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Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa Band 1

400–1000
Vom spätantiken
Erbe zu den Anfängen
der Romanik
Herausgegeben von Christian Lübke und Matthias Hardt

Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO)


Inhalt

     9 Danksagung der Reihenherausgeber


  10 Eine Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa. Vorbemerkungen zur Reihe
JIŘÍ FA JT, WILFRIED FR ANZEN

  16 Ostmitteleuropa. Von der Formierung einer Geschichtsregion im Mittelalter bis zur
Formulierung eines Forschungskonzeptes
CHRISTIAN LÜBKE

  38 Kunstgeschichtsschreibung in Ostmitteleuropa – Ostmitteleuropa in der


Kunstgeschichtsschreibung. Nationale und transnationale Perspektiven
JIŘÍ FA JT, WILFRIED FRANZEN, ADAM S. L ABUDA

  52 Vom spätantiken Erbe zu den Anfängen der Romanik


  53 Vorwort
  54 Einführung. Historische Voraussetzungen und Rahmenbedingungen
CHRISTIAN LÜBKE

  80 Zeitleiste
  88 Karten der Orte und Fundplätze

  98 Die Transformation der römischen Welt


100 Nachwirkungen der Antike. Das Erbe Roms in der Völkerwanderungszeit
ORSOLYA HEINRICH-TAMÁSK A

116 Von Konstantin bis Justinian. Spätantike und frühes Christentum zwischen Adria und Donau
FR ANZ GL ASER, WILFRIED FRANZEN

128 Gentile Identitäten und ihre künstlerischen Ausdrucksformen


130 Das Erbe der Reiternomaden. Kunst und Kunsthandwerk im europäischen Hunnenreich
DIETER QUAST

138 Die Steppe und Byzanz. Kunsthandwerk und Bilderwelten im Awarenkhaganat


FALKO DAIM

154 Neuformierungen im frühen Mittelalter. Slaven und Balten


SEBASTIAN BRATHER

164 Die Kunst der Steppe in Ostmitteleuropa. Die ungarische Landnahmezeit


L ÁSZLÓ RÉVÉSZ

INHALT  5
174 Die Kunst der frühen Missionszeit
176 Salzburg und Hamburg. Christianisierung am südöstlichen und nördlichen Rand
des Frankenreiches
MAT THIAS HARDT

188 Karolingische Renovatio. Architektur und Bauausstattung im Alpen-Adria-Raum


MIL JENKO JURKOVIĆ

202 Die Suche nach kultureller Identität. Architektur und Kunsthandwerk im


Großmährischen Reich
LUMÍR POL ÁČEK

214 Herrschaftszentren. Die Anfänge der Residenzenbildung


ZOFIA KURNATOWSK A †

222 Der Übergang zu landeskirchlichen Strukturen. Christianisierung und Kirchenbau


in Böhmen und Polen
PETR SOMMER

232 Schmuck der Westslaven. Repräsentationsformen der neuen Eliten im 10. Jahrhundert


HANNA KÓČK A-KRENZ

242 Katalog
244 TAFELN 1–33
277 Spätrömisches Erbe
284 Frühchristliche Zeugnisse in den römischen Provinzen
293 Spätrömische Föderatenkultur
304 Kunst und Kultur im Hunnenreich
307 Nachhunnenzeitliche Eliten
312 Die Tierornamentik der Völkerwanderungszeit
324 TAFELN 34–65
356 Vom Zusammenbruch Westroms zur justinianischen Reconquista
372 Die frühe und mittlere Awarenzeit
383 Die Spätawarenzeit
388 Kontaktzone Ostseeraum: Balten, Slaven, Wikinger
391 TAFELN 66–106
432 Zwischen insularem Tierstil und italisch-mediterraner Tradition
437 Die karolingische Renovatio in Istrien
446 Das byzantinische Dalmatien und die Ecclesia Salonitana
451 Die fränkische Mission
468 Die mährischen Zentren

6  inhalt
482 TAFELN 107–128
504 Sakralbauten in Kroatien und an der südlichen Adria
508 Gentilreligiöse Vorstellungswelten
510 Residenzenbildung und Christianisierung
524 Die Feinschmiedekunst der ungarischen Landnahmezeit
534 Westslavischer Schmuck
542 Wikingerzeitliche Kultur und ihre Rezeption
552 Baltischer Schmuck

554 Anhang
556 Glossar
563 Personenregister
568 Orts- und Objektregister
585 Literaturverzeichnis
647 Bildnachweis
650 Autoren
651 Impressum

INHALT  7
Eine Geschichte der Kunst
in Ostmitteleuropa
Vorbemerkungen zur Reihe

Jiří Fajt, Wilfried Franzen

D ie nächstliegende Frage, die Ihnen vermutlich in den Sinn kam, als Sie den Titel unserer
Reihe lasen, nämlich welcher geographische Raum hier überhaupt abgebildet werden soll,
möchten wir erst einmal zurückstellen – obwohl ihre Beantwortung ganz entscheidend
ist für unsere Motivation, uns mit diesem Publikationsprojekt der Kunst aus jener Teilregion Euro-
pas zu widmen. Es ist aber eine durchaus komplexe Frage, die in einem eigenen Essay zu klären ist.
Beginnen möchten wir vielmehr über einen kleinen Umweg, mit einem Zitat des Ahnherrn der
Kunstgeschichtsschreibung Giorgio Vasari (1511–1574) aus den Einführungskapiteln seiner Vite:

»Obgleich die Ausländer in ihren Sachen nicht den perfekten disegno haben, den die Italie-
ner in ihren Sachen zeigen, so haben sie doch nichtsdestoweniger in einer Weise gearbei-
tet und arbeiten immer noch in einer Weise, dass sie die Sachen zu einer solchen Höhe der
Verfeinerung führen, dass sie die Welt staunen machen: Wie man in einem Werk sehen
kann, oder besser gesagt, in einem Wunder aus Holz von der Hand des Meisters Janni,
des Franzosen: […] mit der Erfahrung, die er in der Bearbeitung von Holz hatte, schuf er
aus Lindenholz eine Figur des Hl. Rochus in Lebensgröße; und er führte die Gewandung,
die sie umhüllt, in der allerfeinsten Schnitzarbeit durch, so zart und durchbrochen und
papiergleich und mit einem so schönen Verlauf der Faltenanordnung, dass es etwas noch
Wundervolleres überhaupt nicht zu sehen gibt. Gleichermaßen führte er den Kopf, den
Bart, die Hände und die Beine dieses Heiligen mit solcher Vollendung aus, dass diese Figur
grenzenloses Lob von allen Menschen verdient hat und immer noch verdient […]«.1

Nur wenige von nordalpinen Meistern geschaffene Kunstwerke werden durch Vasari derart geadelt,
wie jene von ihm Janni franzese zugeschriebene Rochus-Skulptur in der Basilica della Santissima
Annunziata in Florenz (Abb. 1). Ob seine Wertung auch so positiv ausgefallen wäre, hätte er geahnt,
dass es sich – wie wir heute wissen – nicht um das Werk eines französischen Künstlers, sondern
um eines des Mitteleuropäers Veit Stoß handelt, kann angesichts seiner Skepsis gegenüber Meistern
außerhalb Italiens und Frankreichs durchaus bezweifelt werden. Selbst der »Franzose« Janni habe
laut Vasari erst in Italien die notwendige Fähigkeit des disegno erlernen müssen, um ein solches
Meisterwerk kreieren zu können. Vasaris Lobeshymne ist somit auch ein Lehrstück zur Wertschät-
zung (ost-)mitteleuropäischer Kunst in der Neuzeit und spiegelt die selektive Wahrnehmung dieses
Teils des Kontinentes in den Zentren des Südens wider.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rochus-Skulptur als Schöpfung des Veit Stoß erkannt
wurde,2 war um die Person des Künstlers ein ganz anderer Konflikt entbrannt, der stellvertretend
für die Problematik der ethnischen Etikettierung der Künstler Mitteleuropas steht: Ein aus Schwa-
ben stammender Nürnberger Schnitzer, der für den polnischen Königshof und die Stadt Krakau tätig
wurde und seinen Arbeitsort später wieder nach Nürnberg verlegte, diente der deutschen Kunstge-
schichtsschreibung geradezu als Paradebeispiel des deutschen Künstlers im Osten, während man

10  Vorbemerkungen zur Reihe


Abb. 1  Heiliger Rochus  Veit Stoß, 1505 • Lindenholz, H. 1,70 m • Florenz, Santissima Annunziata

in polnischen Kreisen eine Herkunft aus Polen zu belegen versuchte.3 Obgleich das Interesse an dem
»eigenen« Kulturerbe nicht nur in den ostmitteleuropäischen Nationalstaaten auch gegenwärtig
noch ungebrochen ist und mancherorts gar eine Renaissance erlebt, mag heutzutage nicht Weni-
gen ein solcher Streit um die Nationalität irrelevant erscheinen. Unsere Wissenschaft ist jedoch das
Kind einer Epoche, die den Aufstieg und den Triumph nationaler Ideen gesehen hat. Auch die Geis-
teswissenschaften waren im Banne des Nationalen gefangen und dementsprechend dazu verleitet,
historische Befunde und Objekte von vornherein festgelegten Konzepten unterzuordnen, so jene

1 VASARI, 167f. – Deutsche Übersetzung nach BAXAN- 2 VOSS 1908.


DALL 1984, 201. – Hierzu MARKSCHIES 2003. – Für 3 MUTHESIUS 2000. – STÖRTKUHL 2015.
den Hinweis danken wir Dirk Suckow, Leipzig.

EINE GESCHICHTE DER KUNST IN OSTMIT TELEUROPA  11


Idee des Kulturraumes, der Mentalität und Kultur einer Volksgruppe spiegele, oder auch die Idee
kultureller Fortschrittlichkeit und Rückständigkeit, die a priori ein Gefälle konstruierte, das man
in Europa eigentlich immer von Süd nach Nord und West nach Ost festzustellen pflegte. Dabei muss
man sich natürlich im Klaren sein, dass viele der in der Vergangenheit ideologisch verallgemei-
nerten Beobachtungen einen wahren Kern haben: Im Westen und Süden des Kontinentes waren
Bevölkerungsdichte, Urbanisierungsgrad und Wirtschaftskraft seit langem größer als in seinem
Zentrum. Und die hier verankerte römische Tradition gab auch nach dem Untergang der staatlichen
Strukturen des Römerreiches noch zivilisatorische Impulse, die in der Mitte und im Norden fehl-
ten. Wenn also Fürsten im Zentrum Europas etwas für die Entwicklung ihrer Länder tun wollten,
so mussten sie notwendigerweise versuchen, die »Überschüsse« im Westen und Süden anzuzapfen.
Erst ab dem späten Mittelalter kehrten sich die Verhältnisse bisweilen um, sodass nun auch die Zen-
tren im Norden und Osten des Kontinentes zum Maßstab für das künstlerische Schaffen wurden.
Kunsthistorische Gesamtdarstellungen gehören seit seinen Anfängen zum Repertoire unseres
Faches, das stets um eine Vermittlung seiner Forschungen nach außen bemüht war  – stellen sie
doch ein Instrument dar, komplexe historische Sachverhalte zu ordnen und in klaren Strukturen
auch einer breiteren Öffentlichkeit zu vermitteln. Als wir uns am Geisteswissenschaftlichen Zen-
trum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig entschlossen, die Kunst der Großregion
zwischen Ostsee, Adria und Schwarzem Meer in einer mehrbändigen Reihe vorzustellen, sahen wir
uns mit einer ähnlichen Gefahr konfrontiert, der sich auch jene Überblickswerke stellen müssen, die
sich kleinräumigeren Gebieten widmen – seien es einzelne Nationalstaaten oder kleinere (geo-)poli-
tische Einheiten: Denn jeder geographische oder politisch-administrative Rahmen verführt dazu,
eine Entität zu konstruieren, die es so nicht gegeben hat. Ebenso wenig wie sich z. B. für Polen,
Ungarn, Böhmen usw. »Kunstlandschaften« ohne ahistorische Verkürzungen definieren lassen,
gilt dies für eine »Kunstregion Ostmitteleuropa«: Ein solches Konstrukt würde übereinstimmende
strukturelle Eigenschaften implizieren, die die Kunst hier von jener aus anderen Teilen des Konti-
nentes substantiell unterschieden hätte.4 Die Legitimation, sich einer solchen Großregion zu wid-
men, ergibt sich denn auch weniger aus der Kunst selbst, als aus der Historie, d. h. aus der eng ver-
zahnten Geschichte der Völker Ostmitteleuropas (siehe S. 16–36). Diese »Geschichtsregion«, wie sie in
den historischen Wissenschaften definiert wird,5 bietet den geopolitischen Rahmen und die histori-
sche Folie für die Erforschung der Kunst. Die inhaltlichen, strukturellen Besonderheiten dieses Teils
Europas lassen sich dabei nur stückweise benennen und sind für jede Epoche neu zu hinterfragen.
Man wird aber den lokalen auf der einen und den transregionalen Verflechtungen auf der an-
deren Seite am ehesten gerecht, wenn man Vermittlungswege und -akteure im Einzelnen unter-
sucht, jeweils bei konkreter, individueller Betrachtung im historischen Kontext. Um jene räum-
lichen Prozesse analysieren zu können, greift die Kunstgeschichte in der jüngeren Vergangenheit
vermehrt auf das Konzept des »Kulturtransfers« zurück – ursprünglich ein Forschungsparadigma
französischer Germanisten und Kulturhistoriker, das durch die historischen Wissenschaften ge-
winnbringend adaptiert wurde.6 Sein größter Reiz liegt in der Akzentverschiebung bei der Unter-
suchung der Verhältnisse unterschiedlicher kultureller Gruppen zueinander, indem sich der Fokus
weg von der »Ausgangskultur« und somit der Frage des »Einflusses« hin zu den Motiven von Re-
zeption und Übernahme »fremder« Ideen verschiebt.7 Dieser Perspektivwechsel hilft auch in den
Kunstwissenschaften besser zu verstehen, warum bestimmte Stile oder Bildideen an bestimmten
Orten zu finden sind. Wir folgen mit unserer projektierten Reihe daher den dynamischen Vorstel-
lungen eines vielschichtigen sozio-kulturellen Netzwerkes, eines Verflechtungsfeldes, wo auf ver-
schiedenen Wegen Kunst und Ideen transportiert werden, Künstler und ihre Auftraggeber die tra-
genden Kräfte sind  – mit den jeweils sehr unterschiedlichen Motivationen. Es interessieren uns
die entsprechenden künstlerischen Hervorbringungen im breitesten Sinne, ihre Funktionen und
ihre räumlichen Anordnungen, im privaten wie im öffentlichen Raum, ihre historische Bedingt-
heit, aber auch die Wahl der künstlerischen Mittel und die Möglichkeit, mit der »Grammatik« eines
solchen visuellen Kommunikationssystems zu arbeiten. Die Phänomene der Übertragung von kul-
turellen Werten oder Objekten von einem Ort zum anderen bedürfen jedoch nach unserer Über-
zeugung jeweils einer präzisen Analyse des physischen und quellenmäßigen Befundes und seiner

12  Vorbemerkungen zur Reihe


Aussagekraft, bevor sich aus der Zusammenführung ihrer Ergebnisse allgemeinere Schlüsse ziehen
lassen.
Eine auf mehr als 1 500 Jahre angelegte Kunstgeschichte einer Großregion wie Ostmitteleuropa
erfordert hinsichtlich der geographischen Bestimmung des darzustellenden Raumes (in Anbetracht
der Instabilität der politischen Grenzen und der lange währenden Vereinnahmung von außen) eine
flexible Herangehensweise. Mehr als in kleinräumlicheren Darstellungen wird überdies deutlich,
wie sehr die Stilgeschichte von langen Übergangsphasen, Parallelerscheinungen, aber auch Brü-
chen geprägt wird, die eine lineare Kunstgeschichtsschreibung verbieten. Eine Periodisierung der
vorgesehenen neun Bände nach den kanonisierten kunsthistorischen Epochenbegriffen ist daher
nicht sinnvoll, da diese eine Einheitlichkeit der jeweiligen Epoche suggerieren. Wir haben uns viel-
mehr entschlossen, Schnitte zu setzen, die vorwiegend historische und kulturhistorische Mark-
steine berücksichtigen – obschon wir uns weiterhin des etablierten kunsthistorischen Vokabulars
bedienen, das für das grundsätzliche Verständnis der jeweiligen Zeiträume notwendig scheint. Die
jeweiligen Banduntertitel (»Von der Romanik zur Frühgotik«, »Von der Renaissance zum Barock«
etc.) sollen diesen Aspekten Rechnung tragen und das Prozesshafte veranschaulichen.
Der hier skizzierte methodische Rahmen dieser Reihe soll die Konzeption der einzelnen Bände
bestimmen. Doch ist natürlich klar, dass sich für jede Epoche neue Fragestellungen ergeben, dass
beispielsweise die archäologischen Artefakte der Völkerwanderungszeit eine andere Herangehens-
weise erfordern als die künstlerischen Erzeugnisse anderer Epochen. Den gemeinsamen Leitfa-
den stellt die historische Kontextualisierung der »Kunst« dar. Auch aus diesem Grunde werden die
Bände mit Zeittafeln und historischen Karten angereichert, die – trotz der hier unvermeidlichen
Vereinfachungen – zum Verstehen der komplexen historischen Vorgänge in dieser Region beitragen
mögen. Im Fokus stehen aber vor allem die Kunstwerke selbst. Deshalb wird es in jedem Band einen
ausführlichen Katalogteil geben, in dem rund 300 Kunstwerke vorgestellt werden sollen, die exem-
plarisch für den jeweiligen Zeitabschnitt stehen. Erfasst werden alle künstlerischen Gattungen und
Aufgaben, vom Palastbau bis zum Kunsthandwerk, von der Hochkunst bis zu Alltagsgegenständen.
Das Handbuch will gleichwohl kein Inventar sein – dies bleibt anderen Publikationsformen über-
lassen. So haben wir uns denn auch von dem gattungsspezifischen Aufbau verabschiedet, der der-
artige Kompendien seit der ersten Propyläen-Reihe kennzeichnet.
Unser Handbuch zur Geschichte der Kunst in Ostmitteleuropa versteht sich auch als Mate-
rialsammlung für weitergehende Forschungen und ist damit ein Angebot, sich mit der Kunst in
und aus diesem Teil des Kontinentes auseinanderzusetzen. Mehr als 25 Jahre nach der politischen
Neuordnung Europas sind die Kenntnisse hierzu gerade im einstigen Westen doch eher bescheiden
und auch im kunstwissenschaftlichen Diskurs ist »Ostmitteleuropa« nicht wirklich verankert – der
hierfür notwendige Perspektivwechsel vollzieht sich nur zögerlich (siehe S. 48–51). Vor allem die
jahrzehntelange Trennung durch den Eisernen Vorhang hat das Bewusstsein für die gemeinsame
Geschichte und Kultur in den Hintergrund treten lassen. Gerade in Deutschland (im Westen wie
im Osten) hatte man aber auch angesichts der verheerenden Folgen der deutschen »Ostforschung«
eine nicht unerhebliche Scheu entwickelt, sich der Kunst aus den Gebieten östlich der Grenzen von
1945 zu widmen. Bisweilen waren und sind es aber schlicht die Sprachbarrieren, die einer Wahr-
nehmung der dortigen Forschung – und damit auch der Kunst selbst – im Wege stehen. Nicht zuletzt
aus diesem Grunde verfolgt das »Handbuch« einen konsequent internationalen Ansatz und soll auch
eine Plattform für Wissenschaftler aus den ostmitteleuropäischen Ländern sein, um den jeweiligen
Forschungsstand präsentieren zu können.

4 Vgl. Dmitrieva 2004. 6 ESPAGNE/WERNER 1985. – MIDELL 2000. –


5 Der Terminus hat sich in den historischen Wissen- Vgl. SCHMALE 2003. – DMITRIEVA 2008, 31–35. –
schaften, ausgehend von der Ostmitteleuropafor- SCHMALE 2012.
schung, etabliert, um in »komparativer Forschung 7 »Nicht der Wille zum Export, sondern die Bereit-
[…] spezifische Cluster von Strukturmerkmalen schaft zum Import steuert hauptsächlich die Kultur-
langer Dauer zu ermitteln und voneinander abzu- transferprozesse«. MIDDELL 2000, 16.
grenzen.« TROEBST 2010, 1.

EINE GESCHICHTE DER KUNST IN OSTMIT TELEUROPA  13


Die Vergewisserung des gemeinsamen kulturellen Erbes und eine transnationale Perspektive
erscheinen um so notwendiger in einer Zeit, in der multikulturelle Aspekte zunehmend infrage ge-
stellt werden und eine nationalistische und populistische Vereinfachung unserer Vergangenheit
immer mehr Verbreitung findet.

»Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangs-
einheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den
vielartigen Reichtum seines Geistes bedroht«.8

Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Christoph Burckhardt (1818–1897) hatte, als er diese Aussage
formulierte, die Folgen der »Hispanisierung« Europas im 17. und 18. Jahrhundert vor Augen, doch
lässt sich dieser Satz mühelos auf die aktuelle Kulturpolitik – die nationale wie europäische – über-
tragen. Die kulturelle Vielfalt ist das wahre Pfund, mit dem Europa und seine Staaten wuchern kön-
nen. Ihr gerecht zu werden, bleibt die große Herausforderung für die Geisteswissenschaften und ist
zugleich das Hauptanliegen unserer Handbuch-Reihe.

8 BURCKHARDT 1988, 207.

14  Vorbemerkungen zur Reihe

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