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400–1000
Vom spätantiken
Erbe zu den Anfängen
der Romanik
Herausgegeben von Christian Lübke und Matthias Hardt
16 Ostmitteleuropa. Von der Formierung einer Geschichtsregion im Mittelalter bis zur
Formulierung eines Forschungskonzeptes
CHRISTIAN LÜBKE
80 Zeitleiste
88 Karten der Orte und Fundplätze
116 Von Konstantin bis Justinian. Spätantike und frühes Christentum zwischen Adria und Donau
FR ANZ GL ASER, WILFRIED FRANZEN
INHALT 5
174 Die Kunst der frühen Missionszeit
176 Salzburg und Hamburg. Christianisierung am südöstlichen und nördlichen Rand
des Frankenreiches
MAT THIAS HARDT
242 Katalog
244 TAFELN 1–33
277 Spätrömisches Erbe
284 Frühchristliche Zeugnisse in den römischen Provinzen
293 Spätrömische Föderatenkultur
304 Kunst und Kultur im Hunnenreich
307 Nachhunnenzeitliche Eliten
312 Die Tierornamentik der Völkerwanderungszeit
324 TAFELN 34–65
356 Vom Zusammenbruch Westroms zur justinianischen Reconquista
372 Die frühe und mittlere Awarenzeit
383 Die Spätawarenzeit
388 Kontaktzone Ostseeraum: Balten, Slaven, Wikinger
391 TAFELN 66–106
432 Zwischen insularem Tierstil und italisch-mediterraner Tradition
437 Die karolingische Renovatio in Istrien
446 Das byzantinische Dalmatien und die Ecclesia Salonitana
451 Die fränkische Mission
468 Die mährischen Zentren
6 inhalt
482 TAFELN 107–128
504 Sakralbauten in Kroatien und an der südlichen Adria
508 Gentilreligiöse Vorstellungswelten
510 Residenzenbildung und Christianisierung
524 Die Feinschmiedekunst der ungarischen Landnahmezeit
534 Westslavischer Schmuck
542 Wikingerzeitliche Kultur und ihre Rezeption
552 Baltischer Schmuck
554 Anhang
556 Glossar
563 Personenregister
568 Orts- und Objektregister
585 Literaturverzeichnis
647 Bildnachweis
650 Autoren
651 Impressum
INHALT 7
Eine Geschichte der Kunst
in Ostmitteleuropa
Vorbemerkungen zur Reihe
D ie nächstliegende Frage, die Ihnen vermutlich in den Sinn kam, als Sie den Titel unserer
Reihe lasen, nämlich welcher geographische Raum hier überhaupt abgebildet werden soll,
möchten wir erst einmal zurückstellen – obwohl ihre Beantwortung ganz entscheidend
ist für unsere Motivation, uns mit diesem Publikationsprojekt der Kunst aus jener Teilregion Euro-
pas zu widmen. Es ist aber eine durchaus komplexe Frage, die in einem eigenen Essay zu klären ist.
Beginnen möchten wir vielmehr über einen kleinen Umweg, mit einem Zitat des Ahnherrn der
Kunstgeschichtsschreibung Giorgio Vasari (1511–1574) aus den Einführungskapiteln seiner Vite:
»Obgleich die Ausländer in ihren Sachen nicht den perfekten disegno haben, den die Italie-
ner in ihren Sachen zeigen, so haben sie doch nichtsdestoweniger in einer Weise gearbei-
tet und arbeiten immer noch in einer Weise, dass sie die Sachen zu einer solchen Höhe der
Verfeinerung führen, dass sie die Welt staunen machen: Wie man in einem Werk sehen
kann, oder besser gesagt, in einem Wunder aus Holz von der Hand des Meisters Janni,
des Franzosen: […] mit der Erfahrung, die er in der Bearbeitung von Holz hatte, schuf er
aus Lindenholz eine Figur des Hl. Rochus in Lebensgröße; und er führte die Gewandung,
die sie umhüllt, in der allerfeinsten Schnitzarbeit durch, so zart und durchbrochen und
papiergleich und mit einem so schönen Verlauf der Faltenanordnung, dass es etwas noch
Wundervolleres überhaupt nicht zu sehen gibt. Gleichermaßen führte er den Kopf, den
Bart, die Hände und die Beine dieses Heiligen mit solcher Vollendung aus, dass diese Figur
grenzenloses Lob von allen Menschen verdient hat und immer noch verdient […]«.1
Nur wenige von nordalpinen Meistern geschaffene Kunstwerke werden durch Vasari derart geadelt,
wie jene von ihm Janni franzese zugeschriebene Rochus-Skulptur in der Basilica della Santissima
Annunziata in Florenz (Abb. 1). Ob seine Wertung auch so positiv ausgefallen wäre, hätte er geahnt,
dass es sich – wie wir heute wissen – nicht um das Werk eines französischen Künstlers, sondern
um eines des Mitteleuropäers Veit Stoß handelt, kann angesichts seiner Skepsis gegenüber Meistern
außerhalb Italiens und Frankreichs durchaus bezweifelt werden. Selbst der »Franzose« Janni habe
laut Vasari erst in Italien die notwendige Fähigkeit des disegno erlernen müssen, um ein solches
Meisterwerk kreieren zu können. Vasaris Lobeshymne ist somit auch ein Lehrstück zur Wertschät-
zung (ost-)mitteleuropäischer Kunst in der Neuzeit und spiegelt die selektive Wahrnehmung dieses
Teils des Kontinentes in den Zentren des Südens wider.
Als zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Rochus-Skulptur als Schöpfung des Veit Stoß erkannt
wurde,2 war um die Person des Künstlers ein ganz anderer Konflikt entbrannt, der stellvertretend
für die Problematik der ethnischen Etikettierung der Künstler Mitteleuropas steht: Ein aus Schwa-
ben stammender Nürnberger Schnitzer, der für den polnischen Königshof und die Stadt Krakau tätig
wurde und seinen Arbeitsort später wieder nach Nürnberg verlegte, diente der deutschen Kunstge-
schichtsschreibung geradezu als Paradebeispiel des deutschen Künstlers im Osten, während man
in polnischen Kreisen eine Herkunft aus Polen zu belegen versuchte.3 Obgleich das Interesse an dem
»eigenen« Kulturerbe nicht nur in den ostmitteleuropäischen Nationalstaaten auch gegenwärtig
noch ungebrochen ist und mancherorts gar eine Renaissance erlebt, mag heutzutage nicht Weni-
gen ein solcher Streit um die Nationalität irrelevant erscheinen. Unsere Wissenschaft ist jedoch das
Kind einer Epoche, die den Aufstieg und den Triumph nationaler Ideen gesehen hat. Auch die Geis-
teswissenschaften waren im Banne des Nationalen gefangen und dementsprechend dazu verleitet,
historische Befunde und Objekte von vornherein festgelegten Konzepten unterzuordnen, so jene
»Retter Europas ist vor allem, wer es vor der Gefahr der politisch-religiös-sozialen Zwangs-
einheit und Zwangsnivellierung rettet, die seine spezifische Eigenschaft, nämlich den
vielartigen Reichtum seines Geistes bedroht«.8
Der Schweizer Kulturhistoriker Jacob Christoph Burckhardt (1818–1897) hatte, als er diese Aussage
formulierte, die Folgen der »Hispanisierung« Europas im 17. und 18. Jahrhundert vor Augen, doch
lässt sich dieser Satz mühelos auf die aktuelle Kulturpolitik – die nationale wie europäische – über-
tragen. Die kulturelle Vielfalt ist das wahre Pfund, mit dem Europa und seine Staaten wuchern kön-
nen. Ihr gerecht zu werden, bleibt die große Herausforderung für die Geisteswissenschaften und ist
zugleich das Hauptanliegen unserer Handbuch-Reihe.