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Titel

SUHAIB SALEM / REUTERS (L.); AAMIR QURESHI / AFP (R.)

Islamisches Heiligtum Kaaba in Mekka: Sieben Umrundungen für den einen Gott

Verse für Krieg und Frieden


Kaum ein Werk wird so verehrt, gefürchtet und missbraucht wie der Koran. An Gottes
Offenbarungen für den Propheten Mohammed scheiden sich die Geister: Ist die heilige Schrift des
Islam nur ein archaischer Gesetzestext, oder lässt er sich wie die Bibel auch modern deuten?

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Koranschüler (in Karatschi): „Dies ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist, geoffenbart als Rechtleitung für die Gläubigen“

U
nter all den Menschen, die an diesem halten, für die er von seinen Studenten ge- Wann immer er es wagt, seine Familie am
Montagmorgen durch den Bahnhof schätzt und geachtet wird – und von isla- Nil zu besuchen, muss er seine Ankunft
von Leiden strömen, ist Nasr Hamid mischen Fanatikern in aller Welt leiden- beim Polizeichef melden. Der stellt ihm
Abu Seid leicht zu übersehen. Er trägt eine schaftlich gehasst. Ohne Hast und ohne dann zwei Leibwächter und einen Polizei-
blaue Schiebermütze, ein kleines Bäuchlein sich umzuschauen, spaziert der Ägypter, offizier zur Seite. Nur mit Mühe konnte
und eine Aktentasche. Wie ein braver An- der vor gut zwölf Jahren ins beschauliche Abu Seid die niederländischen Behörden
gestellter auf dem Weg zur Arbeit tritt der Holland fliehen musste, an den schmucken davon abbringen, ihm auch im Exil Perso-
Professor aus der Bahnhofshalle. Grachten und spitzgiebeligen Patrizier- nenschutz zu geben.
Sein Ziel ist die älteste und renommier- häusern seiner neuen Heimat vorbei. Es „Ich hab mich daran gewöhnt, mit dem
teste Universität der Niederlande. An der ist schneidend kalt, Abu Seid, 64, schmiegt Tod zu leben“, sagt er und blinzelt freund-
einstigen Rijksuniversiteit Leiden wird er sich fest in den grauen Anorak. lich durch dicke Brillengläser. „Wenn es
heute wieder eine seiner geschliffenen Daheim, in Kairo, kann sich der Profes- Zeit ist zu sterben, ist es eben Zeit.“
Vorlesungen über „Islamische Theologie“ sor schon lange nicht mehr frei bewegen. Sein Verbrechen? Ähnlich wie der britisch-
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indische Schriftsteller Salman Rushdie mit
seinen „Satanischen Versen“ hat sich Abu
Seid an einem Werk vergriffen, das in der
Welt des Islam als überirdisch und unan-
tastbar gilt: am Koran, dem heiligen Buch
der Muslime, der letzten Botschaft des
einen und allmächtigen Gottes an die
Menschheit, offenbart im 7. Jahrhundert
dem Propheten Mohammed in Mekka und
Medina.
Während die meisten der weltweit 1,3
Milliarden Muslime jede Zeile in den 114
Kapiteln des Koran, den Suren, wortwört-
lich nehmen, ist Abu Seid davon über-
zeugt, dass „Gott zu Mohammed in Bil-
dern gesprochen hat, in Metaphern, die
wir auf unsere heutige Zeit übertragen
müssen“. Nur so könne sich der Islam „für
die Aufklärung öffnen und die Heraus-
forderungen des 21. Jahrhunderts bewäl-
tigen“.
Für seine konservativen Gegner – allen
voran die Professoren und Scheichs der
Azhar-Universität in Kairo – sind solche
Gedanken pure Ketzerei. Denn die Ge-
lehrten sehen den Koran als Gottes un-
wandelbares Vermächtnis, als ewig und er-
haben über alle Versuche von Sterblichen,
den Versen neuen Sinn zu geben.
„Dhalika al-kitab la reiba fihi hudan lil-
muttakin“, lautet Vers 2 der 2. Sure: „Dies
ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist,
geoffenbart als Rechtleitung für die Got-
tesfürchtigen.“
Ein Bannstrahl der Azhar-Universität
verhindert es, dass der ägyptische Refor-
mer in seiner Heimat vor größerem Publi-
kum sprechen kann – doch ein Unbe-
kannter ist Abu Seid auch dort nicht mehr.
RUE DES ARCHIVES / SÜDD. VERLAG

Die Thesen des „Ketzers von Kairo“ wer-


den in Internet-Foren und Uni-Seminaren
diskutiert, sein Buch zur „Kritik des reli-
giösen Diskurses“ erörtert. Der Bonner
Islamwissenschaftler Stefan Wild erkennt
darin Anzeichen, „dass die vom Westen
ersehnte Reformdebatte innerhalb des
Islam durchaus stattfindet, nur sehr viel Religionsstifter Mohammed (osmanische Illustration): „Worte ins Herz geschrieben“

Kopie der ältesten Handschrift


Entstehung des Islam 622 Mohammeds Auswanderung
(Hidschra) aus Mekka nach Medina
des „Koran von Osman“ (8. Jh.)

um 570 n. Chr. Mohammed Ibn Ab- bezeichnet den Beginn des islami- 634 bis 644 Unter Kalif Omar erobern
dullah wird in Mekka in einer verarm- schen Kalenders, das erste Jahr der Muslime u. a. Ägypten und Iran.
ten Familie geboren. Er gehört dem Hidschra.
Kureisch-Stamm an, der verantwort- 644 bis 656 Kalif Osman erobert u. a.
lich ist für die Pflege der Kaaba, eines 632 Mohammed pilgert zum letzten Libyen und Zypern. Er wird ermordet.
Heiligtums in Mekka. Die Kaaba ist Mal nach Mekka. Er stirbt im Juni in Die historische Wissenschaft geht
bereits in vorislamischer Zeit ein Medina, ohne einen Nachfolger davon aus, dass die heutige Form des
Wallfahrtsort. Zum Nachdenken und (Kalif/Imam) ernannt zu haben. Es Koran auf einer von Osman veranlass-
Beten begibt sich Mohammed zum folgen Führungskämpfe um das Erbe ten Sammlung fußt. Zwar ordnet Os-
U LLST E I N – N O W O ST I

Berg Hira. Mohammeds, die zur Spaltung der man an, alle anderen Exemplare zu
Glaubensgemeinschaft in Sunniten vernichten, bis heute existieren aber
um 610 Mohammed hat seine erste und Schiiten führen. unterschiedliche Lesarten des Koran.
Vision, die später als Erscheinen des
Engels Gabriel gedeutet wird. Bis zu Mohammeds Tod existiert der 656 bis 661 Kalif Ali, Schwiegersohn
Koran noch nicht als Gesamtwerk; er und Cousin Mohammeds, verlegt we-
Religiösen Überlieferungen zufolge wird von den Anhängern des Prophe- 632 bis 634 Kalif Abu Bakr sendet gen innerer Kämpfe das Kalifat von
wird Mohammed von da an bis zu ten auswendig gelernt oder in einzel- Eroberungsheere nach Syrien und Medina nach Kufa in den Irak, wo er
seinem Tod der Koran offenbart. nen Teilen schriftlich festgehalten. Mesopotamien. 661 ermordet wird.

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leiser und langsamer, als wir uns das wün- Aber was ist das für ein Werk, von dem selhafte Buchstaben auftauchen, deren Be-
schen – und mit ungewissem Ausgang“. der gläubige Muslim Abu Seid sagt, es sei deutung niemand kennt, aus denen sich
Der Diskurs kann Folgen für die Refor- das „schönste und zugleich gefährlichste aber die „unsichtbare Wirklichkeit Gottes“
mer haben. Im schlimmsten Fall werden Buch der Welt“? ablesen lasse, wie islamische Mystiker, die
sie verbannt oder ermordet – wie Farag Der Koran ist wohl das widersprüch- Sufis, behaupten.
Foda, ein ägyptischer Schriftsteller, der ex- lichste, das umstrittenste und zugleich ge- Zugleich ist der Koran wohl das mäch-
tremistischen Predigern Volksverdummung heimnisvollste Buch der Welt. Er ist ein tigste Buch der Welt. Mit seinen Regeln,
vorgeworfen hatte und in Kairo auf offener Füllhorn an Poesie und Prosa und ein Werk Ermahnungen und Erkenntnissen ist er die
Straße erschossen wurde. voller ungelöster Rätsel. Mal tolerant, dann ständig gegenwärtige Richtschnur für fast
Der Diskurs kann aber auch Hoffnung wieder streng, bald nachsichtig und bald ein Fünftel der Menschheit, viel umfas-
wecken. Die Reformer setzen auf den Fak- erbarmungslos. Ein ebenso gewaltiges wie sender und strenger als das heilige Buch
tor Zeit, weil sie wissen, dass weder die or- gewalthaltiges Buch, für die Gläubigen der Christen.
thodoxe Auslegung der heiligen Schriften die einzig gültige Übersetzung des göttli- „Und lobpreise deinen Herrn vor dem
noch Terror die Probleme der islamischen chen Willens, das vollkommene Werk des Aufgang und vor dem Untergang der Son-
Welt lösen können. „Die Muslime dürfen Schöpfers. ne! Und preise zu gewissen Zeiten der
sich nicht von der Zukunft ausschließen“, Nacht und an den Enden des Tages“,
mahnen Politiker wie der marokkanische schreibt zum Beispiel Sure 20, Vers 130,
Religionsminister Ahmed Taoufiq – und Ein Offizier im Irak befiehlt dem Gläubigen regelmäßige Gebete vor.
dafür müssen Tabus fallen. den Häftlingen, versöhnliche Bemüht um Gottgefälligkeit, verneigen
So sind sie denn, wenn auch leise, Koranstellen zu lesen. sich so Muslime vom Senegal bis Sumatra,
durchaus zu hören, die Stimmen, die Mut von Somalia bis Xinjiang gen Mekka und
machen: Gelehrte wie der iranische Philo- sprechen zu Beginn ihres Gebets die Fati-
soph Abdolkarim Sorusch, der gegen die Während die Bibel mit Geschichten und ha, die Eröffnungssure des Koran: „Bis-
Geiselnahme des Koran durch die Mullahs Gleichnissen voller Wunder und Gnaden- millah al-rahman al-rahim, al-hamdu lillah
aufbegehrt, oder der in Beirut lebende Is- bezeugungen, aber auch mit Intrigen und rabb al-alamin …“ – „Im Namen Gottes,
lamwissenschaftler Ridwan al-Sajjid, der Verbrechen lockt, ist der Koran eher ein des Barmherzigen, des Gnädigen, Lob sei
gegen das Deutungsmonopol der islamis- Reigen aus Erkenntnissen und Verordnun- Gott, dem Herrn der Welten.“
tischen Hisbollah ankämpft. Nicht anders gen, deren Abfolge – verwirrend genug – Zwar hält die Bibel den Rekord als das
die aus der laizistischen Türkei stammen- nicht chronologisch, sondern durch die meistgedruckte Werk der Welt: fast 400
den Vordenker der sogenannten Ankara- Länge der Suren bestimmt wird – wobei die Millionen Neue und Alte Testamente wur-
ner Schule wie Mehmet Paçaci und Ömer langen zuerst stehen, mit einer Ausnahme: den 2006 verbreitet. Aber der Koran holt
Özsoy, die für eine zeitgemäße Sicht der der Eröffnungssure. auf. Dies lässt sich erahnen, wenn die
Offenbarung plädieren. Es ist ein Buch, das mal durch gewal- saudi-arabische König-Fahd-Druckerei stolz
Und es sind die Frauen, die aufbegehren, tige, dunkle Sprachbilder, mal durch die verkündet, allein sie produziere jährlich
eine Revolution in der Revolution. Sie wen- Schlichtheit präziser Alltagsvorschriften weit über acht Millionen Korane, und je-
den sich, wie die iranische Rechtsanwäl- hervorsticht, eines, das noch kleinste De- der Mekka-Wallfahrer erhalte ein Gratis-
tin und Friedensnobelpreisträgerin Schirin tails im Leben der Gläubigen regelt: von exemplar.
Ebadi, gegen die „schlechte und falsche In- der Aufteilung des Erbes bis hin zu Still- Obwohl der Koran nur auf Arabisch, der
terpretation“ des Koran durch „patriarcha- zeiten für Scheidungskinder. Ein Buch, das Sprache der Offenbarung, rezitiert werden
lische“ Theologen. Sie drängen, wie die ma- Bodenständige wie Schwärmer gleicher- darf, gibt es inzwischen Dutzende Über-
rokkanische Soziologin Fatima Mernissi, maßen bezaubert, in dem aber auch rät- setzungen. Schließlich wollen immer mehr
auf eine gleichberechtigte Muslime außerhalb der arabi-
Auslegung der Offenbarung. Ausbreitung des Islam schen Welt, aber auch Nichtmusli-
Sie fordern, wie die in Ägyp- me im Westen wissen, was Gott
ten geborene Frauenrechtle- zu Mohammed gesagt haben soll.
rin Nahed Selim: „Nehmt den ANDALUSIEN Vor allem aber trägt die Dyna-
Männern den Koran!“ ZYPERN mik der jüngsten Weltreligion
Mittelmeer
MAGHREB SYRIEN
IRAK IRAN
LIBYEN ÄGYPTEN
661 bis 680 Kalif Muawija, Statthal- Medina 1492 Mit der Übergabe Granadas an
ter von Syrien, begründet die Umajja- die katholischen Könige Isabella I. von
den-Dynastie. Der Anspruch von Alis Mekka Kastilien und León und Ferdinand II.
ARABIEN
Nachkommen auf das Kalifat wird vor 622 bis 632 n. Chr. von Aragonien enden 700 Jahre mau-
allem von Alis Sohn Hussein aufrecht- 632 bis 661 n. Chr. rische Herrschaft auf der Iberischen
Arabisches
erhalten. 661 bis 750 n. Chr. Meer Halbinsel.

680 In Kerbela im Irak zetteln Alis An- 19./20. Jh. Weite Teile der islamischen
hänger, an der Spitze Hussein, einen 1095 Papst Urban II. ruft zum Kreuz- Welt stehen unter kolonialer Herrschaft
Aufstand gegen den Kalifen Jasid an bis 750 Umajjaden-Dynastie; die zug nach Palästina auf, um die heili- europäischer Mächte. Meist erst nach
und scheitern. Hussein stirbt in der Grenzen des Reichs werden im Wes- gen Stätten des Christentums vom Ende des Zweiten Weltkriegs werden
Schlacht von Kerbela. Daraufhin er- ten bis Spanien und im Osten bis Islam zu befreien. Die meist blutigen die wirtschaftlich und sozial rückstän-
klären seine Anhänger alle früheren nach Indien ausgedehnt. Feldzüge finden bis ins 15. Jahrhun- digen Länder in die Unabhängigkeit
Kalifen zu Abtrünnigen und bestätigen dert hinein statt. entlassen.
die Nachkommen Alis als wahre Ima-
me der islamischen Gemeinschaft. um 1000 Unter der Herrschaft der 1453 Die Osmanen erobern Konstanti- 1979 Islamische Revolution in Iran.
Nur diese könnten das „göttliche Licht Mauren erlebt Andalusien ein „gol- nopel. Mit der Niederlage der Türken Ajatollah Chomeini kehrt nach der
der Leitung“ von Ali empfangen. Die denes Zeitalter“; Muslime, Christen vor Wien 1683 setzt der Niedergang Vertreibung des Schahs nach Iran
schiitische Bewegung erhält ihr end- und Juden leben in weitgehend ein, der mit der Zerschlagung des Reichs zurück. Ausrufung der Islamischen
gültiges Gepräge. friedlicher Gemeinschaft. nach dem Ersten Weltkrieg endet. Republik.

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Verschleierte Musliminnen (in Pakistan): „Niemand ist verdammt, sich vor der Welt zu verstecken“

zum Anstieg der Koranauflagen bei. Zum „Bekämpfe die Ungläubigen und die sich diese Attentäter berufen? Was für ein
Gürtel des Islam gehören reiche Länder Heuchler und behandle sie hart“, rezitie- grauenhaftes Drehbuch muss dieser Koran
wie das Sultanat Brunei oder die Vereinig- ren Islamisten in Bagdad, Gaza oder Kabul liefern?
ten Arabischen Emirate, aber auch extrem auf ihren Bekennervideos aus der neunten Inzwischen wollen Strategen im Westen
arme wie Bangladesch oder Mauretanien. Sure; oft berufen sie sich auch auf einen das heilige Buch selbst als Waffe nutzen
In Westeuropa bestimmt die Religion, die Vers aus der vierten, der ihnen das Para- und haben es zur Pflichtlektüre erklärt.
in der Wüste geboren wurde, den Alltag dies verspricht: „Wer auf dem Weg Gottes Um „auf dem Schlachtfeld des Verstands
von etwa 15 Millionen Einwanderern und kämpft und wird getötet – oder siegt –, zu siegen“, liest Generalmajor Douglas
Konvertiten, keine Glaubensgemeinschaft dem werden wir gewaltigen Lohn geben.“ Stone, Chef des Gefangenenprogramms
wächst hier schneller und gebärdet sich So haben sie ihren Lohn gesucht, die der US-Armee im Irak, jeden Tag im Koran
ähnlich selbstbewusst. Selbstmordattentäter von New York und und verordnet Gleiches seinen Häftlingen
Als Zeichen von Gottesfürchtigkeit wird Washington 2001, von Bali 2002, von Ma- – in der Hoffnung, dass sie die versöhn-
der Koran in Washington im Kapitol eben- drid 2004, von London 2005. Auf einmal lichen Passagen im Buch entdecken, die es
so geehrt wie auf dem Schafott in Bagdad. verwandeln sich junge Muslime in verhee- eben auch gibt. Der Mörder eines Un-
Im Abgeordnetenhaus der Vereinigten rende Sprengkörper, jagen Hochhäuser schuldigen, so lehrt der Koran, müsse be-
Staaten legte Keith Ellison, Demokrat aus und Discotheken, vollbesetzte Züge und handelt werden, „als habe er die gesamte
Minnesota und Amerikas erster muslimi- U-Bahnen in die Luft und reißen Hunder- Menschheit ermordet“.
scher Abgeordneter, am 4. Januar 2007 sei- te Menschen mit in den Tod. Was für eine Mal schlachtet der Westen den Koran
nen Amtseid ab. Dass der Koran, den Elli- düstere Religion muss das sein, auf die aber auch als Psychowaffe aus, etwa wenn
son in Händen hielt, so alt ist wie das Ka-
pitol, dass das Buch aus dem persönlichen
Nachlass des US-Gründervaters Thomas
Jefferson stammt, sollte ein Zeichen set-
zen: Die USA müssen keine Angst vor dem
Islam haben. Und die Muslime keine Angst
vor Amerika.
An den gleichen Text klammerte sich in
Bagdad Saddam Hussein, während die
Schlinge um seinen Hals gelegt wurde. Ein
grüner, in Leder gebundener Koran war
die letzte Habe des einst so mächtigen wie
reichen Diktators. Am 30. Dezember 2006,
dem Tag seiner Hinrichtung, diktiert er
dem Richter seinen letzten Wunsch: Man
möge sein Exemplar einem Freund über-
FOTOS: HOLLANDSE HOOGTE / LAIF

geben, der es in Ehren halten werde.


Die gewaltige Symbolkraft des Werkes
ist unbestritten. Die Auslegung des Koran
entscheidet mitunter über Krieg und Frie-
den, Konflikt oder Aussöhnung.
Mal dienen die Offenbarungen den
Attentätern von Hamas, Dschihad und
al-Qaida als Legitimation ihres Terrors: Islamreformer Abu Seid, Selim: „Gott will, dass wir unseren Verstand benutzen“

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AAMIR QURESHI / AFP


es darum geht, Terrorverdächtige im US- lichen Divan“ studierte, gestand auch, dass heilige Buch auch optisch erhöht werden,
Hochsicherheitslager Guantanamo vor ihn das Buch zugleich „anzieht, in Erstau- um seine Autorität zu betonen: So wurde
Verhören einzuschüchtern und ihren Wil- nen setzt und am Ende Verehrung ab- der Koran in der Moschee auf ein kleines
len zu brechen. Amerikanische Soldaten nötigt“. Podest gelegt, den sogenannten Kursi.
sollen das Gotteswort mit Füßen getreten In der islamischen Welt wird dem Werk Noch heute achten viele Muslime darauf,
und durch die Toilette gespült haben. Als meist bedingungslose Verehrung entge- dass der Koran in einem Bücherstapel stets
die Anschuldigungen bekannt wurden, gin- gengebracht. „Al-Koran al-karim“, der an oberster Stelle liegt.
gen Muslime in Nordafrika, Pakistan und „ehrwürdige“, der „kostbare“ Koran ist Anders als die Bibel in Deutschland, die
Indonesien auf die Straße. die übliche Bezeichnung der Gläubigen. oft ungelesen in Bücherregalen verstaubt,
Der holländische Filmemacher Theo van Denn den Muslimen gilt nicht nur der In- ist der Koran in den meisten Ländern des
Gogh zahlte mit seinem Leben dafür, dass halt, sondern auch das Buch, der Gegen- Orients allgegenwärtig. Gläubige werden
er den Koran öffentlich in den Schmutz stand an sich, als heilig, als Inkarnation immerfort und mit allen Sinnen an die
zog. Sein Kurzfilm „Submission“ zeigt eine Gottes. Wer aus ihm rezitiert, wer seinen göttliche Botschaft erinnert: Kaum ein
Muslimin nackt unter einem transparenten Worten lauscht, so heißt es, könne den All- Kairo-Besucher entgeht der religiösen
schwarzen Schleier: ihr Körper gezeichnet mächtigen hören, sehen und spüren. Dauerbeschallung im Taxi. Kassetten und
von Peitschenstriemen, kalligrafiert mit Ko- Religionswissenschaftler vergleichen die CDs mit den schönsten Rezitationen wer-
ranversen über die Keuschheit. Zwei Mo- Bedeutung des Koran für die Muslime mit den an jeder Straßenecke angepriesen,
nate nach der TV-Ausstrahlung des Strei- noch im dichtesten Verkehr murmeln
fens schoss im November 2004 ein marok- Autofahrer ihre Lieblingspassagen zur
kanischstämmiger Niederländer van Gogh „Gesundbeten mit dem Koran“ Beruhigung. Muslimische Großmütter flüs-
nieder. An die Leiche heftete er mit einem ist ein Verkaufsschlager tern bettlägerigen Kindern manchmal Ver-
Messer eine mit Koranversen gespickte auf Kairos Buchmesse. se ins Ohr, was die Genesung vorantrei-
Morddrohung gegen Ayaan Hirsi Ali – die ben soll. Die Fibel „Gesundbeten mit
gebürtige Somalierin hatte das Drehbuch dem Koran“ ist ein Verkaufsschlager auf
verfasst und gehört zu den schärfsten Kri- dem Stellenwert, der Jesus unter Christen Kairos internationaler Buchmesse. Koran-
tikern der Lehre Mohammeds. zukommt: Bei den einen verkörpere sich verse als Klingelton allgegenwärtiger Han-
Den Christenmenschen war die heilige Gott in einem Menschen, bei den anderen dys gingen dagegen den sunnitischen
Schrift der Muslime nie ganz geheuer. Weil in einem Buch. Glaubenswächtern der Azhar-Universität
im Koran Mose, Abraham und auch Jesus Der Princeton-Professor Michael Cook zu weit.
und Maria auftauchen, wurde er in Euro- hat Beispiele gesammelt, wie überrascht Den Schiiten, Anhängern der zweiten
pa jahrhundertelang als „Türkenbibel“ ver- Europäer von jeher auf den Umgang der großen Glaubensrichtung des Islam und
achtet. Wer dennoch in den Offenbarungen Muslime mit ihrer heiligen Schrift reagier- für Devotionalien besonders empfänglich,
las, sah sich wie Voltaire in seinem Unbe- ten. „Sie achten darauf, ihren Koran nie- ist der Koran regelrecht zum Kultobjekt
hagen gegenüber den Muselmanen eher mals so zu halten, dass er unter der Gür- geworden: Eine iranische Firma verkauft
noch bestätigt. Der Koran, so schrieb der tellinie hängt“, notierte ein englischer Mini-Korane als Schlüsselanhänger. Im Te-
französische Aufklärer, sei „ein unver- Orientalist, der im 19. Jahrhundert Ägyp- heraner TV wird dafür geworben, die üb-
ständliches Buch, das den gesunden Ver- ten bereiste. 300 Jahre zuvor bemerkte liche Warteschleifenmelodie im Telefon
stand auf jeder Seite erschauern lässt“. ein anderer Europäer erstaunt, dass es durch Koranverse zu ersetzen: Zum Run-
Der Islamfreund Johann Wolfgang von für die Türken „ein furchtbares Verge- terladen muss man nur die Zahl der Suren
Goethe klagte über „grenzenlose Tautolo- hen ist, wenn sich jemand, und sei es auch im Koran wählen: 114.
gien und Wiederholungen“ und zeigte sich unwissentlich, auf dem Koran nieder- Wann und wo nahm das alles seinen An-
„so oft wir auch daran gehen, immer von lässt“. fang? Gab es immer nur diesen einen Ko-
neuem angewidert“. Aber der Dichter- In einer Kultur, in der die Menschen tra- ran, so wie wir ihn heute kennen? Und
fürst, der den Koran für seinen „West-öst- ditionell auf dem Boden sitzen, musste das wer war eigentlich dieser Mohammed, der
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Jungfrauen oder Weintrauben


Wie deutsche Orientalisten den Anfängen des Koran auf die Spur kommen wollen

W
issenschaftlern aus dem Westen, ein einheitliches Werk, aufgezeichnet „großäugige Jungfrauen“ verstanden – in
die sich mit der Lehre des Pro- nach den Offenbarungen des Erzengels der syro-aramäischen Lesart steht das
pheten beschäftigen, schlägt in Gabriel. Noch 1979 schrieb der Tübinger Wort aber für „weiße Weintrauben“. Das
der islamischen Welt seit je Misstrauen Rudi Paret, dessen Koranübersetzung bis ergibt für den Autor auch deswegen mehr
entgegen. Orientalisten galten früher als heute als vorbildlich gilt: „Wir haben kei- Sinn, weil im Koran das Paradies als
verkappte Missionare oder Spione. Heu- nen Grund anzunehmen, dass auch nur blühender Garten beschrieben wird.
te führen Europäer, die Arabisch lernen, ein einziger Vers im ganzen Koran nicht Wohl wissend, für welchen Wirbel sei-
die Sprache Mohammeds, ohne zum Is- von Mohammed selber stammen würde.“ ne Thesen sorgen würden, lebt der Wis-
lam überzutreten, in den Augen vieler An der Heiligkeit des Buchs rüttelten senschaftler bis heute in der Anonymität.
Gläubiger noch Schlimmeres im Schilde: die deutschen Orientalisten erst spät – Für sein Werk wählte er das Pseudonym
Mit ihrer Koranforschung wollten die dafür aber umso heftiger und mit ziemlich Christoph Luxenberg. Der Name soll an
Abendländer den göttlichen Ursprung der steilen Thesen. Den spektakulärsten Tabu- ein Prophetenwort erinnern, wonach Wis-
Offenbarung widerlegen, heißt es. bruch beging ein aus dem Libanon zuge- sen Licht (Lux) ist.
So war es eine kleine Sensation, als den wanderter Lektor mit seinem Buch „Die Der Mann steht mit seinem Zweifel an
Bonner Orientalisten Stefan Wild, 70, eine syro-aramäische Lesart des Koran“. der Entstehungsgeschichte des Koran
Einladung nach Saudi-Arabien erreichte. In dem 2000 veröffentlichten Werk geht nicht allein. Auch der Islamforscher Gerd-
Der Professor für Semitische Philologie der Wissenschaftler, selbst Christ, davon Rüdiger Puin möchte die Frühgeschich-
und Islamwissenschaft an der Universität aus, dass der Koran in Teilen auf christ- te des Islam gänzlich umschreiben. Der
Bonn gilt als Koryphäe für die Geschich- lichen Liturgietexten beruht. Diese sollen Orientalist hat sich um die Entzifferung
te der Offenbarung. In das streng ab- in einer Mischform aus Aramäisch, der der 1973 im Jemen entdeckten Koran-
geschottete „Herzland des Islam“ schaff- Sprache Jesu, und dem sich erst allmäh- fragmente verdient gemacht. In der
te es Wild im vergangenen Jahr zum ers- lich entwickelnden Arabisch verfasst wor- Hauptstadt Sanaa ließ er die Schriften
ten Mal. den sein. Bei der Übertragung dieser Fas- restaurieren, die zu den ältesten Koran-
Als einzigen Nicht-Muslim und somit sungen seien den muslimischen Kopisten belegen zählen. Dabei stellte Puin fest,
stillen Stargast der Fachtagung „Der edle dann verheerende Fehler unterlaufen. Die dass einige Textstellen erheblich vom spä-
Koran und die orientalistischen teren, offiziellen Buch abwei-
Studien“ hatte das „König-Fahd- chen: „Die Punkte und Striche
Zentrum für den Druck des ed- unter der arabischen Schrift,
len Koran“ den Professor nach die der Unterscheidung von
Medina gebeten, in die zweite Konsonanten und Vokalen die-
heilige Stadt im Königreich. Nur nen, waren zum Teil völlig un-
weil der Tagungsort außerhalb terschiedlich gesetzt. So erga-
des heiligen Bezirks rund um ben die Worte plötzlich einen
das Grab des Propheten Mo- anderen Sinn.“
hammed lag, der allein Mus- Über jene „dunklen Anfän-
limen vorbehalten ist, konnte er ge“ des Islam spekuliert auch
überhaupt teilnehmen. der Religionswissenschaftler
Der Doyen der deutschen Karl-Heinz Ohlig. Der katholi-
Orientalistik kann sich auf eine sche Theologe entsetzte die
NORBERT MICHALKE

lange Tradition berufen. Neben Zunft der Orientalisten mit der


dem Wissenschaftler Theodor Behauptung, Mohammed und
Nöldeke war es vor allem Ig- Jesus seien dieselbe Person, und
naz Goldziher, der im 19. Jahr- der Koran sei eigentlich nur
hundert mit seinen „Muham- Koranforscherin Neuwirth: „Wir nehmen die Muslime ernst“ eine Art „arabische Bibel“ für
medanischen Studien“ die Dis- christianisierte Araber gewesen.
ziplin von den Sprachen und Kulturen des Koranschreiber hätten damals nicht be- Sehr viel behutsamer geht eine Gruppe
Orients etablierte. Weil das Deutsche Kai- dacht, dass es in beiden Sprachen zwar Berliner Forscher um die Arabistikpro-
serreich keine arabischen Kolonien be- die gleichen Wortstämme gibt, die aber fessorin Angelika Neuwirth vor, die selbst
saß, war das Verhältnis zu den Muslimen zum Teil höchst unterschiedliche Bedeu- viele Jahre im Nahen Osten gelebt hat.
vergleichsweise unbelastet. Die Arbei- tung haben. Unter dem Namen „Corpus Coranicum“
ten über den Koran führten dazu, dass Der These zufolge würden Terrororga- versucht Neuwirth, 64, mit ihren Mitar-
Deutsch zeitweilig zur zweitwichtigsten nisationen wie al-Qaida und Hamas ihre beitern Nicolai Sinai und Michael Marx
Sprache der Orientalistik wurde, neben Selbstmordattentäter mit leeren Heilsver- der Geschichte der Offenbarung auf die
Arabisch. sprechen in den Tod schicken. Denn dass Spur zu kommen. „Wir nehmen die Mus-
Über kritische Vergleiche zwischen die Märtyrer im Paradies von wunder- lime ernst“, beteuert Neuwirth. Deshalb
Bibel, Tora und Koran gingen jedoch die schönen Mädchen empfangen werden, ist respektiere ihr Team auch den göttlichen
wenigsten Gelehrten hinaus. Erst recht für den Sprachwissenschaftler die Folge Gründungsmythos des Koran: „Wir wol-
traute sich niemand an die Dogmen is- eines Übersetzungsfehlers: Wenn der len niemanden zwangssäkularisieren.“
lamischer Geschichtsschreibung heran: Koran von den „Huris“ spricht, haben das Das Mammutprojekt, für das zwei Mil-
Auch für die Orientalisten war der Koran arabische Kommentatoren schon bald als lionen Euro bereitstehen, gehen der Ber-

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AXEL KRAUSE
Azhar-Moschee in Kairo*: Sinnbild für die Einheit von Glaube und Wissen
liner von zwei Seiten an: Eine For-
schungsgruppe erstellt eine Datenbank Allahs Offenbarung aus der Wüste unter stand. „Lies“, forderte er Mohammed auf.
zum Koran, die alle Überlieferungs- die Menschen gebracht hat? „Ich kann nicht lesen“, erwiderte dieser.
varianten und Quellennachweise, aber Der Prophet wurde um das Jahr 570 in Darauf würgte ihn Gabriel mit dem Tuch
auch Vergleichsstellen in Bibel und Tora Mekka in eher bescheidenen Verhältnissen fast zu Tode und befahl: „Lies im Namen
enthalten soll. In Kleinstarbeit wird da- geboren. Die arabischen Quellen zum Le- deines Herrn, des Schöpfers, der den Men-
für die Chronologie des Koran überprüft ben Mohammeds (der „Gepriesene“) füllen schen schuf aus geronnenem Blut. Lies, und
und jede Sure „mikrostrukturell“, Wort zwar „Tausende von Seiten“, sagt der Göt- der Edelmütigste ist dein Herr, er, der das
für Wort, unter die Lupe genommen. tinger Arabist Tilman Nagel, der an einer Schreibrohr zu gebrauchen lehrte, der die
So hofft die Berliner Gruppe das „ge- umfassenden Biografie über den Propheten Menschen lehrte, was sie nicht wussten.“
schichtliche und religiöse Klima während arbeitet, aber die muslimischen Berichte Mohammed wiederholte die Sätze – die
der Koranentstehung“ zu rekonstruie- seien „vielfach verklärende Literatur, ganz später als Anfang der Sure 96 Eingang in
ren. Die Erkenntnisse soll eine zweite darauf zugeschrieben, Mohammed mit sei- den Koran fanden. Als er aufwachte, war
Arbeitsgruppe in einem kritischen Ko- nem Denken, Reden und Handeln schon es, als seien ihm „die Worte ins Herz ge-
rankommentar zusammenfassen. Bis alle von Kindesbeinen an als von Gott legiti- schrieben“.
Verse analysiert und ausgewertet sind, miertes Vorbild für die Menschen erschei- Noch heute gedenken Muslime jener
wird allerdings viel Zeit vergehen – das nen zu lassen“. Bereits 70 Jahre nach dem ersten Offenbarung, die sich im neunten
Projekt ist auf 18 Jahre angelegt. Tod des historischen Mohammed sei das Monat des Mondjahres, im Ramadan, zu-
Um ihre muslimischen Kollegen ein- „hagiografische Konzept“ vom Auserwähl- getragen haben soll. Jedes Jahr sollen die
zubinden, präsentierten die Berliner das ten Gottes nahezu vollendet gewesen. Gläubigen seither im gleichen Monat fas-
„Corpus Coranicum“-Projekt auch in Es ist vor allem ein Werk des muslimi- ten und unbeschwert von Völlerei den Ko-
der islamischen Welt. Auf Vorträgen in schen Gelehrten Ibn Ishaq, auf das Mo- ran studieren.
Syrien und in Iran sei man „auf großes hammeds Bild bei den Gläubigen zurück- Dem Propheten erschien Gabriel von
Interesse gestoßen“, sagt Neuwirth. geht. Nach dieser ersten Propheten-Bio- nun an regelmäßig, um die Worte Gottes
Selbst in Saudi-Arabien lehnen die Ge- grafie aus dem 8. Jahrhundert war der zu überbringen. Mohammed, zunächst er-
lehrten neuerdings die Methodik aus Gottesgesandte ein gutsituierter, glücklich schrocken und an seiner Wahrnehmung
dem Westen nicht mehr rundum ab. verheirateter Kaufmann und Karawanen- zweifelnd, empfing die Offenbarungen als-
Auf dem Korankongress in Medina führer aus der arabischen Stadt Mekka, bald unter einer Decke, allein, angstvoll und
konnte der Islamwissenschaftler Wild bevor Gott ihn im Alter von 40 Jahren mit schweißgebadet, wie Ibn Ishaq berichtet.
immerhin ein wenig Misstrauen ab- einer außergewöhnlichen Mission betraute. Nicht jedem gefällt, was er zu sagen hat.
bauen. Nach „ganzen Kaskaden von ag- „Aus Mitleid mit der Welt“, so Ibn Ishaq, Vor allem mit seinen Landsleuten aus Mek-
gressiven Beiträgen über die Orien- wählte ihn der Allmächtige „zum Verkün- ka, die einer hedonistischen Vielgötterei
talisten“ durfte er ein Referat über die der für alle Menschen“. frönen, geht der Prophet scharf ins Ge-
„Zusammenarbeit von Muslimen und Mohammed hatte zu diesem Zeitpunkt richt. Aber auch Christen und Juden wer-
Nicht-Muslimen bei der Koranfor- die Einsamkeit schätzen gelernt; in einer den kritisiert – für ihre Verwässerung bib-
schung“ halten. Die Religionsgelehrten Art Midlife-Crisis zog er sich in die Berge lischer Gebote. Sie werden zwar fortan als
übernahmen die Forderung wortwört- zurück, um zu meditieren. Eines Nachts er- „Buchbesitzer“ akzeptiert, aber als zu laxe
lich – als Punkt 29 in der Abschluss- schien ihm der Erzengel Gabriel im Schlaf. Gottesdiener gescholten.
erklärung. Er trug ein Tuch wie aus Brokat, worauf et- Die heidnischen Herrscher in Mekka
Für den Bonner Professor „ein erstes was in arabischen Lettern geschrieben verspotteten und bedrohten Mohammed.
Schrittchen – auf einem noch sehr weiten Sie befürchteten, dass er mit seinem neu-
Weg“. Dieter Bednarz, Daniel Steinvorth * In diesem Gebäude befand sich bis in die Neuzeit die im en Glauben an den einen Gott ihr Geschäft
10. Jahrhundert gegründete Azhar-Universität. mit jenen Pilgern verderben würde, die für
d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 7 25
Titel

andere Götter nach Mekka pilgerten.


Schon damals existierte die Kaaba, jener
schwarze Kubus, der heute als das wich-
tigste Heiligtum der Muslime siebenmal
umrundet werden muss.
Der Bedrohte musste mit seinen Ge-
fährten in eine Oase namens Medina flie-
hen. Dort vergrößerte sich seine Gemein-
schaft.
Anders als in Mekka drehen sich die Of-
fenbarungen in Medina immer öfter um
das rechte Leben im Alltag. Während der
Koran in den „mekkanischen Suren“ vom
metaphysischen Wunder Gottes spricht,
nimmt er in den „medinensischen Suren“
auch Bezug auf gottesfürchtige Lebens-
führung, auf Kriegs- und Friedensrecht so-
wie den Umgang mit Andersgläubigen.
Der Prophet empfängt jetzt jene Worte,
die heute zwischen Fundamentalisten und
Reformern besonders umstritten sind.
Als sei der Koran ein Lehrbuch für Wi-
dersprüche, sagt er etwa zum Umgang mit
Alkohol gleich dreierlei: Wird Wein in Sure
16,67 noch zu den guten Gaben Gottes ge-
zählt („ein Rauschgetränk und Nahrung
schön“), liegt darin in Sure 2,219 schon
„schwere Sünde, auch Nutzen“; erst in
Sure 5,90 ist er dann ein „Greuel und des
Satans Werk“.
Auch pendelt das Buch zwischen Auf-
rufen zur Gewalt und Ermahnungen zur
Toleranz. Da gibt es die Aufforderungen
zur Tötung von Ungläubigen, etwa Sure
4,89: „Wenn sie sich abkehren, dann er-
greift sie und tötet sie, wo immer ihr sie
findet.“ Oder grausame Höllenstrafen für
die Ungläubigen im Jenseits: „Und wenn
sie um Hilfe rufen, wird ihnen mit Wasser
wie mit geschmolzenem Erz geholfen“
(Sure 18,29). Aber es gibt auch Botschaften
von universeller Barmherzigkeit. Gott
selbst ist die Güte: „Rahman“, der Barm-
herzige, und „Rahim“, der Gnädige, sind
die gebräuchlichsten Gottesnamen im
Koran.
Zugleich ruft der Koran immer wieder
zum „Dschihad“ auf. Selbst für vorsichtige
Kommentatoren wie den Erlanger Islam-
wissenschaftler Hartmut Bobzin steht fest,
dass mit diesem „Bemühen auf dem Wege
Gottes“ – so die wörtliche Übersetzung –
„vor allem der Kampf im Sinne einer krie-
gerischen Auseinandersetzung gemeint ist“.
Parallel dazu warnt der Koran vor einer
selbstvernichtenden Opferbereitschaft, die
heute islamistische Selbstmordattentäter
antreibt: „Stürzt euch nicht mit eigenen
Händen ins Verderben“ (Sure 2,195).
Über die Andersgläubigen, Christen und
Juden, lässt sich der Koran einmal re-
spektvoll als über „Leute der Schrift“ aus,
dann wieder als über „diejenigen, die Gott
verflucht hat und denen er zürnt und von
REUTERS

denen er einige zu Affen und Schweinen


und Götzendienern gemacht hat“.

Indonesische Muslimin bei der Koranlektüre


„Bemühen auf dem Wege Gottes“
26 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 7
S U P E RSTO C K / MA U R IT I U S I MAG E S ; A D P C / K E YSTO N E - F RA N C E / L A I F, U LLST E I N
Die Widersprüche erklären muslimische
Rechtsgelehrte mit den jeweiligen Um-
Biblische Gestalten im Koran ständen, in denen sich die junge Gemein-
de Mohammeds gerade befand: hier im
ADAM UND EVA Kampf, dort im Frieden, immer darauf be-
dacht, die eigene Machtsphäre zu erwei-
In der biblischen Schöpfungsgeschichte vertreibt Gott Adam tern und zu vertiefen.
und Eva nach dem Sündenfall aus dem Paradies. Auch der Wie zum Beweis seiner Vollkommenheit
Koran erzählt die Geschichte vom Sündenfall. Das Fehlverhalten offeriert der Koran auch für den Umgang
Adams wird dort nicht als Abkehr von Gott beschrieben, sondern mit seinen Widersprüchen eine Lösung.
als Schwäche Adams gegenüber der Verführung des Teufels. „Wenn wir einen Vers tilgen oder in Ver-
Gott vertreibt Adam und Eva zwar aus dem Paradies, gibt ihnen gessenheit geraten lassen, bringen wir ei-
aber tröstliche Worte mit auf den Weg: „Diejenigen, die meiner nen besseren oder einen, der ihm gleich
Rechtleitung folgen, haben nichts zu befürchten, und sie werden ist“, heißt es in Sure 2. „Weißt du denn
nicht traurig sein.“ nicht, dass Gott zu allem die Macht hat?“
„Die Verführung Adam und Evas“, Auf die daraus entwickelte Lehre von der
niederländisches Gemälde um 1600 Abrogation, der Aufhebung früher Verse
durch nachfolgende, berufen sich die Fun-
ABRAHAM damentalisten bei der Durchsetzung ihres
rigiden Islam – schließlich gehen die spä-
In der jüdisch-biblischen Überlieferung gilt Abraham
teren Offenbarungen mit Wein, Weib und
(arabisch Ibrahim) als Stammvater des Volkes Israel, im Islam Ungläubigen härter ins Gericht.
als Stammvater aller Semiten. In der biblischen Überlieferung Bis der Prophet Mohammed seine aller-
sollte Abraham auf Gottes Geheiß seinen zweiten Sohn Isaak letzte Offenbarung empfing, vergingen
opfern, im Koran wird die Geschichte ohne Nennung eines 22 Jahre. Die zentrale Botschaft seiner
Namens erzählt – und traditionell auf den Erstgeborenen Ismael aufopfernden Mission bleibt ein radikaler
bezogen. Mit Ismael soll Abraham nach islamischer Vorstellung Monotheismus.
die Kaaba in Mekka gebaut haben. Abrahams Sohn Ismael gilt Dass sich Gott in seinen Offenbarungen
als Stammvater der Araber. bei der Bibel und der Tora bedient, störte
Abraham opfert seinen Sohn;
persische Illustration um 1600 Mohammed und dessen Anhänger nicht.
So kennen die Muslime Adam und den
Sündenfall ebenso wie Noahs Arche, Mose
MOSE und auch Jesus – der im Koran allerdings
Die biblische Geschichte von Mose (arabisch Mussa), der das nicht Sohn Gottes ist, sondern nur einer
Volk Israel aus der ägyptischen Gefangenschaft ins Gelobte von vielen Propheten. Solche Ähnlichkei-
Land führt, wird im Koran wiederholt erwähnt. Mose ist dort ten belegen für Muslime nur die Richtig-
der am häufigsten erwähnte Prophet. Weil Gott in direkte keit des Koran. Und so lernen sie die Suren
Zwiesprache mit Mose tritt, trägt er in der islamischen Tradition auswendig und sprechen sie nach. Mit der
den Beinamen Kalim Allah (der, zu dem Gott spricht). mündlichen Überlieferung scheint Gottes
Der Koran berichtet auch von der Übergabe der Gebotstafeln Botschaft gesichert.
Über erste schriftliche Fassungen des
auf dem Berg Sinai. Die Zehn Gebote werden im Koran in
Textes ist wenig bekannt. Die wohl ältesten
Mose mit Gesetzestafel; abgewandelter Form und Zusammenstellung erwähnt, haben
Gemälde um 1630 Koranfragmente retteten im Jemen aus-
dort aber keine zentrale Bedeutung. gerechnet Nichtmuslime für die Wissen-
schaft. Als in der Großen Moschee von
Sanaa, einem der ältesten islamischen Ge-
MARIA betshäuser der Welt, das zu Lebzeiten Mo-
Die Lebensgeschichte Marias (arabisch Marjam) ist im Koran hammeds gebaut wurde, im Sommer 1973
und in den islamischen Überlieferungen detailliert wiederge- bei Renovierungsarbeiten in der Zwi-
geben. In der nach ihr benannten 19. Sure wird auch die in schendecke ein sogenanntes Papiergrab
der christlichen Überlieferung herausgebildete Vorstellung von entdeckt wurde, ahnte noch niemand die
der Jungfrauengeburt übernommen. Sensation. Solche Hohlräume dienten häu-
An anderer Stelle im Koran wird Maria mit der alttestamentlichen fig zur Entsorgung religiöser Schriftstücke,
Mirjam gleichgesetzt. Im Koran ist Maria die einzige weibliche denn die Vernichtung heiliger Texte ist ver-
Figur, die namentlich benannt wird. boten. Die zerfallenen, von Insekten zer-
Marjam und Issa; fressenen Fragmente mit Koranversen lan-
altpersische Miniatur deten in Kartoffelsäcken, achtlos am Fuß
einer Wendeltreppe abgestellt.
Erst deutsche Koranforscher erkannten
JESUS den Wert der Pergamente. Mit finanzieller
„Issa Ibn Marjam“ – Jesus, der Sohn Marias – ist im Islam ein Unterstützung der Bundesregierung re-
bedeutender Prophet und unmittelbarer Vorgänger Moham- konstruierten die Orientalisten Albrecht
meds, wird aber nicht als Gottes Sohn angesehen. Noth und Gerd-Rüdiger Puin in jahrelanger
Der Koran berichtet von Wundern Jesu, was dessen besondere Puzzlearbeit die Koranfetzen. Nach viel-
Stellung unterstreicht. In Sure 4 wird der Kreuzestod Jesu fältigen Untersuchungen geht Puin heute
bestritten, Gott habe Jesus vielmehr direkt zu sich geholt. davon aus, „dass einige Fragmente etwa im
Jahre 700 entstanden sein müssten“.
Türkisch-islamische Darstellung der Himmelfahrt Jesu Die dunklen Anfänge der Koranauf-
zeichnungen – Palmenblätter, Steine und
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Titel

scher Gedanke. Dass aus der Sammlung


von Aufzeichnungen und Überlieferungen
schließlich der Koran wurde, ein geschlos-
senes Buch, so wie es Gläubige in aller
Welt verehren, ist das Verdienst des Kalifen
Osman.
Der dritte Nachfolger Mohammeds soll
um die Mitte des 7. Jahrhunderts eine
schriftliche Fassung der Offenbarungen
verfügt haben. Auf sein Geheiß wurden
alle Dokumente zusammengetragen, er
ließ die vertrauenswürdigsten Rezitatoren
vorladen und schließlich die Suren edieren.
Warum sie der Länge nach geordnet wur-
den, zählt auch fast 1400 Jahre nach der
Redaktion des Koran zu den ungelösten
Rätseln.
An der Osman-Fassung wurde nicht
mehr gerüttelt. Allein dass die Kairoer
Azhar-Universität in den zwanziger Jah-
ren des vergangenen Jahrhunderts den
Versen der Ordnung halber Nummern vor-
anstellte, löste massive Proteste von Eife-
rern aus. Nur weil die Neuerung von der
höchsten theologischen Autorität kam,
wurde sie schließlich von der muslimischen

INTERFOTO
Gemeinde weltweit akzeptiert.
Seither steht fest, was im Koran steht –
Handgeschriebenes Exemplar des Koran (17. Jh.): Füllhorn an Poesie und Prosa ob es nun angeblich der größte Koran ist
(über einen Meter hoch und 130 Kilo-
gramm schwer), den die atheistischen
Herrscher in Peking aufbewahren sollen,
oder der älteste (aus dem Jahr 1000), den
B. ROESSLER / DPA (L.); PICTURE PRESS (R.)

das Regime von Baschar al-Assad in Da-


maskus hütet, oder der vielleicht spekta-
kulärste – jener, den Saddam Hussein in
Auftrag gab und der mit dem Blut des
„Größten aller Iraker“ geschrieben ist.
Über 20 Liter seines Lebenssaftes will der
Despot dafür geopfert haben.
Über jede Silbe wachen die Experten der
Azhar-Universität. Zumindest für streng-
Digitaler Koran, Skulptur in Schardscha*: Mit allen Sinnen an die göttliche Botschaft erinnert gläubige Sunniten hat „die Leuchtende“
nicht nur Vorbildcharakter, sondern sie hat
sogar Knochen mit Notizen – sind idealer Die Legende von diesen Versen – die Sal- auch so etwas wie ein theologisches Wei-
Nährboden für allerlei Legenden und Spe- man Rushdie 1988 als Hintergrund für sei- sungsrecht und gilt als unfehlbar.
kulationen. Gab es vielleicht sogar ge- nen hochumstrittenen Roman benutzte – Inmitten Kairos quirliger, verkehrs-
wisse Verse, die der Zensur zum Opfer fie- liefert noch heute Stoff für Disput: Die durchtoster Altstadt steht das Doppel-
len, weil sie sich mit der späteren, reinen meisten muslimischen Gelehrten streiten minarett der Azhar, Sinnbild für die Ein-
Lehre nicht in Einklang bringen ließen? die Geschichte seit Jahrhunderten ab. Doch heit von Glaube und Wissen, aber auch
Berühmt, ja berüchtigt ist jene Überliefe- manche westliche Islamwissenschaftler sind für die Durchsetzung knallharter Dogmen.
rung, wonach nicht nur der Erzengel Ga- geneigt, sie für wahr zu halten: Eine Episo- Ein Student verteilt vor der Hauptpforte
briel, sondern auch Satan dem Propheten der Moschee islamische Werbe-CDs mit
ein oder zwei Verse einflüsterte. schlichten Titeln wie „Das Leben des Pro-
So sollen in den Offenbarungen die drei Die Legende der „satanischen pheten“, „Frauen im Islam“ oder „Wis-
heidnischen Göttinnen al-Lat, al-Ussa und Verse“ liefert noch senschaft und Koran“. Männer in Anzü-
Manat zunächst als „hochfliegende Krani- heute Stoff für Disput. gen, Jeans oder langen weißen Dschalabi-
che“ bezeichnet worden sein, deren Für- jas gehen an ihm vorbei, mit gesenktem
sprache bei Gott erwünscht sei. Die Ein- Haupt steigen sie über die hölzerne
wohner von Mekka – hocherfreut, dass der de, die Mohammed in derart unvorteilhaf- Schwelle, schlüpfen aus ihren Schuhen und
Prophet ihre Lokalgottheiten derart wür- tem Licht erscheinen lasse, könne unmög- betreten die Marmorfliesen des Innenhofs.
digt – seien daraufhin seinem Aufruf ge- lich erfunden sein. Wahrscheinlicher sei Längst wurde der reguläre Studienbe-
folgt, sich vor Gott niederzuwerfen. Später daher, dass die„satanischen Verse“ Moham- trieb an eine moderne Massenuniversität
habe Mohammed jedoch vom Erzengel meds vorübergehenden Versuch widerspie- verlegt, doch noch immer zieht es viele
Gabriel erfahren, dass dies keine göttli- gelten, die Mekkaner durch Schmeicheleien Koranschüler an diesen Ort, wo alles be-
chen, sondern eben „satanische Verse“ für ihre drei Göttinnen schneller von der gann. Im Schneidersitz lauschen sie dem
waren. Großmut Allahs zu überzeugen. Unterricht zumeist blinder Scheichs, wür-
Mohammed, mehr Pragmatiker als Pro- diger alter Herren, die an eine Säule ge-
* Eines der Vereinigten Arabischen Emirate. phet? Für Muslime ein äußerst ketzeri- lehnt, den geöffneten Koran im Schoß,
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Gottes Worte rezitieren – ein jahrhunderte- Wenn er auf die Bedeutung seines Wer-
altes Ritual. „Wer den Koran nicht lesen kes für die Geschichte des Islam ange-
kann, sollte ihn hören“, sagen die Gläubi- sprochen wird, weicht der Professor aus.
gen; auch ihn zu berühren gilt vielen schon Ein melancholisches Lächeln huscht dann
als Weg, Gott näherzukommen. über das runde Gesicht. In seiner Leidener
Geradezu hypnotisch sind manche Ko- Klause türmen sich die Korankommentare
ranrezitationen, ihr wohlklingender Vor- und Sammlungen der Prophetensprüche,
trag gilt als eigene Kunst: die „Kiraa“. End- tausend Zettel lassen die dicken Bände von
los und peinigend kann deren Studium Tabari und Buchari aufquellen, mit Text-
sein, in dem selbst kleinste Details der Aus- markern und Anstreichungen sind die Wer-
sprache geübt werden müssen: ein A be- ke von Sartre und Kant versehen. Dazwi-
sonders tief und kraftvoll, ein I besonders schen stapeln sich Seminararbeiten neben
vibrierend. Der Koran, schreibt der Islam- Magazinen zu Linguistik und Philosophie;
wissenschaftler Navid Kermani in seinem die private Post ist seit Wochen unbeant-
Buch „Gott ist schön“, habe eine ästheti- wortet, der Koran hat Vorrang.
sche Kraft, die auch Nichtgläubige ver- Der Koran, sagt er mit leiser Stimme,
zaubern könne. sei das Buch, das ihn seit seiner Kindheit
In der Welt der Azhar-Universität ist das begleite, ihn, den Bauernjungen aus dem
SAJJAD SAFARI / AP

Memorieren des Koran allerdings nur aller Nildelta; es seien die sinnlichen Erinne-
Anfang: Es folgen arbeitsreiche Jahre rungen, die er noch immer mit sich trage –
mit Studien der Exegese, der islamischen den Moscheebesuch an der Hand seines
Rechtsordnung oder islamischen Kultur- Vaters, die eindringliche Stimme des Dorf-
Irans Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad geschichte. Auch wer säkulare Fächer wie scheichs. Solcher Zauber veranlasste Abu
Medizin oder Naturwissenschaften lernt, Seid in frühen Jahren, die heilige Schrift zu
muss religiöse Pflichtkurse belegen. memorieren, dann, nach dem Tod des Va-
Mit der Moderne haben sich die Hüter ters, drängte es den jungen Mann an welt-
des Glaubens auf ihre Weise abgefunden: liche Schulen. „An Grundsätzen zu zwei-
So soll ein Online-Archiv alle verfügbaren
Manuskripte der Azhar-Bibliothek ins In-
ternet stellen. Und ein in Dubai entworfe- In Teheran fordert
nes „islamisches Handy“, das von jedem ein „iranischer Luther“
Ort der Welt die Richtung gen Mekka weist die Mullahs heraus.
und fünfmal am Tag zum Gebet ruft, hat
ebenfalls den Segen der Azhar erhalten.
Kritische Fragen zur Entstehung des Ko- feln“, so Abu Seid, „ist keine Sünde. Wer
ran gelten dagegen als Frevel. Für die Zen- zweifelt, gebraucht seinen Verstand. Und
sur religiös unerwünschter Schriften sind Gott will, dass wir unseren Verstand be-
die Azhariten berüchtigt. Großscheich Mo- nutzen.“
hammed Sajjid Tantawi ist das Oberhaupt Aus der westlichen Literaturwissenschaft
der Azhar, ein Mann des politischen Aus- übernahm Abu Seid die Methode, Texte
gleichs, von Staatspräsident Husni Mu- historisch zu lesen – zu begreifen, wie ein
barak persönlich ins Amt berufen. Er bleibt Gebot damals aufgeschrieben worden ist,
hart, wenn es um den Kern des Glaubens damit die Gläubigen es verstanden. „Der
geht: „Reformer“ sind für ihn Hitzköpfe, Koran im frühen 7. Jahrhundert brauchte
AP

Qaida-Führer Osama Bin Laden (vor Koransure) nicht weniger schädlich als jene Extremis- einen angemessenen Sprachcode“, sagt er.
ten, von denen sich die Universität abzu- Dass sich Gott heute, 14 Jahrhunderte spä-
grenzen sucht. ter, eine andere Ausdrucksweise zurecht-
Wer gegen die tausend Jahre alte Macht gelegt hätte, steht für ihn außer Frage.
der Azhar aufbegehrt, muss, wie der exi- „Alles andere wäre doch geradezu blas-
lierte Literaturprofessor Abu Seid, mit dem phemisch, eine Beleidigung für die Intelli-
Schlimmsten rechnen. Auf Drängen isla- genz Gottes!“
mistischer Eiferer wurde er zum Apostaten Abu Seid steht längst nicht mehr allein,
erklärt. Ein Gericht in Kairo verfügte 1995 die Zahl seiner Verbündeten wächst.
die Zwangsscheidung des „Ketzers“ von Auch bei den Schiiten gibt es Theologen,
seiner Frau Ibtihal Junis. Die Azhar half die sich auflehnen gegen orthodoxe Schrift-
der Anklage – mit einem religiösen Rechts- gelehrte, gegen scheinbar übermächtige
gutachten. Autoritäten. Einer von ihnen ist Abdol-
Im Westen hingegen wird Abu Seid seit- karim Sorusch. So wie Abu Seid gegen die
her als „Speerspitze eines liberalen Islam“ Scheichs der Azhar streitet, streitet Sorusch
(„Neue Zürcher Zeitung“) gefeiert und mit gegen die Mullahs in Teheran.
Ehrungen überhäuft. Er erhielt die amerika- Die Turbanträger begründen ihre Macht
nische Roosevelt-Medaille für Religions- auf die von Revolutionsführer Ruhollah Aja-
DAVID FURST / AP

freiheit und den Frankfurter Ibn-Rushd-Preis tollah Chomeini 1979 eingeführte „Wela-
für die Förderung der Demokratie in der jat-e Fakih“, die Herrschaft des obersten
arabischen Welt. Kenner wie der Hamburger Rechtsgelehrten. Nach ihr dürfen sich Irans
Islamwissenschaftler Gernot Rotter und der religiöse Führer als irdische Stellvertreter je-
Irakischer Ex-Diktator Saddam Hussein (2006) Bonner Arabist Wild sehen in ihm so etwas nes zwölften Imams fühlen, der im neunten
Verehrer des Koran wie eine „historische Figur“, eine, „von der Jahrhundert spurlos verschwand und seit-
Das heilige Buch als Waffe genutzt wir noch in 100 Jahren sprechen werden“. her in der Verborgenheit ausharrt. Mit seiner
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MANISH SWARUP / AP
Betende Muslime in Neu-Delhi: „Und lobpreise deinen Herrn vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne“

ersehnten Wiederkehr verbinden die Schi- Manche, wie die amerikanische Journa- ihr großer Förderer, der Kalif al-Mamun,
iten das jüngste Gericht und die Einkehr der listin Robin Wright, sehen in Sorusch gar habe eines Nachts von Aristoteles geträumt
Gerechtigkeit auf Erden. einen „iranischen Luther“. Einen, der wie und kurz darauf befohlen, an jeder Ecke
Die von den Mullahs damit beanspruch- der deutsche Reformator im 16. Jahrhun- Bagdads eine Akademie, eine Sternwarte
te Unfehlbarkeit kommt für Sorusch reli- dert das Deutungsmonopol des herrschen- oder eine Bibliothek zu bauen.
giöser Despotie gleich. Auch für ihn besitzt den Klerus brechen könnte. Die Mutasiliten kritisierten das Wieder-
Gottes Offenbarung ewige Gültigkeit, nicht Den Mönch aus Eisleben und den Pro- käuen orthodoxer Lehren, sie verlangten,
jedoch die Schlussfolgerungen, die sich fessor aus Teheran verbindet die Betonung die islamischen Quellen eigenständig zu
daraus ableiten lassen. In seinen Aufsät- der spirituellen und mystischen Seite des interpretieren; eine Praxis, die in der
zen und Büchern propagiert er die „Wan- Glaubens. In der islamischen Variante der islamischen Tradition „Idschtihad“ heißt,
delbarkeit der religiösen Erkenntnis“. Mystik, dem Sufismus, sieht Sorusch ein „Anstrengung“.
Theologen, so Sorusch, seien nicht wie Potential für die Herausforderungen der Der heikelste Punkt ihrer Theologie aber
Gott oder der Prophet. Was sie verkün- Moderne; hier sei der Glaube stets auf der war, den Koran nicht als „ewiges“, sondern
den, sei „menschliche, unheilige Erkennt- Suche, stets fragend, nie selbstsicher – ein als „geschaffenes Werk“ zu betrachten.
nis – behaftet mit aller Fehlbarkeit des Gegenpol zum autoritären Rechtsislam, Ewig, lehrten sie, sei nur Gott selbst. Und
menschlichen Geistes“. wie ihn die Mullahs predigen. wäre es nicht vermessen, Gott eine zweite
Solche Anmaßungen dulden die Chomei- Zurück zu den Wurzeln, zurück in die ewige Instanz zur Seite zu stellen?
ni-Erben nicht. Der einstige Vordenker der Frühgeschichte des Islam, zurück ins ach- Nur ein knappes Jahrhundert währte die
Islamischen Republik verlor in den neunzi- te und neunte Jahrhundert, lautet die De- Blütephase der Freigeister, dann schlug die
ger Jahren seinen Lehrstuhl an der Univer- vise der Reformer. Hier, in der Blütezeit ih- Orthodoxie zurück.
sität Teheran, er erhielt Morddrohungen und Es folgte geistige Verkrustung. Allein das
wagte seitdem kaum noch öffentliche Auf- goldene Zeitalter der Mauren von An-
tritte. Unter dem gegenwärtigen Staatspräsi- Im 21. Jahrhundert erreicht dalusien, die im 11. Jahrhundert auf der
denten Mahmud Ahmadinedschad ist So- das Ansehen der Weltreligion Iberischen Halbinsel Kunst und Wissen-
rusch erst recht Persona non grata. einen neuen Tiefstand. schaften aufblühen ließen, konnte noch
Dass er noch nicht mit einem ähnlichen einmal an die Ära der Mutasiliten an-
Bann belegt wurde wie Abu Seid in Kairo, knüpfen.
verdankt er seinen immer noch guten Be- rer Religion, sehen beide Vordenker – der Während in Deutschland Seuchen und
ziehungen ins religiöse Establishment. In Sunnit Abu Seid und der Schiit Sorusch – Hungersnöte die Menschen dahinrafften,
den siebziger Jahren war er ein glühender einen Schatz, den es auszugraben gilt. richteten die Kalifen von „al-Andalus“
Verfechter der Revolution gewesen, 1979 Damals, keine 150 Jahre nach dem Tod Apotheken und Krankenhäuser ein, wurde
kehrte er aus dem englischen Exil zurück des Propheten, hatte in Bagdad die Dynas- in Córdoba und Toledo gedichtet, geforscht
nach Iran. tie der Abbasiden die Macht übernommen, und philosophiert. Es ist jene Epoche, die
Unter aufgeklärten Muslimen gilt ein der Wissenschaft zugeneigtes Herr- bei vielen Muslimen von heute noch im-
Sorusch als Lichtgestalt. „Er befreit den schergeschlecht. In der von Legenden um- mer starke Sehnsüchte weckt – setzte doch
Islam vom Ballast der Vergangenheit und wobenen, prächtigen Kalifenresidenz am mit ihrem Ende, mit der Vertreibung der
versöhnt ihn mit der Moderne“, jubelte Tigris stritten die Gelehrten leidenschaft- letzten Araber aus Europa, der Niedergang
die inzwischen verbotene Oppositions- lich um die rechte Art, den Koran zu lesen. der islamischen Welt ein.
zeitschrift „Kijan“. „Niemand beschäftigt Besonders vernunftbetont waren die so- Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreich-
sich mit modernem, liberalem Islam, ohne genannten Mutasiliten (arabisch für: „jene, te das Ansehen der Weltreligion einen neu-
sich mit Sorusch auseinanderzusetzen“, so die sich absondern“). Sie orientierten sich en Tiefstand. Die Anschläge von New York,
Harvard-Professor Roy Mottahedeh. an der griechischen Philosophie. Es heißt, Madrid und London verengten – in den
32 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 7
Titel

Die islamische Welt heute


7
KASACHSTAN
72

TÜRKEI 154
24 68
30
IRAK 120
MAROKKO 68 20
33 IRAN
PAKISTAN CHINA
BANGLA-
ALGERIEN ÄGYPTEN 23 INDIEN 149 DESCH

SAUDI-
ARABIEN
72 26
SUDAN
196
NIGERIA

Muslime in Prozent
der Bevölkerung
90% und mehr
Muslime 50% bis 90%
INDONESIEN
in ausgewählten
10% bis 50%
Ländern,
in Millionen unter 10%

Augen verängstigter säkularer Europäer gegen Sitte, Anstand und Gottes Willen und gesellschaftlich in die Moderne führen
und Amerikaner – das Bild des Islam auf verstößt. Er muss sterben. sollte – Zwangssäkularisierung zur Befrei-
den Terrorismus seiner Extremisten. Dennoch glauben die beiden deutschen ung von den Fesseln der Religion einge-
Scheinbar unaufhaltsam verbreitet sich Islamwissenschaftler Katajun Amirpur und schlossen. Atatürk schaffte das Kalifat ab,
der Terror nicht nur in der Welt der Un- Ludwig Ammann, dass der Islam seit den in dem der Sultan der Gebieter über Reich
gläubigen, sondern vor allem in den isla- Anschlägen vom 11. September 2001 „an und Religion war; er verbot den Männern
mischen Ländern: im Irak, in Afghanistan, einem Wendepunkt“ angelangt sei. Als den Fes, den rotwollenen Hut mit Quas-
Pakistan, Algerien oder Palästina. Hier hätte der islamistische Overkill die libera- tenbehang, und den Frauen das Kopftuch;
grassiert, was der tunesischstämmige In- len Geister in den eigenen Reihen wach- er verfügte die Abschaffung der Scharia-
tellektuelle Abdelwahab Meddeb die gerüttelt, sei in der islamischen Welt eine Gerichte, und er verbannte die Religion
„Krankheit des Islam“ nennt – der Rekurs „unendliche Vervielfältigung der Stand- ins Private.
auf Gewalt und Selbstzerstörung, der be- punkte“ zu beobachten. Ein Blick ins In- Um die Moscheen von rückwärtsge-
sonders auf frustrierte junge Männer so ternet und in populäre Diskussionsforen wandtem Gedankengut frei zu halten, rich-
anziehend wirkt, weil er vermeintlich hilft, wie „futureislam.com“ reiche aus, um zu tete Atatürk eigens das Präsidium für reli-
die beständigen Unterlegenheitsgefühle, erkennen, dass unzählige Muslime den giöse Angelegenheiten ein, das Diyanet
politische Ohnmacht und wirtschaftliche Stillstand überwinden wollen – und dass I≈leri Ba≈kanligi. Die Behörde mit inzwi-
Ausgrenzung zu überwinden. der Begriff „Reform“ nicht tabu sei. schen mehr als 100 000 Mitarbeitern be-
Das Instrument für den Terror heißt Protagonisten dieses Wandels gibt es aufsichtigt die Ausbildung der Imame, und
„Takfir“ (arabisch für: „jemanden für un- überall. Wie weit Islam und Moderne mit- sie bestimmt auch, was gepredigt wird; ihr
gläubig erklären“). Es bietet seinen An- einander vereinbar sind, zeigt der bislang Vorsitzender Ali Bardakoglu ist der mäch-
hängern die Rechtfertigung, sich zu Herren größte Feldversuch direkt vor den Toren tigste Vertreter des Islam in der Türkei und
über Leben und Tod aufzuschwingen. Europas: in der Türkei. In kaum einem ein erklärter Reformtheologe. „Die islami-
Nach einem vielzitierten Satz des Prophe- Land treffen Orient und Okzident, der Is- sche Welt muss für Kritik von allen Seiten
ten darf das Blut von Muslimen nur als lam und die Werte des Westens, so stark offen sein und in sich das objektive Den-
Strafe für Mord, für Ehebruch sowie für aufeinander wie bei dem EU-Anwärter ken, die Vernunft, fortentwickeln“, sagt
den Abfall vom Islam vergossen werden. und Nato-Partner. In keinem anderen der Behördenchef, der im vergangenen
Für Takfiristen gilt demnach: Todeswürdig Land wurde dem Islam allerdings auch so Jahr Papst Benedikt XVI. zum „Dialog der
ist jeder, der auch nur einen Hauch von viel Weltlichkeit abverlangt wie in der 1923 Religionen“ empfing.
ihrer strengen Koranauffassung abweicht, von Mustafa Kemal, genannt Atatürk („Va- Das Rüstzeug für die Debatte mit den
denn er gilt als vom Islam abgefallen. Es ist ter der Türken“), begründeten Republik. Fundamentalisten kommt aus nächster
dabei egal, ob er wählen geht – schließlich Auf den Trümmern des Osmanischen Nachbarschaft: von der Universität Ankara.
kann nur Gott, nicht aber ein gewählter Reiches setzte der überzeugte Europäer Die Hochschule gilt als Keimzelle aller
Politiker Gesetze erlassen – oder einfach eine Revolution von oben durch, die das religiösen Reformanstöße in der Türkei.
nur als Sportler kurze Hosen trägt – was zurückgebliebene Anatolien wirtschaftlich Und sie ist neuerdings sogar in Deutsch-
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Der Koran ist wie so oft auch hier un-
eindeutig: Da lassen sich Verse finden, die
Papst Benedikt XVI., Muslimführer Bardakoglu (2006) als Befreiung von Unmündigkeit verstan-
den werden müssen, aber auch andere, die
Frauen dem Mann untertan erklären. In
der Wirklichkeit haben sich zumeist die al-
ten Stammestraditionen der Araber durch-
gesetzt, wonach die Frau als Besitz der Fa-
milie betrachtet wird. Frauen erben in den
meisten islamischen Ländern nur die Hälf-
te dessen, was ein männlicher Verwandter
vom Nachlass erhält. Auch zählt ihre Aus-
sage vor Gericht nur halb so viel wie die
Aussage eines Mannes.
Der Zwang zum Kopftuch wird bei-
spielsweise mit Auszügen aus Sure 24 be-
gründet: „Und sag den gläubigen Frauen,
dass sie ihre Blicke senken und dass sie
ihre Scham bewahren sollen, und dass sie
ihren Schal sich um den Ausschnitt schla-
gen.“ Ein Beweis für die Pflicht, Kopftuch
zu tragen? Nein, sagt die Autorin Selim;
vielmehr ein Hinweis dafür, wie sich Frau-
en damals vor sexueller Belästigung schüt-
zen konnten.
Niemand sei verdammt, sich vor der
Welt zu verstecken, meint Selim, denn
preise nicht gerade auch der Koran die uni-

PATRICK HERTZOG / REUTERS


verselle Schönheit des Menschen? So heißt
es in Sure 95: „Bei der Feige und der Oli-
ve und dem Berge Sinai und dieser siche-
ren Stadt: Wahrlich, Wir erschufen den
Menschen in schönster Gestalt.“
In ihrem Plädoyer, den Koran „weiblich“
zu lesen, streitet die Niederländerin kei-
land mit einem Lehrstuhl vertreten. Ömer terwegs, der nicht zur Familie gehörte. Bei- neswegs auf einsamer Flur. „Wir erleben
Özsoy, 44, einer ihrer renommiertes- de Frauen wurden schließlich begnadigt. weltweit einen Diskurs von Musliminnen,
ten Vertreter, hielt im November an der Über weniger tragische Alltagserlebnis- die sich in ihrem Kampf um Emanzipation
Johann-Wolfgang-Goethe-Universität in se schreibt die Ägypterin Nahed Selim. Sie auf den Koran berufen“, sagt die Histori-
Frankfurt am Main seine Antrittsvorlesung fuhr im Sommer 1968 mit ihrem Onkel im kerin Margot Badran von der Washingtoner
über moderne Interpretationsformen des Zug von Alexandria ins Nildelta. Sie war Georgetown-Universität. „Islamischer Fe-
Koran. Den Lehrstuhl, eingegliedert in 15 und trug einen Minirock, wie es damals minismus“, ein eher widersprüchlich an-
den Fachbereich Evangelische Theologie, auch in Ägypten Mode war, zumindest in mutender Terminus, ist im Kommen.
finanziert Badakoglus türkische Religions- den Großstädten. Die Blicke der Mitrei- Auf Dauer kann sich der Islam wohl
behörde. senden hefteten sich an ihre nackten Ober- kaum von den Zumutungen der Moderne
Für Özsoy steht nur ein Bruchteil des- schenkel. Verärgert zischte ihr schließlich abschotten, zumal in der globalisierten Welt.
sen, was die Offenbarung den Menschen der Onkel zu, sie möge gefälligst die Beine Internet und Satellitensender haben Viel-
vermitteln will, wörtlich im Koran; der stimmigkeit im islamischen Raum erzeugt
Großteil der wahren Aussagen erschließt und zugleich die Suche nach Orientierung
sich erst durch das Studium der histori- „Die islamische Welt muss für und Autorität verstärkt. Die neue Vielfalt
schen Umstände vor rund 1400 Jahren und Kritik offen sein“, sagt der dürfte nur schwer einzudämmen sein.
deren Interpretation für die Gegenwart. mächtigste Muslim der Türkei. Für Nasr Hamid Abu Seid, den ins Exil
Weil die Anpassung des Koranverständ- Verbannten, ist das ein gutes Zeichen. An
nisses an die Aktualität so lange schon ver- eine Rückkehr nach Ägypten glaubt der
pönt sei, fehlten „den Muslimen die Ant- bedecken – wie es Sitte, Anstand und vor „Ketzer aus Kairo“ allerdings nicht. Noch
worten auf die Fragen der Moderne“. La- allem Religion verlangten. immer betrachten ihn viele in seiner Hei-
konisch resümiert Özsoy: „Wir Muslime 35 Jahre später erinnerte sich Selim, mat als vogelfrei, noch immer führt er in
sind zurückgeblieben.“ mittlerweile Journalistin und niederländi- den Augen der Obrigkeit als ein „vom
Aktuelle Ereignisse geben ihm recht: Vor sche Staatsbürgerin, an die Episode im Zug Glauben abgefallener“ Muslim eine illega-
allem für die Frauen erweist sich der Islam und schrieb sie auf als Prolog zu ihrem le Ehe mit seiner muslimischen Frau.
als Instrument ihrer Unterdrückung. Im Buch „Nehmt den Männern den Koran“. Der kleine Professor mit dem grauen
Sudan drohte einer Grundschullehrerin die Mit Wehmut schildert die gläubige Mus- Anorak und der abgewetzten Aktentasche
öffentliche Auspeitschung, nur weil sie zu- limin darin, wie in ihrem Heimatland west- lebt in einem unauffälligen Reihenhaus in
ließ, dass ein Kind seinen Teddybär Mo- liche Mode verschwand und islamische einer niederländischen Kleinstadt. Er pen-
hammed nannte. Und in Saudi-Arabien Kleidung Einzug hielt – vom Kopftuch bis delt weiterhin nach Leiden, er spricht auf
sollte eine Frau, die Opfer einer Massen- hin zur schwarzen Ganzkörperverschleie- Konferenzen, er schreibt Bücher. Er wirbt
vergewaltigung wurde, mit 200 Peitschen- rung. Der Zwang, sich zu verhüllen, sei ein weiter dafür, dieses schöne, gefährliche
hieben bestraft werden. Der Grund: Sie Beleg dafür, wie die Botschaft des Koran Buch richtig zu lesen. Dieter Bednarz,
war in einem Auto mit einem Mann un- zuungunsten der Frauen ausgelegt werde. Daniel Steinvorth

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