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Bertolt Brecht: Überwindung des Individuums?

Überlegungen zu »Mann ist Mann«

Rückblickend auf das Theater der neuen Sachlichkeit, sein eigenes eingeschlossen, notiert
Brecht:

Die materielle Größe der Zeit, ihre technischen Riesenleistungen, die gewaltigen
Taten der großen Geldleute, selbst der Weltkrieg als ungeheure "Materialschlacht",
vor allem aber das Ausmaß von Chance und Risiko für den einzelnen - solche
Wahrnehmungen bildeten die Pfeiler dieser jungen Dramatik, die eine völlig
idealistische und kapitalistische war. Die Welt, wie sie ist, sollte gezeigt und
anerkannt, ihre eigene Schonungslosigkeit als ihre Größe schonungslos aufgewiesen
werden: ihr Gott sollte sein „der Gott der Dinge, wie sie sind“. Dieser Versuch, eine
neue Ideologie zu schaffen, die mit den Tatsachen direkt zusammenhängen sollte,
war gegen das Bürgertum gerichtet, dessen (als klein erkannte) Denkweise mit seiner
(als groß angenommenen) Handlungsweise in einem krassen Widerspruch befindlich
schien.
(gw 15. 218)1

Wiewohl antibürgerlich, war die vermeintlich unideologische Sachlichkeit idealistisch und


kapitalistisch. Sie führte zwar dazu, daß „die junge Dramatik“ die materielle Wirklichkeit
anerkannte und als dynamische hochschätzte, ließ aber auch zu, daß man idealistisch den
Sozialismus gleichsam von selbst kommen sah, wenn man nur die gesellschaftliche
Dynamik akzeptierte.2 Lediglich das hinterherhinkende bürgerliche Bewußtsein war noch
auf die Höhe der Zeit zu heben. – Ob diese Beschreibung in allem zutrifft, ist noch die
Frage.3 Am ehesten gilt wohl das, was Brecht hier zwar anspricht, aber nicht reflektiert: die

1
Bei den Brecht-Zitaten werden folgende Siglen verwendet:
gw = Bert Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, hg. vom Suhrkamp Verlag in
Zusammenarbeit mit Elisabeth Hauptmann. Frankfurt a. M. 1967
mat = Brechts »Mann ist Mann«, hg. von Carl Wege (suhrkamp taschenbuch materialien 2023).
Frankfurt a. M. 1982
tag = Bertolt Brecht: Tagebücher 1920-1922. Autobiographische Aufzeichnungen 1920-1954.
Hg. von Herta Ramthun. Frankfurt a. M. 1975
2
„Die Wirklichkeit wurde bejaht, und nun setzt die Dialektik voll ein. Wurde die Wirklichkeit
bejaht, so mußten ihre Tendenzen bejaht werden. Aber die Bejahung ihrer Tendenzen schloß die
Verneinung ihrer momentanen Gestalt ein. Wurde der Krieg bejaht, so war die Weltrevolution
nicht zu verneinen.“ (gw 15. 217)
3
Sieht man vom sozialistischen Bewußtsein ab, das Brecht wohl rechtfertigend einflicht, wird
man bei dieser Beschreibung eher an das Theater Carl Sternheims als an sein eigenes denken.
Das gilt auch für seinen Hinweis auf das Ende des geschichtsmächtigen Individuums; der
Faszination, die damals von der Vorstellung schonungsloser, dynamischer Macht für ihn
und andere ausging, wie sie sich in den „technischen Riesenleistungen“, den „Taten der
großen Geldleute“ und im „Weltkrieg“ äußert. Die später als solche erkannte und kritisierte
Sachlichkeitsideologie ist nur ihre Rationalisierung im Freudschen Sinn.
Diese Faszination führt im »Baal«, wo sie noch nicht vom rationalisierenden
Objektivismus überlagert wird, wo dafür aber auch noch „Leben“ anstelle von
„Gesellschaft“ steht, zu einem inneren Widerspruch: Einerseits verkörpert sich die Größe
des Lebens im vitalen, rücksichtslosen und genießenden Kraftprotz, andererseits wird die
Schonungslosigkeit des Lebens bejaht, die über die Individuen, auch über den Kraftprotz,
hinweggeht. Dieser Widerspruch ist typisch für die Autoren im Umkreis der
Lebensphilosophie.4 Das Leben, wie sie es feierten, besitzt die Attribute der
kapitalistischen Entwicklung, so wie die Angehörigen der künstlerischen Intelligenz sie
erfuhren, die sich mit dem Durchbruch des Imperialismus in Deutschland hoffnungslos
marginalisiert fühlten. Ihre Marginalisierung empfanden sie als Lebensschwäche, die sie
mit dem Kult der Lebenskraft kompensierten, dem Einverständnis mit der grausamen
Dynamik des Geschehens, wohl wissend, daß sie schließlich im übermächtigen All-Leben
untergehen würden. Im lebens- und todessüchtigen Helden phantasierten sie dieses
Einverständnis mit dem Leben, mit dem gesellschaftlichen Prozeß in unerkannter Form. So
kommt es zum Konflikt der Gesellschaft mit sich selbst, nämlich ihrer individuellen Perso-
nifikation mit ihrem unpersönlichen Entwicklungsprozeß. Da aber der vitale Bereich als
derjenige der Triebe den bisherigen moralischen Normen der Gesellschaft entgegengesetzt
ist, entsteht ein zweiter Konflikt zwischen dem Anspruch des einzelnen auf sinnliches
Glück und den gesellschaftlichen Forderungen nach moralischer Anpassung.
Bei Brecht enden beide Konflikte zunächst im Untergang des Kraftprotz Baal, der
sich lieber im All-Leben auflösen als sich schwächlich anpassen will. Daß Brecht das
menschliche Glücksverlangen gerade im unverstandenen Bild des kapitalistischen
Prozesses festhält, fordert seinen Preis: Er muß damit auch die entfesselte Rücksichtslo-
sigkeit des Monopolkapitalismus verteidigen. Mit dieser lebensphilosophischen Position ist

einzelne kann demnach nur noch dadurch in die Geschichte eingreifen, daß er „die großen
ökonomisch-politischen Prozesse“ ausbeutet, die auch ohne ihn stattfinden (gw 15.217 f.).
4
Münsterer berichtet von der geistigen Nähe der jungen Augsburger Freunde zu Schuler und
Klages (Hans Otto Münsterer: Bert Brecht. Erinnerungen aus den Jahren 1917-22. Zürich 1963,
S. 85). Auf den Bezug Brechts zu Nietzsche weist Reinhold Grimm hin, allerdings faßt er den
Zusammenhang nicht systematisch, sondern begnügt sich damit, Punkte zu sammeln, oft auf
sehr oberflächliche und manchmal willkürliche Weise. Vgl. Reinhold Grimm: „Brecht und
Nietzsche“. – In: Grimm: Brecht und Nietzsche oder Geständnisse eines Dichters. Fünf Essays
und ein Bruchstück (edition suhrkamp 744). Frankfurt a. M. 1979, S. 156-245.
er nicht gerade originell. Der auffälligste Unterschied zu seinen Vorgängern um die
Jahrhundertwende besteht darin, daß er die geheime Lebensschwäche, die man sonstwo als
individuelle Auszeichnung kultivierte, in seinem Kraftprotz kaum erkennbar werden läßt.
Daß er bei dieser Position nicht stehenbleibt, ist wohl seiner durchgängigen antimeta-
physischen Tendenz geschuldet. Sie sorgt dafür, daß anstelle des unfaßbaren Lebens in
einem allmählichen Lernprozeß die faßbare Gesellschaft tritt. Diese wird zunächst in der
vermeintlich unideologischen Ideologie der Sachlichkeit, dann marxistisch-analytisch
dargestellt. Dementsprechend läßt sich die Entwicklung vom »Baal« bis zur »Heiligen
Johanna der Schlachthöfe« als Prozeß beschreiben, in dem Brecht das Wesen der
gesellschaftlichen Bewegung zu erkennen und theatralisch darzustellen lernt.5 Allerdings
darf man die Voraussetzung für solchen Lernprozeß, Brechts antimetaphysische Tendenz,
dabei nicht vergessen.
Eben diese Voraussetzung ist nun aber mit seinem Objektivismus wie mit der
unanalysierten Faszination der Macht gekoppelt. Wenn der erstere daran beteiligt ist, daß
Brecht nicht bei der Lebensmystik stehenbleibt, so sorgt die zweite dafür, daß er auf
seinem Lernweg zeitweise in eine gefährliche Nähe zum Faschismus gerät. Das geschieht
in »Mann ist Mann«. Hier ist Brecht auf dem Weg der Gesellschaftsanalyse zur Einsicht in
die Fremdbestimmtheit des Individuums vorgedrungen. Das fremdbestimmte Individuum
zeigt sich als „Dividuum“ (mat. 242): Der harmlose Packer Galy Gay wird sozusagen in
seine von außen vorgegebenen Teile zerlegt, sie werden ausgetauscht, und es entsteht der
Soldat Jeraiah Jip, die „menschliche Kampfmaschine“ (gw 1.376). Der Packer geht unter
in einer Scheinhinrichtung, doch zwischen der Kampfmaschine als Personifikation des
gesellschaftlichen Prozesses und diesem selbst besteht kein Widerspruch mehr: Das neue
Individuum kann bestehen bleiben. Folgerichtig deutet Brecht die Ummontierung Galy
Gays zunächst positiv:

[...] dieser Galy Gay ist gar kein Schwächling, im Gegenteil, er ist der Stärkste. Er ist
allerdings erst der Stärkste, nachdem er aufgehört hat, eine Privatperson zu sein, er
wird erst in der Masse stark. Und wenn er zum Beispiel zum Schluß eine ganze
Bergfestung erobert, so ist das nur deshalb, weil er damit anscheinend den unbe-
dingten Willen einer großen Menschenmasse ausführt, die durch eben diesen Engpaß
will, den die Bergfestung verstopft. (gw 17.978)

Es springt in die Augen, wie verdinglicht Brecht hier redet. Da ist irgendeine Verstopfung,
5
Hans Peter Herrmann: „Vom Baal zur Heiligen Johanna der Schlachthöfe. Die dramatische
Produktion des jungen Brecht als Ort gesellschaftlicher Erfahrung“. – In: Poetica 5 (1972), S.
191-211.
die sich dem Willen einer Menschenmasse in den Weg stellt. Wer will hier was und warum
und gegen wen? Danach fragt er nicht. Einzig die Übereinstimmung mit der Masse zählt.
Wir haben es heute leichter, die Nähe dieser noch expressionistischen
Verherrlichung des Barbarischen zur faschistischen Barbarei zu erkennen, als es Brecht in
den zwanziger Jahren möglich war, nicht zur Herrenvolk-Ideologie, wohl aber zum
technokratischen Denken im Faschismus. Brechts Augenmerk richtete sich damals noch
nicht auf den Nationalsozialismus, sondern er wollte mit »Mann ist Mann« gegen die
Verachtung der Massen kämpfen. In der ersten Druckfassung von 1926, in der die
Verwandlung positiv gedeutet wird, steht das Stück dem faschistischen Kollektiv
bedenklich nahe, auch wenn das nicht Brechts Absicht war. Als er es bemerkte, änderte er
das Stück. Die Inszenierung von 1931 läßt die Wertung noch recht offen – Brecht wußte
noch nicht, wie er den Text dementsprechend umändern könnte –, in der Fassung von 1938
erscheint die Verwandlung eindeutig als etwas Negatives.6
Diese Veränderung ist ehrenwert. Aber sie enthebt uns nicht der Frage, wieso die
barbarischen Aspekte der ursprünglichen Fassung möglich waren. Jan Knopf schreibt
salomonisch:

[...] das Eingehen in die Masse, die Brecht vorführt und das den Sinn des Stückes
ausmacht, hat schließlich auch noch zwei Seiten: die eine, die Brecht vorschwebt,
soll zeigen, wie das Individuum als neues Individuum aus dem Kollektiv hervorgeht,
sich nicht im Gegensatz dazu definiert, sondern sich durch das Kollektiv „gekräftigt“
sieht; die andere, die sich dann im Faschismus durchsetzt, degradiert das Individuum
zum Massenteil, und zwar zum bewußtlosen, verhetzten, die eigenen Möglichkeiten
und die Menschlichkeit leugnenden Herdentier mit allen freigesetzten niedrigen
Instinkten und löscht es damit aus. Daß der Stoff beide [...] aufgeführten Möglich-
keiten in sich trägt, hat nichts mit interpretatorischer Beliebigkeit oder beliebigen
Umdeutungen des Stoffs durch den Verfasser zu tun, es liegt am Stoff, an der Reali-
tät, auf die er verweist, selbst: er ist widerspruchsvoll, es gibt nicht nur die eine
Lösung des Problems.7

Ich muß gestehen, daß ich Jan Knopf hier nicht ganz folgen kann. Daß der faschistische
wie der sozialistische Weg historisch möglich waren, die Realität in diesem Sinn wider-

6
„Ich hatte 1931 das Stück nach dem großen Montageakt enden lassen, da ich keine
Möglichkeit sah, dem Wachstum des Helden im Kollektiv [Brecht meint hier „das falsche,
schlechte Kollektiv“] einen negativen Charakter zu verleihen. So hatte ich lieber auf die
Beschreibung des Wachstums verzichtet.“ (gw 17. 951) Vgl. zum Prozeß der Umwertung
Marianne Kesting: „Die Groteske vom Verlust der Identität: Bertolt Brechts ‚Mann ist Mann’,
S. 191 f. – In: Das deutsche Lustspiel. Zweiter Band, hg. von H Steffen (Kleine Vandenhoeck-
Reihe 277 S). Göttingen 1969, S. 189-199.
7
Jan Knopf : Brecht-Handbuch. Theater. Eine Ästhetik der Widersprüche. Stuttgart,
Sonderausgabe 1986, S.48 (vgl. ebd. S. 4).
spruchsvoll, will ich nicht leugnen. Wohl aber, daß der „Stoff“ – Jan Knopf meint wohl die
Grundform des Dramas, so wie sie den verschiedenen Fassungen gemeinsam ist – gleicher-
maßen beide Möglichkeiten enthält. Denn wenn die dramatische Grundform auch erlaubt,
den faschismusnahen Weg positiv darzustellen, so läßt sie doch nicht zu, dasselbe mit dem
sozialistischen zu tun. Deswegen nicht, weil eine „menschliche Kampfmaschine“, auch im
Kampf für ein sozialistisches Ziel, nun einmal nicht positiv ist. Sie negiert den humanen
Gehalt dieses Ziels, nach dem „die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die
freie Entwicklung aller ist“, wie es im »Kommunistischen Manifest« heißt (MEW 4, 482).
Mit der Kampfmaschine ist das Verhältnis zwischen einzelnem und Gesellschaft ein für
allemal undialektisch bestimmt, sie verweist nicht auf die reichere Individualität im
Kollektiv, sondern setzt nur die zerstörte voraus.8
Die Kampfmaschine gehört zu den wesentlichen Elementen dieses Stückes, sie ist
die notwendige Folge dessen, was hier geschieht: Dressur eines Menschen mit Mitteln der
Lernpsychologie. Durch Belohnung und Strafdrohung, die an seine Grundbedürfnisse
geknüpft sind, zu überleben, zu essen und zu trinken, wird Galy Gay von drei
„Gefühlsingenieuren“ (mat 285), manipuliert. Das zeigen die zwei zentralen Szenen, der
Elefantenkauf und die Scheinhinrichtung. Galy Gay lernt also durch positive und negative
Verstärkung, wie man lernpsychologisch sagt. Dafür ist es gleichgültig, ob Brecht den
frühen Behaviorismus Watsons gekannt hat.9 Es geht auch nicht darum, wie weit
Lernreflexe biologisch bedingt sind – so sieht es der Behaviorismus – oder auch soziolo-
gisch, wie Brecht meint.10 Die Pointe liegt darin, daß der frühe Behaviorismus ebenso wie

8
Mir scheint, daß Knopf das Problem auch gesehen hat und, um seine salomonische Lösung
zu retten, das militärische Milieu samt Kampfmaschine als ein eher äußerliches Moment des
Stückes erscheinen läßt: „Was Brecht vorgeworfen werden kann, ist, daß er die positive Lösung
ausgerechnet im militärischen Milieu ansiedelt, das vor allem in Deutschland, auch schon nach
dem ersten Krieg, korrumpiert gewesen ist, und das neue, aus der Masse hervorgegangene
Individuum am Ende als ‚menschliche Kampfmaschine’ sich austoben läßt; [...].“ (Knopf, oben
Anm. 7, ebd.). So ausgefallen ist die Wahl des Militärs aber nicht bei einem Stück, das nicht
zuletzt auf den Ersten Weltkrieg antworten soll. Vor allem aber entspricht es ebenso wie das zu-
nächst gewählte Verbrechermilieu der Galgei-Manuskripte dem Einverständnis mit der Scho-
nungslosigkeit des gesellschaftlichen Prozesses und besser noch als jenes dem Einverständnis
mit den gewaltigen Leistungen. Es ist nie gleichgültig, woran man etwas exemplifiziert.
9
Zu diesem Streit s. Jan Knopf: Bertolt Brecht. Ein kritischer Forschungsbericht.
Fragwürdiges in der Brecht-Forschung (Schwerpunkte Germanistik). Frankfurt a. M. 1974,
S.80-90.
10
Brecht schreibt 1931: „Der Behaviorismus ist eine Psychologie, die von den Bedürfnissen
der Warenproduktion ausgeht, Methoden in die Hand zu bekommen, mit denen man den Käufer
beeinflussen kann, also eine aktive Psychologie, fortschrittlich und revolutionierend katexo-
chen. Sie hat, ihrer kapitalistischen Funktion entsprechend, Grenzen (die Reflexe sind
biologische, nur in einigen Chaplin-Filmen sind sie schon sozial).“ (gw 18. 172) Wären sie
sozial, so hätte Brecht anscheinend nichts mehr zu kritisieren.
heute Lernpsychologie und Verhaltenstherapie dem Individuum die Aufklärung
verweigern über seine frühen Lernprozesse, die sich inzwischen im Unbewußten niederge-
schlagen und verfestigt haben. Damit schließt diese Psychologie von vorneherein das Indi-
viduum aus, das sich seinen Interessen gemäß selbst bestimmen kann. Deswegen funk-
tioniert Verhaltenstherapie nur dort in gewissem Maß, wo sie dressieren, und nicht dort,
wo sie zum selbständigen Subjekt erziehen soll.
Daß der wohldressierte Galy Gay, der seine vordergründigen materiellen Interessen
nie vergaß, seinen Verhaltenstherapeuten schließlich ebenso unheimlich wird wie das ewig
weiterfließende Wasser dem Goetheschen Zauberlehrling, das ändert nichts daran, daß sie
nicht die Individualitätsideologie, sondern das Menschliche am Menschen zerstören. Nur
bedingt läßt sich das dadurch rechtfertigen, daß Brecht, wie argumentiert wurde, von einer
Gesellschaft ausgeht, in der Menschlichkeit von vorneherein nicht mehr existiert.11 Denn
diese wird im Stück als Gegenperspektive auch nicht ansatzweise deutlich und sie kann das
auch nicht. Aus »Mann ist Mann« läßt sich nun einmal nur die Barbarei ableiten (sei es
unter positivem oder negativem Vorzeichen), nicht aber der Sozialismus, weil die hier ge-
zeigte Zerstörung der Individualität undialektisch auch deren positive Aspekte beseitigt.12
Bezeichnenderweise spricht Brecht, wo er sich theoretisch zur Individualität äußert, nur
vom Individuum. Darin fallen die schlechte Individualität, wie sie in der Wirklichkeit
erscheint und die idealistische Bestimmung der Individualität als des unfaßbaren Wesens

11
Brecht selbst war sich dieses Ausgangspunkts zunächst keineswegs bewußt, wie Münsterer
berichtet: „Vor allem war es nicht ganz leicht, die Umwandlung des harmlosen Packers in einen
enragierten Kriesgberserker bei unversehrter Individualität glaubhaft zu machen, so daß Brecht
damals selbst die Frage aufwirft, ob man bei Galy Gay überhaupt noch von einem Menschen
sprechen könne. Denn hier wird ja nicht etwa gezeigt, wie ein Mann einer Massenpsychose er-
liegt, sondern wie ziemlich plötzlich mit dem Austausch der Funktion auch die Psyche
ummontiert erscheint. Merkwürdigerweise fällt in der Diskussion über diese Frage kein Wort
von einer durch das bisherige Leben des Packers bereits eingetretenen Verkrüppelung der Indi-
vidualität, wie sie Marx sicher zu Recht als Auswirkung des Kapitalismus prophezeit; Brecht
weist vielmehr auf das Zwangsläufige des Stoßens und Gestoßenwerdens bei seinem Helden hin
[...]." (Hans Otto Münsterer, a. a. O., S.169 f.) Dementsprechend konnte Brecht auch 1927 noch
schreiben, das Stück stelle einen neuen Typus Mensch dar, „und wie immer er aussehen wird,
vor allem wird er wie ein Mensch aussehen“ (gw 977). Andererseits allerdings zeigt die Szene
vom Elefantenkauf, daß die lernpsychologische Dressur nur die vorgängige Reduktion der
menschlichen Beziehungen auf den Tauschwert und der Individualität auf den Konsum an den
Tag bringt. Vgl. Jan Knopf (oben Anm. 7, S. 49) und Klaus-Detlef Müller: „Mann ist Mann“, S.
96 f.. – In: Brechts Dramen. Neue Interpretationen, hg. von W. Hinderer. Stuttgart 1984, S. 89-
105. Der Dichter ist hier weiter fortgeschritten, als er selber weiß.
12
[Spätere Anmerkung: Wie eine Gesellschaft aussieht, in der die Menschen zu
Kampfmaschinen geworden sind, das zeigen die Abteilungen „Western“ oder „Science Fiction“
der Heftchenliteratur Vgl. Armin Vokmar Wernsing / Wolf Wucherpfennig: Die
„Groschenhefte“: Individualität als Ware (Schwerpunkte Germanistik), Wiesbaden: Athenaion
1976, bes. der Abschnitt „Der Held als spezialisiertes Ausführungsorgan“]
zusammen, während die Utopie einer dialektisch gefaßten, reicheren und ihrer selbst
bewußten Individualität ihm anscheinend überhaupt nicht zu Bewußtsein kommt.13
Daß Brecht selbst trotz der Gefahr der Barbarei den sozialistischen Weg ging,
scheint mir wieder an der positiven Seite seiner objektivistischen Haltung zu liegen: Sie
ließ ihn eine wissenschaftlich-rationale Gesellschaftstheorie suchen, die er dann im
Marxismus fand. Dieser wiederum bewirkte nicht nur, daß er die objektivistische
Oberflächlichkeit überwand, sondern machte ihm auch das Mitleiden mit den
Unterdrückten möglich.14 Rationale Gesellschaftsanalyse ließ sich so verbinden mit dem
Glücksverlangen nicht nur des einzelnen, das er im »Baal« angemeldet hatte, sondern mit
dem Glücksanspruch aller Unterdrückten.
Doch auf diesem Weg, auf dem er zum Mitleid mit den Unterdrückten kam wie Saul,
der seine Eselinnen suchte, zu einem Königreich, auf diesem Weg ging er blind an einem
anderen Gebiet vorbei: an der Analyse der psychischen Dimension, nicht zuletzt an der
Analyse der Faszination, welche die gewaltige und schonungslose Macht auf ihn selbst
ausübte, so daß er ihr Individualität mit Haut und Haaren zu opfern bereit war. Das wird
im weiteren Werk Folgen haben. Statt Individualität in ihrer komplexen und widersprüchli-

13
Wie wenig dialektisch er hier denkt, bzw. wie sehr er an seinem verkürzten und unklaren
Individuumsbegriff festhängt, und zwar noch zur Zeit seiner marxistischen Studien 1926-1939,
das zeigt sich u. a. darin, daß für ihn Individuum und zeitliche Veränderung einander
auszuschließen scheinen: „Das Individuum erscheint uns immer mehr als ein widerspruchsvoller
Komplex in stetiger Entwicklung, ähnlich einer Masse. Es mag nach außen hin aus Einheit
auftreten und ist darum doch eine mehr oder minder kampfdurchtobte Vielheit, in der die ver-
schiedensten Tendenzen die Oberhand gewinnen, so daß die jeweilige Handlung nur das
Kompromiß darstellt.“ (gw 20. 62) Nur undialektisches Denken kann aus dieser ganz richtigen
Beschreibung folgern, „kampfdurchtobte Vielheit“ schließe Einheit völlig aus.
14
Brecht deutet diesen Weg selbst an in seinem fragmentarischen »Traktat über die Mängel
unserer Sprache im Kampf gegen den Faschismus«: „Im Gegensatz zu vielen meiner heutigen
Kampfgenossen bin ich sozusagen auf kaltem Wege zu meiner marxistischen Einstellung
gekommen. Wahrscheinlich hängt das damit zusammen, daß ich ursprünglich
Naturwissenschaften studiert habe. Argumente wirkten auf mich begeisternder als Appelle an
mein Gefühlsleben, und Experimente beschwingten mich mehr als Erlebnisse. Dem Elend
gegenüber reagierte ich als normaler Mensch mit Mitleid, aber wenn man mir sagte: Große
Massen von Menschen hungern, dann fragte ich mich immerhin: Ist das nicht unvermeidlich?
Über unvermeidliche Übel zu jammern, schien mir nicht vernünftig. Bei dieser Einstellung war
es klar, daß ich aufatmete, als mir Argumente dafür beigebracht wurden, daß dieser Hunger
großer Menschenmassen vermeidlich ist [...]. Gut, dachte ich, [...] dann kann ich dem Mitleid
mein Herz öffnen.“ (gw 20. 96) Das Zitat ist zugleich eine Rationalisierung, denn mitleidsfähig
war auch der junge Brecht schon, unbeschadet seiner Faszination durch die Macht. Die
wissenschaftlichen Argumente aber erlauben das Gefühl erst, weil sie ihm die Bedrohlichkeit
christlicher Opferforderung nehmen, wie Brecht sie von seiner Mutter kannte. Eine
psychoanalytische Erklärung für die Spaltung zwischen Mitleid und Machtwunsch liefert Carl
Pietzckers Interpretation des »Guten Menschen von Sezuan« in seinem inzwischen
erschienenen Buch über Brecht als Herzneurotiker: „Ich kommandiere mein Herz“. Brechts
Herzneurose – ein Schlüssel zu seinem Leben und Schreiben. Würzburg 1988, S. 211-248.
chen Struktur zu analysieren und sie so tatsächlich, nämlich im Hegelschen Sinn aufzu-
heben, wird er sie durchs Klasseninteresse ersetzen. Damit ist die grundsätzliche
Problematik der Lernpsychologie nicht überwunden. Hätte Brecht die individuellen psy-
chischen Begrenzungen, auch seine eigenen, analysierend abgearbeitet, statt sie zu un-
terdrücken, so hätte er jedenfalls das humanistische Erbe nicht nur zufällig gefunden,
sondern auch aus innerer Notwendigkeit gesucht. Und, wer weiß, vielleicht wäre sein
antifaschistisches Theater auch wirksamer geworden, sofern man darüber überhaupt bei
Stücken reden kann, die im faschistischen Deutschland gar nicht und sonst, wenn
überhaupt, dann nur höchst selten aufgeführt wurden.
Allerdings sehe ich die Grenze des Brechtschen Theaters nicht, wie sogar ein
wohlwollender Kritiker neulich schrieb,15 in zuviel Rationalität, Wissenschaft und Aufklä-
rung, sondern in zuwenig. Das schlechte Individuelle, die persönlichen Borniertheiten,
Zwänge und psychischen Mechanismen bleiben unanalysiert und mit ihnen ein wichtiger
Bereich des schlechten Allgemeinen, die massenpsychologischen Mechanismen. Das
schlechte Individuelle, wenn auch unanalysiert und unreflektiert, fehlt in Brechts Theater
keineswegs; im Gegenteil, es macht weiterhin eine wichtige Triebkraft seiner literarischen
Phantasie aus. Darum sind seine Stücke, auch wenn sie keine Herzwärmer feilhalten, auch
nicht so trocken, wie manche Literaturpäpste meinen, die in ihnen lediglich Exempli-
fikationen einer unmodernen politischen Theorie sehen wollen, an die sie sich nicht gern
erinnern. An Sinnlichkeit, ästhetischem Genuß und Komik fehlt es nicht, auch nicht am
wenig geschätzten Vergnügen des Denkens. Es findet sich auch noch genügend Unbe-
wußtes, das das Unbewußte der Zuschauer anspricht, aber nichts, was ihnen helfen könnte,
es ebenso aufzulösen wie die undurchschauten Klassenverhältnisse. Das aber wäre auch
eine der Aufgaben für ein Theater, wie Brecht es will, ein Theater der Moderne, in der das
heroische und das private Individuum ausgedient haben (gw 15. 146 ff.).16

***

Wie sehr sich gerade das private Individuum mit seinen persönlichen Problemen noch in

15
Michael Schneider: „Bertolt Brecht – ein abgebrochener Riese. Zur ästhetischen
Emanzipation von einem Klassiker“. – In: Schneider: Nur tote Fische schwimmen mit dem
Strom. Essays, Aphorismen und Polemiken. Köln 1984, S. 211-262. Mit Schneiders Kritik an
Brechts Ausblendung des psychischen Bereichs stimme ich jedoch weitgehend überein.
16
Die nachnaturalistische Dramatik hat diese Aufgabe noch keineswegs vollbracht, wie Brecht
einmal fälschlich andeutet (gw 15. 215). Die dazu erforderliche psychoanalytische Arbeit ist
ihm ebenso verhaßt wie unbekannt (vgl. z.B. gw 20.300 ff.).
der angeblichen Darstellung seines Untergangs durchsetzt, nicht der „Charakterkopf“ (gw
1.340), wohl aber der Charakter im psychoanalytischen Sinn, das soll die folgende
Interpretation von »Mann ist Mann« deutlich machen. Sie soll nachweisen, welchen Anteil
Brechts unbewußter Charakterstruktur an den Phantasien hat, die dem Stück zugrunde
liegen und seine Form mitbestimmen. Die Charakterstruktur ist ein abstraktes Schema,
Zusammenfassung von Tendenzen in ihren idealtypischen Äußerungsformen. Es wird
konkret, indem es sich lebensgeschichtlich in je anderer Weise als Individualität
verwirklicht. Das geschieht im Zusammenspiel mit den anderen sozialen Einflüssen. Weil
das Schema nur Möglichkeiten festlegt, spreche ich von einer Charakterdisposition.17
Bei der Darstellung von Brechts Charakterdisposition kann ich mich teilweise auf die
Forschungen anderer stützen.18 Brecht Charakterdisposition läßt sich als Variante einer ab-
17
Vgl. hierzu Wolf Wucherpfennig: Kindheitskult und Irrationalismus in der Literatur um
1800. Friedrich Huch und seine Zeit. München: Fink 1980 passim. Das Prinzip der Charak-
teranalyse und der im folgenden verwendete Begriff des phallischen Narziß stammen von
Wilhelm Reich: Charakteranalyse. Technik und Grundlagen für Studierende und praktizierende
Analytiker. Nachruck der 1. Aufl. Bremen 1971, bes. 2. Teil, Kap. II,3, S. 226-233. Vgl. zur
klassischen Charakteranalyse auch Otto Fenichel: Psychoanalytische Neurosenlehre, Bd. 3.
Olten 1977, Kap 20. Bei meinen Untersuchungen zum masochistischen Charakter Franz Kafkas
wurde mir allmählich die Verwandtschaft zwischen dem masochistischen und dem
narzisstischen Charakter deutlich. Die dabei angestellten Überlegungen und damit
zusammenhängende Beobachtungen gingen ebenfalls in meine Darstellung Brechts ein.
18
Die erste und grundlegende Untersuchung zu Brechts psychischer Struktur stammt von Carl
Pietzcker: Die Lyrik des jungen Brecht. Vom anarchischen Nihilismus zum Marxismus.
Frankfurt a. M. 1974. Er führt sie weiter mit „Gleichklang. Überlegungen zu Brechts später
Lyrik“. – In: Pietzcker : Trauma, Wunsch und Abwehr. Psychoanalytische Studien zu Goethe,
Jean Paul, Brecht, zur Atomliteratur und zur literarischen Form. Würzburg 1985, S. 95-122
sowie mit seinem Aufsatz über Brechts Herzneurose im vorliegenden Band, ausführlicher in
seinem inzwischen erschienenen Buch zum gleichen Thema (s. oben Anm. 14) . Vgl. außerdem
Hans A. Hartmann: „Von der Freundlichkeit der Welten oder Auf der Suche nach der
verlorenen Muter. Der junge Brecht“. – In: Bertolt Brecht – Aspekte seines Werkes, Spuren
seiner Wirkung, hg. von H. Koopmann und Th. Stammen (Schriften der Phil. Fakultät der
Universität Augsburg 25). München 1983, S. 31-83.
Während Pietzcker in seinem Lyrikbuch, in dem er recht schematisch mit dem Instanzenmo-
dell arbeitet, nur die ödipale Komponente betont, stellt er in seinen Aufsätzen und im Buch über
Brechts Herzneurose nur die narzißtische dar. So sehr ich seinen Ansätzen verpflichtet bin –
nicht zuletzt die Folge eines jahrzehntelangen wissenschaftlichen Gesprächs –, unterscheide ich
mich dadurch von ihm, daß ich ödipale und narzißtische Komponenten miteinander zu ver-
binden suche. Im Gegensatz zu seinen letzten Darstellungen stelle ich nicht ein Symptom, die
Herzneurose, sondern die grundlegende Charakterdisposition in den Vordergrund. Wenn
Pietzcker sich in seinem jüngsten Buch auf die individuelle Problematik beschränkt, weil er sie
„freihalten [wilI] von voreiliger und womöglich verdeckender sozialhistorischer Deutung“ (S.
18), so übersieht er, was er doch weiß (S. 255 ff.): daß sein Buch nun einmal ein politischer
Beitrag ist. Zweifellos wird es „voreilig“ zur Abwehr von Brechts gesellschaftskritischen
Aussagen verwendet werden. Dem wäre nur vorzubeugen durch eine Überlegung über den
Bezug zwischen individuellem und sozialem Gehalt des Werkes.
In Einzelbeobachtungen stimme ich auch mit Hartmann überein, ganz und gar nicht dagegen
in seinem methodischen Ansatz, sofern man von einem solchen reden kann. Hartmann gerät
allmählich ins lockere Assoziieren und offenbart dabei ein Menschenbild, dem die repressive
strakten Charakterstruktur beschreiben, nämlich derjenigen des phallischen Narziß. Kurz
skizziert sieht dieser Typus etwa folgender maßen aus: Entscheidend, wie so oft in der
Entwicklung des männlichen Kindes, ist für den phallischen Narziß, daß das Kind,
zunächst bewundert und verwöhnt, von der prüden und vorwurfsvoll moralisierenden
Mutter zurückgestoßen wird, wenn es sich ihr in der ödipalen Phase exhibitionistisch
nähert. So entstehen tiefe Gefühle der Nichtigkeit und Wertlosigkeit. Die Abwendung der
Mutter schließt weitere aufopferungsvolle und zärtliche Liebe nicht aus; sie wird dann
allerdings erpresserisch: Liebe mit moralischem Zeigefinger. Unter der Voraussetzung
eines schwachen oder fehlenden Vaters kann das Kind auf die Zurückweisung aggressiv
reagieren. (Wird ihm diese Möglichkeit verweigert, entsteht de masochistische Charakter.)
Es wendet sich irgendwann in verletzender Weise von der Mutter ab – es flieht damit
zugleich schuldbewußt vor der besitzergreifenden Liebe – und sucht seine Gefühle, die so
tief getroffen wurden, möglichst weitgehend zu verdrängen und sich einzuiegeln in
Bedürfnislosigkeit, unabhängig von zwischenmenschlicher Bindung. Zugleich sucht es
sich aggressiv, hämisch, erniedrigend an anderen Frauen für die mütterliche Entsagung zu
rächen. Wut und Rachewunsch, Angst und Aggression, alles Ausdruck der unbewußt nie
aufgegebenen Mutterbindung, erschweren die Fähigkeit, sich an andere zu binden.
„Neurotisch-polygames Nichtverharrenkönnen beim Partner, sowohl aktives Bereiten von
Enttäuschungen wie auch passive Flucht vor möglichem Verlassenwerden sind daher oft
zu finden.19 Die Forderung nach der ursprünglichen uneingeschränkten Zuwendung wird
im Grunde nie aufgegeben.20
Die äußerliche Identifikation mit der Mutter wird durch die unbewußte Identifikation
mit ihr möglich. Wer die Muter verinnerlicht, kann sie lieben, indem er sich selber liebt,
oder er kann sich in der Phantasie schenken, was die Muter versagte. Er braucht die reale
Mutter nicht mehr. Die Identifikation bringt homosexuelle Tendenzen hervor, und zwar auf
doppelte Weise. Entweder führt sie zum narzißischen Bedürfnis, vom Vater oder einer
entsprechenden Ersatzfigur ebenso geliebt zu werden wie die Mutter, die man jetzt ja selbst
ist, oder die Identifizierung hat den anderen, ebenfalls narzißtischen Sinn, einen Partner,
den jungen Freund, das knabenhafte Mädchen, im Grunde sich selbst, so zu lieben und zu

Haltung der gegenwärtigen Psychoanalyse zugrunde liegt.


19
Wilhelm Reich (oben Anm. 17), S. 230.
20
Durch Provokation kann man, wenn nicht Zuwendung, so doch wenigstens Aufmerksamkeit
wieder erzwingen. Der narzißtische Charakter sucht dabei durch Angriff einzuschüchtern, der
masochistische sucht den anderen zu verärgern und ihn damit zu einer Strafe zu provozieren,
über deren Ungerechtigkeit er sich dann beklagen kann. Zwischen beiden Formen gibt es
Übergänge.
umsorgen, wie am zunächst von der Mutter geliebt wurde und weiter geliebt zu werden
wünscht. Im ersten Fall wird weibliches Rollenverhalten eingeübt, im zweiten Fall die
Beschützerrolle, die im überlegenen Beschützen dem ursprünglichen Verhalten der Mutter
entspricht. Es ist grundsätzlich möglich, gegenüber verschiedenen Personen und in
verschiedenen Situationen wischen beiden Richtungen zu wechseln; normalerweise tritt
aber eine von ihnen deutlicher hervor.21
Schließlich strebt der phallische Narziß, um das Gefühl totaler Nichtigkeit zu
kompensieren, mit allen Kräften nach totaler Anerkennung. Er gibt sich zunächst einmal
die versagte Anerkennung selber. Das genügt freilich noch nicht, denn auch wenn er sich
selbst die Mutter ersetzt, er ist sie doch nicht. Darum ist er gezwungen, seine Großartigkeit,
an die er im Grunde nicht glaubt, wie auf einem Tablett vor sich herzutragen, den
bestätigenden Kniefall aller Zuschauer erwartend. Diese Demonstration ist schließlich
verknüpft mit unstillbarem ödipalem Neid und entsprechend tiefer Aggression gegenüber
allen, die Anerkennung genießen und Selbstbewußtsein zeigen, denn sie wurden
offensichtlich nicht zurückgewiesen. Die tiefe Unsicherheit führt dazu, daß solche
Menschen „im gewöhnlichen Leben jedem erwarteten Angriff mit einem Angriff ihrerseits
vorzubeugen“ pflegen.22
Daß diese Charakterstruktur der Brechtschen Charakterdisposition zugrunde liegt, sei
mit wenigen Strichen angedeutet. Sie zeigt sich am deutlichsten beim frühen Brecht, der
noch um Anerkennung kämpfen mußte. Daß er das auf aggressive, provozierende Weise
tat, daß sich hinter seiner Aggressivität ein verletzliches, unsicheres Ich verbarg, ist
bekannt. Macht faszinierte ihn, weil sie die allseitige Anerkennung zu erzwingen,
narzißtische Kränkungen zu vermeiden versprach. „Warum bin ich zu feig, großen Krän-
kungen in die schielenden Augen zu sehen? Immer sehe ich gleich ein, was mich lähmt:

21
Ich folge auch hier den Auffassungen der klassischen Psychoanalyse. Sie wurden
zusammengefaßt von Otto Fenichel: Perversionen, Psychosen, Charakterstörungen.
Psychoanalytische spezielle Neurosenlehre. Nachdruck der Ausgabe Wien 1932. Darmstadt
1967, S. 20-29. [Spätere Anmerkung: Die verdrängte Liebe zur Mutter läßt sich nicht nur auf
einzelne Personen übertragen. Man kann z.B. Weite, Meer, die Masse der Gleichartigen als eine
neue Mutter phantasieren, in der man Geborgenheit findet, freilich um den Preis, sich in dieser
phantastischen Mutter aufzulösen. Damit wird die Angst vor der doch erwünschten Verschmel-
zung aktiviert – sie bedeutet ja Selbstauflösung –, zusammen mit der einstigen archaischen, das
kindliche Ich völlig überflutenden Wut auf die abweisende Mutter, eine Wut, die eine ebenso
maßlose Strafangst auslöst. Diese Ängste können zwar in Augenblicken der Todessehnsucht
und der Lust am Untergang rauschhaft genossen werden, der Verschmelzungswunsch kann die
Angst vorm Verschlungenwerden gleichsam überrennen. Unbewußt bleiben sie dennoch
bestehen. Überhaupt wäre die orale Regression mit Verschmelzungsangst und – wunsch und mit
Essenswunsch und Angst vor Gefressenwerden noch herauszuarbeiten gewesen.]
22
Wilhelm Reich (oben Anm. 17), S. 227.
Daß ich über niemanden Macht habe.“ (tag 69) Der Wunsch nach Macht und nach dem
großen einsamen Tod, der jedoch den anderen auf dem Theater oder im Gedicht vorgeführt
wird, stammen aus der gleichen Wurzel, aus dem Wunsch des nichtigen Ich nach totaler
Zuwendung. Daher treten beide zusammen auf:

Man müßte die Nation ins Herz treffen. Jedes Stück wie eine Bataille. [...] Macht
ausüben. [...] Er müßte die Menschen wie Pflanzen behandeln, sie niedersicheln,
wenn er, der Herr, durch den Lianenwald schreitet, oder wie Neger, mit unver-
ständlichen Gurgellauten im Kehlkopf, einzig die Peitsche begreifend. Und, wenn
das Feixen abfällt, auf einem großen Stein verenden, wie eine Pflanze eingehen, die
einzige ernste Angelegenheit des Planeten, nicht ernst genug, um beachtet zu
werden. (tag
134)

Das Sterben bestätigt die Verlassenheit. Als selbstgewähltes rettet es aber auch einen Rest
von Selbständigkeit, als dichterisch dargestelltes weckt es Bewunderung und provoziert
Widerspruch, welche die Verlassenheit wieder rückgängig machen. Es ist die
Schwundform, in welcher dem nichtigen Individuum noch Größe möglich ist.23 Die gleiche
Funktion hat das provozierend sachliche Schreiben, welches das Individuum negiert. Es
gesteht die Nichtigkeit ein und macht sie durch die Wirkung auf Zuschauer und Leser
zugleich wieder rückgängig. Schließlich schützt die Selbstvernichtung auch vor der besitz-
ergreifenden, Liebe, die einen sozusagen auffrißt. Brecht hat daraus eine Theorie gemacht,
wenn er im »Kölner Rundfunkgespräch« meint, Shakespeare stelle den großen Einzelnen
nur auf die Bühne, um ihn in den großen einsamen Untergang zu treiben, so daß er von den
Zuschauern aus Leidenschaft gefressen werden könne (gw 15, 149). Dementsprechend
wird dann die „Menschenfresserdramatik“ (gw 15. 215) des kulinarischen Theaters kri-
tisiert.
Man hat schon öfter beschrieben, wie tyrannisch und eifersüchtig Brecht versuchen
konnte, die Forderung nach der ursprünglichen, uneingeschränkten Zuwendung gegenüber
seinen Geliebten durchzusetzen, während er selbst unfähig war, sich zu binden, dem
Partner Eigenständigkeit zu gewähren und auf ihn als auf einen selbständigen Menschen
mit seinen Stärken und Schwächen tatsächlich einzugehen. Nicht wenige haben von ihm
verletzende Abwendung, Kälte und demonstrative Verachtung erfahren, wo
verständnisvolles, solidarisches Gespräch am Platze gewesen wäre: all dies ein Ausdruck
narzißtischer Konfliktangst. Daß die wichtigsten seiner Geliebten zu literarischen
23
„Es gibt wenige, die untergehen können, die mit Haut und Haaren aus den Fugen gehen, mit
zerschmetterten Händen hinauskriechen. Die Mehrzahl verreckt in Vereinen. Stirbt wie eine
Ratte, hört einfach auf.“ (tag 44)
Mitarbeiterinnen wurden, erlaubte ihm schließlich, seine Forderungen als Forderungen des
künstlerisch-politischen Kampfes zu rationalisieren. In ihm wurden die anderen
verbraucht. Im Kampf gewiß, aber auch in der Unterwerfung unter Brechts persönliche,
egoistische Bedürfnisse.
Die ihm in Liebe und Arbeit zu dienen hatten, wurden nicht hochgeschätzt.
„Eigentlich verachtet er ja uns Frauen tief, nur über Rosa Luxemburg und über Krupskaja,
Lenins Frau, kann man ihm Gutsagen abpressen. Ja, und natürlich über Weigel!!! Mich hat
er immer behandelt wie den letzten Dreck – leider liebe ich ihn.“ So Ruth Berlau.24 Es
lassen sich genügend Beispiele dafür finden, daß Brecht die Frauen auf geistlose, aus-
tauschbare Sex-Wesen reduziert.25 Man muß dabei bedenken, daß hier ein Mensch, der
Frauen gegenüber zutiefst unsicher war, vor sich selbst und anderen renommierte. Wenn
sein Selbstgefühl nicht bedroht wurde, vor allem wenn er sie belehrte, konnte Brecht den
Geliebten gegenüber auch verständnisvoll und zartfühlend sein. Der Reduktion der Frau
auf die Dirne entspricht Brechts Glorifizierung derjenigen, die der traditionellen
Mutterrolle genügen. Das ist eine Folge der bekannten, von Freud beschriebenen Spaltung
der Mutterimago.26 Die Dirne, Imago der dominierenden und sexuell aktiven Mutter, ist
diejenige, die das Kind zurückgestoßen und an den Vater verraten hat, die ihm Sexualität
verboten hat, sie heimlich aber selbst betreibt, die gute Mutter dagegen ist die wirklich
asexuelle Frau, die das Kind zärtlich und aufopfernd liebt.27 Wie das hier zugrunde
liegende Mutterverhältnis mit homosexuellen Tendenzen zusammenhängt, wurde gerade
dargestellt. Auf die entsprechende Thematik gerade in Brechts frühen Stücken hat die
Forschung schon mehrfach hingewiesen.28
Die Angst, als ein im Grunde wertloser Mensch immer wieder nach frühem Vorbild
zurückgestoßen zu werden, hat bei Brecht anscheinend zu einem allgemeinem tiefen

24
Brechts Lai-Tu. Erinnerungen und Notate von Ruth Berlau. Herausgegeben und mit einem
Nachwort von Hans Bunge. Darmstadt 3. Aufl. 1986, S. 268.
25
Vgl. etwa Ute Wedel: Die Rolle der Frau bei Bertolt Brecht (Europäische
Hochschulschriften, Reihe 1, Nr. 673). Frankfurt a M., Bern, New York 1983, S. 51 ff.
26
Sigmund Freud: Beiträge zur Psychologie des Liebeslebens. – In: Freud: Gesammelte Werke.
18 Bde. Hg. von Anna Freud. Bd. 8, London 1945 (1969), S.65-91.
27
Die Glorifizierung der Muttergestalten hat die gleiche Funktion wie die Bewunderung des
angeblich so tiefen weiblichen Gefühls, die man gerade bei phallisch narzißtischen Männern
heute häufiger findet. Die Bewunderung wertet die vermeintliche Geistlosigkeit der Frauen
lediglich um. Insofern versteckt sich hinter ihr die Verachtung. Sie entspricht damit den auf das
„ganz andere“ Weibliche abzielenden Richtungen des Feminismus, die hinter dem Kult der
Weiblichkeit die Selbstverachtung verbergen.
28
Z.B. Fritz Raddatz: „Ent-weiblichte Eschatologie. Bertolt Brechts revolutionärer
Gegenmythos“. – In: Bertolt Brecht II (Sonderband der Reihe text + kritik), hg. von Heinz
Ludwig Arnold. München 1973, S. 152-159, sowie Ute Wedel (oben Anm. 25), S.55 ff.
Mißtrauen geführt, zur Unsicherheit über die Gefühle der anderen. Dieses Mißtrauen
äußerte sich aber nicht, wie es in solchen Fällen geschehen kann, in völligem
Erkenntniszweifel, sondern im Wunsch, sich nichts vorzumachen. Die Nichtigkeit des
Individuums wird, allerdings in protestierender Provokation, dargestellt, die anderen
werden illusionslos analysiert, metaphysische Tröstungen werden nicht akzeptiert.

***

Betrachten wir mit diesem Vorverständnis vom Autor als einem phallischen Narziß das
Stück »Mann ist Mann«. Ich gehe von dem wohl auffallendsten strukturellen Zug des
Textes aus: Brecht hat der Verwandlung des Packers Galy Gay in einen blutrünstigen
Soldaten die umgekehrte des Sergeanten Fairchild, genannt Blutiger Fünfer, in einen
lächerlich harmlosen Zivilisten gegenüber gestellt, der Verwandlung des einen, der sich an
die Masse anpaßt, die Verwandlung des anderen, der sie verachtet. Eine umgekehrte
Spiegelung also. Mit ihr, mit der Eingliederung ins Militär bzw. der Ausgliederung aus
ihm, ist nun, verwunderlich genug, ein ganz anderes Thema verbunden.
Galy Gays Verwandlung ist an die Ambivalenz von sexuellem Wunsch und
tatsächlicher Asexualität geknüpft. Der brave Packer geht fort, einen Fisch zu kaufen.
Tatsächlich wird er seine treue Frau verlassen und verleugnen und sich der aggressiven
Männergemeinschaft der Soldaten anschließen.29 Sie ahnt schon, was es mit Fischen auf
sich hat: „Aber nimm dich bitte vor den Fischweibern in acht, sie sind lüstern und auf
Männer aus, und du hast ein weiches Gemüt, Galy Gay.“ (gw 1.299) Das weiche Gemüt
führt ihn auf dem Fischmarkt auch richtig zur Witwe Begbick, die an überdeutlichen
Hinweisen auf eine gewisse Bereitschaft nicht spart. Nun aber verweigert sich Galy Gay,
obwohl er doch, wie uns bedeutet wird, ansonsten nicht nein sagen kann. Und als die drei
Soldaten später in der Nacht die gutwillige Frau zu ihm legen, da geschieht wieder nichts.
Anstelle der Sexualität wird Aggressivität geweckt und befriedigt. Noch in der Fassung
von 1938 darf er blutrünstig jubeln:

Und schon fühle ich in mir


Den Wunsch, meine Zähne zu graben
In den Hals des Feinds
Urtrieb, den Familien
29
In der Fassung von 1926 sagt sie: „Bitte, schweif nicht herum ich werde mich in der Küche
einriegeln, daß du nicht ängstlich sein mußt der herumstreichenden Soldaten wegen!“ (mat.
181)
Abzukillen den Ernährer
Auszuführen den blutigen Auftrag
Ein wilder Schlächter! (mat 233)30

Auch die Gaumenlust des Fischkäufers wird dabei gestillt: Er erhält Zigarren und Whisky
und kann seinen Kameraden schließlich auch den Reis wegfressen. Das Essen ist nun
einmal wichtiger als die Liebe, wie Witwe Begbick richtig singt (gw 1.338). Doch die
losgelassene Aggressivität erlaubt auch, den sexuellen Wunsch, wenngleich versteckt, zu
Ende zu phantasieren: Galy Gay, eigentlich der vierte Mann einer Maschinenge-
wehrabteilung, hat auf einmal eine Kanone, wenn auch noch ohne Rohr, und während
seine drei Kameraden tatenlos zuschauen, bringt ihm die tüchtige Witwe das Fehlende und
hilft ihm, sein Rohr zu richten und zu schießen, obwohl sie an der Front nun wirklich
nichts verloren hat. Diese Szene hat so wenig mit der Masse zu tun, die den einzelnen
stärkt, daß wir schon einmal an die psychoanalytische Symbolik der gemeinsamen Schieß-
übung denken dürfen. Dies um so mehr, als Galy Gay hiermit die Heldentat des Blutigen
Fünfers in den Schatten stellt, der damals nur einen wenig vertrauenswürdigen Revolver
zur Verfügung hatte.31
So wie Galy Gay bestimmt ist durch den Gegensatz zwischen verstecktem
Sexualwunsch und offener Asexualität, so wünscht sich umgekehrt der Blutige Fünfer,
offen seiner Sexualität unterworfen, nichts sehnlicher als Asexualität:

oh verflucht er steht schon wieder der hund das wird nie mehr besser mit mir
gedenke bl 5 der schlachten am dschatseflusse und im pandschab damals bist du
besser gewesen als der dschingiskhan und jetzt gegen diese sinnlichkeit die einfach
nicht duldet daß du deine pflicht tust wird kein militärgericht etwas ausrichten da
hilft auch kein krieg gegen afghanistan da hilft gar nichts mehr da hast du den feind
im eigenen haus aber die bis heut nur mit ruhm bedeckte armee soll nicht in ihren
besten männern verfaulen aber wenn das blatt in deinem strafbuch auch nicht mehr
weiß werden kann so soll doch wenigstens ein fürchterliches exempel statuiert
werden (mat.
139)

Und der Arme, der nicht loskommt von Begbicks Töchtern, schießt sich die Hoden weg.

30
Bezeichnenderweise gibt es schon in den Galgei-Entwürfen eine Szene, in welcher Galgeis
verdrängter Sadismus geradezu wissenschaftlich geweckt wird (mat. 57) In einer anderen Szene
erweist er seine Schlägernatur (91). In der letzten Fassung (gw 1. 376) sorgen die beiden letzten
Zeilen („Auszuführen den Auftrag / Der Eroberer“) für eine eindeutig kritische Wertung.
31
Vgl. „Da stehen fünf Hindus. Die Hände auf den Rücken gebunden. Da komme ich mit
einem gewöhnlichen Armeerevolver, bewege ihn etwas vor den Gesichtern herum und sage:
dieser Revolver hat schon mehrere Male versagt. Man muß ihn ausprobieren. So. Darauf
schieße ich – fall um, du da, bum! – und so dann weitere vier Male ab.“ (gw 1.355)
Galy Gay lernt daraus. Nicht seine Scheinhinrichtung, erst die Selbstkastration des Bluti-
gen Fünfers läßt ihn wirklich einverstanden sein mit seiner Verwandlung:

Ich weiß, wer so geschrien hat und auch warum! Dieser Herr hat wegen seinem
Namen etwas sehr Blutiges mit sich gemacht. Er hat sich eben sein Geschlecht
weggeschossen! Das ist ein großes Glück für mich, daß ich das gesehen habe: jetzt
erst sehe ich, wohin diese Hartnäckigkeit führt, und wie blutig es ist, wenn ein Mann
nie mit sich zufrieden ist und so viel Aufhebens aus seinem Namen macht!
(gw 1.369)

Eigenartigerweise ändert die Selbstkastration nichts an dem Abstieg des Blutigen Fünfers
zum Zivilisten. Man muß ein potenter Mann sein, wenn man in der Armee anerkannt sein
soll – Mann ist Mann und Mann soll Mann bleiben –, aber die Potenz soll sich nur symbo-
lisch, nur in Aggression, nicht in Sexualität äußern. Nicht ohne Grund kastriert der Blutige
Fünfer sich gerade dann, als Galy Gay durch die ereignislose Nacht mit Witwe Begbick die
Probe auf seine asexuelle Natur bestanden hat, obwohl die Witwe ihm doch vorher eine
Gurke verschafft hatte. Mit seiner Asexualität hat Galy Gay – christlicher, als es Brecht
lieb sein konnte – den Mann von sinnlicher Natur besiegt.32 Die ständigen Drohungen des
bestraften Sünders sind nun endgültig ebenso schrecklich wie leer und lächerlich.
Die Eingliederung in die Armee, in die Gemeinschaft der gleichartigen Männer,
bedeutet also, daß die Heterosexualität verdrängt wird – der entsprechende Wunsch wird
nur symbolisch ausphantasiert –,33 während die ödipale Aggression gegen die nicht
gleichartigen Männer ausgelebt werden darf, mörderisch gegen die Ernährer der Familien,
kastrierend gegen die sexuellen Männer. »Mann ist Mann« ist so gesehen ein Imperativ:

32
Das macht ein Text aus den Vorarbeiten deutlich, der die erfolgreiche Probe auf Galy Gays
Asexualität mit der Abdankung des Blutigen Fünfers verknüpft, bezeichnenderweise im
Bibelstil. Die Parodie entlarvt diesmal freilich Brecht: „es fuhr ein mann in einem zug nach tibet
von kilkoa her und sie legten ein weib neben ihn auf daß er schliefe mit ihr und nichts frage
denn sie hatten ihm gesagt er sei der ihrigen einer und als er erwachte fand er das weib neben
sich er kannte sie aber nicht da sagten sie zu ihm: wer ist das weib mit dem du geschlafen
hast da wußte er es nicht als sie sahen er kenne das weib nicht sagten sie spottend du kennst
dich wohl selbst nicht da sagte er ich kenne mich er log aber sie versuchten ihn aber mit
allerlei und er war ganz verzagt und setzte sich abseits und wußte nicht wer er sei da hörte er
aber eine stimme hinter der wand und ein mann hub an zu klagen und sagte welche schande ist
über mich gekommen wo ist mein name der groß war von hier bis übers meer wo ist das
gestern das vergangen ist sogar mein kleid ist dahin das ich getragen habe“ (mat. 137) An
anderer Stelle in den Vorarbeiten besiegt Galy Gay den Blutigen Fünfer dadurch, daß er dessen
Selbstkastration öffentlich macht.
33
Da er aber im Grunde aber doch vorhanden ist, muß Galy Gay die Scheinhinrichtung
durchmachen. Auf der Ebene psychoanalytischer Symbolik entspricht sie der Kastration. An
einer Stelle der Entwürfe (mat 133) sind Kastrationssymbolik und (Schein)hinrichtung auch
noch miteinander verbunden.
Alle Männer sollen gleich sein, asexuell und ohne Familie.34 Wer diesem Imperativ von
Natur aus gehorchen kann, darf den anderen im ständig möglichen Fall der Andersartigkeit
und Sinnlichkeit die symbolische Kastrationsstrafe auferlegen: „Der läßt uns noch alle
köpfen!“ Mit diesen ahnungsvollen Worten eines der drei Soldaten, die schon im
sogenannten „Hauptmann-Manuskript“ von 1925 standen, endet das Stück in der Fassung
von 1926 (mat 151 und 223).
Es zeigt sich nun, daß der Name, den einer trägt, doch nicht ganz so gleichgültig ist,
wie das Stück auf der Ebene des Ausgesprochenen weismachen soll. Der Blutige Fünfer
verdankt seinen Namen dem feigen Abschlachten von fünf Gefangenen; er verliert ihn zu
Recht, denn er kann, von Natur seinem Trieb unterworfen, keine wirkliche
Kampfmaschine werden. Galy Gay, von Natur asexuell, kann es. Er zerstört mit fünf
Schüssen eine Bergfestung und verdient damit den neuen Namen des Soldaten.35 Doch
paradoxerweise paßt gerade die Namensberichtigung noch besser zum Thema der
Individualitätszerstörung. Individualität setzt eine nicht von außen diktierte Identität
voraus. Sie hängt in erster Linie nicht vom Namen ab, sondern von der Bejahung der
eigenen Sexualität. Fairchild hat damit Probleme und erfährt sich daher als „Widerspruch“,
„Als Muß-und-will-doch-nicht“ (gw 1. 317). Galy Gay, ohne Sexualität, ist auch von
vorneherein ohne Identität. Die Verwandlung bringt das an den Tag und verhilft damit
seinem Wesen, der Austauschbarkeit, zur Erscheinung. Insofern paßt, was auf psychischer
Ebene geschieht, durchaus zusammen mit dem, was auf sozialer Ebene geschieht: die
Unterwerfung des Individuums unter den Tauschwert.
Wir sind aber noch nicht am Ende mit dem Ausleuchten der psychischen Dimension.
Galy Gays Schicksal ist nicht nur bestimmt durch die Ambivalenz von Sexualwunsch und
Asexualität, sondern auch durch die Ambivalenz von Untergang und Selbstbewahrung, wie
sie typisch ist für den frühen Brecht und den der Lehrstücke. Auch Baal möchte sich im
Leben, sprich: in der Gesellschaft, auflösen und sich zugleich selbst bewahren.36 Diese
34
Die einmal erwogene Idee, Galy Gay die Witwe Begbick heiraten zu lassen und ihn zum
„Familienvorstand“ zu machen (mat. 147), entspricht zwar der ödipalen Aggression – Galy Gay
würde dann die Rolle des ödipalen Konkurrenten einnehmen –, stimmt aber nicht zusammen
mit der männlichen Gleichheit.
35
Symbolisch setzt sich auch hier der sexuelle Wunsch wieder durch als Potenzphantasie: Der
Blutige Fünfer schoß fünfmal mit einem Revolver, der, wie er behauptete, schon einmal versagt
hatte, während Galy Gay, von der Witwe unterstützt, mit seiner großen Kanone schießt und
dabei gewaltige Wirkung erzielt.
36
Die bisherige Forschung sieht das anders. Hans Peter Herrmann etwa (oben Anm. 5) spricht
vom „Umschlag von Ichstärke bei Baal in Ichschwäche bei Galy Gay“ und meint, erstere sei
„nur in völliger Gesellschaftsferne“ möglich, „im rein vital-kreatürlichen Bereich“, der später
in den sozialen Kontext gestellt und als überflüssig erkannt werde (S 205). Das scheint mir nur
Ambivalenz äußert sich in der Phantasie der Wiedergeburt.37 Der Packer wird auf Geheiß
der drei Soldaten erschossen und dankt ihnen, seinen „Vätern“ (mat 101), zugleich sein
neues Leben als Soldat. Doch damit nicht genug. Der neue Jeraiah Jip geht unter im
Kollektiv („Einen Mann rechts von dir, einen Mann links und hinten einen Mann“, gw
1.371) und alsbald wird er sich mit allen zusammen auflösen im Tod, wie es im Refrain
des Mann-ist-Mann-Songs heißt:

|:Denn Mann ist Mann!


Und darauf kommt's an! :|
Die Sonne von Kilkoa scheint
Auf siebentausend Männer hin,
Die sterben alle unbeweint,
Und 's ist bei keinem schad um ihn;
Drum sagen wir: 's ist gleich, auf wen
Die rote Sonne von Kilkoa schien! (mat 193 u. ö.)

Gleichzeitig aber wird der neue Soldat berühmt als „der größte Mann, den die Armee hat“
(mat 223). Er gewinnt Macht, so wie es in einem Entwurf heißt:

Er blüht sichtlich auf, er entfaltet sich ungeheuer als Jip. Der vierte Mann ist der
stärkste Mann unter den Vieren, er beherrscht sie vollständig, er ist der Soldat
Jerome Jip aus Tipperary, ein großer Mann, mit ihm ist schlecht Kirschen [essen].
Seine drei „Väter“ werden nichts zu lachen haben.
(mat. 101)

Hinter dem ödipalen Aspekt der Aggressionsbefreiung deutet sich nun ein weiterer,
tiefer liegender Aspekt des Soldatwerdens an. Fragen wir uns zunächst, warum die zweite
Geburt erforderlich wurde. War mit der ersten etwas nicht in Ordnung? Es scheint wohl so,

teilweise richtig. Denn wenn die Gesellschaft im vitalen Bereich immer schon anwesend ist,
dann ist die lustvolle Auflösung im All-Leben nicht nur, aber auch ein Ja zum schonungslosen
Prozeß der kapitalistischen Entwicklung, also keineswegs gesellschaftsfern. Allerdings muß die
Ambivalenz von Selbstbewahrung und Selbstauflösung dann angesichts des Lebens, das am
Schluß nun einmal nichts anderes als den Tod kennt, sehr viel einförmiger phantasiert und
rationalisiert werden als angesichts der wirklichen Gesellschaft. In den Lehrstücken bleibt diese
Ambivalenz erhalten, etwa im Nebeneinander von Jasager und Neinsager, nun aber als Ambiva-
lenz gegenüber dem Kollektiv.
Die Ambivalenz von Auflösung und Selbstbewahrung spricht auch aus dem Bild von der
durchlässigen Haut, das Brechts Schriften durchzieht. Es drückt sowohl das Gefühl der Nichtig-
keit und Ausgesetztheit aus als auch die schützende Widerstandslosigkeit eines Galy Gay. „Ein
unverletzbarer Mensch, weil widerstandslos" heißt es im Tagebuch von der Jesusgestalt in
einem Stück (tag 49). »Mann ist Mann« zeigt allerdings ungewollt, daß dieser Schutz nicht
funktioniert. Die Fremdbestimmung herrscht erst recht über den, der sich ihr durch
Selbstaufgabe zu entziehen sucht.
37
Auch dies ist ein typisches Brecht-Motiv. Vgl. Carl Pietzcker: Die Lyrik des jungen Brecht
(oben Anm. 17), S. 182 ff.
wenn Galy Gay nach seiner Hinrichtung sagt:

Meine Mutter im Kalender hat verzeichnet den Tag


Wo ich herauskam, und der schrie, das war ich.
Dieses Bündel von Fleisch, Nägeln und Haar
Das bin ich, das bin ich. (gw 1.359, vgl. mat. 207)

Die Mutter notierte sachlich den Tag der Geburt, aber sie gab dem, was aus ihr herauskam,
anscheinend nicht den Zuspruch, die Hilfe, die aus dem häßlichen Ding eine menschliche
Person gemacht hätte, die auch alleine, gelöst von der Mutter noch Selbstwertgefühl hätte.
Der Blutige Fünfer hat vielleicht nicht ganz Unrecht, wenn er den Soldaten zuruft: „eure
mütter haben euch verpfuscht bei dem vergeblichen versuch euch abzutreiben“ (mat 112).
Das Ding muß sich damit abfinden: „Das bin ich, das bin ich“. Ob ich will oder nicht.
Dürfen wir diesen Aspekt übersehen, wenn Galy Gay in die gänzliche Unsicherheit über
sich selbst und seine Stellung in der Welt versetzt wird? „Meine Mutter sagte oft zu mir,
etwas Sicheres weiß man nicht.“ (gw 1.342) Angemessenerweise besingt die Witwe
Begbick die Unsicherheit im »Lied vom Fluß der Dinge«, letztlich die Unsicherheit, wer
man eigentlich ist über das häßliche Bündel hinaus.
Die Scheinhinrichtung tötet das nichtige, einsame, sich selbst verachtende Ich. Mit
der Wiedergeburt dagegen ist eine neue, weniger grausame Mutter gewonnen, die
Männergemeinschaft. Die dichte Nähe der Männer ersetzt die fehlende mütterliche Wärme.
Darum gebührt der Armee ein zärtlicher Name; sie ist „die Mama, wie wir die Armee im
Scherz getauft haben“ (gw 1.330). Wer dieser Mama untreu wird, dem geschieht es wie
dem Blutigen Fünfer.38 Wer sich ihr aber unterwirft, der gewinnt allseits anerkennende
Zurufe und vierfache Reisportionen, während er kindlich begeistert mit seinem
Schießgewehr spielt. Er gewinnt Wärme, Anerkennung, Selbstbewußtsein und Identität. Er
38
So gesehen, bestraft er sich durch Kastration dafür, daß er der Mutter untreu wurde. Otto
Münsterer erinnert sich an einen Song in einer frühen Fassung des Stücks, in dem die Soldaten
den Blutigen Fünfer - hier heißt er noch John-I-am-happy - anreden:
John-I-am happy,
wer ist deine Mutter heh?
Es habt ihr schwarzen Schweine
vor Gottes Thron einst keine,
die für euch dort einsteh!
da sagte, rein wie Schnee,
John-I-am-happy, seine
sei die Mama Armee.
(Otto Münsterer, oben Anm. 4, S.168 f.). Die Treue zur Mutter, die dem Blutigen Fünfer erst
erlaubt, die anderen zu verachten, zeichnet ihn aus. Daß gerade er sie bricht, verlangt exempla-
rische Bestrafung. Schon 1919 entstand übrigens nach dem Zeugnis Münsterers ein »Lied von
der Mutter Armee« (ebd., S. 142).
ist Mann und neugeborenes Kind zugleich. Nicht zufällig wird von der ersten schlechten
Geburt gleich nach der Hinrichtung geredet. Die Wiedergeburt durch die neue Mutter
macht tatsächlich die enttäuschende Geburt durch die erste wieder gut.
Von der ersten Mutter kann man sich nun lösen. Galy Gay erkennt, daß der Name
ebenso gleichgültig ist wie die Mutter, sofern sie einem nur zu trinken gibt:

Und wenn der Galy Gay nicht der Galy Gay wär
So wär er einer Mutter trinkender Sohn, die
Eines anderen Mutter wär, wenn sie
Nicht seine wär, tränk also doch. (gw 1. 361)

Die mir Essen und Trinken gibt, Symbol zärtlicher Aufmerksamkeit, die ist meine Mutter.
Gewährt Mama dem neugeborenen Galy Gay nicht die Macht, sich fressend die
Zuwendung selbst zuzuführen, die er ursprünglich nicht bekam? Der Wechsel von der
lieblosen zur erwünschten zärtlichen Mutter ruft eine weitere Wunschgestalt auf den Plan:
die sinnliche Mutter ohne ödipalen Konkurrenten, Witwe Begbick. Sinnliche Frauen sind
bekanntlich gefährlich, sie werden als phallische Frauen phantasiert. Der Sexuelle, der sich
von den Männern (und der Mutter) distanziert, den zwingen sie in den Zivilanzug und zur
Kastration. Wer sich aber unter den Schutz der Männergemeinschaft stellt, den bewundern
sie, dem schenken sie ihr Rohr, das Symbol der Potenz, dem erlauben sie, wenngleich nur
symbolisch, ödipale Wunscherfüllung: Er darf mit ihnen zusammen schießen, die sexuellen
Männer lächerlich machen und gegen die Ernährer der Familien wüten.
Die Wiedergeburt verlangt allerdings ihren Preis. Galy Gay muß austauschbar im
Kollektiv aufgehen. Er erlangt Identität nur als undialektisch von außen bestimmte, nur im
Verzicht auf Individualität. Galy Gay wird der größte Mann der Armee, weil er beherzigt
hat: Mann ist Mann. Und er ist nicht mehr verlassen. Im Massengrab von siebentausend
Soldaten, wenn auch von der herzlosen Mutter nicht beweint, ist man jedenfalls nicht
allein. Man bleibt zusammen in der Mama Armee. Und bevor man stirbt, darf man wüten
gegen alles, was nicht austauschbar ist, gegen alle, die mehr sein wollen als ein „Bündel
von Fleisch, Nägeln und Haar“, insbesondere gegen die, die eine eigene Sexualität haben
und das als Familienväter auch noch demonstrieren. Die Schonungslosigkeit des Kollektivs
garantiert, daß alles vernichtet wird, was anders und mehr sein will als das nichtige, an sich
selbst verzweifelte Ich. Daß das Kollektiv letztlich auch gegenüber diesem Ich
schonungslos ist, wird in Kauf genommen, weil es ihm auch in der Verwesung noch
Gemeinsamkeit verspricht. (Die Nähe dieser Haltung nicht zur faschistischen Ideologie,
wohl aber zur faschistischen Psyche im Sinne Wilhelm Reichs liegt auf der Hand. [Spätere
Anmerkung: Auch zur Ideologie, die den Mann nur schätzt, wenn er den Heldentod
gestorben ist.])
Habe ich von Galy Gay gesprochen? Galy Gay ist eine Phantasiefigur ohne eigene
Psyche: Mann ist Mann. Ich sprach von der Psyche desjenigen, der Galy Gays Schicksal
phantasierte, der ein sozialpsychologisches Experiment nicht zufälligerweise, sondern mit
innerer Notwendigkeit im militärischen Bereich durchphantasierte. Die Kenntnis von
Brechts Charakterdisposition wirft nicht nur einiges Licht, so wage ich zu hoffen, auf die
eben vorgetragene Interpretation, sie erlaubt auch, noch weiter in den Text einzudringen.
Nachdem Galy Gay als neuer Jeraiah Jip sich selbst die Grabrede gehalten hat, wagt
er nicht, den Sarg zu öffnen, in dem angeblich der tote Galy Gay liegt:

Drum kann ich nicht aufmachen diese Kist.


Weil diese Furcht da ist in mir beiden, denn vielleicht
Bin ich der Beide, der eben erst entstand
Auf der Erd veränderlicher Oberfläch:
Ein abgenabelt fledermäusig Ding, hangend
Zwischen Gummibäumen und Hütt, nächtlich
Ein Ding, das gern heiter wär.
Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen.
(gw 1.360, vgl. mat. 199 und 209)

Die Angst vor dem anderen Ich ist durch die gerade andressierte Identitätsunsicherheit
ausreichend motiviert, die Bildlichkeit aber nicht. Brechts Flucht vor der zurückweisenden
und seine Suche nach der liebenden Mutter in Ferne und Verwesung, macht die Stelle vers-
tändlicher. Der Satz „Einer ist keiner. Es muß ihn einer anrufen“ (gw 1.360, vgl. mat. 209)
verweist zweifellos darauf, daß Identität im Stück auf Identifizierbarkeit reduziert wird.39
Doch in unmittelbarem Zusammenhang mit der Geburtsthematik ausgesprochen, läßt er
sich auch als Klage darüber deuten, daß der erste liebevolle Anruf ausblieb, der dem neuen
Wesen erlaubt hätte, ein heiteres, selbstgewisses Ich zu werden. Der Abgenabelte, aus der
ersten, symbiotischen Mutterbindung Verstoßene, ein häßliches „fledermäusig Ding“,
schwankt zwischen zwei Identitäten, zwischen der bergenden Hütte und den exotischen
Gummibäumen, in denen sich insgeheim vertraute Bürgerlichkeit gleichwohl erhalten hat.
Er schwankt zwischen Geborgenheitswunsch und dem Wunsch, in die phantasierte
drohend-heimische Ferne zu flüchten, aber auch zwischen der einen Angst, in der Gebor-

39
Klaus-Detlef Müller: Bertolt Brecht: Epoche – Werk – Wirkung (Becksche Elementarbücher,
Arbeitsbücher zur Literaturgeschichte). München 1985), S. 118.
genheit jeder eigenen Regung beraubt zu werden, und der anderen Angst, in der freien
Fremde unablässig um Anerkennung und gegen die Vaterfiguren kämpfen zu müssen,
zwischen der Angst also, eingesperrt und tot zu sein wie der Mann im Sarg oder als
Kampfmaschine leben zu müssen. Nach alledem erkennen wir nun die enorm starke psy-
chische Besetzung, mit welcher das scheinbar sachlich-gefühllose Experiment auf Identi-
tätsverlust durchgeführt wird.

***

Nun wäre nichts verkehrter, als Brecht hämisch auf einen Galy Gay in ihm verweisen zu
wollen. Brecht ist nicht Galy Gay. Der Künstler verhält sich zur Gestalt seiner Phantasie,
noch während er sie phantasiert. Unser eher zart gebauter Dichter, phantasiert gerne dicke
Männer, die essen und trinken zu schätzen wissen. Einerseits, um sich mit den Elefanten zu
identifizieren, die sich selber wärmen können, die nicht von jedem Windstoß umgeblasen
werden, die sich nicht mit unnützem Denken plagen, das über ihre unmittelbaren Interessen
hinausgeht, und die die Kraft haben, sich ihre Wünsche nach Genuß und Rache auch zu
erfüllen. Andererseits, um die Beneideten zu quälen und zu verspotten, um die
Schwerfälligen zu provozieren, um die Massigen auseinanderzunehmen und die Nichtig-
keit ihres Geistes zu offenbaren.
Später wird sich diese Phantasie ändern. Hat der phallische Narziß einmal eine
angesehenere soziale Position errungen, die ihm eine Individualität von außen her zu-
spricht, ihn aber auch Angriffe erwarten läßt, wie er selbst sie gegen die Vaterfiguren
richtete, so verringert sich sein aggresssives Provozieren im Maß des erworbenen
Ansehens, und er hüllt sich in freundliche, altväterliche Güte ein, um so allen Angriffen
sanft die Spitze zu nehmen, ohne freilich etwas an Macht aufgeben zu müssen. Bei Brecht
verbindet sich damit die Stilisierung zum chinesischen Weisen und die Aufwertung des
Elefanten zum weisen Tier, das richtig, nämlich seinen Interessen gemäß denkt (und das
zugleich unangreifbar ist).
So weit sind wir aber jetzt noch nicht. Noch wird der Elefant verspottet. „Der dicke
Mann auf der Schiffschaukel“ (mat 263)40 hieß er im ersten Entwurf, zum „Mammut“ (gw
1.323 u. ö.) und „Elefanten“ (gw 1.331 u. ö.) wird er in der letzten Fassung. So kräftig der
Packer ist, so schwer fällt es ihm, über seine unmittelbaren materiellen Interessen hinaus

40
Dem Dicken macht das Schiffschaukeln nichts aus, im Gegensatz zu Brecht, der es gerne
gekonnt hätte; vgl. Hartmann (oben Anm. 18), S. 57.
zu denken. Und gepeinigt wird er, bis er bei seiner Scheinhinrichtung in Ohnmacht fällt
und an sich selber zu zweifeln beginnt, ein teuflisches Vergnügen für „Uria“, das Haupt
der drei Quälgeister. „Was der alte Satan mit dem Dicken vorhat?“ (mat 39) fragt einer
schon in der frühen Fassung, als der Gangsterkönig sich an Galgei heranmacht. Darum ist
das Stück auch ein Lustspiel geworden, ein „Lustmordspiel“ allerdings (tag 39), das die
Zuschauer erschrecken soll, sie vielleicht sogar böse machen soll wie die Galgeis am Ende,
zu so großen bösen Kindern, daß ein kleiner Teufel sich in ihnen wohlfühlen kann. Hier
liegen die psychischen Wurzeln für die grotesken Züge des Stücks, die dem Barbarischen
den heiligen Bierernst nehmen und dem Autor wie dem Zuschauer erlauben, das
Barbarische aus unbeschädigter Distanz zu betrachten. Auch die Lernpsychologie ist nur
ein Mittel im grausam-lustigen Spiel.41
Mit Worten, aus denen sowohl die Bewunderung für den Dicken als auch die Ver-
achtung für ihn spricht, beschreibt Brecht seine Lust daran:

Der Vorwurf des 'Galgei' hat etwas Barbarisches an sich. Es ist die Vision vom
Fleischklotz, der maßlos wiehert, der, nur weil ihm der Mittelpunkt fehlt, jede
Veränderung aushält, wie Wasser in jede Form fließt. Der barbarische und schamlose
Triumph des sinnlosen Lebens, das in jeder Richtung wuchert, jede Form benützt,
keinen Vorbehalt macht noch duldet. Hier lebt der Esel, der gewillt ist als Schwein
weiterzuleben. Die Frage: Lebt er denn? Er wird gelebt. (tag 132)

Der Fleischklotz verkörpert wie Baal das Leben. Er ist keine Individualität, sondern
lediglich Ausdruck des sinnlosen Lebens. Es lebt ihn. Der Haß gegen seine Geistlosigkeit
ist der Haß gegenüber der Sinnlosigkeit des Lebens, der diesem selbst gegenüber nicht
geäußert werden kann, weil er an dessen Übermacht zunichte wird. In diesem Haß, so
barbarisch er ist, liegt mehr Menschlichkeit als in der barbarischen Anpassung an das
Leben. Das Problem jedoch ist, daß auch der Haß schließlich nur dazu führt, die
Übermacht des Lebens und damit, wie gesagt, des kapitalistischen Prozesses, zu bestä-
tigen.
Wie in einer Nußschale faßt die Farce »Das Elefantenkalb«, ein »Anhang zu 'Mann
ist Mann'« (gw 1.378), die Bedeutung des Psychischen für den 'Mann ist Mann'-Stoff
zusammen. Worum geht es? Galy Gay und die vier Soldaten der ursprünglichen Maschi-
nengewehrabteilung führen ein „Zwischenspiel“ (gw 1.380) in Art von Shakespeares
41
Insofern hat Jan Knopf recht, wenn er schreibt: „Auch die entschieden fortgeschrittene formale
Gestaltung des Stücks läßt eine Festlegung auf die ‚Neue Sachlichkeit’ und ihre ‚Psychologie’,
den Behaviorismus, nicht zu. Mann ist Mann ist ein ‚Lustspiel’, das allem, was es vorführt,
zugleich Spielcharakter vermittelt; es verweigert die sachliche Unmittelbarkeit, es spielt mit den
Sachen, führt sie vor.“ (oben Anm. 7) S. 51.
»Sommernachtstraum« auf. Einer der Soldaten, der Bananenbaum, klagt das Elefantenkalb
Galy Gay an, seine bei der Verhandlung anwesende Mutter ermordet zu haben, die von
einem weiteren Soldaten gespielt wird. Der Angeklagte, der seine Unschuld beweisen muß,
als handle es sich um einen Fall von Berufsverbot, wird nun in eine Situation gebracht, in
der er, eben um seine Unschuld zu beweisen, unabsichtlich dem Mond, zugleich Zeuge der
Anklage und Richter, die Hand ausreißt (worauf seine Mutter ihn verleugnet) und dann
seiner Mutter einen Strick um den Hals legt und zieht, bis sie blau wird. Das Stück trug
ursprünglich den Untertitel »Oder die Beweisbarkeit jeglicher Behauptung«.42
Zweifellos bezieht sich die Farce auf die Szene im Stück, in der ein Elefant verkauft
wird, den es garnicht gibt. Sicherlich wird in beiden Fällen eine Gesellschaft angegriffen,
deren ökonomische und juristische Formen die Wirklichkeit so verdecken, daß nur noch
der ehrliche Kampf sie offenbaren kann, der Krieg, mit dem »Mann ist Mann«, der
Boxkampf, mit dem die Farce endet. Es ist auch deutlich, daß die Einbeziehung eines
fiktiven soldatischen Publikums ins Spiel der fünf Maschinengewehrschützen schon
ansatzweise vorführen soll, wie ein wahrhaftiges und nichtkulinarisches Gebrauchstheater
aussehen könnte. Damit ist allerdings noch kaum etwas über die Eigenart des
merkwürdigen Textes ausgesagt. Will man seinen Inhalt nicht als unverständliches
groteskes Zeug abtun, so muß man den psychischen Aspekt berücksichtigen.
Im wesentlichen handelt es sich hier um einen Mutter-Sohn-Konflikt. Wer Brechts
Familienverhältnisse kennt, wird im Gesang der Elefantin nicht nur die Verspottung
kleinbürgerlicher Moritatenmoral, sondern auch die von Brechts eigener vorwurfsvoll
klagender Mutter wiedererkennen:

Wißt ihr auch, was eine Mutter ist?


Ach, ihr Herz so weich wie eine Butter ist.
Auch euch hat einst so'n weiches Mutterherz getragen
Und 'ne Mutterhand gefüllt den Magen
Und ein Mutteraug hat euch einst angeblickt
Und ein Mutterfuß den Stein vom Weg gerückt.
Lachen.
Deckt die Rasenbank einst ein Mutterherz
Lachen.
Zieht's 'ne noble Seele himmelwärts.
Lachen.
Hört 'ne Mutter, hört 'ne Mutter klagen:
Lachen.
Dies Kalb hab ich unterm Mutterherz getragen. (gw 1. 386)

42
Nach Jan Knopf (oben Anm. 7) S.52.
Man vergleiche, was der junge Brecht in »Auslassungen eines Märtyrers« von den
mütterlichen Vorwürfen berichtet:

Aber dann weint sie natürlich und sagt: Von der Wäsche!
Und ich brächte sie noch unter die Erde
Und der Tag werde kommen, wo ich sie werde mit den
Nägeln auskratzen wollen
Aber dann sei es zu spät, und daß ich noch merken werde
Was ich an ihr gehabt habe, aber das hätte ich dann früher
Bedenken sollen.
Da kannst du nur weggehen und deine Erbitterung
niederschlucken
Wenn mit solchen Waffen gekämpft wird, und rauchen, bis
du wieder auf der Höhe bist. (gw 8. 37)

Im Kampf mit ungleichen Waffen wird der Sohn mit schlechtem Gewissen und
Verlassenheit bedroht, weil er – davon handelt das Gedicht – körperliche Dinge benennt,
wie sie sind. In unserer Farce wird der erpresste Heuchelei zur Beweisbarkeit von allem
und jedem verallgemeinert – oder doch nicht von allem und jedem? doch nur zum Beweis
dessen, daß der hilflose, wütende Sohn unbewußt bereit wäre, die Mutter zu töten? Das
wäre freilich weder falsch noch absurd, sondern ganz einfach richtig.
Bezeichnenderweise beginnt die Gerichtsverhandlung mit dem Nachweis, daß das
Elefantenkalb über sein Geschlecht gelogen hat: Es ist kein Mädchen, sondern ein Junge.
Einerseits sicher beruhigend, das zu wissen, wenn man seiner Identität und Potenz nicht
gewiß ist. Andererseits ein Zeichen dafür, daß der Konflikt erst mit der erwachten
Geschlechtlichkeit beginnt. Folgerichtig kommt es zur ödipalen Tat: Das Elefantenkalb
reißt der Vatergestalt, die ihn richtet wegen seiner üblen Aufführung gegenüber der Mutter,
unwillentlich die Hand ab. Unwillentlich? Die Symbollehre, die wir in diesem Elternkon-
flikt vielleicht wieder bemühen dürfen, lehrt uns, darin eine Vaterkastration zu sehen. Und
wiederum ganz folgerichtig: Die Mutter verleugnet ihr Kind. In stellvertretender Rache
verleugnet Galy Gay in der Haupthandlung seine Frau. Die Themen vom Theater der
Wahrheit und von der Wahrheit des Kampfes bestimmen deswegen das Stück nicht
weniger. Aber wir können nun erkennen, wie sie besetzt sind mit Gefühlen aus einem
anderen, frühen Kampf mit ungleichen Waffen, in dem man sich nicht wehren kann, weil
man moralisch erpreßt wird.

***
Daß die unbewußten psychischen Anteile des Individuums Bertolt Brecht so weitgehend
die Gestaltung von »Mann ist Mann« beeinflussen, widerlegt nicht seine These von der
gesellschaftlichen Fremdbestimmtheit des Individuums.43 Im Gegenteil, sie gilt auch für
Brecht selbst. Auch seine scheinbar private Phantasiestruktur ist fremdbestimmt. Wie sie
sozial bedingt ist, wie der Prozeß seiner Bewußtseinsentwicklung unter den sozialen
Bedingungen verläuft, das scheint mir bereits weitgehend aufgehellt, nicht zuletzt durch
Carl Pietzckers Lyrikbuch (s. oben Anm. 18): Brechts Schreiben antwortet darauf, daß die
mittelständischen Werte sich nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg auflösten. In ihm
spiegelt sich zudem die „neue Sachlichkeit“, die die Angestelltenkultur der zwanziger
Jahre ausbildete, und die provokatorisch, aber auch neuen Halt versprechend auf die
untergegangene Fassadenkultur des Wilhelminismus antwortete. Es ist zudem bedroht von
der Faszination der Macht, der die nationalistischen deutschen Mittelschichten nach dem
Krieg ausgesetzt waren. Daß Brecht dieser Gefahr schließlich doch nicht erlag, daß er den
Faschismus bekämpfte und aus der Sachlichkeit eine leidenschaftlich betriebene Methode
der Aufklärung machte im Kampf um ein glücklicheres, freieres Leben: das wird aus seiner
eigentümlichen psychischen Abwehrstruktur verständlich.
Auch andere Antworten auf die gleiche soziale Situation waren möglich, und nicht
alle waren Brecht so fremd, daß er sie nicht auch hätte ergreifen können: Die Flucht in die
Soldatengemeinchaft, die faschistische Autoren zum unbefleckten Wesen der
Volksgemeinschaft stilisierten, das epigonale Festhalten an der klassischen
Bildungstradition oder auch eine existentialistische Haltung wie diejenige Kafkas. Welche
Lösung Brecht wählte, das ist dem Zusammenspiel seiner Charakterdisposition, seiner
sozialen Lage und den Zufällen seines Lebens geschuldet. So wie er seine Lösung verwirk-
licht, gewinnt seine private psychische Problematik Repräsentanz für die Intellektuellen.
Einsamkeitsangst und Einheitssehnsucht, Angst vor Selbstverlust und Sehnsucht nach
Auflösung in einem Kollektiv sind ja zugleich entscheidende kollektive Reaktionsweisen
der marginalisierten Intellektuellen, die zwar aus dem Bürgertum stammen, dort aber keine
Heimat mehr finden und isoliert dahintreiben, potentielle Verbündete aller möglicher
gesellschaftlicher Bewegungen. Während der untergründig Aggressive vorurteilslos und
fasziniert die Aggressivität der monopolkapitalistischen Gesellschaft beobachtet befähigt
ihn gerade seine psychische Abwehrstruktur dazu, diesen Zustand auszudrücken, ohne in

43
Der Text des Schlusskapitels folgt nicht der ursprünglichen Veröffentlich, sondern einer
bearbeiteten, für eine spätere, aber nicht erfolgte Veröffentlichung vorgesehenen Version.
Sentimentalität, Ästhetizismus Vitalimus oder Erkenntnisverzicht zu verfallen. Nicht weil
er gefühllos wäre, sondern weil sich in seiner demonstrativen Sachlichkeit ein zugleich
persönliches und typisches Leiden verbirgt, weil seine Dichtung vielleicht noch mehr
„stimmt“ in dem, was sie verschweigend zeigt, als in dem, was sie thematisiert und
analysiert –darum konnte Brechts vermeintliche Gefühllosigkeit für die Intellektuellen
unserer Zeit ebenso zu einem Vorbild wie zu einem Stein des Anstoßes werden. Wir sehen:
Man muß die Genese eines Werkes kennen, will man die Geltung verstehen
Die Fremdbestimmung, welche das Unbewußte und damit die Phantasiestruktur in
der primären Sozialisation erfährt, ist grundsätzlich allerdings aufhebbar, nicht anders als
die Fremdbestimmungen, welche Produktions- und Distributionsform verursachen,
nämlich durch eine erkenntnisgeleitete gesellschaftliche Praxis. Die entsprechende psy-
choanalytische Kenntnis fehlt freilich noch im Brechtschen Theater. Sie wird vom Objekti-
vismus wie auch vom ökonomistischen Marxismus ausgeblendet, auch wenn der Künstler
Brecht sie unbewußt einbringt. Deswegen ist Brechts „eingreifendes“ Schreiben noch nicht
überholt. Aber wir müssen uns vom Marxist und vom Künstler Brecht belehren lassen und
beide kritisch einander gegenüberstellen. Von dem einen kann man lernen, die psychischen
Anteile nicht zu verleugnen, von dem anderen, die gesellschaftliche Situation zu
reflektieren. Beide Seiten wären dann miteinander zu verbinden, statt sie gegeneinander
auszuspielen.

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