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Islamisches Heiligtum Kaaba in Mekka: Sieben Umrundungen für den einen Gott
18 d e r s p i e g e l 5 2 / 2 0 0 7
Koranschüler (in Karatschi): „Dies ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist, geoffenbart als Rechtleitung für die Gläubigen“
U
nter all den Menschen, die an diesem halten, für die er von seinen Studenten ge- Wann immer er es wagt, seine Familie am
Montagmorgen durch den Bahnhof schätzt und geachtet wird – und von isla- Nil zu besuchen, muss er seine Ankunft
von Leiden strömen, ist Nasr Hamid mischen Fanatikern in aller Welt leiden- beim Polizeichef melden. Der stellt ihm
Abu Seid leicht zu übersehen. Er trägt eine schaftlich gehasst. Ohne Hast und ohne dann zwei Leibwächter und einen Polizei-
blaue Schiebermütze, ein kleines Bäuchlein sich umzuschauen, spaziert der Ägypter, offizier zur Seite. Nur mit Mühe konnte
und eine Aktentasche. Wie ein braver An- der vor gut zwölf Jahren ins beschauliche Abu Seid die niederländischen Behörden
gestellter auf dem Weg zur Arbeit tritt der Holland fliehen musste, an den schmucken davon abbringen, ihm auch im Exil Perso-
Professor aus der Bahnhofshalle. Grachten und spitzgiebeligen Patrizier- nenschutz zu geben.
Sein Ziel ist die älteste und renommier- häusern seiner neuen Heimat vorbei. Es „Ich hab mich daran gewöhnt, mit dem
teste Universität der Niederlande. An der ist schneidend kalt, Abu Seid, 64, schmiegt Tod zu leben“, sagt er und blinzelt freund-
einstigen Rijksuniversiteit Leiden wird er sich fest in den grauen Anorak. lich durch dicke Brillengläser. „Wenn es
heute wieder eine seiner geschliffenen Daheim, in Kairo, kann sich der Profes- Zeit ist zu sterben, ist es eben Zeit.“
Vorlesungen über „Islamische Theologie“ sor schon lange nicht mehr frei bewegen. Sein Verbrechen? Ähnlich wie der britisch-
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indische Schriftsteller Salman Rushdie mit
seinen „Satanischen Versen“ hat sich Abu
Seid an einem Werk vergriffen, das in der
Welt des Islam als überirdisch und unan-
tastbar gilt: am Koran, dem heiligen Buch
der Muslime, der letzten Botschaft des
einen und allmächtigen Gottes an die
Menschheit, offenbart im 7. Jahrhundert
dem Propheten Mohammed in Mekka und
Medina.
Während die meisten der weltweit 1,3
Milliarden Muslime jede Zeile in den 114
Kapiteln des Koran, den Suren, wortwört-
lich nehmen, ist Abu Seid davon über-
zeugt, dass „Gott zu Mohammed in Bil-
dern gesprochen hat, in Metaphern, die
wir auf unsere heutige Zeit übertragen
müssen“. Nur so könne sich der Islam „für
die Aufklärung öffnen und die Heraus-
forderungen des 21. Jahrhunderts bewäl-
tigen“.
Für seine konservativen Gegner – allen
voran die Professoren und Scheichs der
Azhar-Universität in Kairo – sind solche
Gedanken pure Ketzerei. Denn die Ge-
lehrten sehen den Koran als Gottes un-
wandelbares Vermächtnis, als ewig und er-
haben über alle Versuche von Sterblichen,
den Versen neuen Sinn zu geben.
„Dhalika al-kitab la reiba fihi hudan lil-
muttakin“, lautet Vers 2 der 2. Sure: „Dies
ist das Buch, an dem nicht zu zweifeln ist,
geoffenbart als Rechtleitung für die Got-
tesfürchtigen.“
Ein Bannstrahl der Azhar-Universität
verhindert es, dass der ägyptische Refor-
mer in seiner Heimat vor größerem Publi-
kum sprechen kann – doch ein Unbe-
kannter ist Abu Seid auch dort nicht mehr.
RUE DES ARCHIVES / SÜDD. VERLAG
um 570 n. Chr. Mohammed Ibn Ab- bezeichnet den Beginn des islami- 634 bis 644 Unter Kalif Omar erobern
dullah wird in Mekka in einer verarm- schen Kalenders, das erste Jahr der Muslime u. a. Ägypten und Iran.
ten Familie geboren. Er gehört dem Hidschra.
Kureisch-Stamm an, der verantwort- 644 bis 656 Kalif Osman erobert u. a.
lich ist für die Pflege der Kaaba, eines 632 Mohammed pilgert zum letzten Libyen und Zypern. Er wird ermordet.
Heiligtums in Mekka. Die Kaaba ist Mal nach Mekka. Er stirbt im Juni in Die historische Wissenschaft geht
bereits in vorislamischer Zeit ein Medina, ohne einen Nachfolger davon aus, dass die heutige Form des
Wallfahrtsort. Zum Nachdenken und (Kalif/Imam) ernannt zu haben. Es Koran auf einer von Osman veranlass-
Beten begibt sich Mohammed zum folgen Führungskämpfe um das Erbe ten Sammlung fußt. Zwar ordnet Os-
U LLST E I N – N O W O ST I
Berg Hira. Mohammeds, die zur Spaltung der man an, alle anderen Exemplare zu
Glaubensgemeinschaft in Sunniten vernichten, bis heute existieren aber
um 610 Mohammed hat seine erste und Schiiten führen. unterschiedliche Lesarten des Koran.
Vision, die später als Erscheinen des
Engels Gabriel gedeutet wird. Bis zu Mohammeds Tod existiert der 656 bis 661 Kalif Ali, Schwiegersohn
Koran noch nicht als Gesamtwerk; er und Cousin Mohammeds, verlegt we-
Religiösen Überlieferungen zufolge wird von den Anhängern des Prophe- 632 bis 634 Kalif Abu Bakr sendet gen innerer Kämpfe das Kalifat von
wird Mohammed von da an bis zu ten auswendig gelernt oder in einzel- Eroberungsheere nach Syrien und Medina nach Kufa in den Irak, wo er
seinem Tod der Koran offenbart. nen Teilen schriftlich festgehalten. Mesopotamien. 661 ermordet wird.
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Titel
leiser und langsamer, als wir uns das wün- Aber was ist das für ein Werk, von dem selhafte Buchstaben auftauchen, deren Be-
schen – und mit ungewissem Ausgang“. der gläubige Muslim Abu Seid sagt, es sei deutung niemand kennt, aus denen sich
Der Diskurs kann Folgen für die Refor- das „schönste und zugleich gefährlichste aber die „unsichtbare Wirklichkeit Gottes“
mer haben. Im schlimmsten Fall werden Buch der Welt“? ablesen lasse, wie islamische Mystiker, die
sie verbannt oder ermordet – wie Farag Der Koran ist wohl das widersprüch- Sufis, behaupten.
Foda, ein ägyptischer Schriftsteller, der ex- lichste, das umstrittenste und zugleich ge- Zugleich ist der Koran wohl das mäch-
tremistischen Predigern Volksverdummung heimnisvollste Buch der Welt. Er ist ein tigste Buch der Welt. Mit seinen Regeln,
vorgeworfen hatte und in Kairo auf offener Füllhorn an Poesie und Prosa und ein Werk Ermahnungen und Erkenntnissen ist er die
Straße erschossen wurde. voller ungelöster Rätsel. Mal tolerant, dann ständig gegenwärtige Richtschnur für fast
Der Diskurs kann aber auch Hoffnung wieder streng, bald nachsichtig und bald ein Fünftel der Menschheit, viel umfas-
wecken. Die Reformer setzen auf den Fak- erbarmungslos. Ein ebenso gewaltiges wie sender und strenger als das heilige Buch
tor Zeit, weil sie wissen, dass weder die or- gewalthaltiges Buch, für die Gläubigen der Christen.
thodoxe Auslegung der heiligen Schriften die einzig gültige Übersetzung des göttli- „Und lobpreise deinen Herrn vor dem
noch Terror die Probleme der islamischen chen Willens, das vollkommene Werk des Aufgang und vor dem Untergang der Son-
Welt lösen können. „Die Muslime dürfen Schöpfers. ne! Und preise zu gewissen Zeiten der
sich nicht von der Zukunft ausschließen“, Nacht und an den Enden des Tages“,
mahnen Politiker wie der marokkanische schreibt zum Beispiel Sure 20, Vers 130,
Religionsminister Ahmed Taoufiq – und Ein Offizier im Irak befiehlt dem Gläubigen regelmäßige Gebete vor.
dafür müssen Tabus fallen. den Häftlingen, versöhnliche Bemüht um Gottgefälligkeit, verneigen
So sind sie denn, wenn auch leise, Koranstellen zu lesen. sich so Muslime vom Senegal bis Sumatra,
durchaus zu hören, die Stimmen, die Mut von Somalia bis Xinjiang gen Mekka und
machen: Gelehrte wie der iranische Philo- sprechen zu Beginn ihres Gebets die Fati-
soph Abdolkarim Sorusch, der gegen die Während die Bibel mit Geschichten und ha, die Eröffnungssure des Koran: „Bis-
Geiselnahme des Koran durch die Mullahs Gleichnissen voller Wunder und Gnaden- millah al-rahman al-rahim, al-hamdu lillah
aufbegehrt, oder der in Beirut lebende Is- bezeugungen, aber auch mit Intrigen und rabb al-alamin …“ – „Im Namen Gottes,
lamwissenschaftler Ridwan al-Sajjid, der Verbrechen lockt, ist der Koran eher ein des Barmherzigen, des Gnädigen, Lob sei
gegen das Deutungsmonopol der islamis- Reigen aus Erkenntnissen und Verordnun- Gott, dem Herrn der Welten.“
tischen Hisbollah ankämpft. Nicht anders gen, deren Abfolge – verwirrend genug – Zwar hält die Bibel den Rekord als das
die aus der laizistischen Türkei stammen- nicht chronologisch, sondern durch die meistgedruckte Werk der Welt: fast 400
den Vordenker der sogenannten Ankara- Länge der Suren bestimmt wird – wobei die Millionen Neue und Alte Testamente wur-
ner Schule wie Mehmet Paçaci und Ömer langen zuerst stehen, mit einer Ausnahme: den 2006 verbreitet. Aber der Koran holt
Özsoy, die für eine zeitgemäße Sicht der der Eröffnungssure. auf. Dies lässt sich erahnen, wenn die
Offenbarung plädieren. Es ist ein Buch, das mal durch gewal- saudi-arabische König-Fahd-Druckerei stolz
Und es sind die Frauen, die aufbegehren, tige, dunkle Sprachbilder, mal durch die verkündet, allein sie produziere jährlich
eine Revolution in der Revolution. Sie wen- Schlichtheit präziser Alltagsvorschriften weit über acht Millionen Korane, und je-
den sich, wie die iranische Rechtsanwäl- hervorsticht, eines, das noch kleinste De- der Mekka-Wallfahrer erhalte ein Gratis-
tin und Friedensnobelpreisträgerin Schirin tails im Leben der Gläubigen regelt: von exemplar.
Ebadi, gegen die „schlechte und falsche In- der Aufteilung des Erbes bis hin zu Still- Obwohl der Koran nur auf Arabisch, der
terpretation“ des Koran durch „patriarcha- zeiten für Scheidungskinder. Ein Buch, das Sprache der Offenbarung, rezitiert werden
lische“ Theologen. Sie drängen, wie die ma- Bodenständige wie Schwärmer gleicher- darf, gibt es inzwischen Dutzende Über-
rokkanische Soziologin Fatima Mernissi, maßen bezaubert, in dem aber auch rät- setzungen. Schließlich wollen immer mehr
auf eine gleichberechtigte Muslime außerhalb der arabi-
Auslegung der Offenbarung. Ausbreitung des Islam schen Welt, aber auch Nichtmusli-
Sie fordern, wie die in Ägyp- me im Westen wissen, was Gott
ten geborene Frauenrechtle- zu Mohammed gesagt haben soll.
rin Nahed Selim: „Nehmt den ANDALUSIEN Vor allem aber trägt die Dyna-
Männern den Koran!“ ZYPERN mik der jüngsten Weltreligion
Mittelmeer
MAGHREB SYRIEN
IRAK IRAN
LIBYEN ÄGYPTEN
661 bis 680 Kalif Muawija, Statthal- Medina 1492 Mit der Übergabe Granadas an
ter von Syrien, begründet die Umajja- die katholischen Könige Isabella I. von
den-Dynastie. Der Anspruch von Alis Mekka Kastilien und León und Ferdinand II.
ARABIEN
Nachkommen auf das Kalifat wird vor 622 bis 632 n. Chr. von Aragonien enden 700 Jahre mau-
allem von Alis Sohn Hussein aufrecht- 632 bis 661 n. Chr. rische Herrschaft auf der Iberischen
Arabisches
erhalten. 661 bis 750 n. Chr. Meer Halbinsel.
680 In Kerbela im Irak zetteln Alis An- 19./20. Jh. Weite Teile der islamischen
hänger, an der Spitze Hussein, einen 1095 Papst Urban II. ruft zum Kreuz- Welt stehen unter kolonialer Herrschaft
Aufstand gegen den Kalifen Jasid an bis 750 Umajjaden-Dynastie; die zug nach Palästina auf, um die heili- europäischer Mächte. Meist erst nach
und scheitern. Hussein stirbt in der Grenzen des Reichs werden im Wes- gen Stätten des Christentums vom Ende des Zweiten Weltkriegs werden
Schlacht von Kerbela. Daraufhin er- ten bis Spanien und im Osten bis Islam zu befreien. Die meist blutigen die wirtschaftlich und sozial rückstän-
klären seine Anhänger alle früheren nach Indien ausgedehnt. Feldzüge finden bis ins 15. Jahrhun- digen Länder in die Unabhängigkeit
Kalifen zu Abtrünnigen und bestätigen dert hinein statt. entlassen.
die Nachkommen Alis als wahre Ima-
me der islamischen Gemeinschaft. um 1000 Unter der Herrschaft der 1453 Die Osmanen erobern Konstanti- 1979 Islamische Revolution in Iran.
Nur diese könnten das „göttliche Licht Mauren erlebt Andalusien ein „gol- nopel. Mit der Niederlage der Türken Ajatollah Chomeini kehrt nach der
der Leitung“ von Ali empfangen. Die denes Zeitalter“; Muslime, Christen vor Wien 1683 setzt der Niedergang Vertreibung des Schahs nach Iran
schiitische Bewegung erhält ihr end- und Juden leben in weitgehend ein, der mit der Zerschlagung des Reichs zurück. Ausrufung der Islamischen
gültiges Gepräge. friedlicher Gemeinschaft. nach dem Ersten Weltkrieg endet. Republik.
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Verschleierte Musliminnen (in Pakistan): „Niemand ist verdammt, sich vor der Welt zu verstecken“
zum Anstieg der Koranauflagen bei. Zum „Bekämpfe die Ungläubigen und die sich diese Attentäter berufen? Was für ein
Gürtel des Islam gehören reiche Länder Heuchler und behandle sie hart“, rezitie- grauenhaftes Drehbuch muss dieser Koran
wie das Sultanat Brunei oder die Vereinig- ren Islamisten in Bagdad, Gaza oder Kabul liefern?
ten Arabischen Emirate, aber auch extrem auf ihren Bekennervideos aus der neunten Inzwischen wollen Strategen im Westen
arme wie Bangladesch oder Mauretanien. Sure; oft berufen sie sich auch auf einen das heilige Buch selbst als Waffe nutzen
In Westeuropa bestimmt die Religion, die Vers aus der vierten, der ihnen das Para- und haben es zur Pflichtlektüre erklärt.
in der Wüste geboren wurde, den Alltag dies verspricht: „Wer auf dem Weg Gottes Um „auf dem Schlachtfeld des Verstands
von etwa 15 Millionen Einwanderern und kämpft und wird getötet – oder siegt –, zu siegen“, liest Generalmajor Douglas
Konvertiten, keine Glaubensgemeinschaft dem werden wir gewaltigen Lohn geben.“ Stone, Chef des Gefangenenprogramms
wächst hier schneller und gebärdet sich So haben sie ihren Lohn gesucht, die der US-Armee im Irak, jeden Tag im Koran
ähnlich selbstbewusst. Selbstmordattentäter von New York und und verordnet Gleiches seinen Häftlingen
Als Zeichen von Gottesfürchtigkeit wird Washington 2001, von Bali 2002, von Ma- – in der Hoffnung, dass sie die versöhn-
der Koran in Washington im Kapitol eben- drid 2004, von London 2005. Auf einmal lichen Passagen im Buch entdecken, die es
so geehrt wie auf dem Schafott in Bagdad. verwandeln sich junge Muslime in verhee- eben auch gibt. Der Mörder eines Un-
Im Abgeordnetenhaus der Vereinigten rende Sprengkörper, jagen Hochhäuser schuldigen, so lehrt der Koran, müsse be-
Staaten legte Keith Ellison, Demokrat aus und Discotheken, vollbesetzte Züge und handelt werden, „als habe er die gesamte
Minnesota und Amerikas erster muslimi- U-Bahnen in die Luft und reißen Hunder- Menschheit ermordet“.
scher Abgeordneter, am 4. Januar 2007 sei- te Menschen mit in den Tod. Was für eine Mal schlachtet der Westen den Koran
nen Amtseid ab. Dass der Koran, den Elli- düstere Religion muss das sein, auf die aber auch als Psychowaffe aus, etwa wenn
son in Händen hielt, so alt ist wie das Ka-
pitol, dass das Buch aus dem persönlichen
Nachlass des US-Gründervaters Thomas
Jefferson stammt, sollte ein Zeichen set-
zen: Die USA müssen keine Angst vor dem
Islam haben. Und die Muslime keine Angst
vor Amerika.
An den gleichen Text klammerte sich in
Bagdad Saddam Hussein, während die
Schlinge um seinen Hals gelegt wurde. Ein
grüner, in Leder gebundener Koran war
die letzte Habe des einst so mächtigen wie
reichen Diktators. Am 30. Dezember 2006,
dem Tag seiner Hinrichtung, diktiert er
dem Richter seinen letzten Wunsch: Man
möge sein Exemplar einem Freund über-
FOTOS: HOLLANDSE HOOGTE / LAIF
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Titel
W
issenschaftlern aus dem Westen, ein einheitliches Werk, aufgezeichnet „großäugige Jungfrauen“ verstanden – in
die sich mit der Lehre des Pro- nach den Offenbarungen des Erzengels der syro-aramäischen Lesart steht das
pheten beschäftigen, schlägt in Gabriel. Noch 1979 schrieb der Tübinger Wort aber für „weiße Weintrauben“. Das
der islamischen Welt seit je Misstrauen Rudi Paret, dessen Koranübersetzung bis ergibt für den Autor auch deswegen mehr
entgegen. Orientalisten galten früher als heute als vorbildlich gilt: „Wir haben kei- Sinn, weil im Koran das Paradies als
verkappte Missionare oder Spione. Heu- nen Grund anzunehmen, dass auch nur blühender Garten beschrieben wird.
te führen Europäer, die Arabisch lernen, ein einziger Vers im ganzen Koran nicht Wohl wissend, für welchen Wirbel sei-
die Sprache Mohammeds, ohne zum Is- von Mohammed selber stammen würde.“ ne Thesen sorgen würden, lebt der Wis-
lam überzutreten, in den Augen vieler An der Heiligkeit des Buchs rüttelten senschaftler bis heute in der Anonymität.
Gläubiger noch Schlimmeres im Schilde: die deutschen Orientalisten erst spät – Für sein Werk wählte er das Pseudonym
Mit ihrer Koranforschung wollten die dafür aber umso heftiger und mit ziemlich Christoph Luxenberg. Der Name soll an
Abendländer den göttlichen Ursprung der steilen Thesen. Den spektakulärsten Tabu- ein Prophetenwort erinnern, wonach Wis-
Offenbarung widerlegen, heißt es. bruch beging ein aus dem Libanon zuge- sen Licht (Lux) ist.
So war es eine kleine Sensation, als den wanderter Lektor mit seinem Buch „Die Der Mann steht mit seinem Zweifel an
Bonner Orientalisten Stefan Wild, 70, eine syro-aramäische Lesart des Koran“. der Entstehungsgeschichte des Koran
Einladung nach Saudi-Arabien erreichte. In dem 2000 veröffentlichten Werk geht nicht allein. Auch der Islamforscher Gerd-
Der Professor für Semitische Philologie der Wissenschaftler, selbst Christ, davon Rüdiger Puin möchte die Frühgeschich-
und Islamwissenschaft an der Universität aus, dass der Koran in Teilen auf christ- te des Islam gänzlich umschreiben. Der
Bonn gilt als Koryphäe für die Geschich- lichen Liturgietexten beruht. Diese sollen Orientalist hat sich um die Entzifferung
te der Offenbarung. In das streng ab- in einer Mischform aus Aramäisch, der der 1973 im Jemen entdeckten Koran-
geschottete „Herzland des Islam“ schaff- Sprache Jesu, und dem sich erst allmäh- fragmente verdient gemacht. In der
te es Wild im vergangenen Jahr zum ers- lich entwickelnden Arabisch verfasst wor- Hauptstadt Sanaa ließ er die Schriften
ten Mal. den sein. Bei der Übertragung dieser Fas- restaurieren, die zu den ältesten Koran-
Als einzigen Nicht-Muslim und somit sungen seien den muslimischen Kopisten belegen zählen. Dabei stellte Puin fest,
stillen Stargast der Fachtagung „Der edle dann verheerende Fehler unterlaufen. Die dass einige Textstellen erheblich vom spä-
Koran und die orientalistischen teren, offiziellen Buch abwei-
Studien“ hatte das „König-Fahd- chen: „Die Punkte und Striche
Zentrum für den Druck des ed- unter der arabischen Schrift,
len Koran“ den Professor nach die der Unterscheidung von
Medina gebeten, in die zweite Konsonanten und Vokalen die-
heilige Stadt im Königreich. Nur nen, waren zum Teil völlig un-
weil der Tagungsort außerhalb terschiedlich gesetzt. So erga-
des heiligen Bezirks rund um ben die Worte plötzlich einen
das Grab des Propheten Mo- anderen Sinn.“
hammed lag, der allein Mus- Über jene „dunklen Anfän-
limen vorbehalten ist, konnte er ge“ des Islam spekuliert auch
überhaupt teilnehmen. der Religionswissenschaftler
Der Doyen der deutschen Karl-Heinz Ohlig. Der katholi-
Orientalistik kann sich auf eine sche Theologe entsetzte die
NORBERT MICHALKE
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AXEL KRAUSE
Azhar-Moschee in Kairo*: Sinnbild für die Einheit von Glaube und Wissen
liner von zwei Seiten an: Eine For-
schungsgruppe erstellt eine Datenbank Allahs Offenbarung aus der Wüste unter stand. „Lies“, forderte er Mohammed auf.
zum Koran, die alle Überlieferungs- die Menschen gebracht hat? „Ich kann nicht lesen“, erwiderte dieser.
varianten und Quellennachweise, aber Der Prophet wurde um das Jahr 570 in Darauf würgte ihn Gabriel mit dem Tuch
auch Vergleichsstellen in Bibel und Tora Mekka in eher bescheidenen Verhältnissen fast zu Tode und befahl: „Lies im Namen
enthalten soll. In Kleinstarbeit wird da- geboren. Die arabischen Quellen zum Le- deines Herrn, des Schöpfers, der den Men-
für die Chronologie des Koran überprüft ben Mohammeds (der „Gepriesene“) füllen schen schuf aus geronnenem Blut. Lies, und
und jede Sure „mikrostrukturell“, Wort zwar „Tausende von Seiten“, sagt der Göt- der Edelmütigste ist dein Herr, er, der das
für Wort, unter die Lupe genommen. tinger Arabist Tilman Nagel, der an einer Schreibrohr zu gebrauchen lehrte, der die
So hofft die Berliner Gruppe das „ge- umfassenden Biografie über den Propheten Menschen lehrte, was sie nicht wussten.“
schichtliche und religiöse Klima während arbeitet, aber die muslimischen Berichte Mohammed wiederholte die Sätze – die
der Koranentstehung“ zu rekonstruie- seien „vielfach verklärende Literatur, ganz später als Anfang der Sure 96 Eingang in
ren. Die Erkenntnisse soll eine zweite darauf zugeschrieben, Mohammed mit sei- den Koran fanden. Als er aufwachte, war
Arbeitsgruppe in einem kritischen Ko- nem Denken, Reden und Handeln schon es, als seien ihm „die Worte ins Herz ge-
rankommentar zusammenfassen. Bis alle von Kindesbeinen an als von Gott legiti- schrieben“.
Verse analysiert und ausgewertet sind, miertes Vorbild für die Menschen erschei- Noch heute gedenken Muslime jener
wird allerdings viel Zeit vergehen – das nen zu lassen“. Bereits 70 Jahre nach dem ersten Offenbarung, die sich im neunten
Projekt ist auf 18 Jahre angelegt. Tod des historischen Mohammed sei das Monat des Mondjahres, im Ramadan, zu-
Um ihre muslimischen Kollegen ein- „hagiografische Konzept“ vom Auserwähl- getragen haben soll. Jedes Jahr sollen die
zubinden, präsentierten die Berliner das ten Gottes nahezu vollendet gewesen. Gläubigen seither im gleichen Monat fas-
„Corpus Coranicum“-Projekt auch in Es ist vor allem ein Werk des muslimi- ten und unbeschwert von Völlerei den Ko-
der islamischen Welt. Auf Vorträgen in schen Gelehrten Ibn Ishaq, auf das Mo- ran studieren.
Syrien und in Iran sei man „auf großes hammeds Bild bei den Gläubigen zurück- Dem Propheten erschien Gabriel von
Interesse gestoßen“, sagt Neuwirth. geht. Nach dieser ersten Propheten-Bio- nun an regelmäßig, um die Worte Gottes
Selbst in Saudi-Arabien lehnen die Ge- grafie aus dem 8. Jahrhundert war der zu überbringen. Mohammed, zunächst er-
lehrten neuerdings die Methodik aus Gottesgesandte ein gutsituierter, glücklich schrocken und an seiner Wahrnehmung
dem Westen nicht mehr rundum ab. verheirateter Kaufmann und Karawanen- zweifelnd, empfing die Offenbarungen als-
Auf dem Korankongress in Medina führer aus der arabischen Stadt Mekka, bald unter einer Decke, allein, angstvoll und
konnte der Islamwissenschaftler Wild bevor Gott ihn im Alter von 40 Jahren mit schweißgebadet, wie Ibn Ishaq berichtet.
immerhin ein wenig Misstrauen ab- einer außergewöhnlichen Mission betraute. Nicht jedem gefällt, was er zu sagen hat.
bauen. Nach „ganzen Kaskaden von ag- „Aus Mitleid mit der Welt“, so Ibn Ishaq, Vor allem mit seinen Landsleuten aus Mek-
gressiven Beiträgen über die Orien- wählte ihn der Allmächtige „zum Verkün- ka, die einer hedonistischen Vielgötterei
talisten“ durfte er ein Referat über die der für alle Menschen“. frönen, geht der Prophet scharf ins Ge-
„Zusammenarbeit von Muslimen und Mohammed hatte zu diesem Zeitpunkt richt. Aber auch Christen und Juden wer-
Nicht-Muslimen bei der Koranfor- die Einsamkeit schätzen gelernt; in einer den kritisiert – für ihre Verwässerung bib-
schung“ halten. Die Religionsgelehrten Art Midlife-Crisis zog er sich in die Berge lischer Gebote. Sie werden zwar fortan als
übernahmen die Forderung wortwört- zurück, um zu meditieren. Eines Nachts er- „Buchbesitzer“ akzeptiert, aber als zu laxe
lich – als Punkt 29 in der Abschluss- schien ihm der Erzengel Gabriel im Schlaf. Gottesdiener gescholten.
erklärung. Er trug ein Tuch wie aus Brokat, worauf et- Die heidnischen Herrscher in Mekka
Für den Bonner Professor „ein erstes was in arabischen Lettern geschrieben verspotteten und bedrohten Mohammed.
Schrittchen – auf einem noch sehr weiten Sie befürchteten, dass er mit seinem neu-
Weg“. Dieter Bednarz, Daniel Steinvorth * In diesem Gebäude befand sich bis in die Neuzeit die im en Glauben an den einen Gott ihr Geschäft
10. Jahrhundert gegründete Azhar-Universität. mit jenen Pilgern verderben würde, die für
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Titel
INTERFOTO
Gemeinde weltweit akzeptiert.
Seither steht fest, was im Koran steht –
Handgeschriebenes Exemplar des Koran (17. Jh.): Füllhorn an Poesie und Prosa ob es nun angeblich der größte Koran ist
(über einen Meter hoch und 130 Kilo-
gramm schwer), den die atheistischen
Herrscher in Peking aufbewahren sollen,
oder der älteste (aus dem Jahr 1000), den
B. ROESSLER / DPA (L.); PICTURE PRESS (R.)
Gottes Worte rezitieren – ein jahrhunderte- Wenn er auf die Bedeutung seines Wer-
altes Ritual. „Wer den Koran nicht lesen kes für die Geschichte des Islam ange-
kann, sollte ihn hören“, sagen die Gläubi- sprochen wird, weicht der Professor aus.
gen; auch ihn zu berühren gilt vielen schon Ein melancholisches Lächeln huscht dann
als Weg, Gott näherzukommen. über das runde Gesicht. In seiner Leidener
Geradezu hypnotisch sind manche Ko- Klause türmen sich die Korankommentare
ranrezitationen, ihr wohlklingender Vor- und Sammlungen der Prophetensprüche,
trag gilt als eigene Kunst: die „Kiraa“. End- tausend Zettel lassen die dicken Bände von
los und peinigend kann deren Studium Tabari und Buchari aufquellen, mit Text-
sein, in dem selbst kleinste Details der Aus- markern und Anstreichungen sind die Wer-
sprache geübt werden müssen: ein A be- ke von Sartre und Kant versehen. Dazwi-
sonders tief und kraftvoll, ein I besonders schen stapeln sich Seminararbeiten neben
vibrierend. Der Koran, schreibt der Islam- Magazinen zu Linguistik und Philosophie;
wissenschaftler Navid Kermani in seinem die private Post ist seit Wochen unbeant-
Buch „Gott ist schön“, habe eine ästheti- wortet, der Koran hat Vorrang.
sche Kraft, die auch Nichtgläubige ver- Der Koran, sagt er mit leiser Stimme,
zaubern könne. sei das Buch, das ihn seit seiner Kindheit
In der Welt der Azhar-Universität ist das begleite, ihn, den Bauernjungen aus dem
SAJJAD SAFARI / AP
Memorieren des Koran allerdings nur aller Nildelta; es seien die sinnlichen Erinne-
Anfang: Es folgen arbeitsreiche Jahre rungen, die er noch immer mit sich trage –
mit Studien der Exegese, der islamischen den Moscheebesuch an der Hand seines
Rechtsordnung oder islamischen Kultur- Vaters, die eindringliche Stimme des Dorf-
Irans Staatspräsident Mahmud Ahmadinedschad geschichte. Auch wer säkulare Fächer wie scheichs. Solcher Zauber veranlasste Abu
Medizin oder Naturwissenschaften lernt, Seid in frühen Jahren, die heilige Schrift zu
muss religiöse Pflichtkurse belegen. memorieren, dann, nach dem Tod des Va-
Mit der Moderne haben sich die Hüter ters, drängte es den jungen Mann an welt-
des Glaubens auf ihre Weise abgefunden: liche Schulen. „An Grundsätzen zu zwei-
So soll ein Online-Archiv alle verfügbaren
Manuskripte der Azhar-Bibliothek ins In-
ternet stellen. Und ein in Dubai entworfe- In Teheran fordert
nes „islamisches Handy“, das von jedem ein „iranischer Luther“
Ort der Welt die Richtung gen Mekka weist die Mullahs heraus.
und fünfmal am Tag zum Gebet ruft, hat
ebenfalls den Segen der Azhar erhalten.
Kritische Fragen zur Entstehung des Ko- feln“, so Abu Seid, „ist keine Sünde. Wer
ran gelten dagegen als Frevel. Für die Zen- zweifelt, gebraucht seinen Verstand. Und
sur religiös unerwünschter Schriften sind Gott will, dass wir unseren Verstand be-
die Azhariten berüchtigt. Großscheich Mo- nutzen.“
hammed Sajjid Tantawi ist das Oberhaupt Aus der westlichen Literaturwissenschaft
der Azhar, ein Mann des politischen Aus- übernahm Abu Seid die Methode, Texte
gleichs, von Staatspräsident Husni Mu- historisch zu lesen – zu begreifen, wie ein
barak persönlich ins Amt berufen. Er bleibt Gebot damals aufgeschrieben worden ist,
hart, wenn es um den Kern des Glaubens damit die Gläubigen es verstanden. „Der
geht: „Reformer“ sind für ihn Hitzköpfe, Koran im frühen 7. Jahrhundert brauchte
AP
Qaida-Führer Osama Bin Laden (vor Koransure) nicht weniger schädlich als jene Extremis- einen angemessenen Sprachcode“, sagt er.
ten, von denen sich die Universität abzu- Dass sich Gott heute, 14 Jahrhunderte spä-
grenzen sucht. ter, eine andere Ausdrucksweise zurecht-
Wer gegen die tausend Jahre alte Macht gelegt hätte, steht für ihn außer Frage.
der Azhar aufbegehrt, muss, wie der exi- „Alles andere wäre doch geradezu blas-
lierte Literaturprofessor Abu Seid, mit dem phemisch, eine Beleidigung für die Intelli-
Schlimmsten rechnen. Auf Drängen isla- genz Gottes!“
mistischer Eiferer wurde er zum Apostaten Abu Seid steht längst nicht mehr allein,
erklärt. Ein Gericht in Kairo verfügte 1995 die Zahl seiner Verbündeten wächst.
die Zwangsscheidung des „Ketzers“ von Auch bei den Schiiten gibt es Theologen,
seiner Frau Ibtihal Junis. Die Azhar half die sich auflehnen gegen orthodoxe Schrift-
der Anklage – mit einem religiösen Rechts- gelehrte, gegen scheinbar übermächtige
gutachten. Autoritäten. Einer von ihnen ist Abdol-
Im Westen hingegen wird Abu Seid seit- karim Sorusch. So wie Abu Seid gegen die
her als „Speerspitze eines liberalen Islam“ Scheichs der Azhar streitet, streitet Sorusch
(„Neue Zürcher Zeitung“) gefeiert und mit gegen die Mullahs in Teheran.
Ehrungen überhäuft. Er erhielt die amerika- Die Turbanträger begründen ihre Macht
nische Roosevelt-Medaille für Religions- auf die von Revolutionsführer Ruhollah Aja-
DAVID FURST / AP
freiheit und den Frankfurter Ibn-Rushd-Preis tollah Chomeini 1979 eingeführte „Wela-
für die Förderung der Demokratie in der jat-e Fakih“, die Herrschaft des obersten
arabischen Welt. Kenner wie der Hamburger Rechtsgelehrten. Nach ihr dürfen sich Irans
Islamwissenschaftler Gernot Rotter und der religiöse Führer als irdische Stellvertreter je-
Irakischer Ex-Diktator Saddam Hussein (2006) Bonner Arabist Wild sehen in ihm so etwas nes zwölften Imams fühlen, der im neunten
Verehrer des Koran wie eine „historische Figur“, eine, „von der Jahrhundert spurlos verschwand und seit-
Das heilige Buch als Waffe genutzt wir noch in 100 Jahren sprechen werden“. her in der Verborgenheit ausharrt. Mit seiner
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MANISH SWARUP / AP
Betende Muslime in Neu-Delhi: „Und lobpreise deinen Herrn vor dem Aufgang und vor dem Untergang der Sonne“
ersehnten Wiederkehr verbinden die Schi- Manche, wie die amerikanische Journa- ihr großer Förderer, der Kalif al-Mamun,
iten das jüngste Gericht und die Einkehr der listin Robin Wright, sehen in Sorusch gar habe eines Nachts von Aristoteles geträumt
Gerechtigkeit auf Erden. einen „iranischen Luther“. Einen, der wie und kurz darauf befohlen, an jeder Ecke
Die von den Mullahs damit beanspruch- der deutsche Reformator im 16. Jahrhun- Bagdads eine Akademie, eine Sternwarte
te Unfehlbarkeit kommt für Sorusch reli- dert das Deutungsmonopol des herrschen- oder eine Bibliothek zu bauen.
giöser Despotie gleich. Auch für ihn besitzt den Klerus brechen könnte. Die Mutasiliten kritisierten das Wieder-
Gottes Offenbarung ewige Gültigkeit, nicht Den Mönch aus Eisleben und den Pro- käuen orthodoxer Lehren, sie verlangten,
jedoch die Schlussfolgerungen, die sich fessor aus Teheran verbindet die Betonung die islamischen Quellen eigenständig zu
daraus ableiten lassen. In seinen Aufsät- der spirituellen und mystischen Seite des interpretieren; eine Praxis, die in der
zen und Büchern propagiert er die „Wan- Glaubens. In der islamischen Variante der islamischen Tradition „Idschtihad“ heißt,
delbarkeit der religiösen Erkenntnis“. Mystik, dem Sufismus, sieht Sorusch ein „Anstrengung“.
Theologen, so Sorusch, seien nicht wie Potential für die Herausforderungen der Der heikelste Punkt ihrer Theologie aber
Gott oder der Prophet. Was sie verkün- Moderne; hier sei der Glaube stets auf der war, den Koran nicht als „ewiges“, sondern
den, sei „menschliche, unheilige Erkennt- Suche, stets fragend, nie selbstsicher – ein als „geschaffenes Werk“ zu betrachten.
nis – behaftet mit aller Fehlbarkeit des Gegenpol zum autoritären Rechtsislam, Ewig, lehrten sie, sei nur Gott selbst. Und
menschlichen Geistes“. wie ihn die Mullahs predigen. wäre es nicht vermessen, Gott eine zweite
Solche Anmaßungen dulden die Chomei- Zurück zu den Wurzeln, zurück in die ewige Instanz zur Seite zu stellen?
ni-Erben nicht. Der einstige Vordenker der Frühgeschichte des Islam, zurück ins ach- Nur ein knappes Jahrhundert währte die
Islamischen Republik verlor in den neunzi- te und neunte Jahrhundert, lautet die De- Blütephase der Freigeister, dann schlug die
ger Jahren seinen Lehrstuhl an der Univer- vise der Reformer. Hier, in der Blütezeit ih- Orthodoxie zurück.
sität Teheran, er erhielt Morddrohungen und Es folgte geistige Verkrustung. Allein das
wagte seitdem kaum noch öffentliche Auf- goldene Zeitalter der Mauren von An-
tritte. Unter dem gegenwärtigen Staatspräsi- Im 21. Jahrhundert erreicht dalusien, die im 11. Jahrhundert auf der
denten Mahmud Ahmadinedschad ist So- das Ansehen der Weltreligion Iberischen Halbinsel Kunst und Wissen-
rusch erst recht Persona non grata. einen neuen Tiefstand. schaften aufblühen ließen, konnte noch
Dass er noch nicht mit einem ähnlichen einmal an die Ära der Mutasiliten an-
Bann belegt wurde wie Abu Seid in Kairo, knüpfen.
verdankt er seinen immer noch guten Be- rer Religion, sehen beide Vordenker – der Während in Deutschland Seuchen und
ziehungen ins religiöse Establishment. In Sunnit Abu Seid und der Schiit Sorusch – Hungersnöte die Menschen dahinrafften,
den siebziger Jahren war er ein glühender einen Schatz, den es auszugraben gilt. richteten die Kalifen von „al-Andalus“
Verfechter der Revolution gewesen, 1979 Damals, keine 150 Jahre nach dem Tod Apotheken und Krankenhäuser ein, wurde
kehrte er aus dem englischen Exil zurück des Propheten, hatte in Bagdad die Dynas- in Córdoba und Toledo gedichtet, geforscht
nach Iran. tie der Abbasiden die Macht übernommen, und philosophiert. Es ist jene Epoche, die
Unter aufgeklärten Muslimen gilt ein der Wissenschaft zugeneigtes Herr- bei vielen Muslimen von heute noch im-
Sorusch als Lichtgestalt. „Er befreit den schergeschlecht. In der von Legenden um- mer starke Sehnsüchte weckt – setzte doch
Islam vom Ballast der Vergangenheit und wobenen, prächtigen Kalifenresidenz am mit ihrem Ende, mit der Vertreibung der
versöhnt ihn mit der Moderne“, jubelte Tigris stritten die Gelehrten leidenschaft- letzten Araber aus Europa, der Niedergang
die inzwischen verbotene Oppositions- lich um die rechte Art, den Koran zu lesen. der islamischen Welt ein.
zeitschrift „Kijan“. „Niemand beschäftigt Besonders vernunftbetont waren die so- Zu Beginn des 21. Jahrhunderts erreich-
sich mit modernem, liberalem Islam, ohne genannten Mutasiliten (arabisch für: „jene, te das Ansehen der Weltreligion einen neu-
sich mit Sorusch auseinanderzusetzen“, so die sich absondern“). Sie orientierten sich en Tiefstand. Die Anschläge von New York,
Harvard-Professor Roy Mottahedeh. an der griechischen Philosophie. Es heißt, Madrid und London verengten – in den
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Titel
TÜRKEI 154
24 68
30
IRAK 120
MAROKKO 68 20
33 IRAN
PAKISTAN CHINA
BANGLA-
ALGERIEN ÄGYPTEN 23 INDIEN 149 DESCH
SAUDI-
ARABIEN
72 26
SUDAN
196
NIGERIA
Muslime in Prozent
der Bevölkerung
90% und mehr
Muslime 50% bis 90%
INDONESIEN
in ausgewählten
10% bis 50%
Ländern,
in Millionen unter 10%
Augen verängstigter säkularer Europäer gegen Sitte, Anstand und Gottes Willen und gesellschaftlich in die Moderne führen
und Amerikaner – das Bild des Islam auf verstößt. Er muss sterben. sollte – Zwangssäkularisierung zur Befrei-
den Terrorismus seiner Extremisten. Dennoch glauben die beiden deutschen ung von den Fesseln der Religion einge-
Scheinbar unaufhaltsam verbreitet sich Islamwissenschaftler Katajun Amirpur und schlossen. Atatürk schaffte das Kalifat ab,
der Terror nicht nur in der Welt der Un- Ludwig Ammann, dass der Islam seit den in dem der Sultan der Gebieter über Reich
gläubigen, sondern vor allem in den isla- Anschlägen vom 11. September 2001 „an und Religion war; er verbot den Männern
mischen Ländern: im Irak, in Afghanistan, einem Wendepunkt“ angelangt sei. Als den Fes, den rotwollenen Hut mit Quas-
Pakistan, Algerien oder Palästina. Hier hätte der islamistische Overkill die libera- tenbehang, und den Frauen das Kopftuch;
grassiert, was der tunesischstämmige In- len Geister in den eigenen Reihen wach- er verfügte die Abschaffung der Scharia-
tellektuelle Abdelwahab Meddeb die gerüttelt, sei in der islamischen Welt eine Gerichte, und er verbannte die Religion
„Krankheit des Islam“ nennt – der Rekurs „unendliche Vervielfältigung der Stand- ins Private.
auf Gewalt und Selbstzerstörung, der be- punkte“ zu beobachten. Ein Blick ins In- Um die Moscheen von rückwärtsge-
sonders auf frustrierte junge Männer so ternet und in populäre Diskussionsforen wandtem Gedankengut frei zu halten, rich-
anziehend wirkt, weil er vermeintlich hilft, wie „futureislam.com“ reiche aus, um zu tete Atatürk eigens das Präsidium für reli-
die beständigen Unterlegenheitsgefühle, erkennen, dass unzählige Muslime den giöse Angelegenheiten ein, das Diyanet
politische Ohnmacht und wirtschaftliche Stillstand überwinden wollen – und dass I≈leri Ba≈kanligi. Die Behörde mit inzwi-
Ausgrenzung zu überwinden. der Begriff „Reform“ nicht tabu sei. schen mehr als 100 000 Mitarbeitern be-
Das Instrument für den Terror heißt Protagonisten dieses Wandels gibt es aufsichtigt die Ausbildung der Imame, und
„Takfir“ (arabisch für: „jemanden für un- überall. Wie weit Islam und Moderne mit- sie bestimmt auch, was gepredigt wird; ihr
gläubig erklären“). Es bietet seinen An- einander vereinbar sind, zeigt der bislang Vorsitzender Ali Bardakoglu ist der mäch-
hängern die Rechtfertigung, sich zu Herren größte Feldversuch direkt vor den Toren tigste Vertreter des Islam in der Türkei und
über Leben und Tod aufzuschwingen. Europas: in der Türkei. In kaum einem ein erklärter Reformtheologe. „Die islami-
Nach einem vielzitierten Satz des Prophe- Land treffen Orient und Okzident, der Is- sche Welt muss für Kritik von allen Seiten
ten darf das Blut von Muslimen nur als lam und die Werte des Westens, so stark offen sein und in sich das objektive Den-
Strafe für Mord, für Ehebruch sowie für aufeinander wie bei dem EU-Anwärter ken, die Vernunft, fortentwickeln“, sagt
den Abfall vom Islam vergossen werden. und Nato-Partner. In keinem anderen der Behördenchef, der im vergangenen
Für Takfiristen gilt demnach: Todeswürdig Land wurde dem Islam allerdings auch so Jahr Papst Benedikt XVI. zum „Dialog der
ist jeder, der auch nur einen Hauch von viel Weltlichkeit abverlangt wie in der 1923 Religionen“ empfing.
ihrer strengen Koranauffassung abweicht, von Mustafa Kemal, genannt Atatürk („Va- Das Rüstzeug für die Debatte mit den
denn er gilt als vom Islam abgefallen. Es ist ter der Türken“), begründeten Republik. Fundamentalisten kommt aus nächster
dabei egal, ob er wählen geht – schließlich Auf den Trümmern des Osmanischen Nachbarschaft: von der Universität Ankara.
kann nur Gott, nicht aber ein gewählter Reiches setzte der überzeugte Europäer Die Hochschule gilt als Keimzelle aller
Politiker Gesetze erlassen – oder einfach eine Revolution von oben durch, die das religiösen Reformanstöße in der Türkei.
nur als Sportler kurze Hosen trägt – was zurückgebliebene Anatolien wirtschaftlich Und sie ist neuerdings sogar in Deutsch-
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Der Koran ist wie so oft auch hier un-
eindeutig: Da lassen sich Verse finden, die
Papst Benedikt XVI., Muslimführer Bardakoglu (2006) als Befreiung von Unmündigkeit verstan-
den werden müssen, aber auch andere, die
Frauen dem Mann untertan erklären. In
der Wirklichkeit haben sich zumeist die al-
ten Stammestraditionen der Araber durch-
gesetzt, wonach die Frau als Besitz der Fa-
milie betrachtet wird. Frauen erben in den
meisten islamischen Ländern nur die Hälf-
te dessen, was ein männlicher Verwandter
vom Nachlass erhält. Auch zählt ihre Aus-
sage vor Gericht nur halb so viel wie die
Aussage eines Mannes.
Der Zwang zum Kopftuch wird bei-
spielsweise mit Auszügen aus Sure 24 be-
gründet: „Und sag den gläubigen Frauen,
dass sie ihre Blicke senken und dass sie
ihre Scham bewahren sollen, und dass sie
ihren Schal sich um den Ausschnitt schla-
gen.“ Ein Beweis für die Pflicht, Kopftuch
zu tragen? Nein, sagt die Autorin Selim;
vielmehr ein Hinweis dafür, wie sich Frau-
en damals vor sexueller Belästigung schüt-
zen konnten.
Niemand sei verdammt, sich vor der
Welt zu verstecken, meint Selim, denn
preise nicht gerade auch der Koran die uni-
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