daß Nietzsches Philosophie in außergewöhnlich hohem Maße als Reak-


tion gegen Schopenhauer dasteht, ist sicherlich eine Tatsache, die kaum noch
besonderer Erwähnung bedarf. Die dionysische Bejahung folgte auf die Lehre
von der Verneinung des Lebenswillens wie der Tag auf die Nacht, als deren
Gegensatz und Überwindung.
Ich möchte die genauere Eigenart dieser Beziehung beleuchten durch
eine Analyse von drei fundamentalen Gesichtspunkten in Nietzsches Denken.
Der erste davon wäre die ständig wegweisende dionysische Bejahung des
tragischen Charakters der menschlichen Existenz und die damit verbundene
Rechtfertigung der mit jeder tieferen Erkenntnis verknüpften Leiden. An
zweiter Stelle wird die Rede sein von Nietzsches „ImmoraHsmus", wobei die
. folgenschwere Bedeutung desselben für seine Kritik des Christentums beson-
derer Berücksichtigung bedarf. Und drittens muß das Ideal der Stärke
erwähnt werden, in der Konzeption vom tragischen Menschen und im
Glauben an die „Ewige Wiederkunft des Gleichen".

/. Die dionysische Bejahung des Tragischen und die Leiden der Erkenntnis

Was Nietzsche zweifelsohne so sehr an Schopenhauer beeindruckte,


sicherlich viel mehr als der Atheismus, war dessen Sinn für das tragische Los
des Menschen. Es war dessen Überzeugung, „wie wesentlich alles Leben
Leiden" sei1, und daß von, allen Lebewesen der Genius am meisten zu leiden
habe.
Man mag es mit Richard Oehler als einen „Zufall" ansehen2, daß
Nietzsche kurz nach seinem 21. Geburtstag Die Welt als Wille und Vor-
stellung entdeckte und nicht das Hauptwerk eines anderen großen Philoso-
phen. Jedoch muß zugegeben werden, daß kein anderer bedeutender Denker
es vermocht hätte, ihn damals innerlich so tief zu bewegen. Wie Heinz
* In sämtlichen Zitaten wird die heute übliche Rechtschreibung verwendet.
1
Die Welt als Wille und Vorstellung, Band l (im folgenden: WWV I), in: Sämtliche Werke,
hg. von A. Hübscher, Wiesbaden 31966, Bd. 2, S. 366.
2
Fr. Nietzsche und die Vorsokratiker, Leipzig 1904, S. VI.
2 Georges Goedert

Heimsoeth richtig schreibt, war er seit langem „aus der eigenen Natur
bereitet für das düstere Licht, das hier auf Welt und tylenschenleben fällt"3.
Nietzsche entdeckte bei Schopenhauer die Bestätigung seines tief inner-
sten Erlebens. Er schrieb, nachdem er Ende Oktober 1865 Die Welt als Wille
und Vorstellung bei einem Antiquar in Leipzig gefunden hatte: „(. . .) hier
sah ich einen Spiegel, in dem ich Welt, Leben und eigen Gemüt in ent-
setzlicher Großartigkeit erblickte"4. Schon für Weihnachten desselben Jahres
bestellte er sich zuhäuse die Parerga und Paralipomena sowie das damals eben
erschienene Schopenhauer-Buch von Haym.
Es lohnt sich, die Briefe aus der darauffolgenden Zeit zu lesen, um fest-
zustellen, wie Nietzsche in Leiden und Nöten Trost bei Schopenhauer
suchte5 und sich darum bemühte, Anhänger für diese Philosophie zu
gewinnen6.
Auch die Pfingsten 1869 so vielversprechend in Triebschen beginnende
Freundschaft mit Richard Wagner steht weitgehend unter dem Zeichen der
gemeinsamen Verehrung Schopenhauers. Und wenn Nietzsche sich ab 1872
nach und nach von Wagner distanziert, so kommt das hauptsächlich daher,
daß er jetzt Schopenhauer ablehnt und ganz entgegengesetzte Wege gehen
will. Schließlich tragen an dem endgültigen Bruch im Jahre 1876 nicht die
Ereignisse der Festspielhauseröffnung in Bayreuth die Hauptschuld. Vielmehr
darf angenommen werden, daß Nietzsche die sowohl im Ring des Nibelungen
als auch im Parsifal-Projekt, das Wagner ihm im Herbst, bei einer Begegnung
in Sorrent, eröffnet haben soll, sich äußernde Gedankenwelt Schopenhauers
nicht mehr vertragen konnte.
Tatsache ist, daß Nietzsche bereits in der Geburt der Tragödie und in
den derselben vorausgehenden Vorträgen eine lebensbejahende Philosophie
entwickelt hatte, welche ihn als einen Gegner Schopenhauers erscheinen ließ.
Die 1874 entstandene Dritte Unzeitgemäße ist nur ein verspäteter Dank.
Nach Schopenhauer ist das Leben zutiefst tragisch. Sämtliche Individuen
sind „Erscheinungen" des einen, universalen Willens. Sie bekämpfen und zer-
fleischen sich untereinander, was soviel heißt, wie daß der Wille mit sich
selbst entzweit ist, daß er an sich selbst zehrt. Deshalb wird hier das Leiden
zum ontologischen Charakteristikum, und Glück bedeutet nur flüchtiges
Aufhören des Leidens. Das Wollen ist ja ein Streben, das einen Mangel, eine
3
Des jungen Nietzsche Weg zur Philosophie, in: Studien zur Philosophiegeschichte (= Kant-
studien, Ergänzungshefte 82), 1961, S. 152ff.; hier: S. 162.
4
E. Förster-Nietzsche, Der werdende Nietzsche. Autobiographische Aufzeichnungen Nietz-
sches, München 1924, S. 317.
5
Vgl. insbesondere die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, 16. 1. 1867, sowie
24. 11. u. 1. 12. 1867: KGB I 2.
6
Vgl. u. a. die Briefe an Freiherrn von Gersdorff vom 7. 4. 1866, Ende 8. 1866, sowie 24. 11.
u. 1. 12. 1867: KGB 12.
Nietzsche und Schopenhauer 3

Not voraussetzt, ohne welche es nicht da wäre. Keine Befriedigung ist


dauerhaft, „vielmehr ist sie stets nur der Anfangspunkt eines neuen Stre-
bens"7. Schopenhauer behauptet vom Weltwillen, daß er, „auf allen Stufen
seiner Erscheinung (. . .), eines letzten Zieles und Zweckes ganz entbehrt,
immer strebt, weil Streben sein alleiniges Wesen ist, dem kein erreichtes Ziel
ein Ende macht (. . .)" (S. 364). Die Not wird vergrößert durch die vorhan-
denen Hindernisse. Diese sind aber wiederum der Wille selbst, außer
welchem es ja nichts gibt. Der Wille zehn an sich selber, „weil außer ihm
nichts da ist und er ein hungriger Wille ist. Daher die Jagd, die Angst und das
Leiden" (S. 183). Er kann also ohne Kampf und Grausamkeit nicht bestehen
und ist folglich essentiell böse. Hier ist also die Natur nicht göttlich, sondern
vielmehr teuflisch. Mit Heimsoeth dürfen wir von einem „Pandämonismus"
sprechen8. Heinrich Hasse behauptet seinerseits richtig, die Welt, wie
Schopenhauer sie konzipierte, dürfte „ein Werk oder eine Erscheinung des
Teufels sein"9.
In der Geburt der Tragödie teilt Nietzsche durchaus die Ansicht vom
tragischen Charakter des Seins. Jedoch rechtfertigt er das Tragische, und zwar
indem er es zur Urquelle des Schönen macht. In seiner Interpretation der
attischen Tragödie, wo er den psychologischen und ästhetischen Gegensatz
von Apollo und Dionysos zum kosmischen Symbol erhebt, das ihm den
Schlüssel liefert zum Verständnis des Seins, schafft er die Grundlage seiner
gesamten dionysisch-tragischen Philosophie. Aus dem „Ding an sich" macht
er den leidenden dionysischen „Urkünstler" der Welt, der aus seinem
„Urschmerz" heraus die empirische, Apollo unterstellte Welt zu schaffen
gezwungen ist, um darin Erlösung zu finden. Der „Urschmerz" wird somit
untrennbar gepaart mit der „Urlust" schöpferischer Tätigkeit. Die Welt wird
zum Spiel, gespielt vom „Ur-Einen", zur Schau, in der das „Ur-Eine" sich
anschaut: sie wird zum Schauspiel· Hier herrscht die gute Eris Hesiods vor,
denn das Tragische wird auf doppelte Weise gerechtfertigt. Ohne den Wider-
spruch zu sich selbst, also Apollo, könnte Dionysos nicht bestehen. Anderer-
seits muß dieser Gegensatz groß und schmerzvoll sein, damit die empirische
Welt zur größtmöglichen Vollendung gelange.
Damit ist Schopenhauers Pessimismus überwunden. Das Leben, so kann
interpretiert werden, darf nicht verneint werden wegen des in ihm ent-
haltenen Leidens. Es wird auch nicht bejaht trotz des Leidens, sondern dank

I, S. 365 (im folgenden nur mit Angabe der Seitenzahl in Klammern im Text zitiert).
8
Metaphysische Voraussetzungen und Antriebe in Nietzsches Immoralismus (= Abh. der Aka-
demie der Wiss. und der Lit. Mainz, Geistes- und Sozialwiss. Klasse), Wiesbaden 1955,
S. 53.
9
Das Problem der Erlösung bei Schopenhauer und Nietzsche > in: 23. Jahrbuch der Schopen-
hauer-Gesellschaft, 1936, S. lOOff.; hier: S. 110.
4 Georges Goedert

dem Leiden. Allerdings sind nur starke Menschen, wie Nietzsche sie im
„tragischen Zeitalter der Griechen" sah, einer solchen Einstellung fähig.
Auch was Schopenhauers Konzeption des Genius betrifft, darf ange-
nommen werden, daß Nietzsche sich insbesondere angesprochen fühlte durch
die darin enthaltene Überzeugung von der Existenz einer durch Leiden
geadelten Elite der Menschheit, selbst wenn er fortan über die eigentliche
Funktion einer solchen Elite zum Teil ganz gegensätzliche Ansichten ver-
treten sollte.
Der Genius entsteht, nach Schopenhauer, wenn der Intellekt das not-
wendige Maß, das er für seine natürliche Bestimmung, d. h. den Dienst des
Willens, braucht, übersteigt und dazu gelangt, „sich rein objektiv zu
beschäftigen"10. Dies sei der Ursprung der Kunst, der Poesie und der
Philosophie. „Ein Genie", sagt Schopenhauer, „ist ein Mensch, der einen
doppelten Intellekt hat: den einen für sich, zum Dienste seines Willens, und
den ändern für die Welt, deren Spiegel er wird, indem er sie rein objektiv
auffaßt"11. Nur diejenigen, deren Intellekt sich vom Frondienst am Willen
loszulösen vermag, seien „die wahrhaft Edeln, die eigentliche Noblesse der
Welt. Die ändern sind Leibeigene, glebae adscripti"12. Vertieft in die „reine"
Anschauung der „Ideen", in denen der Wille sich in vollkommener Weise
objektiviere und welchen, im Gegensatz zu den „Erscheinungen", die
„flüchtigen Träumen zu vergleichen" seien (S. 331), somit metaphysische
Realität zukomme, sei der Intellekt für Augenblicke „ewiges Weltauge"
(S. 333). Und da der Intellekt „an sich" der eine Wille sei, höre der Wille hier
auf zu wollen, was gleichbedeutend sei mit vorübergehender Erlösung vom
Leiden.
Die „Ideen" werden bei Schopenhauer genauestens unterschieden von
den „Begriffen". Letztere, erreichbar für jeden, der mit Vernunft begabt ist,
seien bloße Hilfsmittel der Wissenschaft, welche sich ja ausschließlich auf
„Erscheinungen" beziehe und dem Satz vom Grunde unterstellt sei. Die
„Ideen" dagegen könnten nur erfaßt werden von demjenigen, „der sich über
alles Wollen und alle Individualität zum reinen Subjekt des Erkennens
erhoben hat (. . .)" (S. 276), also vom Genie.
Außer der Überzeugung, daß von allen Menschen der Genius am
meisten zu leiden habe, konnte Nietzsche von der Schopenhauerschen
Vorstellung des Genius somit vor allen Dingen noch zweierlei festhalten. — 1.
Der Verschiedenheit ihres Erkenntnisvermögens entsprechend sind die Men-
schen ungleich. Wenn er selbst auch die Ungleichheit im wesentlichen auf den
10
Parerga undParalipomena, Band 2 (im folgenden: PP II), in: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 6,
S. 72.
11
PP II, S. 77f.
12
PP II, S. 72.
Nietzsche und Schopenhauer 5

Dualismus der Stärke und der Schwäche begründet, darf dennoch bei ihm das
geistige Moment in der Stärke nie unterschätzt werden. — 2. Wie Schopen-
hauer räumt auch Nietzsche der Wissenschaft einen untergeordneten Platz
ein. Sein Irrationalismus äußert sich bereits in der Geburt der Tragödie ganz
entschieden in der Kritik des Sokrates. Dort wird der „theoretische Mensch",
der „wissenschaftliche Geist" als Produkt eines Kräftezerfalls dargestellt. Er
wolle das Leben korrigieren, weil er nicht mehr imstande sei, es zu ertragen
so, wie es ist.
Nur soweit aber die Gemeinsamkeit mit Schopenhauer! Was Nietzsche
nicht annehmen kann und wogegen er sich zeitlebens zur Wehr setzt ist die
Auffassung, daß der tiefere Einblick in das Wesen der Dinge Anlaß oder Aus-
gangspunkt zur Lebensverneinung sein sollte. Dementsprechend entwickelt
er, besonders in seiner dritten Periode, eine Schopenhauer total entgegen-
gesetzte Konzeption sowohl der Kunst als auch der Philosophie.
Es dürfte sicherlich nicht als überflüssig erachtet werden, wenn man für
das Studium der Beziehung Nietzsches zu Schopenhauer das herkömmliche,
alterprobte Drei-Perioden-Schema beibehält. Gestattet es doch eine Einsicht
in die verschiedenen Entwicklungsphasen dieser Beziehung, wobei manche
angeblichen Widersprüche im Denken Nietzsches aufgelöst werden können,
und besonders auch die Abhängigkeit seiner Christentumspolemik von seiner
Kritik Schopenhauers besser ans Licht ruckt.
Für Nietzsche ist Philosophie dionysische Bejahung des Lebens mitsamt
seinen fürchterlichen Aspekten. Was dagegen Schopenhauer unter Philoso-
phie versteht wird letzten Endes bestimmt durch die ethischen Grundprinzi-
pien des altindischen Denkens. Sie gipfelt in der „Heiligkeit", in welcher die
Erkenntnis vom Wesen der Welt die Möglichkeit zur totalen Verneinung des
Lebens liefert, zu seiner Überwindung und Vernichtung, zur endgültigen
Brechung des Weltwillens. Daneben kann die Kunst nur vorübergehend Trost
spenden. Wegen des ihr zugrunde liegenden Einblicks in das Wesen des
Willens sei sie jedoch eine Art Vorbereitung auf die Askese. Dies gelte in
ganz besonderem Maße für die Tragödie, von welcher Schopenhauer als von
der „höchsten poetischen Leistung" spricht. Zweck derselben sei die „Dar-
stellung der schrecklichen Seite des Lebens". Es sei „der Widerstreit des
Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Ob-
jektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt" (S. 298).
In einem nachgelassenen Fragment von 1888 spricht Nietzsche von dem
„skandalöse(n) Mißverständnis Schopenhauers, der die Kunst als Brücke zur
Verneinung des Lebens nimmt . . ,"13. Seit der Geburt der Tragödie stand
nämlich bei ihm fest, daß die Tragödie höchster Ausdruck der Bejahung sei,
13
KGW VIII 3, 14 [119], S. 90.
6 Georges Goedert

da gerade in ihr die schrecklichsten Aspekte des Lebens als Ingredienz maß-
loser Fülle und Schönheit erschienen. ?
Die Erkenntnis vom Wesen der Welt kann nach Schopenhauer aber
sowohl „Motiv" als „Quietiv" des menschlichen Wollens sein. Ist sie
„Motiv", dann bejaht damit der Wille sich selbst, d. h. „indem in seiner
Objektität d. i. der Welt und dem Leben, sein eigenes Wesen ihm als Vor-
stellung vollständig und deutlich gegeben wird, hemmt diese Erkenntnis sein
Wollen keineswegs; sondern eben dieses so erkannte Leben wird auch als
solches vom ihm gewollt, wie bis dahin ohne Erkenntnis, als blinder Drang,
so jetzt mit Erkenntnis, bewußt und besonnen" (S. 336). Diese Selbst-
bejahung des Willens, so meint Schopenhauer, könne sich bei einem Men-
schen vollziehen, der zwar das Wesen des Willens erkannt hätte, jedoch nicht
„zugleich durch eigene Erfahrung, oder durch eine weitergehende Einsicht,
dahin gekommen wäre, in allem Leben dauerndes Leiden als wesentlich zu
erkennen" (S. 334). Diesen Standpunkt konnte Nietzsche einnehmen, um ihn
gemäß seinen dionysischen Vorstellungen ±u vertiefen. Von ganz besonderer
Bedeutung ist wohl auch der Umstand, daß Schopenhauer an dieser so
wichtigen Stelle der Welt als Wille und Vorstellung, im Zusammenhang mit
der erwähnten lebensbejahenden Gesinnung, von dem Wunsch nach einer
„Wiederkehr" des individuellen Lebenslaüfes spricht. Er schildert den Men-
schen hier als jemanden, „der im Leben Befriedigung fände, dem voll-
kommen wohl darin wäre, und der, bei ruhiger Überlegung, seinen Lebens-
lauf, wie er ihn bisher erfahren, von endloser Dauer, oder von immer neuer
Wiederkehr wünschte (. . .)" (ebd.).
Was jedoch Schopenhauers ethischen Weg der Erlösung betrifft, wo die
Erkenntnis vom Wesen der Welt und des Lebens zum „Quietiv" des Willens
geworden sei und dazu führe, daß dieser sich selbst verneint und aufhebt, so
lehnt Nietzsche ihn nicht nur ab, sondern er betrachtet schon allein die
Versuchung, ihn zu gehen, als die größte Gefahr, auch für sich selbst. Die
„Verneinung des Willens zum Leben" ist nach ihm ein Produkt dfer Schwäche
und der „decadence". Sie ist Nihilismus in seiner unverhohlensten Aus-
drucksform. Dagegen offenbart sich die Stärke nach Nietzsche gerade da-
durch, daß die mit jeder tieferen Einsicht in das Wesen der Dinge verbun-
denen Leiden als notwendige Ingredienz schöpferischer Gestaltung am
Kunstwerk „Mensch" und somit als unentbehrliche Bedingung zur Über-
windung des Nihilismus verstanden werden.
„ — tiefer hinab in den Schmerz als ich jemals stieg", sagt Zarathustra,
„bis hinein in seine schwärzeste Flut! So will es mein Schicksal: Wohlan! Ich
bin bereit"14. Der wahre Philosoph wird in dieser dritten Periode dargestellt
14
Za III, Der Wanderer- KGW VI l, S. 191.
Nietzsche und Schopenhauer 7

als ein Mensch, der leidet und Leiden um sich herum verbreiten muß. Daß es
bei ihm keinen Platz für das Mitleid geben darf, liegt demgemäß auf der
Hand.

II. Nietzsches „Immoralismus" und dessen Bedeutung für seine Polemik


gegen das Christentum

Wir sind aber gezwungen, hier noch einen wichtigen Schritt weiterzu-
gehen, indem wir hervorheben, daß nach Schopenhauer die Leiden der
Existenz eine moralische Bedeutung haben. Mit seiner Lehre von der „ewigen
Gerechtigkeit" zeigt er, daß das Leiden die Konsequenz einer Schuld sei und
also eine verdiente Strafe darstelle. „Will man wissen," so schreibt Schopen-
hauer, „was die Menschen, moralisch betrachtet, im ganzen und allgemeinen
wert sind; so betrachte man ihr Schicksal im ganzen und allgemeinen. Dieses
ist Mangel, Elend, Jammer, Qual und Tod. Die ewige Gerechtigkeit waltet:
wären sie nicht, im ganzen genommen, nichtswürdig; so würde ihr Schicksal,
im ganzen genommen, nicht so traurig sein. In diesem Sinne können wir
sagen: die Welt selbst ist das Weltgericht. Könnte man allen Jammer der Welt
in eine Waagschale legen, und alle Schuld der Welt in die andere; so würde
gewiß die Zunge einstehn" (S. 415f.). Der Weltwille bestraft sich selbst. Er
ist Verbrecher und Henker zugleich. Heimsoeth spricht mit Recht von
„Schopenhauers Schuld- und Selbstverdammungsmetaphysik"15.
Die Schuld basiert nach Schopenhauer auf der mysteriösen Selbstent-
zweiung des Willens. Wer den „Schleier der Maja" zerreißt, sieht ein, daß der
Wille, „im heftigen Drange, die Zähne in sein eigenes Fleisch schlägt (. . .)"
(S. 418). Das Böse, d. h. das Verursachen fremden Leidens, und das Übel,
d. i. der eigene Schmerz, haften beide demselben Willen an: der Übeltäter und
der Gepeinigte sind ihrem tieferen Wesen gemäß eins. Schopenhauer zitiert
den spanischen Dichter Calderon: „Denn die größte Schuld des Menschen /
Ist, daß er geboren ward" (S. 419).
Dies ist natürlich eine wahre Verurteilung des Lebens im Namen der
Moral. Dazu verdammt Schopenhauer diejenigen, welche die moralische
Bedeutung der Welt leugnen wollen. In den Parerga und Paralipomena lesen
wir den so wichtigen Satz: „Daß die Welt bloß eine physische, keine
moralische Bedeutung habe, ist der größte, der verderblichste, der fundamen-
tale Irrtum, die eigentliche Perversität der Gesinnung, und ist wohl im
Grunde auch das, was der Glaube als den Antichrist personifiziert hat"16.

15
Metaphysische Voraussetzungen . . ., a.a.p. S. 51.
16
PP II, S. 214.
8 Georges Goedert

Wenn man sich nun bewußt ist, daß Nietzsche diese Textstelle genau-
estens kannte — den philologischen Beweis hierfür hat fa Jörg Salaquarda in
seiner Studie Der Antichrist auf endgültige Weise erbracht17 —, dann erkennt
man, daß der Sinn des Namens „Antichrist" sich bei ihm keineswegs
erschöpfen läßt durch die Bezeichnung „Feind des Christentums", auch
wenn das Werk Der Antichrist eine großangelegte Attacke auf das Christen-
tum darstellt. Nietzsche ging es an erster Stelle darum, Schopenhauers
Moralismus zu überwinden, und das Christentum war in seinen Augen die
weltweite Ausdrucksform der in demselben enthaltenen Prinzipien. Der
Name „Antichrist" bezieht sich somit bei ihm im Grunde auf das Ideal des
dionysischen Ja-Sagens zum Leben, welches er Schopenhauer entgegensetzt.
Sein „Immoralismus", sein „Jenseits von Gut und Böse", seine Lehre von
der „Unschuld des Werdens" bekräftigen dieses Ja zum Leben, während
dagegen Schopenhauers Moralismus das Nein zum Leben befürwortet.
Es läßt sich tatsächlich beweisen, daß Nietzsches Entlarvung und Be-
kämpfung der christlichen Werte stets bezogen ist auf das Christentum so,
wie es in der Schopenhauerschen Deutung hervortritt. Diese Deutung steht
aber mit den fundamentalen Äußerungen christlichen Selbstverständixisses
durchaus nicht immer in Einklang. Man gelangt folglich zu dem doppelten
Schluß, daß Nietzsches Angriffe gegen das Christentum eine untergeordnete
Bedeutung in seinem Werk haben und zum Teil ins Leere gehen.
Schopenhauer hatte das Christentum einseitig in der Perspektive seines
Pessimismus interpretiert. An der Tatsache, daß Nietzsche dasselbe so, wie es
in dieser Interpretation dargestellt ist, zum Gegenstand seiner Anfeindungen
machte, war wohl besonders auch das protestantisch-pietistische Milieu
verantwortlich, in dem er aufgewachsen war.
Nietzsches Kampf gegen die Moral beginnt mit Menschliches, Allztt-
menschliches. Man darf behaupten, daß derselbe im Laufe der ganzen zweiten
Periode fast ausschließlich gegen Schopenhauer gerichtet ist. Vom Christen-
tum ist da nur wenig und sozusagen nebenbei die Rede. Der Philosoph selbst
schreibt an einer Stelle der Genealogie der Moral, wo er über Menschliches,
Allzumenschliches spricht: „Es handelte sich für mich um den Wert der
Moral, — und darüber hatte ich mich fast allein mit meinem großen Lehrer
Schopenhauer auseinanderzusetzen (. . .). Es handelte sich insonderheit um
den Wert des ,Unegoistischenc, der Mitleids-, Selbstverleugnungs-, Selbst-
opferungs-Instinkte, welche gerade Schopenhauer so lange vergoldet, vergött-
licht und verjenseitigt hatte, bis sie ihm schließlich als die ,Werte an sich"
übrigblieben, auf Grund deren er zum Leben, auch zu sich selbst, nein
sagte"™,
17
In: Nietzsche-Studien 2, 1973, S. 91 ff.
18
GM, Vorrede 5: KGW VI 2, S. 263f.
Nietzsche und Schopenhauer 9

In welchem Maße Nietzsches „Umwertung aller Werte" eine Um-


kehrung der Schopenhauerschen Ethik darstellt, wird vor allem ersichtlich,
wenn man genau ins Auge faßt, welches nach Schopenhauer die drei funda-
mentalen Motivationen des menschlichen Handelns sind: 1. Der Egoismus,
der das eigene Wohl will. Schopenhauer stellt ihn der Gerechtigkeit entgegen.
— 2. Die Bosheit, welche die Absicht verfolgt, dem anderen wehzutun. Sie
kann sich bis zur äußersten Grausamkeit steigern. Schopenhauer stellt sie
insbesondere der Tugend der Menschenliebe entgegen. — 3. Das Mitleid,
welches das Wohl des Nächsten zum Ziele habe und somit allein es vermöge,
zu den Tugenden der Gerechtigkeit und der tätigen Menschenliebe zu veran-
lassen. Nur das Mitleid sei moralischer Natur. Egoismus und Bosheit sind
„antimoralische Triebfedern".
Nietzsche will dagegen zeigen, daß alles menschliche Handeln auf dem
Egoismus beruhe. Selbst der Mitleidige handele immer aus Egoismus. Das-
selbe gelte für die Bosheit, denn diese verfolge nicht an erster Stelle die Ab-
sicht, dem anderen wehzutun, sondern sie diene vor allem eigenen Interessen.
Damit ist das genaue Gegenteil zu Schopenhauers Moral aufgestellt. Der Weg
ist geöffnet für die Lehre vom Wert des Egoismus und der Bosheit beim
starken Menschen.
Selbstverständlich nimmt die Kritik des Mitleids hier eine zentrale
Stellung ein. Nietzsche mußte es insbesondere darum gehen, Schopenhauers
„Grundlage der Moral" zu zerstören.
Man weiß, daß nach Schopenhauer das wichtigste Moment des Mitleids
die Durchschauung des principii individuationis ist. Die Vielheit der Indivi-
duen ist nur „Erscheinung"; unser Sein „an sich" ist identisch mit dem einen
Weltwillen, der das „An-Sich" aller lebenden Wesen ausmacht. Die Schranke
zwischen Ich und Nicht-Ich wäre so für Augenblicke aufgehoben: in dem
Leiden des anderen leidet das Ich.
Demgegenüber behauptet Nietzsche, es sei unmöglich, sich in die Haut
eines anderen Menschen zu versetzen. Deshalb könne Mitleid, sofern es
wirkliches Leiden enthalte, immer nur die Empfindung des eigenen Ich sein.
Dies sei ein Affekt, gegen den es gelte, sich zur Wehr zu setzen, derin er stelle
eine Schwäche dar, „wie jedes Sich-verlieren an einen schädigenden Affekt".
„Gesetzt," sagt Nietzsche, „es herrschte auch nur einen Tag: so ginge die
Menschheit an ihm sofort zugrunde"19. Dieses eigene Leiden wolle der
Mitleidige durch sein Handeln überwinden. Seine Motivation sei also ego-
istisch. Vielfach sei ein solches Leiden aber nicht einmal vorhanden, und die
Hilfsbereitschaft des angeblich Mitleidigen sei dann bedingt durch andere
egoistische Gründe, wie etwa Furcht oder Streben nach Überlegenheit.
19
M 134.-KGWV l, S. 126.
10 Georges Goedert

Ungeheuer wichtig für Nietzsches Ablehnung und Verurteilung des


Christentums war der Umstand, daß Schopenhauer in Die Welt als Wille und
Vorstellung die „reine Liebe", und damit auch die christliche „caritas" mit
dem Mitleid identifizierte. Schopenhauer schrieb: „Alle Liebe ( , cari-
tas) ist Mitleid" (S. 443). Diese Identifikation sollte für Nietzsche stets weg-
weisend sein. Er unterzog die christliche Liebe genau derselben Kritik wie das
Schopenhauersche Mitleid. In diesem so wichtigen Punkte muß ihm aber
Einseitigkeit und Mangel an Umsicht vorgeworfen werden. Denn erstens darf
die christliche Liebe nicht so einfach mit Mitleid identifiziert werden. Das
Mitleid ist wohl eine der vielen Äußerungen der ,jCaritäs", nicht aber sie
selbst. Zweitens ist die christliche Liebe auch nicht identisch mit dem Mitleid
so, wie Schopenhauer es auffaßte. Und drittens muß überhaupt betont
werden, daß das Schopenhauersche Mitleid widersprüchlicher Natur ist.
Unter diesen Voraussetzungen ist es nicht besonders erstaunlich, daß
Nietzsche in einzelnen Punkten, speziell, wie sich leicht zeigen läßt, was die
„schenkende Tugend" im Zarathustra betrifft, Vorstellungen entwickelt, die
sich zwar seiner eigenen und Schopenhauers Auffassung vom Christentum
total widersetzen, aber trotzdem in mancherlei Hinsicht erinnern an die
christliche Lehre. Die wahre christliche Liebe hätte ein Modell sein können
für Zarathustras „schenkende Tugend". Dies einzusehen war Nietzsche aber
verwehrt wegen seines Verständnisses Schopenhauers. In Menschliches, Allzu^
menschliches lesen wir: „(. . .) so konnte die ganze mittelalterliche christliche
Weltbetrachtung und Mensch-Empfindung noch einmal in Schopenhauers
Lehre trotz der längst errungenen Vernichtung aller christlichen Dogmen eine
Auferstehung feiern." Und es folgt: „(. . .) ich glaube, daß es jetzt
niemandem so leicht gelingen möchte, ohne Schopenhauers Beihilfe dem
Christentum und seinen asiatischen Verwandten Gerechtigkeit widerfahren zu
lassen: was namentlich vom Boden des noch vorhandenen Christentums aus
unmöglich ist"20. Auf diese, hier erwähnte „Beihilfe" hat Nietzsche selbst nie
verzichtet, und so wurde seine „Umwertung" der Ethik Schopenhauers
schließlich zu einer Umkehrung der christlichen Werte. Das Christentum
bekämpft er stets als die Religion des Mitleids und der Weltverneinung.
Im Zusammenhang mit seiner Untersuchung von Nietzsches Kritik des
Christentums bezeichnet Heinrich Weinel Schopenhauer als „Nietzsches
Verhängnis". „Er hat freilich gemeint," so schreibt Weinel, „ihn völlig über-
wunden zu haben, und einmal selbst gesagt, daß Schopenhauer alles falsch
gesehen habe. In Wahrheit ist Nietzsche nie von der Problemstellung
Schopenhauers frei geworden. Er selbst bekennt es immer wieder: Mitleid
und Pessimismus, darum dreht sich sein Denken"21.
20
MA I 26: KGW IV 2, S. 43.
21
Ibsen, Björnson, Nietzsche. Individualismus und Christentum, Tübingen 1908, S. 231.
Nietzsche und Schopenhauer 11

Was nun die dritte Periode betrifft, so ist sie vor allem gekennzeichnet
durch eine ungeheure Verallgemeinerung des gegnerischen Ideals sowie durch
den nihilistischen Charakter, der darin demselben zugeschrieben wird.
Nietzsche greift hier nicht nur das Christentum auf eine viel direktere und
massivere Weise an, sondern er wendet sich gegen die gesamte philosophische
Tradition des Abendlandes seit Plato. Er wirft ihr vor, moralischer Natur zu
sein und sich auf die Metaphysik zu stützen, welche im wesentlichen ein
Produkt moralischen Urteilens sei. Überall wegweisend aber bleibt sein
Kampf gegen Schopenhauer.
Im Vordergrund steht jetzt der Dualismus der Stärke und der Schwäche.
Das Christentum und die abendländische Philosophie seien Produkte der
Schwäche, in denen, mit unterschiedlichen Dosierungen, die „decadence"
sowie die „Herden"- und „Sklaven"-Instinkte sich äußerten. Nietzsche
pocht besonders auf das Ressentiment, in dem er die fundamentale Triebkraft
im Aufbau der herkömmlichen Werturteile zu erkennen glaubt. Schopen-
hauer ist jetzt für ihn der letzte große Repräsentant der nihilistischen abend-
ländischen Tradition. In dessen „Willen zum Nichts" erblickt er die letzte
Konsequenz des Verlangens nach Gott, und Gott stellt er dar als eine bloße
Maske des Nichts. Die Kritik an Schopenhauers Pessimismus war der
Ausgangspunkt von Nietzsches Ansichten über den abendländischen Nihi-
lismus. Sie war auch der Anfang seiner Überwindung desselben.
Wenn Nietzsche Schopenhauer selbst auch nicht als einen „decadent"
bezeichnet, sondern in ihm, wie in Pascal, ein Beispiel der durch die
„Herden"-Moral verursachten „Verdüsterung der Starken" sieht22, so unter-
streicht er doch dessen Feindschaft dem Leben gegenüber. „Schopenhauer, so
heißt es im Antichrist, war lebensfeindlich: deshalb wurde ihm das Mitleid
zur Tugend . . ,"23. Diese Ansicht teilt Max Scheler, wenn er das Schopen-
hauersche Mitleid eine „aus dem Ressentiment geborene Gemütsbewegung"
nennt. Er schreibt: „Denn seine Bedeutung besteht für Schopenhauer nicht in
ihm als einer Äußerung der Liebe — die er vielmehr aus dem Mitleid
verstehen will —, auch nicht in einem Faktor, der zu Wohlwollen und Wohl-
tun leitet, sondern nur in einem vermeintlichen Innewerden der metaphy-
sischen Identität des an sich selbst leidenden Willens in allen Individuen"24.
Im Mitleid solle der Mensch ja erfahren, wie verneinungswürdig das Leben
sei, und also zur Askese verleitet werden.
Die eigentliche Tragweite von Nietzsches Kritik des Mitleids und damit
die wahre Bedeutung seiner „Umwertung" im Laufe dieser dritten Periode
22
Nachlaß Sommer 1886-Herbst 1887: KGW VIII l, 5 [35], S. 200.
23
AC 7: KGW VI 3, S. 172.
24
Das Ressentiment im Aufbau der Maralen, in: Gesammelte Werke, Bd. 3. Bern 41955,
S. 78f.
12 Georges Goedert

erfaßt man erst dann richtig, wenn man weiß, daß Schopenhauer in seiner
Schrift Über die Grundlage der Moral die Rachsupht ableitet von der
„Gehässigkeit":, welche er als „mehr teuflisch" bezeichnet gegenüber dem
Egoismus, den er „mehr tierisch" nennt25. Erinnern wir uns noch einmal
daran, daß nach ihm der Egoismus und die Bosheit die „antimoralischen
Triebfedern" sind, das Mitleid dagegen die einzige moralische! Aus letzterer
macht Nietzsche folglich das Produkt eines von Schopenhauer als „Laster"
bezeichneten und von einer „teuflischen" Grundpotenz abgeleiteten see-
lischen Hanges. Und da er nicht aufhört, die christliche Liebe mit diesem
Mitleid zu identifizieren, so gilt nach ihm in bezug auf dieselbe das gleiche
ungeheuerlich erscheinende Urteil. Die Liebe wäre somit eine Ausgeburt des
Hasses!
Nietzsche spricht Jesus selbst frei vom Ressentiment, nennt ihn aber
einen „decadent"26. Auch in diesem letzteren Punkt dürfte der Einfluß
Schopenhauers leicht erkennbar sein. Schopenhauer faßte die Gestalt Jesu auf
„als das Symbol, oder die Personifikation, der Verneinung des Willens zum
Leben" (S. 480), und Nietzsche erblickt in der „Verneinung des Willens zum
Leben" den eigentlichen Kern des Verfalls, der „decadence".
Nun muß jedoch bemerkt werden, daß Nietzsche zwar die Rachsucht
verurteilt, dagegen aber keineswegs das Böse als solches ablehnt. Ganz im
Gegenteil! Er meint, die starken Menschen brauchten sogar das Böse zur
Verwirklichung höheren Menschentums. In dem Kapitel Von den drei Bösen
preist Zarathustra die Wollust, die Herrschsucht und die Selbstsucht. Auch
dies ist Punkt für Punkt eine „Umwertung" von Schopenhauers moralischen
Werturteilen. Überhaupt enthält ja der Zaratbustra an vielen Stellen eine
direkte Auseinandersetzung mit Schopenhauer. Besonders wichtig in dieser
Beziehung sind die Kapitel: Von den Predigern des Todes, Von den Mitlei-
digen, Von der unbefleckten Erkenntnis, Der Wahrsager, Vom Geist der
Schwere.
Auch das Kapitel Der Notschrei ist hier zu erwähnen. Dieser „Not-
schrei", der zu Zarathustras Ohren gelangt, stammt von den „höheren
Menschen". Ihre Leiden sind unermeßlich. Äußerst bezeichnend ist es, daß
hier der „Wahrsager" wieder erscheint, die Personifikation Schopenhauers,
und Zarathustra zu seiner „letzten Sünde" verführen will, dem Mitleid mit
den „höheren Menschen". Von demselben „Notschrei" ist auch noch die
Rede am Schluß des Werkes. Und noch einmal muß Zarathustra sich gegen
die Versuchung zum Mitleid mit den „höheren Menschen" zur Wehr setzen.
Erst wenn diese Versuchung endgültig bestanden ist,.kann aus dem Morgen

25
In: Sämtliche Werke, a.a.O. Bd. 4, 2. Hälfte, S. 201 (im folgenden: GrMo).
26
AC 31: KGW VI 3, S. 200.
Nietzsche und Schopenhauer 13

Mittag werden, der „große Mittag". „Mein Leid und mein Mitleiden —", so
spricht Zarathustra, „was liegt daran! / Trachte ich denn nach Glücke? Ich
trachte nach meinem Werkel"27

III. Der tragische Mensch und der Glaube an die


„Ewige Wiederkunft"

Das „Werk" Zarathustras aber ist der „Übermensch". Damit er einst


verwirklicht werde, tut es not, daß es fürs erste die starken tragischen
Menschen gibt. Die Tugend solcher Menschen zeichnet sich nach Nietzsche
hauptsächlich durch drei Merkmale aus, von denen jedes wiederum das
genaue Gegenteil zur Tugend im Schopenhauerschen Sinne bildet. Es handelt
sich dabei um: 1. Die Macht. — 2. Die „Immoralität". — 3. Das Verlangen
nach Distanz.
Tugend bedeutet Macht. Das Verlangen nach Macht ist aber Egoismus,
und Schopenhauer hatte behauptet, daß Egoismus und moralischer Wert
einander ausschließen. Wir lesen bei ihm: „Hat eine Handlung einen egoisti-
schen Zweck zum Motiv; so kann sie keinen moralischen Wert haben: soll
eine Handlung moralischen Wert haben; so darf kein egoistischer Zweck,
unmittelbar oder mittelbar, nahe oder fern, ihr Motiv sein"28^ Dabei muß
berücksichtigt werden, daß der „Wille zur Macht" bei Nietzsche zugleich
ontologisches Prinzip und ontisches Modell ist. Als ontologisches Prinzip ist
er in allen lebendigen Wesen tätig, also auch bei den Schwachen. Die
„Sklaven"-Moral, genauso wie die „Herren"-Moral, wird aufgefaßt als
Äußerung eines Machtwillens. Nur bei den Starken aber bildet die Macht eine
Norm, die es zu erfüllen gilt. Diese Norm ist natürlich der Schopenhauer-
schen Resignation in der Askese total entgegengesetzt.
Ähnliches gilt für die „Immoralität". Dieser Begriff bedeutet bei
Nietzsche einerseits die Gleichgültigkeit gegenüber Gut und Böse, und ande-
rerseits die Verwirklichung des Bösen. Was diese letztere Bedeutung angeht,
so muß betont werden, daß Nietzsche den Begriff des Bösen hauptsächlich im
Zusammenhang mit der „Herden"-Optik erklärt. Er beziehe sich nämlich
essentiell auf Verhaltensweisen, welche das „Herdentier" schädigen oder gar
vernichten. Genau dieses Böse integriert Nietzsche aber in die Tugend des
tragischen Menschen. Daneben verleiht er der „Immoralität" in diesem
zweiten Sinne jedoch auch eine ontologische Dimension, indem er den Kampf
für das Erringen der Macht und die damit notwendigerweise verbundene

27
Za IV, Das Zeichen: KGW VI l, S. 404.
28
GrMo, S. 206.
14 Georges Goedert

Schädigung anderer Lebewesen als wesentliche Merkmale alles Daseins dar-


stellt, wobei der von den Schwachen geforderte Verzicfy auf Macht ebenfalls
als ein Mittel dieses Kampfes gewertet werden müsse, also ebenfalls böse sei.
Dieser Punkt dürfte als ein besonders relevantes Beispiel gelten für die
ganze Eigenart von Nietzsches Beziehung zu Schopenhauer. Eigentlich hat er
ja gerade in Schopenhauers Lehre von der Selbstzerfleischung des Willens in
der Welt der Individuation gelernt, in welch hohem Maße alles Leben Kampf
ist und wie die einzelnen Individuen sich durch Herrschaft über andere zu
behaupten bestrebt sind. Aus der Bejahung dieses Willens hat Schopenhauer
aber einen Unwert gemacht, ja eine wahre „Sünde". Wert hat für ihn nur die
„Verneinung des Willens zum Leben" in der Askese, sowie die Tugend,
welche, wie die Askese, auf der Erkenntnis beruhe, daß alles Leben „an sich"
Leiden sei und daß „an sich" alle Lebewesen aus demselben, einen,
leidenden Weltwillen beständen. Nietzsche, der Vernichter der Moral und der
Metaphysik, führt Schopenhauers Auffassung vom Leben zu Konsequenzen,
•welche dieselbe selbst hätte zeitigen können, wenn es für sie nicht den meta-
physischen Hintergrund gegeben hätte und auch nicht die Ethik des Mitleids
und der Askese als angebliches Gegenmittel zum Leiden und zum Kampf.
Wenn Nietzsche zeigt, daß selbst im Mitleid und in der Askese der Mensch
nach eigenen Interessen strebt, dann heißt das, daß es keine eigentliche
Umkehr gebe, daß demnach die „Immoralität" allgemein sei und also das
Furchtbare des Lebens in keiner seiner Erscheinungen fehle. Die moralische
Verurteilung des Lebens verliert ihren Sinn, wenn sie selbst als Lebens-
bejahung hingestellt wird und es keinen von ihr unabhängigen Standort gibt.
Was die „Immoralität" betrifft, ist Nietzsche somit in doppelter Weise
als Antipode Schopenhauers zu betrachten. Erstens dadurch, daß er sich
„jenseits von Gut und Böse" stellt, und zweitens, indem er das Böse zu
einem Wert beim starken Menschen macht. Seine Lehre zeigt hier, in ihren
extremsten Konsequenzen, offensichtlich provokatorische und selbst ver-
brecherische Züge auf. Auch diese erscheinen erst in ihrer wahren Bedeutung,
wenn man in ihnen einen Gegenstoß mehr auf die Moral Schopenhauers
erkennt.
Drittens zeichnet sich wahre Tugend nach Nietzsche, wie gesagt, aus
durch das Verlangen nach Distanz. Jeder starke Mensch muß den ihm
ureigenen Weg in der Praktik der Tugend gehen, damit eine weitere Er-
höhung des Typus „Mensch" ermöglicht werde. Zarathustra sagt: „Den Weg
nämlich — den gibt es nicht!"29 Dieser resolute Individualismus steht
ebenfalls in größtem Gegensatz zu Schopenhauer, der ja gelehrt hat, daß alle
Menschen „an sich" nicht nur gleich, sondern sogar eins seien, und daß alle
29
Za III, Vom Geist der Schwere 2: KGW VI l, S. 241.
Nietzsche und Schopenhauer 15

Tugendhaftigkeit notwendigerweise bestimmt sei durch die Einsicht in diese


Identität.
Den absoluten Höhepunkt in der Überwindung Schopenhauers erreicht
Nietzsche aber mit dem Glauben an die „Ewige Wiederkunft". Darin wird
selbst die Verneinung bejaht. Man darf sprechen von einer dionysischen
Theodizee.
Daß der „Wiederkunfts"-Gedanke die extremste Äußerung von
Nietzsches Herausforderung Schopenhauers darstellt, beweist schon allein die
Stelle im 2,arathustray wo er zum erstenmal ausgesprochen wird. Zarathustra
wendet sich damit an den „Zwerg", welcher seinen „Teufel und Erz-
feind^)", den „Geist der Schwere" verkörpert30. Dieser ist das Symbol für
alles, was zum Pessimismus der praktischen Lebensverneinung gehört oder zu
derselben hinführt. Er stellt auch den Hang dar, der Nietzsche selbst in
seinem Innern zu diesem Pessimismus immer wieder hinzuziehen drohte. Der
„Zwerg" verschwindet bei der Verkündigung dieses großen Gedankens, was
bedeutet, daß er denselben nicht verträgt und von ihm verjagt wird.
Schopenhauers Pessimismus kann nur vollkommen überwunden werden
sofern genügend Kraft vorhanden ist, den Gedanken an die „Ewige Wieder-
kunft des Gleichen" auszuhalten. Nur wer dazu imstande ist, vermag es auch,
durch seinen also gesteigerten Heroismus das Dasein unter all seinen Aspek-
ten zu rechtfertigen, ja zu segnen, selbst das Furchtbare in ihm und vor allem
auch das Kleine und Ekelerregende.
Der Verurteilung allen Daseins durch Schopenhauer steht somit die
Rechtfertigung des Werdens unter all seinen Formen entgegen. Dazu gehört
schließlich selbst die Rechtfertigung des „Geistes der Schwere". Dieser muß
dasein, damit im Kampf gegen denselben das Ideal der Bejahung sich durch-
setze. Durch den Glauben an die „Ewige Wiederkunft" werden folglich auch
die christliche Lehre und der Pessimismus Schopenhauers gerechtfertigt, da
nur der Kampf gegen jene den Weg zu solch ungeahnten Höhen bahnen
konnte. „Denn, so fragt Zarathustra, muß nicht dasein, über das getanzt,
hinweggetanzt werde?"31
Sicherlich darf man schlußfolgernd schon behaupten, Schopenhauer sei
in einer gewissen Hinsicht, wie Heinrich Weinel sagt, „Nietzsches Ver-
hängnis" gewesen. Man ist aber auch verpflichtet, sich zu fragen, ob es ohne
die Stellungnahme zu Schopenhauer Nietzsche gelungen wäre, das Leben auf
solch sublime Weise zu verherrlichen.

30
Za III, Vom Gesicht und Rätsel 1: KGW VI l, S. 194ff.
31
Za III, Von alten und neuen Tafeln 2: KG^ VI l, S. 244.
Disk ussiori

Ulmer: Da Ihr Thema „Schopenhauer und Nietzsche" lautete, war es


naheliegend, Nietzsches Denken ganz von seiner Auseinandersetzung mit
Schopenhauer her zu entwickeln. Dieses Vorgehen ist berechtigt und sogar
unerläßlich, aber man muß auch seine Grenzen beachten. Wenn Sie zuletzt
sagten, daß Schopenhauer Nietzsches Verhängnis gewesen ist und daß noch
seine späten Konzeptionen entscheidend von seiner Auseinandersetzung mit
diesem Philosophen geprägt blieben, dann scheint mir die Gefahr der Einsei-
tigkeit aufzutauchen. Ich möchte daher einen etwas weiteren Rahmen
abstecken.
Schopenhauer und Nietzsche galten länge und gelten in gewisser Hin-
sicht noch als die philosophischen Außenseiter des neunzehnten Jahrhun-
derts. Da liegt es natürlich nahe, dem Einfluß des einen Außenseiters auf den
anderen nachzugehen. Aber wir sehen inzwischen, daß sowohl Schopenhauer
wie auch Nietzsche viel stärker, als man früher gedacht hatte, auch in den
großen Strom der philosophischen Überlieferung eingebettet sind. Schopen-
hauers Außenseiterrolle besteht wesentlich darin, daß er den bisherigen
Begriff des philosophischen Gottes aufgegeben hat. Wenn er aber den Begriff
des Willens in den Mittelpunkt stellt und wenn er die Selbsterkenntnis des
Menschen als Weg zur Erkenntnis des Seins ansetzt, dann nimmt er Grund-
momente der neuzeitlichen Metaphysik auf. In seiner Haltung zur Welt meint
er sich von der philosophischen Tradition zu unterscheiden. Aber Nietzsche
hat sicherlich mit Recht betont, daß dieses Moment der Verneinung der sinn-
lichen Welt in der metaphysischen Tradition immer schon enthalten war, und
daß es bei Schopenhauer nur eine besondere Färbung annimmt und an Inten-
sität gewinnt. Nietzsche hat auch gesehen, daß Schopenhauers These vom
Dasein als Leiden der christlichen Weltauffassung verpflichtet ist und daß
Schopenhauer auch in dieser Hinsicht viel tiefer mit der Tradition verflochten
ist, als er selbst sieht und meint.
Wenn man Schopenhauer von Nietzsche aus in den Blick nimmt, dann
fällt vor allem auf, daß er völlig unhistorisch denkt. Insofern steht Nietzsche
— dies ist die These, die ich aufstelle — von Anfang an außerhalb von
Schopenhauers Denken, trotz aller Gedanken und Motive, die er noch in der
Geburt der Tragödie von diesem übernimmt. Nietzsche hat der Philosophie
eine Aufgabe zugewiesen, an die Schopenhauer nie gedacht hat, nämlich die
Aufgabe, ihre Gegenwart zu kritisieren und ihr gleichzeitig neue Möglich-
Diskussion 17

keiten zu einer positiven Entwicklung aufzuzeigen. Von diesem anderen Ver-


ständnis von Philosophie her muß man m. E. auch seine Entwicklung
verstehen, und man kommt auf diesem Weg vielleicht weiter, als wenn man
nur an Schopenhauer orientiert bleibt* Denn Nietzsches Auseinandersetzung
mit Schopenhauer ist von vornherein wesentlich gegen die Metaphysik
überhaupt gerichtet und nicht speziell gegen Schopenhauer, von dem er noch
einzelne Momente übernimmt. In der zweiten und dritten Periode spricht
Nietzsche immer wieder von dieser Aufgabe der Philosophie, daß sie der
modernen Kultur einen neuen Weg weisen und einen neuen Impuls geben
soll. Und seine Entwicklung ergibt sich daraus, daß er Grundlagen und
Maßstäbe für diese Wegweisung sucht. Wenn er schließlich den „Willen zur
Macht" aufstellt, so bleibt auch er damit der Überlieferung verhaftet, was
z. B. Heidegger deutlich herausgestellt hat. Untersucht man die Struktur von
Nietzsches „Willen zur Macht", dann erkennt man starke Verwandtschaften
zum Freiheitsbegriff bei Descartes und zur absoluten Selbstbestimmung des
Menschen bei Kant.
Die Verbindung Nietzsches mit der großen Überlieferung ist jedenfalls
stärker, als man zunächst anzunehmen geneigt ist. Nietzsche hat zwar nicht
sehr viel direkt rezipiert. Aber das philosophische Genie zeigt sich eben
darin, daß es auf alle diese Probleme kommt, auch wenn es nur eine Quelle
oder einige wenige Quellen durchgearbeitet hat. So ist es möglich, daß
Nietzsche z. B. viel mehr von Hegel hat, als nach seiner geringen Kenntnis
von dessen Texten zu erwarten wäre. Er hat das schließlich selbst gemerkt,
z. B. wenn er im Ecce homo über die Geburt der Tragödie sagt, daß der Zeit-
und Entwicklungsrhythmus, den er dort angegeben hatte, ganz hegelisch sei.
Ein letzter Punkt: Den Immoralismus Nietzsches verstehe ich etwas
anders als Sie, Herr Goedert, ihn uns entwickelt haben, indem Sie ihn aus der
Wendung gegen Schopenhauer interpretieren. Ich meine, man muß primär
auf die positive Aufgabe sehen, die Nietzsche mit „Umwertung aller Werte"
bezeichnet. Er meint doch nicht, daß alle Werte beiseite geschoben werden
müssen, sondern er sagt ausdrücklich, daß die überlieferten Werte erhalten
bleiben sollen. Sein Programm der Umwertung bezieht sich auf die Maßstäbe
der bisherigen Werte und zielt auf eine neue Rangordnung ab. Dabei hat
Nietzsche keineswegs nur die Stärke, sondern auch die Verantwortung
betont. Um an Ihr Thema anzuknüpfen: Von Schopenhauer übernimmt
Nietzsche auch den Begriff der Gerechtigkeit, und er versucht, ihn für seine
Vorstellung von einer neuen Wertordnung fruchtbar zu machen. Und bei
aller Polemik gegen das, was aus der. Schwäche stammt, ist Nietzsche doch
offen für die Einsicht, daß auch die decadents etwas höchst Positives geleistet
haben: sie haben den Geist differenziert und die Klugheit entwickelt.
18 Georges Goedert

Müller-Lauter: Ohne Zweifel gehört Nietzsche' in die Tradition der


abendländischen Metaphysik hinein und ist ohne sie nicht zu denken. Man
darf in der Tat nicht nur auf Schopenhauer sehen, wenn man über die Ein-
flüsse reflektiert, die für Nietzsche maßgeblich gewesen sind. Aber man kann
auch in der anderen Richtung übertreiben. Es war eine, wie ich meine, recht
negative Folge der insbesondere in Deutschland und Frankreich zeitweilig
und zum Teil bis jetzt vorherrschenden Interpretation Nietzsches mit Hilfe
der Heideggerschen Konzeption von Metaphysikgeschichte, daß der Begriff
des Willens so gefaßt wurde, daß Schopenhauer angesichts des großen Zuges
dieser Entwicklungen unwesentlich wurde. Ich finde es deswegen sehr
wichtig, daß man die Zusammenhänge Schopenhauer—Nietzsche wieder ge-
nauer beleuchtet, als das lange Zeit geschehen ist. Aber indem man dies
tut, wird man nicht darum herumkommen, die Differenzen zwischen
Schopenhauer und Nietzsche mit aller Schärfe und Deutlichkeit aufzuzeigen,
auch in den Punkten, wo gewisse Einflußsphären nachweisbar sind.
Ich frage mich, ob Nietzsches schon ganz früh, etwa schon zur Zeit der
Geburt der Tragödie und davor, entwickelte innere Distanz zu Schopenhauer
nicht noch deutlicher herausgestellt werden müßte. Ich denke etwa daran,
daß Nietzsche Schopenhauer schon vor 1873 als den großen Vereinfacher
schildert. Das ist für die von Herrn Ulmer genannte Problematik wichtig,
denn Nietzsche sagt in diesem Zusammenhang: Schopenhauer räumt mit der
„Scholastik" auf, womit er natürlich die idealistische Philosophie meint.
Nietzsche ist Schopenhauer dankbar für den Freiraum, den er geschaffen hat,
aber zugleich kehrt er diesen Begriff der Vereinfachung auch ins Negative und
wirft Schopenhauer eine Tendenz zum Popularisieren und Simplifizieren vor.

Gründer: Die beiden Diskussionsbemerkungen von Herrn Ulmer und


Herrn Müller-Lauter haben daran erinnert, daß dieser Ausschnitt in einen
übergreifenden geschichtlichen Zusammenhang eingebettet ist. Über Art und
Ausmaß der Verbindungen gehen die Meinungen freilich auseinander. Herr
Ulmer stimmt mit Heidegger darin überein, daß Nietzsche wesentlich in
diesen Zusammenhang der großen metaphysischen Tradition gehöre und an
frühere Positionen anknüpfe, während Schopenhauer für die Ausbildung
seiner Grundgedanken keine zentrale Bedeutung zukomme. Danach wäre nur
einer der beiden, nämlich Schopenhauer, ein Außenseiter. Demgegenüber
ließe sich natürlich auch die umgekehrte Position vertreten: Schopenhauer
gehört als der Popularisator des Kantianismus ganz der Tradition an,
Nietzsche habe die Tradition in Gestalt dieser Schopenhauerischen Verein-
fachung kennengelernt und sich dann radikal von ihr abgewandt. Dieser
These zufolge wäre er der Außenseiter.
Man muß die Divergenz der Perspektiven sehen, man braucht nicht zu
Diskussion 19

optieren. Dazu möchte ich auf ein demnächst posthum erscheinendes Buch
aufmerksam machen. (Das Buch ist inzwischen unter dem Titel Zeitliches und
Ewiges in der Philosophie Nietzsches und Schopenhauers, Frankfurt a. M.
1977 erschienen. — Anm. der Redaktion bei der Drucklegung.) Der noble
Autor, Otto Most, dem nach seinem ganzen übrigen Wirken eine nähere
Befassung mit Nietzsche kaum angesehen werden konnte, ist zwei Jahrzehnte
hindurch im Stillen mit ihm umgegangen. Seine These lautet: Nietzsche habe
das Problem der Selbstverwirklichung aufgenommen, das von der großen
metaphysischen Tradition des Altertums und Mittelalters behandelt worden
war. Nietzsche wird als Respondent von Thomas gesehen, er hat dessen
Frage nach der Selbstverwirklichuhg des Menschen zu beantworten gesucht.
Schopenhauer gehört für Most dagegen spezifisch der Neuzeit an, die von
Descartes bis zum Deutschen Idealismus reicht und eine Episode bleibt, über
die Nietzsche hinausgreift. Das ist eine wieder völlig andere historische
Perspektive.
Gilman: Ich glaube, wir sind gleich zu Beginn der Tagung auf eine der
entscheidenden Fragen der heutigen Nietzsche-Forschung gestoßen. Es geht
nicht nur um das Verhältnis Nietzsches zu Schopenhauer und um den Nach-
weis, was Nietzsche von Schopenhauer übernommen hat, sondern vor allem
um die Frage, wie ein Denker überhaupt einen anderen beeinflussen kann,
welche Faktoren dabei eine Rolle spielen. Der übergreifende Zusammenhang,
auf den ich hinweisen möchte, ist die ganze zeitgenössische Metaphysikkritik,
nicht nur innerhalb der philosophischen, sondern auch der theologischen Dis-
kussion. Sie, Herr Goedert, haben diesen Aspekt gestreift, als Sie auf die Ver-
teuf elung der Welt durch Schopenhauer hingewiesen haben. Innerhalb der
protestantischen Theologie der vierziger und fünfziger Jähre des neun-
zehnten Jahrhunderts, d. h. in der nach-Schleiermacherschen Theologie,
wurde dieses Problem ebenfalls diskutiert. Von dieser Debatte hat Nietzsche
sicherlich als Schüler in Näumburg und Schulpforta Kenntnis genommen —
wenn er sie nicht schon gleichsam ,mit der Muttermilch' aufgenommen hat.
Übrigens ist die Debatte dann bis zu Harnack weitergelaufen.
Als Nietzsche Schopenhauer las und seine These von der schlechtesten
aller möglichen Welten zur Kenntnis nahm, war er mit dieser Problematik
wohl schon vertraut und konnte von daher Schopenhauers Denken in Zu-
stimmung und Widerspruch rezipieren. Mich würde interessieren, ob man
über diesen theologiegeschichtlichen Hintergrund seines Denkens und über
die Wechselbeziehung von Theologie und Philosophie mehr und Genaueres
herausfinden könnte.
Kaufmann: Ich möchte Ähnliches sagen, wie die meisten meiner Vorred-
ner, es vielleicht aber etwas provozierender formulieren. Manchmal habe ich
20 Georges Goedert

das Gefühl, daß man von Nietzsche entweder gar nicht oder provozierend
reden sollte. Ich finde das, was Sie gesagt haben, Herr, £oedert, im einzelnen
sehr solide, wenig problematisch und kaum Ansätze für eine Diskussion
lassend; die Gesamtperspektive ist meiner Ansicht nach trotzdem sehr frag-
lich. In Amerika gibt es jetzt einen Literaturhistoriker, der mit folgender These
Aufsehen erregt: man müsse bei jedejn Autor zuerst herausfinden, wer sein
Vorgänger ist, den er als seinen großen Rivalen empfunden hat. Die Interpreta-
tion reduziert das Werk des jeweiligen Autors dann darauf, daß es Dokument
eines ständigen Kampfes mit dem Vorgänger ist. Das trifft vielleicht im
großen und ganzen auf die Zweitrangigen zu. An den Erstrangigen — und ich
rechne Nietzsche zu den Erstrangigen — ist eben dies interessant, daß sie
mehrere Dimensionen haben und nicht nur immer mit einem kämpfen.
Nietzsche wird im Grunde trivialisiert, wenn man in seinem gesamten Werk
nur diese eine Perspektive verfolgt, daß er Schopenhauer bekämpft. Ich gebe
Ihnen gerne zu, daß es immer auch mitschwingt, und daß es sich lohnt, das zu
zeigen. Wogegen ich protestiere, ist nicht, daß Sie das gezeigt haben, sondern,
daß sie verschiedentlich vorgeschlagen haben, daß das der Hauptgesichts-
punkt ist, der alles erklärt.

Goedert: Zu dem, was mehrere Herren gesagt haben und was Herr
Kaufmann zuletzt pointiert formulierte: Es tut mir leid, wenn ich den Ein-
druck der Einseitigkeit hervorgerufen habe. Es liegt mir fern, Nietzsche nur
unter dem Aspekt seiner Auseinandersetzung mit Schopenhauer zu sehen;
aber das Thema forderte doch von mir, eben diesen Aspekt herauszustellen
und zu beleuchten.

Saß: Herr Ulmer ist davon ausgegangen, daß Schopenhauer und Nietz-
sche als die beiden großen Außenseiter der Philosophie des neunzehnten Jahr-
hunderts gelten. Und meines Erachtens gehören sie tatsächlich nicht in den
konventionellen Hauptstrom des neuzeitlichen Philosophierens hinein, der
sich im wesentlichen an einer säkularisierten, nachchristlichen Geschichts-
philosophie orientiert hat. Die Geschichtsphilosophie gibt für diese Tradition
den Rahmen ab, innerhalb dessen die Humanität und die Selbstverwirk-
lichung des Menschen die Maßstäbe finden. Schopenhauer und Nietzsche
aber lassen sich nicht in den Sog eines philosophischen Trends ziehen, für den
das alte Wort ,revolutioc die Bedeutung Revolution' annimmt; sie fassen es
weiterhin als ,Rotation', ,Kreisbahn' auf: darin sind beide gleich. Schopen-
hauer geht zurück bis zu Plato und orientiert sich an der pseudo-aristoteli-
schen Schrift , in der zum Ausdruck kommt, was die
griechische Philosophie mit der Wiederkehr des Gleichen meint, nämlich die
prästabilierte Harmonie des Kosmos. Aber Nietzsche hat offensichtlich die
Diskusston 21

Aporie gesehen, in die Schopenhauer gerät, wenn er einerseits von der


Orientierung an dem Immer-Gleichen der Rotation spricht, wenn ihm diese
Orientierung aber andrerseits — auf Grund seiner negativen Metaphysik —
nicht mehr die Fähigkeit gibt, die gesellschafts- und weltgestaltende Funktion
der Philosophie wahrzunehmen. Deswegen ging er den Schopenhauerischen
Weg zurück zu Plato nicht mit; und vermutlich hat er, beeinflußt durch
Schopenhauers Sicht, nun auch Sokrates für all das verantwortlich gemacht,
was in seiner Zeit im Zuge der säkularisierten geschichtsphilosophischen
Orientierung seiner Meinung nach falsch gekufen ist.

Djuric: So viel ich sehe, sind wir in der Mehrzahl einig darüber, daß der
Referent die Bedeutung von Schopenhauer für Nietzsche ein bißchen zu hoch
veranschlagt hat, oder zumindest, daß bei seiner Perspektive der Hintergrund
von vielen Einsichten Nietzsches vielleicht ein wenig im Dunkel bleibt. Ich
möchte gerne einen Punkt herausgreifen. Sie, Herr Goedert, haben gesagt,
daß Nietzsches Kritik an Schopenhauers Pessimismus der Anfang seiner
Kritik am Nihilismus gewesen sei. Ich möchte das ein wenig modifizieren
und nehme dabei den Hinweis von Herrn Ulmer auf, daß Nietzsches Denken
in einem größeren Zusammenhang steht. Das, was Nietzsche Nihilismus
nennt, ist doch in erster Linie eine Grundhaltung und geistige Einstellung
seiner Zeit. Nietzsche hat sie nicht nur bei Schopenhauer, sondern z. B. auch
bei der ganzen Romantik, in der Literatur etc. gefunden.

Salaquarda: Ich gkube, daß man dem schlechterdings nicht widersprechen


kann, was Herr Kaufmann gesagt hat, daß es eben die Eigenständigkeit
Nietzsches ist, die sein Denken interessant und wesentlich macht. Nietzsche
hat alles mögliche aufgenommen und er hat es immer sofort, schon bei der
ersten Lektüre, in etwas Eigenes umgeprägt. Trotzdem meine ich — und ich
bin in diesem Punkt ganz einverstanden mit dem, was Herr Goedert vorge-
tragen hat —, daß der Beziehung zu Schopenhauer eine ganz besondere
Bedeutung zukommt. Jedenfalls war Schopenhauer der Philosoph, den Nietz-
sche insgesamt und original gelesen hat, was selbst auf die Griechen nur zum
Teil zutrifft. Wenn man nun Nietzsches Texte durchgeht, so trifft man im
veröffentlichten Werk wie im Nachlaß ständig auf Reflexionen über Gedan-
ken Schopenhauers. Wenn Nietzsche eine allgemein gehaltene Bemerkung
macht, etwa hinsichtlich des Problems vom Wert der Moral, er habe sich in
diesem Punkt nur mit Schopenhauer auseinanderzusetzen gehabt, dann
bedeutet das noch nicht viel. Ähnliches sagt er z. B. auch über Sokrates: er
setze sich im Grunde immer nur mit Sokrates auseinander. Derartige Bemer-
kungen hat Nietzsche wiederholt gemacht. Aber die Vielzahl der Anspielun-
gen und Bezüge in seinem Werk, die sich von Anfang an finden und sich bis
22 Georges Goedert

zuletzt durchhalten, sprechen eine deutliche Sprache. Er ist eben tatsächlich


immer wieder auf Schopenhauer, dessen Texte und Problemformulierungen
er im Kopf hatte, zurückgekommen.

Müller-Lauter: Ich glaube nicht, daß schon das Wesentliche von Nietz-
sches immoralistischer Gegenkonzeption getroffen ist, wenn man zeigt, daß
er Schopenhauers Mitleidsbegriff aufnimmt, ihn einprägt in den Begriff der
christlichen Liebe, und die so verstandene Haltung bekämpft. Sie, Herr
Goedert, haben selbst darauf hingewiesen, daß Nietzsche später die gesamte
abendländische Philosophie quasi als ,Moralphilosophie* begreift. Dieser
weite Begriff von Moral macht deutlich, daß Nietzsches Immoralismus im
Grunde in einem vollständigen Verzicht auf Metaphysik besteht. Nietzsche
sieht, daß Schopenhauer der Metaphysik einen sozusagen unzulänglichen
Abschied .gegeben hat, indem er sie nur ins Negative umgebogen hat. Der
radikale Verzicht auf Metaphysik, den Nietzsche fordert, fördert zugleich die
Spontaneität des Individuums oder des jeweilig einzelnen besonderen Willens
zur Macht. Im Referat haben Sie diesen „resoluten Individualismus", wie Sie
ihn nannten, sehr stark herausgestellt. Um ihn angemessen zu würdigen, darf
man ihn aber m. E. gerade nicht mehr auf dem Hintergrund von Schopen-
hauers Willens-Metaphysik sehen.
Die Nietzsche-Rezeption zu Beginn unseres Jahrhunderts hat einen fol-
genschweren Irrtum begangen, als sie behauptete, Nietzsche setze den Willen
zur Macht als ein metaphysisches Prinzip anstelle des Schopenhauerischen
Willens. Denn das ist faktisch nicht der Fall. Nietzsches Wendung gegen
Schopenhauer ist viel radikaler. Ihr Hinweis, daß Wille zur Macht für Nietz-
sche ontologisches Prinzip und jeweilige ontische Gegebenheit sei, deutet dies
schon an; ich meine, daß man das Begriffspaar ontologisch-ontisch in diesem
Zusammenhang mit einigen Vorbehalten verwenden kann.

Kaufmann: An einer Stelle haben Sie, Herr Goedert, etwas* gesagt, was
meiner Ansicht nach falsch ist, ich möchte beinahe sagen absurd: Nietzsche
bekämpfe das Christentum stets als die Religion des Mitleids. Das stimmt
doch gewiß nicht, das ist nur ein Moment seiner Christentumskritik. Wenn er
aber z. B. sagt: Christentum ist Platonismus fürs Volk, dann denkt er nicht
an das Mitleid, sondern an ganz andere Dimensionen. Oder wenn er in
Antichrist den Glauben und die Gläubigen psychologisiert. Anderswo stehen
wieder andere Momente im Thema, vor allem das Ressentiment. Obwohl es
stimmt, daß in Nietzsches Rede vom Antichrist diese Stelle aus Schopen-
hauers Parerga mitschwingt — ich habe das auch irgendwo erwähnt — , so ist
das wiederum nicht das einzige Moment; wenn Nietzsche einem Buch den
Titel Der Antichrist gibt, dann hat dieser Titel eine Fülle von Bezügen.
Diskussion 23

Nietzsche im Grunde nicht als AnticÄrat, sondern als Anuschopenhauer dar-


zustellen — das macht ihn für mich einfach langweilig, man degradiert ihn
damit zu einer historischen Fußnote.

Goedert: Aber es läßt sich doch anhand der Texte belegen, daß Nietz-
sche bis zuletzt vom Christentum wesentlich als von der Religion des Mitleids
spricht. Daß noch andere Aspekte hinzukommen, nun das leugnet niemand.
Aber es ist interessant und bedeutsam, daß er gerade diese Ansicht so oft
wiederholt. Auch und gerade in Antichrist erwähnt er sie.

Salaquarda: Zu Herrn Kaufmanns Kritik möchte ich sagen: aus dem


Antichrist darf natürlich nicht ein Antischopenhauer werden. Wichtig ist
jedoch, daß der Antichrist von Nietzsche so aufgefaßt wird, wie ihn Schopen-
hauer aufgefaßt hat. Schopenhauer sagt,, daß der Antichrist diejenige Position
symbolisiere, die der Welt nur eine physische, keine moralische und meta-
physische Bedeutung zumißt. Nur von dieser Definition her ist die Radikali-
tät von Nietzsches Immoralismus und von seiner Metaphysikkritik ver-
ständlich.
Noch etwas anderes: Sie haben, Herr Goedert, von dem pietistischen
Milieu gesprochen, in dem Nietzsche aufgewachsen ist. Das muß meines
Erachtens ein wenig modifiziert werden. Ich kenne mich da nicht so genau
aus, Herr Janz weiß wahrscheinlich wesentlich besser Bescheid. Schon
Blunck hat eine differenziertere Darstellung gegeben. Reiner Bohley in
Naumburg hat diesen Problemkreis detailliert untersucht und dabei her-
ausgestellt, daß es in den Familien Nietzsche und Oehler sehr verschiedene
Formen von Christentum gegeben hat, zum Beispiel einen gewissen Rationa-
lismus, der — wenn ich mich recht erinnere — z. B, durch die Großmutter
Nietzsche vertreten wurde. Leider sind Bohleys Ergebnisse bisher noch nicht
veröffentlicht,

Behler: Herr Goedert, Sie haben betont, daß Nietzsche in seiner dritten
Phase, im Gegensatz zu Schopenhauers Auffassung, der Philosophie die Auf-
gabe einer dionysischen Bejahung des Lebens ohne Ausnahme, auch in seinen
schrecklichsten Aspekten, zuweist. Das ist eine etwas unspezifizierte Formu-
lierung für einen komplexen Sachverhalt, die sich freilich durchaus auf Nietz-
sches eigene Äußerungen berufen und stützen kann. Ganz ähnlich weist
Nietzsche ja auch der Kunst die Bejahung des Lebens als eigentliche Aufgabe
zu, — Sie haben dies" ebenfalls cJÄgesfellt. Aber wie soll man das konkreter
verstehen? Was meint Nietzsche mit der „Bejahung des Lebens" genauer?
Läuft diese These letztlich nicht auf eine recht unsubtile, vielleicht sogar,
wenn ich das sagen darf, plumpe Bestimmung der Kunst hinaus? Um zu
24 Georges Goedert

einem besseren Verständnis zu kommen, ist es vielleicht angebracht, an


Werke zu denken, die Nietzsche schätzte. In seiner ersten Phase hatte er die
klassische griechische Tragödie als Maßstab vor Augen. Daß sein Preis von
Bizets Carmen wenigstens zum Teil ironisch als Spitze gegen Wagner aufzu-
fassen ist, hat Nietzsche selbst gesagt. Wenn man an andere Kunstwerke
denkt, die er schätzte, z.B. Werke von Dosto'evskij, Stendhal, — nun: einem
Literaturkritiker werden alle möglichen Assoziationen kommen, wenn er
über derartige Werke nachdenkt, aber kaum „dionysische Bejahung des
Lebens". Ähnliche Bedenken treten gegenüber der philosophischen dionysi-
schen Bejahung des Lebens bei Nietzsche selbst auf. Wie verhält sich die Pose
der dionysischen Lebensbejahung, die Betonung von Kraft und Stärke, zu
Äußerungen, in denen die Maske als wesentliches Ingrediens der Nietzsche-
schen Haltung bestimmt wird, z. B. in den Abschnitten „Der freie Geist"
oder „Was ist vornehm?" aus Jenseits von Gut und Böse? Hinter der Maske
verbirgt sich dort eine sehr gebrechliche, eine — wenn man will — sehr
dekadente Natur. Die Stärke erscheint von dort aus als Plumpheit, wogegen
die decadence zu einer Verfeinerung des Geistigen beiträgt.

Goedert: Nietzsche hat einmal gesagt, daß er nur ästhetische Werte


gelten lasse; er hat auch den Philosophen als eine Art Künstler aufgefaßt und
die Philosophie als Kunst, sogar als die eigentliche Kunst. Denn der Philo-
soph soll als der Gesetzgeber der Menschheit den Menschen so bearbeiten, wie
der Künstler seinen Marmorblock bearbeitet, damit ein neuer Typ Mensch
entsteht, ein schönerer Mensch. Sicherlich liebte Nietzsche es, wie Sie, Herr
Behler, hervorheben, unter Masken zu philosophieren. Sehr wichtig
erscheint mir aber die Frage, ob er sich selbst tatsächlich als dekadenten,
gebrechlichen Menschen sah. Wähnte er sich nicht, im Gegenteil, im Besitz
der „großen Gesundheit", als einer, der den Willen hat, gesund zu sein? und
er hat behauptet, daß diese „große Gesundheit" in seinem Werk zum Aus-
druck komme. So weit meine Informationen reichen, hat Nietzsche sich in
dieser Hinsicht nicht als ein gebrechliches Wesen aufgefaßt, sondern er hat
sein Werk immer als Produkt der Wohlgeratenheit verstanden.

Behler: Dies wollte ich nicht bestreiten; aber ich wollte zum Ausdruck
bringen, daß sich in Nietzsche duale Tendenzen bekunden, daß es nicht möglich
ist, ihn einseitig auf die Position der Stärke und Vitalität festzulegen, daß sich
in seinem Werk vielmehr auch andere Züge bekunden, die ihm ein viel
interessanteres Profil verleihen. Und ich lege Wert auf die Feststellung, daß
ein Kunstwerk wohl dionysische Lebensbejahung ausdrücken kann, daß sich
diese aber in einem sehr komplexen, indirekten Verhältnis bekunden muß,
wenn es sich wirklich um ein Kunstwerk handeln soll.
Diskussion 25

Goedert: Ich erinnere daran, daß sich Nietzsche in Ecce homo zwar als
decadent und dessen Gegensatz zugleich bezeichnet, daß er dann aber erläu-
ternd hinzufügt: „summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Spezia-
lität war ich decadent".

Kaufmann: Daß Nietzsches Auffassung von der Kunst sehr differenziert


ist, das zeigt sich meines Erachtens von Anfang an. Ich möchte auf ein Bild in
der Geburt der Tragödie hinweisen, das selten erwähnt wird, das meiner
Ansicht nach aber eines der interessantesten ist, nämlich auf die Vision des
„künstlerischen Sokrates". Damit spielt Nietzsche doch gewiß auf sich selbst
an, und hier haben wir den Hintergrund für seine Auffassung des Künstlers.
In der späteren Vorrede zur Geburt der Tragödie schreibt Nietzsche, daß das
Interessanteste an dem ganzen Buch der Kampf ist zwischen Kunst und Wissen-
schaft. Es sei ihm darum gegangen, die Wissenschaft in der Perspektive der
Kunst zu sehen und die Kunst in der des Lebens. Und in dieser Perspektive
sieht er sich selbst als einen „künstlerischen Sokrates".

Saß: Ich möchte an das anknüpfen, was Herr Kaufmann zum Sokrates-
Bild von Nietzsche gesagt hat. Ich frage mich, ob das Bild, das der frühe
Nietzsche zeichnet, richtig ist. Gibt es nicht schon bei Sokrates selbst das
Dionysische? Oder, anders gefragt: ist das Dionysische tatsächlich so un-
-moralisch, wie es der späte Nietzsche begreift? Ist es ,moralisch* im pejora-
tiven Nietzscheschen Sinn, von der praxisverpflichtenden Aufgabe der Philo-
sophie zu sprechen? Ich möchte es zugespitzt formulieren: schließen das Prin-
zip des Maieutischen und das Prinzip des Kreativen einander aus ? Die Antwort
hängt davon ab, welche Rolle man dem Mythos bei Sokrates im Zusammenhang
der notwendig gewordenen erkenntnistheoretischen Orientierung in der nach-
sophistischen Zeit zuschreibt.
In einem späten Brief an Overbeck schreibt Nietzsche, daß von den drei
„Baslern" — Burckhardt, Overbeck und Nietzsche — doch Jacob Burckhardt
der größte sei und daß ihm der Lorbeer gehöre. Das ist eine schwer zu inter-
pretierende Äußerung. Ich vermute, daß sie auch etwas mit dem Griechen-
und Sokratesbild zu tun hat. Dann würde Nietzsche die griechische Philoso-
phie zuletzt doch nicht antisokratisch auffassen, sondern sich zu dem Burck-
hardtschen Griechenbild hinwenden, demzufolge Humanität und Selbstver-
wirklichung nicht durch die Trends der Geschichte, sondern gegen diese
erreicht werden.

Janz: Herr Goedert, ich glaube, Sie sehen selbst Ihren Beitrag als Klärung
eines Segments aus der Gesamtsicht von Nietzsches Positionen und Reaktio-
nen an. Wie so oft bei der Darstellung von solchen Segmenten, vermisse ich
26 Georges Goedert

allerdings ein Thema. Wenn man der Frage nachgeht, wie Nietzsche zu
seinen Gegenpositionen gekommen ist, wird leider viel in wenig an seine Her-
kunft aus der klassischen Philologie gedacht, wie auch unsere klassischen Philo-
logen sich leider viel zu wenig mit Nietzsche beschäftigen. Viele von Nietz-
sches Gedanken haben ihren Ursprung in der griechischen Philosophie und
Literatur, zum Teil bis auf die Formulierungen. „Umwertung aller Werte"
geht auf den Bericht des Diogenes Laertius über Diogenes von Sinope im
20. Kapitel des 6. Buchs zurück und „Jenseits von Gut und Böse" auf seine
Ausführungen über Pyrrhon im 11. Kapitel des 9. Buchs. Auch „Über Wahr-
heit und Lüge im äußer-moralischen Sinne" ist eine griechische Formulierung.
Hier steht noch ein weites Feld für Forschungen offen.

Goedert: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis. Daß Nietzsches
Denken stark durch sein Studium der Griechen beeinflußt wurde, steht außer
Zweifel. Im Zusammenhang mit meinem Thema möchte ich jedoch auch
betonen: Nietzsches Verständnis der griechischen Philosopie* wie es z. B. in
der unveröffentlicht gebliebenen Schrift Die Philosophie im tragischen Zeit-
alter der Griechen zum Ausdruck kommt, ist seinerseits deutlich von Scho-
penhauers Denken geprägt.

Djuric: So wichtig die Griechen für Nietzsche sind, — es sind keines-


wegs nur die Griechen, von denen er Anregungen empfangen hat. Nehmen
wir als Beispiel die Wiederkunftslehre, die Sie, Herr Goedert, ja als einen
Versuch Nietzsches zur Überwindung des Nihilismus genannt haben. Nietz-
sche selbst meinte, daß sein Wiederkunftsgedanke am ehesten von Heraklit
und der Stoa geprägt sei. Aber man kann sagen, daß Nietzsche auch bei
Hegel gewisse Anhaltspunkte für diese Konzeption gefunden hat. Nach dem
System Hegels ist die Wirklichkeit ein Kreisgeschehen, und der eigentliche
Seinssinn ist die Rückkehr des Seins zu sich selbst. Schon Schelling hat gesagt,
daß Hegel, wenn er konsequent dächte, den Wiederkunftsgedanken lehren
müßte.

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