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KLINGENDE AUFKLÄRUNG AUS ÖSTERREICH – ZUM HISTORISCHEN

QUELLENSTATUS MUSIKALISCHER KUNSTWERKE

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die folgenden Ausführungen werden keine neuen
Forschungsergebnisse zum 18. Jahrhundert beinhalten, sondern begnügen sich mit dem
Versuch, zwei aktuelle Forschungsansätze auf die gegenwärtige Rezeption musikalischer
Kunstwerke zu beziehen. Was ist damit gemeint?
Sehe ich es richtig, so haben seit dem Beginn unseres Jahrhunderts zwei Denkfiguren
besonderen Einfluss auf die empirische historische Forschung gezeitigt, nämlich erstens die
Frage nach dem Wesen und der konkreten Funktionsweise eines von Aleida und Jan Assmann
so genannten „kulturellen Gedächtnisses“, das sich wesentlich vom eingebürgerten
Verständnis von „Tradition“ unterscheidet, sowie zweitens der „spatial turn“, der dem
Zusammenspiel von historischen und geographischen Orten eine völlig neue Bedeutung
beimisst – in den Worten von Karl Schlögel: Im Raume lesen wir die Zeit. Diese beiden
Ansätze repräsentieren, nebenbei bemerkt, die beiden Hauptthemen des diesjährigen
Kongresses, nämlich die Bedeutung von Zeitkonzepten in der Aufklärung und den
Schwerpunkt Zentraleuropa. Wenn sich diese beiden Ansätze nun gegenseitig beeinflussen,
entstehen die uns bekannten Analysen so genannter „Gedächtnisorte“, die eben nun nicht
mehr topographisch beschränkt sind, sondern neben Plätzen, Denkmälern, Schlachtfeldern
auch Speisekarten, staatliche oder religiöse Symbole, Briefmarken, Manner-Schnitten,
Hymnen etc. umfassen können.
Was bedeutet dies nun für die Betrachtung musikalischer Kunstwerke (ich halte an dieser
emphatischen Bezeichnung in voller Absicht fest, ohne hier meine Gründe darlegen zu
können), insbesondere jener der Instrumentalmusik, die sich bekanntlich erst im 18.
Jahrhundert recht eigentlich zu einer eigenen Gattung zu emanzipieren vermochte? Nehmen
wir als Beispiel die C-Dur-Klaviersonate Hob. XVI: 50 von Joseph Haydn, von der noch die
Rede sein wird, bezüglich derer die bekannten Forschungsansätze folgendermaßen skizziert
werden können: Historisch – Wann ist das Werk entstanden? Auf welchem Papier ist das
Autograph notiert? Wann erfolgte der Erstdruck? Für welches konkrete Instrument hat Haydn
komponiert? Soziologisch – Wer konnte diese Sonate hören? In welchem Saal kam sie zur
Aufführung? Was kosteten gegebenenfalls die Eintrittskarten? Rezeptionsgeschichtlich –
Wurde die Sonate im 19. Jahrhundert gespielt, oder geriet sie in Vergessenheit? Was bedeutete
im 20. Jahrhundert die Schallplatte und die CD für diese Sonate? Gendergeleitet – Warum
komponierte Haydn beinah alle Klavierwerke für weibliche Schülerinnen? Analytisch –
Welche harmonischen Rückungen gibt es? Wie sind die Taktgruppen organisiert? Etc.
Eine Fülle von empirisch erforschbaren Fakten wurde bisher von der Forschung zutage
gefördert, und kein Zweifel kann darin bestehen, dass Haydns Sonate uns als historische
Quelle einigen Aufschluss über jenes Jahrhundert gibt, das zu erforschen uns hierher nach
Graz gebracht hat.
Aber ist das alles? Verschwindet nicht – so könnte man fragen – das genuin musikalische
Phänomen hinter der Differenziertheit der genannten Einzelanalysen? Ergäbe eine
phänomenologische Herangehensweise nicht wertvolle Erkenntnisse betreffend die
Mentalitätsgeschichte des aufgeklärten „dixhuitième“ oder gar einen Beitrag zu einer
Psychohistorie im Sinn von Peter Sloterdijk, der uns mit seinem Roman Der Zauberbaum so
erstaunliche Einsichten in die Geisteswelt des vorrevolutionären Europa zu geben vermochte?
Anhand von vier Beispielen
1. Vergangene Zukunft
2. Der Pianist und die Bananenschale
3. Die Mauern des Palais
4. „Mehr noch – er ist Mensch!“
möchte ich im Folgenden zeigen, was hiermit gemeint ist, jedoch nicht ohne zuvor in
holzschnittartiger Vereinfachung anzugeben, wie ich den Begriff „Aufklärung aus Österreich“
verstehe.

Folgende drei Paradigmen der gesamteuropäischen Aufklärung, so man an diesem Begriff


festhalten will, scheinen unbestreitbar zu sein:
1. Der methodischen Vorgangsweise der im 17. Jahrhundert entstandenen modernen
Naturwissenschaft folgend, ersetzt die Aufklärung die in der christlich-religiös geprägten,
voraufgeklärten Welt dominierende E r k l ä r u n g der Schöpfung, die auf die Frage „ W
a r u m ?“ geantwortet hatte, durch eine B e s c h r e i b u n g der Welt, die sich nun der
neuen Frage „ W i e ?“ widmet. Im 17. Jahrhundert noch die Methode einer
Spezialdisziplin, wird die Frage nach dem „Wie“ des Funktionierens der Welt zu einem
allgemeinen „common sense“. Ausnahmen bestätigen die Regel: Goethes Opposition gegen
Newtons Farbentheorie wird bis heute weitestgehend milde belächelt. Dieses Herausdriften
der Phänomene aus einem prästabilierten Ordnungs- und damit Verweisungszusammenhang
(noch Leibnitz und Spinoza versuchten diesen auf unterschiedlichste Weise vor seinem
endgültigen Zusammenbrechen nochmals philosophisch zu legitimieren), ist der Todesstoß
für die Idee der Repräsentation, die die Musik in pythagoreischer Ausprägung bisher
konstitutiv getragen hatte.
2. Mit dem unaufhaltsamen Abdanken des hergebrachten Ordo-Gedankens, wächst eine
Instanz zu bisher ungeahnter Bedeutung heran, die wir als neuzeitliches Individuum bzw.
modernes Subjekt bezeichnen. Der Mensch ist insofern privilegiert, als er über ein Organ
verfügt, das ihm gestattet, die Dinge der Welt in eine messbare und nachvollziehbare Ordnung
zu bringen und sich ihrer zu bedienen, nämlich seinen Verstand. An allem lässt sich zweifeln,
nicht jedoch daran, dass ich diesen Zweifel denken kann: „Cogito, ergo sum.“
3. Dieser Verstand ist so universal wie egalitär und vermag traditionelle Bindungen an
Herkunft, Stand, Religion, Familie, Geschlecht nach und nach zu lockern, ja sogar etwa im
rechtlichen Sinn ganz aufzulösen. Dieser neue Freiraum zwingt den Menschen zu einer
beunruhigend neuen Aufgabe, nämlich zur moralischen Selbstverantwortung. Kein Gott,
keine Geister oder Gespenster, kein Fluch oder Verwünschung und schon gar kein Schicksal
determinieren mehr vollends die Geschicke des je individuellen Lebensvollzugs, das
moralische „Ich“ wird zur letzten, unhintergehbaren Instanz – die großen Stücke der
Aufklärungsepoche (Nathan der Weise, Iphigenie auf Tauris, Die Zauberflöte, Fidelio etc.)
handeln eben von diesem Konflikt von Autonomie und Gnade (Ivan Nagel). In der treffenden
Terminologie des Wiener Physikers Herbert Pietschmann wird aus der vormodernen
„Sorgfaltspflicht“ gegenüber göttlichen oder absolutistischen Gesetzen nun die freie
„Verantwortung „ vor dem persönlichen Gewissen.

Was nun den „österreichischen Sonderweg“ der Aufklärung angeht, können vier Faktoren
namhaft gemacht werden: erstens die Jahrhunderte lange dynastische Kontinuität der Familie
Habsburg (bzw. der Casa d’Austria), die, zweitens, über ein übernationales, pluralistisch
verfasstes Vielvölkerreich herrschte, das, drittens, durch die ebenso Jahrhunderte lange
Bedrohung durch das Osmanische Reich ein spezifisches Verhältnis der christlichen
Religionsgruppen untereinander ausbildete, was direkt zum zentralen vierten Faktor führt:

Wir verdanken Leslie Bodi den Hinweis auf die einschneidenden, langfristigen Auswirkungen
der Bibelübersetzung Martin Luthers: diese führte zu grundlegenden Mentalitätsunterschieden
zwischen katholischen und protestantischen Kulturkreisen. Der Protestant war aufgefordert,
durch geduldiges, selbständiges und kontinuierliches Studium der eben nun in seiner
Muttersprache vorliegenden Bibel seine Religiosität – sola scriptura! – zu vertiefen. Zwei
ganz bedeutende Folgewirkungen sollten sich daraus ergeben, die dem katholischen Bereich
fremd bleiben mussten, nämlich erstens eine ungeheure Aufwertung und Verfeinerung der
eigenen Sprache, sozusagen ein reformierter Logozentrismus, und zweitens ein rasanter
„Individualisierungsschub“! Bewegt sich der Hauptteil religiösen Lebens nicht mehr in einer
gemeinschaftlichen liturgischen Feier, sondern ist ein „Dialog“ zwischen dem einzelnen
Gläubigen und seiner Heiligen Schrift, kommt es zu einer enormen Konjunktur der
Innerlichkeit und damit zu einer ständigen Sorge um das eigene, persönliche Seelenheil. So
fromm und gottergeben der Pietismus zunächst auch immer anmuten mag, zeigt sich doch
etwa beim Studium der Texte von J. S. Bachs Kantaten, dass sie im Grunde ein Festival von
nur mühsam unterdrückter Ich-Besessenheit sind, was freilich keinesfalls ein pejoratives
Urteil darstellt.
Beide Auswirkungen, Logozentrismus und Individualisierungsschub, bleiben dem vom
Lateinischen dominierten, katholischen Lebensbereich weitestgehend fremd. Dazu kam der
agitatorisch-dynamische Charakter der Gegen-Reformation, wie es deren Name ja sagt.
Musste mit dem Westfälischen Frieden von 1648 (wenn nicht schon mit dem Augsburger
Religionsfrieden von 1555) die Idee einer katholischen Universalmonarchie zwar endgültig
zu Grabe getragen werden, blieb es dennoch das Ziel der Gegenreformation, die Idee des
geschlossenen Kosmos, als deren Repräsentant der Herrscher des Absolutismus gelten wollte,
wenigstens durch Illusion aufrechtzuerhalten. Für die sinnliche Umsetzung der Dynamik, die
nun Malerei, Architektur, Liturgie etc. erfasste, war natürlich die Musik am besten geeignet –
zeremonielle Funktion und gegenreformatorischer Geist verschmolzen in der Musik. (Es war
übrigens der russische Philosoph, Theologe und Universalgelehrte Pavel Florenskij, der in
den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts auf den so interessanten wie leider noch
unerforschten Zusammenhang zwischen dem Geist der Gegenreformation und der gleichzeitig
sich durchsetzenden Verwendung von Ölfarbe und Orgelton hinwies.) Eine tragende Schicht
„bürgerlicher“ Intellektueller, die mit elaboriert-schneidender Sprache emanzipatorische
aufklärerische Forderungen wie im übrigen Europa hätte stellen können, hatte sich in der
Habsburgermonarchie gar nicht herausbilden können, und noch in Grillparzers König
Ottokars Glück und Ende wird mit überlegener Ironie konzediert, dass man am Rhein
vielleicht mehr gelesen habe, als in Österreich.
Die Forderungen des aufgeklärten Verstandes äußerten sich naturgemäß vor allem im Medium
der Sprache. In einem sprachlich pluralistischen Staat konnte jedoch die Forderung nach einer
einheitlichen Sprache kaum sinnvoll erhoben werden, und wurde versucht, diese „von oben“
zu dekretieren, wurde sie als schiere Unterdrückung empfunden, wie es Joseph II. bekanntlich
einsehen musste. Es ist paradox genug, dass genau die Pluralität, – durch die Forschungen
von Moritz Csáky in den letzten Jahren eindringlich ins Bewusstsein gehoben –, gemeinsam
mit der Rezeption aufklärerischer Ideen schließlich in deren Gegenteil, nämlich in die
Herausbildung des Nationalismus im 19. Jahrhundert führte.
Das Zusammenwirken all dieser Faktoren begünstigte die Ausbildung eines Sonderwegs der
zentraleuropäischen Aufklärung, dessen prägende Charakteristika sind:
- Es kommt zu keinem so scharf zugespitzten Gegensatz zwischen rational-ahistorischem
Verstand und geschichtlicher Tradition wie anderswo.
- Die Rezeption aufklärerischer Gedanken erfolgt innerhalb der traditionellen Institutionen
von Staat und Kirche: Aufklärung und Religion wie auch die Staatsidee geraten in keinen
unauflöslichen Konflikt. Die Bibliotheken der österreichischen und böhmischen Stifte und
Klöster enthalten seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts auch alle Hauptwerke der
europäischen Aufklärung, im Arbeitszimmer des Erzbischofs Colloredo in Salzburg hängt
ein Porträt von Voltaire. Dies führte zum berühmten Schlagwort einer „Aufklärung von
oben“.
- Die gängige Opposition zwischen „progressivem“ Bürgertum als neu entstandene
Trägerschicht aufklärerischer Ideen und „reaktionärem“ Adel als Bewahrer von
Traditionen, lässt sich – wenn überhaupt – auf die Habsburgermonarchie in keiner Weise
sinnvoll anwenden.
- Die hiesige Aufklärung ist mitgeprägt von lebhafter Rezeption äußerer und innerer
Pluralität. Vermittelt durch die österreichische Herrschaft in Oberitalien und Neapel
gelangen im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts die Ideen der italienischen Aufklärung
nach Wien (Muratori, Vico etc.), die musikalischen Anregungen sind, wie wir an
Ausschnitten aus zwei Mozart-Opern noch sehen werden, enorm. Ab 1748 fließen vor
allem durch die Politik des Kanzlers Kaunitz französische, besonders physiokratische
Aufklärungskonzepte in die Monarchie ein, die Gründung des Deutschen Nationaltheaters
1776 durch Joseph II. verrät beispielweise die Ideen von G. E. Lessing aus der deutschen
Tradition. Im „Inneren“ wird Joseph Haydn, zu dem wir nun übergehen, ständig mit
kulturellen Äußerungen von slawischen, ungarischen oder Zigeunervolksgruppen
konfrontiert sein.

Was bedeutet dies nun für die Musik? – Wir kommen zu unserem ersten Fallbeispiel:

Vergangene Zukunft

Es versteht sich beinahe von selbst, dass eine Gesellschaft, die ihr hauptsächliches
Augenmerk auf das „Wie“ des Funktionierens und dessen möglichst reibungsloses
Aufrechterhalten richtet, die Frage nach dem Ende der Dinge aus den Augen zu verlieren
beginnt. Reinhart Koselleck hat in seinem Klassiker Vergangene Zukunft meisterhaft
dargestellt, wie sich seit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges die Erwartung des Jüngsten
Gerichtes zeitlich immer weiter hinausschob, bis schließlich mentalitätsgeschichtlich der
Glaube an dieses Ereignis überhaupt mehr und mehr verschwand (ca. um 1800). Das
„Verdunsten“ dieser Endzeiterwartung ermöglichte die Herausbildung dessen, was Koselleck
den „offenen Erwartungshorizont“ einer Gesellschaft nennt. Der Verlauf der Zeit in diese
Offenheit hinein wird mit einem zentralen Wort der Aufklärung – es ist eine ihrer
bedeutendsten Erfindungen – als „Fortschritt“ bezeichnet. Die Geschichte dieser Kategorie zu
erzählen würde ein ganzes Buch füllen – uns geht es aber um deren unmittelbare
Auswirkungen auf die Musik.
Komponiert ist dieser offene Erwartungshorizont ganz explizit im Finale des Es-Dur-
Streichquartettes op.33/2 (1781) von Joseph Haydn:
Das Thema des 6/8-Prestos besteht aus drei Gliedern von je zwei Takten, von denen die ersten
beiden mit einer Achtelpause enden. Um Eintönigkeit zu vermeiden, lässt Haydn das dritte
Glied gerade nicht mit einer Pause, sondern auf einem Viertel enden und schließt daran die
eben deshalb tatsächlich schlusskräftige Schlussgruppe. In der Coda nun, nach zwei ganz
außerhalb des sonstigen heiteren Tonfalls des Satzes liegenden, nachdenklichen Akkorden der
vier Instrumente, die bereits anzukündigen scheinen, dass bald etwas nicht mehr in Ordnung
sein wird, stehen statt der Achtelpausen nun gar Generalpausen, und statt des erwarteten
Wechsels auf die Viertel erscheint das bekannte Motiv zum vierten Mal! Eine merkwürdige
Leere entsteht – und da bringt Haydn die allererste Version des Motivs nochmals, und zwar
im abgründig-orientierungslosen Pianissimo, das Lachen kann einem beinah im Halse stecken
bleiben.

TONBEISPIEL I: Joseph Haydn: Streichquartett op.33/2 Es-Dur. Finale. Presto. Takt 148-172

Die Musik hat aus eigener aufklärerischer Kraft soeben jenen offenen Horizont erschlossen,
der – um es pathetisch zu formulieren – vollkommen außerhalb der gestalterischen
Reichweite der bisherigen Menschheitsgeschichte gelegen hatte! Das fünfte Quartett dieser
Serie beginnt gar mit einer Schlusswendung – die verlässliche christliche Heilszeit ist
allerspätestens an dieser Stelle vollkommen aus den Fugen geraten!

Tonbeispiel II: Joseph Haydn: Streichquartett op.33/5 G-Dur Vivace assai. Takt 1-2 und Takt
301-305

Nun können wir etwas besser verstehen, welche Auswirkungen das neue aufklärerische
Weltbild auf die Musik (der Wiener Klassik) zeitigen musste: Begriff sich die musica antiqua
in pythagoräischer Tradition als eine repräsentativ-rhetorische, die den Hörer überreden,
überzeugen und in seinem Innersten zu affizieren wollte, verfolgt die so genannte klassische
Musik nunmehr einen grundlegend anderen, ja geradezu konträren Anspruch, nämlich in
einem diskursiven und offenen Sinn selbst Sprache zu sein!
Die Musik mutiert also, überspitzt gesprochen, von einer Predigt oder Ansprache zu einem
diskursiven Gespräch, ganz im Sinn von Goethes berühmtem Diktum über das Genre des
Streichquartetts, die ist nicht länger „Medium“ einer außer ihr liegenden Botschaft, sondern
sie wird zu einem wesenhaft-aktuellen, transitorischen Ereignis. Dazu benötigt sie aber den
wachen Zu-Hörer, der nicht mehr „Experte“ ist, solange er rhetorische Figuren oder Topoi zu
entschlüsseln vermag, sondern nur mehr dann, wenn er dazu fähig ist, musikalische Abläufe
in sinnhafte Erlebniszusammenhänge zu übersetzen, und dies von Aufführung zu Aufführung
stets aufs Neue. Kurz, Haydn opfert die illustrativ-repräsentative, manchmal sogar
emblematische Komponente musikalischen Humors zugunsten eines durch und durch
dialogischen Ereignischarakters, wodurch dieser ganz im Sinne Schillers zu einem freien
Spiel von Erfüllung bzw. Täuschung von Erwartungshaltungen der Hörer wird.
Der Pianist und die Bananenschale

Ein gänzlich neuer Raum für musikalischen Humor öffnet sich somit, wie wir am Beginn des
Finales der bereits erwähnten C-Dur-Sonate in aller Deutlichkeit hören können:

Tonbeispiel III: Joseph Haydn: Klaviersonate C-Dur Hob.XVI:50 Takt 1-34

Erteilen wir an dieser so epochentypischen Stelle dem Interpreten dieser Aufnahme, Alfred
Brendel, das Wort:

Beim Hereinplatzen des ersten H-Dur-Akkords sagt sich der Hörer zunächst: aha, ein
Fauxpas. Der Versuch, diesen Eindruck zu untermauern, stößt aber bald auf Schwierigkeiten.
Was würde ein Spieler tun, der in einem C-Dur-Stück aus Versehen nach H-Dur gerät? Der
britische Dirigent Sir Adrian Boult hätte sich vermutlich zum Publikum gewendet, „sorry, my
fault“ gesagt und von vorne angefangen. Wahrscheinlicher ist, dass der Spieler versuchen
wird, sich improvisierend aus der Affäre zu ziehen.
Die Regelwidrigkeit des H-Dur-Akkords würde auf solche Weise „rationalisiert“,
Schadenfreude verwandelte sich in Bewunderung für den prompt reagierenden Interpreten.
Der zweitbeste Ausweg des imaginären Spielers wäre, so zu tun, als sei nichts gewesen. Man
rutscht auf einer Bananenschale aus, plötzlich sitzt man da. Nach einem Moment der
Verblüffung rafft man sich auf und geht mit unschuldiger Miene weiter. Genau dies scheint in
Haydns Stück der Fall zu sein. (…)
Wir teilen angesichts des fröhlichen Traumas, das wir durch Haydn erfahren haben, mit
Schopenhauer die Freude daran, „diese strenge, unermüdliche und lästige Hauslehrerin
Vernunft endlich einmal von ihrer eigenen Unzulänglichkeit überzeugt zu sehen“.

Die Mauern des Palais

Nicht nur das verlässliche Kontinuum der Zeit wurde störungsanfällig, das aufgeklärte
Menschenbild wirbelte auch die traditionellen ständischen Ordnungen gehörig durcheinander,
wie es nicht nur die Tanzszene aus dem Don Giovanni, in welcher die provokant- synchrone
Gleichzeitigkeit von hocharistokratischem Menuett, bürgerlichem Countrydance und
bäuerlich-derbem Walzer in die moralische Katastrophe führen sollte, deutlich zeigt, sondern
vielleicht noch drastischer das Ende der Durchführung des Kopfsatzes des so genannten
„Kaiser-Quartettes“ von Joseph Haydn, gewidmet dem Fürsten Joseph von Erdödy aus dem
Jahr 1797, und begeben wir uns in sein Palais, um zu Zeugen höchst verfeinerter
aristokratischer Musikkultur zu werden.

Tonbeispiel IV: Joseph Haydn: Streichquartett op.76/3 C-Dur „Kaiserquartett“ Allegro. Takt
65-75
Nichts, aber auch gar nichts hätte darauf hingedeutet, dass das federnd-knappe Hauptthema
von verfeinert-burschikoser Schlankheit jäh in einen überaus derben Bauerntanz münden
sollte! Die um eine Viertelnote verlängerte Viola-Imitation des Violoncellos, das über zehn
Takte hinweg in jeweils forzando betonten halben Noten die Quinte E-H intonierte, evozierte
den zwingenden Eindruck von gleich zwei (!) Dudelsäcken – eine beispiellose Apotheose
rustikal- bäuerlicher Bordunklänge genuin pannonischer Färbung inmitten
hocharistokratischer disinvoltura! Konkrete Orte, nämlich aristokratisches Palais und
bäuerliche Pußtalandschaft durchdringen sich filmisch im Inneren der musikalischen Faktur.
Und kommen wir abschließend von der Aristokratie zum Kaiser selbst!

„Mehr noch – er ist Mensch!“

Wohlbekannt sind die feierlichen Worte Sarastros in der Einweihungsszene im zweiten Akt
von Mozarts Zauberflöte, die zu recht stets als das programmatische „Credo“ der Aufklärung
interpretiert wurden, genau so wie die Arie Mit Würd’ und Hoheit angetan aus dem zweiten
Teil der Schöpfung, deren Melodie ja notengetreu dem burgenländischen Volkslied Es steht
ein Baum im tiefen Tal folgt, – doch könnten diese Worte auch als solche gelten, gäbe es keine
Musik von Mozart! Wir können aber Mozarts Sicht auf die menschliche Seite von Herrscher
und Kaiser rekonstruieren, wenn wir den Auftritt des Titus aus der gleichnamigen Oper von
1791 näher ins Auge fassen: In der barocken Oper war der Auftritt des Herrschers stets und
weitestgehend ausnahmslos gebunden an eine majestätische Arien-Orchestereinleitung, meist
in D-Dur und mit Pauken und Trompeten, Mozart hat dies noch 1772 in seinem Mailänder
Lucio Silla ausdrücklich so komponiert:

Tonbeispiel V: Wolfgang Amadeus Mozart: Lucio Silla. No. 5 Aria Il desio di vendetta e di
morte Takt 1-25

Und nun – 20 Jahre und eine epochale Revolution später – der Auftritt des römischen Kaisers
Titus.

Tonbeispiel VI: Wolfgang Amadeus Mozart: La clemenza di Tito. Aria No.6 Dal più sublime
soglio Takt 1-19

Kein Ton vom Orchester, die Stimme des Kaisers ertönt geradezu unbeschützt, wir hören
keinen Herrscher mehr, sondern mehr noch – einen Menschen. Leider ist es aus zeitlichen
Gründen hier nicht mehr möglich, die brillanten Ausführungen über Autonomie und Gnade
des barocken bzw. aufgeklärten Herrschers, die Ivan Nagel bereits 1985 vorgelegt hatte, auf
diese Stelle bei Mozart zu beziehen, und auch ein Resümee dieses kurzen musikalischen tour
d’horizon scheint vergeblich zu sein. Dieser konnte und sollte lediglich dazu dienen, einige
mentalitätsgeschichtliche Facetten der „Achsenzeit Aufklärung“ hier in Zentraleuropa durch
genauere orts- und zeitgebundene Betrachtung genuin musikalischer Phänomene ans Licht zu
bringen. Versucht man jene nämlich um den Preis „gesicherten Faktenwissens“ in Soziologie
einerseits und immanente Analyse andererseits aufzuspalten, gleicht man jenen
Höhlenforschern, die versuchen, mit dem kalten, grell fokussierten Licht ihrer Stirnlampen
dem Wesen der Dunkelheit auf die Spur zu kommen.

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